Die Kölner Regierungspräsidenten im Nationalsozialismus: Zum Versagen von Vertretern einer Funktionselite [1 ed.] 9783412501037, 9783412501013

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Die Kölner Regierungspräsidenten im Nationalsozialismus: Zum Versagen von Vertretern einer Funktionselite [1 ed.]
 9783412501037, 9783412501013

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Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins

51

Robert Becker

Die Kölner Regierungspräsidenten im Nationalsozialismus Zum Versagen von Vertretern einer Funktionselite

Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. herausgegeben von Julia Kaun und Ulrich S. Soénius Band 51

Robert Becker

Die Kölner Regierungspräsidenten im Nationalsozialismus Zum Versagen von Vertretern einer Funktionselite

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bezirksregierung Köln und des Landschaftsverbandes Rheinland

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Köln, Regierungsgebäude Zeughausstr., Zerstörungszustand (teilzerstörter Ostflügel) 1943 (Foto: © Rheinisches Bildarchiv, rba_056190) Korrektorat: Robert Kreusch, Leipzig Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50103-7

Inhalt Vorwort 

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1 Die Weimarer Republik, der Freistaat Preußen und seine Bürokratie  . . . . . 1.1 Republik ohne Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Last des Friedens und Risiken der Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Anfangskrisen, Reparationen, Inflation, Staatskrise  . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Jahre scheinbarer Konsolidierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Zweite Staatskrise: die Schlussphase der Republik  . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der „Freistaat Preußen“ – Heil und Hort der Weimarer Republik?  . . . . . . 1.2.1 Die Rolle des neuen Preußen im politischen Leben der Republik . . 1.2.2 Umwälzung oder Kontinuität der Bürokratie: Preußische Staatsverwaltung im Übergang von der Monarchie zur Republik  . . 1.2.3 Wehrhaftes Preußen: Personalpolitik, Staatsschutz und beider Grenzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Umkämpftes Preußen: Die Endphase des republikanischdemokratischen Freistaates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Rudolf zur Bonsen (1886 – 1952): praktizierender Katholik und desillusionierter Nationalsozialist  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Herkunft und Ausbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kriegsteilnahme und Tätigkeit bei der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Nachkriegszeit: Beamter der preußischen Innenverwaltung  . . . . . . . . . . . . 2.4 Kölner Regierungspräsident im „Dritten Reich“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Aufstieg in das Amt des Behördenleiters 1933  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Disziplinarverfahren gegen Oberbürgermeister Adenauer  . . . . . . . . 2.4.3 Versuche des „Brückenschlags zwischen katholischer Kirche und NS-Staat“ und die „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“  . . 2.4.4 Auseinandersetzungen um die katholischen Jugendverbände und Abberufung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Regierungspräsident in der pommerschen Provinzhauptstadt Stettin von April bis Oktober 1934  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Amts- und Ortswechsel nach Pommern und der 30. Juni 1934 mit seinen Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Missglücktes Zusammenwirken mit dem Oberpräsidenten – Gauleiter und erneuter Ruhestand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Leitung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion 1935 – 1936 und Ausscheiden aus dem aktiven Dienst  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Zwischenfazit: Dreifaches Scheitern?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3 Rudolf Diels: „leichtgesinnter Flattergeist“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 3.1 Herkunft, Kriegsteilnahme, Student und Freikorpskämpfer, Ausbildung  . . . .  102 3.2 Weimarer Zeit: Beamter der preußischen Innenverwaltung und Verbindung zur Deutschen Demokratischen Partei  . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 3.3 Lieferant eines Vorwandes: Papens „Preußenputsch“ 1932 und die Folgen  . . .  106 3.4 Vertrauensmann Görings in der Anfangszeit des „Dritten Reiches“  . . . . . . . .  120 3.4.1 Eine Annäherung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120 3.4.2 Ein neues Regime und die Polizei als Kampfinstrument  . . . . . . . . . . . .  122 3.4.3 Diels, der Reichstagsbrand und die Reichstagsbrandverordnung  . . . . .  131 3.5 Doppelter Gipfelpunkt: Göring preußischer Ministerpräsident und Diels Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts in Preußen  . . . . . . . . . . . . .  142 3.5.1 Personalentscheidungen und das Erste Gestapogesetz . . . . . . . . . . . . . .  142 3.5.2 Entwurf eines Judengesetzes und antijüdische Maßnahmen  . . . . . . . . .  152 3.5.3 Diels, das Geheime Staatspolizeiamt und die Kirchen  . . . . . . . . . . . . . .  154 3.5.4 Folterkeller der SA, Schutzhaft und Konzentrationslager  . . . . . . . . . . .  159 3.5.5 Zusammenarbeit und Machtkämpfe; Ablösung und Flucht  . . . . . . . . .  165 3.6 Göring, ein wankelmütiger Chef – Diels’ erneuter Gipfel und Fall  . . . . . . . . .  169 3.6.1 Zweites Gestapogesetz und Wiederkehr ins Amt  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  169 3.6.2 Kontakte mit Goebbels und ein Sonderauftrag Hitlers  . . . . . . . . . . . . .  175 3.6.3 Diels, Opfer des Arrangements zwischen Göring, Frick und Himmler  . .  178 3.7 Regierungspräsident in Köln 1934 – 1936  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  183 3.7.1 Dramatischer Anfang und die Listen des 30. Juni 1934  . . . . . . . . . . . . .  183 3.7.2 Der Regierungspräsident und die katholische Kirche  . . . . . . . . . . . . . .  189 3.7.3 Amtliche Beziehungen des Regierungspräsidenten Diels zu Konrad Adenauer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  195 3.7.4 Anstrengungen und Kontakte: Diels’ Versuch der Selbstbehauptung als Behördenleiter und das Ende einer Amtszeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  198 3.8 Anderer Bezirk, andere Zustände: Regierungspräsident in Hannover 1936 – 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 3.9 Die schützende Hand des „Familienoberhaupts“: Binnenschifffahrtsverwaltung, Verhaftungen, Kriegsende  . . . . . . . . . . . . . . . .  209 3.10 Zwischenfazit: Diels, der Widerstand und seine Rolle im „Dritten Reich“  . . .  214 4 Eggert Reeder: „Hervorragender Verwaltungsfachmann“ im Inland und auch „draußen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Herkunft, Kriegsteilnahme, Studium, politische Orientierungen und berufliche Anfänge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Endzeit der Republik und Beginn des „Dritten Reiches“: Aufstieg in hohe Ämter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Regierungspräsident in Aachen 1933 – 1936  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Reeders Umgang mit den „leidigen“ Personalangelegenheiten  . . . . . . . 4.3.2 Autoritäres Staatsverständnis Reeders mit Blick auf Geheime Staatspolizei und katholische Jugendverbände  . . . . . . . . . 4.3.3 Wirtschaftliche Lage des Grenzlandes und das Nachbarland Belgien  . . 4.3.4 Verhältnis zur NSDAP: Distanz, Loyalität und der 30. Juni 1934  . . . . . . 4.4 Regierungspräsident in Köln 1936 – 1940  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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Inhalt

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4.4.1 Führungsrolle: Faire Lenkung innen, Behauptung außen  . . . . . . . . . . .  4.4.2 Strenger Kurs gegenüber der katholischen Kirche im Schulwesen  . . . .  4.4.3 Denkschrift zur Bedeutung und Förderungswürdigkeit der Kölner Universität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Zusätzliche Funktion in Düsseldorf – Steigerung der Karriere oder bedenkliches Symptom?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Militärverwaltungschef in Brüssel 1940 – 1944  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.6.1 Das Deutsche Reich und Belgien: Vorkriegszeit, Krieg und Besetzung  . .  4.6.2 Aufbau und Ziele der Militärverwaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.6.3 „Wunderbarer Sommer“ 1940 und Umschwung danach  . . . . . . . . . . . .  4.6.4 Wirtschaft unter der Besatzung, Zwangsarbeit – und Kirchenglocken  .  4.6.5 Einwirkungen und Konflikte in Administration, Justiz und Universität  .  4.6.6 Kollaboration, Kultur-, Flamen- und Volkstumspolitik  . . . . . . . . . . . . .  4.6.7 Widerstand/Weerstand/Résistance – und die Reaktionen der Militärverwaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Der Militärverwaltungschef und die Verfolgung der Juden in Belgien  . . . . . .  4.7.1 Die polizeilichen Zuständigkeiten in der Besatzungsverwaltung und das Lager Breendonk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.7.2 Antijüdische Verordnungen: Von der Registrierung der Juden bis zur „Kennzeichnungspflicht“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.7.3 Die Deportation nach Westen und die „große“ Deportation nach Osten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.7.4 Wiederaufnahme der Transporte und Deportation der Juden belgischer Staatsangehörigkeit 1943  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  4.7.5 Die Verantwortlichkeit der Militärregierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Vertretung des Reichskommissars von Juli bis September 1944 sowie die Vorgeschichte der Zivilverwaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Falkenhausen und Reeder: Unterschiedliche Charaktere, verschiedene Rückwege ins Reich, Kriegsende  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

5 Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.1 Die Unzulänglichkeiten der Entnazifizierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.2 Ein Beispielsfall: Das Spruchkammerverfahren gegen Rudolf zur Bonsen  . . .  5.3 Rudolf Diels auf der Suche nach einer öffentlichkeitswirksamen Rolle  . . . . . .  5.3.1 Zeuge in Nürnberg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.3.2 Doppelter Autor: eine „SPIEGEL“-Serie, ein Buch – und weitere Pläne  .  5.3.3 Beschuldigter vor dem Spruchgericht und Betroffener im Entnazifizierungsverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.3.4 Rechte Kontakte, ein Pamphlet und politische Kabalen  . . . . . . . . . . . . .  5.3.5 Opfer eines Jagdunfalls  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.4 Eggert Reeder: verurteilter Kriegsverbrecher und geachteter Ruhestandsbeamter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  5.4.1 Haft in Belgien, Verurteilung in Brüssel, Empfang in Bonn  . . . . . . . . .  5.4.2 Die Ruhestandsjahre: aktives Leben außerhalb der Verwaltung, Verteidigung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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6 Fazit: Versagen und Verantwortlichkeit  . . 7 Abkürzungen  . .

8 Quellen- und Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Ungedruckte Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Gedruckte Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Memoiren und Tagebücher  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Literatur: Monographien, Sammelwerke, Zeitschriftenaufsätze  . . 9 Personenregister  . .

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Vorwort Dies Buch ist aus einer „Bildgeschichte“ erwachsen, die mit der „Bildergalerie“ aller Regierungspräsidenten im Regierungsgebäude begann. Ich nahm, als ich in den Ruhestand trat, die Aufgabe mit, zu den drei Abbildungen der vom NS-Regime eingesetzten Behördenleiter erläuternde Kurzkommentare zu schreiben. Zur Präsentation der kritisch ergänzten „Bilder­ galerie“ verfasste ich eine Broschüre mit biographischen Texten. Das dafür gesammelte Material erwies sich als so weitreichend, dass es nahelag, daraus „etwas Größeres zu machen“, ein Buch. Von Jugend an habe ich mich mit dem Nationalsozia­lismus beschäftigt. Seine Auswirkungen und Verbrechen haben mich zeitlebens bedrückt. So habe ich versucht, einen Teil dieser Last abzutragen, indem ich das Buch schrieb. Mit den drei Regierungspräsidenten und ihrer Rolle im „Dritten Reich“ werden wesentliche Aspekte der Behördengeschichte aufgearbeitet. Das Buch ist nicht rein biographisch angelegt. Es will auch die zeitgeschichtlichen Hintergründe und Verknüpfungen deutlich machen. So werden in der Einleitung die Belastungsfaktoren der Weimarer Republik dargestellt und die Wirkung ihres „Bollwerks“, des republikanischen Preußen. In dessen fortentwickelter Verwaltung erlebten die drei Protagonisten ihre ersten Berufsjahre. Ihre politische Prägung hatten sie allerdings schon im ­Ersten Weltkrieg und den Anfangswirren der Republik erhalten. Nach 1933 fügten sich alle drei Regierungspräsidenten auf je ihre Weise in die nun von Hermann Göring dirigierte preußische Verwaltung ein, konnten aber ihr Rechts- und Amtsverständnis nicht durchhalten. Zur Bonsen war an den gescheiterten Versuchen eines „Brücken­schlags“ ­zwischen katholischer ­Kirche und NS-Staat beteiligt, Diels am Aufbau einer politischen Polizei des Regimes, Reeder an der Besatzungsherrschaft und an der Shoah in Belgien. Bei allen Dreien ergab sich: Wer sich in den Dienst einer Diktatur stellt, mit welcher Intention auch immer, wird von ihr für den Rest seines Lebens kompromittiert. Daran änderte auch die Art und Weise nichts, auf die sie nach dem Krieg mit ihrer Vergangenheit umgingen. Ihr Verhalten entsprach allerdings politischen und gesellschaftlichen Grundströmungen dieser Zeit. Schien das Buch ursprünglich eine rein historische Arbeit zu werden, hat es inzwischen durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre neue Aktualität erhalten. So sollte das Buch auch als Mahnung für die Gegenwart aufgefasst werden. Ich danke der Bezirksregierung Köln mit Frau Regierungspräsidentin Walsken für die Übernahme des größeren Teils des Druckkostenzuschusses und den Bibliothekarinnen der Behörde, Frau Heymann und Frau Adam, für die unermüdliche und findige Beschaffung eines jeden Buches. Dem Landschaftsverband Rheinland danke ich für die Zuwendung erheblicher Fördermittel. Besonders danke ich Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-­Jüdische Zusammenarbeit; er hat das Buchprojekt stets wohlwollend und hilfreich begleitet. Für Rat und Zuspruch danke ich Prof. Dr. Horst Matzerath (früher Leiter des EL-DE-­Hauses Köln) und Prof. Dr. Michael Custodis (Universität Münster). Für die Überlassung von ­Material danke ich Frau Svenja Weers (Universität Antwerpen), Dr. Christoph Roolf (Universität Düssel­ dorf) und Herrn Rüdiger zur Bonsen (Köln).

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Vorwort

Dank schulde ich den im Quellenverzeichnis genannten Archiven für ihre stete Hilfe und Informationsbereitschaft, besonders dem Bundesarchiv Koblenz (Herr Cohnen) mit den Abteilungen Berlin (Frau Gresens) und Militärarchiv Freiburg (Frau Botzek) sowie dem Landesarchiv Nordrhein-­Westfalen (Frau Dr. Rieger). Großer Dank gilt meinen Assistenzen, Katrin Lindner, Jaleh Ojan, Sophia Oppermann, Tobias Abt, Markus Neumann, Karsten Pfaff und Malte Schrage. Ihre Hilfe war mir unentbehrlich, seit ich wegen einer Augenkrankheit nicht mehr selbst schreiben konnte. Sehr großen Dank sage ich Frau Prof. Dr. Elisabeth Herrmann-­Otto (früher Universität Trier). Sie hat das gesamte Manuskript kritisch durchlesen und mit Korrekturen versehen. Das war eine unschätzbare Hilfe und beständige Stärkung. Es hat mich sehr gefreut, dass Herr Dr. Ulrich Soénius, Vorsitzender des Kölnischen Geschichtsvereins, das Buch in dessen Schriftenreihe aufgenommen hat. Meine Frau Veronika hat den Anstoß zu dem Buch gegeben, Hilfen organisiert und keine Mühe gescheut, um die Vollendung des Projekts zu ermöglichen. Sie hat mich immer wieder bestärkt, durchzuhalten. Vor allem war sie ständige Gesprächspartnerin beim Fortgang des Buches. Ihr sei deshalb das Buch gewidmet.

1 Die Weimarer Republik, der Freistaat Preußen und seine Bürokratie 1.1 Republik ohne Glück 1 1.1.1 Last des Friedens und Risiken der Verfassung Unsere jüngste Tochter hat in Weimar studiert. Von einem Fenster der Etage, in der ihre Wohngemeinschaft hauste, erblickte man das Bühnenhaus des Nationaltheaters. Jedes Mal, wenn ich dort hinaussah, erfasste mich eine leise Wehmut. In d ­ iesem Gebäude war die Verfassung der unglücklichen „Weimarer Republik“ verabschiedet worden. In dieser Republik lagen die beruflichen Anfangsjahre der drei Regierungspräsidenten. Nach chaotischem Beginn, einer etwa fünfjährigen Zeitspanne leidlicher Konsolidierung und einer knapp drei Jahre währenden krisenhaften Schlussphase war 1933/34 in ihrem jedes positiven Inhalts entleerten Gehäuse – denn aufgehoben wurde die Verfassung nie – eine Diktatur eingerichtet worden. Viele Deutsche, möglicherweise sogar die Mehrheit, trauerten der untergegangenen Monarchie nach. Sie betrachteten die Republik mit ihrer demokratischen Verfassung als „ein Kind der Niederlage“ und lasteten ihr alle politischen und gesellschaftlichen Übel an. Nachdem die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) einsehen musste, dass der Weltkrieg verloren sei, forderte sie von der politischen Reichsleitung im September 1918 ultimativ, die Kampfhandlungen zu beenden. Diese bemühte sich daraufhin um einen Waffenstillstand. Ehe ein solcher zustande gekommen war, brach Anfang November im Deutschen Reich die Revolution aus; überall wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. ­Kaiser Wilhelm II. dankte ab und ging ins Exil. Am 9. November wurde die Republik ausgerufen und am 11. November der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Ein „Bündnis“ ­zwischen OHL und dem neuen Reichskanzler Friedrich Ebert (SPD) sollte eine Radikalisierung der Revolution verhindern. Dies gelang um den Preis vieler Opfer von Straßenkämpfen. Unterdessen hatte im Dezember 1918 der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Wahlen zu einer Nationalversammlung beschlossen, die dann am 19. Januar 1919 stattfanden. Die SPD wurde stärkste Kraft und errang zusammen mit der katholischen Zentrumspartei und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mehr als zwei Drittel der Mandate. Die drei Parteien zusammen bildeten als „Weimarer Koalition“ die erste gewählte Reichsregierung. In der Nationalversammlung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, ob der Friedensvertrag mit seinen sehr harten Bedingungen akzeptiert werden solle oder nicht. Schließlich setzte sich die Einsicht durch, eine Ablehnung sei angesichts dann wieder vorrückender alliierter Truppen nicht möglich. So stimmte die Nationalversammlung mit deutlicher Mehrheit für die Unterzeichnung des Vertrages – allerdings ohne die DDP, die aus der Regierung ausschied.

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Allgemein zur Weimarer Republik: Schulze, Weimar; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 231 ff; Winkler, Der lange Weg, S. 378 ff. Nur wörtliche Zitate werden belegt.

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Die Weimarer Republik, der Freistaat Preußen und seine Bürokratie

Der Friedensvertrag legte dem Deutschen Reich erhebliche Gebietsabtretungen auf. Außer dem „Reichsland“ Elsass-­Lothringen, das nach Frankreich zurückkehrte, waren es alles preußische Gebietsteile. Insgesamt handelte es sich um 13 % des Reichsgebiets und 10 % der Gesamtbevölkerung. Die Heeresstärke wurde auf 100.000 Mann begrenzt, eine Luftwaffe verboten. Die meisten Emotionen löste Art. 231 des Vertrages aus 2: Urheber aller durch ihren „Angriffskrieg“ verursachten Verluste und Schäden ­seien das Reich und seine Verbündeten. Als Rechtsgrundlage der zu leistenden Kriegsentschädigung („Reparationen“) gedacht, wurde er als „Kriegsschuldlüge“ zurückgewiesen. Die deutsche „Kriegsunschuldsthese“ stellte „die Zwillingschwester“ einer „giftigen Lüge“ dar, der „Dolchstoßlegende“.3 Dies war die von der politischen Rechten in Verkehrung der Tatsachen vorgebrachte Behauptung, im November 1918 sei die Revolution in der Heimat dem unbesiegten Heer in den Rücken gefallen. Zur deutschen Realitätsverweigerung gehörte auch, dass von rechts bis zur SPD der Friedensvertrag nicht akzeptiert wurde. Dabei hätte das „Diktat von Versailles“ durchaus noch härter ausfallen können. Das D ­ eutsche Reich besaß immer noch das Potenzial einer Großmacht. Die Akzeptanz der Friedens­bedingungen wurde auch dadurch gemindert, dass die militärische Führung bis zuletzt Sieges­zuversicht verbreitet hatte und das deutsche Gesuch um Waffenstillstand wie ein Sturz in einen Abgrund wirken musste. Der Krieg hatte eine ungeheure Zahl von Toten und Verwundeten gefordert und enorme wirtschaftliche Schäden verursacht. Die entfachten nationalen Leidenschaften waren groß. Dem Bedürfnis auf Seiten der Sieger nach Rache und Demütigung des Verlierers entsprach dessen obsessiver Wille, die „Schmach von Versailles“ auszulöschen. So wurde die Vertragsrevision ein beherrschendes innenpolitisches Thema, welches das Klima vergiftete. Vor allem ließ die Rechte nicht von ihrer hemmungslosen Agitation gegen die Befürworter einer Vertrags­ unterzeichnung ab. Am 28. Juni 1919 wurde der Friedensvertrag unterzeichnet, am 31. Juli die Verfassung angenommen, am 11. August trat sie in Kraft. Die Hauptarbeit der Nationalversammlung war getan. Wichtige Regelungen der Verfassung zum Reichsaufbau waren: Der unmittelbar vom Volk auf sieben Jahre gewählte Reichspräsident berief und entließ den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister. Reichskanzler und Reichsminister bedurften zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Der Reichspräsident konnte den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass. Der Reichstag beschloss die Gesetze. Dem Reichsrat als Vertretung der Länder stand gegen Gesetzesbeschlüsse der Einspruch zu. Der Reichspräsident hatte den militärischen Oberbefehl. Er besaß auch die „Diktaturgewalt“, umfassende Notstandsbefugnisse, auf Grund deren er weitreichende Verordnungen erlassen konnte, die aber auf Verlangen des Reichstags wieder aufgehoben werden mussten. Kam eine Regierungsmehrheit nicht zustande, konnte ein vom Reichspräsident berufener Reichskanzler sein Amt solange ausüben und mit Hilfe von Notverordnungen des Reichspräsidenten regieren, als ihm der Reichstag nicht das Misstrauen aussprach. Darin hat man eine „Reserveverfassung“ gesehen, bei welcher der Reichskanzler völlig vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig war. Die präsidialen Notstandsbefugnisse enthielten ein gefährliches Potenzial. Ihre Handhabung war das Problem, nicht die Regelung selbst. Sie „konnten genauso gut eingesetzt werden für die Erhaltung der parlamentarischen Demokratie

2 Text RGBl. 1919, S. 687 ff (S. 985). 3 Wehler, ebd., S. 409.

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(und sie sind es unter Ebert), wie sie unter Hindenburg in den Dienst der Hinwendung zur autoritären Regierungsform gestellt werden konnten“. 4 An der Weimarer Verfassung war aber eins jedenfalls grundsätzlich zu bemängeln: Sie setzte Verfassungsänderungen keine inhaltlichen Grenzen. Nur die republikanische Staatsform selbst blieb unaufhebbar. Diese „Weitherzigkeit“ ermöglichte es, sie mit ihren eigenen Instrumenten auszuhöhlen und faktisch zu beseitigen.

1.1.2 Anfangskrisen, Reparationen, Inflation, Staatskrise In den ersten stürmischen Jahren kam es immer wieder in verschiedenen Teilen des Reiches zu Unruhen und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Besonders schwer wurde die Republik im März 1920 erschüttert. Ein Politiker der Rechten, Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, unternahm einen Umsturzversuch, unterstützt von Teilen der Reichswehr und Freikorpsangehörigen, Freiwilligenverbänden ehemaliger Soldaten. Dieser „Kapp-­Putsch“ brach vor allem wegen eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks bald zusammen. Gleichwohl war seine Wirkung fatal: Das Ansehen der Reichsregierung, ­welche offenbar die Gefahr nicht erkannt hatte, litt Schaden und die Rechte fühlte sich im Aufwind. Die bewaffnete Macht des Staates, die Reichswehr, hatte sich als „unsicherer Kantonist“ erwiesen, die „Freikorps“ als Gefahrenpotenzial für die Republik. Ihrer beider Unzufriedenheit rührte daher, dass die Reichsregierung damit hatte beginnen müssen, die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages umzusetzen. Dazu gehörte insbesondere auch die Entwaffnung der Freikorps. Eine besonders schreckliche Folge des „Kapp-­Putsches“ erwuchs aus dem General­ streik. Die Arbeiter an der Ruhr radikalisierten sich und legten nach Zusammenbruch des Putsches ihre Waffen nicht nieder. Darauf ließ die Reichsregierung Truppen einmarschieren, sogar auch Freikorpseinheiten. Nach längeren Kämpfen mit mehr als tausend Toten, überwiegend Arbeiter, war „die Ordnung wiederhergestellt“. Verbitterung und Entfremdung unter der Arbeiterschaft an der Ruhr mussten die Folge sein. Am 6. Juni 1920 fanden die ersten regulären Reichstagswahlen statt, zu Recht als ­„Kata­s­trophenwahl“ bezeichnet. Sie waren ein Debakel für die Parteien der „Weimarer Koalition“, die nicht einmal die Hälfte der Mandate erlangten. Das Zentrum hielt sich, aber die Verluste der SPD und mehr noch der DDP waren exorbitant. Dafür erstarkten die Flügelparteien in hohem Maße: auf der Rechten die republikkritische Deutsche Volkspartei (DVP) und die republikfeindliche Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Auf der Linken waren es die Unabhängige Sozia­ldemokratische Partei (USPD) und die gerade gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die nie mehr eindeutigen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag machten von nun an die Regierungsbildung und auch das Regieren selbst sehr viel schwieriger. Enttäuschte Hoffnungen spielten bei dem Wahlergebnis eine entscheidende Rolle, vergebliches Hoffen auf einen milden Frieden, auf eine „starke“ Regierung, auf stabile Verhältnisse, andererseits auf Sozia­lisierungen, letztlich auf Demokratie und Republik insgesamt. Das Resultat konnte als „Misstrauensvotum gegen Weimar“ verstanden werden. Der Eindruck blieb, dass die Republik in der Wählerschaft über keine solide Basis verfügte. Immerhin hielten SPD und Zentrum bis zuletzt beträchtliche Stimmanteile.

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Friesenhahn, Thyssen-­Kolloquium, S. 98.

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Einseitig wäre es, dem Wähler der Weimarer Zeit die Schuld am Scheitern der ­Republik zuzuweisen. Eher ist ihm und den damaligen Parteien, außer den extremistischen, eine Überforderung zu attestieren.5 Denn der Erste Weltkrieg und seine Folgen hatten kaum lösbare Probleme verursacht. Im Deutschen Reich kam das nationale Trauma der Niederlage hinzu. Bei der extremen Rechten herrschte ein solcher Hass, dass sie zur Selbstjustiz schritt und brutale Rache an angeblichen „Verrätern“ nahm. Ehemalige Offiziere eines Freikorps, Mitglieder der geheimen „Organisation Consul“ (OC), verübten Attentate, ­welche die ­Republik entsetzten. Ihnen fielen der ehemalige Reichsfinanzminister Erzberger und der als Jude und „Erfüllungspolitiker“ besonders verhasste Reichsaußenminister Rathenau zum Opfer. Nach dessen Ermordung im Juni 1922 gingen die republiktreuen Parteien endlich zu einer aktiveren Gegenwehr über. Der Reichstag beschloss unter Mitwirkung der DVP am 23. Juli 1922 das „Gesetz zum Schutz der Republik“.6 Es enthielt Straf- und Verbotsbestimmungen gegen die Beteiligten an Vereinigungen, Verabredungen und Verbindungen zu politischen Morden und deren Unterstützer. Der von Reichskanzler Wirth und Rathenau formulierte Begriff „Erfüllungspolitik“ kennzeichnete den Umgang mit den alliierten Reparationsforderungen. Im Vertrag von Versailles war deren Gesamthöhe nicht festgelegt worden. Im April 1922 bezifferten die Alliierten schließlich ihre Forderungen mit 132 Milliarden Goldmark. Diese enorme Summe ließ wieder eine Welle nationaler Empörung entstehen. Wirth und Rathenau nun schickten sich, gestützt von den Parteien der „Weimarer Koalition“, realistisch in die Zwangslage und nahmen die ultimativen Forderungen an in der Hoffnung, es werde sich ihre praktische Unerfüllbarkeit erweisen. Mit den Reparationen war eine Geldentwertung verbunden. Diese hatte bereits im Weltkrieg begonnen, weil die Reichsleitung den Krieg vornehmlich durch Anleihen finanzierte. So war das Reich bei Kriegsende bereits extrem hoch verschuldet. Die Reichsfinanzreform 1919 verschaffte dem Reich zwar neue Einnahmequellen, eine Deckungslücke aber blieb. Gleichwohl gingen die Nachkriegsregierungen weiter den bequemen Weg, die Steuern nicht zu erhöhen, sondern die Verschuldungspolitik fortzusetzen. Löhne, Gehälter und Sozia­lleistungen waren so leichter zu finanzieren, und die deutschen Exporte wurden billiger. Auch die Reparationsleistungen konnten durch neue Schulden leichter aufgebracht werden. Dieses System konnte nicht mehr funktionieren, als im Januar 1923 französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, da das Reich mit Reparationslieferungen in Rückstand geraten sei. Die Reichsregierung verkündete den „passiven Widerstand“. Das gesamte Ruhrgebiet streikte, in Bergbau und Montanindustrie wie im öffentlichen Dienst. Der „passive Widerstand“ erzeugte reichsweit ein nationales Hochgefühl, aber er führte in eine Sackgasse. Das Reich musste die Lohn- und Gehaltskosten der Streikenden sowie der im öffentlichen Dienst Tätigen weiter aufbringen; außerdem fiel das Ruhrgebiet als Wirtschaftsfaktor und Steuerquelle aus. Die Notenpresse rotierte in rasendem Tempo, und die Inflation wurde zur „Hyperinflation“. Die Geldentwertung führte zu astronomisch hohen Preisen. So kostete im November 1923 ein Liter Milch 360 Milliarden Mark. Das deutsche Währungssystem brach endgültig zusammen. Die Währungskrise wurde damit zur Staatskrise. Im Rheinland wurden Separatisten aktiv, ein ­­Zeichen drohenden Zerfalls.

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Vgl. die Kontroverse z­ wischen Friesenhahn und Bracher, Thyssen-­Kolloquium, S. 135. RGBl. 1922, S. 585.

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In dieser „Stunde höchster Not“ wurde im August erstmals eine Regierung einer „Großen Koalition“ gebildet: Zu SPD, Zentrum und DDP trat die DVP hinzu. Reichskanzler wurde deren Vorsitzender Gustav Stresemann. Ende September brach die Reichsregierung den „passiven Widerstand“ ab. So unausweichlich dies gewesen sein mochte, erforderte es vor allem vom Reichskanzler selbst hohen Mut. Nun stand die zweite „Herkulesaufgabe“ an, die Inflation zu beenden und eine stabile Währung wiederherzustellen. Auf dem Verordnungswege traf die Regierung Stresemann einschneidende wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen, die in Verbindung mit einem „Währungsschnitt“, der Einführung einer „Rentenmark“, die Inflation im November beendeten und die Stabilisierung des Reichshaushalts einleiteten. Neben all dem kam es zu Auseinandersetzungen mit den Ländern Sachsen, Thüringen und Bayern wegen der Umsetzung des Ausnahmezustands. Gegenüber Sachsen und Thüringen setzte das Reich ihn zwangsweise durch; gegen Bayern unterblieb eine Reichsexekution. Im Zuge dessen ereignete sich am 9. November 1923 ein nationalsozia­listischer Putsch in München. Er scheiterte an der Uneinigkeit im rechten Lager, vor allem am Dilettantismus seines Anführers: Adolf Hitler. Als Stresemann Ende November zurücktreten musste, hatte er nach nur 99 Tagen Regierungszeit eine Krise bis dahin nicht gekannten Ausmaßes gemeistert. In den folgenden Monaten gelang es, wieder zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Die Bilanz des Inflationsjahres war für die Bürger unterschiedlich. Gewinner waren Sachwertbesitzer, deren Vermögen ungemindert blieb, und Schuldner, deren Schulden sich fast in nichts aufgelöst hatten. Dasselbe galt für die inländischen Verbindlichkeiten des Staates, der sich auf diese Weise weitgehend entschuldete. Die großen Verlierer waren die Besitzer von Geldvermögen in der unteren Mittelschicht und im Bildungsbürgertum. Gleich ob es sich um Sparguthaben, Kapitalrenten oder öffentliche Anleihen handelte, sie waren faktisch enteignet. Der Vertrauensverlust bei diesen Schichten war enorm, zumal sie aus patriotischem Pflichtbewusstsein Kriegsanleihen gezeichnet hatten. Aber auch über diese Schichten hinaus war generell in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in den Wert des Geldes erschüttert. Bei all den krisenhaften Ereignissen des Jahres 1923 hatten sich die Institutionen der Republik letztlich doch als stabil erwiesen. Die Wünsche nach einer stabileren Staatslenkung wurden aber stärker. Das alles förderte die Empfänglichkeit für radikale politische Parolen. Die Folgen des Krisenjahres waren für die „Weimarer Republik“ äußerst nachteilig.

1.1.3 Jahre scheinbarer Konsolidierung Die folgenden Jahre waren etwas ruhiger. Gustav Stresemann blieb bis zu seinem frühen Tod als Außenminister allen folgenden Reichsregierungen erhalten. Seine Außenpolitik blieb nicht auf Rechtspositionen fixiert und entwickelte auch Verständnis für das französische Sicherheitsbedürfnis. 1924 wurde durch den Dawes-­Plan ein Abkommen, eine vorläufige Regelung der Reparationen getroffen, bei der sich auf alliierter Seite ein veränderter Denkansatz zeigte. Das Deutsche Reich sollte in den Stand versetzt werden, die Leistungen auch tatsächlich zu erbringen. Dazu wurde ihm eine hohe amerikanische Anleihe gewährt, sodass es seine Reparationsgläubiger bedienen konnte und diese wiederum ihre Kriegsschulden an die Vereinigten Staaten zurückzahlen konnten; das Geld floss in Gestalt weiterer amerikanischer Kredite nach Deutschland zurück. Ein schöner Kreislauf, er durfte nur nicht unterbrochen werden. Der nun einsetzende

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wirtschaftliche Aufschwung war allerdings nicht durchgreifend, weil der Außenkreditanteil zu hoch, die Investitionstätigkeit zu gering und die Landwirtschaft ineffizient war. Einschneidend war ein Wechsel an der Staatsspitze. Im Februar 1925 starb der verdienstvolle Reichspräsident Friedrich Ebert im Alter von erst 54 Jahren. Zu seinem Nachfolger wurde als Kandidat der Rechtsparteien der 77-jährige Paul von Hindenburg gewählt, preußischer Generalfeldmarschall und erklärter Monarchist. Der Kandidat der republiktreuen Mitte-­ Links-­Parteien, Wilhelm Marx, unterlag knapp. Der Wahlausgang zeigt, dass im Reich eine antirepublikanische Mehrheit möglich war. Im Wählervotum für eine Symbolfigur des Kaiserreichs kam zugleich Sehnsucht nach vergangener Größe zum Ausdruck, wohl auch Sehnsucht schlechthin nach „alten Zeiten“. Andererseits förderte die Wahl immerhin bei der Rechten eine gewisse Tendenz zur Annäherung an den Weimarer Staat und Hindenburg hielt sich, einstweilen jedenfalls, strikt an die Verfassung. Eine auf Verständigung ausgerichtete Linie der Außenpolitik europäischer Staaten gewann im Herbst 1925 Konturen. Bei einer Konferenz in Locarno schlossen Belgien, das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, Polen und die Tschechoslowakei einen Pakt, der die Unverletzlichkeit der deutschen Westgrenze garantierte, die Entmilitarisierung des Rheinlands festschrieb und einen deutsch-­polnischen Gewaltverzicht enthielt. Der Vertrag bedeutete vornehmlich einen freiwilligen deutschen Verzicht auf Elsass-­Lothringen und eine Aufgabe französischer Ambitionen auf die Rheingrenze, er war ein Aufbruchssignal. Im September wurde das Deutsche Reich in den Völkerbund aufgenommen. Dies war der äußere Höhepunkt der kongenialen Zusammenarbeit Stresemanns mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 kam es zu einem „Linksruck“. Die „Bürgerblock-­ Parteien“, w ­ elche die bisherige Regierung gebildet hatten, verloren Stimmen, die DNVP, ebenfalls an der letzten Reichsregierung beteiligt, sank gar von 20 auf 14 %. Dagegen erlangte die SPD mit knapp 30 % fast ein Drittel der Sitze im Reichstag. Das Wahlergebnis ermöglichte jedoch keine Wiederauflage der „Weimarer Koalition“, vielmehr war die Erweiterung nach rechts um die DVP Stresemanns notwendig, also eine „Große Koalition“. Die Regierungsbildung unter Hermann Müller (SPD) als Reichskanzler erwies sich als sehr mühselig; von der Außenpolitik abgesehen gab es nun mal nicht viele Gemeinsamkeiten ­zwischen DVP und SPD. So wurden dann auch in der Außenpolitik weitere Fortschritte erzielt. Im Spätsommer 1929 kam eine Einigung mit den Gläubigerstaaten über eine endgültige Regelung der Reparationen zustande. Dieser sogenannte Young-­Plan sah niedrigere Annuitäten und eine Ablösung der alliierten Finanzkontrolle vor. Freilich war die noch zu zahlende Gesamtsumme mit 110 Milliarden Mark sehr hoch, und die Laufzeit sollte ganze 60 Jahre betragen – bis 1989. Nur dies im Blick, nicht aber die Vorteile, lief die Rechte gegen die Annahme Sturm. DNVP und NSDAP erzwangen einen Volksentscheid über den Plan, der jedoch die erforderliche Mehrheit bei weitem verfehlte. Die Annahme des Young-­Plans trug wesentlich zur vorzeitigen Räumung der noch besetzten Gebiete des Rheinlands im Juni 1930 bei. Stresemann konnte sich ­dieses Erfolgs seiner beharrlichen Verständigungspolitik nicht mehr erfreuen; er war am 3. Oktober 1929 gestorben, erst 51 Jahre alt. Wie Ebert hatte er im Dienst der Republik seine Gesundheit aufgerieben. Die vorzeitige Rheinlandräumung wurde in der deutschen Öffentlichkeit wenig gewürdigt. Andere Entwicklungen hatten sich davorgeschoben. Der Anschein der Konsolidierung war vorbei.

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1.1.4 Zweite Staatskrise: die Schlussphase der Republik Stresemanns Tod war wie ein Menetekel. Mit einem Rechtsruck wurde seine DVP endgültig zur antimarxistischen Wirtschaftspartei. Die Industrie ihrerseits verabschiedete sich von der Idee der Sozia­lpartnerschaft, die 1919 in Vereinbarungen wie über den Achtstundentag grundgelegt worden war. Zudem verschlechterte sich die Wirtschaftslage insgesamt dramatisch. Im Oktober 1929 löste der „Börsenkrach“ in New York die Weltwirtschaftskrise aus. Wegen der engen Verbindung mit der amerikanischen Wirtschaft griff sie bald auf das Reich über. Zwei Wochen, nachdem das Young-­Plan-­Gesetz verabschiedet worden war, „vollzog die DVP den Koalitionsbruch, und auch große Teile der SPD waren der Auseinandersetzungen in dieser Koalition […] überdrüssig“.7 Anlass war die streitige Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung um einen halben Prozentpunkt zur Deckung des Haushalts. So endete die letzte parlamentarische Regierung der Republik. Der Nachfolger Müllers war schon aus der Umgebung des Reichspräsidenten in Stellung gebracht worden. Am 30. März 1930 wurde der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Heinrich Brüning, zum Reichskanzler ernannt. Ehemaliger Frontoffizier, verehrte er Hindenburg. Die Sanierung des Haushalts durch eine rigorose Deflationspolitik mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen sah er als seine wichtigste Aufgabe an. Der Charakter der Regierung B ­ rüning als Präsidialkabinett trat klar hervor, als der Reichstag im Juli zwei Notverordnungen zur Deckung des Haushalts aufhob und daraufhin aufgelöst wurde. Der Erlass einer neuen Notverordnung war eine Umgehung des Parlaments. Bei anwachsender Wirtschaftskrise den Reichstag aufzulösen, war riskant. Das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 14. September übertraf noch die Befürchtungen. Bei Verlusten der bürgerlichen Parteien erhielt die NSDAP statt zuletzt 2,6 % nunmehr 18,3 % der Stimmen und errang sensationelle 107 Mandate. Damit war sie nach der SPD zweitstärkste Partei geworden. Die KPD stieg auf 13,1 %. Mit d ­ iesem Reichstag konnte keine regierungsfähige Mehrheit gebildet werden, und Brüning begann erst gar keine Verhandlungen mit den Parteien. Seine Wirtschafts- und Finanzpolitik setzte er mit weiteren Notverordnungen beharrlich fort. Dabei musste er doch in einer Hinsicht auf den Reichstag Bedacht nehmen. Es galt eine „destruktive“ Mehrheit zu verhindern, die ihm das Misstrauen aussprach und so seinen Rücktritt erzwang. Seinem Bemühen um „passive Unterstützung“ erteilte die NSDAP jedoch eine Abfuhr. Danach wandte er sich der SPD zu, die sich schließlich dazu durchrang, seine Regierung zu „tolerieren“. Sie sah Brüning als das kleinere Übel gegenüber radikaleren Alternativen und wollte eine Gefährdung ihrer Machtstellung in Preußen verhindern. Brünings Politik bewirkte nur, dass Produktivität und Einkommensniveau sanken. Zugleich stieg und stieg aber die Arbeitslosenzahl auf zuletzt über 6 Millionen Anfang 1932, das bedeutete eine Quote von mehr als 30 %. Dies führte zur Verelendung und einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit ganzer Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig radikalisierte sich das politische Leben, insbesondere durch die „Parteiarmeen“ von NSDAP und KPD: SA und Rotfrontkämpferbund. Sie lieferten sich Straßenkämpfe miteinander und mit der Polizei. Der Haushaltsausgleich wurde nicht erreicht, aber es blieb das außenpolitische Ziel eines Endes der Reparationen.

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Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 284.

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Die wirtschaftlich katastrophale Lage wollte er daher gar nicht vorrangig bekämpfen, sondern ­nutzen, um mithilfe einer rigorosen Spar- und Deflationspolitik […] den Siegermächten die offenbare Zahlungsunfähigkeit des Reiches und die Unerfüllbarkeit ihrer Forderungen vor 8 Augen zu führen.

Ob d ­ ieses Ziel Brünings wirklich so überragend war, ist fraglich. Er griff jedenfalls kompetente Vorschläge für eine Belebung der Wirtschaft nicht auf. Den Arbeitslosen wäre aber die Erlösung aus ihrem alltäglichen Elend wichtiger gewesen. Aber Großindustrie und Großlandwirtschaft, Reichspräsident und Reichswehrführung wollten auch ein Ende der Reparationen. Dies hielt Brüning noch eine Zeitlang im Amt. Die eben genannten Machtträger verübelten dem Kanzler seit Herbst 1931, seine Politik verschärfe die Krise, stärke die KPD, und er sei von der SPD abhängig. Weiteres kam hinzu: Im Frühjahr 1932 endete die Amtszeit Hindenburgs. Weil er der einzige zu sein schien, welcher den Kandidaten der NSDAP, Hitler, werde überwinden können, veranlasste Brüning ihn, sich erneut zur Wahl zu stellen. Der Kanzler setzte sich mit seiner ganzen Person für Hindenburg ein, der sich am 10. April erst im zweiten Wahlgang mit 53 % gegen Hitler (35,8 %) und Thälmann (KPD, 10,2 %) durchsetzte. In welchem Zustand musste die Republik sein, wenn ein monarchistischer alter Feldmarschall ihr letzter Nothelfer gegen die Radikalen war? Der Wahlsieger war aber unzufrieden und undankbar. Er lastete Brüning an, er sei von einer „falschen“ Mehrheit wiedergewählt worden, überwiegend von Anhängern des katholischen Zentrums und der SPD. Hinzu kam, dass die herbe Niederlage der Brüning tolerierenden SPD bei den preußischen Landtagswahlen am 24. April mittelbar auch die Stellung des Kanzlers schwächte. Außerdem wurde Brüning nicht mehr zur unmittelbar bevorstehenden Lösung der Reparationsfrage benötigt. So hielten die Gegner des Kanzlers den Zeitpunkt für dessen Ablösung für gekommen. „Drahtzieher“ war der politische Kopf der Reichswehr, General von Schleicher, „der das Konzept einer langfristigen Etablierung eines von der Reichswehr getragenen antiparlamentarisch-­ autoritären Präsidialregimes unter Einbeziehung der NSDAP verfocht […].“9 So entzog H ­ indenburg dem Kanzler sein Vertrauen und zwang Brüning am 30. Mai 1932 auf entwürdigende Weise zur Demission. Der Nachfolger stand schon bereit; nur zwei Tage später wurde der politisch wenig hervorgetretene Franz von Papen vom äußersten rechten Flügel des Zentrums neuer Reichskanzler. Kennzeichnend ist die Geschichte, Schleicher sei besorgt angesprochen worden, wie er einen solchen Mann zum Kanzler habe machen können, der sei doch „kein Kopf “. Darauf Schleicher vergnügt: „Aber er ist ein Hut.“10 Papen, von mäßiger Intelligenz, dafür intrigant, präsentierte eine Regierung ultrakonservativer Gleichgesinnter überwiegend adeliger Herkunft, das „Kabinett der Barone“. Starker Mann war der neue Reichswehrminister von Schleicher. Für das Zentrum kam eine Unterstützung Papens nicht in Betracht; einem Parteiausschluss kam er durch Austritt zuvor. Seine Regierung besaß auch sonst kaum parlamentarischen Rückhalt. Ihre Bilanz war verheerend. Als erstes sorgte Papen für die Auflösung des Reichstags mit der bemerkenswerten Begründung, er entspreche nach dem Ergebnis der letzten Landtagswahlen nicht mehr

8 Herbert, ebd., S. 287. 9 Herbert, ebd., S. 290. 10 Schulze, ebd., S. 373.

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„dem politischen Willen des deutschen Volkes“.11 Die Auflösung war eine Vorbedingung der NSDAP für eine Tolerierung der Regierung. Eine weitere wurde erfüllt durch Aufhebung des SA-Verbots, das noch unter Brüning erlassen worden war. Das heizte den Wahlkampf an, der mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen zum blutigsten wurde, den es bis dahin gegeben hatte. Schließlich beseitigte Papen die legale preußische Regierung staatsstreichartig auf Grund einer von ihm erwirkten Verordnung des Reichspräsidenten. Auf der anderen Seite hatte er sich die Industrie durch eine Notverordnung geneigt zu machen versucht, mit der Sozia­lleistungen drastisch reduziert wurden. Dies konnte nur den Flügelparteien Wähler zutreiben. Einziger Erfolg war nur das von Brüning intensiv vorbereitete Ende der Reparationen, welches im Lärm der innenpolitischen Auseinandersetzungen kaum mehr wahrgenommen wurde. Im Sommer 1932 Reichstagsneuwahlen anzusetzen war ein Akt des Wahnsinns. Nach den letzten Landtagswahlen stellte das Ergebnis der Reichstagswahlen keine Überraschung dar, es war ein Triumph der Nationalsozia­listen. Sie verdoppelten ihren Stimmenanteil auf 37,4 %, waren nun mit 230 Mandaten die mit Abstand stärkste Fraktion. Während die SPD auf 21,4 % niedersank, steigerte sich die KPD auf 14,5 %. Die beiden extremen Flügelparteien hatten also zusammen eine absolute, aber destruktive Mehrheit von 52 %. DDP und DVP wurden zerrieben, und die DNVP schrumpfte auf 5,9 %. Auf dem Papier war nur eine Koalition von NSDAP und Zentrum möglich, das seinen Stimmenanteil behauptet hatte. Bei Sondierungsgesprächen z­ wischen beiden Parteien erwiesen sich die Widersprüche jedoch als zu groß. Hitlers Verlangen nach der ganzen Macht wies der Reichspräsident in einer persönlichen Unterredung zurück. Bei der ersten Reichstagssitzung am 12. September 1932 stand ein kommunistischer Misstrauensantrag gegen die Regierung auf der Tagesordnung. Papen hatte sich vorsorglich eine Verordnung zur Auflösung des ja gerade erst gewählten Reichstags von Hindenburg unterschreiben lassen. Der handschriftliche, offenbar improvisierte Text lautete: „[…] löse ich den Reichstag auf, weil die Gefahr besteht, daß der Reichstag die Aufhebung meiner Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt“.12 Der Reichstag hatte aber nach der Verfassung gerade das Recht, die Aufhebung einer Notverordnung zu verlangen. Ihn deshalb aufzulösen, war Verfassungsbruch. Der neue Reichstagspräsident Göring ließ ungeachtet einer Wortmeldung des Reichskanzlers über den Misstrauensantrag abstimmen. Dieser legte schließlich Göring die Mappe mit der Auflösungsordre aufs Pult. Die Abstimmung konnte mit 512 Ja- gegen 42 Nein-­Stimmen bei fünf Enthaltungen für Papen kaum schlimmer ausgehen. Göring erklärte, verfassungsrechtlich Unfug, die Auflösungsverordnung sei wirkungslos, da dem Kanzler ja das Misstrauen ausgesprochen worden sei. So kam es am 6. November zum zweiten Mal in d ­ iesem Jahr zu Reichstagswahlen. Die Stimmen für die NSDAP gingen auf 33,1 % zurück, sie stellte nur noch 196 Mandate. Der Siegesnimbus der Partei schien beschädigt. Die republikanischen Kräfte glaubten, etwas aufatmen zu können. Es begann nun wieder ein Karussell von Sondierungsaufträgen. Zuletzt fragte Hindenburg wieder Papen. Dieser verlangte aber Vollmachten, die ans Diktatorische grenzten. Da geschah, womit er nicht gerechnet hatte: Schleicher wollte diesen Kurs nicht und ließ den Kanzler f­ allen. Nun ging es nicht anders, er musste am 3. Dezember selbst das Amt des Reichskanzlers übernehmen. Er versuchte, als Machtbasis eine „Querfront“ aufzubauen. Sie sollte vom „linken“

11 Verordnung des Reichspräsidenten vom 4. Juni 1932, RGBl., S. 255. 12 RGBl. 1932, S. 441. Abbildung des Originals bei Schulze, Weimar, S. 385.

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Flügel der NSDAP um Gregor Strasser bis zu den Gewerkschaften reichen. Hitler isolierte jedoch Strasser, der daraufhin von allen Parteiämtern zurücktrat. Schleichers ­Kontaktversuche zu den Gewerkschaften erschienen Hindenburg als Verrat. So war die Kanzlerschaft des Generals nach knapp zwei Monaten schon am Ende. Unterdessen hatte der rachedurstige Papen Kontakt mit Hitler aufgenommen. Er hatte sein Ursprungskonzept einer Präsidialregierung mit Abstützung auf die NSDAP umgestellt und war jetzt bereit, Hitler als Reichskanzler zu akzeptieren. Die konservativen Fachminister sollten bleiben und der DNVP-Vorsitzende Hugenberg ein wichtiges Ressort übernehmen. Hitler ging darauf ein. Eingaben von Industrie- und Agrarverbänden bedrängten den Reichspräsidenten, Hitler mit der Kanzlerschaft zu betrauen. Der mit größtem Propagandaaufwand errungene Wahlerfolg der NSDAP in dem kleinen Land Lippe-­Detmold verstärkte eine für die NSDAP günstige Stimmung. Hindenburg ließ sich von Papens „Einrahmungskonzept“ überzeugen und ernannte Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Papen wurde Vizekanzler und ­Hugenberg Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister. Nationalsozia­listen waren, außer dem Kanzler, nur Innenminister Frick und Göring als Minister ohne Geschäftsbereich. Formal wurde Hitler die Macht nicht von einem senilen, sondern von einem Reichspräsidenten übertragen, der den Kanzler einer Regierung der nationalen Einheit bestellen wollte. Dabei wurde Hindenburg beeinflusst von Vertretern gesellschaftlicher Schichten und wirtschaft­ licher Interessen, deren Stellung 1918/19 deutlich reduziert worden war, und die dies rückgängig machen wollten. „Machtergreifung“ ist ein falscher Begriff. Hitler ist aber auch nicht „legal“ an die Macht gekommen. „Die Berufung auf den formalen Vorgang verfälscht den wahren Charakter ­dieses Regierungswechsels. Es waren durchaus unverantwortliche, außerverfassungsmäßige Exponenten politischer und wirtschaftspolitischer Bestrebungen und Illusionen, die Hitler die Macht in die Hände spielten.“13 Zwangsläufig war das alles nicht. Unglückliche Republik. Für ihr Unglück war sie selber nur insoweit verantwortlich, als ihre Verfassung auch durch kluge Handhabung kaum auszugleichende Mängel besaß. Zum größten Teil wurde ihr das Unglück von ihren innenpolitischen Widersachern beigebracht. Entscheidend war, dass der Rechten, die von Anfang an der Republik und dem Parlamentarismus als Teil der kulturellen Moderne feindlich gegenüberstand, in Hitler und der NSDAP eine Massenpartei mit einem charismatischen Führer erwuchs. Nach den Ergebnissen der Reichstagswahlen von 1932 hatte sich die Mehrheit der Wähler von der Republik abgewandt. Unglückliche Republik. Die griffige Formel einer „Republik ohne Republikaner“ ist irreführend. Es gab Republikaner bis zuletzt, allerdings nicht genug. Grenzte es an ein Wunder, dass die Republik die chaotischen Anfangsjahre überstand, so war es keines, dass sie dem zweiten Ansturm erlag.

13 Bracher, Auflösung, S. 638.

Der „Freistaat Preußen“ – Heil und Hort der Weimarer Republik?

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1.2 Der „Freistaat Preußen“ – Heil und Hort der Weimarer Republik? 14 1.2.1 Die Rolle des neuen Preußen im politischen Leben der Republik Preußen war die Großmacht, ­welche die deutsche Einheit durch die drei „Einigungskriege“ herbeigeführt hatte. Es hatte den neuen Nationalstaat wesentlich geprägt. Dies folgte schon aus der gemeinsamen Hauptstadt Berlin und der Größe des preußischen Gebiets. Es bestand eine doppelte personelle Verklammerung: Nach Art. 11 der Reichsverfassung vom 16. April 1871 stand das Präsidium des Bundes dem König von Preußen zu, der den Namen „Deutscher ­Kaiser“ führte. Zum Zweiten war der Reichskanzler nach der Staatspraxis zugleich auch preußischer Ministerpräsident. Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident wurden vom Monarchen ernannt. Sie waren von dessen Vertrauen abhängig, nicht aber parlamentarisch verantwortlich. Nach all dem nimmt es nicht wunder, dass am Ende des Weltkrieges Preußens Fortbestehen in Frage gestellt war. Bei der politischen Linken hatte es schon länger Gedanken gegeben, Gebietsteile wie das Rheinland von Preußen abzutrennen oder Preußen ganz aufzulösen, da nur so seine Dominanz beseitigt werden könne. Aber die Stunde der Revolution wurde nicht für umwälzende Schritte genutzt. Ebert gelang es vielmehr, eine neue preußische Landesregierung zu initiieren. Die Frage nach dem Fortbestand Preußens kam aber bei den Verfassungsberatungen auf Reichsebene wieder auf. Ein erster Entwurf des liberalen Staatsrechtslehrers Hugo Preuß sah eine einheitsstaatliche Lösung vor. Sie konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Im Ergebnis blieb das Reich ein Föderalstaat, wie sich aus Art. 2 der Weimarer Verfassung (WV ) ergab: „Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder.“ Streitige Gebietsänderungen waren nur mit verfassungsändernder Mehrheit in Reichstag und Reichsrat möglich (Art. 18 WV). Dort konnte Preußen nicht überstimmt werden. Eine wirkliche Hegemonialstellung besaß Preußen aber nicht mehr. Zwei wesentliche Klammern z­ wischen ihm und dem Reich entfielen künftig. Der Reichspräsident war ausschließlich Organ des Reiches, die Reichswehr ausschließlich Truppe des Reiches. Aber Preußen blieb an Fläche und Bevölkerungszahl (40 Millionen gegenüber 70 Millionen im gesamten Reich) der größte Einzelstaat. Daran konnten auch die schon erwähnten durch den Friedensvertrag eingetretenen großen Gebietsverluste nichts ändern. Von ihnen ist die der Kreise Eupen und Malmédy hervorzuheben, weil sie den Regierungsbezirk Aachen deutlich verkleinerte. Jedenfalls waren Größe und Bevölkerungszahl Preußens die Faktoren, die das Verhältnis zum Reich und zu den anderen Ländern wesentlich bestimmten. Die Unruhen und Kämpfe der Anfangsjahre des Reiches spielten sich überwiegend auf preußischem Gebiet ab, in Berlin, in dem mitteldeutschen Industriegebiet Halle-­Merseburg und im Ruhrgebiet. Der „Kapp-­Putsch“ ging von Berlin aus. Die Beziehungen ­zwischen Reichsregierung und preußischer Regierung waren eng, weil beide von einer „Weimarer Koalition“ getragen wurden. Die Verfassungsberatungen zogen sich länger hin als im Reich. Die am 26. Januar 1919 gewählte verfassungsgebende Landesversammlung beschloss erst am 30. November 1920 eine „Verfassung des Freistaats Preußen“, die am selben Tag in Kraft trat.15 Die Präambel lautete: 14 Zum gesamten Kapitel vgl. Schulze, Otto Braun, Kapitel 3 – VI,7 S. 225 – 745; zum Folgenden auch Clark, Preußen, S. 704 ff. 15 Preußische Gesetzessammlung (GS.), S. 543.

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„Das preußische Volk hat sich durch die verfassungsgebende Landesversammlung folgende Verfassung gegeben […].“ Hierin zeigte sich eindeutig der völlige Umbruch vom monarchischen Preußen, dessen Verfassungsurkunde Friedrich Wilhelm, König „von Gottes Gnaden“, 1850 verkündet hatte, zum neuen Preußen, einer demokratischen Republik. Träger der Staatsgewalt sei das Volk, welches seinen Willen außer durch die verfassungsmäßigen Organe auch durch Volksbegehren und Volksentscheid äußere (vgl. Art. 2 und 3). Als entscheidende Organe waren Landtag, Staatsministerium und Staatsrat bestimmt. Ein eigenes Staatsoberhaupt war nicht vorgesehen. Das wichtigste Organ war der Landtag, der aus den „Abgeordneten des preußischen Volkes“ bestand und „von ihm nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ bestimmt wurde (Art. 9). Das preußische Dreiklassenwahlrecht war damit endlich beseitigt, und auch die Frauen erhielten das Stimmrecht, beides institutioneller Ausdruck eines neuen Preußen. Der Landtag konnte sich selbst auflösen und durch Volksentscheid oder Beschluss des „Dreimännerkollegiums“ (Landtagspräsident, Ministerpräsident und Staatsratspräsident) aufgelöst werden. Er wählte den Ministerpräsidenten, und hatte über das Gesetzgebungsrecht hinaus Befugnisse, ­welche in den Aufgabenbereich der Exekutive hineingingen. So konnte er beispielsweise „Grundsätze für die Verwaltung der Staatsangelegenheiten“ aufstellen und deren Durchführung überwachen (vgl. Art. 29 Abs. 1). In Art. 7 wurde das Staatsministerium, bestehend aus Ministerpräsident und Staatsministern, als die oberste vollziehende und leitende „Behörde“ bestimmt. Nach Art. 57 bedurften „das Staatsministerium als solches und jeder einzelne Staatsminister des V ­ ertrauens des Volkes, das ­dieses durch den Landtag bekundet.“ Der Ministerpräsident führte nicht nur den Vorsitz im Staatsministerium und leitete dessen Geschäfte, sondern hatte auch die Kompetenz, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Das Staatsministerium als Kollegialorgan vertrat das Land nach außen und hatte das Notverordnungsrecht. Der Staatsrat war zur Vertretung der Provinzen bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Staates gebildet.16 Er war keine echte zweite Kammer. So konnte sein Einspruch gegen Gesetze vom Landtag überstimmt werden. Aber er hatte von Anfang an einen ambitionierten Präsidenten, den damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Bei dieser verfassungsrechtlichen Gesamtkonstruktion vermochte die Staatsregierung sich neben dem Landtag eine starke Stellung zu verschaffen. Dies war das Verdienst des Sozia­ldemokraten Otto Braun, der „wichtigste[n] Persönlichkeit in ­diesem überraschend stabilen politischen System“.17 Von 1920 an blieb er mit zwei ­kurzen Unterbrechungen Ministerpräsident bis 1933. Die Krisen der ersten Jahre waren auch dadurch geprägt, dass ­zwischen Reichspolitik und Landespolitik starke wechselseitige Abhängigkeiten und auch Verwerfungen bestanden. Bei den Landtagswahlen 1921 erlitten die Parteien der „Weimarer Koalition“ Verluste, aber nicht so schwer wie im Reich 1920. Zunächst wurde eine Regierung aus Zentrum, DDP und DVP unter Ausschluss der SPD gebildet. Im November 1921 wurde die SPD jedoch wieder einbezogen. Die so entstandene „Große Koalition“ wählte Braun wieder zum Ministerpräsidenten. Das Regieren in dieser Konstellation war schwierig. Die Zusammenarbeit z­ wischen indus­ trienaher DVP und SPD war für beide eine harte Probe. Die Koalitionspartner einte ein grundsätzlicher Wille zur Zusammenarbeit, der auch dringend durch die Zeitereignisse, nämlich Inflation und Ruhrbesetzung, gefordert war. Preußen war das am meisten, auch finanziell,

16 Vgl. zum Staatsrat im Verfassungsleben Preußens Adenauer, Konrad Adenauer als Präsident, S. 355 ff. 17 Clark, ebd., S. 717.

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betroffene Land im Reich, die Besatzungszone links des Rheins und das besetzte Ruhrgebiet gehörten ja zu seinem Territorium. Braun erkannte früh, dass der „passive Widerstand“ eingestellt werden müsse, und trat für eine Beteiligung der SPD an einer Reichsregierung unter Stresemann ein. Zeitweilig befürchtete er, das Rheinland werde von Reich und Preußen nicht weiter finanziell unterstützt werden können. Die noch größere Gefahr, es vom Reich abzuspalten, der „rheinische Separatismus“, ging vorüber. Er genoss zwar die Unterstützung der französischen Besatzungsmacht, traf aber auf geschlossene Ablehnung der Bevölkerung. Zu Recht ist Preußen als die Klammer eines Reiches bezeichnet worden, welches auseinanderzubrechen drohte. Wenn die Regierung der Großen Koalition in Preußen ungeachtet aller inneren Spannungen fast bis zur Landtagswahl 1924 bestehen blieb, war das nicht zuletzt der Integrations­ fähigkeit Brauns zu verdanken. Braun nahm seine Führungsrolle von Anfang an betont wahr. Seine Richtlinienkompetenz legte er so aus, dass alle Ressortangelegenheiten von politischer Bedeutung darunterfielen, und setzte diesen Standpunkt auch durch. Nach den Landtagswahlen im Dezember 1924, die keine grundlegenden Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse im Landtag ergaben, setzte ein vierteljähriges Verwirrspiel um die Regierungsbildung ein. Ursache war die mangelnde Geschlossenheit der Zentrums-­Fraktion. Abgeordnete des rechten Flügels, darunter der spätere Reichskanzler von Papen, sperrten sich gegen eine weitere Koalition mit der SPD. Der tragische, frühe Tod von Reichspräsident Ebert im Februar 1925 führte am Ende zur Auflösung des Dilemmas. Bei der Wahl eines neuen Reichspräsidenten kandidierte Braun für die SPD. Im ersten Wahlgang errang er mit 29 % der Stimmen mehr als seine Partei bei der letzten Reichstagswahl. Der Zentrumskandidat Marx erhielt nur 14 %, dagegen die meisten Stimmen mit 39 % der Duisburger Oberbürgermeister Jarres (DVP) als Kandidat der „Vereinigten Rechten“. Die SPD zog nun die Kandidatur Brauns zurück. Im zweiten Wahlgang unterstützte sie die Kandidatur Marx’, der allerdings, wie geschildert, dem (neuen) Kandidaten der Rechten, Hindenburg, unterlag. Im Gegenzug wählte auch die Landtagsfraktion des Zentrums Braun am 3. April zum Ministerpräsidenten. Braun bildete nun ein Minderheitskabinett der „Weimarer Koalition“. Es erwies sich als „dauerhaftes Provisorium“; denn die Opposition fürchtete sich vor Neuwahlen, ein deutschnationaler Misstrauensantrag wurde im Mai 1925 mit großer Mehrheit abgelehnt. So blieb die Dreiparteien-­Koalition über die ganze Legislaturperiode bestehen. Dazu trug wesentlich bei, dass die Fraktionsspitzen von SPD und Zentrum menschlich und politisch harmonierten. In Preußen konsolidierten sich die Verhältnisse mehr als im Reich. Mit Spannung war zu erwarten, wie sich das Verhältnis Brauns zum neuen Reichspräsidenten entwickeln würde. Denn „Hindenburg stand für alles, was Braun zuwider war: Er war ostelbischer Junker, er war Militarist, […] er war Monarchist und das Idol aller Feinde des Weimarer Staats und seiner Verfassung.“18 Zunächst entwickelte sich ein nicht nur korrektes, sondern fast schon freundschaftliches Verhältnis. Hindenburg hielt sich zunächst streng an seinen Amtseid. Auch mochten beider ostpreußische Herkunft und eine gemeinsame Leidenschaft für die Elchjagd eine Rolle spielen. Auf die Dauer machte sich doch bemerkbar, dass Reichspräsident und Ministerpräsident aus ganz unterschiedlichen politischen Welten stammten, und die Freundschaft erkaltete.

18 Schulze, ebd., S. 488.

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Die Beziehungen zur Reichsregierung waren naturgemäß von der unterschiedlichen Zusammensetzung geprägt: „Weimarer Koalition“ in Preußen, im Reich „Bürgerblock“. Die grundlegenden innenpolitischen Differenzen wurden in zwei Fällen besonders deutlich, zunächst an der Flaggenverordnung des Reichspräsidenten vom Mai 1926, w ­ elche auf die Reichsregierung zurückging. Die deutschen Auslandsvertretungen sollten danach außer der Reichsflagge Schwarz-­Rot-­Gold die Handelsflagge Schwarz-­Weiß-­Rot mit den Reichsfarben in der Gösch (linke obere Ecke) zeigen. Brauns scharfer Protest blieb wirkungslos. Kurz darauf scheiterte ein Volksentscheid über eine entschädigungslose Enteignung der Fürstenhäuser. Er ging auf ein gemeinsames Volksbegehren von SPD und KPD zurück. Immerhin erzielte er 14,5 Millionen Stimmen; 20 Millionen wären erforderlich gewesen. Im Herbst 1926 trat, amtsmüde geworden, der langjährige Innenminister Severing zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte Braun den Landtagsabgeordneten und Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski. Auf Proteste aus der Fraktion verwies der Ministerpräsident schlicht auf sein Ernennungsrecht nach der Landesverfassung und zeigte so der Fraktion ihre Grenzen. Neue Spannungen mit dem Reich entstanden, als im Januar 1927 ein viertes Kabinett Marx gebildet wurde, ohne DDP, aber mit der DNVP und deren Mitglied von Keudell als Innenminister. Dieser war nach dem Kapp-­Putsch wegen Illoyalität als preußischer Landrat abgelöst worden. Kennzeichnend für seine Amtsführung war, dass er den langjährigen Leiter der Verfassungsabteilung seines Hauses, den parteilosen aber betont republiktreuen Ministerialdirektor Brecht, in den einstweiligen Ruhestand versetzte. Daraufhin wurde Brecht als stellvertretender Reichsratsbevollmächtigter in preußische Dienste aufgenommen. Wesentlich war, dass das Zentrum in Preußen Koalitionstreue wahrte. Diese wurde auf die Probe gestellt, als es zu Auseinandersetzungen mit der Reichsregierung wegen des Finanzausgleichs kam, und die Regierung Marx ein Reichsschulgesetz plante (das allerdings nicht zustande kommen sollte). Beides hätte das Zentrum zu anderen Konstellationen, sogar in Richtung DNVP, verlocken können, aber es blieb standhaft. Nach dem Scheitern des letzten Kabinetts Marx wurde der Reichstag aufgelöst. Der preußische Landtag löste sich ein halbes Jahr vor Ablauf seiner Legislaturperiode auf, um Neuwahlen für beide Parlamente am selben Tag, dem 20. Mai 1928, zu ermöglichen. Die SPD verbuchte in beiden Wahlen deutliche Gewinne. Ernsthafte Überlegungen, Braun solle zusätzlich das Amt des Reichskanzlers übernehmen, wurden wieder fallen gelassen. Die Reichstagsfraktion und der Parteivorstand entschieden sich nun für Hermann Müller als Kanzler einer Großen Koalition, wie schon erwähnt. Der Ministerpräsident entzog sich jedoch dem Drängen, auch in Preußen eine s­ olche Koalition zu bilden. Er wollte in Preußen klare Verhältnisse und eine beständige Fortführung seiner bisherigen Politik. Damit machte er aber Hermann Müller die Regierungsbildung schwer, die sich bis in den Juni hinzog. Hermann Müller, der nun einmal ein „weicherer“ Charakter war als Braun, hatte gegenüber der sehr selbstbewussten Reichstagsfraktion einen schweren Stand. Braun hatte es da deutlich leichter. Er konnte sich durchweg auf den SPD-Fraktionsvorsitzenden Ernst Heilmann, und den des Zentrums, Joseph Hess, verlassen. Heilmann hielt ihm weitgehend den Rücken frei, und Hess war ein überzeugter Anhänger der Koalition mit der SPD . Aus Führungsstärke und sicherer Landtagsmehrheit erwuchs Braun eine Dominanz, die ihm den halb achtungsvollen, halb ironischen Beinamen „der Rote Zar von Preußen“ verschaffte. Versuche des Staatsrats, über seine kargen Befugnisse bei der Gesetzgebung hinaus das Staatsministerium zu kontrollieren, wehrte er ab. So blieb der Ehrgeiz des Staatsrats und der seines Vorsitzenden Konrad Adenauer unbefriedigt. Auch festigte Braun die Zusammenarbeit

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mit dem Zentrum, weil es ihm gelang, die SPD-Landtagsfraktion von der koalitionspolitischen Notwendigkeit eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl zu überzeugen. Als überzeugtem Dissidenten fiel ihm das allerdings schwer. Die politisch brisante Schulfrage hielt er aus dem Vertrag heraus, der wesentlich die Neuregelung von Bistumsgrenzen enthielt. Die Resonanz beim katholischen Bevölkerungsteil in Preußen war positiv. Der preußische Ministerpräsident konnte seine Politik noch bis zu dem Zeitpunkt eigenständig und konsequent fortsetzen, als die Weltwirtschaftskrise Deutschland ergriff. Danach verschoben sich die Prioritäten. Krisenbewältigung trat in den Vordergrund. Die genuinen landespolitischen Tätigkeitsfelder, Verwaltungsorganisation, Personal, öffentliche Sicherheit, verloren an Gewicht. Deren Darstellung zeigt die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die ersten Berufsjahre der drei Regierungspräsidenten sich entwickelten.

1.2.2 Umwälzung oder Kontinuität der Bürokratie: Preußische Staatsverwaltung im Übergang von der Monarchie zur Republik Preußen verfügte über den umfangreichsten Verwaltungsapparat im Reich. Dieser war vertikal auf mehrere Instanzen verteilt. Das entsprach der preußischen Tradition eines funktional organisierten, effizient arbeitenden Verwaltungsstaats. Das Innenministerium, amtlich bezeichnet als „Der Preußische Minister des Innern“, hatte gemeinsam mit dem Finanzministerium die Zuständigkeit für die allgemeine Verwaltung. Dazu gehörten in erster Linie die Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten und auch die Landräte. Von den fünf Abteilungen des Innenministeriums sind drei zu erwähnen: In Abteilung I waren neben anderem die Personalangelegenheiten angesiedelt; die Abteilung II war die Kommunal- und die Abteilung III die Polizeiabteilung. In Abschnitt VIII der Preußischen Verfassung über die Selbstverwaltung hieß es, der preußische Staat gliedere sich in Provinzen, diese wiederum setzten sich im Wesentlichen aus Kreisen und kreisfreien Städten zusammen. Nach dem letzten Stand von 1922 waren es zwölf, darunter die Rheinprovinz.19 Die Provinzen nahmen durch eigene Organe ihre Selbstverwaltungsangelegenheiten wahr. An der Spitze der Provinzialverwaltung stand der Landeshauptmann. Zugleich war die Provinz ein staatlicher Verwaltungsbezirk mit staatlicher Verwaltung, deren Spitze der Oberpräsident bildete. Zu seinen Aufgaben gehörte die Wahrnehmung der die gesamte Provinz betreffenden oder ihm zugewiesenen (staatlichen) Aufgaben. Zu nennen wären hier der Erlass von Polizeiverordnungen und die Aufsicht insbesondere über die Regierungspräsidenten. Besondere Außenwirkung hatte die Vertretung der Staatsregierung in der Provinz. Vor allem dies machte die Stellung interessant. Aber sie war problematisch wegen des nicht spannungsfreien „Dualismus“ auf der mittleren Ebene mit den Regierungspräsidenten. Dieser blieb bis zum Ende des preußischen Staates bestehen. Die Provinzen als staatliche Einheiten bestanden ihrerseits nämlich in der Regel aus mehreren Regierungsbezirken. In der Rheinprovinz waren dies neben den Bezirken Koblenz und Trier die für die dienstliche Vita der drei Regierungspräsidenten maßgeblichen Bezirke Aachen, Köln und Düsseldorf. Dem Regierungspräsidenten war zunächst ein Oberregierungsrat als Vertreter beigegeben, ab 1924 ein Regierungsvizepräsident. Die „Regierungen“ waren in drei Abteilungen gegliedert: die

19 Aufzählung in Art. 32, der allerdings im Abschnitt über den Staatsrat steht.

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Präsidialabteilung, die für die Angelegenheiten der inneren Verwaltung, insbesondere Kommunalaufsicht und Polizei, zuständig war, die Abteilung für ­Kirchen und Schulen sowie die Abteilung für Domänen und Forsten. Der Regierungspräsident führte auch den Vorsitz im Bezirksausschuss, zu dem noch drei ernannte Beamte und vier gewählten Provinzvertreter gehörten. Der Ausschuss war Beschlussorgan in bestimmten Verwaltungsangelegenheiten und zugleich untere Instanz bei Verwaltungsstreitverfahren. Entsprechend dem größeren Aufgabenbestand war die Personalausstattung eines Regierungspräsidenten höher als die eines Oberpräsidenten. Die Landkreise, deren es 1926 in Preußen 420 (!) gab, waren kommunale Gebietskörperschaften. Zugleich bildeten sie den Bezirk der unteren staatlichen Verwaltungsbehörden, die den Regierungspräsidenten nachgeordnet waren. Ein Aufgabenschwerpunkt war die Kommunalaufsicht über die kreisangehörigen Gemeinden. Der Landrat an der Spitze der Verwaltung hatte demnach eine Doppelfunktion; er war sowohl Leiter einer kommunalen wie auch Leiter einer staatlichen Behörde. Er war Staatsbeamter und wurde auf (nicht bindenden) Vorschlag des Kreistags vom Minister des Innern ernannt. Er war in seinem Gebiet auch Leiter der Kreispolizeibehörde. In den Großstädten waren dies die Polizeipräsidenten. Eine derart traditionsreiche und differenziert organisierte Verwaltung mit großem Personalbestand wie die preußische konnte in der Zeit eines staatlichen Umbruchs 1918/19 ein Stabilitätsfaktor sein oder aber eine Last. Auf der einen Seite galt es, die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Auf der anderen Seite war zu fragen, ob nicht das Verwaltungspersonal viel zu sehr der untergegangenen Monarchie verpflichtet war, der es entstammte, und deshalb gegenüber dem neuen republikanischen Verfassungsstaat loyal sein würde. Eine denkbare Lösung des Dilemmas wäre gewesen, das herkömmliche Beamtentum abzuschaffen und ein gänzlich neues Personalkonzept zu entwickeln. Man musste nicht Revolutionär sein, um ­solche Gedanken zu hegen.20 Der neue Reichskanzler Ebert setzte zunächst auf den Stabilisierungsfaktor und gab damit auch für die Länderverwaltungen die Richtung vor. In einer „Bekanntmachung des Reichskanzlers Ebert“ vom 9. November, dem Tag der Ausrufung der Republik, formulierte er: Die neue Regierung hat die Führung der Geschäfte übernommen, um das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren und seine berechtigten Forderungen auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn alle Behörden und Beamten in Stadt und Land ihr hilfreiche Hand leisten. Ich weiß, daß es vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu arbeiten, die das Reich zu leiten übernommen haben; aber ich appelliere an ihre Liebe zu unserem Volke. Ein Versagen der Organisation in dieser schweren Stunde würde Deutschland der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern. Helft also mit mir dem Vaterlande durch furchtlose und unverdrossene Weiterarbeit, ein jeder auf seinem Posten, bis 21 die Stunde der Ablösung gekommen ist.

Dieser teilweise geradezu flehentliche Text lässt erkennen, wie tief die Furcht vor einem ungebremsten Fortgang der Revolution bei Ebert selbst und wohl auch anderen führenden Sozia­l­ demokraten saß. Der überraschende Hinweis am Schluss auf eine mögliche „Ablösung“ war wohl eine Mischung aus vager Einschätzung, dass sich etwas ändern müsse, und verbaler Konzession

20 Vgl. die kritischen Ausführungen zum herkömmlichen Beamtentum von Bracher, Auflösung, S. 157 ff. 21 Zitiert nach Huber, Dokumente zur Verfassungsgeschichte, Nr. 242, S. 311 f.

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an die USPD-Mitglieder der neuen Regierung. In einem ähnlichen Aufruf bekräftigte ein paar Tage später auch die neue preußische Regierung, sie sei „auf die gewissenhafte Mitarbeit aller Beamten des Staates“ angewiesen.22 Zu einer wesentlichen Änderung des Systems kam es jedoch nicht. Vorstellungen der SPD, wenigstens das Dienstrecht der Beamten dem Arbeitsrecht anzupassen, wurden zu spät konkretisiert und erwiesen sich als politisch nicht durchsetzbar. Sehr viel wirkungsvoller war die Lobbyarbeit des Deutschen Beamtenbundes, dessen einflussreicher Vorsitzender Remmers (DDP) Mitglied der Nationalversammlung war. So traf die Weimarer Verfassung wenige „moderne“ und mehr konservierende Regelungen. Sie öffnete in Art. 128 ausdrücklich allen Staatsbürgern grundsätzlich den Zugang zu den öffentlichen Ämtern; der war zu Zeiten der Monarchie Bewerbern jüdischer Herkunft oder sozia­ldemokratischer Gesinnung faktisch verwehrt. Auch wurden alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte beseitigt. Art. 129 enthielt eine Garantie der grundsätzlichen Anstellung auf Lebenszeit; die „wohlerworbenen Rechte der Beamten“ wurden für „unverletzlich“ erklärt. Art. 130 hob hervor, Beamte ­seien „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“. Sodann gewährleistete er jedoch überaus entgegenkommend Beamten die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit. Diese Entwicklung von den Tagen der Revolution, da die Beamtenschaft sich gefährdet glaubte, zur „Anerkennung“ durch die Weimarer Verfassung musste ihr Selbstbewusstsein stärken. Dies kam noch 60 Jahre später in einer Darstellung zum Ausdruck, in der das Berufsbeamtentum als ein „geschlossener, staatstragender Stand“ mit ständischem Berufsethos angesehen wurde.23 Die Beamtenschaft blieb der Pflicht treu, gerade in Gefahr und Not die Arbeit für das Gemeinwohl ungeachtet aller Vorbehalte gegenüber den veränderten Staatsverhältnissen fortzusetzen. Eben diese Leistungen des Beamtenkörpers […] bildeten die Grundlage dafür, daß die Institution des Berufsbeamtentums […] im Weimarer Verfassungswerk ihre rechtliche Anerkennung und Sicherung fand. […] Die Weimarer Republik wurde […] nicht zum reinen „Parlamentsstaat“ […].

Sie sei ein Staat geblieben, in dem das Berufsbeamtentum kein Erwerbsstand, sondern ein „Verfassungsfaktor“ gewesen sei. Die Beschreibung der Beamtenschaft als eines in sich abgeschlossenen sozia­len Gebildes war zutreffend, aber unhaltbar die Hochstilisierung zu einem dem Parlament nahezu gleichwertigen Verfassungsorgan ohne Eigeninteressen. Das neue republikanische Preußen musste also mit dem von der Monarchie überkommenen Personal seine Arbeit beginnen und bei Reformen seines öffentlichen Dienstes von der Institution des Berufsbeamtentums ausgehen, das ja wenig später von der Reichsverfassung garantiert wurde. Für Veränderungen innerhalb des bestehenden Beamtenapparats zumindest auf den Stellen, bei denen es in besonderem Maße auf Loyalität des Beamten ankam, schuf sich die preußische Regierung sehr bald ein Instrument: die am 26. Februar 1919 mit Gesetzeskraft erlassene „Verordnung, betreffend die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand“.24 Nach § 2 gehörten Ober- und Regierungspräsidenten sowie Landräte zu ­diesem Personenkreis. Ein ähnliches „Flexibilisierungsinstrument“ hatte es schon in

22 Zitiert nach Schulze, ebd., S. 229. 23 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 510 f. 24 GS., S. 33.

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der Monarchie gegeben. Nunmehr glich es die Gewährleistung politischer Gesinnungsfreiheit durch Reichsverfassung aus. Obwohl vor allem aus der SPD selbst umfassende personelle Veränderungen in der Verwaltung gefordert wurden – ein Sturm solle durch die Landratsstuben fegen –, ging ihr Mitglied, der Rechtsanwalt Heine, als preußischer Innenminister verhalten vor. Sehr formal war er der Meinung, die Demokratisierung der Verwaltung müsse mit der Reform der Ausbildung der Regierungsreferendare beginnen. Es würden aber Jahre vergehen, bis die neu ausgebildeten Beamten in Leitungsämter aufgerückt wären. Deshalb waren Maßnahmen an den Behördenspitzen ebenfalls vonnöten. Heine war auch allzu vertrauensselig. So bestellte er ausgerechnet den erzkonservativen Magnus Freiherrn von Braun zum Personalreferenten des Innenministeriums. Dieser war aber nicht loyal und betrieb hinter dem Rücken des Ministers seine eigene reaktionäre Personalpolitik. Das Innenministerium entledigte sich schließlich von Brauns durch dessen Ernennung zum Regierungspräsidenten von Gumbinnen in Ostpreußen. Immerhin kam es nicht zuletzt auf Drängen der sozia­ldemokratisch geführten Reichsregierung zu einem größeren Personalrevirement. So wurden im Laufe des Jahres 1919 acht der zwölf noch in der Zeit der Monarchie eingesetzten Oberpräsidenten abgelöst. Dies war vorrangig, weil ja die Oberpräsidenten Vertreter der Staatsregierung in den Provinzen waren. Der rheinische Oberpräsident von Groote blieb im Amt. Der hohe Adelsanteil unter den abgelösten Oberpräsidenten war für die gesellschaftliche Herkunft des höheren Dienstes der alten Beamtenschaft signifikant. Ein kleineres Revirement betraf die Regierungspräsidenten der Rheinprovinz. Am 2. Juni beschloss das Staatsministerium, die Stellen in Düsseldorf, Köln und Trier neu zu besetzen. In Köln wurde der Vortragende Rat im Kultusministerium Philipp Brugger neuer Regierungspräsident. Er war, auch dies ein personalpolitisches ­­Zeichen, abgesehen von einer kurzzeitigen Ausnahme der erste Katholik auf ­diesem Posten. In Aachen blieb jedoch Regierungspräsident Freiherr von Dalwigk im Amt. Bei dem „Kapp-­Putsch“ im März 1920 hatte sich, wie oben erwähnt, die Ministerialbürokratie des Reichs durchweg als loyal erwiesen und einen „Härtetest“ bestanden. Dasselbe galt für die preußische Staatsverwaltung in den westlichen Landesteilen, während im Norden die Loyalität deutlich bröckelte und im Osten in großem Umfang verweigert wurde. Das kam nicht von ungefähr; denn gerade in diesen großagrarisch-­konservativ geprägten Gebieten lagen die Hochburgen der republikfeindlichen Deutschnationalen Volkspartei. Die Landräte der Provinz Ostpreußen „erkannten“ beispielsweise die Regierung Kapp „an“. Eine erste personelle Konsequenz hatte noch das scheidende Kabinett Hirsch beschlossen; unter anderem die Suspendierung des ostpreußischen Oberpräsidenten und die des eben erwähnten Regierungspräsidenten von Braun.25 In der Ende März 1920 gebildeten preußischen Regierung mit Otto Braun als Ministerpräsidenten wurde der sozia­ldemokratische Gewerkschaftler Carl Severing neuer Innenminister. Es sollte seine wesentliche Aufgabe sein, umfassende personelle Folgerungen der Regierung aus dem „Kapp-­Putsch“ durchzusetzen.

25 Von Braun wurde 1932 Landwirtschaftsminister in der Reichsregierung von Papen.

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1.2.3 Wehrhaftes Preußen: Personalpolitik, Staatsschutz und beider Grenzen „Wehrhaft“ mag allzu kämpferisch klingen. Zu bedenken ist aber, dass die Kapp-­Putschisten ihr dilettantisches Unternehmen auch deshalb ins Werk setzen konnten, weil Reichskanzler Bauer, Reichswehrminister Noske und auch der preußische Ministerpräsident Hirsch sich als ahnungslos erwiesen hatten. Die Republik und auch jeder ihrer Einzelstaaten mussten also bereit sein zu kämpfen, wollte sie sich gegen die extremen Kräfte von rechts und auch von links behaupten, die sie bedrohten. Die Regierungserklärung Brauns vor der preußischen Landesversammlung war denn auch überaus kämpferisch gestimmt. Sie wandte sich einerseits gegen die Putschisten und die Deutschnationalen, andererseits gegen die Linksradikalen, ­welche die Abwehr des Putsches zur Zerstörung der Weimarer Republik ­nutzen wollten. Demokratisierung, insbesondere in der Verwaltung, tat nach dem „Kapp-­Putsch“ erst recht Not. Dies war den Gewerkschaften versprochen worden, und Braun wie Severing sahen es darüber hinaus als „Staatsnotwendigkeit“ an. Die Konsequenzen, ­welche die neue Staatsregierung aus enttäuschtem Vertrauen in die Beamtenschaft zog, waren eine Kombination von Personalmaßnahmen und Untersuchungen. Außer den noch von der Vorgängerregierung beschlossenen Suspendierungen wurden zwei weitere Ober- und Regierungspräsidenten in den einstweiligen Ruhestand versetzt, ferner zwei Polizeipräsidenten und 25 Landräte. Zwei der Oberpräsidenten waren Mitglieder der SPD. Es spricht für objektive Maßstäbe, dass auch Angehörige der größten Regierungspartei von den Maßnahmen betroffen waren. Im Verlauf des Jahres 1920 wurden dann noch weitere 63 Landräte in den einstweiligen Ruhestand versetzt, annähernd ein Fünftel der Gesamtzahl. Die Staatsregierung beschloss Anfang April die Einrichtung von Untersuchungskommissionen aus zwei Beamten und einem Koalitionspolitiker für jede Provinz. Die Zusammensetzung sollte verhindern, dass die Beamten sich gegenseitig schonten. Aufgabe der Kommissionen war nur das Sammeln von Material. Die rechtliche Bewertung hatten die Disziplinarbehörden vorzunehmen. Die Disziplinarstrafen waren milde, zumeist Geldbußen. Dieses insgesamt systematische und strenge Vorgehen war in Anbetracht der Gefährdung der Republik sachgerecht. Schließlich erwartete der republiktreu gesonnene Teil der Bevölkerung auch entschlossenes Handeln. Jedenfalls konnte sich Preußen zugutehalten, mit der Ablösung von knapp hundert politischen Beamten mehr getan zu haben als das Reich und die anderen Länder. Die Kehrseite war die Notwendigkeit umfangreicher Nachbesetzungen. Bevorzugt sollten Angehörige von SPD , Zentrum und DDP berücksichtigt werden, der Parteien, die bis 1921 die preußische Regierungskoalition bildeten. Diese Grundsatzentscheidung barg zwei Probleme in sich: einmal das der Ämterpatronage, vor allem von rechten Parteien zum Vorwurf gemacht, und das eines hinreichenden Personalreservoirs. Nun war es völlig legitim, wenn das Staatsministerium gerade bei der Besetzung von Spitzenpositionen auf eine verfassungstreue Gesinnung der Aspiranten achtete. Die Zugehörigkeit zu einer der drei Parteien aus der „Weimarer Koalition“ war dafür ein brauchbares Kriterium. Erst wenn sie allein maßgeblich gewesen wäre, unabhängig von jeder fachlichen Eignung, hätte man von „Ämterpatronage“ sprechen können. Die Frage nach dem Personalreservoir war je nach Partei unterschiedlich zu beantworten. Groß war das der DDP, die in Klientel und Mitgliedschaft einen hohen bildungsbürgerlichen Anteil hatte. Ebenfalls recht gut stand das Zen­ trum da; es hatte neben seiner ländlich-­agrarischen auch eine beachtliche städtisch-­bürgerliche

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Die Weimarer Republik, der Freistaat Preußen und seine Bürokratie

Klientel und bereits unter der Monarchie in der Kommunalverwaltung Fuß fassen können. Ganz anders war die Ausgangslage bei der SPD. Keine andere Partei war vom wilhelminischen Staat so rigoros von jedem Anteil an der Verwaltung ferngehalten worden. Deshalb musste bei der Besetzung von Spitzenstellungen mit einem Sozia­ldemokraten auf Außenseiter zurückgegriffen werden. So kamen von den neun Oberpräsidenten, die der SPD angehörten, sieben aus den Gewerkschaften.26 Außenseiter zu berufen war durch eine Gesetzesänderung ermöglicht worden.27 Sie ermächtigte Finanz- und Innenminister gemeinsam, Gerichtsassessoren und in Ausnahmefällen auch andere besonders geeignete Personen für den höheren Verwaltungsdienst als befähigt zu erklären. Dieser neue Weg der Rekrutierung erschloss der Verwaltung weiteres Personal. Unter den Außenseitern gab es durchaus Führungstalente, einige bewährten sich in bemerkenswerter Weise. Versager gab es nicht nur bei Außenseitern, sondern auch bei „Karrierebeamten“. Nach dem Mord an Reichsaußenminister Rathenau 1922 hatte der Reichstag nicht nur das Gesetz zum Schutz der Republik erlassen, sondern auch ein „Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik“.28 Es ermöglichte den Ländern, „im Interesse der Festigung der verfassungsmäßigen republikanischen Staatsform“ den Kreis der Beamten weiter zu ziehen, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten. Preußen machte davon Gebrauch und bezog unter anderen die Vertreter von Ober- und Regierungspräsidenten in diese Gruppe ein.29 Die preußische Staatsregierung nahm aus derselben Motivation weitere Personalwechsel vor. Unter den betroffenen neun Regierungspräsidenten und einer Anzahl Landräte befanden sich Angehörige sogar des Zentrums und auch der DVP, die gerade zu der „Großen Koalition“ in Preußen hinzugetreten war. Der Ministerpräsident konnte seine Minister mit dem Argument überzeugen, „das Vertrauen der Volksmassen“ in die Erklärungen der Regierung zu einem verstärkten Staatsschutz müsse gerechtfertigt werden. Zudem stellte Severing in Aussicht, in den einstweiligen Ruhestand versetzte Mitglieder einer Partei der Koalition würden durch einen Angehörigen derselben ersetzt. Die DVP sollte eben bei Maßnahmen „mitziehen“, die auch „ihre eigenen Leute“ nicht verschonten. Die Gründe für die Aktion lassen sich nicht so eindeutig definieren wie nach dem „Kapp-­Putsch“. Sie betrafen Beamte, die nach ihrem dienstlichen Handeln oder ihrer persönlichen Gesinnung nicht die Gewähr boten, nachdrücklich für die Republik einzutreten. Eine Diskreditierung der Betroffenen sollte damit ausdrücklich nicht verbunden sein. Beispielsweise wurde in Aachen der bis dahin loyale Regierungspräsident von Dalwigk abgelöst, ein erklärter Monarchist. Dies löste allerdings in der Behörde allgemeines Bedauern aus.30 Die Nachbesetzung der frei gewordenen Stellen zog sich aus politischen Gründen gerade auch in Aachen länger hin. Der vom Innenministerium vorgeschlagene Landrat Klausener traf auf den Widerspruch des Provinzialausschusses, dessen Einvernehmen nach Art. 86 der preußischen Verfassung erforderlich war. Nach einigen Verhandlungen wurde ein neuer Vorschlag akzeptiert, der Dürener Landrat Rombach.

26 Vgl. die Aufstellung bei Huber, ebd., Bd. 6, S. 766 f. 27 Vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst vom 8. Juli 1920 (GS., S. 388), Neufassung § 13. 28 Vom 21. Juli 1922, RGBl., S. 590. 29 Gesetz zur Abänderung der Verordnung vom 26. Februar 1919. Vom 31. Dezember 1922 (GS., 1923, S. 1). 30 Vgl. Bergmann, Festschrift Aachen, S. 327 f. Dort Verständnis für von Dalwigk, aber nicht für die preußische Staatsregierung. Zur Nachfolge vgl. Romeyk, Verwaltungsgeschichte, S. 202 ff.

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Diese systematische Personalpolitik der preußischen Staatsregierung zur Demokratisierung der Verwaltung wurde allgemein als „System Severing“ bezeichnet. Der Innenminister als federführender Ressortchef vertrat sie rhetorisch höchst wirksam in der Öffentlichkeit. Erst nach und nach wurde erkennbar, wie groß der Anteil des Ministerpräsidenten war, so dass nun von einem „System Braun-­Severing“ gesprochen wurde. Dies war ein Synonym für republikanischen Gestaltungs- und Reformwillen, einzig in der Weimarer Zeit. Allerdings ließ Severings Elan mit der Zeit nach. Sein Nachfolger Grzesinski ordnete zunächst das Ministerium personell um. An die Stelle des der DVP angehörenden Staatssekretärs trat der engagierte Republikaner Wilhelm Abegg (DDP), bis dahin Leiter der Polizeiabteilung. Diese übernahm der inzwischen im Ministerium tätige frühere Landrat Klausener. Grzesinski sorgte im Übrigen dafür, dass der Anteil der Ministerialbeamten, w ­ elche einer der drei Koalitionsparteien angehörten, kräftig anstieg. Schon bald nahm Grzesinski eine andere Beamtengruppe in den Blick und versetzte sechs Regierungsvizepräsidenten in den einstweiligen Ruhestand. Sie waren über 60 Jahre alt, parteilos, aber rechtsstehend. Nach Auffassung des Ministers, der die Inhaber dieser Funktion in besonderer Verantwortung für die Personalpflege sah, hatten sie den republikanischen Beamten ihrer Behörde zu wenig Rückhalt geboten. Sie wurden durch Angehörige der Koalitionsparteien ersetzt. Ein Beleg für die Objektivität des Ministers war die Ablösung des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, welcher der SPD angehörte. Er hatte sich wiederholt zum politischen Tagesgeschehen geäußert. Das Ergebnis der Personalpolitik der Minister Severing und Grzesinski war bemerkenswert: 1929 gehörten von 549 politischen Beamten (Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten, Landräte) annähernd 300 einer der drei Koalitionsparteien an. Noch günstiger war das Verhältnis bei den Oberpräsidenten (11 von 12) und Regierungspräsidenten (21 von 32). Diese personelle Transformation hatte die Leistungsfähigkeit der Innenverwaltung nicht beeinträchtigt. Freilich verstärkte sich im Laufe der Zeit die Kritik an einer angeblichen „Ämterpatronage und Pfründenwirtschaft“, die vor allem von Vertretern der Rechtsparteien erhoben wurde. Jedoch gab es letztlich keine Alternative zum „System Braun-­Severing“. Allerdings waren auf die Dauer Verschleißerscheinungen nicht ganz auszuschließen, und im Einzelfall erhielten Parteiinteressen zu großes Gewicht. Damit die Republiktreue bei den politischen Beamten generell erhalten blieb, durfte es nicht zu einer grundsätzlich anders zusammengesetzten Staatsregierung kommen, ­welche umfangreiche Personalveränderungen durchführen würde. Über die Personalpolitik hinaus war eine umfassende Reform des öffentlichen Dienstes vonnöten. Wegen der Instabilität der Regierungen schöpfte das Reich seine Rahmen-­kompetenz für das Beamtenrecht nach Art. 10 WV nicht aus. Dies ließ den Ländern Spielraum. Vordringlich wäre zumindest eine Erweiterung des Zugangs zum höheren Verwaltungsdienst gewesen, das hieß Öffnung für breite Bevölkerungsschichten, also Ausbildungsreform, Beseitigung des Juristenmonopols und größere Durchlässigkeit z­ wischen den Laufbahnen. Auf diesen Feldern geschah jedoch wenig. Es scheint, als genügte der Regierung das geschilderte „System“ der Personalpolitik. Kennzeichnend hierfür ist das Problem des Beamtennachwuchses im höheren Verwaltungsdienst. Aus ihm rekrutierte sich überwiegend das Spitzenpersonal. Eine verfassungstreue Behördenleitung allein nutzte wenig, wenn der Beamtennachwuchs tendenziell den Rechtsparteien zuneigte. Unter der Monarchie war der höhere Verwaltungsdienst ein Reservat der zum großen Teil adligen Oberschicht und der oberen Mittelschicht gewesen, er hatte also hauptsächlich aus Söhnen von Offizieren, höheren Beamten, Grundbesitzern, Unternehmern und Kaufleuten, auch Gelehrten, Ärzten und Anwälten bestanden. Die erste umfassende Beamtenstatistik aus

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dem Jahr 1928 ergab zwar eine Verringerung des Adelsanteils, aber doch auch, dass weiterhin über die Hälfte der höheren preußischen Beamten aus den genannten Schichten stammten. Der Anteil derer, die aus der unteren Mittelschicht kamen, deren Väter also mittlere Beamte oder Angestellte waren, betrug 37 %. Das Maß der Selbstrekrutierung war also immer noch recht hoch. Eine grundsätzliche Maßnahme hatte Grzesinski allerdings ergriffen. Da sich die Regierungskoalition auf eine Reform der Ausbildung für den höheren Verwaltungsdienst nicht verständigen konnte, verhängte er kurz nach seinem Amtsantritt eine Einstellungssperre für Regierungsreferendare.31 Aus sozia­ldemokratischer und linksliberaler Sicht bestanden durchaus berechtigte Vorbehalte gegen diesen „elitären“ Ausbildungsgang und sein Resultat, den preußischen Regierungsassessor. Dieser Schritt kam aber spät und konnte sich kaum noch auswirken. Bei der Frage einer Verwaltungsstrukturreform ging es vornehmlich um eine neue Abgrenzung z­ wischen kommunalen und staatlichen Aufgaben, neue gesetzliche Grundlagen für die Kommunalverwaltung und eine Straffung des staatlichen Verwaltungsaufbaus. Alle Versuche einer umfassenden Reform scheiterten; entweder war die Staatsregierung sich schon selbst nicht einig, oder es war keine parlamentarische Mehrheit in Aussicht. Grzesinski zog die Konsequenz, Teilgebiete aus dem Gesamtkomplex herauszulösen und darauf begrenzte Reformen anzustreben. Eine der wichtigsten war die Neugliederung des rheinisch-­westfälischen Industriegebietes durch Gesetz vom 20. Juli 1929. Es betraf über sechs Millionen Menschen, 16 % der preußischen Bevölkerung, und führte zu einer wesentlichen Verminderung vornehmlich der Landkreise und kreisfreien Städte.32 So wurden die Städte Elberfeld und Barmen zur Stadt Wuppertal vereinigt. Großen Reformbedarf gab es auch bei der Polizei, der früheren Stütze des monarchischen Obrigkeitsstaates. Das Problem der personellen Kontinuität über den Umbruch von 1918 hinaus bestand hier besonders ausgeprägt, zumal der Personalkörper etwa 55.000 Personen umfasste. Beim „Kapp-­Putsch“ hatte sich die Polizei nicht uneingeschränkt loyal gezeigt. Vor der vom Ministerpräsidenten daraufhin angekündigten gründlichen Umgestaltung der Sicherheitsorgane musste die bisherige „Sicherheitspolizei“ nach strikten Maßgaben der Alliierten in die neue „Schutzpolizei“ übergeführt werden. Dies war kein Personalwechsel, bedeutet aber doch eine gewisse „Entmilitarisierung“. Durchgreifende Reformen setzte dann der energische Grzesinski ins Werk. Das maßgeblich von ihm vorangebrachte Polizeibeamtengesetz vom 31. Juli 192733 änderte den Status der Dienstkräfte grundlegend. Bisher waren die Beamten nach zwölf Jahren aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden und zum „Versorgungsfall“ geworden. Nun sollte eine lebenslange Dienstzeit gelten, und durch die Einführung der Einheitslaufbahn wurde die Tendenz zur sozia­len Mobilität der Polizei bis in die höheren Ränge verstärkt. Insgesamt gelang es durch ein Zusammenwirken von systematischer Personalauswahl, besserer Schulung und strikter Aufsicht allemal in den jüngeren Dienstjahrgängen eine im Grundsatz republikanische Polizeibeamtenschaft heranzuziehen. Sie sollte sich in den folgenden Krisenjahren als resistenter gegen die NS-Propa­ganda erweisen als andere Beamtengruppen. Schwerer war allerdings die Republiktreue des Polizeioffizierscorps mit seinem fortwirkend hohen Anteil an Reserveoffizieren einzuschätzen. Ein „Gegengewicht“ war darin zu sehen, dass etwa die Hälfte der dreißig Polizeipräsidenten Angehörige der SPD waren. 31 Unveröffentlichter Runderlass vom 10. Januar 1927. Kritisch dazu Huber, ebd., S. 765. 32 GS., S. 91. 33 GS., S. 151.

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Als „Krönung“ seiner Reformarbeit hat Grzesinski das von ihm auf den Weg gebrachte Preußische Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 betrachtet.34 Es enthielt umfassende Organisations- und Verfahrensvorschriften. Die berühmte Generalklausel des § 14 über die Aufgaben der Polizei wie auch die folgenden Vorschriften zu besonderen polizeilichen Befugnissen stellten zugleich wichtige rechtsstaatliche Garantien dar. Bei Inkrafttreten des Gesetzes war Grzesinski aber nicht mehr im Amt. Er war am 28. Februar 1930 aus koalitionspolitischen Gründen zurückgetreten, weil das Zentrum Anstoß an seinem Privatleben genommen hatte. Die tatsächliche Wehrhaftigkeit Preußens lässt sich auch an der Praxis des polizeilichen Staatsschutzes ablesen.35 Die Bedrohung für den Bestand, für die Stabilität und Sicherheit des Staates hatte in den letzten Jahren der Republik dramatisch zugenommen. Diese Gefahren abzuwenden, war Aufgabe der „politischen Polizei“. Rechtliche Grundlage für deren Tätigkeit als Staatsschutzorgan bildete nach dem alten Republikschutzgesetz von 1922 das neu erlassene vom 25. März 1930.36 Danach waren Verbote politischer Veranstaltungen nicht mehr möglich, ebenso wenig die polizeiliche Auflösung von Vereinen, insbesondere Parteien. Neu war die Möglichkeit eines befristeten Verbots von Zeitungen und Zeitschriften sowie der befristeten polizeilichen Beschlagnahme von Druckschriften. Zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen wurden 1931 zwei Verordnungen des Reichpräsidenten auf Grund von Art. 48 WV erlassen. In einer dritten, umfassenden Notverordnung enthielt der 7. Teil hierzu ebenfalls Vorschriften.37 Die Verordnungen erweiterten die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten. Sie erlaubten wieder ein Verbot politischer Versammlungen, von Vereinigungen und von Uniformen. Die preußische (politische) Polizei suchte alle diese Vorschriften mit größter Konsequenz anzuwenden und war darin den Polizeien der anderen Länder voraus. Die 1000 Polizeibeamten des Staatsschutzes in Preußen stellten nur einen etwa zweiprozentigen Anteil des Personals insgesamt dar. Sie waren eine Elite, insbesondere im höheren Dienst, der im Schnitt jünger war und in größerem Umfang akademisch vorgebildet als die entsprechenden Beamten der Kriminalpolizei. Die Organisation der politischen Polizei und die Kompetenzverteilung auf die Polizeibehörden aller Stufen hatte das Innenministerium im Dezember 1928 detailliert geregelt. Dabei erhielt das Polizeipräsidium Berlin, welches unmittel­bar dem Innenminister unterstand, zusätzliche Aufgaben. 1925 war bei ihm ein Landes­ kriminalpolizeiamt als Nachrichtensammelstelle für Delikte mit übernationalem Einschlag eingerichtet worden. Diese Funktion sollte es nun auch bei Staatsschutzdelikten als Teil der politischen Abteilung erfüllen.38 Die Aufgaben der obersten Instanz erfüllte innerhalb der Polizeiabteilung des Innenministeriums die „Politische Gruppe“. Die preußische politische Polizei richtete ihre Tätigkeit besonders intensiv gegen die NSDAP. Wie die Septemberwahlen zum Reichstag 1930 gezeigt hatten, war sie die stärkere und wegen ihrer zahllosen Aktivitäten (Aufmärsche, Versammlungen und Zeitungen) die gefährlichere der extremistischen Parteien. Trotz flächendeckender Überwachung konnten die politischen Veranstaltungen der NSDAP wegen deren „Legalitätstaktik“ nur selten aufgelöst werden. GS., S. 77. Hierzu insbesondere Dams, Staatsschutz, vor allem S. 67 ff und S. 121 ff. RGBl., S. 91. Verordnungen vom 28. März (RGBl., S. 79), vom 17. Juli (RGBl., S. 371), und vom 6. Oktober 1931 (RGBl., S. 537, S. 566). 38 Runderlass vom 12. Dezember 1928, MBliV., Sp. 1198, und Runderlass vom 20. Mai 1925, ebd., Sp. 569. 34 35 36 37

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Immerhin wurden viele Redeverbote ausgesprochen, ferner mehrere hundert (befristete) Zeitungsverbote (ab 1928). Drei sehr sorgfältig ausgearbeitete Denkschriften führten aber nicht dazu, dass ein Verbot der Partei ins Auge gefasst wurde. Dazu fehlte vor allem auf Reichsebene der politische Wille. Als eine Maßnahme des allgemeinen Staatsschutzes lässt sich der Beschluss der preußischen Regierung vom 25. Juni 1930 ansehen.39 Er verbot die „Teilnahme von Beamten an der Nationalsozia­listischen Deutschen Arbeiterpartei und der Kommunistischen Partei Deutschlands“ sowie deren Unterstützung. Die Reichsregierung unternahm nichts dergleichen. Eine Klage der NSDAP gegen den Beschluss scheiterte. Die Ahndung von Verstößen erwies sich als schwer durchsetzbar. Insgesamt hat die preußische (politische) Polizei so gut wie alles ihr Mögliche zur Bekämpfung der NSDAP unternommen. Das war immerhin ein Teilziel. Im Sommer 1932 verschob sich aber im Reich wie in Preußen das politische Gewicht weit nach rechts. Der weiteren polizeilichen Tätigkeit gegen die NSDAP wurde der Boden entzogen. Dies trug dazu bei, dass das eigentliche Ziel der demokratischen Kräfte und auch des Staatsschutzes verfehlt wurde, die Weimarer Republik zu erhalten.

1.2.4 Umkämpftes Preußen: Die Endphase des republikanisch-­ demokratischen Freistaates Der Rücktritt des Kabinetts Müller Ende März 1930 war für Braun und die Staatsregierung ein schwerer Rückschlag. Bei allem Unterschied im Politikstil verband sie doch die Gemeinsamkeit der politischen Ziele. Müllers Nachfolger Brüning verkörperte dagegen den Rechtsruck des Zentrums und auch den der Reichsregierung selbst. Dies zeigte sich sogleich. Brüning versuchte, das preußische Zentrum zu einem Koalitionswechsel von der SPD zur DNVP zu veranlassen, allerdings vergeblich. Das Ergebnis der unglückseligen Septemberwahlen 1930 machte, wie geschildert, letztlich die SPD zum notwendigen parlamentarischen Partner Brünings. Es ging schon die Rede, Braun solle Vizekanzler werden. Aber so weit wollte der Parteivorstand der SPD dann doch nicht gehen, und Hindenburg lehnte dies glatt ab. Aber es kam immerhin zu einer Annäherung ­zwischen Brüning und Braun, der sich als ein überzeugter Fürsprecher einer „Tolerierungspolitik“ erwies, also im Reichstag nicht die Aufhebung von Notverordnungen zu verlangen. Dahinter stand die Überzeugung, die SPD als deren „Mitbegründerin“ sei für das Fortbestehen der Weimarer Republik verantwortlich. Hinzu kam die Lage des preußischen Staatshaushalts mit seiner finanziellen Abhängigkeit vom Reich. Es war so auch der Staatsregierung möglich, auf die Steuernotverordnung vom Dezember 1930 inhaltlich Einfluss zu nehmen, allerdings mit der Folge, zu deren Umsetzung beitragen und durch eine eigene Regelung eine Kürzung der Beamtenbesoldung vornehmen zu müssen. Das Dilemma der „Tolerierungspolitik“ zeigte sich der SPD im Laufe des Jahres 1931 immer deutlicher. Sie musste den Wehretat mittragen, auf der anderen Seite im Juli eine zweite große Notverordnung mit weiteren Belastungen für die Arbeitnehmer. Mangels Alternative und aus Sorge um den Fortbestand der Koalition in Preußen trat Braun für die Fortsetzung der Tolerierung ein.

39 Veröffentlicht durch Runderlass vom 3. Juli 1930, MBliV., Sp. 599.

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Diese Politik grenzte an Selbstaufgabe und stellte die Partei vor eine Zerreißprobe, während Brüning sich der Zusammenarbeit entfremdete. Wegen seiner Abhängigkeit vom Reich und mangels eigenen Spielraums war Preußen nicht mehr „das Heil“ der Weimarer ­Republik, allenfalls wegen seines funktionierenden und republikanisch verlässlich erscheinenden Staatsapparats noch „der Hort“. Aber in der Regierungskoalition kam es zu personellen Reibungen. Als im Herbst 1930 Grzesinski als Innenminister wiederkehren sollte, sperrte sich das Zentrum, obwohl er sein Privatleben inzwischen „geordnet“ hatte. Braun gelang aber eine überzeugend erscheinende personelle Lösung. Entsprechend Grzesinskis eigenem Vorschlag berief er ihn wieder in das bedeutungsvolle Amt eines Polizeipräsidenten von Berlin, und ernannte Severing, dessen Name noch einen guten Klang hatte, neuerlich zum Innenminister. Als allerdings im Spätsommer des Jahres 1931 der liberale Finanzminister Höpker-­Aschoff jäh zurücktrat, vermochte der Minister­präsident nicht mehr, ihn zum Bleiben zu bewegen. Unterdessen gab es auch Anzeichen für eine schrumpfende Wählerbasis der Regierungskoalition. Am 11. August 1931 fand ein Volksentscheid über die Auflösung des preußischen Landtags statt. Dafür traten die Rechtsparteien DVP, DNVP und NSDAP ein. Selbst die KPD reihte sich unter die Befürworter ein, gemäß der von der Kommunistischen Internationale vorgegebenen Parole, in erster Linie s­ eien die „Sozia­lfaschisten“ der SPD zu bekämpfen. Förderung der Auflösungsbestrebungen durch Beamte verwarf der Innenminister als Missbrauch des Amtes, wofür sie zur Verantwortung gezogen würden.40 Das nach der Landesverfassung für eine Auflösung notwendige Quorum der Mehrheit der Stimmberechtigten wurde jedoch deutlich verfehlt. Dieser eindeutige Ausgang war ein Erfolg für die Regierungskoalition. Doch der Anteil der „Ja“-Stimmen, eines Drittels der Stimmberechtigten, war beunruhigend. Offenbar waren die Anstrengungen der letzten eineinhalb Jahre selbst für einen so robust erscheinenden Mann wie Braun zu viel gewesen. Im September erkrankte er schwer, und sein Arzt schickte ihn für sechs Wochen zum Auskurieren in die Schweiz. Zurückgekehrt bot er, ein überraschender Schritt, Brüning die preußische Ministerpräsidentschaft an. Was vordergründig wie ein erster Ansatz zur Reichsreform erscheinen konnte, war in Wirklichkeit ein Akt der Resignation. Braun sah sich als gescheitert an. Zudem waren die Aussichten für die kommende Landtagswahl düster. Sein eigentliches Motiv war, staatstragend die Stellung des Reichskanzlers zu stützen, den er von ständigen Intrigen angegriffen sah. Wer das Amt des Kanzlers und das des preußischen Ministerpräsidenten in seiner Hand vereinigte, besaß eine in der Weimarer Republik noch nicht gekannte Machtfülle. Brüning war beeindruckt und trug den Plan Hindenburg vor. Nach einer Bedenkzeit lehnte der aber mit Rücksicht auf die Gesundheit und Arbeitsüberlastung des Reichskanzlers scharf ab. Das war wohl nur vorgeschoben; offenbar war eine Stärkung Brünings nicht gewollt. Die Dinge nahmen einen immer schlechteren Lauf. Brauns Resignation wurde ausgeprägter, wiewohl er nach außen für viele noch als Stützpfeiler der Republik erschien. Nach dem Tod des Fraktionsvorsitzenden Joseph Hess im Februar 1932 gab es Anzeichen von Koalitionsmüdigkeit beim Zentrum. ­Unterdessen erhöhte Brüning unbeirrt den Druck auf Preußen. Nach einer Sanierung des preußischen Haushalts durch das Reich sollte d ­ ieses Teile der preußischen Verwaltung übernehmen. Die Staatsregierung sah sich genötigt, darauf einzugehen.

40 Runderlass vom 4. April 1931, MBliV., Sp. 361.

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In der Kampagne für die Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten Anfang des Jahres 1932 fanden sich Zentrum und SPD auf der Reichsebene noch einmal zusammen. Für die SPD und insbesondere Braun war das eine bemerkenswerte Selbstüberwindung, hatte sich der Kandidat doch in den letzten Jahren immer wieder gegen sie und vor allem ihre preußischen Repräsentanten gestellt. Im Ausgang der Reichspräsidentenwahl mochte für Optimisten ein kleiner Hoffnungsschimmer für die Landtagswahlen erkennbar sein, weil Hitler der ganz große Durchbruch nicht gelungen war. In diesen dramatischen Monaten regte sich doch noch einmal der Geist des wehrhaften Preußens. Ende 1931 hatte Grzesinski den kühnen Vorschlag gemacht, Hitler vor seinem Berliner Hotel verhaften zu lassen und als unerwünschten Ausländer abzuschieben.41 Um Zustimmung gefragt, winkte Brüning ab. Der Plan passte nicht zu seiner Absicht, die NSDAP doch irgendwie zur Mitarbeit zu bewegen. Ende Februar 1932 begann dann die preußische Staatsregierung den Versuch, die Reichsregierung zu einer umfassenden Maßnahme gegen die Nationalsozia­listen zu veranlassen. Sie übersandte umfangreiches Material, welches bei einer landesweiten Razzia hatte beschlagnahmt werden können. Dann endlich, kurz nach der Reichspräsidentenwahl, rang sich die Reichsregierung zu einem Verbot der nationalsozia­listischen Wehrverbände (SA und SS) durch.42 Heilsam war d ­ ieses Verbot, weil der Straßenterror deutlich zurückging. Seine fatale Nebenwirkung war, dass es die Reichswehrführung zur endgültigen Abkehr von Brüning bestimmte. Das Ergebnis der Landtagswahlen vom 24. April übertraf die schlimmsten Befürchtungen der Republikaner. SPD und Deutsche Staatspartei (die frühere DDP) verloren erheblich an Stimmen, nur das Zentrum hielt sich. Zusammen verfügten die Regierungsparteien nur noch über 163 der insgesamt 423 Landtagsmandate und waren damit weit unter der absoluten Mehrheit von 212 Sitzen geblieben. Immerhin hatten sie gerade noch ein Mandat mehr als die auf 36,3 % heraufgeschnellte NSDAP mit 162 Mandaten. Aber diese konnte sich ihres Sieges nicht recht freuen. Denn ihre riesigen Gewinne gingen auch auf Kosten ihrer potenziellen Verbündeten. Vor allem die DNVP schrumpfte dramatisch von 82 auf 31 Mandate. Das rechte Lager verblieb bei insgesamt 203 Sitzen. Die NSDAP hätte demnach mit dem Zentrum koalieren müssen, um die erforderliche absolute Mehrheit zu erreichen. Goebbels fand diesen Gedanken allerdings, wie er seinem Tagebuch am 26. April anvertraute, „zum Kotzen“.43 So ergab sich ein labiler Zustand der Stagnation. Am 24. Mai wurde in der ersten Sitzung des neuen Landtags der Nationalsozia­list Kerrl zum Präsidenten gewählt. Die Staatsregierung teilte ihren Rücktritt mit, blieb aber geschäftsführend im Amt. Die Neuwahl eines Ministerpräsidenten stand nicht auf der Tagesordnung; denn nach einer kurz vor den Landtagswahlen von den Regierungs­parteien beschlossenen Änderung der Geschäftsordnung bedurfte es dafür der absoluten Mehrheit. Andernfalls hätten die Nationalsozia­listen nach der früheren Regelung im zweiten Wahlgang mit relativer Mehrheit einen Ministerpräsidenten installieren können. Diese umstrittene Änderung der Geschäftsordnung war durchaus legitim. In der damaligen Situation musste, koste es, was es wolle, alles unternommen werden, um der NSDAP den Weg zur Macht zu versperren. Eine mittelbare Folge des Wahlergebnisses war Amtsmüdigkeit der Staatsregierung. Dazu war die Gesundheit des Ministerpräsidenten zerrüttet. Er beurlaubte sich gewissermaßen selbst 41 Hitler erhielt erst kurz vor der Reichspräsidentenwahl die deutsche Staatsbürgerschaft. 42 Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Staatsautorität vom 13. April 1932 (RGBl., S. 175). 43 Tagebücher, Teil I, Bd. 2/II, S. 268.

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und zog sich in sein Privathaus zurück. Das faktische Ende der Regierung Braun-­Severing bewirkte staatsstreichartig der Reichskanzler von Papen. Durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 ließ er sich zum Reichskommissar für Preußen bestellen und enthob Braun sowie seine Minister ihrer Ämter. Widerstand wurde nicht geleistet. Die Bedeutung des „Papen-­Putsches“ ist nicht zu unterschätzen. Er war eine wesentliche Etappe auf dem Weg ins „Dritte Reich“. Auch wenn die Staatsregierung kraftlos schien, so war der Staatsapparat doch intakt und im Wesentlichen verlässlich. Der 20. Juli 1932 war das Ende des republikanisch-­demokratischen Preußens. Es konnte kein Hort der Republik mehr sein. Solange es dies gewesen war, hatte es den Weimarer Staat stabilisiert. Nun betrug dessen Lebensdauer nur noch ein halbes Jahr.

Rudolf zur Bonsen (1886 – 1952). © Rheinisches Bildarchiv, Köln/Fotograf: ohne Angabe.

2 Rudolf zur Bonsen (1886 – 1952): praktizierender Katholik und desillusionierter Nationalsozia­list 2.1 Herkunft und Ausbildung Der erste der drei nationalsozia­listischen Regierungspräsidenten wurde am 28. Oktober 1886 im sauerländischen Fredeburg geboren. Er entstammte einer „alteingesessenen bürgerlichen Familie Westfalens“; seine Eltern waren der Gymnasialprofessor Dr. Friedrich zur Bonsen (1856 – 1941) und dessen Frau Maria Elisabeth, geborene Hömberg.1 1894 wurde der Vater von Arnsberg nach Münster an das Gymnasium Paulinum versetzt, mit angenommenem Gründungsdatum 797 die „älteste humanistische Lehranstalt Deutschlands“. Professor zur Bonsen vertrat dort die Fächer Deutsch, Latein, Geschichte und Erdkunde. Er scheint eine markante Lehrerpersönlichkeit gewesen zu sein und war auch schriftstellerisch tätig, nicht nur als Autor mehrerer Fachbücher. „Tief religiös veranlagt“, wie er charakterisiert wurde, verfasste er auch das „feinsinnige, nachdenkliche Büchlein ‚Vom Wiedersehen nach dem Tode’, das 1932 unter dem Titel ‚Sehen wir uns nach dem Tode wieder?’, wissenschaftlich vertieft, neu erschien“.2 Am Gymnasium Paulinum bestand der Sohn Rudolf 1905 das Abitur. Anschließend studierte dieser in Innsbruck, Göttingen und Münster Rechtswissenschaften und absolvierte 1908 in Hamm die erste juristische Staatsprüfung. Die weitere juristische Ausbildung Rudolf zur Bonsens verschob sich, weil er nun zunächst seinen Militärdienst als „Einjährig-­ Freiwilliger“ beim Feldartillerie-­Regiment Nr. 22 ableistete. 1910 wurde er dann, offenbar nach einer Reserveübung, zum Reserveoffizier befördert.3 Unterdessen war er aber 1909 in den juristischen Vorbereitungsdienst eingetreten. 1912 wurde er an der Universität Leipzig promoviert. Das zivilrechtliche Thema der Doktorarbeit lautete: „Wesen und Wirkung des Handlungslehrvertrages“. 1914 schloss er das Referendariat in Berlin mit der zweiten juristischen Staatsprüfung ab. Die Zeitereignisse verhinderten aber den Eintritt ins Berufsleben; der Erste Weltkrieg brach aus, das Deutsche Reich und sein Hauptverbündeter Österreich-­Ungarn waren Anfang August 1914 mit Russland, Frankreich und Großbritannien im Krieg, und zur Bonsen wurde eingezogen. Sogar sein Vater war – was für den Geist der Familie charakteristisch gewesen sein könnte – ungeachtet seines Alters von 58 Jahren „dem Ruf der Waffen gefolgt“: Aus dem Jahresbericht seiner Schule ergibt sich, dass Prof. zur Bonsen „beim Ausbruch des Krieges“ ins Heer eingetreten sei.4 Für das Deutsche Reich aber hatte ein Zweifrontenkrieg begonnen.

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Lebens- und Dienstdaten bei Romeyk, Leitende Beamte, S. 371 f, und Schrulle, Verwaltung, S. 631. Die Berufsbezeichnung des Vaters „Universitätsprofessor“ ist unzutreffend. Kurzbiographie bei August Klein, Festschrift Köln, S. 110 f. Schuljahresbuch 1903/04 und Schulfestschrift 1948 des Gymnasium Paulinum; die Informationen verdanke ich Herrn Oberstudienrat Croonenbroeck. Auch FN 4. Zum Militärdienst Führerlexikon, S. 66. 95. Jahresbericht für das Königliche Paulinische Gymnasium zu Münster 1914/15.

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Rudolf zur Bonsen

2.2 Kriegsteilnahme und Tätigkeit bei der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien Zur Bonsen nahm, wie es seiner militärischen Ausbildung entsprach, als Reserveoffizier eines Artillerieregiments an den Kämpfen im Westen teil. Die deutsche Strategie beruhte auf dem sogenannten „Schlieffenplan“ von 1905, benannt nach dem damaligen preußischen Generalstabschef. Die verstärkten nördlichen Armeen der Westfront sollten in das neutrale Belgien einmarschieren, durch Nordfrankreich westlich um Paris vorrücken. In einer dadurch ermöglichten, riesigen Umfassungsbewegung sollten die französischen Streitkräfte eingekesselt und in einem „zweiten Cannae“ vernichtet werden.5 Im September 1914 beendete die „Schlacht an der Marne“ den deutschen Vormarsch. Der Feldzugsplan war nicht zuletzt an seiner Gigantomanie gescheitert, und jetzt zeigte sich erst sein größter Mangel: Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Die deutsche Strategie wusste nicht mehr weiter, es begann ein Stellungskrieg. Zugleich wirkte der „politische Pferdefuß“ des Plans fort: die bewusste Inkaufnahme des britischen Kriegseintritts wegen Verletzung der belgischen Neutralität. Diese gehörte untrennbar zum Gründungsakt des Königreichs Belgien 1830/31. Sie war auf einer Konferenz der Großmächte 1831 in London feierlich erklärt worden, um aus der Unabhängigkeit Belgiens entstandene Spannungen ­zwischen England und Frankreich auszuräumen. Preußen, 1871 größter Gliedstaat des neuen Deutschen Reiches, gehörte zu den Garantiemächten.6 Der Einmarsch in Belgien wurde von deutscher Seite als Akt der blanken Notwehr verstanden, die deshalb keine Völkerrechtsverletzung sein könne. Aus d ­ ieser Prioritätensetzung und ihrer Rechtfertigung lässt sich zweierlei ableiten: Den Vorrang des Militärischen im kaiserlichen Deutschland und eine geringe Achtung vor dem Völkerrecht. Die Empörung ob des eklatanten Bruchs der belgischen Neutralität ging weit über den Kreis der deutschen Kriegsgegner hinaus und erwies sich als dauerhafte moralische Hypothek für das Reich. Hatten die deutschen Kommandeure zunächst mit nur symbolischer Gegenwehr gerechnet, so waren sie umso mehr verwundert und zornig über den erbitterten belgischen Widerstand, der den Zeitplan ihres Feldzugs zu verzögern drohte. Auf „tückische Angriffe“ der Zivilbevölkerung, sogenannter „Franctireurs“, folgte maßlos harte Vergeltung: Geiselnahmen, Exekutionen, Brandschatzung von Städten.7 Dabei handelte es sich bei den von deutscher Seite so laut und andauernd beschrieenen „Franctireurs“ eher um ein Phantom, Produkt einer Masseneinbildung. So sind denn auch relativ wenig Fälle bekannt, in denen angebliche „Franctireurs“ vor ein Kriegsgericht kamen.8 Und schließlich ging – ein Vorgang von ausgeprägt negativem Symbolgehalt – die weltberühmte Bibliothek der Universität Löwen in Flammen auf.9 Nach langen, heftigen Kontroversen besteht inzwischen für die „neuere Forschung […] kein Zweifel daran, dass sich die deutsche Armee insbesondere in der Frühphase des Krieges

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Zum Plan und den Gründen seines Scheiterns Salewski, Erster Weltkrieg, S. 39 ff; Wehler, Gesellschafts­geschichte, S.  7 ff, 10 f. Dann, Der belgische Nationalstaat, S. 13 ff; Salewski, ebd., S. 40; Ypersele, Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 44. Zum deutschen Einmarsch und den Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung vor allem Ypersele, ebd., S. 45 ff; Tuchman, August 1914, S. 274 ff; Wehler, ebd., S. 19; lapidar Salweski, ebd., S. 122. Horne/Kramer, Deutsche Kriegsgreuel, S. 248. Zum Brand von Löwen insbesondere Tuchman, ebd., S. 379 ff.

Kriegsteilnahme und Tätigkeit bei der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien

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tatsächlich brutaler Verbrechen an der belgischen […] Zivilbevölkerung schuldig gemacht hat.“10 Das war, zynisch gesprochen, „Material“ für die gegnerische Propaganda. Die Zahl der Opfer deutscher Gewaltmaßnahmen an der belgischen Zivilbevölkerung in der Anfangsphase des Krieges betrug annähernd 5000.11 Im September 1914 wurde Rudolf zur Bonsen schwer verwundet. Dadurch verlor er seine Felddiensttauglichkeit. Die Verwundung und ihre Folgen waren, so kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, ein harter Schlag für ihn. Einen Ausgleich mochten die Ehrenzeichen darstellen, die er erhielt: das Eiserne Kreuz II. Klasse und das Kriegsverdienstkreuz.12 Zur Bonsen war nach seiner Verwundung in der Zivilverwaltung des besetzten Belgien beschäftigt. Deren Einrichtung und das von ihr zu bewältigende Konfliktpotenzial werden nun beschrieben, um zur Bonsens Tätigkeit besser einordnen zu können. Dies weist zugleich auf den Zweiten Weltkrieg voraus, da 1940 wieder eine deutsche Besatzungsverwaltung installiert werden sollte. Für das besetzte Belgien war – mit Ausnahme des Operations- und Etappengebiets – am 23. August 1914 durch „Allerhöchste Kabinettorder“ das „Generalgouvernement Belgien“ eingerichtet worden. Der Generalgouverneur übte die Staatsgewalt aus und war allein dem ­Kaiser verantwortlich; mit der (politischen) Reichsleitung und der Obersten Heeresleitung (OHL ) brauchte er sich nur „abzustimmen“. Der Verwaltungschef bei dem Generalgouverneur war für die gesamte innere Verwaltung des Landes zuständig. Er unterstand der Aufsicht des Reichsamts des Innern, letztlich also dem Reichskanzler. Dieser Verwaltungsaufbau war unübersichtlich und „das Produkt des Gegensatzes von militärischen und zivilen Befugnissen“.13 Dies war ohnehin ein für das Kaiserreich typischer Konflikt. Der markanteste der Generalgouverneure war Moritz Freiherr von Bissing (Dezember 1914 bis April 1917). Neben ihm amtierte als Verwaltungschef der Aachener Regierungspräsident Maximilian von Sandt (August 1914 bis September 1917).14 Über von Bissing hieß es, seine Verwaltung habe ein Übriges getan, „um einen nationalen Widerstand hervorzurufen“.15 Dies dürfte das Ergebnis der Besatzungspolitik insgesamt gewesen sein, ist aber zu differenzieren.16 Wohl galt für die Besatzungsmacht das Primat der „Nutzbarmachung“ Belgiens, aber von Bissing war auch klar, dass, wie er selber sagte, „[…] eine ausgepresste Zitrone keinen Wert hat und eine getötete Kuh keine Milch mehr gibt.“ So geriet er immer wieder in Konflikte mit der Militärführung; sein Bemühen, „die Interessen des deutschen Heeres und der deutschen Wirtschaft mit einer verhältnismäßig maßvollen und in seinen Augen ‚vernünftigen’ Behandlung der belgischen Zivilbevölkerung in Einklang zu bringen“, hatten im Fortgang des Krieges immer weniger Erfolg. Die Konflikte kulminierten in der Auseinandersetzung um die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft. Trotz völkerrechtlicher Bedenken des Auswärtigen Amtes und zähen Widerspruchs des Generalgouverneurs wurde sie im Herbst 1916

10 Ypersele, ebd., S. 47; generell auch Horne/Kramer, ebd., S. 137 ff; vgl. aber neuerdings: Keller, Schuldfragen, Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung 1914 (Paderborn, Oktober 2017). 11 Ypersele, ebd., S. 46; Einzelaufstellung bei Horne/Kramer, ebd., S. 636 ff. 12 Führerlexikon (FN 3), ebd. 13 Thiel, Menschenbassin Belgien, S. 37 f, mit weiteren Einzelheiten, insbesondere zur Gebietsabgrenzung. 14 Ders., ebd., S. 37 f; Bergmann, Aachen-­Festschrift, S. 325 f. 15 Dann, ebd., S. 39. 16 Zum Folgenden Thiel, ebd., S. 37 und 39, von dort das wörtliche Zitat.

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durchgesetzt.17 Dies war das Werk der dritten OHL (Hindenburg und Ludendorff), die dabei von maßgeblichen Vertretern der deutschen Industrie wie Carl Duisberg und Walther ­Rathenau unterstützt wurde. Die Lebensbedingungen der belgischen Arbeiter im Reich waren katastro­ phal.18 Aber die Deportation endete in einem Fiasko.19 Bis Februar 1917 konnten statt der erwarteten zweihunderttausend nur sechzigtausend Arbeiter ins Deutsche Reich „verbracht“ werden. Dies geschah „in aller Hast und nach flüchtiger Musterung“. Ein Drittel von ihnen musste bereits nach wenigen Wochen wegen Arbeitsunfähigkeit zurückgeschickt werden. Das alles führte langsam zu der Einsicht, die Deportationen im Frühjahr 1917 zunächst einzustellen. In einem weiteren Schritt wurden dann die im Reich verbliebenen belgischen Arbeitskräfte in ihre Heimat zurückgeführt. Zu dem wirtschaftlich unzulänglichen Ergebnis trat noch politischer Schaden, nämlich ein erneuter internationaler Ansehensverlust des Deutschen Reiches und eine Belastung des „Burgfriedens“ im Reich selbst.20 Die „Flamenpolitik“ war ein weiterer höchst problematischer Bestandteil der deutschen Besatzungsherrschaft. Initiiert wurde sie durch den Generalgouverneur von Bissing, aber der habe „in der Behandlung des flämischen Problems in erster Linie den Wünschen des Auswärtigen Amtes Rechnung [getragen]“.21 Eigentlicher Urheber sei jedoch der Reichskanzler von Bethmann-­Hollweg selbst gewesen. Mit „Flamenpolitik“ lässt sich die planvolle Bevorzugung und Förderung des flämischen Teils der belgischen Bevölkerung umschreiben, der sich gegenüber dem wallonischen benachteiligt fühlte. Dabei wird unterschiedlich akzentuiert, ob diese Politik von „kollaborationsbereiten“ Flamen genutzt wurde, um ihre Forderungen durchzusetzen, oder ob sie Flamen überhaupt erst zur Kollaboration veranlasste.22 Allemal handelte es sich um eine kleine Minderheit. Die Problematik einer „Flamenpolitik“ unter deutscher Besatzung sollte im Zweiten Weltkrieg wieder akut werden. Zu den Maßnahmen, die im Rahmen der „Flamenpolitik“ 1916/17 getroffen wurden, gehörten eine „Umgründung“ der Universität Gent in eine Hochschule flämischer Sprache, die Bildung eines „Rats von Flandern“ und die administrative Trennung ­zwischen Flandern und der Wallonie. Im Januar 1918 ging der „Rat von Flandern“ so weit, beeinflusst von radikalen Jungflamen und ohne die deutsche Besatzungsverwaltung vorab zu unterrichten, einseitig die Unabhängigkeit Flanderns zu proklamieren. Das verkomplizierte das Verhältnis zu den Besatzungsbehörden und führte im August 1918 zum Rücktritt des Rates. Auch wenn die einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht im Sinne der Besatzungsverwaltung war, erscheint doch das Urteil berechtigt, die „Flamenpolitik“ sei mit „dem Ziel betrieben [worden], das Land zu spalten“.23 So zeigt sich: Ist die Tätigkeit in einer Besatzungsverwaltung schon ihrem Wesen nach belastet und auch belastend, so galt das angesichts der Vorgeschichte und der mit ihr verbundenen Konflikte für die deutsche in Belgien in besonderem Maße. Das musste sich auf die Arbeit ihrer Angehörigen auswirken und betraf dann auch Rudolf zur Bonsen. Belegt ist dessen Zugehörigkeit zur Besatzungsverwaltung ab Sommer 1916. Der Zeitablauf legt nahe, er habe

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Im Einzelnen Thiel, ebd., vor allem S. 136 ff; vgl. auch Pyta, Hindenburg, S. 247 f. Ders., ebd., S. 148 ff; ferner Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung, S. 95 ff. Hierzu wiederum detailliert Thiel, S. 156 ff. Zu beidem Thiel, ebd. S. 163 ff und 201 ff. Petri, Handbuch, Bd. 6, S. 489. Die erste Auffassung vertritt Petri, a. a. O.; die zweite Ypersele, ebd., S. 48. Ypersele, a. a. O.

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nach seiner schweren Verwundung lange zur Rekonvaleszenz gebraucht, anschließend wohl eine „Schreibstubentätigkeit“ bei einem Bezirkskommando ausgeübt. Zudem stand er kurz vor der Hochzeit mit Olga Cäcilia Margarete Schanzleh aus Köln, die im November stattfand. Dienstliche Einzelheiten ergeben sich aus einem Schreiben des Verwaltungschefs der W ­ allonie an den preußischen Innenminister von Dezember 1918, dem zur Bonsen für eine Aufnahme in die innere Verwaltung empfohlen wurde. Es befindet sich in der Personalakte zur Bonsens.24 Nach d ­ iesem Schreiben war er vom 6. Juli 1916 für gut zweieinhalb Jahre bis Anfang 1919 in der Besatzungsverwaltung tätig, zunächst als Justiziar beim Verwaltungschef des Generalgouverneurs. Ab Herbst 1917 war er der Rechtsabteilung der Unterrichtsverwaltung in der Wallonie zugewiesen. Gerade das Letzte war ein besonders sensibles Arbeitsgebiet. Denn aus den deutschen Verwaltungsberichten ließ sich hierfür eine bestimmte Tendenz herauslesen, pro-­flämisch und selbst in der Wallonie örtlich germanisierend. Im Übrigen waren die im Bundesarchiv Berlin archivierten Berichte in einem trockenen, strengen Stil abgefasst. Sie verrieten bis zuletzt Willen zur Dominanz und Siegeszuversicht. Aber am 11. November 1918 kam der Waffenstillstand. Mit dem Abzug der Deutschen endete zwangsläufig auch zur ­Bonsens eigentliche Tätigkeit. Die Deutschen ließen ein in weiten Teilen zerstörtes, wirtschaftlich ausgeblutetes Land zurück.25 Auf der Seite der Sieger zu sein, war für Belgien kein wirklicher Ausgleich. Der territoriale Zugewinn an der Ostgrenze durch den Vertrag von Versailles, nämlich die Kreise Eupen und Malmédy aus dem preußischen Regierungsbezirk Aachen, war fragwürdig. Die überwiegend deutschsprachige Bevölkerung wollte diesen Wechsel nicht. Um einen Vorschuss von zwei Milliarden Goldmark auf die vom Deutschen Reich zu leistenden Reparationen musste die belgische Delegation sogar kämpfen. Viele Belgier hatten das Gefühl, „die Verlierer des Friedens zu sein, von den Alliierten im Stich gelassen oder sogar verachtet zu werden“. Diese Gefühlslage verstärkte die Belastung des deutsch-­belgischen Verhältnisses; es blieb auf Jahre zerrüttet. Denkbar war, dass die Tätigkeit in der Besatzungsverwaltung für zur Bonsen nachteilige berufliche Folgen haben könnte.

2.3 Nachkriegszeit: Beamter der preußischen Innenverwaltung Nach Kriegsende trat zur Bonsen in den öffentlichen Dienst des preußischen Staates ein. Seit Februar 1919 war er Probejustitiar beim Regierungspräsidenten Königsberg, ab Mai beim Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen ebendort. Diese rechtliche Handhabung war notwendig, weil er nicht das Regierungsreferendariat absolviert hatte.26 Im August desselben Jahres wurde er als Regierungsassessor in die allgemeine Verwaltung übernommen und im folgenden Monat an die Regierung in Köln versetzt. Die Versetzung nach Köln kam sicherlich seinen persönlichen Lebensumständen entgegen, da ja, wie schon erwähnt, seine Frau dorther stammte.

24 BA-Berlin, R 1501/205163 Personalakte zur Bonsen des Reichsinnenministers. Dort sind alle im Folgenden unter „Personalakte“ genannten Vorgänge archiviert. 25 Hierzu und zum Folgenden ders. ebd., S. 49, von dort auch das wörtliche Zitat. 26 Vgl. §§ 10 Ziff. 1. 12 f.Abs. 1 Gesetz über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienste vom 10. August 1906 (GS., S. 378) i. d. F. des Änderungsgesetzes vom 8. Juli 1920 (GS., S. 388).

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In Köln wurde zur Bonsen engster Mitarbeiter des Vertreters des Behördenleiters, Oberregierungsrat Budding,27 insbesondere bei Verhandlungen mit den Besatzungsmächten, denn der linksrheinische Teil des Regierungsbezirks und kleinere rechtsrheinische Gebietsteile waren von britischen und französischen Truppen besetzt.28 Anfang 1922 wurde er zum Regierungsrat ernannt. Wie sich aus der in der Personalakte enthaltenen Korrespondenz ­zwischen dem preußischen Innenministerium und dem beteiligten Regierungspräsidenten ergibt, sollte zur Bonsen Ende 1923 Vertreter des Polizeipräsidenten in Aachen werden. Die Interalliierte Kommission legte allerdings ein vorläufiges Veto ein.29 Höchstwahrscheinlich hatte es der Vertreter Belgiens wegen zur Bonsens Tätigkeit während des Krieges initiiert. Der Wechsel nach Aachen unterblieb jedenfalls. Im März 1924 ernannte der Preußische Minister des Innern zur Bonsen dann zum zweiten beamteten Mitglied des Bezirksausschusses. Dieser war bei Verwaltungsverfahren von besonderem Gewicht, Beschlussorgan und zugleich untere Instanz bei Verwaltungsstreitverfahren. Im weiteren Verlauf seiner dienstlichen Tätigkeit wurde er aber nicht, wie es in einer Kurzbiographie heißt, Vorsitzender des Bezirksausschusses.30 Diese Funktion war dem Regierungspräsidenten kraft Gesetzes vorbehalten. Zur Bonsen war eine Zeitlang Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), einer republikfeindlichen, konservativen Sammelpartei.31 Immerhin gehörte sie 1927/28 einer Reichsregierung an, ehe sie sich endgültig auf einen scharfen Rechtskurs begab. Ein Kollege, seinerzeit ebenfalls Dezernent bei der Kölner Bezirksregierung, hat im Entnazifizierungsverfahren ausgesagt, „1927 oder 1928 begann er sich, durch eine dienstliche Zurücksetzung gekränkt, dem parteipolitischen Leben in maßvoller Weise zuzuwenden und sich der deutschnationalen Volkspartei anzuschließen.“32 Diese Schilderung spricht dafür, zur Bonsen sei bei einer Beförderungsentscheidung übergangen worden. Zur Bonsens Eintritt in die DNVP könnte ein Element politischen Protests innegewohnt haben. Dieser durfte eher gegen die preußische Staatsregierung und die in ihr führende SPD gerichtet gewesen sein. Denn der seit Ende 1926 amtierende Regierungspräsident Elfgen (Zentrum) war ihm offenbar gewogen.33 Nach den in der Personalakte enthaltenen Befähigungs­ berichten schlug er ihn mehrfach erfolglos zur Beförderung vor. Ohnehin nimmt nicht Wunder, dass zur Bonsen auf Grund seiner Erfahrungen aus dem Krieg und aus der Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten politisch „nach rechts“ neigte. Diese Motivlage war offenbar sehr wirksam. Als praktizierender Katholik wäre er sonst kaum der stark protestantisch geprägten DNVP beigetreten. Die Katholiken fühlten sich ganz überwiegend im Zentrum beheimatet, der „Konfessionspartei des politischen Katholizismus“.34 Der „Freistaat Preußen“ hatte in der Weimarer Republik zunehmend eine Rolle als Stabilitätsfaktor gespielt, wie in Kapitel 1 dargestellt. Dies gewann an Bedeutung, als nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf Reichsebene die politischen Verhältnisse krisenhafte Züge bekamen. 27 Das Amt des „Regierungsvizepräsidenten“ wurde erst später eingeführt, vgl. Anhang 1 des Beamtendienst­ einkommensgesetzes i. d. F. der Bekanntmachung vom 13. Mai 1924 (GS., S. 487, 521). 28 Zu den Besatzungszonen Faber, Festschrift Köln, S. 35 f; Romeyk, Verwaltungsgeschichte, S. 88 f. 29 Zu dem von den Besatzungsmächten beanspruchten Recht vgl. Romeyk, ebd., S. 91. 30 So aber August Klein, Festschrift Köln, S. 110. 31 Schrulle, ebd., S. 631. 32 Zeugnis von Klinckowström, Anl. Bl. 7 zum Schriftsatz vom 15. März 1948 an die Spruchkammer, Bayerisches Staatsarchiv München, Karton 4237. 33 Zu Elfgen vgl. Schrulle, ebd., S. 644. 34 Bracher, Auflösung., S. 82; Wehler, ebd., S. 356.

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Das Ergebnis der Landtagswahlen vom 24. April 1932 erschwerte es Preußen erheblich, diese Rolle weiterzuspielen. Die NSDAP war mit Abstand stärkste Partei geworden, wie geschildert, und die Regierung Braun nur noch geschäftsführend im Amt. In dieser Situation tat Rudolf zur Bonsen einen Schritt, der nicht nur für seine weitere Karriere bestimmend sein sollte, vielmehr sein ganzes weiteres Leben nachhaltig prägte: Er trat am 1. Mai 1932 der NSDAP bei. Im Spruchkammerverfahren nach dem Zweiten Weltkrieg hat er dies in einer „Erläuterung zum politischen Fragebogen“ 1946 folgendermaßen begründet: Im Mai 1932, zu einer Zeit, als die täglich fortschreitende Verschlechterung der Wirtschaftslage zu einer Auflösung aller Ordnung in Deutschland zu führen drohte, trat ich der NSDAP bei, da ich damals in Hitler den Mann erblickte, der im Stande sein würde, das drohende Chaos abzuwenden und wieder geordnete Zustände zu schaffen.

Ob dies wirklich seine Motive waren, vor allem, ob seine einzigen, ist schwer zu beurteilen. Seine Erklärung wurde nach dem katastrophalen Ende der nationalsozia­listischen Diktatur abgegeben. Das Verfahren diente nach seiner gesetzlich definierten Zielsetzung der politischen Selbstreinigung des deutschen Volkes. Da lag es nah, wegen einer fast zwangsläufigen Tendenz zur Selbstrechtfertigung den Beitritt in die NSDAP möglichst idealisch zu begründen. Tatsächlich besaß zur Bonsen, wohl durch Herkunft, sicherlich aber durch Lebenserfahrung bedingt, politisch eine „rechte Prägung“. Sie hatte ihn vorher ja bereits zur DNVP geführt. 1932 erschien die NSDAP allerdings als die wirkungsmächtigere rechte Partei. Schließlich mag auch ein gewisses Maß an Opportunismus wenige Tage nach der erfolgreichen Landtagswahl mitgespielt haben. Vor dem damals verbreiteten Irrtum, Hitler als Ordnungsmacht zu sehen, hätte zur Bonsen ein Vorfall bewahren können, der sich im April 1932 in Köln ereignete. Der NSDAP-Politiker Robert Ley attackierte in einem Weinlokal den SPD-Vorsitzenden Wels und den der SPD angehörenden Kölner Polizeipräsidenten Bauknecht, die dort nach einer Wahlveranstaltung zusammensaßen. Ley schlug dabei mit einer Weinflasche Bauknecht derart auf den Kopf, dass dieser eine klaffende Wunde davontrug.35 Es ist schwer vorstellbar, dass zur Bonsen von dieser Aufsehen erregenden Gewalttat nichts erfahren haben sollte, zumal einer seiner Vorgesetzten, Regierungsvizepräsident Bier, Wels begleitet hatte. Zur Bonsens Eintritt in die NSDAP war darüber hinaus in doppelter Hinsicht, gelinde ausgedrückt, problematisch. Zum einen handelte er als preußischer Staatsbeamter nicht nur illoyal gegenüber der verfassungsmäßigen Regierung, sondern beging streng genommen sogar ein Dienstvergehen. Denn mit dem bereits erwähnten Beschluss der preußischen Regierung vom 25. Juni 1930 war allen Beamten die „Teilnahme“ an KPD und NSDAP und deren jegliche Unterstützung verboten worden. Anderenfalls verletze ein Beamter „die aus seinem Beamtenverhältnis sich ergebende besondere Treueverpflichtung gegenüber dem Staate“ und mache „sich eines Dienstvergehens schuldig“. Beide Parteien ­seien „als Organisationen anzusehen, deren Ziel der gewaltsame Umsturz der bestehenden Staatsordnung ist.“ Überdies wies das Staatsministerium ausdrücklich darauf hin, dass künftig gegen jeden Staatsbeamten, „der dem zuwiderhandelt, disziplinarisch eingeschritten“ werde.36 35 Jung, Übergang, S. 72 f; Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 48 f. Zum Folgenden Sozia­ldemokratischer Pressedienst vom 14. Mai 1932 (Bericht vom Strafprozess gegen Ley). 36 Veröffentlicht durch Runderlass des Innenministers (RdErl. d. MdI.) vom 3. Juli 1930 (MBliV., S. 599 f); siehe allgemein Rudolf Morsey, Staatsfeinde im öffentlichen Dienst (1929 – 1932), S. 111 ff, insbesondere S. 116.

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Im Gegensatz zur Reichsregierung hatte das preußische Staatsministerium mit großer Klarheit Stellung bezogen. Allerdings war der Beschluss verfassungsrechtlich nicht unproble­ matisch, gewährleistete doch Art. 130 Abs. 2 allen Beamten „die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit“. Eine im Dezember 1930 von der NSDAP gegen den Beschluss eingereichte Klage wurde jedoch vom Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich im April 1931 abgewiesen.37 Der eigentliche „Pferdefuß“ des Beschlusses lag jedoch in der Ankündigung von Sanktionen. Die Beachtung einer Rechtsnorm und der Respekt vor ihr hängen weitgehend von ihrer Durchsetzbarkeit ab. Nach der doch recht martialischen Ankündigung hätten tatsächlich gegen dem Beschluss zuwiderhandelnde Beamte Disziplinarmaßnahmen eingeleitet werden müssen. Daran haperte es jedoch von Anfang an. War auf die Justiz in allen Rechtsstreitigkeiten, in denen es auf strikte Beachtung der Reichsverfassung ankam, nicht genug Verlass, so gebrach es hier bereits an konsequentem Handeln der Exekutive. Die preußische Regierung steckte schon bald nach dem Beschluss wieder zurück: Da inzwischen Neuwahlen zum Reichstag angesetzt worden waren, „musste das Kabinett ‚vorläufig’ davon absehen, gegen diejenigen Beamten ein Disziplinarverfahren zu eröffnen, die für die NSDAP kandidierten. Dabei blieb es auch nach dem Wahltermin“.38 Diese Zögerlichkeit war symptomatisch. Soweit überhaupt noch disziplinarrechtliche Konsequenzen aus dem Beschluss des Staatsministeriums gezogen wurden, stand das Ergebnis in keinem Verhältnis zum Aufwand: Man kann deshalb durchaus von einem „Pyrrhussieg“ für die Republik sprechen.39 Erst recht nachdem im Gefolge der Landtagswahlen allein eine geschäftsführende Staatsregierung im Amt war, stand der Beschluss nur noch auf dem Papier, jedenfalls was die NSDAP anging. Dienstrechtliche Konsequenzen brauchte also insoweit kein Beamter mehr zu befürchten. Zum Zweiten geschah der Parteibeitritt zur Bonsens entgegen deutlichen Warnungen der deutschen Bischöfe aus den Jahren 1930/31.40 Sie erfolgten nicht als gemeinsame Erklärung des gesamten deutschen Episkopats, sondern in mehreren Einzelverlautbarungen. Den Anfang machte eine Mitteilung des Bistums Mainz, Katholiken sei der Eintritt in die NSDAP verboten, sonst s­ eien sie nicht mehr zu den Sakramenten zugelassen. Dann folgten die offiziellen Erklärungen der anderen Kirchenprovinzen. Sie klangen weniger kompromisslos. Der entscheidende Satz lautete: „Die Bischöfe müssen also als Wächter der wirklichen Glaubens- und Sittenlehre vor dem Nationalsozia­lismus warnen, solange und soweit er kulturpolitische Auffassungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar sind“. Diese wohlüberlegte Formulierung ermöglichte den Bischöfen später eine Revision ihres Standpunkts. Bei der Erklärung der Kölner Kirchenprovinz vom 5. März 1931, die für zur Bonsen maßgeblich war, fällt generell auf, dass sie in einem vorsichtigen Ton abgefasst und sehr umfangreich, aber im Einzelnen wenig konkret war.41 Eingangs wurde moniert, Missverständnisse und Bedenken sowie „so manches Beklagenswerte im Auftreten“ ­seien „von den Führern 37 38 39 40

Morsey, ebd., S. 116. Ders., ebd. Vgl. Pehle, Machtergreifung Aachen, S. 271. Dazu Scholder, Die K ­ irchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 167 ff, von dort auch die Zitate; ferner Wolf, Papst und Teufel, S. 161 ff. 41 Corsten, Kölner Aktenstücke zur Lage der katholischen ­Kirche in Deutschland 1933 – 1945, Köln 1949, S. 1 f.

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dieser Bewegung“ nicht ausgeräumt worden. Erst nach einem Hinweis auf ihre Warnung von 1919 vor dem „katholikenfeindlichen Sozia­lismus und damit auch vor dem aus ihm hervorgegangenen Kommunismus“ formulierten die Bischöfe die entscheidenden Sätze: „In Übereinstimmung mit einem Worte der bayrischen Oberhirten warnen wir mit tiefem Ernst vor dem Nationalsozia­lismus“, und schlossen als wörtliches Zitat die doppelte Einschränkung „solange und soweit“ an, die oben bereits wiedergegeben wurde. „Als besondere Begründung dieser Warnung“ machten sie sich die Mahnung des Breslauer Kardinals vor der Rassenlehre „zu eigen“. Dieses m ­ ehrfache Zitieren anderer Warnungen stärkte nicht unbedingt die Überzeugungskraft der eigenen. Hierdurch sei nicht ausgeschlossen, erläutern die Bischöfe anschließend, dass sie es begrüßten, „wenn in unserem armen gedemütigten und geknechteten Vaterlande, in unserem von Gegensätzen aller Art zerrissenen Volke das Zusammengehörigkeitsgefühl deutscher ­Stammes- und Volksgenossen untereinander allenthalben sich neu belebt.“ Diese nationalistisch klingenden Sätze können auch als indirekte Kritik am Parteiensystem verstanden werden. Dagegen stehen die folgenden eindringlichen Mahnungen, „vor der abweichenden Überzeugung des anderen Achtung [zu] haben und da, wo wir […] unsere Meinung geltend machen, es in Formen tun, die einer christlichen Kulturnation würdig sind“, schließlich, der ­„ Atmosphäre des Hasses, die Volk und Völker zu vernichten droht, […] die Atmosphäre der Liebe entgegen[zu]setzen.“ Sie markieren einen deutlichen christlichen Standpunkt als Gegensatz zu politischer Agitation. Von Konsequenzen, wenn ein Katholik dieser Warnung zuwiderhandelte, war allerdings in der Erklärung keine Rede; nicht einmal ein ausdrückliches Verbot der Zugehörigkeit zur NSDAP wurde aufgestellt.42 So ist es wegen der Undeutlichkeit der bischöflichen Warnung nachvollziehbar, wenn sich zur Bonsen ein Jahr später nicht an sie gehalten hat. Die von den Bischöfen kritisierten Verhaltensweisen wird er für sich ausgeschlossen haben. Die drohende „Auflösung aller Ordnung“, die er befürchtete, half ihm offenbar über etwa noch vorhandene Bedenken hinweg. Die dienstliche Konfliktlage, in der zur Bonsen sich formal befand, wurde im Sommer 1932 infolge der „Rechtswendung“ der Politik des Reiches aufgelöst. Wie in Kapitel 1 geschildert, war der neue Reichskanzler von Papen durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli zum Reichskommissar für Preußen bestellt worden und hatte die geschäftsführende Regierung ihres Amtes enthoben. Dies konnte auch dem Bemühen des Reichskanzlers zugerechnet werden, eine Tolerierung seiner Regierung durch die Nationalsozia­listen zu erreichen. Passend zu dieser Tendenz erschien ein anschließendes umfangreiches Personalrevirement in der preußischen Verwaltung. Ihm fielen zahlreiche republiktreue Beamte zum Opfer, darunter der Kölner Polizeipräsident Bauknecht.43 Auch zur Bonsen suchte die Gunst der Stunde zu ­nutzen. Der Personalakte nach wandte sich sein Behördenleiter Elfgen schon am folgenden Tag brieflich an den kommissarischen Innenminister Bracht und gab unterstützend die Bitte um eine Unterredung weiter; zur Bonsen kenne ihn. Es ist offen, ob es dazu kam. Dafür durfte zur Bonsen anderes gelegen gekommen sein. Der Reichskommissar und seine „Kommissariatsregierung“ entschieden nur sieben Tage später:

42 Ein Verbot (in Form eines Zitats) enthielt immerhin ein Artikel der Kölner Kirchenzeitung vom 26. April 1931, vgl. Matzerath, ebd., S. 59. Nach von Hehl, Erzbistum Köln, S. 18 ff, ging der allgemeine Charakter der E ­ rklärung auf Kardinal Schulte zurück. 43 Jung, ebd., S. 75 f.

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Der Beschluß des Staatsministeriums vom 25. 6. 1930 über die Teilnahme von Beamten an der Nationalsozia­listischen Deutschen Arbeiterpartei und der Kommunistischen Partei Deutschlands wird, soweit er sich auf die Nationalsozia­listische Deutsche Arbeiterpartei bezieht, hier44 durch aufgehoben.

Dies alles war ein deutliches ­­Zeichen, wohin politisch „die Reise ging“. Die NSDAP wurde offenbar nicht mehr als verfassungsfeindlich eingestuft; Beamte konnten sich nun beliebig für sie betätigen. So wurde auch zur Bonsen in die Parteiarbeit einbezogen. Durch eine neue „Dienstvorschrift für die PO (Politische Organisation)“, die von der Münchner Reichsleitung der NSDAP im Juli 1932 erlassen worden war, erfolgte eine Umorganisation der Gauleitungen mit Wirkung vom 1. September. An der Spitze des Gaues Köln-­Aachen stand seit 1931 der 1902 geborene kaufmännische Angestellte Josef Grohé. Er ernannte zur Bonsen zum Leiter der „Innenpolitischen Abteilung“, die mit neun weiteren „Abteilungen“ in der neu gebildeten „Hauptabteilung III Staatsaufbau“ zusammengefasst war.45 Umfang und Bedeutung von dessen ehrenamtlicher Tätigkeit lassen sich an den „Mitteilungsblättern des Gaues Köln-­Aachen“ ablesen. Die Zimmerverteilung in dem zum 1. Oktober 1932 neu bezogenen Gebäude der Gauleitung in der Mozartstraße sah für die Innenpolitische und die Kommunalpolitische Abteilung zusammen einen Raum im dritten Stock vor. Dort sollten auch montags und donnerstags von 18.30 Uhr bis 19.30 Uhr die Sprechstunden der Innenpolitischen Abteilung in Gestalt des Regierungsrats zur Bonsen stattfinden.46 Offensichtlich war die Innenpolitische Abteilung ein „Ein-­Mann-­Betrieb“. Zur Bonsen hat dies auch selbst nach dem Krieg im Spruchkammerverfahren vorgetragen.47 Der Begriff „Abteilung“ war etwas hoch gegriffen und die Gauleitung insgesamt überorganisiert. Die Berufsbezeichnungen der in der Gauleitung Tätigen waren sehr unterschiedlich. Als Abteilungsleiter war der Regierungsrat zur Bonsen dem Hauptabteilungsleiter III, Brandes, unterstellt. Als Regierungsbaumeister gehörte er wie zur Bonsen dem höheren Dienst an. Neben ihm waren als Leiter der Rechtspolitischen Abteilung ein Rechtsanwalt tätig, als Leiter der Beamtenabteilung ein Regierungsobersekretär, also ein Beamter des mittleren Dienstes. Offensichtlich kam es auf beamtenrechtliche Hierarchien bei der Besetzung der durchaus hierar­chisch organisierten Gauleitung wenig an, vielmehr auf „Aktivismus“ in der Partei. Dies mochte der Gleichheitsideologie der Partei entsprochen haben, als Nebeneffekt aber auch etwas demütigend für zur Bonsen gewirkt haben.48 Im Spruchkammerverfahren hat zur Bonsen seine Tätigkeit in der Gauleitung näher beschrieben.49 Er sei nicht nach seiner Zustimmung zur Übertragung der Abteilungsleitung gefragt worden. Bei der in der Partei damals herrschenden Disziplin habe es kein Nein gegeben. Aber zur Bonsen hatte sich ­diesem Umgangsstil ja selbst ausgesetzt. Ihm sei in seiner „Amtszeit“ keine einzige Sache zur Bearbeitung vorgelegt worden, heißt es in dem Schriftsatz auch; damals habe sich die gesamte Tätigkeit der Partei in der Propaganda erschöpft, die aber habe nicht 44 45 46 47 48 49

Veröffentlicht mit RdErl. vom 29. Juli 1932 (MBliV., Sp. 773). Mitteilungsblätter des Gaues Köln-­Aachen, Folge 10, August 1932; zur Umorganisation Pehle, ebd., S. 149 ff. Mitteilungsblätter, Folge 11, September 1932, Folge 13, November 1932. Spruchkammerakte, Schriftsatz, S. 5. Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Horst Matzerath. Im Einzelnen Schriftsatz, ebd.

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zu den Aufgaben der Innenpolitischen Abteilung gehört. Einen Vorrang der Propaganda gab es sicherlich. Unwahrscheinlich erscheint jedoch, dass die Tätigkeit der Parteiorganisation ausschließlich darin bestand. Andererseits blieben seine Sprechstunden, die ja angekündigt waren, unerwähnt. Schließlich führte zur Bonsen aus, die Tätigkeit in der Parteibürokratie habe seinem Wesen nicht gelegen, und er habe das Amt bei nächster Gelegenheit, Ende Januar 1933, niedergelegt. Dies mag so gewesen sein, lässt sich aber nicht sicher beurteilen. Von den Mitteilungsblättern des Gaues Köln-­Aachen, in denen personelle und organisatorische Vorgänge in der Gauleitung penibel vermerkt wurden, sind ausgerechnet die Folgen für Januar und Februar 1933 nicht auffindbar.50 Und so lässt sich die Situation für Rudolf zur Bonsen am Ende der Weimarer Republik kurz zusammenfassen: Er gehörte seit 1919 der preußischen Innenverwaltung an und war seit zehn Jahren Regierungsrat. Seinen Tätigkeiten nach konnte er eine solide Beamtenkarriere vorweisen, auch wenn er noch nicht befördert worden war. Politisch befand er sich auf Abwegen. Seit einem Dreivierteljahr war er Mitglied der NSDAP und seit fünf Monaten ehrenamtlicher Leiter der Innenpolitischen Abteilung in der Hauptabteilung III Staatsaufbau, der Gauleitung des Gaues Köln-­Aachen.

2.4 Kölner Regierungspräsident im „Dritten Reich“ 2.4.1 Aufstieg in das Amt des Behördenleiters 1933 Am 30. Januar 1933, dem Tag an dem von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte, begann der unmittelbare Weg in die Diktatur. Der frühere Reichskanzler von Papen, der das besondere Vertrauen des Reichspräsidenten genoss, hatte als dessen „Homo regius“ wesentlich zur Regierungsbildung beigetragen.51 Er wurde Vizekanzler und zugleich Reichskommissar für Preußen, also faktisch Ministerpräsident.52 Die Übernahme der Kanzlerschaft war, wie schon in Kapitel 1 dargestellt, keine „Machtergreifung“, sondern eine allenfalls formal legale Übertragung ­dieses Amtes. Die historische Schuld der an ­diesem Akt maßgeblich Beteiligten wurde dadurch nicht gemindert. Eine Äußerung Papens zu einem skeptischen Bekannten zeigt seine Verblendung und die der anderen, die dem Führer der NSDAP zur Macht verhalfen: „Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht.“53 Bekanntlich verlief die Entwicklung durchaus gegenteilig. Dem neuen Kabinett gehörten außer Hitler nur zwei Nationalsozia­listen an. Von dieser geringen Zahl durfte man sich nicht täuschen lassen. Wilhelm Frick erhielt mit dem Reichsministerium des Inneren ein Schlüsselressort. Die Berufung Hermann Görings zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich schien harmlos. Doch er behielt das Amt des Reichstagspräsidenten, was mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht vereinbar war. Vor allem wurde er außerdem kommissarischer preußischer Innenminister. Damit hatte Göring die innere Verwaltung des größten Flächenstaates im Reich und vor allem dessen groß ausgebauten Polizeiapparat in die 50 51 52 53

Auskunft des Bundesarchivs vom 13. Februar 2017 und eigene Recherche bei Kölner Bibliotheken. Zur Vorgeschichte eingehend Kershaw, Hitler I, S. 512 ff; Pyta, Hindenburg, S. 774 ff, 791 ff. VO des Reichspräsidenten vom 31. Januar 1933, RGBl., S. 33. Zitiert nach Schulze, Weimar, S. 410.

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Hand bekommen. Dieses höchst wirksame Machtinstrument nutzte Göring, wie im Einzelnen noch in Kapitel 3 zu schildern sein wird, hemmungslos zum Ausbau der Macht der NSDAP, zum Nutzen von deren Parteigängern und nicht zuletzt zur Bekämpfung des politischen Gegners. Görings preußische Funktion sollte sich auch als gewaltiger Vorteil erweisen bei den anstehenden Wahlkämpfen. Zunächst war am 5. März der Reichstag neu zu wählen. Hitler hatte bereits zwei Tage nach seiner Ernennung von Hindenburg eine Verordnung zu dessen Auflösung erreicht, „damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neu gebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt“.54 Das war der Versuch, nachträglich der neuen Regierung eine Legitimation zu verschaffen, mit einer sehr eigentümlichen Begründung, mit der „das reguläre Verhältnis ­zwischen Parlament und Regierung auf den Kopf gestellt wurde, indem sie Neuwahlen zur Folge, nicht zur Ursache einer Regierungsbildung erklärte.“55 Am selben 5. März sollte auch der preußische Landtag neu gewählt werden. Er war, wie im Einzelnen noch zu schildern sein wird, am 6. Februar aufgelöst worden. Am 12. März sollten schließlich die kommunalen Vertretungen in Preußen neu gewählt werden. Nun setzte eine Wahlkampfagitation der NSDAP mit nie gekannter Wucht und zahlreichen Ausschreitungen ein, zugleich begann eine massive Verfolgung politischer Gegner, vor allem durch die SA . Dies verlangte nach einer Polizei und auch nach einer Verwaltungsführung, ­welche entweder mitmachten, die Vorgänge deckten oder jedenfalls duldeten. Das alles war damit zu rechtfertigen, dass es die unvermeidlichen Begleiterscheinungen einer „nationalen Erhebung“ ­seien. So war es, zynisch gesprochen, nur „konsequent“, wenn Göring, als kommissarischer preußischer Innenminister auch oberster Dienstherr der allgemeinen Verwaltung, die personellen „Säuberungen“ wieder aufnahm. Auch, wenn er zunächst noch gewisse Rücksichten wahrte, so waren sie anfangs in den preußischen Provinzen gleichwohl bereits so umfangreich wie die nach dem „Preußenputsch“ von Papens. So wurden in den ersten beiden Monaten 5 Oberpräsidenten, 4 Vizepräsidenten, 11 Regierungspräsidenten, 17 Regierungsvizepräsidenten und 34 Landräte in den einstweiligen Ruhestand versetzt.56 Goebbels notierte mehrfach knapp in seinem Tagebuch „Göring räumt auf “, so auch am 14. Februar mit dem Zusatz „Expräsidenten werden geschaffen“.57 Göring konnte dabei auf ein vorhandenes Rechtsinstrument aus der Zeit des republikanischen Preußen zurückgreifen. Wie in Kapitel 1 geschildert, hatte die Staatsregierung den Kreis der politischen Beamten, die ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten, weit gezogen. Dies hatte dazu dienen sollen, die Spitzenpositionen bei Verwaltungs- und Polizeibehörden mit republiktreuen Beamten zu besetzen. Nun erwies es sich, in die falschen Hände geraten, als Bumerang. Eine gewisse Rücksichtnahme erfuhr insbesondere die Rheinprovinz, wohl deshalb, weil es eine traditionelle „Zentrumsbastion“ war. Auch wurde das Zentrum möglicherweise in Reichstag und Landtag noch gebraucht. So blieben in allen fünf rheinischen Regierungsbezirken die Behördenleiter einstweilen noch im Amt, so in Köln Regierungspräsident Elfgen.58 Sein allgemeiner Vertreter, Regierungsvizepräsident Hermann Bier, wurde jedoch bereits im Februar in 54 55 56 57 58

RGBl. I, S. 45. Bracher, Machtergreifung, S. 50. Bracher, Machtergreifung, S. 490 Goebbels-­Tagebücher, Teil I, Bd. 2/II, S. 129. Vgl. die Listen bei Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie, S. 611 f.

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den einstweiligen Ruhestand versetzt. Jüdisch und Sozia­ldemokrat war er den Nationalsozia­listen „doppelt verhasst“.59 Am 22. Februar 1933 wurde zur Bonsen sein Nachfolger.60 Diese Ernennung war zweifach bemerkenswert. Zum einen war er Mitglied der NSDAP und „Altparteigenosse“; denn er gehörte zu den Mitgliedern, die ­zwischen 1929 und dem 30. Januar 1933 eingetreten waren.61 Zum anderen war es eine Beförderung vom Regierungsrat zum Regierungsvizepräsidenten, bei der die Ämter des Oberregierungsrats und des Regierungsdirektors übersprungen wurden. Nach dem Krieg hat sein damaliger Behördenleiter Elfgen ihm attestiert, nach seinen sachlichen Leistungen „zweifellos“ zu den über dem Durchschnitt stehenden Beamten gehört und seine Arbeit im Bezirksausschuss gut erledigt zu haben.62 Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass für Göring als bestimmendes Mitglied der preußischen Kommissariatsregierung die Parteimitgliedschaft zur Bonsens für diese Personalmaßnahme entscheidend war. Zur Bonsen selbst versuchte nach dem Krieg, ­diesem Eindruck entgegenzuwirken. In ­seiner schon erwähnten „Erläuterung zum politischen Fragebogen“ im Entnazifizierungsverfahren hat er ausgeführt, er sei vom „Preußischen Staatsministerium (Kommissare des Reichs) zum Regierungsvizepräsidenten in Köln ernannt“ worden.63 In dem ebenfalls bereits erwähnten Schriftsatz an die Spruchkammer wird dazu fortgefahren: „‚Die Kommissare des Reichs‘ waren im Sommer 1932 von der Reichsregierung eingesetzt worden, um an Stelle der bisherigen preussischen Koalitionsregierung die Staatsgewalt in Preussen auszuüben.“64 Tatsächlich geschah dies jedoch, wie schon erwähnt, auf Grund einer Verordnung des Reichspräsidenten. Die Kommissariatsregierung habe bis zur Übernahme der Macht durch die Nationalsozia­listen nach den Märzwahlen 1933 bestanden, fuhr der Schriftsatz fort. Als wohlbedachtes Element der Verteidigungsstrategie sollte die „Kommissariatsregierung“ als „nicht nationalsozia­listisch“ erscheinen, die Beförderung als nicht durch die neuen Machthaber ausgesprochen. Dies war nur zu einem geringen Teil zutreffend und insgesamt völlig irreführend. Papen war Vizekanzler einer nationalsozia­listisch geführten Reichsregierung. Als Reichskommissar stand er an der Spitze einer ebenfalls am 30. Januar neu eingesetzten preußischen Kommissariatsregierung. Immerhin waren drei der Kommissare Mitglied der NSDAP, von Papen mit der Mehrheit der anderen allerdings nicht. Von besonderem Gewicht war noch die P ­ erson des „Starken Mannes“ der Kommissariatsregierung, nämlich des für das Innenressort zuständigen, machtbewussten Nationalsozia­listen Hermann Göring, der von Anfang an den Reichskommissar von Papen mehr und mehr überspielt hatte.65 Die politische Dimension von zur ­Bonsens Ernennung wird noch unterstrichen durch die Gründe, ­welche zur Abberufung ­seines Vorgängers Hermann Bier geführt hatten. Dieser war ja jüdischer Herkunft und Mitglied der SPD. Schließlich rühmte sich noch 1972 der frühere Gauleiter Grohé, unter seiner Mitwirkung sei zur Bonsen im Juli 1932 (sic!) vom Regierungsrat zum Regierungsvizepräsidenten befördert worden.66

59 60 61 62 63 64 65 66

Matzerath, ebd., S. 66. Beschluss der Kommissare des Reichs auf Vorschlag Görings, in der Personalakte enthalten. Vgl. Schrulle, ebd., S. 57, FN 129; Mitglieds-­Nr. 1107 537 (Mitgliedskarte im Bundesarchiv). Erklärung vom 4. Februar 1948, Spruchkammerakte, Bl. 63. Spruchkammerakte, vgl. oben, S. 7 mit FN 34. Schriftsatz vom 15. März 1948, S. 7. Thamer, Verführung und Gewalt, S. 240; vgl. auch Bracher, ebd., S. 205. Vgl. Pehle, ebd., IV, S. 105, FN 313.

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Eine markante Maßnahme aus seiner Amtszeit war, dass er die Einleitungsverfügung zu einem Dienststrafverfahren gegen den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer unterschrieb. Die Nationalsozia­listen hatten ihn, mit Vorwürfen überhäuft, am 13. März 1933, dem Tag nach den preußischen Kommunalwahlen, aus dem Amt gejagt. Sonst ist wenig über zur Bonsens Tätigkeit bekannt. Das ergab sich aus mehreren Umständen. Als „zweiter Mann“ der Behörde trat der Regierungsvizepräsident tendenziell nach außen wenig hervor. Intern lag die Bedeutung seiner Stellung. Er war jedenfalls zu dieser Zeit Leiter der „Allgemeine[n] Abteilung“, die Vertretungsfunktion verlieh ihm zudem ein umfassendes Unterrichtungsrecht. Die dem Regierungspräsidenten zuzuleitenden Sachen gingen durch seine Hand, für den umgekehrten Weg galt das im Grundsatz auch. Zum anderen sollte zur Bonsen nur eine kurze Amtszeit als Regierungsvizepräsident beschieden sein. Denn Elfgens Tage als Regierungspräsident waren gezählt. Er hatte zwar eine erhebliche Anpassungsfähigkeit an den Tag gelegt. Im Gegensatz zu Oberbürgermeister Adenauer hatte er an der „Riesenkundgebung“ Hitlers zur Reichstagswahl in den Messehallen am 19. Februar teilgenommen. Bei der „Absetzung“ Adenauers war er als williges Werkzeug des kommissa­ rischen Innenministers Göring und des Gauleiters Grohé erschienen.67 In der offiziellen Festschrift zum 150-jährigen Bestehen der Bezirksregierung Köln ist in Elfgens Kurzbiographie dazu nichts zu lesen. Sein Verbleiben im Amt hing jedoch davon ab, wie lange Hitler und mit ihm Göring Rücksicht auf das Zentrum nehmen wollten, anders gesagt, wie lange sie diese Partei noch zu „brauchen“ glaubten. Entscheidend war, wie rasch und in welchem Umfang die Nationalsozia­listen ihre Macht zu festigen vermochten. Maßgeblich war zunächst die Entwicklung auf der Reichsebene. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 steigerte sich die NSDAP nochmals und errang mit 43,9 % der Wählerstimmen ihren bisher größten Erfolg. Eine wirklich freie Wahl war es nicht mehr. Während des Wahlkampfs waren durch Notverordnungen des Reichspräsidenten zunächst Grundrechte eingeschränkt, später fast alle außer Kraft gesetzt worden, worauf in Kapitel 3 noch näher einzugehen sein wird. Hinzu kamen massive Wahlbeeinflussung, Aufpeitschen von Emotionen und Terror. So waren den Nationalsozia­listen tiefe Einbrüche in bislang resistente Wählermilieus gelungen. Die Mehrheit hatte die NSDAP trotz allem nur zusammen mit den verbündeten Deutschnationalen gewonnen, die 8 % erreicht hatten. Zudem benötigte Hitler für das von ihm angestrebte Ermächtigungsgesetz zusätzlich die Stimmen anderer Parteien, weil es erheblich von der Verfassung abweichen sollte und deshalb einer Zweidrittelmehrheit bedurfte.68 Dieses Gesetz sollte bereits in der ersten Arbeitssitzung des neuen Reichstags am Nachmittag des 23. März verabschiedet werden. Die Abgeordneten der KPD würden nicht teilnehmen, sie waren untergetaucht oder verhaftet und ihre Mandate sollten infolge einer Manipulation der Geschäftsordnung außer Betracht bleiben. So kam es entscheidend auf das Zentrum an. Hitler gab in seiner Reichstagsrede kirchenpolitische Zusicherungen ab, w ­ elche vor allem die Stellung der K ­ irche in Schule und Erziehung betrafen. Daraufhin stimmte das Zentrum zu, und das Gesetz wurde mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet. Nur die SPD-Fraktion stimmte 67 Zur Kundgebung Matzerath, ebd., S. 69 f; ferner Schwarz, Adenauer, S. 347; vgl. auch Jung, ebd., S. 100 („deutlicher Anbiederungskurs“). 68 Zu Reichstagswahl und Ermächtigungsgesetz Thamer, ebd., S. 272 ff; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 605 und 607; Wolf, Papst und Teufel, S. 188; insbesondere Bracher, Machtergreifung, S. 88 ff, S. 93 ff (Analyse der Ergebnisse) und S. 152 ff.

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dagegen. Das Ermächtigungsgesetz war auf vier Jahre befristet, wurde aber mehrfach und zuletzt unbegrenzt verlängert. Es erlaubte der Reichsregierung, allein Gesetze zu beschließen, ohne Beteiligung von Reichstag und Reichsrat, und dabei sogar von der Verfassung abzuweichen. Das bedeutete die Selbstentmachtung des Parlaments, einen der entscheidenden Schritte auf dem weiteren Weg in die Diktatur. Nach Verabschiedung d ­ ieses Gesetzes brauchte Hitler die Zentrumspartei nicht mehr und musste auch kaum noch personalpolitische Rücksichten auf sie nehmen. Dies galt umso mehr, als sich auch die Stellung der NSDAP in Preußen wesentlich verbessert hatte. Dies wurde zunächst durch die ebenfalls am 5. März abgehaltenen Landtagswahlen bewirkt. Sie erbrachten eine ähnliche Mehrheit für NSDAP und DNVP wie die Reichstagswahlen (44,1 % und 8,8 %).69 Damit war die Wahl eines Ministerpräsidenten wieder möglich. Das Reichskommissariat in Preußen war nicht mehr notwendig; damit geriet von Papens zweite „Machtstütze“ als Reichskommissar neben der Vizekanzlerschaft erheblich ins Wanken. Endgültig verlor sie das Fundament durch die gesetzlichen Regelungen zur „Gleichschaltung“ der Länder, die durch das Ermächtigungsgesetz ermöglicht worden waren. Danach übte in Preußen der Reichskanzler, also Hitler selbst, die Rechte eines „Reichsstatthalters“ aus, mit dem Recht, den Ministerpräsidenten zu ernennen. Darauf stellte von Papen am 7. April 1933 sein Amt als Reichskommissar zur Verfügung. Göring wurde, ohne dass es einer Wahl bedurft hätte, drei Tage später, also am 10. April, von Hitler zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt, kurz darauf auch formell zum Innenminister. Göring hatte seiner Ämterhäufung neue Würden hinzufügen können. Die nationalsozia­listische Machtbasis in Preußen war also deutlich gefestigt. Damit war die Basis für weitere umfassende Personalmaßnahmen vorhanden. Als ranghöchster Staatsbeamter und als ständiger Vertreter der Staatsregierung in der Provinz geriet der dem Zentrum angehörende Oberpräsident Hans Fuchs als erster Göring ins Visier. Mit einer Frist von nur zwei Tagen nach Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ wurde er am 25. März beurlaubt. An seine Stelle trat der Präsident der Landwirtschaftskammer Hermann von Lüninck. Dieser, obzwar katholisch, war dem Zentrum gegenüber äußerst kritisch eingestellt und sympathisierte mit dem nationalsozia­listischen Staat, ohne sogleich Parteimitglied werden zu wollen.70 Dieser Personalwechsel war Teil eines Revirements, bei dem alle Oberpräsidenten ausgetauscht wurden. Die Rheinprovinz gehörte, wie gerade gezeigt, zu der Hälfte, bei der Göring zur Regelung der Nachfolge die „Honoratiorenlösung“ wählte. Bei der anderen Hälfte der Provinzen kamen die Gauleiter zum Zuge.71 Eine weitere „Zielgruppe“ für einen Personalwechsel waren die Regierungspräsidenten die, wie erwähnt, in der Rheinprovinz alle fünf zunächst noch im Amt belassen worden waren. Im Mai 1933 wurden die Kollegen Elfgens in Düsseldorf, Aachen und Koblenz in den einstwei­ ligen Ruhestand versetzt; nur der Trierer Regierungspräsident blieb noch einige Jahre.72 Dabei soll Rücksichtnahme auf die Saarabstimmung mitgespielt haben. Den Kölner Regierungspräsidenten hatte es bereits im Vormonat getroffen, nämlich am Karsamstag, dem 15. April, dem zwei Feiertage ohne Zeitungen folgten. Wie sich aus seiner Personalakte ergibt, erhielt Elfgen ein Staatstelegramm, das ihn mit sofortiger Wirkung beurlaubte und ihn ersuchte, die 69 70 71 72

Broszat, Staat Hitlers, S. 106; Bracher, Machtergreifung, S. 93. Romeyk, Leitende Beamte, S. 81, S. 454 f, S. 618; Schellenberger, Katholische Jugend, S. 56. Hüttenberger, Die Gauleiter, S. 78. Vgl. Romeyk, ebd., S. 355, 769, 777, zu Trier S. 119.

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Dienstgeschäfte seinem Vertreter zu übergeben. Dies geschah, und zur Bonsen war somit faktisch Behördenleiter. Wenige Tage später, am 24. April, schloss sich Elfgens Versetzung in den einstweiligen Ruhestand an; zugleich wurde zur Bonsen zum kommissarischen Regierungspräsidenten bestellt. Am 15. Juni 1933 folgte dessen endgültige Ernennung.73 Die Berufung von preußischen Regierungspräsidenten in der ersten Phase der nationalsozia­ listischen Herrschaft lief äußerlich noch wie das bisherige Verfahren ab, also aufgrund einer Entscheidung im Staatsministerium auf Vorschlag des Innenministers. Inzwischen war das aber zur reinen Formsache geworden, da der „starke Mann“ des Staatsministeriums, Hermann Göring, in seiner Person die Funktionen des Ministerpräsidenten und des Innenministers vereinte. Etwas Neues war allerdings insofern dazu gekommen, als die Gauleiter, zunächst noch ohne rechtliche Grundlage, ein Mitspracherecht beanspruchten.74 Wie schon zur Bonsens Ernennung zum Regierungsvizepräsidenten dürfte seine Beförderung zu einem höheren Amt von Gauleiter Grohé unterstützt worden sein. Einen Nationalsozia­listen zum Regierungspräsidenten zu bestellen, entsprach schlicht der Logik der Machtsicherung und setzte die „Gleichschaltung“ auf der mittleren Verwaltungsebene fort. Andererseits hatte zur Bonsen, wie schon erwähnt, eine durchaus solide Beamtenkarriere vorzuweisen, war zuletzt sogar noch Regierungsvizepräsident geworden. Es stellt aber einen „Sonderfall in der preußischen Verwaltungsgeschichte“ dar, dass er bis auf die Anfangsmonate seine gesamte Dienstzeit bei derselben Behörde abgeleistet hatte, was auch als zeitbedingte „Irregularität“ gewertet werden konnte.75 Wirklich auffällig aber musste sein, dass in der Person zur Bonsens zwei lange als unvereinbar erscheinende Eigenschaften zusammentrafen: praktizierender Katholik und „überzeugter Nationalsozia­list“. Daraus ist „zweifellos“ geschlossen worden, das Regime habe „durch die Ernennung eines solchen Mannes […] Sympathien innerhalb der katholischen Volkskreise für den neuen Kurs [!] [zu] erwerben“ versucht.76 Dies sei umso notwendiger gewesen, als Übergriffe von HJ und SA auf katholische Jugend- und Standesorganisationen gerade im Kölner Raum große Unruhe hervorgerufen hatten. Wenn das Regime meinte, ­solche Rücksichten nehmen zu müssen, konnte dies auch ein Beleg dafür sein, dass es seine Macht eben doch noch nicht als hinreichend konsolidiert ansah. Nach dem Krieg, in seinem schon erwähnten Schriftsatz an die Spruchkammer, wurde die Bestellung zum Regierungspräsidenten mit dem Ziel einer möglichst günstigen Bewertung ­folgendermaßen dargestellt. Zunächst wurden Deutungen zurückgewiesen, sie habe auf seinem „propagandistischem Eintreten für die Partei“ und „seinen engen Beziehungen zu dem Gauleiter Grohé“ beruht.77 Für das erste gibt es in der Tat keinen Beleg. Zum anderen brauchte auch gar nicht Freundschaft zu bestehen; es reichte, dass der Gauleiter die Rangerhöhung förderte. Maßgeblich, so hieß es weiter, sei neben zur Bonsens fachlicher Qualifikation, „die Tatsache [gewesen], dass […] [er] als praktizierender und der K ­ irche treu ergebener Katholik bekannt war, dessen Ernennung […] in der katholischen Bevölkerung des Rheinlandes […] Sympathien für das neue Regime erwecken sollte und musste“. 73 BAB, R 1501/206033 Personalakte Elfgen; August Klein, Festschrift Köln, S. 110. Die Bezeichnung „Wartestand“ (d. h. einstweiliger Ruhestand) für die Beurlaubung am 15. April ist falsch. 74 Vgl. Schrulle, Verwaltung in Demokratie und Diktatur, S. 48. 75 August Klein, ebd., S. 110; Romeyk, ebd., S. 103. 76 August Klein, ebd., S. 110 f, auch zum Folgenden; vgl. ferner von Hehl, Erzbistum Köln, S. 30. 77 Dieses und die folgenden wörtlichen Zitate aus dem Schriftsatz, S. 7 ff.

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Hierbei wurde Bezug genommen auf das Zeugnis des damaligen Oberpräsidenten von Lüninck: Diese Hoffnung, dass es durch positive Mitarbeit christlicher, rechtlich denkender Persönlichkeiten und sachkundiger Verwaltungsbeamter möglich sei, die NSDAP und die von ihr geführte Staats- und Reichspolitik in die Bahnen einer gerechten, sozia­len, friedliebenden und somit wahrhaft christlichen Politik zu bringen, hat Herrn zur Bonsen, wie ich […] genau weiss, veranlasst, sich der NSDAP und der Staatsverwaltung zur Verfügung zu stellen und das Amt als 78 Regierungspräsident in Köln zu übernehmen.

Diese Ausführungen sprechen für sich; nur sollte daran erinnert werden, dass zur Bonsen sich nicht der NSDAP „zur Verfügung stellte“, sondern ihr bereits am 1. Mai 1932 aus eigenem Antrieb beigetreten war. Angeblich hatte, so betonte der Schriftsatz weiter, zur Bonsen ­dieses Amt „nicht erstrebt“. Dies ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls teilte er die verbreitete, jedoch illusionäre Hoffnung vieler Konservativer, das Regime mitwirkend bändigen zu können. Auf ­dieses Faktum nachträglich hinzuweisen, hat zudem auch Rechtfertigungscharakter. Aber es war bereits ein Problem, wie weit denn eine ­solche „Mitwirkung“ gehen durfte und ob sie sich überhaupt begrenzen ließ. Das Wesen des Nationalsozia­lismus war totalitär, dem widersprach eine „Mitarbeit“ mit Einschränkungen oder unter Vorbehalt. Das Dilemma wurde deutlich in einem von zur Bonsen noch als kommissarischer Regierungspräsident unterschriebenen Aufruf im Amtlichen Schulblatt für den Regierungsbezirk Köln. Darin hieß es zunächst, wichtigste Aufgabe der „Epoche des Aufbaues“ in der „nationalen Erhebung“ sei „nach der programmatischen Erklärung des Herrn Preußischen Minister­präsidenten die durchgreifende Erneuerung des deutschen Menschen“. Der Regierungspräsident schloss: Ich erwarte und fordere von allen mir unterstellten Lehrpersonen, dass sie sich mit ihrer ganzen Person vorbehaltlos hinter die Regierung der nationalen Erhebung stellen und ihre Aufgabe treu und mit deutscher Entschiedenheit erfüllen. Wer hierbei nicht mittun kann oder will, für 79 den ist kein Platz in der deutschen Schule […]. Deutsche Lehrer und Lehrerinnen, ans Werk!

Entsprechend der Arbeitsweise in einer großen Verwaltung, ist davon auszugehen, dass es sich nicht durchweg um originale Formulierungen zur Bonsens handelte, sondern ihm ein Entwurf aus der Schulabteilung vorgelegt worden war. Ob er einzelne Formulierungen geändert hat oder nicht, er machte sich mit der Unterschrift den Aufruf zu eigen und übernahm nach außen für ihn die Verantwortung. Dieser Text dürfte ein Beispiel dafür sein, wie radikale Mitarbeiter einen Behördenleiter beeinflussen können, der eigentlich „bändigen“ will.

78 Schriftsatz, S. 9. Diesen Satz von der „positiven Mitarbeit“ verwendet auch August Klein, Festschrift Köln, S. 111, fast wörtlich. 79 Amtliches Schulblatt für den Regierungsbezirk Köln, Nr. 6 vom 1. Juni 1933.

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Das unzerstörte Regierungsgebäude in der Zeughausstraße vor dem Zweiten Weltkrieg. © Rheinisches Bildarchiv, Köln 049977/ Fotograf: ohne Angabe.

2.4.2 Disziplinarverfahren gegen Oberbürgermeister Adenauer Als Regierungspräsident übernahm zur Bonsen innerhalb der Behörde und nach außen die Letztverantwortung für das inhaltlich sehr komplexe und zudem politisch brisante Dienststrafverfahren gegen den früheren Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Er hatte, wie bereits erwähnt, als Regierungsvizepräsident die Einleitungsverfügung unterschrieben, und zwar „auf Anweisung des Herrn Ministers“. Diese war deshalb erteilt worden, weil Adenauer das preußische Innenministerium um Prüfung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe gebeten hatte.80 Sein Wille zu einer disziplinarischen Selbstreinigung traf zusammen mit der Absicht der neuen Machthaber, ihm etwas anzuhängen. Aus den Wochen vor den Kommunalwahlen am 12. März 1933 ergibt sich die unmittelbare Vorgeschichte des Verfahrens.81 Im Februar hatte die Kölner NSDAP gegen Adenauer, ihren dezidierten Gegner, eine Kampagne entfacht, die bis zu Drohungen mit Gewalt ging. In der letzten Woche vor dem Wahltermin nahm sie ein geradezu wüstes Ausmaß an. Adenauer wurden 80 Zur Weisung des Ministers vgl. Adenauer im Dritten Reich, S. 97, Nr. 47. Zum eigenen Antrag Adenauers ebd., S. 150, Nr. 91. Zu dem Verfahren eingehend Morsey, Adenauer-­Festgabe, S. 468 ff. 81 Zum Folgenden: Morsey, ebd., S. 460 ff (Kampagne) und S. 464 ff (Absetzung); ferner Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 75 ff; Schwarz, Adenauer, S. 347 ff.

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alle Arten finanzieller Unregelmäßigkeit vorgeworfen. Die NSDAP erreichte aber, auch mit der DNVP zusammen, nur eine relative Mehrheit der Ratsmandate. Trotzdem bejubelte die Partei das Ergebnis als großen Sieg und machte sich sogleich daran, es machtpolitisch auszunutzen. Am Vormittag des folgenden Tages erklärte Grohé vom Balkon des Kölner Rathauses vor einer großen Menschenmenge und pomphaft aufmarschierten Parteiformationen Adenauer für „abgesetzt“. Dazu musste der Regierungspräsident die aufsichtsbehördliche Flankierung liefern. Auf Drängen des Gauleiters beurlaubte er Adenauer noch am selben Vormittag. Für sein rechtswidriges Vorgehen berief sich Elfgen auf die „eindeutige Stimmung und drohende Haltung der Bevölkerung“. Nachträglich forderte auch ein „Funkerlass“ Görings die Beurlaubung mehrerer Oberbürgermeister, an der Spitze Adenauer.82 Die von zur Bonsen unterschriebene Einleitungsverfügung mit dem Datum des 4. April 1933 erklärte Adenauer in zehn Punkten für dringend verdächtig, seine Dienstpflichten verletzt zu haben.83 Die Vorwürfe waren massiv; sie lassen sich in zwei Hauptpunkten zusammenfassen: allgemeine Misswirtschaft und Missachtung aller Anforderungen gesunder und vernünf­ tiger öffentlicher Finanzgebarung. Ziel des Verfahrens sei die Entlassung aus dem Dienst; er werde sofort vorläufig des Dienstes enthoben und die Hälfte seines Diensteinkommens werde einbehalten. Dies war eine Kombination der schärfsten bei ­diesem Verfahrensstand möglichen Maßnahmen. Bei der Schilderung des weiteren Verfahrensablaufs kommt es vor allem darauf an, inwieweit zur Bonsen ihn beeinflusst hat. Der Inhalt der Vorwürfe tritt demgegenüber zurück. Für dessen genaue Ermittlung war ohnehin der für das Dienststrafverfahren eigens bestellte „Untersuchungsführer“ verantwortlich. Die Bewertung der Untersuchungsergebnisse war dann allerdings Sache des Regierungspräsidenten, in enger Abstimmung mit dem Preußischen Innenministerium. Adenauer replizierte in zweifacher Form auf die Einleitungsverfügung. Dem Untersuchungsführer gegenüber bestritt er in einer „vorläufigen“, gleichwohl sehr umfangreichen Erwiderung vom 17. April „mit aller Entschiedenheit“, sich „irgendwie gegen § 2 der Dienststrafordnung vergangen zu haben“. Dies begründete er „aus dem Gedächtnis“ detailliert und präzise. Ebenso bestritt er am selben Tag dem Regierungspräsidenten gegenüber „ausdrücklich […] die Richtigkeit der […] erhobenen Beschuldigungen“ und stellte den Antrag, „unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse die Anordnung der Kürzung meiner Bezüge wieder aufzuheben“, da sie ihn besonders hart treffe und geeignet sei, „die wirtschaftliche Existenz meiner Familie zu zerstören“.84 Zur Bonsen lehnte dies mit Schreiben ohne Anrede vom 12. Mai 1933 lapidar mit den Worten ab, er bedauere, dem Antrag „bei der Art und dem Umfang der gegen Sie erhobenen Anschuldigungen nicht stattgeben zu können“.85 Offenbar sah er keinen Spielraum für eine andere Entscheidung. Immerhin war der Ton gegenüber dem verfemten Adenauer einigermaßen höflich. Dessen gefährdete Lebenssituation wurde allein schon durch seinen besonderen Aufenthaltsort deutlich. Adenauer hatte Ende April im Benediktinerkloster Maria Laach Zuflucht 82 Die vorangegangenen Funksprüche Elfgens und der Funkerlass Görings sind abgedruckt in: Adenauer im ­Dritten Reich, S. 81 f, Nr. 28 und 29, und S. 85, Nr. 31. 83 Ebenfalls dort abgedruckt, S. 104 ff, Nr. 56. 84 Schriftsatz und Schreiben, jeweils vom 17. April 1933, abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, Nr. 66, S. 112 ff, und Nr. 67, S. 122. 85 Adenauer im Dritten Reich, Nr. 77, S. 129.

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gesucht, dessen Abt Ildefons Herwegen ein früherer Mitschüler war.86 Nach seiner eigenen Darstellung hat der Abt den Oberpräsidenten unterrichtet, der seinerseits den Kölner Regierungspräsidenten verständigte. Darauf habe zur Bonsen ihn besucht und er habe mit ihm die „Angelegenheit Adenauer“ besprochen.87 Möglicherweise irrte Herwegen. Nach dem Krieg hat von Lüninck eine Unterrichtung nachdrücklich bestritten, ob zu Recht, muss offenbleiben. Es war davon auszugehen, dass die Untersuchung der zahlreichen und komplexen Vorwürfe geraume Zeit in Anspruch nehmen würde. Zwei Monate später drohte aber unabhängig davon eine weitere Gefahr. Es sei beabsichtigt, teilte die Stadt Köln Adenauer mit, seine Entlassung aus ihrem Dienst nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 zu beantragen.88 Das Gesetz, ein weiteres Element der Machtkonsolidierung des Regimes, stellte in § 1 Abs. 1 den Grundsatz auf: Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

Das war ein außerordentlicher Eingriff in das bestehende Beamtenrecht. Die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums nach der Weimarer Verfassung wurde praktisch aufgehoben und Gruppen von Beamten offen diskriminiert.89 Für die Zielsetzung der Stadt Köln war § 4 maßgeblich. Nach dessen Satz 1 konnten Beamte aus dem Dienst entlassen werden, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten.“ Satz 2 bestimmte, dass sie nach Ablauf einer Zwischenfrist noch drei Viertel des Ruhegeldes erhalten sollten. Diese Vorschrift wurde auch tatsächlich die Grundlage für die Entscheidung. Das Preußische Innenministerium folgte dem Antrag der Stadt Köln, ohne Adenauer überhaupt angehört zu haben. Es sprach am 17. Juli die Entlassung aus mit einem Erlass von vier Zeilen, der auf jede weitere Begründung verzichtete. Staatssekretär Grauert selbst hatte eine Bitte ­Adenauers um eine „Gelegenheit zur mündlichen Äußerung“ vor der Entscheidung abgelehnt.90 Zur Bonsen musste den Erlass an Adenauer in die Abtei Maria Laach weiterleiten; er tat dies mit einem Begleitschreiben „ergebenst“ und setzte hinzu: „Im Auftrage des Herrn ­Ministers habe ich Ihnen zu eröffnen, daß Ihnen das Betreten der Dienstgebäude Ihrer bisherigen Anstellungsbehörde und der Aufsichtsbehörden zwecks mündlicher Vorstellung aus Anlaß Ihrer Entlassung verboten wird.“91 Die Formulierungen verraten eine gewisse Distanzierung von den überaus schroffen ministeriellen Entscheidungen. Mit der Dienstentlassung Adenauers war das ursprüngliche Ziel des Dienststrafverfahrens auf andere Weise erreicht. Das Verfahren konnte aber mit dem Ziel einer Aberkennung des Ruhegeldes fortgeführt werden. So geschah es, nach einem Schriftwechsel z­ wischen den

86 Briefwechsel abgedruckt ebd., S. 111, Nr. 65 und S. 123, Nr. 69. 87 Herwegen, Erinnerungen, S. 141. Zum Folgenden Albert, Maria Laach und der Nationalsozia­lismus, S. 93 f. 88 Vgl. Adenauer im Dritten Reich, S. 142, Nr. 90; Morsey, Adenauer-­Festgabe, S. 470; Wortlaut des Gesetzes RGBl. I, S. 175. 89 Schulz, Maßnahmenstaat, S. 490 f. So richtete sich § 3 gegen Beamte „nicht arischer Abstammung“. 90 Adenauer im Dritten Reich, S. 155, Nr. 99; Erlass abgedruckt ebd., Nr. 100, S. 155. 91 Begleitverfügung des Regierungspräsidenten vom 24. Juli 1933 ebd., Nr. 103, S. 157.

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beteiligten Stellen, Untersuchungsführer, Regierungspräsident, Ministerium und dem Vertreter des „Angeschuldigten“. Adenauer hatte im Juli 1933 Rechtsanwalt Prof. Grimm mit seiner Verteidigung beauftragt.92 Auf Anweisung des Ministers äußerte sich zur Bonsen am 13. September 1933 gegenüber dem zuständigen Abteilungsleiter umfassend zum weiteren Verfahren.93 Der ebenso sorgfältige wie vorsichtige Gang der Argumentation ist auffällig. Zur Bonsen bezog sich ausdrücklich auf den Bericht, den der Untersuchungsführer unterdessen vorgelegt hatte, und betonte sein Einvernehmen mit dem „Beamten der Staatsanwaltschaft“ im Dienststrafverfahren. In der Sache sprach er sich für eine Reduzierung der ursprünglich zehn Anschuldigungspunkte auf nur noch drei aus; das Verfahren solle nicht mit solchen Anklagepunkten belastet werden, die „zu einem schuldig voraussichtlich nicht führen werden. Dem entsprach auch im wesentlichen die Stellungnahme des Gauleiters, die ich erbeten habe und in Abschrift beifüge.“ Auch in der weiter gehenden Frage, ob das Verfahren überhaupt fortgeführt werden solle, sicherte zur Bonsen sich politisch ab. Für eine Einstellung des gesamten Verfahrens kann ich mich aus allgemein-­politischen Gründen in Übereinstimmung mit dem Gauleiter nicht aussprechen. Bei einer Einstellung würde in der Öffentlichkeit zweifellos der Eindruck entstehen, daß Adenauer nichts vorzuwerfen sei. Die Einstellung würde nicht unbekannt bleiben, da das Verfahren in der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wird. Auch würde Adenauer zweifellos selbst die Einstellung zu seinen Gunsten in der 94 Öffentlichkeit auszuwerten versuchen.

In dieser politisch heiklen Angelegenheit tat der Regierungspräsident gut daran, sich eng an den Gauleiter anzulehnen. Dessen Rückhalt konnte das Gewicht seiner Argumentation nur verstärken. Ohne Unterstützung Grohés auch nur vorsichtig auf Einstellung zu plädieren, hätte diese Möglichkeit früh „verbrennen“ können. Dieser doch klug abgefasste Bericht ließ letztlich alles offen. Am Schluss des Berichts wurde auch deutlich, wie empfindlich das NS-Regime besonders in seiner Frühphase offenbar in Prestigefragen reagierte. In seiner Antwort vom 6. Oktober 1933 folgte das Innenministerium dem Regierungspräsidenten nur in Teilen.95 Sie begann mit dem Satz: „Ich stimme Ihren Berichtsausführungen darin zu, dass nunmehr die Anklage gegen Oberbürgermeister a. D. Adenauer durch Zustellung der Anschuldigungsschrift zu erheben ist […].“ Das war irreführend, der Bericht hatte dies gar nicht explizit zum Ausdruck gebracht. Differenzen gab es auch darüber, w ­ elche Anschuldigungspunkte beibehalten werden sollten. Immerhin räumte das Ministerium ein: […] bin ich mit Ihnen der Auffassung, daß in erster Linie s­ olche Punkte in Betracht kommen, die verhältnismäßig leicht erweisbar, sachlich von erheblicher Bedeutung und so geartet sind, dass sie eine Verschleppung […] durch Beweisanträge der Verteidigung nicht leicht ermöglichen.

Schließlich betonte es noch einmal: „Für größte Beschleunigung bei der Fortführung des Verfahrens ist Sorge zu tragen.“ Beigefügt war „zur gefl. [gefälligen] Verfügung“ eine Eingabe von 92 93 94 95

Morsey, ebd., S. 471; zu Grimm Adenauer im Dritten Reich, S. 538. Bericht, abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, Nr. 121, S. 175 f. Schreiben Grohés vom 9. September 1933 abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, Nr. 119, S. 173. Abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, S. 180 f, Nr. 127.

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Adenauers Rechtsvertreter, in der dieser Adenauers Anhörung beantragte und Akteneinsicht erbat. Dies war also in die Hand zur Bonsens gelegt. Insgesamt ließ dieser Erlass eine „härtere Gangart“ deutlich werden. Dafür durfte der politisch motivierte Wunsch des Staatssekretärs ­Grauert ausschlaggebend gewesen sein, dass es zu einer „Verurteilung“ Adenauers kommen solle.96 Der Regierungspräsident reagierte seinerseits „elastisch“. In einem Bericht vom 31. Oktober 1933 teilte er dem Innenministerium mit, dass er insgesamt sechs Punkte zum Gegenstand der Anklage zu machen gedenke.97 Damit schlug er innerhalb des ihm eingeräumten Rahmens einen Mittelweg ein. Zur Frage einer Anhörung Adenauers und Akteneinsicht seines Vertreters sollte ebenfalls ein Mittelweg beschritten werden. Eine Vernehmung sei „entbehrlich“, da Adenauer sich zu Beginn der Untersuchung habe äußern können, allerdings nur allgemein. Umso notwendiger wird daher nunmehr die Zugänglichmachung der Akten an den Vertreter [sc. Prof. Grimm] sein […]. Ich habe daher die Akten dem Polizeipräsidenten in Berlin zwecks Aushändigung an den dort sich für längere Zeit aufhaltenden Vertreter des Angeschuldigten […] übersandt. Das Verfahren wird daher bis dahin und dem Eingang der Gegenäußerung des Ange98 schuldigten (etwa Anfang Dezember) ruhen.

Damit war erst einmal Zeit gewonnen, wohl als Nebeneffekt auch gewollt. Möglicherweise hatte das Ministerium diesen Eindruck auch. In seiner Antwort vom 15. November 1933 verwies es einleitend auf seine grundsätzlichen Ausführungen im Erlass vom 6. Oktober.99 Sodann hieß es ein wenig überraschend: […] muß die weitere Behandlung der Angelegenheit […] Ihnen, Herr Regierungspräsident, überlassen bleiben. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Prüfung, ob die […] Verfahrensvorschriften voll gewahrt wurden oder noch ergänzende Maßnahmen erforderlich erscheinen.

Das klang ein wenig widerwillig, und der sogleich folgende Hinweis auf das Beschleunigungsgebot verriet Ungeduld. Abschließend nannte der Erlass es bedenklich, die Ausfertigung der Anschuldigungsschrift bis zum Eingang einer Verteidigungsschrift des Dr. Adenauer zurückzustellen. Die BDStO [Beamtendienststrafordnung] verpflichtet hierzu nicht. Ich vermag auch eine sachliche Notwendigkeit nicht anzuerkennen. Falls daher nicht sehr gewichtige Gründe dafür sprechen, […] ersuche ich, davon abzusehen.

Das war eine Weisung, nicht länger mit der Anschuldigungsschrift zu warten, als Adenauers Rechtsvertreter in die Akten Einsicht genommen hatte. Damit wurde der dem Regierungspräsidenten eingangs gewährte Freiraum in einem wichtigen Punkt wieder beschränkt. Anders als das Ministerium meinte, war es aber sinnvoll, abzuwarten, was Adenauers Vertreter zur Verteidigung vorbrachte, um es gegebenenfalls sogleich in der Anschuldigungsschrift mit zu verwerten. Offenbar kam es dem Ministerium in erster Linie darauf an, dass diese Schrift überhaupt einmal zugestellt würde. 96 97 98 99

Dazu Morsey, ebd., S. 474. Abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, S. 184 f, Nr.133. Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten an Prof. Grimm, abgedruckt ebd., Nr. 134. Abgedruckt in Adenauer im Dritten Reich, S. 187, Nr. 138.

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Aber erstaunlicherweise kam der Regierungspräsident der Weisung nicht nach. Möglicherweise sah er sein Verhalten durch den einleitenden Teil des Erlasses als gedeckt an. Nur kurze Zeit später, am 30. November 1933, reichte Adenauers Rechtsvertreter Prof. Grimm eine dreiunddreißigseitige Verteidigungsschrift ein, die in Verbindung mit den beigefügten Unterlagen einen großen und nachhaltigen Effekt gehabt haben muss.100 Zur Bonsen jedenfalls fertigte keine Anschuldigungsschrift aus, sondern berichtete dem Ministerium am 19. Dezember erneut, und genau einen Monat später, am 19. Januar 1934, ein weiteres und letztes Mal.101 Die Zusammenfassung des ersten Berichts begann mit der betonten Feststellung, dass der Fall Adenauer […] im Laufe der Zeit, besonders nach der erfolgten Dienstentlassung, in der Öffentlichkeit wesentlich an Interesse verloren hat; das wird noch mehr der Fall sein, wenn bekannt wird, daß Punkt 6 [Finanzpolitik der Stadt Köln] aus der Anklage ausscheidet. Sollte nunmehr [!] eine Einstellung erwogen werden, so könnte das nur unter zuverlässigen Garantien geschehen, […] daß sie [Adenauer und sein Rechtsvertreter] sich jeder Auswertung zu ihren Gunsten enthalten.

Es folgten einige Gegenargumente, wie sie zur Bonsen schon früher vorgebracht hatte. Der Schlusssatz wandte aber die Argumentationsrichtung wieder um. „Eine Einstellung im jetzigen Stande des Verfahrens ließe sich der Öffentlichkeit gegenüber damit begründen, daß, nachdem die Dienstentlassung erfolgt ist, der Staat kein weiteres Interesse an der Verfolgung des Falles Adenauer mehr hat.“ Ohne sich explizit für eine Einstellung des Verfahrens auszusprechen, ist aber, insgesamt gesehen, in zur Bonsens abwägenden Ausführungen eine Tendenz dorthin wohl zu spüren. Sie noch klarer hervortreten zu lassen, mochte er für verfrüht gehalten haben. Dabei ist auffällig, dass er den Gauleiter und dessen aktuelle Auffassung nicht erwähnt, und gerade das könnte seine Vorsicht erklären. Die Meinung des örtlichen höchsten Vertreters der Partei stellte zur Bonsen an den Anfang seines letzten Berichts in der Dienststrafsache Adenauer. Er habe Gelegenheit genommen, die abschließende Stellungnahme des hiesigen [!] Gauleiters einzuholen. Diese geht dahin, daß bei dem Gauleiter ein politisches Interesse an der Weiterverfolgung des Dienststrafverfahrens nicht mehr besteht, nachdem Dr. Adenauer […] auf Grund des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen worden ist.

Nach dieser etwas umständlich formulierten politischen „Eingangsfanfare“ schien sich der Regierungspräsident im nächsten Satz den Rechtsfragen zuzuwenden. „Somit hängt die Entscheidung über die Weiterverfolgung des Dienststrafverfahrens davon ab, ob zwingende Gründe der Verwaltung eine Durchführung des Verfahrens notwendig machen.“ Er kehrt dann aber sogleich mit warnendem Unterton zu außerrechtlichen Aspekten zurück:

100 Möglicherweise noch dadurch gesteigert, dass Grimm seit den „Wahlen“ vom 12. November 1933 Reichstagsabgeordneter der NSDAP war, vgl. Morsey, ebd., S. 473 101 Vom ersten ist der Schlussteil abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, S. 192 f, Nr. 148, vom zweiten der vollständige Text ebd., S. 197 f, Nr. 156.

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Daneben wird nicht übersehen werden können, daß, falls es zur Durchführung und damit zu einer öffentlichen Verhandlung kommt, das öffentliche politische Interesse in einer nach Ansicht der Gauleitung unnötigen Weise erregt wird, wie das bei einer früher so prominenten Persönlichkeit unausbleiblich ist. Die Erwartungen der Öffentlichkeit werden weitaus höher gespannt sein und auf Enthüllungen rechnen, die nach dem Ergebnis der Voruntersuchung und der Aktenlage nicht entfernt befriedigt werden können […]. Auf diese Nebenwirkungen, die zwar nur [!] die politische Seite des Falles betreffen, glaube ich erneut hinweisen zu müssen, bevor die endgültige Entscheidung über die Durchführung des Verfahrens fällt. Sachlich hängt diese ab von dem Ergebnis der Voruntersuchung, wie sie sich aus den vorliegenden Akten ergibt […].

Zur Bonsen verwies dann auf seine früheren Berichte und ging „zusammenfassend“ nochmals auf einzelne Punkte der Einleitungsverfügung ein, um darzutun, dass sie für eine Aberkennung des Ruhegehaltes nicht tragfähig genug s­ eien. Zuletzt machte er seine Position dann – man könnte hinzufügen: endlich – ganz deutlich: „Abschließend und nach Abwägung aller Gründe möchte ich mich für eine Einstellung des Verfahrens aussprechen.“ Auch dieser Bericht war geschickt angelegt. Er stellt, sicherlich bewusst, an den Anfang die gewandelte Auffassung des Gauleiters, der nunmehr kein Verfahren mehr wollte. Dies musste das Ministerium beeindrucken und sollte es augenscheinlich sogleich in die Richtung einer Einstellung des Verfahrens lenken. In den weiteren Ausführungen noch einmal rechtliche Erwägungen anzustellen oder darauf hinzuweisen, balancierte das politische Moment aus und besagte, die Behörde habe es sich nicht zu einfach gemacht und sich nicht schlicht an den Gauleiter „angehängt“. Das Votum für eine Einstellung war demnach doppelt begründet. Nunmehr war das Preußische Innenministerium am Zuge. In einer Vorlage für Staatssekretär Grauert vom 5. Februar 1934 verwies der zuständige Abteilungsleiter Surén einleitend darauf, dass sich sämtliche örtliche Stellen gegen die Durchführung des Verfahrens aussprächen.102 Insbesondere der Gauleiter, Staatsrat Grohé, sei daran nicht mehr interessiert. Diese örtlichen Stimmen erhielten „noch ein besonderes Gewicht durch die Beurteilung, die das Untersuchungsergebnis und damit der voraussichtliche Ausgang des Verfahrens erfahren müssen“. Nun bezog er sich auf die erwähnte Verteidigungsschrift von Prof. Grimm. ­Dieser habe „entlastende Unterlagen in einem Umfange und von solcher Geschlossenheit und zugleich sachlichen Bedeutung vorgelegt, dass […] mit einer Entziehung der Pension […] nicht mehr gerechnet werden kann.“ Surén schloss mit der bemerkenswerten Formulierung: „Ich möchte mich danach, so unerwünscht die Einstellung an sich ist, doch hierfür aussprechen und darf um Entscheidung gehorsamst bitten. Entscheidung durch den Herrn Ministerpräsidenten wird erforderlich sein.“ Jetzt kam es also auf den Ministerpräsidenten Göring an, der ja (noch) zugleich Innenminister war. In welcher Funktion er angesprochen wurde, mag dahinstehen. Zur Bonsen erlebte als Kölner Regierungspräsident nicht mehr das Ende des Verfahrens. Er wurde im April 1934 an eine andere Stelle versetzt. Mit Erlass vom 12. Mai teilte das Preußische Innenministerium der Kölner Behörde mit, es trete deren „abschließenden Beurteilung“ bei und „ersuche“, einen Einstellungsbeschluss der Dienststrafkammer herbeizuführen. Dieser erfolgte am 4. Juni 1934.103

102 Abgedruckt in Adenauer im Dritten Reich, S. 200 ff, Nr. 160. 103 Abgedruckt ebd., S. 210, Nr. 175; Einstellungsbeschluss ebd., S. 214, Nr. 180.

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Zur Bonsens Rolle beim Dienststrafverfahren gegen Adenauer lässt sich wie folgt beschreiben: Nach formal korrekter Einleitung noch als Regierungsvizepräsident argumentierte er in seinen Berichten an das Ministerium durchweg vorsichtig abwägend. Offenbar wollte er das Verfahren gewissenhaft durchführen; vordergründig war er insoweit auch Diener des Systems. Danach erst konnte sich die Frage stellen, ob und inwieweit er das Verfahren zugunsten Adenauers beeinflussen könnte. Sein Spielraum dafür war nicht groß. Er hatte zunächst einmal mit dem „Vertreter der Staatsanwaltschaft“ zu rechnen, der zugleich sein Vertreter im Amt war, Regierungsvizepräsident Dietz von Bayer. Dieser musste schon von seiner Funktion her die Dinge streng sehen. In der übergeordneten Instanz wollte der Staatssekretär des Preußischen Innenministeriums eine „Bestrafung“ Adenauers. Vor allem war er politisch von Gauleiter Josef Grohé abhängig, der zudem Mitglied des Preußischen Staatsrats war. Solange dieser das Verfahren wollte, musste zur Bonsen dies auch. Sobald der Gauleiter das Interesse daran verlor, kam zur Bonsen „aus der Deckung“ und sprach sich für eine Einstellung aus. Dieses Verhalten könnte man opportunistisch nennen, es entsprach allerdings den Machtverhältnissen. Im Fortschreiten des Verfahrens entsteht der Eindruck, der Regierungspräsident habe Adenauer aus ihm „heraushelfen“ wollen und es geschickt dorthin gesteuert. In der Tat hatte bereits im September 1933 Frau Adenauer ihrem Mann in einem Brief mit Nennung von Gewährsleuten mitgeteilt, Dietz von Bayer, der Staatsanwalt, sei ihm nicht gut gesonnen, zur Bonsen aber wohl.104 Überraschend ist dies nicht, weil zur Bonsen kein „scharfer Nazi“ war und zudem wie Adenauer dem katholischen gehobenen Bürgertum entstammte. Es bestand auch private Bekanntschaft.105 Grundsätzlich ist noch zu bemerken: Wenn das Verfahren alles in allem in rechtsstaatlichen Formen ablief und schließlich eingestellt wurde, ist dies dem nationalsozia­listischen Regime nicht im Mindesten positiv anzurechnen. Das Regime war noch in der Frühphase, seine Macht noch nicht genug gefestigt. An den Vorwürfen war offenbar „nichts dran“, sie waren politisch motiviert und hemmungslos aufgebauscht. Unabhängig von der überwiegenden Beachtung rechtsstaatlicher Formen in d ­ iesem Verfahren hatte das Deutsche Reich schon mit Beginn der Verfolgung politischer Gegner und Außerkraftsetzung der meisten Grundrechte im Februar 1933 aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein. In einem Rechtsstaat wäre es gar nicht zu ­diesem Dienststrafverfahren gekommen.

2.4.3 Versuche des „Brückenschlags z­ wischen katholischer ­K irche und NS-Staat“ und die „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“ Eine große Frage war, wie sich zur Bonsens religiöser und politischer Standpunkt miteinander vertrügen. Dem gab er eine positive Wendung und „suchte Nationalsozia­lismus und katholische Überzeugung zu versöhnen“.106 Er sah sogar „seine Hauptaufgabe als Regierungspräsident darin zu beweisen, daß man beides miteinander vereinbaren könne.“107 Die eigentliche Aufgabe eines Regierungspräsidenten besteht darin, eine Bündelungsbehörde der staatlichen 104 Abgedruckt in Adenauer im Dritten Reich, S. 179 f (180), Nr. 125. 105 In einem anderen Brief Frau Adenauers an ihren Mann vom 11. Mai 1933 ist ein Kontakt mit Frau zur Bonsen erwähnt, abgedruckt in Adenauer im Dritten Reich S. 128 f (129), Nr. 76. 106 Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 125. 107 August Klein, Festschrift Köln, S. 111.

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Mittelinstanz kompetent zu leiten. Darüber hinaus verfolgte zur Bonsen also, so sein besonderes Amtsverständnis, ein übergeordnetes und zugleich sehr persönliches Ziel. Seine nationalsozia­listische Überzeugung stand seit Ende März 1933 nicht mehr unter dem Verdikt des katholischen Episkopats. Es kam zu einer Annäherung von Seiten der Bischöfe.108 Das Faktum von Hitlers Kanzlerschaft, die Reichstagswahl vom 5. März mit ihrem tiefen Einbruch in katholische Wählerschichten und nicht zuletzt die Zusicherungen des Kanzlers in der Reichstagssitzung zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes ließen die Bischöfe an eine Modifikation ihrer bisherigen Haltung denken. Hitler hatte seinerseits daran ein vitales Interesse. Es begann nun ein komplizierter Meinungsbildungsprozess, angestoßen durch den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, den Breslauer Erzbischof Kardinal Bertram. Mitte März hatte er Vizekanzler von Papen auf dessen Anfrage noch geantwortet: „Wer revidieren muss, ist der Führer der Nationalsozia­listen selbst.“ Doch bereits am Tag vor der Reichstagssitzung legte er den Mitgliedern der Konferenz und dem Münchner Erzbischof, Kardinal Faulhaber, den Entwurf einer „befriedenden“ öffentlichen Erklärung vor. Der stieß jedoch auf einige Bedenken. So fürchtete ein Bischof, der Text könne als Kapitulation der ­Kirche vor dem Nationalsozia­lismus verstanden werden, ein anderer erkannte dessen eigentliche Schwäche scharfsichtig darin, die Regierungserklärung (Hitlers) werde „wie eine Parteierklärung aufgefasst, während doch eigentlich sich die Partei noch nicht geäußert hat.“ Kardinal Bertram aber teilte bereits drei Tage später den anderen Bischöfen mit, „es habe sich eine erfreuliche Übereinstimmung ergeben“ und fügte einen veränderten Text bei. Diesen veröffentlichte er am nächsten Tag, dem 28. März, ohne weitere Diskussion und ohne von allen Diözesen Rückmeldungen erhalten zu haben. Die Kernaussage dieser „Kundgebung der deutschen Bischöfe über die Haltung zum Nationalsozia­lismus“ lautete, nach der Regierungserklärung des Kanzlers vom 23. März glaubten die Bischöfe, das „Vertrauen hegen zu können“, dass die bisherigen „allgemeinen Verbote und Warnungen“ vor dem Nationalsozia­lismus „nicht mehr als notwendig betrachtet zu werden brauchen“, aber ohne die frühere „Verurteilung bestimmter religiös-­sittlicher Irrtümer aufzuheben“.109 Hier wurden also die bisherigen bischöflichen Erklärungen zur Unvereinbarkeit von Katholizismus und Nationalsozia­lismus zurückgenommen. Der Hinweis, frühere „Verurteilungen religiös-­sittlicher Irrtümer“ blieben bestehen, änderte daran nichts, verlieh aber der „Kundgebung“ etwas Widersprüchliches.110 Jedenfalls musste sie eine beträchtliche Außenwirkung haben. Zudem hatten die Bischöfe, so auch die kritische Sicht des Kardinalstaatssekretärs, die „Kundgebung“ einseitig und ohne klare Zusagen veröffentlicht. In der Tat: Hier „war das Tor aufgesprengt, durch das auch kirchentreue Zentrums- und BVP -Wähler ins Lager der Nationalsozia­listen ziehen konnten“.111 Wer, wie zur Bonsen, sich trotz bischöflicher Warnungen oder gar Verbote der NSDAP angeschlossen hatte, durfte sich im Gewissen erleichtert fühlen, und sich auch im katholischen Milieu als rehabilitiert ansehen. Kurze Zeit später begann auf einer höheren Ebene der Versuch einer grundlegenden Verständigung z­ wischen der nationalsozia­listisch geführten Reichsregierung und der k­ atholischen K ­ irche. Er gipfelte Ende Juli 1933 im Abschluss eines Konkordats, also eines völkerrecht­lichen Vertrags ­zwischen Heiligem Stuhl und Deutschem Reich. Das Reichskonkordat und die Divergenzen 108 Zum Folgenden: Hürten, Deutsche Katholiken 1918 – 1945, S. 188 ff, von dort auch die Zitate; ferner Wolf, Papst und Teufel, S. 191 ff, auch zur Sicht der römischen Kurie. 109 Text abgedruckt bei Stasiewski, Akten, S. 30 ff. 110 Wolf, ebd., S. 192 f, auch zum Folgenden. 111 Hürten, ebd., S. 190.

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z­ wischen den Vertragspartnern um dessen Umsetzung und Einhaltung sollten für zur B ­ onsens, aber auch seiner Nachfolger Amtsverständnis und Amtsführung von großem Belang und dauerhafter Auswirkung sein. Zum besseren Verständnis der Entwicklung des Verhältnisses z­ wischen Staat, Partei, und katholischer K ­ irche ist es erforderlich, Zustandekommen und Inhalt des Reichskonkordats kurz darzustellen. Der Abschluss eines solchen Vertrages war ein länger gehegter Wunsch der ­Kirche, der aber in der Weimarer Zeit unerfüllt blieb, nicht zuletzt, weil eine Mehrheit im Reichstag nicht zu erwarten war. Nur mehrere Länderkonkordate wurden abgeschlossen, so auch das in Kapitel 1 erwähnte mit Preußen. Auf großes Interesse musste es daher stoßen, als Vizekanzler von Papen Anfang April bei einem Rombesuch Kardinalstaatssekretär Pacelli Verhandlungen über ein Konkordat ­zwischen dem Heiligen Stuhl und der Reichsregierung anbot.112 Bei den rasch in Gang kommenden Verhandlungen waren beide Seiten zu bemerkenswerten Konzessionen bereit, die Reichsregierung allerdings nur vorgeblich, wie sich später zeigen würde. Sie wollte nicht nur Religionsfreiheit und Freiheit der Religionsausübung vertraglich zusichern, sondern auch den Schutz der Bekenntnisschule und das Fortbestehen der katholischen Verbände und Vereine. Der Vatikan war zu einer „Entpolitisierungsklausel“ für den Klerus bereit, die Geistlichen und Ordensleuten das Engagement in politischen Parteien verbot. Das betraf elementar Zentrum und BVP, deren Führungspersonal zu einem erheblichen Teil aus Geistlichen bestand. Eine ­solche Klausel bedeutete letztlich ein „Fallenlassen“ dieser Parteien durch den Vatikan und damit ein Ende des politischen Katholizismus in Deutschland. Die politische Entwicklung im Reich ließ d ­ ieses Ende aber schon eher eintreten. Noch während der Vertragsverhandlungen lösten sich unter dem Druck der inneren Entwicklung im Reich, wie auch andere Parteien, am 4. Juli die BVP, am folgenden Tag das Zentrum selbst auf. Die „Entpolitisierungsklausel“, die als Verhandlungstrumpf dienen sollte, war „das Papier nicht mehr wert […], auf dem sie stand“. Eher unwahrscheinlich ist, dass der Vatikan auf die Selbstauflösung hingewirkt habe; damit hätte er seine eigene Verhandlungsposition geschwächt.113 Diese Entwicklung zwang den Kardinalstaatssekretär wiederum zu einem beschleunigten Vertragsabschluss. Das hatte die fatale Folge, dass ein strittiger Punkt offenblieb, wie sich bei Art. 31, dem „Verbandsartikel“ zeigte. Während Abs. 1 alle katholischen Organisationen und Verbände schützte, „die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und karitativen Zwecken dienen und als ­solche der kirchlichen Behörde unterstellt sind“, sollten nach Abs. 2 katholische Organisationen, die außer den genannten „auch anderen, darunter auch sozia­len oder berufständischen Aufgaben dienen“, nur Schutz genießen, „sofern sie Gewähr dafür bieten, ihre Tätigkeit außerhalb jeder politischen Partei zu entfalten“. Diese Einschränkung war überflüssig; es existierten ja keine (katholischen) Parteien mehr. Die eigentliche Schwachstelle des Art. 31 enthielt Abs. 3: „Die Feststellung der Organisationen und Verbände, die unter die Bestimmungen d ­ ieses Artikels fallen, bleibt vereinbarlicher Abmachung ­zwischen der Reichsregierung und dem deutschen Episkopat vorbehalten.“114 Der Kurie war es also nicht gelungen, als Vertragsbestandteil eine verbindliche Liste dieser Organisationen durchzusetzen. Eine s­ olche Liste kam aber nie zustande. Der „unvollständige“ Art. 31 wurde eine Quelle ständiger Misshelligkeiten und Auseinandersetzungen ­zwischen Staat und K ­ irche. Dies musste sich auch auf den Verwaltungsvollzug auswirken. 112 Das Folgende stützt sich vor allem auf Wolf, ebd., S. 196 ff. Von S. 199 auch das wörtliche Zitat. 113 So Wolf, ebd., S. 199; anders Bracher, Machtergreifung, S. 203 f. 114 Text des Konkordats abgedruckt in RGBl. 1933, Kapitel 2, S. 679.

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Bereits während der Vertragsverhandlungen hatte es ein „Wetterleuchten“ gegeben. Am 1. Juli schloss in Preußen das Geheime Staatspolizeiamt die Geschäftsstellen mehrerer katholischer Verbände und stellte deren Vermögen sicher.115 Darunter waren der Friedensbund deutscher Katholiken, der Volksverein für das katholische Deutschland und der Katholische Jungmännerverband. Zur Begründung hieß es, die genannten „konfessionellen Hilfsverbände des Zentrums“ hätten sich staatsfeindlich betätigt; nicht berührt von den Maßnahmen blieben die „rein kirchlichen Vereine, die sich von einer parteipolitischen Einmischung fernhielten.“ Es handelte sich hier aber nicht um eine auf Preußen beschränkte, vielmehr um eine reichsweite Aktion, höchstwahrscheinlich von allerhöchster Stelle angeordnet und nur deshalb dezentral durchgeführt, weil die Polizei noch Sache der formal weiterbestehenden Länder war. Nur scheinbar bestand ein Widerspruch ­zwischen ­diesem Vorgehen und dem Verhandlungsstand in Rom, bei dem es gerade um den Schutz der katholischen Verbände ging. Offenbar sollte doch Druck auf den Verhandlungspartner aufgebaut werden. Zugleich wurde deutlich, wie gefährdet die Verbände waren und wie rigoros der nationalsozia­listische Staat vorzugehen in der Lage war. Ob zur Bonsen dienstlich Kenntnis von der Verbotsaktion gehabt hatte, ist nicht sicher. Falls ja, wurde er von Gewissensbedenken bald jedoch wieder befreit. Am 8. Juli 1933, dem Tag, an dem der Kardinalstaatssekretär und Vizekanzler von Papen den Vertragstext paraphierten, entsprach Hitler vatikanischen Forderungen und hob selbst die meisten der Maßnahmen auf. Dies geschah mit der bemerkenswerten Begründung: „[…]durch den Abschluss des Konkordates […] erscheint mir genügende Gewähr dafür gegeben, daß sich die Reichsangehörigen des römisch-­katholischen Bekenntnisses von jetzt ab rückhaltlos in den Dienst des neuen nationalsozia­listischen Staates stellen werden.“116 Am 20. Juli 1933 wurde das Reichskonkordat im Vatikan feierlich unterzeichnet. Noch bevor es ratifiziert wurde, gab es ein weiteres „Wetterleuchten“. Am 29. Juli untersagte der „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach eine Doppelmitgliedschaft in Hitlerjugend (HJ) und katholischer Jugend.117 Damit machte er den Monopolanspruch der NSDAP, und da diese inzwischen die einzig zugelassene Partei war, auch des Staates deutlich und weckte vorab schon Zweifel an dessen Vertragstreue. Die kirchliche Seite aber zog daraus eher den Schluss, es müsse möglichst bald ein verbindlicher vertraglicher Zustand bestehen, also das Konkordat in Kraft treten.118 Dies geschah erst mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 10. September 1933. Nun begann die nachkonkordatäre Phase mit ihren nicht e­ ndenden Auseinandersetzungen. Das Reichskonkordat verschaffte der NS-Regierung „[…] den ersten völkerrechtlich relevanten Vertrag und einen nicht unbeträchtlichen außenpolitischen Erfolg“.119 Hitler sah ihn als seinen persönlichen an, der seine Erwartungen weit übertraf. Zwar verfügte die katholische ­Kirche hinfort über eine Rechtsgrundlage, auf die sie sich immer wieder berufen konnte, andererseits war sie ihrerseits gebunden, musste sich gegen den Anschein wehren, den Nationalsozia­lismus „anerkannt“ zu haben; auch konnten missliebige kirchliche Äußerungen 115 Volk, Reichskonkordat, S. 136 ff, auch zum Folgenden. Zitate aus: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Bd. I, 30/33, S. 100. 116 Text in: Staatliche Akten über die Reichskonkordatsverhandlungen, S. 219 f; dazu auch Volk, ebd., S. 147 f. 117 Text des Verbots in: Dokumente zur Kirchenpolitik, ebd., S. 122; dazu auch von Hehl, Erzbistum Köln S. 47 f. 118 Volk, ebd., S. 103; vgl. auch Hürten, Deutsche Katholiken, S. 243. 119 Wolf, ebd., S. 200; zum Folgenden vgl. die Zitate bei Scholder, ebd., S. 512.

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und Klagen staatlicherseits als konkordatswidrig missdeutet werden.120 Ob das Reichskonkordat seinen Preis für die ­Kirche wert war, muss hier offenbleiben. Die Wirkung des Konkordatsabschlusses auf die „aktiven“ oder „bewussten“ Katholiken war unterschiedlich, je nach ihrer Einstellung zum Nationalsozia­lismus und dem von ihm beherrschten Staat. Es lassen sich drei Gruppen unterscheiden. Zunächst die nicht sehr große, die dem Nationalsozia­lismus und dessen Staat ablehnend gegenüberstand. Sie fühlte sich von der ­Kirche alleingelassen, und einer katholischen Opposition entstanden durch das Konkordat Hemmnisse.121 Die größte Gruppe dürfte eine vorsichtig abwartende oder unschlüssige Einstellung gehabt haben, zum Teil auch skeptisch. Für sie gilt, dass das Konkordat nach der „Kund­ gebung“ der Bischöfe vom 28. März „[…] die Schleusen für eine Mitarbeit deutscher Katholiken im nationalsozia­listischen Staat weiter geöffnet hat“. Schließlich gab es die Gruppe derer, die sich persönlich um einen „Brückenschlag“ ­zwischen katholischer ­Kirche und nationalsozia­ listischem Staat bemühten. Neben zahlreichen Intellektuellen, sogar Theologieprofessoren und Geistlichen, gehörte zur Bonsen sicherlich auch zu dieser Gruppe. Sie gerade durfte sich gewiss durch den Abschluss des Reichskonkordats in ihrer Einstellung bestätigt und zu ­weiterer Aktivität ermuntert fühlen. Zur Bonsen jedenfalls versuchte bei den Katholiken allgemein und insbesondere bei kirchlichen Persönlichkeiten für den „neuen Staat“ zu werben. Zu den Aktivitäten dieser Art zählten seine Besuche in der Abtei Maria Laach und die dabei mit Abt Herwegen geführten Gespräche. Diese fanden in einer eigentümlichen Situation statt, weil sich ja seit dem Ende April 1933 der „abgesetzte“ Kölner Oberbürgermeister Adenauer, dem geraten worden war, seine Heimatstadt einstweilen zu verlassen, als Gast im Kloster aufhielt. Nach den bereits erwähnten Erinnerungen des Abtes hätten die drei Besuche zur Bonsens noch einen anderen Zweck gehabt als die „Angelegenheit Adenauer“. „Dieser Herr war von Hitler beauftragt, mit der hohen Geistlichkeit des Rheinlands Fühlung zu nehmen und sie für das neue Reich zu gewinnen.“ Starke Zweifel sind angebracht, ob ein solcher Auftrag tatsächlich erteilt worden ist; eher hatte zur Bonsen ihn sich selbst erteilt.122 Ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich, aber allemal der Wiedergabe wert, vor allem weil es Hitlers Einstellung zutreffend wiedergeben dürfte, ist das, was der Abt weiter berichtete. Schon bei unserer ersten Unterhaltung, die sich ganz grundsätzlich mit der Stellung der ­Kirche dem Staate gegenüber befaßte, bemerkte ich gelegentlich: „Sagen Sie doch einmal dem Führer, Napoleon […] und Bismarck […] hätten ja auch versucht, die K ­ irche nach ihrem Willen zu ­lenken. Beide mit gänzlichem Mißerfolge.“ Bei seinem nächsten Besuch knüpfte er sofort an ­dieses Wort an, das er in etwas gemäßigter Form dem Führer […] zu bedenken gegeben habe.

Hitler habe darauf in höchster Erregung erwidert: „Diese beiden haben es noch mit dem Liberalismus zu tun gehabt, der für mich gänzlich erledigt ist. Entweder die ­Kirche fügt sich meinem Willen, oder ich werde sie zertreten wie eine Kröte.“123 Ein solcher Auftritt Hitlers, hätte er

120 Dazu Hürten, ebd., S. 245 f; Thamer, Verführung und Gewalt, S. 439. 121 Thamer, a. a. O.; das folgende Zitat bei Wolf, ebd., S. 202. 122 Zitat bei Marcel Albert, ebd., S. 104, dort auch Zweifel. Der Briefwechsel ­zwischen dem Abt und zur Bonsen ist leider im Klosterarchiv „nicht mehr auffindbar“, ders., ebd., S. 14 Anm. 5. 123 Zitate ebenfalls bei Albert, ebd., S. 104 f.

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tatsächlich stattgefunden, wäre eine an Deutlichkeit nicht zu überbietende Warnung gewesen. Abt Herwegen und auch zur Bonsen ließen sich davon aber offenbar einstweilen nicht beirren. Nun war die Abtei ein weithin bekannter Ort mit einer besonderen theologischen und auch politischen Ausstrahlung. Schon seit längerem war sie ein Zentrum der „Liturgischen Bewegung“, die eine stärkere Beteiligung der Gläubigen an der Messfeier zum Ziel hatte. Abt Herwegen war einer ihrer Vorkämpfer. Überdies machte er, zusammen mit dem Katholischen Akademikerverband, Maria Laach ab der Jahreswende 1929/30 „immer mehr zum Sammelpunkt rechtskatholischer Kreise, die als Ausweg aus der Staats- und Gesellschaftskrise die Restauration eines organisch-­ständisch aufgebauten Reiches anstrebten.“124 Hier schien die Idee des „Reiches“ hervor, das als Gegenbild der Weimarer Republik viele konservative und antiliberale katholische Intellektuelle faszinierte. In Maria Laach hofften diese eine theologische Überhöhung zu erhalten; die Abtei galt als „geistliches Zentrum einer Reichstheologie“. „Reich“ war ein Schlüsselbegriff in der Bibel, der deutschen Geschichte und dann auch im Nationalsozia­lismus. Nicht von ungefähr geriet so die Reichstheologie im Frühjahr 1933 in ein gefährliches Fahrwasser, als es ihr darum ging, „Ähnlichkeiten und Berührungspunkte ­zwischen kirch­lichem und nationalsozia­listischem Denken aufzuzeigen und für die weitere Zusammenarbeit fruchtbar zu machen“.125 Zur Bonsen war, kaum überraschend, Sympathisant dieser Richtung, und so erklärt sich eine geistige Nähe zu dem Abt. Das Forum für einen weiteren Versuch eines „Brückenschlags“ war die dritte soziologische Sondertagung des Katholischen Akademikerverbands, die am 21. und 22. Juli in Maria Laach stattfand.126 Ranghöchster Teilnehmer neben prominenten Vertretern des katholischen Geisteslebens war Vizekanzler von Papen, der unmittelbar von der am Vortag erfolgten Unterzeichnung des Reichskonkordats aus Rom herbeigeeilt war. Neben weiteren Vertretern des Staates waren auch s­ olche der Partei zugegen. Natürlich nahm auch zur B ­ onsen teil.127 „Das nationale Problem im Katholizismus. Die Neuordnung von Gesellschaft und Staat im Licht des Reichsgedankens“ lautete das überaus aktuelle Thema der Sondertagung; ihr Zweck, so einer der Verfasser des Programms, sollte sein zu „zeigen, wie weit wir ­mitmachen können“.128 Hier wird schon hinreichend deutlich, ­welche illusionären Vorstellungen bei den Initiatoren und wohl auch der Mehrzahl der Teilnehmer bestanden, wohl auch bei zur Bonsen. Eine verstörende Gleichsetzung vollzog Abt Herwegen in seinem Eröffnungsreferat mit dem programmatischen Satz: „Was auf religiösem Gebiet die liturgische Bewegung ist, ist auf politischem Gebiet der Faschismus.“129 Ungeachtet der Euphorie, w ­ elche der Bericht von Papens über den Abschluss des Konkordats auslöste, kam ein geistiger Austausch z­ wischen den Teilnehmern nicht zustande. Zudem beeinträchtigte der katholische Oberpräsident von Lüninck den Ablauf durch eine heftige Anklagerede gegen das schon aufgelöste Zentrum. Zu Recht ist mit Blick auf die Tagung von einer „kultischen Überhöhung des Reichsgedankens“ und von „Vorbildern und Stimmen“ gesprochen worden, die „entscheidend dazu bei[trugen], das Rückgrat der Zentrumsanhänger […] zu brechen“.130

124 Rink, Ildefons Herwegen, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 2, S. 64 ff (69 f), auch zum Folgenden. 125 Albert, ebd., S. 44. 126 Zur Vorgeschichte ders., S. 71 ff. Zur Tagung selbst S. 78 ff. Ferner Rink, ebd., S. 70 f. 127 Auskunft des Klosterarchivs vom 26. Januar 2018, unter Bezug auf das „Laacher Gastbuch“. 128 Albert, ebd., S. 78. 129 Zitiert nach Rink, ebd., S. 71. 130 So Morsey, zitiert nach Rink, ebd., S. 70 f (71).

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Papen war zur Förderung des „Brückenschlags“ oder jedenfalls der Beziehungen der Katholiken zum „Neuen Reich“ auch als Initiator von Organisationen aktiv geworden. Zur Bonsen sollte sich später dabei noch persönlich in herausgehobener Stellung engagieren. Der Vizekanzler hatte bereits im April 1933 eine „reichsideologisch inspirierte Gruppierung“, den Bund katholischer Deutscher mit dem vielsagenden Namen „Kreuz und Adler“, ins Leben gerufen. Dieser konnte Ende ­dieses Monats in Maria Laach eine „Führertagung“ abhalten.131 Papen wurde Schirmherr des Bundes, der neben der „Brückenschlagsfunktion“ auch seiner Politik Rückhalt geben sollte. Im Laufe des Sommers änderten sich mit der Auflösung der Zentrumspartei und den nach Abschluss des Reichskonkordats wachsenden Spannungen in der Verbandsfrage die Beziehungen z­ wischen katholischer ­Kirche und nationalsozia­listischem Staat nachhaltig. Unter diesen Umständen hielt von Papen die Gründung einer neuen Organisation für geboten, die weniger dem „Brückenschlag“ als der Anlehnung an das Regime zu dienen bestimmt war. Der bestehende Graben wurde also gleichsam „übersprungen“. Hitler stimmte dem Plan zu. So wurde der Bund „Kreuz und Adler“ aufgelöst und am 3. Oktober die „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“ (AKD) gegründet.132 Sie stand wiederum unter dem „Protektorat“ des Vizekanzlers. Organisatorisch geriet sie erst recht ins Schlepptau der NSDAP; der viel­sagende Gründungsaufruf kam aus der Parteikanzlei und war vom „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, unterzeichnet: In der Arbeitsgemeinschaft werden Männer zusammengefasst, die ihre Kräfte und Kenntnisse in aktiver Arbeit für folgende Aufgaben einsetzen wollen: 1. In dem katholischen Volksteil das Nationalbewusstsein zu stärken, eine ehrliche rückhaltlose Mitarbeit am Nationalsozia­lismus zu vertiefen und zu vermehren, die Reihen aktiver Kämpfer [!] zu vergrößern. 2. Im besonderen für ein klares Verhältnis z­ wischen K ­ irche, Staat und NSDAP […] zu sorgen, Mißverständnisse von vornherein aus dem Wege zu räumen und alle Störungsversuche im Keime zu verhindern. Auf diese Weise soll trotz aller konfessionellen Grenzen die völkische Einheit vertieft und ausgebaut werden und sollen die katholischen Werte restlos dem Neubau des Reiches fruchtbar gemacht werden. Die Arbeitsgemeinschaft ist somit keine Massenorganisation […]. Die Leitung besteht ausschließlich aus erprobten Kämpfern.

Darunter wurde „Regierungspräsident Rudolf zur Bonsen“ genannt; „die oberste Leitung“ habe Vizekanzler von Papen übernommen.133 Das abwehrende „keine Massenorganisation“ machte deutlich: Die Partei wollte keinerlei Konkurrenz. Eine s­ olche Gefahr bestand auch nicht. Von vornherein war mit einem „massenhaften Zulauf “ nicht zu rechnen, zumal die Bischöfe sich äußerst reserviert zeigten. Papen selbst hatte Kardinal Bertram noch am Gründungstag brieflich über „die Schaffung einer Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“ unterrichtet, „deren Führung nach dem Wunsch des Herrn Reichskanzlers ich übernommen habe“.134 Er gehe diesen Weg in dem Bewusstsein, so „am sichersten die vielen Reibungen, Schwierigkeiten und Mißverständnisse zu überwinden“, die im Verhältnis z­ wischen Staat und K ­ irche aufgetreten s­ eien und noch 131 Rink, ebd., S. 70; Volk, Handbuch der Kirchengeschichte, S. 546. 132 Dazu Scholder, ebd., S. 633 ff. 133 Abgedruckt in Dokumente zur Kirchenpolitik, Bd. I, 45/33, S. 137 f. 134 Ebd., S. 138 f; das Antwortschreiben Bertrams ist abgedruckt bei Stasiewski, Akten, S. 403 ff.

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auftreten könnten. Nun folgte ein vereinnahmender Appell: „Selbstverständlich kann die Arbeit der Vereinigung nur dann zum Segen für Volk und K ­ irche werden, wenn wir die volle und rückhaltlose Unterstützung und Mitarbeit des hochwürdigsten Episkopats und Klerus finden.“ Der Kardinal ließ in seiner Antwort erkennen, dass er von der neu gegründeten Organisation nicht viel hielt. Wiewohl höflichen Tones und mit freundlichen Einkleidungen, er werde die „gütigen Mitteilungen“ den übrigen Bischöfen in Abschrift zusenden, erteilte er in der Sache von Papen eine kühle Abfuhr. Zunächst monierte er, dass über Gründung und Programm keine „vorherige Verständigung mit dem Episkopate“ stattgefunden habe. Sodann betonte er die Loyalität des „katholischen Volksteils“ und machte deutlich, dass Verhandlungen (mit staatlichen oder Parteistellen) allein Sache der Bischöfe s­ eien. Der Bitte um Mitarbeit wich er aus. Dafür erteilte er am Schluss der AKD einen sicherlich wenig gewünschten Auftrag. Sie solle bei den Ministerialinstanzen für die zahlreichen Frauen und Männer eintreten, die aus „Treue gegenüber den früher notwendig gewesenen Warnungen des Episkopats“ den Nationalsozia­lismus abgelehnt hätten, „nun aber nach dem Schwinden der früher berechtigten Bedenken […] dem jetzt nationalsozia­listischen Regiment zu dienen bereit sind“. Sie dürften nicht als „national unzuverlässig“ gebrandmarkt werden und „ins Elend geraten“. Hier spürt man ein schlechtes Gewissen des Kardinals gegenüber den Betroffenen. Der zur Leitung der AKD gehörende zur Bonsen unterrichtete am 17. Oktober persönlich den Kölner Erzbischof Kardinal Schulte. Mit Schreiben vom selben Tage sandte er ihm „im Anschluss an die heutige Unterredung Abschrift der von dem Stellvertreter des Führers erlassenen Anordnung über die Schaffung einer Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“, aus der er Zweck und Ziel der Arbeitsgemeinschaft bitte entnehmen wolle.135 Über Schultes Reaktion enthalten die Akten nichts. Als einziger aus dem Episkopat gab der Freiburger Erzbischof Gröber der AKD ein Empfehlungsschreiben.136 Insgesamt blieb die Arbeitsgemeinschaft ein kleines Grüppchen, „von der NS-Seite ebenso wenig ernst genommen wie vom Kirchenvolk“.137 Mit den „Deutschen Christen“ in der Evangelischen ­Kirche war sie schon organisatorisch nicht vergleichbar und errang nicht einmal annähernd deren Bedeutung. Nur wenig später fand die einzige spektakuläre öffentliche Aktion der AKD im Kölner Raum statt: eine „Wahlveranstaltung“. Denn am 12. November 1933 sollten Reichstagswahlen stattfinden, verbunden mit einer Volksabstimmung über den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund. Die festgefahrenen Abrüstungsverhandlungen hatten dafür den Vorwand geliefert. Freilich war dies keine echte Wahl mehr; im deutschen Einparteienstaat war nur eine Liste, die der NSDAP, zur „Wahl“ zugelassen. Papen sah seine Rolle in der nun einsetzenden Propagandaschlacht offenbar auch darin, das Misstrauen der rheinischen Katholiken zu zerstreuen, das von zahlreichen Verletzungen des Konkordats hervorgerufen worden war. So reiste er an, um am 9. November auf einer Wahlveranstaltung der AKD in der Messehalle die Hauptrede zu halten. Vorher fand „bei Regierungspräsident zur Bonsen“ – also offenbar im Dienstgebäude des Gastgebers – unter Leitung von Papens eine Besprechung in größerem Kreis statt, an der unter anderen der Oberpräsident von Lüninck, Gauleiter Grohé, Domkapitular Lenné als Vertreter des Generalvikariats und Abt Herwegen teilnahmen.138 Hauptsächlich ging es nach der Schilderung des Abtes um „die 135 AEK, Gen. 23.75. 136 Abgedruckt mit Begleitschreiben bei Stasiewski, Akten, S. 461 f (= Dok. 105/105a) 137 Volk, Handbuch der Kirchengeschichte, a. a. O. 138 Hierzu und zum Folgenden vgl. Albert, S. 108 f. Dort das Zitat Abt Herwegens.

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Jugendfrage […]. Es stellte sich heraus, dass die confessionelle Jugendorganisation im Konkordat nicht genügend klargestellt erschien […]. Lüninck kritisierte […] das Konkordat scharf und warf Herrn von Papen vor, man habe nur halbe Arbeit geleistet […].“ Die Besprechung endete völlig unbefriedigend. Im Bericht des Abtes wird ein inhaltlicher Beitrag zur Bonsens nicht erwähnt. Andererseits macht er deutlich, dass Herwegens Vorstellungen von der Situation illusionär geblieben waren.139 Die Veranstaltung in der Messehalle stand unter der Leitung zur Bonsens. Papen sprach […] über ein Thema, für dessen berufenen Interpreten er sich hielt: die „Stellung des deutschen Katholiken zu dem neuen Reich der Deutschen“. Ohnehin des Beifalls seiner Zuhörer gewiß, konnte der Redner auf sachlich Neues verzichten; stattdessen erschöpfte er sich in der Wiederholung optimistischer Zukunftsprognosen. Die negativen Erfahrungen der letzten Monate kehrte 140 er […] unter den Tisch […].

Papen hielt seine Rede offenbar für so bedeutend, dass er sie drucken ließ.141 Einige Wendungen werden hier wiedergegeben, weil anzunehmen ist, dass zur Bonsen jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt ähnlich dachte. So betonte Papen, das Dritte Reich baue sich gemäß Hitlers Regierungserklärung vom 23. März bewusst auf der Basis der beiden christlichen Konfessionen auf. Weiter behauptete er sogar, die Strukturelemente des Nationalsozia­lismus ­seien der katholischen Lebensauffassung nicht nur nicht wesensfremd, sondern entsprächen ihr in fast allen Beziehungen. Der Nationalsozia­lismus wünsche „die natürliche Ordnung herzustellen“ und da die Wahl des 12. November die Entscheidung bedeute, „ob wir zu dieser Ordnung zurückkehren wollen“, könne es „für uns Katholiken […] keinen Zweifel geben, wie wir uns zu dieser Entscheidung stellen […].“ Papen schloss mit den bemerkenswerten Sätzen: „Sorgen wir dafür, daß durch den 12. November 1933 die Erinnerung an jenen schmachvollen 9. November 1918 getilgt und seine Schuld gesühnt wird. Das katholische Rheinland trägt in seinem Herzen das neue Reich. Gott segne Deutschland und seine Führer!“ Welchen Einfluss diese Rede vor allem auf die katholischen „Wahlberechtigten“ insgesamt hatte, ist schwer einzuschätzen. So, wie es um das Ansehen der AKD bestellt war, dürfte er nicht groß gewesen sein. Wirksamer waren sicherlich bischöfliche Äußerungen. Kardinal Schulte übernahm für die Kölner Erzdiözese eine „Wahlkundgebung“ Kardinal Bertrams. Diese gab die Reichstagswahl dem „gewissenhaften freien Ermessen der Wahlberechtigten“ anheim. Zum Austritt aus dem Völkerbund legte sie aber wenig verschleiert ein Ja nahe, indem sie auf die „sittliche Pflicht der Staatsbürger“ hinwies, „die zu allen Zeiten auch vom Episkopat geförderten Bestrebungen zu unterstützen, die auf Deutschlands Gleichberechtigung in der Völkerfamilie […] und auf Schutz des Friedens gerichtet sind.“142 Nationale Überzeugung hatten die beiden Kardinäle mit der AKD gemeinsam und dies traf auf eine breite Grundströmung in der Bevölkerung. So war der Austritt aus dem Völkerbund ungemein populär und erzielte mit reichsweit 95 % mehr Zustimmung als die Liste der NSDAP bei der Reichstagswahl mit 92 %. 139 Ders., ebd., S. 109. Herwegen hat wenig später seine politischen Irrtümer eingesehen. 140 Von Hehl, ibd. S. 51 f; zu der Veranstaltung auch August Klein, Festschrift Köln, S. 111, und Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 101 141 Unter dem Titel: „Der 12. November 1933 und die deutschen Katholiken“ der Schriftenreihe „Reich und ­Kirche“ veröffentlicht. Zum Folgenden dort S. 5, 5, 8 f., 12. Zitat Schlussätze S. 15. 142 Von Hehl, ebd., S. 52.

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Der Einfluss von öffentlichem Druck, massiver Einschüchterung und Wahlmanipulationen auf die Stimmergebnisse ist schwer zu bemessen. Nach und nach wurde es um die AKD stiller. Sie bestand allerdings noch bis zu einem ruhmlosen Ende im Herbst 1934 weiter. Bei den Auseinandersetzungen um die kirchlichen Jugendverbände spielte sie noch eine Rolle. Dabei trat ihr Vorstandsmitglied zur Bonsen auf unterschiedliche Weise in Erscheinung, solange er Regierungspräsident in Köln war. Seine Ablösung von der dortigen Stelle im April 1934 war allerdings auch „ein Schlag gegen die Politik der AKD“ gewesen.143

2.4.4 Auseinandersetzungen um die katholischen Jugendverbände und Abberufung Erklärte Absicht zur Bonsens war zu beweisen, nationalsozia­listische Überzeugung und praktizierten Katholizismus könne man miteinander vereinbaren. Deshalb ist die Art und Weise, wie zur Bonsen bei den Auseinandersetzungen z­ wischen Partei und katholischer K ­ irche um die Jugendverbände in der Anfangsphase des nationalsozia­listischen Staates sein Amt wahrnahm, symptomatisch dafür, ob dies gelang. „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“, dieser Napoleon zugeschriebene Satz macht wie ein Schlaglicht deutlich, dass es ­zwischen ­Kirche und NSDAP zum Konflikt kommen musste. Die Einheitspartei eines sich herausbildenden totalitären Staates wollte zur Festigung ihrer Herrschaft zwangsläufig Einfluss auf die Jugend gewinnen. Die ­Kirche wollte diesen Einfluss behalten, weil sie darauf bedacht sein musste, ihre Lehre und Werte an die nachfolgende Generation ihrer Mitglieder weiterzugeben. Diese Konkurrenz hatte sich bereits kurze Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozia­listen gezeigt. Durch das überfallartige Verbot insbesondere des katholischen Jungmännerverbandes am 1. Juli 1933 war sie, ungeachtet von dessen Rücknahme wenige Tage später, auf besonders grelle Weise deutlich geworden. Zur Rolle des Regierungspräsidenten bei diesen Auseinander­ setzungen werden drei markante Streitfälle aus dem Regierungsbezirk Köln vor und nach dem Konkordatsabschluss angeführt, bei denen zur Bonsen auf unterschiedlich bemerkenswerte Weise vermittelnd tätig war. Der erste Konflikt entstand, als das Kölner Domkapitel am 14. Juni 1933 einen Antrag der HJ-Führung des Gaues Köln-­Aachen auf Teilnahme von HJ-Abordnungen an den Fronleichnamsprozessionen ablehnte. Diese Entscheidung konnte sich auf einen, allerdings sehr allgemein formulierten Abschnitt der erwähnten „Kundgebung der deutschen Bischöfe“ vom 28. März 1933 stützen. Danach bleibe in Geltung „ferner die Mahnung an die politischen und ähnlichen Vereine und Organisationen, in Gotteshaus und kirchlichen Funktionen aus Ehrfurcht vor der Heiligkeit derselben zu vermeiden, was als politische oder parteimäßige Demonstration erscheinen und daher Anstoß erregen kann.“144 Ein daraus abgeleitetes Verbot entsprach aber nicht generell der Praxis in den deutschen Diözesen. Der strikten Kölner Sichtweise lag die Absicht zugrunde, zumindest „den innerkirchlichen Raum von unliebsamen Störungen freizuhalten“. Denn gerade im Juni hatten die verbalen Attacken einzelner Parteiführer auf katholische Verbände und auch handfeste Behinderungen der Verbandstätigkeit auf örtlicher 143 Schellenberger, Katholische Jugend, S. 68. 144 Abgedruckt bei Stasiewski ebd., S. 32. Die folgende Darstellung stützt sich wesentlich auf von Hehl, Erzbistum Köln, S. 44 f; von dort auch die wörtlichen Zitate.

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Ebene stark zugenommen. Zudem erklärte sich die Ablehnung auch aus einer „Abwerbewirkung“, w ­ elche eine geschlossene Teilnahme von HJ-Formationen zuungunsten katholischer Jugendverbände hätte haben müssen. Das Generalvikariat fürchtete jetzt erst recht allgemein Störungen von Prozessionen durch die HJ und wandte sich an den Regierungspräsidenten mit der Bitte um Vermittlung. Viel Zeit blieb nicht; denn bereits am folgenden Tag, dem 15. Juni, war Fronleichnam. Zur Bonsen konnte tatsächlich erreichen, dass die HJ zurücksteckte. Die Ablehnung blieb bestehen, aber die meisten Prozessionen konnten ohne Störungen ziehen. Das Verhalten des Regierungspräsidenten war offensichtlich dadurch bestimmt, möglichst beiden Seiten gerecht zu werden. Er wirkte auf die HJ ein, Zurückhaltung zu üben, bedauerte aber zugleich ausdrücklich, dass die erzbischöfliche Behörde bei ihrem Standpunkt blieb. Für den Fall, dass die HJ unnachgiebig geblieben wäre, habe die kirchliche Seite „mit dem Ausfall der Prozession“ gedroht, wie zur Bonsen am 16. Juni dem preußischen Geheimen Staatspolizeiamt in Berlin berichtete. Ein „Ausfall der Prozession“ als einer bedeutsamen Glaubensdemonstration wäre aber nicht allein der ­Kirche höchst unlieb gewesen, sondern auch für das Regime, zumal im Hinblick auf die in ihre Schlussphase gehenden Konkordatsverhandlungen. Als eigentlichen Grund der Unnachgiebigkeit des Generalvikariats wollte zur Bonsen den Kampf der NS-Organisationen gegen das katholische Vereinswesen sehen. Die erzbischöfliche Behörde, so schrieb er geradezu für die kirchliche Seite werbend an das Geheime Staatspolizeiamt, stehe dem neuen Staat keineswegs oppositionell gegenüber, sondern zeige „das aufrichtige Bestreben, die nationale Bewegung und Erneuerung auch ihrerseits zu fördern“, und wirke in d ­ iesem Sinne auch auf den „noch zurückhaltenden oder gar kritisch eingestellten Klerus“ ein. Der Vorfall sei „ein Ausschnitt aus der beginnenden Auseinandersetzung ­zwischen ­Kirche und Staat über die Frage des Rechts auf die Erziehung der Jugend“. Eine Lösung könne allein in zentralen Verhandlungen z­ wischen K ­ irche und Staat erreicht werden. Zur Bonsen äußerte hier eine Hoffnung, die sich nie erfüllen sollte. Ein zweiter Fall mit Konfliktpotenzial begann auf der Provinzebene. Es ging um einen Erlass des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, der die Schulen zur Förderung der NS-Jugendorganisationen verpflichtete.145 Der Oberpräsident hatte ihn am 2. Oktober 1933 dem Kölner Erzbischof zur Kenntnis gegeben. Der Erlass musste bei ihm auf Widerspruch stoßen. Der Kardinal war ohnehin alarmiert durch „die zahlreichen Drohungen, Schikanen, Zurücksetzungen, die versteckten und offenen Übergriffe nationalsozia­ listischer Organisationen“ auf die katholischen Jugendverbände, die mit dem Abschluss des Reichskonkordats nicht aufgehört hatten. Er sah einmal die Zwangslage, in die der Erlass die katholischen Privatschulen versetzte. Weiterhin stieß er sich an den Durchführungsbestimmungen, ­welche der Oberpräsident als Schulaufsichtsbehörde beigefügt hatte. Sie waren geeignet, den sonnabendlichen Religionsunterricht und darüber hinaus den Besuch der Sonntagsmesse zu gefährden, da an d ­ iesem Tag der HJ-Dienst bereits um 8 Uhr begann. Kardinal Schulte trug dem Oberpräsidenten in einem sehr grundsätzlich angelegten Schreiben seine Einwände vor. Zusätzlich verschärfte sich die Lage auf Grund einer Auseinandersetzung z­ wischen der kirchlichen Seite und der HJ-Gebietsführung, weil bei einem großen Treffen des BDM Mitte Oktober Teilnehmerinnen nicht Gelegenheit gegeben worden sei, die Sonntagsmesse zu besuchen.

145 Hierzu und zum Folgenden von Hehl, ebd., S. 54 f, von dort auch das wörtliche Zitat.

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Das Generalvikariat wandte sich an zur Bonsen, stellte ihm die entstandene Korrespondenz zur Verfügung und beklagte sich, dass ein Schreiben an den Obergebietsführer West der HJ unbeantwortet geblieben sei. Das Schreiben schloss mit den bemerkenswerten Worten: […] weil wir in Übereinstimmung mit Art. 33 Abs. 2 des Reichskonkordats besonderen Wert darauf legen, bei Meinungsverschiedenheiten […] eine freundschaftliche Lösung herbeiführen zu helfen, glauben wir dem Herrn Regierungspräsidenten diese Angelegenheit ausführlich dar146 legen zu sollen.

Zur Bonsen reagierte wie gewünscht und teilte Anfang Dezember dem Generalvikariat mit, dass er die Angelegenheit, der auch ich eine besondere Bedeutung beimesse, eingehend mit dem Obergebietsführer West der HJ erörtert habe. Der Obergebietsführer hat mir bestimmt zugesichert, er werde dafür Sorge tragen, dass in Zukunft den Angehörigen der HJ usw. die Möglichkeit zur 147 Erfüllung der sonntäglichen kirchlichen Pflichten unbedingt sichergestellt werde.

So entstand der Eindruck, während sich Kardinal und Oberpräsident allgemein auseinandersetzten, vermittelte zur Bonsen in einem Teil der Provinz eine pragmatische und befriedende Lösung. Das Kölner Generalvikariat wusste offensichtlich auch, an wen es sich hielt. Beim dritten Konfliktfall handelte es sich um unmittelbare Übergriffe der HJ auf die katholische Jugend.148 Die unklare Rechtslage, eine Folge der vom Reichskonkordat unzulänglich gelösten Vereinsfrage, war für die Aggressivität der HJ eine Verlockung, und Zwischenfälle waren die Folge. So behinderten am 19. November 1933 in Köln geballt auftretende HJ -Ange­ hörige eine Feier des Bundes Neudeutschland (ND ), die aus Anlass des Albertus-­Magnus-­ Festes in St. ­Andreas stattfand, einer Innenstadtkirche in Domnähe. Der HJ-­Obergebietsführer ­Lauterbacher erklärte danach öffentlich, wie Kardinal Schulte in einem Schreiben an den Kardinalstaatssekretär zitierte: „Was die Polizei sagt, geht uns nichts an, sondern nur, was wir verordnen.“149 Die Übergriffe wiederholten sich in noch krasserer Weise am 28. Januar 1934 anlässlich einer Feier des ND in der großen Innenstadtkirche St. Aposteln und der Pfarrjugend von St. Agnes in der Kölner Neustadt.150 Diesmal schaltete sich zur Bonsen ein und verlangte in großer Deutlichkeit, die HJ habe „unter allen Umständen“ Staatsautorität und Gesetze zu achten „und sich jeden Eingriffs oder Angriffs gegen religiöse oder kirchliche Angelegenheiten“ zu enthalten sowie die „durch das Reichskonkordat gezogenen Grenzen“ zu respektieren. Denn sie habe „das zulässige Maß in der Bekämpfung der kirchlichen Jugendverbände“ weit überschritten „und durch Störung des Gottesdienstes und Eindringen in die ­Kirchen unmittelbar die kirchliche Sphäre“ verletzt. Die Kölner Staatspolizeistelle vertrat immerhin auch die Meinung, die Form der Auseinandersetzungen habe „den Bereich eines ehrlichen Kampfes“ verlassen. Sie zog allerdings aus den Vorfällen vom 19. November 1933 andere Schlüsse und untersagte dem 146 Abgedruckt auch bei Stasiewski, Akten, S. 555 ff (Dok. 130/IIe, IIf, IIg). 147 AEK Gen. 23.6, Vol. 4. 148 Vgl. von Hehl, S. 57 f. 149 Zitiert nach Stasiewski, Akten, S. 546. 150 Zitiert nach von Hehl, ebd.

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ND das „Tragen von Uniformen“ (Kluft). Damit entschied sie also zu Lasten des katholischen Verbandes einen Dauerstreitpunkt mit der HJ. Allen geschilderten Streitfällen, in denen der Regierungspräsident eine vermittelnde Rolle spielte, ist gemeinsam, dass es um den innerkirchlichen Bereich ging. Danach bleibt offen, ­welche Haltung zur Bonsen grundsätzlich zur Stellung der katholischen Jugendverbände einnahm. Diese lässt sich möglicherweise in Zusammenhang mit Folgendem ermitteln: Einmal den Bemühungen des Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Lüninck um eine generelle Lösung der Frage der Jugendorganisationen, zum Zweiten mit Aktivitäten der AKD, zu deren führenden Mitgliedern zur Bonsen ja gehörte. Zwischen beidem besteht ein innerer Zusammenhang. Der Oberpräsident sah offensichtlich eine Ergänzung der Konkordatsregelung für erforderlich an. Im Herbst 1933 versuchte er beharrlich, eine reichseinheitliche Lösung anzustoßen und, nachdem er damit keinen Erfolg hatte, wenigstens eine Lösung auf Provinzebene zustande zu bringen.151 Eine Grundlage hierfür sollten neben anderen die Berichte der Regierungspräsidenten sein. Ausgerechnet ein allerdings früher Bericht zur Bonsens vom 14. August 1933 prognostizierte sehr optimistisch, „daß die Durchführung des Konkordats in absehbarer Zeit wohl zu einer völligen Befriedigung führe“.152Doch dieser Optimismus war nur als vorübergehend anzusehen; er datierte von einem Zeitpunkt, als das Reichskonkordat abgeschlossen, aber noch nicht ratifiziert war. Eine Konferenz der Oberpräsidenten im November über die Auswirkungen des Reichskonkordats in Berlin hatte wiederum keine landesweite Regelung als Ergebnis.153 Versuchsweise sollte von Lüninck in seiner Provinz eine Regelung herbeiführen. Daraufhin sandte er am 30. November den Regierungspräsidenten einen internen Erlass zu, der folgende Grundsätze enthielt: Zu fördern und zu schützen s­ eien alle Verbände, die sich ausschließlich religiös-­ kirchlich betätigten; Verbänden jedoch, die sich in der Vergangenheit parteipolitisch betätigt hätten und keinen Wandel ihrer Einstellung hätten erkennen lassen, sei jede öffentliche Tätigkeit außerhalb des religiös-­kirchlichen Bereichs verboten. Ob eine zulässige Interpretation des Reichskonkordats oder nicht, ob praktikabel oder nicht, jedenfalls bedeutete der Erlass eine starke Zurückdrängung katholischer Verbände, insbesondere des großen Jungmännerverbandes. Dabei entsprang er nicht kirchenfeindlichem Denken. Für den Kölner Erzbischof war er nicht akzeptabel. Andererseits war die Sicht des preußischen Geheimen Staatspolizeiamts radikal anders und schärfer, wie sie in einer Stellungnahme zum Lüninck-­Erlass zum Ausdruck kam: Danach waren grundlegend die „Totalität der nationalsozia­listischen Staatsidee und das Führerprinzip“, ­welche letztendlich konfessionelle Jugendverbände ausschlossen.154 Es entsprach letztlich dieser Sichtweise, wenn die Staatspolizeistellen der fünf rheinischen Regierungsbezirke in der Zeit von Ende Januar bis Mitte April 1934 Polizeiverordnungen erließen, die Kölner als vorletzte am 19. März.155 Sie hatten eine andere Intention als der Lüninck-­Erlass. Sie zielten nicht mit Blick auf das Reichskonkordat auf ein geordnetes Nebeneinander von katholischen Jugendverbänden

151 Dazu eingehend Schellenberger, Katholische Jugend, S. 56 ff. Vgl. auch von Hehl, ebd., S. 55 f. 152 Zitiert nach Schellenberger, ebd. S. 60. 153 Dies., ebd., insbesondere S. 62 f. Zu Schultes Reaktion von Hehl, ebd., S. 56. 154 Vgl. Schellenberger, ebd., S. 64, auch zum Folgenden. Vgl. auch von Hehl, ebd., S. 58. 155 Wortlaut der Polizeiverordnungen im Anhang, S. 182 f. Die Staatspolizeistellen hatten eine Doppelfunktion als Hilfsorgane des Geheimen Staatspolizeiamtes und als Organe der Regierungspräsidenten als Landespolizeibehörden.

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und Parteijugend, sondern hatten eindeutig den Charakter polizeilicher Abwehrmaßnahmen, wobei mit dem zeitlichen Fortgang die Bestimmungen schärfer gefasst wurden. So verbot die Kölner Polizeiverordnung jedes geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit, also auch bei kirchlichen Anlässen, jedes öffentliche Tragen von Bundestracht oder Abzeichen, selbst wenn sie von zivilen Kleidungsstücken verdeckt waren, ebenso war verboten das öffentliche Mitführen oder Zeigen von Wimpeln oder Fahnen, und schließlich wurde jede sportliche Betätigung innerhalb der konfessionellen Jugendverbände untersagt. Die Schärfe der Anordnungen rührte entweder von den Regierungspräsidenten unmittelbar her, oder sie resultierte daraus, dass diese sich nicht mäßigend gegenüber den Staatspolizeistellen durchsetzen konnten. Im Falle zur Bonsens dürfte das Letztere der Fall gewesen sein. Zuvor hatte er zu dem Lösungsversuch des Oberpräsidenten auch nicht wesentlich beitragen können. Deutlich wird seine grundsätzliche Einstellung in der Verbandsfrage bei Aktivitäten der AKD. Als Leitungsmitglied dieser Gruppierung war zur Bonsen dem „Inhaber der obersten L ­ eitung“, Vizekanzler von Papen, eng verbunden, und auch dessen Anschauungen. Zur Verbandsfrage hatte von Papen in seiner großen Kölner Rede am 9. November 1933 zur Reichstagswahl drei Tage später Folgendes ausgeführt: Gerade bei der Regelung der Verbändefragen müssen wir wieder lernen, Wesentliches und Unwesentliches, zeitgebundene Form und ewigen Gehalt zu unterscheiden […]. Wir Katholiken, Klerus und Laien, sollten darum wirklich nur glücklich sein, wenn der politisch organisatorische Kampfapparat, den das liberale Zeitalter der ­Kirche aufgezwungen hat, nunmehr völlig verschwände, eben weil wir zu dem neuen Reiche das Vertrauen haben können, daß es diese 156 politischen Funktionen in voller Harmonie mit der ­Kirche übernimmt.

Was diese gefällig formulierten, aber doch etwas ominösen Sätze bedeuten sollten, trat nur wenig später zutage. Papen ging zur Aktion über und schrieb dem Freiburger Erzbischof ­Conrad Gröber am 12. November einen Brief.157 Er begann mit seinem „herzlichsten Dank […] für den so warm gehaltenen Wahlaufruf “ Gröbers und erläuterte, warum er sich an ihn und nicht an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz wende. So beruht dies darauf, daß bis in die letzten Tage hinein meine wiederholten Versuche, eine einheitliche Linie mit Seiner Eminenz Kardinal Bertram herzustellen, an einer sachlich mir nicht zutreffend erscheinenden Einstellung scheiterten. […] Die Erkenntnis der großen Linie und die innere Zustimmung zu ihr läßt mich mit Sicherheit erwarten, daß ich bei Euerer Exzellenz die so notwendige Übereinstimmung ­zwischen den Hochwürdigsten Herren Bischöfen und der Reichsregierung erwarten darf.

Diese nur dreist zu nennende Inanspruchnahme des Freiburger Erzbischofs für die Bischöfe insgesamt ließ erahnen, dass Papen sich bei Gröber mehr Erfolg als bei Bertram für sein Anliegen versprach, das er noch gar nicht deutlich formuliert hatte. Was von Papen wirklich antrieb, wurde erst nach weiteren Ausführungen zum Fortbestehen katholischer Organisationen und über das dem Führer vom Episkopat entgegenzubringende

156 Redetext „Der 12. November 1933 und die deutschen Katholiken“, S. 13 f. 157 Stasiewski, Akten, S. 442 ff (= Dok. 99).

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offene und ehrliche Vertrauen dann doch noch erkennbar. Der Vizekanzler präsentierte eine Lösung für die Vereinsfrage. Er glaube, der einzig gangbare Weg sei, „daß unter Auflösung insbesondere der katholischen Jugendorganisationen und ihrer Überführung in die entsprechenden Parteiorganisationen die Partei ihrerseits die vom Episkopat für erforderlich gehaltenen Garantien zur Erfüllung der kirchlichen Aufgaben gibt.“ Unter diese Garantien rechne er die Freihaltung des Sonntags, insbesondere zum Messbesuch, sowie die Beiordnung von Geistlichen, ­welche die religiöse Erziehung der katholischen Mitglieder der Organisationen „durchführen“ sollten. Papen hatte auch genau bedacht, wie dieser Weg eingeschlagen werden sollte. Wenn „Eure Exzellenz eine meinem Vorschlag entsprechende Anregung an mich [!] gelangen ließen“, wäre das der „Beweis des Vertrauens gegenüber dem Führer“, und die Reichsregierung könne in Rom weiterhin von sich sagen, konkordatstreu zu sein. Zugleich hatte der Vizekanzler sicherlich auch im Sinn, bei Gelingen des abenteuerlichen Planes auf diese Weise den Ruhm des großen Versöhners zu erwerben. Gröber wurde seinerseits sofort aktiv und bestellte bereits für den 15. November die Generalpräsides der katholischen Verbände zu einer Besprechung nach Freiburg ein. Er tat dies, ebenso eigenmächtig wie illoyal, ohne zuerst Kontakt mit dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz oder direkt mit dem Vatikan aufzunehmen. Bei der Besprechung traf er auf den einheitlichen Widerstand der Vertretungen der Verbände gegen den von ihm „spürbar verteidigten Papen-­Vorschlag“.158 Offenbar besann sich der Erzbischof nun seines Alleingangs und berichtete noch am selben 15. November in einem längeren Schreiben seinem Freund, dem seit dem Frühjahr in den Vatikan übergesiedelten ehemaligen Vorsitzenden der Zentrumspartei Prälat Kaas von der am Vormittag stattgefundenen Besprechung und legte eine Abschrift des „vertrauliche[n] Schreiben[s] aus Berlin“ bei. 159 Dabei gab er detailliert wieder, w ­ elche Gründe für und w ­ elche gegen die „von Berlin erwünschte Auflösung der katholischen Organisationen“ er einleitend angeführt habe. Hier kommt indirekt auch wieder zur Bonsen ins Spiel. Denn einer der Gründe „pro“ sei die Tatsache, „daß sich die katholischen Regierungspräsidenten nach heutigen Berichten gegen den Bestand der Organisationen ausgesprochen haben“. Damit wird bestätigt, dass zur Bonsen mit Papen in dieser Frage auf einer Linie lag. Am 24. November schrieb der Trierer Bischof Bornewasser Kardinal Bertram, „eben von Rom heimkehrend“, einen Brief.160 Er berichtete, er und zwei andere in Rom anwesende deutsche Bischöfe ­seien durch Prälat Kaas von Papens Brief an Gröber unterrichtet worden und hätten „sich energisch gegen das Verlangen Papens ausgesprochen“. Kardinalstaatssekretär Pacelli habe Gröber telefonisch mitteilen lassen, es handle sich um eine Angelegenheit, „die nur ­zwischen Rom und Berlin verhandelt werden könnte“. Damit hatte sich die von Gröber aufgenommene Initiative von Papens erledigt. Bornwasser übermittelte Bertram aber in seinem Schreiben noch eine weitere Information, die wiederum den Kölner Behördenleiter als an den Vorgängen beteiligt sichtbar werden ließ: „Bei mir war auch der Regierungspräsident zur Bonsen von Köln, der auch mich nach der HJ fragte.“ Der Bischof nannte ihm daraufhin für eine Diskussion der Stellung der Jugendorganisationen schier utopische Vorbedingungen, von 158 Schellenberger, ebd., S. 113 f. 159 Stasiewski, Akten, S. 452 ff (= Dok. 102), zu den Regierungspräsidenten S. 453, Gröbers eigene Meinung gab er sehr vorsichtig wieder (S. 455: „Zeit zu gewinnen, Einfluß zu gewinnen“). 160 Abgedruckt bei Stasiewski, Akten, S. 463 f (= Dok. 107). Von dort auch die Zitate.

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denen die nach der Ablösung des Reichsjugendführers Baldur von Schirach noch die geringste war. Er ließ ihn „gar nicht im unklaren […], daß das übrigens eine Frage des Konkordates sei, über die mit Rom verhandelt werden müßte.“ Zur Bonsens Besuch bei dem Trierer Bischof entsprang nicht eigener Initiative. Er war offenbar von der „obersten Leitung“ der AKD entsandt, wie auch andere Vertreter dieser Gruppierung, die bei insgesamt zehn bischöflichen Ordinariaten „vorsprachen“, wie der Generalpräses des Katholischen Jungmännerverbandes, Prälat Wolker, auf der Besprechung am 15. November berichtete.161 Papen hatte also seine Initiative breit angelegt, damit zunächst einige Unruhe erzeugt, aber allein durch einen telefonisch vermittelten Hinweis des Kardinalstaatssekretärs brach sie zusammen. Bornewassers Schilderung des Besuchs legte im Übrigen nahe, dass zur Bonsen nicht fordernd, sondern eher in der Art einer vorsichtigen Anfrage an ihn herangetreten war. Jedenfalls darin unterschied er sich von dem drängenden, mal schmeichelnden, mal drohenden Tonfall im Brief des Vizekanzlers. Ruhe gab die AKD in der Frage der Jugendorganisationen jedoch nicht. Ihr am 22. ­Februar herausgegebenes Mitteilungsblatt Nr. 4 trug unverdrossen die Überschrift: „Die AKD für eine Überführung der konfessionellen Jugend-­Sportorganisationen in die Hitlerjugend.“162 Dem Wortlaut nach war es eine Einschränkung gegenüber dem Papen-­Vorstoß insofern, als nur von „Sportorganisationen“ die Rede war, also allein ein spezieller Verband, die „Deutsche Jugend Kraft“ (DJK), betroffen gewesen wäre. Aus den weiteren Ausführungen auf der Titelseite ging das aber nicht klar hervor. Sie verbleiben im Allgemeinen, enthalten dabei aber auch eine bemerkenswerte Selbstbeschreibung der Aufgabe der AKD, nämlich „[…] die Ideen des Nationalsozia­lismus im Verhältnis des katholischen Volksteils zum neuen Staat und im Verhältnis der K ­ irche zum neuen Staat zu vertreten.“ Die AKD erniedrigte sich so zur Hilfsorganisation der Partei. Zur Bekräftigung der von der Gruppierung vertretenen Linie wurden auf den folgenden Seiten „Erklärungen maßgeblicher Persönlichkeiten“ abgedruckt. Es waren Auszüge aus einer Reichstagsrede Hitlers, aus Reden Papens, darunter aus der Kölner vom 9. November 1933 das oben wiedergegebene Zitat. Ferner wurde Gauleiter Grohé zitiert sowie ein längerer Abschnitt aus einer Rede, die zur Bonsen am 24. Januar 1934 in Münster auf einer Kundgebung der AKD gehalten hatte. Darin hatte er ausgeführt, er habe die feste Gewissheit, dass in der Frage des Vereinswesens, insbesondere der Jugendorganisationen, eine Regelung gefunden werde, die den Interessen des Staates und der ­Kirche in gleicher Weise gerecht würde. Allerdings scheint es mir unklug zu sein, daß die konfessionellen Jugendverbände eine Position halten wollen, die ihnen durch das Konkordat in keiner Weise garantiert ist, und die der nationalsozia­listische Staat unter keinen Umständen anerkennen kann und darf und wird [!]. Die konfessionelle Erfassung der Jugend in eigenen Organisationen soll durchaus nicht angetastet werden. Es muß aber verlangt werden, daß die Betreuung sich auf das Seelsorgerische, Religiöse beschränkt. Es ist durchaus nicht einzusehen, weshalb konfessionelle Jugendverbände zum ­Zwecke der Sportausübung bestehen sollen. Alle diese Dinge, die über das Religiöse hinausgehen, wie insbesondere körperliche Ertüchtigung, staatspolitische Erziehung und dergleichen, müssen dem Staate überlassen bleiben; er kann nicht darauf verzichten. […] alle Deutschen, welcher

161 Schellenberger, ebd., S. 114. 162 AEK, Gen. 23.11., Vol. 5, Bl. 104, zum Weiteren Bl. 104R und 105.

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Anschauung sie auch sein mögen, [müssen] doch das dringendste Interesse daran haben […], eine Zerklüftung und Spaltung in der gesamten deutschen Jugend zu vermeiden […].

Dreierlei ist aus dieser Rede hervorzuheben. Zur Bonsen setzte sich eindeutig von der Papen’schen Idee ab, die konfessionellen Jugendverbände insgesamt in die HJ zu überführen. Andererseits wollte er sie auf das rein Religiöse beschränken, was ihrem Selbstverständnis widersprach. Zur Bonsen zielte also darauf, dass sie zu rein religiösen Vereinen im Sinne von Art. 31 Abs. 1 des Reichskonkordats umgestaltet würden. Die Frage, ob sie als katholische Organisationen mit noch anderen als religiösen Zwecken im Sinne des Abs. 2 auf Grund „vereinbarlicher Abmachung“ gemäß Abs. 3 den Schutz des Konkordates genießen könnten, hätte sich erledigt. Zur Bonsens Sicht der staatlichen Zuständigkeit bei der „Erfassung“ der Jugend war im Grunde dezidiert im Sinne des nationalsozia­listischen Staates; allerdings wollte er die kirchlichen Verbände selbst retten. Zur Bonsens Rede fand ein Echo bei „Freund und Feind“. Aus ihr wurde in einem Lagebericht des Sicherheitsamtes des Reichsführers SS Mai/Juni 1934 zitiert. Die Äußerung stehe im Gegensatz zu einem Brief des Münchener Kardinals Faulhaber an den bayerischen Innenminister, könne sich aber, so wurde behauptet, auf ein „Papstwort“ in einer Enzyklika aus dem Jahre 1929 stützen; im katholischen Lager herrsche keine „Einmütigkeit über die Frage der Abgrenzung der Aufgaben kirchlicher Jugendführung“.163 Auf der anderen Seite wird die Rede als Beleg dafür angeführt, die AKD habe bis in das Jahr 1934 hinein „in katholischen Kreisen weiter Verwirrung“ gestiftet.164 Der „Reichsobmann“ des Katholischen Jungmännerverbandes protestierte in einem Schreiben vom 27. Januar an das Kölner Generalvikariat unter Anspielung auf zur Bonsens „Doppelrolle“: Wenn katholische deutsche Persönlichkeiten, Beamte des Staates […] so sprechen, müssen katholische Eltern und die katholische Jugend den Eindruck gewinnen, als ob die katholischen Jugendverbände aus Eigensinn und Halsstarrigkeit, gegen den Willen des Heiligen Stuhles und des deutschen Episkopates ihre Stellung behaupteten. Für unsere Jungmannschaft, die unter schwersten Opfern […] nur in der einen großen Überzeugung, der K ­ irche zu dienen, die Stellung hält, sind derartige Äußerungen […] unerträglich.

Protest richtete er auch gegen die eigene K ­ irche. Die Unerträglichkeit steigere sich noch, weil selten „ein klares Führerwort von unserer kirchlichen Führung“ ergehe.165 Eine Antwort auf diesen Brief war nicht zu ermitteln. Das Generalvikariat hielt es offenbar für klüger, nicht zu reagieren, aus welchem Motiv auch immer. Wohl auch wollte es sich den Regierungspräsidenten als Ansprechpartner erhalten. Zusammenfassend betrachtet, lässt zur Bonsens Rolle bei den Auseinandersetzungen um die katholischen Jugendverbände eine Zweiteilung z­ wischen Verhalten im Einzelfall und seiner grundsätzlichen Linie feststellen. In mehreren markanten einzelnen Streitfällen griff er, auch erfolgreich, vermittelnd ein. In seiner Funktion als Regierungspräsident war eine grundsätzliche Linie bei des Oberpräsidenten Versuch einer generellen Lösung der Verbandsfrage nicht deutlich zu erkennen. Anderes gilt für seine Rolle in der Leitung der AKD. Er war Emissär von Papens bei dessen gescheitertem Versuch, katholische Jugendverbände in die HJ zu überführen. 163 Boberach, Berichte des SD und der Gestapo, S. 27. 164 Schellenberger, ebd., S. 117. 165 AEK, Gen. 23.11, Vol. 5. Bl. 40.

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Zwei Monate später setzte er sich bei seiner Rede in Münster von der Papen’schen Position ab, indem er die Verbände bestehen lassen wollte, allerdings unter Aufgabe eines attraktiven Teils ihrer Arbeit auf „das Religiöse“ beschränkt. Dies war jedoch auch im Sinne des nationalsozia­ listischen Staates. Der katholische Jungmännerverband protestierte gegen diese Position, nicht aber das Kölner Generalvikariat. So ist der Schluss erlaubt, dem Regierungspräsidenten sei es bis dahin leidlich gelungen, die Vereinbarkeit nationalsozia­listischer Überzeugung und praktiziertem Katholizismus darzutun. Ob ihm das weiter gelingen würde, war fraglich. Seine Haltung änderte nichts an dem Befund, dass die kirchenfeindlichen Aktivitäten der Partei und auch der HJ nicht etwa aufhörten, sondern noch zunahmen. Die Unterlagen des Historischen Archivs des Erzbistums Köln ergeben, dass sich gerade seit dem Jahresbeginn 1934 die Beschwerden aus den Pfarreien an das Generalvikariat über antikirchliche Aktionen der HJ häuften. Wie dargestellt hatte zur Bonsen im Vorjahr sein Amt als Regierungspräsident mit einer besonderen Zielrichtung angetreten. Als christlich denkender Mann und fachkundiger Beamter wollte er durch „positive Mitarbeit“ mäßigend auf die Politik des Regimes, insbesondere die Kirchenpolitik einwirken.166 Im Frühjahr 1934 muss er die Erkenntnis gewonnen haben, dass ihm das kaum noch gelang. Gerade die Kölner Nationalsozia­listen nahmen eine kirchenfeindliche Haltung ein, und dies brachte ihn zunehmend mit seinen Überzeugungen in Konflikt.167 Bei dieser Entwicklung war es nicht überraschend, dass zur Bonsens Amtszeit als Regierungspräsident in Köln zu Ende ging. So wurde er am 20. April 1934 durch Polizeifunkspruch in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Zur unmittelbaren Vorgeschichte dieser Maßnahme gibt es zunächst die Darstellung zur Bonsens in der Spruchkammerakte. Danach habe im April 1934 der preußische Ministerpräsident Göring ihn durch den Leiter der Personalabteilung ­dieses Hauses wissen lassen, dass die Staatsregierung sich zu einem verschärften Vorgehen gegen die widerstrebenden katholischen, insbesondere kirchlichen [sic!] Kreise entschlossen habe, und dass der Betroffene wegen seiner bekannten prokatholischen Einstellung nicht in seinem Amte in Köln belassen werden 168 könne, sondern seine Versetzung zu gewärtigen habe.

Als einziges Mittel des Protests, welches ihm geblieben sei, habe zur Bonsen am 15. April „ungesäumt“ sein „Abschiedsgesuch“ eingereicht. Von den hierfür benannten Zeugen hat aber nur einer, der damalige Regierungsrat Thedieck, als Dezernent in der Kölner Bezirksregierung persönlich mit dem Regierungspräsidenten zusammengearbeitet. Thedieck wollte sich noch genau an den Wortlaut des „Entlassungsgesuchs“ erinnern können.169 In der Personalakte zur Bonsens befindet sich kein Vermerk über den Telefonanruf des Personalabteilungsleiters. Gleichwohl kann er stattgefunden haben. Wahrscheinlich ist ein solcher Vermerk bewusst nicht geschrieben worden. Auch findet sich kein schriftlicher Antrag zur Bonsens auf Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Möglicherweise ist er seiner Formulierung wegen nicht der Akte beigefügt worden. In dem Erlass des Preußischen Ministerpräsidenten allerdings, welcher den Polizeifunkspruch bestätigte, hieß es: „Auf Antrag vom 20. [!] 166 Vgl. oben, S. 17. 167 Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 125. 168 Schriftsatz, Bl. 14 f, auch zum Folgenden. 169 Vgl. Spruchkammerakte, Eidesstattliche Erklärung vom 17. Januar 1948.

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April 1934 versetze ich den Regierungspräsidenten zur Bonsen unter Gewährung von Wartegeld sofort in den einstweiligen Ruhestand.“ Danach hat es jedenfalls einen Antrag gegeben. Worauf die Differenz in dessen Datierung beruhte, muss offenbleiben. Zwei Tage vorher war noch der Oberpräsident aktiv geworden. Am 18. April schrieb er Göring, zur Bonsen habe ihn davon unterrichtet, einen Antrag auf Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gestellt zu haben. „Soweit mir bekannt, geht dieser Antrag zurück auf die Absicht, ihn wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheit in kirchenpolitischen Fragen nach Ostdeutschland zu versetzen.“ Dies würde als kulturpolitische Maßnahme von größter Bedeutung aufgefasst werden. Lüninck bat schließlich darum, dem Ministerpräsidenten über „die kirchen- und kulturpolitische Lage in der Rheinprovinz persönlich Vortrag halten“ zu dürfen und eine Entscheidung über zur Bonsens Gesuch bis dahin zurückzustellen.170 Dies war eine Fehlbitte, wie sich gezeigt hat; Göring war offenbar desinteressiert. Statt dessen Antwort erhielt der Oberpräsident ein vom 19. April [!] datiertes Schreiben des Vizekanzlers von Papen, der in Preußen allerdings keine Funktion mehr hatte. Der Ministerpräsident habe ihm „heute“ in einem Gespräch gesagt, dass die Motivierung des Rücktritts [zur Bonsens] vollkommen falsch sei, dass er diese Motivierung ­lebhaft bedauere und richtigstellen lassen werde. Der wirkliche Grund sei, dass Regierungspräsident zur Bonsen sich gegen den Gauleiter Grohé nicht durchsetzen könne. […] Er wünsche an dieser Stelle eine energischere Persönlichkeit, die berufen sei, gerade nach der kulturellen Seite hin endlich dort Ruhe und Ordnung zu schaffen. […] Wenn die Motivierung des Personenwechsels geändert werden würde, würde vermutlich Regierungspräsident zur Bonsen sich auch bereit finden, seinen Dienst an anderer Stelle weiterzutun.

Es kann angenommen werden, dass die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit zur Bonsens bei den Absichten des Ministerpräsidenten mitgespielt hatte. Schwerlich war es das alleinige Motiv, welches Göring aber benutzte, um die beiden Katholiken von Papen und von Lüninck zu besänftigen. Angesichts der wachsenden Macht der Gauleiter hat das Argument fehlender Durchsetzungskraft auch etwas Hohnvolles. In jedem Falle hatte Papen sich wieder gerne als Beschwichtiger einsetzen lassen. In der Personalakte zur Bonsens gibt es einen späteren Beleg dafür, dass er aus kirchenpolitischen Gründen in Köln abgelöst wurde. In einem Schreiben des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Reichs- und Preußischen Minister des Inneren vom 2. Dezember 1938 wurde in Zusammenhang mit Personalmaßnahmen eine Stellungnahme des „Stellvertreter des Führers“ wiedergegeben. Danach sei die Abberufung erfolgt, weil zur Bonsen „keine klare NS-Haltung“ zur katholischen K ­ irche, aber Verbindung zur „Katholischen Aktion“ und zum „politischen Katholizismus“ gehabt habe. Der von Göring ausersehene Nachfolger war Rudolf Diels, bis dahin Leiter des preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes und „kaum geeignet, aufkommende Befürchtungen [sc. in kirchen­politischer Hinsicht] zu zerstreuen“.171 Er wurde unter noch zu schildernden besonderen Ums­tänden nach Köln entsandt, nicht zuletzt, weil ein Platz für ihn gefunden werden musste.

170 Landeshauptarchiv Koblenz, 403, 16845, Bl. 383 f; folgender Brief Bl. 385 f. 171 Ders., ebd., S. 67.

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Die Abberufung seines Vorgängers, eines der katholischen ­Kirche verbundenen, politisch gemäßigten Amtsträgers, sollte auch vor dem Hintergrund der konkreten Situation des nationalsozia­listischen Staates gesehen werden. Die NSDAP hatte noch nicht alle Machtpositionen erobert; das Regime befand sich noch in der Konsolidierungsphase. Die an Zahl starke SA war wegen ihres Drängens auf eine „zweite Revolution“ und ihrer wehrpolitischen Ambitionen ein Unruhefaktor. Die SS unter ihrem „Reichsführer“ Himmler stand kurz davor, als letzte der politischen Polizeien der Länder die preußische zu übernehmen. Der 86-jährige Reichspräsident von Hindenburg lebte noch, aber zurückgezogen. Die Haltung der Reichswehrführung war schwer einzuschätzen. Es gab noch viele Konservative in höheren Amtsstellen. Kurz gesagt: Eine weitere Radikalisierung des Regimes schien wahrscheinlich, aber eine Hoffnung auf Mäßigung war noch nicht völlig illusionär. Jedenfalls wurde zur Bonsens Abberufung in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen durchaus als Verlust empfunden.172 So schrieb der Abt von Maria Laach Ildefons Herwegen in einem Brief vom 24. April 1934, er bedauere aufrichtig, dass mit ihm „wenigstens vorläufig ein namhafter Vertreter der katholischen Weltanschauung von einer Stelle zurücktreten muß, an der ihm die Möglichkeit richtunggebenden Einwirkens gegeben war.“ Bereits am 21. April war unter der Überschrift „Der scheidende Regierungspräsident“ ein Artikel in der noch nicht völlig gleichgeschalteten bürgerlichen „Kölnischen Zeitung“ erschienen. Die ausführliche Wiedergabe seines Werdegangs schloss mit dem Satz: „Er ist Katholik und mit einer Kölnerin verheiratet.“ Es folgte eine eingehende Würdigung der Persönlichkeit zur Bonsens. Zunächst wurde betont darauf hingewiesen, er habe „schon lange vor der nationalen Revolution“ der NSDAP angehört und sei in der Gauleitung tätig gewesen. Darauf folgte ein großes Lob: Während seiner k­ urzen Amtszeit hat er es verstanden, sich die Achtung und Zuneigung aller Bevölkerungskreise zu erwerben. Dr. zur Bonsen zeigte sich nicht nur als ein kluger und umsichtiger Verwaltungspraktiker, sondern er verfügte auch über ein hohes Maß an politischer Begabung, das ihn gerade in der schwierigen Zeit des Übergangs dazu befähigte, die Geschäfte des höchsten preußischen Verwaltungsbeamten im Regierungsbezirk Köln mit Energie und Takt zu führen.

Abschließend wurde etwas boshaft auf einen Artikel des Westdeutschen Beobachters hingewiesen. Das amtliche Organ der NSDAP habe bei zur Bonsens Ernennung zum Regierungspräsidenten geschrieben: „Ein Mann, auf den das deutsche Rheinland stolz ist!“ Die Botschaft war klar. Der vom Parteiblatt noch im Vorjahr bejubelte neue Regierungspräsident, bereits vor 1933 Nationalsozia­list aus Überzeugung, muss jetzt gehen. Denn er hat sich nicht als „Parteimann“, sondern als Katholik und anerkannter Behördenleiter erwiesen. Der traditionsreiche Kölner Männer-­Gesangs-­Verein, dessen Schirmherr zur Bonsen war, zeigte sich ebenfalls durch dessen Abberufung betroffen. Sein „Abschiedsbrief “ löste bei den Sängern „eine Kundgebung der Dankbarkeit aus“. Wie er zur Bonsen am 12. Mai 1934 schrieb, fand der Vorschlag des Präsidenten „einstimmig begeisterte Zustimmung“, ihm die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen. Darin konnte man durchaus eine kleine demonstrative Geste sehen. Hier sollte allerdings auch nicht unerwähnt bleiben, dass derselbe Verein am 28. Juli des

172 Zum Folgenden vgl. Spruchkammerakte, Schriftsatz, Anl. Bl. 25, Bl. 28, Bl. 27.

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Vorjahres dem „abgesetzten“ Kölner Oberbürgermeister Adenauer brieflich mitgeteilt hatte, seine Ehrenmitgliedschaft könne nicht aufrechterhalten werden.173

2.5 Regierungspräsident in der pommerschen Provinzhauptstadt Stettin von April bis Oktober 1934 2.5.1 Amts- und Ortswechsel nach Pommern und der 30. Juni 1934 mit seinen Folgen Der Wartestand zur Bonsens währte jedoch nicht lange. Am 28. April 1934, so ergibt sich aus der Personalakte, erhielt er vom preußischen Innenminister ein „Staatstelegramm“ des Inhalts, ihm werde, wie es unter förmlicher Wahrung der Zuständigkeitsregelungen hieß, „mit Zustimmung des Ministerpräsidenten“ ab 1. Mai die Stelle des Regierungspräsidenten in Stettin übertragen. Ihm wurde aber gestattet, seinen Dienst dort nicht bereits zu d ­ iesem Datum, sondern erst am 8. Mai anzutreten. Dies war eine der letzten Personalmaßnahmen, die Göring in seiner Doppel­funktion traf. Denn zum 1. Mai 1934 entband ihn Hitler vom Amt des Innenministers und beauftragte Reichsinnenminister Frick mit dessen Wahrnehmung. Göring hatte das selbst in einem pathetischen Briefwechsel mit dem „Führer“ vorgeschlagen.174 Frick leitete nun beide Ministerien in Personalunion. Es war eine bizarre Konstruktion; als preußischer Innenminister „unterstand“ er dem Ministerpräsidenten Göring. Das musste zu Verwicklungen führen. Aber es war auch ein Machtverlust Görings, der den zentralistischen Tendenzen des Regimes nachgeben musste.175 Nun drängt sich die Frage nach den Gründen für die alsbaldige Entsendung nach Stettin auf. Sie könnte als weitere Bestätigung der Absicht verstanden werden, zur Bonsen in einen östlichen Regierungsbezirk zu versetzen. Dann bliebe aber offen, warum zur Bonsen erst noch in den Wartestand, und nicht sofort nach Stettin versetzt wurde, wie es einer planvollen Personalverwaltung entsprochen hätte. Die Personalakte gibt darüber keinen Aufschluss. Im Spruchkammerverfahren wurden die Vorgänge etwas anders und auch detaillierter dargestellt.176 Im Gegensatz zur inländischen habe die ausländische Presse, namentlich die „Neue Zürcher Zeitung“, über die Hintergründe seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand berichtet und darin ein „Signal zum Einsetzen eines verschärften Kulturkampfes“ gesehen. Dies sei der „Reichsregierung […] unbequem“ gewesen. „Auf Intervention des Auswärtigen Amtes“ habe Göring seine Entscheidung korrigieren müssen. Er habe zur Bonsen „unter Androhung von Repressalien“ gezwungen, die Stettiner Stelle anzunehmen und so „die wahren Gründe der Ablösung in Köln der Öffentlichkeit gegenüber verdecken können.“ Diese dramatische Schilderung muss im Kontext des Spruchkammerverfahrens in der Nachkriegszeit gesehen werden, bei dem es darauf ankam, einen Betroffenen in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen. So erklären sich möglicherweise die Übertreibungen und auch mehrere Unstimmigkeiten. Auch wenn kein Beleg dafür vorhanden ist, ist allerdings doch nicht ausgeschlossen, dass zur Bonsen eine Unterredung beim Ministerpräsidenten hatte 173 Adenauer im Dritten Reich, S. 161 f, Nr. 107. 174 Abgedruckt in Dokumente der Deutschen Politik, Bd. 2, S. 118 ff. 175 Dazu Höner, Zugriff, S. 493 f; Plum, Staatspolizei, S. 194. 176 Schriftsatz, Bl. 16 f, von August Klein, Festschrift Köln, S. 111, übernommen.

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und den Wechsel nach Stettin zunächst nicht akzeptieren wollte. Mit „Repressalien“ wurden wahrscheinlich die beamtenrechtlichen Konsequenzen einer Weigerung bezeichnet, auf die Göring hinweisen konnte. Ein Wartestandsbeamter war nach der maßgeblichen Vorschrift „bei Verlust des Wartegeldes“ zur Annahme eines Amtes verpflichtet, das seiner Berufsbildung entsprach und gleichen Ranges und planmäßigen Diensteinkommens war.177 Ferner erscheint es unwahrscheinlich, auch wenn das Regime 1934 noch in einem gewissen Maße auf positive Reaktionen im Ausland achtete, dass Göring sich durch das Auswärtige Amt zur „Korrektur“ einer Personalentscheidung bei einer „nachgeordneten Behörde“ gezwungen gesehen haben soll. Schließlich bringt allein das Datum des genannten Artikels in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Darstellung schon erheblich ins Wanken. Er erschien nämlich erst am 29. April 1934, also einen Tag nach dem „Staatstelegramm“ über die Entsendung nach Stettin. Zuletzt stand diese Darstellung im Widerspruch zur vorangegangenen, zur Bonsen sei bereits Mitte April vom Ministerium auf die Absicht einer Versetzung hingewiesen worden.178 Nach Lage der Dinge blieb zur Bonsen auf Grund der Rechtslage nichts anderes übrig, als nach Stettin zu gehen. Von ihm zu erwarten, den Verlust des Wartegeldes zu riskieren, wäre moralischer Rigorismus. Er hätte die wirtschaftliche Grundlage der Existenz seiner Familie gefährdet. In das Dilemma, entweder dem Regime weiter zu dienen oder seine Lebensgrundlage aufs Spiel zu setzen, gerieten Amtsträger im „Dritten Reich“ immer häufiger, und immer seltener zeigte sich ein Ausweg. Die Verhältnisse, die zur Bonsen in Stettin antraf, waren, wenig überraschend, gänzlich andere als die in Köln. Der Regierungsbezirk Stettin bildete zusammen mit dem Bezirk Köslin die Provinz Pommern. Als Provinzhauptstadt war Stettin nicht allein Sitz eines Regierungs-, sondern auch eines Oberpräsidenten. Dies bedeutete die Gefahr eines latenten politisch-­ rechtlichen Konkurrenzverhältnisses. Der Oberpräsident war ja ranghöchster Staatsbeamter und ständiger Vertreter der Staatsregierung in der Provinz. Zudem war seine Rechtsstellung gegenüber den Regierungspräsidenten seit dem 1. Januar 1934 gestärkt. Er besaß nämlich nun (wieder) gegenüber den Behörden der allgemeinen und inneren Verwaltung ein Weisungsrecht.179 Wie auch immer das Verhältnis z­ wischen beiden Institutionen ausgestaltet war und sich das persönliche z­ wischen den Amtsträgern entwickelte, es galt für sie das für alle staatlichen Organe konstitutive Gebot der Zusammenarbeit. Die Bevölkerungszahl der Provinz von 1,8 Millionen Einwohnern insgesamt übertraf die des Regierungsbezirks Köln nicht wesentlich.180 Dies erklärte sich aus der geringen Besiedlungsdichte der Provinz. Die Städte waren relativ klein, über die Hälfte der Bevölkerung lebte auf dem Land. Die Wirtschaftsstruktur war überwiegend agrarisch. Der Großgrundbesitz mit einer bemerkenswerten Anzahl von Betrieben über 1000 Hektar war prägend, über ein Viertel war in der Hand adeliger Familien. In der Landwirtschaft war denn auch die Hälfte aller Erwerbstätigen beschäftigt. Die Industrie, in der ungefähr ein Viertel von ihnen beschäftigt war, konzentrierte sich um die Städte Stralsund und Stettin. Letztere war die größte in der Provinz Pommern, aber mit rund 270.000 Einwohnern doch erheblich kleiner als Köln mit 177 So § 6 Abs. 1 Satz 1 VO vom 26. Februar 1919 (GS., S. 33). 178 Schriftsatz, Bl. 14 f. 179 Art. I des Gesetzes über die Erweiterung der Befugnisse der Oberpräsidenten vom 15. Dezember 1933 (GS., S. 477). 180 Statistische Angaben (Stand 1933/39) sind dem Großen Brockhaus, 16. Aufl., Bd. 9, 1956 entnommen; siehe ­ferner Thévoz, Darstellung, S. 18.

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damals etwa 750.000. Die Bevölkerung Pommerns war zu 90 % evangelisch – der Katholikenanteil dementsprechend verschwindend gering –, die evangelischen Pfarrer durchweg national und sozia­l eingestellt.181 Wirtschafts- und Sozia­lstruktur, Konfessionalität sowie die Grenzlage zu Polen beeinflussten stark das Wahlverhalten. Es war völlig anders als im Rheinland, das ja in der Weimarer Zeit eine Domäne des Zentrums gewesen war. Pommern war dagegen eine Hochburg der Deutschnationalen Volkspartei, die etwa bei den Reichstagswahlen 1924 fast 50 % der Stimmen gewann. Dies war auch eine Folge der „Anhänglichkeit“ der Bauern an die Großgrundbesitzer und deren überwiegend konservativ-­nationaler Gesinnung. Hatte im Wahlkreis 20 (Köln-­Aachen) bei der „letzten Mehrparteienwahl“ am 5. März 1933 die NSDAP mit etwa 30 % hinter dem Zentrum mit immer noch rund 35 % nur den zweiten Platz belegt, konnte sie in, Wahlkreis 6 (Pommern) mit über 56,3 % reichsweit einen der höchsten Stimmanteile verbuchen, während die SPD noch 16,2 % errang und damit nur knapp unter ihrem Reichsdurchschnitt blieb.182 Der extreme Wahlerfolg der NSDAP war neben den im ganzen Reich wirksamen Ursachen insbesondere das Ergebnis eines frühen und organisatorisch breit fundierten Aufstiegs der Partei in dieser Provinz.183 Gauleiter war seit 1931 der junge Rechtsanwalt Wilhelm Karpenstein. Dieser war äußerst energisch und betrieb vor allem eine rigorose Personalpolitik, bei der er seine Anhänger einseitig bevorzugte. Auch wechselte er mehrfach die SA -Führung aus. Zudem war sein Finanzgebaren maß- und regellos. Dies alles führte zu beträchtlicher Unruhe in der Partei und auch zu internen Untersuchungen. Aber Karpenstein behauptete sich trotz allem im Amt, und die Vorgänge schmälerten nicht die Wahlerfolge der NSDAP. Nach der Machtübernahme begannen Karpenstein und „sein“ neuer SA -Gruppenführer von Heydebreck „ein Schreckensregiment in der Provinz […], [worauf] die Unzufriedenheit der Bevölkerung über das gesetzesverachtende und brutale Verhalten der Partei und der auf 100 000 Mann angewachsenen SA wuchs.“ Der Gauleiter griff auch in die Auseinandersetzungen innerhalb der Evangelischen ­Kirche ein.184 Er unterstützte massiv die nationalsozia­listische „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, die seit November 1932 bei den Kirchenwahlen zunehmend Erfolge erzielt hatte. Es bildete sich aber, wie im Reich, so auch in Pommern, eine bekenntnistreue Gegenbewegung, die mit einer eigenen Liste, „Evangelium und K ­ irche“, bei den Wahlen antrat. Sie sah die ­Kirche allein auf die Bibel verpflichtet und stellte sich gegen die massiven Versuche politischer Einflussnahme durch die NSDAP und die „Deutschen Christen“. Bei den Kirchenwahlen unterlag zwar diese Liste, stellte aber eine beachtliche Minderheitsgruppe profilierter Synodalen. Dem im September 1933 als Organisation der Bekenntnisbewegung gegründeten „Pfarrernotbund“ gehörten zum Jahresende in Pommern immerhin 195 P ­ farrer an. In der ersten Jahreshälfte 1934 verschärften sich die Auseinandersetzungen innerhalb der Pommerschen K ­ irche.185 Im Februar wurden zehn Superintendenten, w ­ elche der Bekenntnisbewegung angehörten oder nahestanden, von der deutschchristlichen Kirchenleitung suspendiert, und am 7. Mai 1934 sollte die erste freie evangelische Synode in 181 Thévoz, ebd., S. 112. 182 Zum Wahlkreis 6 Thévoz, ebd., S. 18 f; zum Wahlkreis 20 Bracher, Machtergreifung, S. 112 ff. 183 Inachin, Entwicklung Pommerns, S. 497 ff, auch zum Folgenden; das wörtliche Zitat dort S. 500. 184 Dies., ebd., S. 114 f, auch zum Folgenden. 185 Thévoz, ebd., S. 116 f.

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Stettin zusammentreten. Zerrissenheit prägte also das Bild der evangelischen K ­ irche, ausgelöst durch den Versuch der NSDAP-Repräsentanten und ihrem „Stoßtrupp“, den „Deutschen Christen“, sich der K ­ irche zu bemächtigen. Die Situation in Staat und Partei war ihrerseits alles andere als stabil, als zur Bonsen nach Stettin kam. Seit dem Ausscheiden des Oberpräsidenten von Halfern im Herbst 1933 war die Stelle vakant; Karpenstein war es nicht gelungen, zum Nachfolger bestellt zu werden. Als Gauleiter war er verschrien und selbst „in der Partei“ umstritten. Zur Bonsens Vorgänger Göppert war kurzfristig in gleicher Funktion nach Köslin versetzt worden. Dort war die Stelle durch den Ruhestand aus Altersgründen des bisherigen Inhabers Cronau frei geworden.186 Bei dieser Versetzung könnte eine Rolle gespielt haben, dass Göpperts Verhältnis zum Gauleiter wohl zerrüttet, möglicherweise auch, dass seine ­Mutter jüdischer Herkunft war.187 Nicht ausgeschlossen ist, dass er einen Versetzungswunsch geäußert hat. Nach all dem wird eher verständlich, warum Göring zur Bonsen ausgerechnet nach Stettin entsandte, obwohl er ihm mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gerade gegenüber dem Kölner Gauleiter attestiert hatte. Es war eben keine andere Stelle mehr frei.188 Das weniger riskante Köslin, wo weder Oberpräsident noch Gauleiter residierten, stand ja nicht mehr zur Verfügung. Immerhin bestand auch in Stettin wegen der geringen Katholikenzahl kaum die Gefahr, dass seine große Nähe zur katholischen K ­ irche sich hätte auswirken können. Allemal war die neuerliche Übertragung einer Regierungspräsidentenstelle für zur Bonsen ein „Härtetest“. Was die Rolle des Gauleiters bei dieser Personalrochade betraf, hatte Karpenstein sich offenbar entweder gar nicht oder erfolglos gegen sie gewehrt. Es ist davon auszugehen, dass der preußische Ministerpräsident ihm wegen seines Verhaltens als Gauleiter und auch seiner großen Nähe zur SA nicht sonderlich gewogen war. Göring sah damals bekanntermaßen in deren Stabschef Röhm eine Bedrohung. Zur Bonsen dürfte geahnt haben, auf welches Terrain er sich begeben musste, und in der nachträglichen Schilderung des Schriftsatzes vom 15. März 1948 wurde das auch betont. Die erwarteten Schwierigkeiten in Pommern liessen nicht lange auf sich warten. Dort herrschte, unbekümmert um Gesetz und Recht, der besonders gewalttätige Gauleiter Schwede-­Coburg […]. Ihm gleich tat es in der Willkürherrschaft die Parteiclique […]. In ­dieses Milieu kam der Betrof189 fene. Er nahm sofort den Kampf gegen die Willkür- und Gewaltherrschaft auf […].

Diese Ausführungen werden relativiert durch einen deutlichen Erinnerungsfehler. Als zur ­Bonsen in Stettin seinen Dienst antrat, war ja Karpenstein noch Gauleiter und Schwede-­Coburg sollte ihm erst einige Zeit später folgen. Diese falsche Erinnerung, die bei zur Bonsen selbst liegen musste, ist schwer erklärlich. Möglicherweise waren im Abstand von fast anderthalb Jahrzehnten beide Personen bei ihm zu einer verschmolzen.190 Spannungen mit Karpenstein hatten sich erst gar nicht entwickeln können. Dieser und der SA-Führer Heydebreck waren vollauf damit beschäftigt, sich an der von Propagandaminister 186 Vgl. Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie, S. 636. 187 Vgl. Schrulle, ebd., S. 650. 188 Listen der Amtsinhaber zur fraglichen Zeit bei Schrulle, ebd., S. 611 ff. 189 Schriftsatz, Bl. 17. 190 Dem folgend geht August Klein, ebd., S. 111, ebenfalls von nur einem Gauleiter aus. Ebenso Adolf Klein, Köln im Dritten Reich, S. 85.

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Goebbels im Mai 1934 initiierten Kampagne gegen „Meckerer und Miesmacher“ zu beteiligen.191 Sie richtete sich mit ihren Aktionen gegen eine im ganzen Reich, auch in Pommern, herrschende Unzufriedenheit wegen der Übergriffe der SA und der Selbstherrlichkeit von Parteifunktionären. Im Juni führten die beiden vier große Bezirksparteitage in der Provinz durch. Dies sollte sich als Schlussphase ihres gemeinsamen Wirkens in Pommern erweisen. Bei den folgenden Ereignissen war zur Bonsen im Rahmen seiner neuen Funktion beteiligt, und sie sollten für ihn mittelbar auch Auswirkungen haben. Entscheidendes Datum hierfür war der 30. Juni 1934, der Tag des sogenannten „Röhm-­ Putsches“, der nicht stattfand, ja nicht einmal vom SA-Stabschef Ernst Röhm tatsächlich geplant gewesen war. Wegen angeblicher „hochverräterischer Pläne“ ließ Hitler Röhm und die meisten hohen SA-Führer ermorden, gleichzeitig Persönlichkeiten aus dem konservativen Lager, die er für gefährlich hielt, und ­solche, mit denen er „eine Rechnung offen“ zu haben glaubte. Die Vorgeschichte ­dieses Tages lässt sich wie folgt darstellen.192 Das „Riesenheer“ der SA war enttäuscht, weil die Machtübernahme für es in der Masse wenig Gewinn gebracht hatte. Forderungen nach einer „zweiten Revolution“ wurden laut. Das erschreckte konservative Parteigänger Hitlers, die immer noch hartnäckig an der Absicht einer Bändigung des Regimes festhielten. Röhms eigentliches Ziel war, die SA zu einem Milizheer umzuformen, was ihm wiederum die scharfe Gegnerschaft der Reichswehr einbrachte. Auf deren Haltung würde es aber auch bei der Regelung der Nachfolge des todkranken Reichspräsidenten von Hindenburg ankommen. Hitler sah sich nun vor die Wahl ­zwischen Reichswehr und SA gestellt, eine Entscheidung war unausweichlich. Zusätzlich verkomplizierte sich die Lage, als von Papen am 17. Juni in der Universität Marburg eine Aufsehen erregende Rede hielt, in der er leidenschaftlich vor einer „zweiten Welle“ der Revolution warnte. Wie überlegt dieser „Ausbruch“ von Papens war, ist schwer zu beurteilen. Das Manuskript seines Mitarbeiters Edgar Jung erhielt er erst bei der Abfahrt nach Marburg. Im Echo auf die Rede meinte Hitler, die Gefährlichkeit der „Reaktion“ zu erkennen. Das war die Konstellation, aus der heraus er, unterstützt von Göring, Goebbels sowie den SS-Führern Himmler und Heydrich, zur Aktion schritt. Sie wurde von der SS mit stillschweigender Unterstützung der Reichswehr durchgeführt; örtliche Schwerpunkte waren Berlin und München. Zu den hohen SA-Führern, die im Münchner Gefängnis Stadelheim erschossen wurden, gehörte auch der pommersche Gruppenführer von Heydebreck.193 Er war mit Karpenstein auf dem Weg nach Bad Wiessee, wo Röhm sich zu einer Kur aufhielt und am Morgen des 30. Juni eine „Aussprache“ der SA-Führung mit Hitler stattfinden sollte. Während Heydebreck und andere höhere SA-Führer verhaftet wurden, blieb Karpenstein ungeschoren, kehrte am 2. Juli nach Stettin zurück, veröffentlichte einen Aufruf an die Bevölkerung und veranstaltete eine Kundgebung. Es war offenbar der Versuch, sich bei den Siegern einzureihen. Wie im gesamten Reich wurden auch in Pommern SA-Führer verhaftet und die Waffenlager der SA durch Polizei und SS besetzt, ohne auf Widerstand zu treffen.194 Zur Bonsen berichtete am 1. Juli an den preußischen Innenminister, er habe am Vortag gegen 13.00 Uhr „die Mitteilung von der Festnahme des Stabschefs Röhm und dessen hochverräterischen Absichten“ erhalten. 191 Thévoz, ebd., S. 39, auch zum Folgenden. 192 Aus der Fülle der Literatur: Kershaw, Hitler I, S. 629 ff (Vorgeschichte), S. 644 ff („Aktion“); Höhne, Mordsache Röhm, S. 247 ff; Longerich, Die braunen Bataillone, S. 206 ff. 193 Thévoz, ebd., S. 42, auch zum Folgenden. 194 Hierzu und den Berichten zur Bonsens, Thévoz, ebd., S. 41 ff. Von dort die Zitate.

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Ein Befehl der Landespolizeiinspektion Nord über höchste Alarmbereitschaft der Polizei und verschiedene polizeilichen Sicherungsmaßnahmen sei den Landräten und Oberbürgermeistern „mit entsprechenden Anweisungen“ zugeleitet worden. „Irgendwelche nennenswerten Schwierigkeiten sind nirgends aufgetreten.“ Bei Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die SS-Führer oder die örtlichen Polizeibehörden die Polizeigewalt innehätten, „wurde schnellstens im Einvernehmen ­zwischen mir und der hiesigen SS-Führung die nötige Klarheit geschaffen“. Worin diese bestand, wurde allerdings nicht weiter ausgeführt. Im Folgenden wurden dann die Ergebnisse der staatspolizeilichen Maßnahmen mitgeteilt. Festgenommen wurden […] die erreichbaren SA-Brigadeführer, sowie andere SA-Führer, ­ferner auch eine Reihe von Persönlichkeiten, die im Verdacht stehen, die gegenwärtige Situation für reaktionäre Zwecke auszunutzen. […] Soweit Waffenlager festgestellt sind, sind die Bestände sichergestellt und werden anordnungsgemäß der Landespolizei zugeführt. Die Nachricht von dem scharfen Durchgreifen des Führers hat allgemein Befriedigung und Beruhigung in der Bevölkerung […] hervorgerufen. […] Selbst die Nachricht von der Erschießung des Gruppenführers von Heydebreck hat zu keinerlei Zwischenfällen irgendwie geführt. [!] Die Lage im Regierungsbezirk ist ruhig.

In zwei nachfolgenden Berichten vom 3. und 7. Juli 1934 informierte zur Bonsen den Preußischen Innenminister weiter über den Abtransport festgenommener SA-Führer nach Berlin, kommissarische Neubesetzung von SA-Führungspositionen und den weitgehend reibungslosen Ablauf von Entwaffnungen. Er resümierte jeweils, die Lage sei unverändert ruhig. Vor allem der höchst bemerkenswerte erste Bericht zeigt, dass zur Bonsen als Regierungspräsident in diesen Tagen durchaus eine (aktive) „Rolle“ hatte, ebenso wie, jeder auf seine Weise, sein Nachfolger in Köln, Rudolf Diels, und sein Aachener Kollege Eggert Reeder. Auffallend ist der zustimmende Duktus ­dieses Berichts, der sich an der Verwendung bestimmter Begriffe – „hochverräterisch“, „reaktionär“ – festmachen lässt. Nun schien die „Schlachtordnung“ ja auch eindeutig: hier der Staat und der ihn „tragende“ Teil der NSDAP, auf der anderen Seite in Gestalt der SA-Führung die ungezügelten Vertreter einer „zweiten Revolution“. Zur Bonsens Platz war hier eindeutig vorbestimmt. Es entsteht auch der Eindruck einer „aktiven Rolle“, was in der gegebenen Situation nicht verwunderlich war. Wenn und soweit man sich bei Distanz im Übrigen mit einem Regime noch teilweise identifizieren kann, geschieht dies ostentativ. Der stellenweise etwas martialische Ton ist dem Entwurfsverfasser zuzuschreiben, der wahrscheinlich nicht zur Bonsen selbst war; auch die Formulierungen des Berichts hat er sich durch Unterschrift zu eigen gemacht. Schließlich gab der Bericht die Stimmungslage der Bevölkerung mit Sicherheit zutreffend wieder, die zur Bonsen teilte. Im ganzen Reich waren Erleichterung und Zufriedenheit groß, dass den „SA-Rabauken“, an deren Spitze dem sittlich verkommenen Röhm, der Garaus gemacht worden war. Hitlers Ansehen wuchs schlagartig, nicht trotz, sondern gerade wegen der Rücksichtslosigkeit seines Handelns.195 So verwundert es nicht, dass es keine öffentliche Kritik an der staatlich inszenierten Mordaktion gab. Zugleich bewies ­dieses kritiklose Gefühl von Befreiung und wiedergewonnener Sicherheit auch einen Verlust an Rechtsempfinden und eine Tendenz zur Selbsttäuschung über die wirkliche Entwicklung. Ein paar Tage lang ließen

195 Vgl. Kershaw, ebd., S. 654 f; Thamer, Verführung und Gewalt, S. 333 f.

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die Herrschenden jede Maskierung fallen. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung merkte nicht, dass sie von Verbrechern regiert wurde. Schließlich ist noch zu klären, ob es an ­diesem 30. Juni auch etwas wie ein „persönliches Schicksal“ zur Bonsens gab. Aus der Sicht des Regimes könnte er Gefahr gelaufen sein, den Persönlichkeiten mit „reaktionären Absichten“ zugerechnet zu werden, von denen er in seinem, ersten Bericht geschrieben hatte. Mit von Papen, einem führenden Vertreter dieser Kreise, war er durch die Zusammenarbeit in der AKD lange verbunden gewesen. Der Vizekanzler entging selbst nur knapp der „Liquidierung“; er wurde nur „unter Hausarrest“ gestellt, aber zwei engste Mitarbeiter waren umgebracht worden.196 Im Spruchkammerverfahren wurde in der Tat geltend gemacht, man habe in zur Bonsen ein Mitglied der „Katholischen Aktion“ vermutet, sodass er am 30. Juni 1934 „nur durch zufällige Abwesenheit von Stettin dem Lose so vieler anderer ermordeter Katholiken“ entgangen sei.197 Demnach soll zur Bonsen ein Schicksal gedroht haben, wie es der Vorsitzende der „Katholischen Aktion“ in Berlin, Ministerialdirektor Erich Klausener, tatsächlich erlitt. Er wurde auf Befehl Heydrichs von SS-Leuten in seinem Büro erschossen.198 Zur Bonsen wurde vom Regime tatsächlich Nähe zur „Katholischen Aktion“ angelastet. Beweise für diese Darstellung werden allerdings nicht angetreten, nicht einmal Zeugen vom Hörensagen. Sie wird auch von keiner anderen Quelle bestätigt. Schon deshalb sind Zweifel am Wahrheitsgehalt angebracht wie auch in anderen Fällen, in denen etwa Namen prominenter „nationalrevolutionärer“ Persönlichkeiten auf Liquidierungslisten gestanden haben sollen.199 Die Darstellung im Schriftsatz hat praktisch keinen Eingang in die Literatur gefunden, nur in einem Sammelwerk wurde sie fast wörtlich übernommen.200 Zudem spricht der oben wiedergegebene erste Bericht zur Bonsens an den Preußischen Innenminister gegen die Version des Schriftsatzes. Danach trifft sie in einem wesentlichen Punkt nicht zu; dem Bericht ist zu entnehmen, dass der Regierungspräsident an den fraglichen Tagen doch in Stettin war. Ob hier wieder ein Erinnerungsfehler oder bewusste Selbstüberhöhung vorlag, muss offenbleiben. An dieser Stelle sollte wegen des zeitlichen Zusammenhangs und der Vollständigkeit halber auf die AKD und das weitere Schicksal ihres „Protektors“ von Papen eingegangen werden. Der Terror des 30. Juni 1934 erreichte diese Gruppierung auch. Ihr Geschäftsführer, Graf Thun, wurde festgenommen, die Geschäftsstelle von der Gestapo besetzt und durchsucht, Akten­material beschlagnahmt: „Es war das faktische Ende dieser Einrichtung, die nach Papens Absicht die große Versöhnung ­zwischen Katholizismus und Drittem Reich hätte bewirken sollen.“201 Ob und wann zur Bonsen hiervon erfuhr, ist nicht bekannt. Das formelle Ende folgte bald darauf. Im September 1934 teilte die Reichsparteileitung der NSDAP mit, die Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher stelle ihre Arbeit ein und löse sich auf; ihre Aufgaben würden in die der Abteilung für kulturellen Frieden der Reichsparteileitung „einbezogen“. Papen äußerte dazu,

196 Kershaw, ebd., S. 648. 197 Schriftsatz, Bl. 19. 198 Thamer, ebd., S. 330. 199 Vgl. Herbert, Best, S. 145 f. 200 Robert Steimel, Kölner Köpfe. 201 Scholder, Die ­Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2, S. 252.

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das Reichskonkordat habe die parteimäßige Vertretung des politischen Katholizismus überflüssig gemacht, die Arbeitsgemeinschaft habe in der folgenden Zeit durch Aufklärung, Wiedergutmachung [!] und Beseitigung von Vorurteilen gewirkt. Diese Arbeit sei nunmehr auf eine andere 202 Stelle übergegangen, da Staat und Partei inzwischen eins geworden ­seien.

Das war unwürdige Schönfärberei. Anders gesagt, verschwand die AKD , „nachdem sie als Aushängeschild ausgedient hatte“.203 Papens Stellung als Vizekanzler war nach allem Geschehenen unhaltbar geworden. Nun ließ er sich von Hitler bestimmen, als Sonderbotschafter nach Wien zu gehen. Dort hatten kurz zuvor österreichische Nationalsozia­listen bei einem Putschversuch Bundeskanzler D ­ ollfuß erschossen, und zu Papens Aufgabe gehörte es, die Wogen der Empörung zu glätten.204 So wechselte er in amtlicher Eigenschaft von einer Stätte nationalsozia­listischen Mordens zu einer anderen. Dabei hätte es doch nahegelegen, völlig andere Konsequenzen zu ziehen. Nach dem Krieg schrieb Adenauer in einem Brief: „Wenn er Ehre im Leib gehabt hätte, hätte er nach dem 30. Juni 1934 ein für alle Male mit Hitler gebrochen.“205 Aber dazu war Papen nicht der Mann. In dem Brief hieß es weiter: „Ich habe ihm immer mildernde Umstände in meinem Urteil über ihn zugebilligt wegen seiner abnormen Beschränktheit.“

2.5.2 Missglücktes Zusammenwirken mit dem Oberpräsidenten – Gauleiter und erneuter Ruhestand Auch wenn er den 30. Juni glücklich überstanden hatte, waren die Tage des Gauleiters K ­ arpenstein gezählt. Drei Wochen später, am 21. Juli 1934, wurde er „wegen wiederholter Nichtbefolgung von Anordnungen der Parteiführung […] vom Führer seines Postens enthoben“. Karpenstein wurde überdies aus der Partei ausgeschlossen und inhaftiert.206 Nach einem Bericht der Staatspolizeistelle Stettin an das Geheime Staatspolizeiamt vom 4. August wurde die Abberufung des Gauleiters „im allgemeinen als gerecht und notwendig empfunden“. Vollkommen vereinzelt stehe der Bericht des Landrats Lange des Kreises Usedom-­Wollin da, die Abberufung habe „einschließlich der NSDAP-Mitglieder überall Entsetzen erregt“.207 Nachfolger Karpensteins wurde am 21. Juli 1934 der schon erwähnte Franz Schwede-­Coburg. Wenige Tage später, am 30. Juli, wurde er zugleich zum Oberpräsidenten der Provinz Pommern ernannt und damit endlich die Vakanz an dieser bedeutungsvollen Stelle beendet. Schwede-­ Coburg hatte eine typische multifunktionelle NS -Karriere absolviert.208 1888 im damaligen Memelland geboren, Maschinenschlosser und Weltkriegsteilnehmer, trat er bereits 1920 der NSDAP bei. Im folgenden Jahr wurde er aus der Reichsmarine entlassen. Seit 1925 Mitglied des Stadtrats von Coburg, wurde er 1933 hauptamtlicher Oberbürgermeister. Mandate im baye­ rischen Landtag und Reichstag kamen hinzu. Gerade drei Wochen zuvor, am 1. Juli, war er

202 Beide Zitate nach Keesings Archiv der Gegenwart 1933, Sp. 1634. 203 Volk, Handbuch der Kirchengeschichte, S. 546. 204 Kershaw, Hitler, S. 658 f mit Anm. 14.1. 205 Zitiert aus Adenauer, Briefe 1945 – 1947, S. 348 ff. 206 Inachin, Entwicklung Pommerns, S. 500, das dortige Zitat stammt aus der „Pommerschen Zeitung“. 207 abgedruckt bei Thévoz, Quellen, Nr. 1, S. 31. 208 biographische Daten aus Thévoz, Darstellung, S. 305.

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Regierungspräsident von Niederbayern und Oberpfalz geworden. Er galt als energischer Mann von „unermüdlicher nationalsozia­listischer Tatkraft,“ der Coburg „für den Führer“ erobert hatte. Der aber „dankte seinem Mitkämpfer […] dadurch, daß er ihm zu seinem Namen den ehrenden Zusatz ‚Coburg‘ verlieh […].“209 Ungeachtet der von den Nationalsozia­listen propa­ gierten egalitären „Volksgemeinschaft“ zeigten sich im Regime wie hier immer wieder feudalistische Züge. Bei ­diesem Werdegang war es nicht überraschend, dass er sich offenkundig vornehmlich als Gauleiter verstand und das Staatsamt geringer einschätzte. Seine spätere Ernennung zum Oberpräsidenten ließ er nicht im Amtsblatt anzeigen, während er noch am Abend seiner Ankunft in Stettin am 22. Juli einen Aufruf an seine „Parteigenossen“ erließ.210 Darin hieß es, „der Führer“ habe ihn mit unbeschränkten Vollmachten ausgestattet und er, der Gauleiter, erwarte „von allen Parteidienststellen treue Pflichterfüllung“. Er selbst werde „als Soldat Adolf Hitlers um das nationalsozia­listische Deutschland kämpfen“. Den ihm erkennbar erteilten Säuberungsauftrag setzte der neue Gauleiter energisch um. In der Gauleitung enthob er die meisten der „jungen Leute“ seines Vorgängers ihrer Funktion. Auch in den Kreisleitungen tauschte er 23 von 27 Kreisleitern aus. Diese Personalvorgänge waren wohl erforderlich, um einen Vertrauensverlust wieder auszugleichen. In dem schon zitierten Bericht der Staatspolizeistelle Stettin hieß es hierzu: Dem […] neubestellten Gauleiter Schwede wird überall großes Vertrauen entgegengebracht und werden seine Maßnahmen der Abberufung von Kreisleitern usw. und die Neubesetzung dieser politischen Stellen mit bewährten und fachlich befähigten Parteigenossen freudig begrüßt. Trotzdem kann andererseits eine gewisse Zurückhaltung in der Bevölkerung beobachtet werden, die darauf zurückzuführen sein dürfte, daß in Pommern in den letzten Monaten sich zu viele Ereig211 nisse von großer Tragweite abgespielt haben[…]

Nach der doppelten Aufgabenübertragung an Schwede-­Coburg war für zur Bonsen eine neue und stabile Machtkonstellation entstanden. Er würde es mit einer durchsetzungsstarken Persönlichkeit zu tun haben, die wenig Rücksichten zu nehmen bereit schien. Eine „sofortige Aufnahme des Kampfes gegen Willkür- und Gewaltherrschaft“, namentlich Schwede-­ Coburgs, wie es in dem Schriftsatz vom 15. März 1948 formuliert wurde, kann angesichts der ersten Maßnahmen des Gauleiters kaum notwendig gewesen sein. Der „Kampf “ wurde im Folgenden an strittigen Personalfragen festgemacht.212 So habe zur Bonsen insbesondere auf der Abberufung „zweier besonders übler Kreisleiter“ bestanden und diese „nach langem Sträuben des Gauleiters“ durchgesetzt. Diese Ausführungen sind wegen des umfassenden Revirements auf Ebene der Kreisleiter einfach nicht verständlich. Schwede-­Coburg hätte sich auch kaum durch einen Staatsbeamten zu Personalmaßnahmen in der Parteiorganisation bestimmen lassen. Im Schriftsatz wird nun auf kommunalaufsichtliche Maßnahmen des Regierungspräsidenten eingegangen. So sei zur Bonsen „gegen mehrere nationalsozia­listische Bürgermeister, die sich ihres Amtes unwürdig gezeigt“ hätten, im Disziplinarwege vorgegangen. Dies ist nicht 209 So die säkular-­hagiographische Darstellung des Gaupresseamtsleiters Gaede in: Schwede- Coburg, S. 21. 210 Thévoz, ebd., S. 45 f, dort auch Text des Aufrufs. Auch Inachin, ebd., S. 280 f. Auch zum Folgenden. 211 Vgl. FN 207, S. 32. 212 Schriftsatz Bl. 17 f; auf Bl. 18 die folgenden Zitate.

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ausgeschlossen; immerhin wird von einem Zeugen ein solches Verfahren gegen den Bürgermeister von Regenwalde in Hinterpommern bestätigt.213 Sodann wird ausgeführt, er habe „die Abberufung des Oberbürgermeisters von Stettin und des besonders gewalttätigen Landrates von Swinemünde“ durchgesetzt. Das Erste trifft nicht zu. Der Anfang November 1933 eingesetzte Oberbürgermeister Marius Molsen amtierte bis 1935; eine Abberufung wird weder in der Literatur noch in einer Quellensammlung erwähnt.214 Jedenfalls wurde ein falscher Begriff verwendet. In der oben genannten Zeugenerklärung wurde nämlich auch erwähnt, dass zur Bonsen ein Disziplinarverfahren gegen den Oberbürgermeister durchgesetzt habe, der ein Schützling des Gauleiters gewesen sei. Nähere Ausführungen fehlen allerdings. Abberufen wurde dagegen der Landrat des Kreises Usedom-­Wollin in Swinemünde, und dies wurde in der Tat vom Stettiner Regierungspräsidenten erfolgreich betrieben. In einem sehr ausführlichen und in vielerlei Hinsicht aufschlussreichen Bericht vom 6. August 1934 an den Preußischen Minister des Innern legte zur Bonsen umfassend die Gründe hierfür dar.215 Er habe bei Umwandlung der kommissarischen in eine endgültige Stellung Anfang Juni den Landrat eindringlich ermahnen müssen, fortan „streng nach Recht und Gesetz die ihm vertraute Verwaltung zu führen“. Dieser habe aber weiter ein „despotisches Regiment“ geführt. Die Bevölkerung fühle sich „der Willkür und Gewaltherrschaft des Landrates Lange ausgeliefert“. Letztmalig habe er ihn „unter dem 27.7. nachdrücklich vermahnt und ihm für den Fall eines nochmaligen Mißbrauches seiner Amtsgewalt scharfe Maßnahmen in Aussicht gestellt.“ Wohl überlegt erscheinen über Langes Amtsführung hinausgehende Hinweise. Er sei ein Protegé des früheren Gauleiters gewesen. „Im Banne des Gauleiters Karpenstein“, fuhr der Bericht fort, habe Lange „unter Außerachtlassung seiner Pflicht zur Unparteilichkeit“ ganz einseitig gegen den Kreisbauernführer Stellung genommen und sei gegen ihn vorgegangen, auch mit einer Polizeiverfügung, die „als dem Gesetze widersprechend“ habe aufgehoben werden müssen. Zur Bonsen verfehlte auch nicht zu erwähnen, dass die Kreisbevölkerung ihm besonders verdenke, dass er vor etwa zwölf Jahren der SPD angehört habe. Hier dürfte sich eine „bürgerliche“ Aversion zur Bonsens gegen diese Partei mit dem Antimarxismus des ­NS-Regimes getroffen haben. Bezeichnenderweise folgte der Satz: „Ich halte Lange auch nicht für einen aufrichtigen Charakter.“ Begründet wurde dies dann allerdings damit, er habe wieder­ holt Mitglieder seiner Behörde bis hin zum Regierungsvizepräsidenten falsch informiert oder Zusagen nicht eingehalten. Ein weiterer Vorwurf entsprach eher der Sichtweise eines Regierungspräsidenten preußischer Tradition. Der Landrat habe es nicht verstanden, „die Grenzen seiner staatsamtlichen und parteiamtlichen Befugnisse auseinanderzuhalten“. Als Beispiel griff er wieder auf Karpenstein und die Auseinandersetzung mit dem Kreisbauernführer zurück. Der Landrat habe nämlich „auf Ersuchen des früheren Gauleiters […] mitten in der Nacht eine Vernehmung des Kreisbauernführers vorgenommen, die offenbar den Zweck hatte, dem Gauleiter Material gegen die Führung der Bauernschaft zu verschaffen.“ Diesen Vorwurf konnte zur Bonsen umso leichter erheben, als der frühere Gauleiter ja in Ungnade gefallen war.

213 Schreiben von Polizeipräsident a. D. Borck vom 14. März 1947, Anlage zum Schriftsatz, Bl. 8R. 214 Vgl. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 3, S. 654, FN 3; ferner Thévoz, Darstellungen sowie Quellen. 215 Abgedruckt bei Thévoz, Quellen, Nr. 55 (III), S. 282 ff.

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Etwas überraschend fand zur Bonsen auch lobende Worte, ­welche sein Bemühen um Objektivität erkennen ließen. Lange sei „im übrigen, wie zugegeben werden muß, eine äußerst e­ ifrige und tatkräftige Persönlichkeit, die sich mit ganzer Kraft für die Interessen des Kreises einsetzt.“ Dem folgte aber sogleich das Verdikt, „bei seiner Charakterveranlagung und seinem selbstherrlichen Wesen“ sei „eine ruhige und ordnungsgemäße Verwaltung des Kreises […] nicht mehr zu erwarten […] Zur Zeit muß ich ihn jedenfalls als völlig untragbar für den Kreis bezeichnen.“ Nun holte sich der Regierungspräsident regimekonform politischen Rückhalt, indem er fortfuhr: Der neue Gauleiter, Herr Oberpräsident Schwede, hat Lange unverzüglich seines Postens als Kreisleiter enthoben. Schon hierdurch ist Langes Stellung als Landrat unhaltbar geworden. Bei der bestehenden Einheit von Partei und Staat ist es nicht möglich, dass ein Landrat, dem von der politischen Leitung offenbar das Vertrauen entzogen ist, noch länger im Amt 216 belassen wird.

Als Konsequenz aus all dem stellte der Regierungspräsident „im Einvernehmen“ mit dem Oberpräsidenten und Gauleiter den Antrag auf „sofortige Abberufung des Landrates Lange und nachfolgende Verabschiedung nach § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Nach dieser Vorschrift konnten Beamte zur Vereinfachung der Verwaltung in den Ruhestand versetzt werden. Im Schlussteil des Berichts wurde vor allem zu der Frage Stellung genommen, ob gegen Lange dann ein förmliches Disziplinarverfahren eingeleitet werden solle mit dem Ziel, ihm die Amtsbezeichnung „Landrat a. D.“ abzuerkennen. Zur Bonsen legte sich hier nicht fest, warnte aber vor einer möglichen Einstellung des Verfahrens. Lange würde zweifellos versuchen, einen entsprechenden Beschluss für sich auszunutzen. Diese Bedenken erinnern an eine ähnliche Argumentation des Regierungspräsidenten in dem Disziplinarverfahren gegen den Kölner Oberbürgermeister Adenauer. Sie betrafen offenbar einen für das Regime zu dieser Zeit noch empfindlichen Punkt. Der Bericht, der alles erdenkliche Material zusammentrug, aber auch deutlich das Bemühen um Objektivität zeigte, hätte gestrafft werden können. Es verwundert schon, wie schwer zur Bonsen sich offenbar tat. Dabei hatte er ein jedenfalls politisch durchschlagendes Moment zur Verfügung; Lange war nach dem Amtsantritt des neuen Gauleiters in der NSDAP „persona ingratissima“. Auf die Ablösung als Kreisleiter kam zur Bonsen wohl deshalb erst am Ende zu sprechen, weil er zunächst eine im Wesentlichen beamtenrecht­ liche Argumentation entwickeln wollte. Dies entsprach seinem Amtsverständnis und seiner tradi­tionellen Denkweise. Der Hinweis auf das Einvernehmen mit dem Oberpräsidenten und Gauleiter war unerlässlich; denn ohne d ­ ieses hätte er die Abberufung des Landrates nicht beantragen können. Allemal wird deutlich, dass es jedenfalls am Anfang z­ wischen Schwede-­Coburg und zur Bonsen ein Zusammenwirken gab. Der Oberpräsident gab dem entsprechend drei Tage später den Bericht des Regierungspräsidenten befürwortend an den Preußischen Minister des Innern weiter; ­dieser sprach am 26. September die Entlassung des Landrates Lange aus.217

216 Bezug auf das „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 1. Dezember 1933, RGBl., S. 1016. 217 Thévoz, Quellen, S. 285; Darstellungen, S. 47.

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Am 18. September kam es zu einem Ereignis, welches große Teile des preußischen Staatsapparates offenbar in Aufregung versetzte und auch eine Aktivität zur Bonsens auslöste. Aus dem Gefängnis in Altdamm flohen vier kommunistische Funktionäre, die wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Untersuchungshaft waren.218 Darunter war auch Hermann Matern, der zuletzt als Sekretär der illegalen KPD in Pommern fungiert hatte und der später in der DDR eine führende Rolle spielen sollte. Noch am selben Tage berichtete der Regierungspräsident dem „Reichsminister des Innern und dem Preußischen Ministerpräsidenten“.219 Nachdem er eingangs das Faktum der Flucht mitgeteilt hatte, fuhr er fort: Alle nur denkbaren Maßnahmen zur Wiederergreifung der Flüchtlinge sind von der Staatspolizeistelle Stettin eingeleitet worden, da zu befürchten ist, daß die Flüchtlinge das Ausland zu erreichen suchen, wo sie durch Verbreitung von Greuelnachrichten unübersehbaren S­ chaden anrichten könnten. Ich selbst habe für die Wiederergreifung der Täter eine Belohnung von 1.000,-- RM ausgesetzt.

An ­diesem eilfertigen Bericht fällt der etwas beflissene Ton auf. Dabei lag die Verantwortlichkeit für die Flucht selbst in erster Linie bei der Justizverwaltung; denn die Häftlinge waren aus einem Gerichtsgefängnis geflohen. Zu fragen ist, warum der lakonische Bericht nicht nur an Frick, sondern auch an den Ministerpräsidenten Göring gesandt wurde. Dies hing mit der etwas diffizilen Kompetenzverteilung zusammen. In erster Linie zuständig war die Staatspolizeistelle Stettin. Das Verhältnis dieser Stellen zu den Regierungspräsidenten war nicht ganz eindeutig. Nach der damals geltenden Regelung waren sie (noch) den Regierungspräsidenten „unterstellt“, waren aber zugleich Organe des preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes und aus fachlichen Gründen d ­ iesem enger verbunden. Das Geheime Staatspolizeiamt ressortierte jedoch beim Ministerpräsidenten. Über die berichteten Fakten hinaus wollte zur Bonsen wohl zweierlei zum Ausdruck bringen: Zunächst, dass seine Behörde in dem Strang der politischen Polizei Preußens eine eigene Position hatte. Zum Zweiten Gesinnungstreue auf einem Gebiet, auf dem er offensichtlich problemlos mit der Partei übereinstimmte, dem Antikommunismus. Dieser war ja selbst im nicht-­nationalsozia­listischen Bürgertum verbreitet. Auffällig ist allerdings die Verwendung des regimetypischen Begriffs „Greuelnachrichten“. Damit sollte womöglich die Gesinnungstreue betont werden. Bemerkenswert war auch die Aussetzung einer hohen Belohnung. Mit seiner Bekundung von Gesinnungstreue könnte auch der Zweck verbunden gewesen sein, sich bei dem Ministerpräsidenten angenehm in Erinnerung zu bringen, als ob er eine wohl schon schwankend gewordene Stellung festigen wollte. Welches die Ursachen für die Beendigung der Amtszeit zur Bonsens schon im Herbst 1934 waren, lässt sich nur schwer ausmachen. In der hier mehrfach zitierten Quellensammlung ist dazu nichts vorhanden. Offenbar hat sich das Verhältnis z­ wischen dem Oberpräsidenten/ Gauleiter und dem Regierungspräsidenten rasch verschlechtert. Dies dürfte wesentlich im Unterschied der Persönlichkeiten begründet gewesen sein: Hier Schwede-­Coburg, Maschinenschlosser, Parteikarrierist, „Seiteneinsteiger“ in eine Spitzenposition der Verwaltung, robust und zupackend, aber auch zunehmend selbstherrlich und rücksichtslos, dort zur Bonsen,

218 Dies., Darstellung, S. 100 ff. 219 Dies., Quellen, S. 347, Nr. 96 (VI).

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Bildungsbürger, durch lange Verwaltungstätigkeit geprägt, abwägend, auch vorsichtig. Dies alles sprach eher dagegen, dass es auf Dauer zu einer verlässlichen Zusammenarbeit kommen würde. Es spricht einiges dafür, dass Personalangelegenheiten das Verhältnis ­zwischen Oberpräsident/Gauleiter und Regierungspräsident konkret belastet haben. Erfolgte der Antrag auf Abberufung des Landrates Lange noch einvernehmlich, sollen vor allem nach einer schon erwähnten Zeugenaussage die Disziplinarverfahren gegen den Oberbürgermeister von Stettin und den Bürgermeister von Regenwalde den Zorn des Gauleiters erregt haben.220 Aus dem auch wieder herangezogenen Schriftsatz vom 15. März 1948 selbst sind noch zwei weitere Vorgänge anzuführen, die das Verhältnis belastet haben könnten: Zur Bonsen habe einen Regierungs- und Schulrat, ein Günstling des Gauleiters, gegen dessen ausdrücklichen Willen beurlaubt, und er habe die sofortige Freilassung des „ohne gesetzliche Grundlage verhafteten katholischen Probstes [sic!] von Stettin“ erzwungen.221 Weshalb der Regierungs- und Schulrat beurlaubt worden sei, wurde nicht im Einzelnen dargelegt. Wahrscheinlich geschah es aus disziplinarischen Gründen. Näheres findet sich auch nicht im zugänglichen Material. Was den Propst anlangt, so war dieser in der Tat am 9. Mai 1934 von Feldjägern zu einer Vernehmung in deren Diensträume mitgenommen und bis zum folgenden Vormittag festgehalten worden. Auslöser war die angebliche Fälschung eines Sammlerausweises für den katholischen Caritasverband.222 Dieser Vorfall konnte aber schon deshalb kein „Belastungsfaktor“ gewesen sein, weil er sich lange vor Schwede-­Coburgs Amtsantritt ereignete. Abgesehen davon hätte zur Bonsen als ziviler Behördenleiter den Feldjägern, also Militärpolizisten, schwerlich Weisungen erteilen können. Die ganze Schilderung im Schriftsatz offenbart dessen Problematik als Quelle. Aus den Gesamtumständen ist zu folgern, dass es um die Monatswende September/Oktober zum endgültigen Bruch z­ wischen Oberpräsident/Gauleiter und Regierungspräsident gekommen sein muss und Schwede-­Coburg von Göring oder Frick die Abberufung zur Bonsens verlangt hat. Nach der Darstellung im Schriftsatz sei dieser kurz vor dem 4. Oktober, wiederum auf Betreiben des Gauleiters, durch Funkspruch beurlaubt worden. An d ­ iesem Tag sollte Schwede-­Coburg als Oberpräsident feierlich eingeführt und zur Bonsens Teilnahme verhindert werden.223 Aus der Personalakte ergibt sich, dass der Regierungspräsident am 3. Oktober seiner­seits einen dreiwöchigen Erholungsurlaub beantragt hat, der auch gewährt wurde. Danach hat zur Bonsen selbst die Situation so eingeschätzt, dass seine Anwesenheit an dem feierlichen Akte untunlich sei, oder er wollte von sich aus nicht teilnehmen. In der Personalakte ist die Durchschrift eines auf den 17. Oktober 1934 datierten Erlasses des Preußischen Ministeriums des Innern mit Unterschrift des Staatssekretärs Grauert enthalten. Darin wurde zur Bonsen mitgeteilt, wie ihm „drahtlich“ bereits bekannt gegeben worden sei, habe ihn der Preußische Ministerpräsident am 16. Oktober „sofort einstweilen in den Ruhestand versetzt“. Zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres in den einstweiligen Ruhestand versetzt zu werden, wäre auch für robustere Naturen als zur Bonsen ein harter Schlag gewesen. Auffällig ist die Adressierung „zzt. Münster i. W.“. Offenbar hatte zur Bonsen nach der Beurlaubung bereits Stettin verlassen und sich an den Ort seiner Jugendjahre zurückgezogen. 220 Schreiben von Polizeipräsident a. D. Borck vom 14. März 1947, Anlage zum Schriftsatz, Bl. 8R. 221 Schriftsatz Bl. 18. 222 Vgl. Thévoz, Darstellung, S. 149 f. 223 Vgl. Schriftsatz, Bl. 19.

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Rudolf zur Bonsen

Andererseits wäre die Amtstätigkeit zur Bonsens in Stettin je länger desto schwerer zu ertragen gewesen, und eine Abberufung später doch erfolgt. Schwede-­Coburgs Willkür und Selbstherrlichkeit, verbunden mit Verachtung gegenüber der traditionellen Verwaltung, nahmen stetig zu.224 So bezeichnete er in einer Rede öffentlich die Regierungspräsidenten als „Mäuse und Maulwürfe“, denen er „den Kopf abschlagen“ werde. Er trieb seine Eigenmächtigkeit so weit, als Oberpräsident die Auflösung von Regierungen zu verfügen und deren Aufgaben in der von Stettin zusammenzufassen. Dem trat dann doch der Reichs- und Preußische Innenminister Frick entgegen. Für eine preußische Provinz wie Pommern war kaum ein weniger geeigneter, dazu noch derart rüpelhafter Oberpräsident vorstellbar. Dergleichen war im „Dritten Reich“ aber möglich.

2.6 Leitung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion 1935 – 1936 und Ausscheiden aus dem aktiven Dienst Nach einer knapp einjährigen Zwangspause wurde zur Bonsen im Oktober 1935 wieder in den aktiven Dienst zurück und an die Spitze einer Fachbehörde berufen. In der Zwischenzeit waren, wie sich aus der Personalakte ergibt, Überlegungen angestellt worden, ihn als Kurator einer Universität einzusetzen. Sie wurden aber nicht realisiert. Da den in den einstweiligen Ruhestand versetzten Beamten Wartegeld gezahlt werden musste, habe das Finanzministerium darauf gedrungen, sie in „unpolitischen Fachbehörden zu beschäftigen“.225 Die Dinge verhielten sich aber anders. Im Juli 1935 wandte sich der preußische Finanzminister Popitz, dessen Haus als einziges nicht mit dem Reichsressort verbunden worden war, an den Reichsund Preußischen Minister des Innern mit der Bitte um Hilfe in einer Personalfrage. Wegen noch ungeklärter Strukturfragen solle nach dem Eintritt des Präsidenten der preußischen Bau- und Finanzdirektion in den Ruhestand dessen Stelle ab dem 1. Oktober 1935 nur mehr kommissarisch besetzt werden. Dafür komme ein zur Disposition gestellter Regierungspräsident in Betracht. Daraufhin wurde zur Bonsen vom Innenministerium gefragt, ob es ihn vorschlagen solle, und er stimmte zu. Zum Dienst in einer unpolitischen Fachbehörde war er also bereit. Mit Erlass vom 12. Oktober wurde ihm „mit Zustimmung des Herrn Ministerpräsidenten“ kommissarisch die Verwaltung der Stelle des Präsidenten der Preußischen Bau- und Finanzdirektion übertragen mit der Aufforderung, seine neue Diensttätigkeit sofort zu übernehmen. Bemerkenswert sind die Zusätze zu d ­ iesem in der Personalakte enthaltenen Erlass. Zunächst wurde zur Bonsen unter Bezug auf reichsgesetzliche Vorschriften „eine volle Verwendung als nichtplanmässiger Beamter für mindestens sechs Monate“ zugesichert. Diese Formulierung machte deutlich, dass die Tätigkeit zeitlich befristet sein sollte und nicht die endgültige Übertragung der Präsidentenstelle beabsichtigt war. Es handelte sich nur um deren „Verwaltung“, nicht einmal um ein echtes (übergangsweises) „Kommissariat“ wie 1933 in Köln. Die Verwendung entsprach auch zur Bonsens Berufsbildung; denn fast alle Amtsinhaber vor ihm waren Juristen gewesen.226 Weiter wurde er zu einer Erklärung über eine „etwaige frühere 224 Von Unruh, Provinz Pommern, in: Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815 – 1945, S. 659 ff, von dort auch das Zitat. Vgl. auch Inachin, ebd., S. 283. 225 August Klein, Festschrift Köln, S. 111. 226 Vgl. die biographischen Angaben bei Grünert, Die Preußische Bau- und Finanzdirektion, S. 138 ff.

Leitung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion 1935 – 1936

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­ ugehörigkeit zu einer Loge usw.“ aufgefordert.227 Eine s­ olche Erklärung von einem bekannZ termaßen praktizierenden Katholiken zu verlangen, war müßig. Denn die ­Kirche bestrafte damals diese Zugehörigkeit mit der Exkommunikation. Bei der Preußischen Bau- und Finanzdirektion handelte es sich um eine weniger politische Behörde eigener Geschichte und Aufgabenzuschnitts. Sie war aus der 1822 gebildeten Königlichen-­Ministerial-­Militär- und Baukommission entstanden.228 1919 fielen auf Grund des Vertrages von Versailles die Militäraufgaben weg. Im Kern blieb sie eine Behörde der staatlichen Bauverwaltung. Sie hatte für die Errichtung und bauliche Unterhaltung staatlicher Gebäude in ihrem Bezirk zu sorgen, zudem für schiffbare Wasserwege. 1921 fielen in Berlin die staatlichen Bauämter bis auf eine Ausnahme weg. Bezirk der Behörde war das Gebiet von „Groß-­Berlin“, wie es durch das Gesetz vom 27. April 1920 gebildet worden war. Durch die Eingemeindung von 8 Stadtgemeinden, wie zum Beispiel Charlottenburg, und 59 Landgemeinden, war ­Berlin erst zu einer Weltstadt vergrößert worden.229 Die Behörde war sowohl dem Minister der Finanzen wie dem des Innern nachgeordnet. Deshalb, und weil ihr Bezirk auf einen Teil des Staatsgebietes begrenzt war, war sie organisationsrechtlich gleich den Regierungspräsidenten eine Mittelbehörde. Da ihr Bezirk die Hauptstadt war, gehörten durchweg bedeutende Objekte zu den Gebäuden, die die Direktion zu betreuen hatte, zum Beispiel der Preußische Landtag, die Ministerien, der Berliner Dom, die Universität und die Charité.230 So wie die ständigen Vertreter der Regierungspräsidenten Mitte der 1920er Jahre die Amtsbezeichnung „Regierungsvizepräsident“ erhielten, wurde auch bei der Kommission die Stelle eines Vizepräsidenten geschaffen. Sie war einem Architekten vorbehalten, der die Arbeit der Bauabteilungen koordinieren und Bindeglied zum Präsidenten sein sollte. Die Zahl der technischen Dezernenten schwankte je nach Aufgaben- und Organisationsentwicklung und lag in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre etwa bei 30, die der „mittleren Baubeamten“ bei 27. Außer dem staatlichen Bauwesen in Berlin gehörte zu den Aufgaben der Behörde noch eine Vielzahl weiterer nichttechnischer Zuständigkeiten, die mit dem Begriff „Finanzdirektion“ erfasst wurden. Dazu zählten spezielle Teile der Steuerverwaltung und die Liegenschafts- und Domänenverwaltung, die traditionell der Finanzverwaltung zugehörig war.231 Nach 1933 kamen das Oberversicherungsamt, eine Art Aufsichtsinstanz für die Sozia­lversicherungsträger, und die Finanzstatistik hinzu. Schon länger bei der Direktion angesiedelt war der Bezirksausschuss Berlin, der für Beschlussverfahren und Verwaltungsstreitsachen zuständig war, schließlich auch die Dienststrafkammer.232 Diese Organisationsregelung wurde getroffen, weil es in Berlin keinen Regierungspräsidenten gab. Über die Aufgabenerfüllung insbesondere der Bauabteilung der Direktion gibt das „Werkverzeichnis“ Auskunft. Aus ihm lassen sich als staatliche preußische Bauvorhaben für die Jahre 1935/36 die Erweiterung der Staatsbank und der Umbau des Karl-­Liebknecht-­Hauses zum Horst-­ Wessel-­Haus, mehrere universitäre Bauten sowie der Umbau des Staatlichen Schauspielhauses

227 Grundlage war der RdErl. des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 10. Juli 1935, MBliV., S. 888a und b). 228 Zu Geschichte und Aufgabenentwicklung, vgl. dens., ebd. 229 GS., S. 123. Siehe dens., ebd., S. 8 f. Zum Folgenden Möller, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, S. 549. 230 Grünert, ebd., S. 17. Auch zum Folgenden. 231 Zu den „Sonstigen Aufgaben“ siehe im Einzelnen Grünert, ebd., S. 64 ff. 232 Dazu ders., S. 51 ff (Bezirksausschuss und Bezirksverwaltungsgericht), S. 80 f (Dienststrafkammer).

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Rudolf zur Bonsen

entnehmen.233 Die eigentliche Leitungstätigkeit zur Bonsens dürfte sich in dem bei dieser stark technisch und fachlich ausgerichteten Behörde üblichen Rahmen gehalten haben. Zur Bonsen wird allerdings in dieser Zeit im Tagebuch des „Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“ erwähnt. Unter dem 4. Dezember 1935 notierte Goebbels: „Präsident zur Bonsen stellt sich vor. Ein Bürger.“234 Das war alles. Es mag überraschen, dass zur Bonsen sich bei dem Minister vorstellte, der keine konkrete Zuständigkeit für Preußen besaß. Das wäre aber zu eng gedacht; als „Reichspropagandaminister“ stand Goebbels über allen Dingen und war außerdem Berliner Gauleiter. Die Bezeichnung zur Bonsens als „Bürger“ war im Goebbels’schen Sinne sicher kein Kompliment, aber der so Bezeichnete dürfte es sich als Ehre anrechnen. Auch bei mehr technisch und fachlich ausgerichteten Behörden wuchs damals der Druck auf deren Mitglieder, sich bei ihrer eigentlichen Tätigkeit wie auch außerhalb des Dienstes im Sinne der Partei zu betätigen.235 Das Ende von zur Bonsens Tätigkeit an der Spitze der Direktion vollzog sich in mehreren Etappen, wie sich aus der Personalakte entnehmen lässt. Am 4. August 1936 stellte er einen Antrag an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, ihn von seiner Aufgabe zu entbinden. Einen Monat später reichte er ein Attest des Direktors der I. Medizinischen Klinik der Charité ein, wonach er an einem Nervenzusammenbruch erkrankt sei. Mit Attest vom 24. Oktober 1936 attestierte ihm sein langjähriger Kölner Hausarzt Prof. Külls, er sei „wegen Nervenerkrankung“ in seiner Behandlung; er müsse „leider eine vollständige Zerrüttung des Nervensystems constatieren; Patient ist vollständig arbeitsunfähig.“ Die Bitte um Entbindung von seiner Aufgabe ist so gedeutet worden, er habe „selbst an einer solchen Stelle nicht mehr am nationalsozia­ listischen Staat mitarbeiten“ wollen.236 Die Dinge lagen aber etwas komplizierter. In seinem Antrag hatte zur Bonsen auch zum Ausdruck gebracht, ihm sei vor seiner Beauftragung in Aussicht gestellt worden, eventuell wieder als Regierungspräsident verwendet zu werden. Inzwischen ­seien mehrere derartige Stellen wiederbesetzt worden. Dann brach es aus ihm heraus: Dies sei „umso enttäuschender, als ich meine ganze Kraft dem nationalsozia­listischen Staat gewidmet habe, für den ich schon vor der nationalen Erhebung als Mitglied der Gauleitung Köln-­Aachen unter Einsatz meiner Person und meiner Beamtenstellung zu wirken bemüht gewesen bin.“ Die Tätigkeit in der Bau- und Finanzdirektion befriedige ihn nicht und sei kein Ausgleich für das im Oktober 1934 erlittene Unrecht. In seiner Stellungnahme brachte der zuständige Abteilungsleiter zum Ausdruck, der Antrag sei begründet. Mit Erlass vom 9. Dezember 1936 entsprach der Reichs- und Preußische Minister des Innern zur Bonsens Antrag und zog seinen im Oktober des Vorjahres erteilten Auftrag „mit Zustimmung des Herrn Preussischen Ministerpräsidenten“ zurück. Der Erlass war adressiert „z. Zt. Köln-­Lindenthal“; schon aus dem zweiten Attest hatte man entnehmen können, dass zur Bonsen sich an seinen langjährigen Wohnort Köln begeben hatte. Die Art der Erkrankung lässt auf eine akute Krise schließen. Zur Bonsens Antrag vom 4. August könnte so interpretiert werden, als habe er unbedingt wieder an die Spitze einer Regierung treten und aktiv am NS-Staat mitarbeiten wollen. Eine ­solche Deutung wäre aber zu vordergründig. Es mag sein, dass er gerne wieder Regierungspräsident geworden wäre, wohl auch mit den früheren mäßigenden Absichten. Wahrscheinlich wurde er auch mit der Aussicht darauf gelockt, den Berliner Auftrag zu übernehmen. 233 Ders., ebd., S. 25, S. 36 und S. 41. 234 Goebbels-­Tagebücher, Teil I, Bd. 3/I, April 1935 bis Februar 1936, S. 340. 235 Dazu Grünert, ebd., S. 132 ff. 236 August Klein, ebd., S. 111; gleichlautend schon im Schriftsatz vom 15. März 1948, Bl. 21.

Zwischenfazit

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Nachdem er aber feststellen musste, dass s­ olche Stellen anders besetzt wurden und man ihn über die zunächst genannten sechs Monate hinaus in der Verwaltung des Präsidentenamtes der Bau- und Finanzdirektion beließ, ist ihm wohl eine bittere Erkenntnis gekommen: Das Regime wollte ihn nicht ein drittes Mal als Regierungspräsident verwenden. Das war dann auch der Moment des eigentlichen Bruches, begleitet von einer für einen solchen Riss typischen schweren Nervenkrise. Dieser Deutung steht der Hinweis auf sein früheres rückhaltloses Engagement in der NSDAP nicht entgegen. Zur Bonsen trachtete wohl danach, dem Minister Frick deutlich zu machen, ein ursprünglicher Idealist werde undankbar und schäbig behandelt. Und deshalb wollte er nicht mehr. Zur Bonsen zog sich 1937 nunmehr nach Grainau bei Garmisch-­Partenkirchen zurück. Mit Erlass vom 23. Oktober 1940 wurde ihm, wie aus der Personalakte ersichtlich, eine Urkunde übersandt, durch die er mit Ablauf des 31. Dezember 1940 in den (endgültigen) Ruhestand versetzt wurde. Diese Maßnahme war eine Folge aus § 77 Abs. 2 Ziff. 1 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937, wonach der Wartestandsbeamte in den Ruhestand zu versetzen ist, nachdem eine fünfjährige Wartestandszeit abgelaufen ist.237 Der Begriff „Wartestand“ war an die Stelle des „einstweiligen Ruhestandes“ getreten. Offenbar war die Tätigkeit an der Spitze der Preußischen Bau- und Finanzdirektion als Hemmung der Wartestandsfrist gewertet worden.

2.7 Zwischenfazit: Dreifaches Scheitern? Bei formaler Betrachtungsweise könnte man die Tätigkeit zur Bonsens als Regierungspräsident und in der Verwaltung der Stelle eines Präsidenten der Preußischen Bau- und Finanzdirektion mit dem Etikett eines dreifachen Scheiterns versehen. Aus seiner ersten Führungsposition in Köln wurde er nach einem Jahr abberufen, zwar wohl auf eigenen Antrag, aber dies nach schweren Differenzen und Ankündigung einer Versetzung. Aus seiner zweiten in Stettin wurde er bereits nach fünfeinhalb Monaten jäh entfernt. Von seinem Berliner Auftrag zur Verwaltung der Leiterstelle einer Fachbehörde wurde er auf dringliche eigene Bitte entpflichtet, weil die Tätigkeit für ihn offensichtlich unerträglich geworden war. Nimmt man inhaltliche Elemente in die Betrachtung hinein, so liegt in Köln und auch in seinem Einsatz für die AKD ebenfalls ein Scheitern. Er verfehlte sein Ziel, die Vereinbarkeit z­ wischen praktiziertem Katholizismus und Nationalsozia­lismus zu beweisen und auch zu einem „Brücken­ schlag“ ­zwischen ­Kirche und nationalsozia­listischem Staat beizutragen. Diese Zielsetzung spielte in Stettin allenfalls eine Nebenrolle, in Berlin gar keine mehr. Aber es ging ihm sicherlich an beiden Orten darum, im Sinne einer guten Verwaltungstradition rechtlich zumindest vertretbar sein Amt auszuüben, soweit das innerhalb des Regimes (noch) möglich war. Beides konnte er nicht durchhalten. Aber mit 50 Jahren aus dem aktiven Dienst des „Dritten Reiches“ auszuscheiden, innerlich mit ihm zu brechen und mit 54 Jahren bereits in den endgültigen Ruhestand versetzt zu werden, spricht für ein doch bemerkenswertes Maß an Charakterfestigkeit und für Gesinnungstreue. Diese Eigenschaften ehren ihn und lassen ein „Scheitern“ als nicht zulängliche Kategorie für sein Verhalten und Handeln erscheinen. Zur Bonsen konnte „erhobenen Hauptes“ in den endgültigen Ruhestand gehen. Er hatte letztlich einen anderen Weg beschritten als der frühere Vizekanzler von Papen, mit dem er zeitweise eng verbunden gewesen war.

237 RGBl., S. 37.

Rudolf Diels (1900 – 1957). © Bundesarchiv, Bild 183-K0108 – 0501 – 003/Fotograf: ohne Angabe.

3 Rudolf Diels: „leichtgesinnter Flattergeist“ Der mittlere der drei Regierungspräsidenten, die vom nationalsozia­listischen Regime eingesetzt wurden, war eine außergewöhnliche Erscheinung. Dies lässt sich zum einen an seiner beruflichen Laufbahn ablesen. Während die beiden anderen Regierungspräsidenten „im nachgeordneten Bereich“, bei Landratsämtern sowie einer Bezirksregierung „ihren Weg machten“, war Diels nach der üblichen Anfangszeit sogleich mehrere Jahre im preußischen Innenministerium tätig. Dann übernahm er nach einer Übergangsphase die Leitung einer von den Nationalsozia­listen neu geschaffenen, für ganz Preußen zuständigen Behörde, der politischen Polizei. Dies war, wiederum anders als jedenfalls bei zur Bonsen, der gewichtigste und bedeutendste Abschnitt seiner dienstlichen Tätigkeit, dagegen nicht die anschließende Zeit als Regierungspräsident. Außergewöhnlich erscheint Diels zum anderen auf Grund seiner Persönlichkeit. Jedenfalls kann sie als „farbig“ bezeichnet werden. Gemessen an dem traditionellen Bild eines „höheren Beamten“, fiel er aus dem Rahmen. Dieses Bild ist gekennzeichnet von Eigenschaften wie einer gewissen Zurückhaltung im Auftreten, Sachlichkeit, ja Strenge. Diels jedoch war eher extrovertiert, lebhaft, eloquent, von betont elegantem Auftreten. Als einziger der drei hat er Memoiren verfasst, begrenzt hauptsächlich auf seine Zeit an der Spitze der politischen Polizei in Preußen. Sie erschienen zunächst 1949 unter dem Titel „Lucifer ante portas. Zwischen Severing und Heydrich“ in einem Züricher Verlag und 1950 in einer leicht geänderten Fassung mit dem neuen Untertitel „Es spricht der erste Chef der Gestapo“ in Stuttgart. Memoiren haben nach allen Erfahrungen durchweg eine apologetische Tendenz. Dies entspricht nun einmal der menschlichen Natur. Fast alle Menschen wollen in einem guten Gedächtnis bleiben und dazu gehört, das Richtige gewollt und (möglichst) wenig falsch gemacht zu haben. Memoiren sind deshalb kritisch zu lesen. Dies gilt insbesondere für die aller Akteure des „Dritten Reiches“, also auch für die von Rudolf Diels. Gleichwohl sind seine Memoiren, trotz zahlreicher sachlicher Ungenauigkeiten, eine hochinteressante Quelle. Sie enthalten wichtige Fakten und lassen wegen ihrer Darstellungsweise und Wertungen Aussagen über Persönlichkeit und Sichtweise des Verfassers zu. Lehrreich ist das allemal. Deshalb wird bei dem Zeitraum, den sie behandeln, 1932 bis 1934, immer wieder auf sie zurückzukommen sein. Schließlich ist über ihn als Einzigen eine groß angelegte Biographie verfasst worden, entstanden als Dissertation und erschienen 2010.1 Die Personalakte von Rudolf Diels lagert in Moskau; der Biograph hat sie offenbar einsehen können. Diese materialreiche Studie bildet den zentralen Teil der Literatur über Rudolf Diels. Sie entwirft ein in sich stimmiges Persönlichkeitsbild, mag sie im Einzelnen auch zur Diskussion herausfordern. Weitere Erwähnungen sind verstreut über Dokumentationen, Memoiren und zahlreiche Darstellungen vor allem zur Endphase der Weimarer Republik und den Anfängen des „Dritten Reiches“, insbesondere der Gestapo. Ausführlicher wird in drei Publikationen auf Diels’ Persönlichkeit eingegangen. Eine Monographie über die Entwicklung der politischen Polizei Preußens zur Geheimen Staatspolizei enthält durchgängig biographische Bezüge.2 Eine Kurzbiographie ist in einer Festschrift der

1 2

Vgl. Klaus Wallbaum, Der Überläufer. Vgl. Graf, Politische Polizei z­ wischen Demokratie und Diktatur, darin auch eine „Biographie“ S. 317 ff.

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Rudolf Diels

Bezirksregierung Köln zum 150-jährigen Behördenjubiläum enthalten.3 Die Lebensdaten sind auch in mehreren personalgeschichtlichen Werken zusammengestellt.4

3.1 Herkunft, Kriegsteilnahme, Student und Freikorpskämpfer, Ausbildung Rudolf Diels wurde am 16. Dezember 1900 in Berghausen/Taunus als Sohn des Landwirts Friedrich Adolf Diels geboren. Der Geburtsort liegt nahe bei Katzenelnbogen, ­zwischen Limburg und Bad Schwalbach. Seine ­Mutter, Henriette, geborene Meyer-­Rotherhof, entstammte ebenfalls einer Landwirtsfamilie. Der Vater galt als wohlhabend; ihn als „Gutsbesitzer“ zu bezeichnen, wäre wohl zu hoch gegriffen. Diels besuchte in Wiesbaden ein humanistisches Gymnasium und legte dort auch das Abitur ab. Da die Entfernung z­ wischen Berghausen und Wiesbaden beträchtlich ist, wird er dort auch während der Schulzeit gewohnt haben. Diese Art des Schulbesuchs kann als Beleg für Bildungsehrgeiz angesehen werden. In einem für die SS abgefassten Lebenslauf schrieb Diels: „Ende 1917 meldete ich mich freiwillig zum Militärdienst; ich wurde Anfang 1918 bei der Nachrichten-­Abteilung IV in Hagenau im Elsass eingestellt.“5 Dies traf aber nur teilweise zu. Diels’ Abiturzeugnis stammt vom 15. September 1918; erst danach, also in der allerletzten Phase des Krieges, wurde er Soldat und wurde in der genannten Einheit als Funker eingesetzt. Wie er sehr viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg klarstellte, hat er an Kampfhandlungen nicht teilgenommen.6 Der Lebenslauf von 1935 ist von ihm zweckdienlich geschönt worden. Daraus kann man herauslesen, er hätte gerne tatsächlich an Kämpfen teilgenommen; eine aus heutiger Sicht jedenfalls fragwürdige Sehnsucht, die ihn mit anderen „Spätgeborenen“ seines Jahrgangs und der folgenden verband. Die Angaben, w ­ elche Diels zu seinem Studium machte, sind mit der Darstellung in der Literatur nur schwer in Einklang zu bringen. Fest steht, dass Diels von 1919 bis 1922 in ­Gießen und Marburg studierte, zuerst Medizin, dann Rechtswissenschaften. Der Studienbeginn dürfte im Winter 1919 gewesen sein. Im März und April war er als Angehöriger eines Marburger ­Studentenfreikorps an der Bekämpfung kommunistischer Aufstände in Thüringen beteiligt. Der Wechsel des Faches geschah wohl zusammen mit dem des Studienortes, nach Diels’ Angaben aus wirtschaftlichen Gründen. Ein Jurastudium war eben kürzer. Es erscheint aber völlig undenkbar, dass er, so der Lebenslauf von 1935, bereits Ende 1920 die erste Staatsprüfung bestanden habe, zumal er sich während seines Studiums auch der Psychologie zugewandt haben will. Tatsächlich war das Examensdatum der 3. Juni 1922 und die Note schlechter als von ihm später behauptet.7 Als Student wurde er Mitglied des reaktionären Korps Rhenania Straßburg zu Marburg, eine „schlagende Verbindung“. Nachdem das Elsass wieder französisch geworden war, hatte sie ihren Sitz von der „Reichsuniversität Straßburg“ an eine andere Universität verlegen müssen. „Schmisse“ im Gesicht, auf einer Photographie deutlich sichtbar, zeugen von Mensuren, die er geschlagen hatte. Ein Mitstudent, der später sein Feind wurde, sagte ihm nach: „Sein 3 4 5 6 7

Vgl. August Klein, in: Festschrift Köln, S. 111 ff. Vgl. Romeyk, Leitende Verwaltungsbeamte, S. 412 f; Schrulle, Verwaltung in Demokratie und Diktatur, S. 639. Abgedruckt bei Graf, Politische Polizei, Dok. 9, S. 410 f. Wallbaum, ebd., S. 14 und 43 f. Vgl. dens., ebd., S. 47.

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Ruf war nicht eben gut […]. Mitglied eines angesehenen Korps, schlug er den Rekord im Bierkonsum, Weibergeschichten waren ihm bereits damals eine Funktion seines aufregenden Lebens […].“ Dies war polemisch, aber nicht ohne wahren Kern.8 Nach Abschluss des Studiums trat Diels in den Vorbereitungsdienst für den preußischen höheren Verwaltungsdienst ein. Entsprechend dem Gesetz über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst absolvierte er zunächst ein Jahr als Gerichtsreferendar „bei Gerichtsbehörden“.9 Danach wurde er als Regierungsreferendar dem Regierungspräsidenten Kassel zur Ausbildung zugewiesen. Am 24. Oktober 1925, also noch jung, legte er die Große Staatsprüfung ab und wurde daraufhin zum Regierungsassessor ernannt. Es lassen sich hier also schon bestimmte Wesensmerkmale Diels’ erkennen, nationale Gesinnung des Kriegsfreiwilligen und die antikommunistische des Freikorpskämpfers. Die Mitgliedschaft in einer feudalen Studentenverbindung und das Schlagen von Mensuren dürfte ebenfalls prägend gewesen sein. Es konnte das Bewusstsein eines besonderen gesellschaftlichen Ranges im traditionellen Sinne, insbesondere der „Satisfaktionsfähigkeit“ vermittelt haben. Das bedeutete zugleich einen gesellschaftlichen Aufstieg aus den bereits durchaus reputierlichen agrarischen Herkunftsverhältnissen. Möglicherweise förderten die Mensuren ein gewisses Draufgängertum. Die Berufsentscheidung für die preußische Verwaltung ließ den Schluss auf eine hohe Staatsauffassung zu. Es fragte sich, ob er ein traditionsverhafteter Verwaltungsbeamter würde oder auch andere Züge entwickeln könnte.

3.2 Weimarer Zeit: Beamter der preußischen Innenverwaltung und Verbindung zur Deutschen Demokratischen Partei Üblicherweise wurden die neuen Regierungsassessoren zunächst „ortsnah“ in den Landratsämtern eingesetzt; sie sollten die Staatsverwaltung „von unten“ kennenlernen und dort ihre ersten Erfahrungen sammeln. Diels war bei den Landratsämtern Neuruppin und ­Teltow nahe Berlin in der Provinz Brandenburg eingesetzt, dazwischen in Peine in der Provinz Hannover. In dieser Zeit soll er wegen seiner guten Leistungen hochrangige Förderer gefunden haben. Mehrfach soll er auch für Landratsstellen vorgeschlagen worden sein. Es haben sich sogar preußische Landtagsabgeordnete für ihn eingesetzt.10 Das war aber nicht sehr realistisch; derart junge Beamten wurden in der Regel nicht zu Landräten bestellt. Diels war ja noch nicht Regierungsrat. Offenbar hat er es aber verstanden, durch Leistungen und Auftreten Vorgesetzte für sich einzunehmen. Überschattet wurde diese Zeit 1926 durch eine schwere Lungenerkrankung, ­welche Diels mehrfach zu längeren Kuraufenthalten zwang. Deren Kosten veranlassten ihn, seine Dienstbehörde um eine „Notstandsbeihilfe“ zu bitten. Dies sollte aber nicht so verstanden werden, er habe sein Geld nicht einteilen können. Die hohen Kosten solcher Kuren waren wahrscheinlich nicht vom Beamten selbst hinreichend abzudecken. Die Landtagsabgeordneten, die sich für ihn eingesetzt hatten, beriefen sich auf seine Mitgliedschaft in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Diese tendenziell linksliberale Partei stand in der Tradition der „Fortschrittspartei“ aus der Zeit der Monarchie. Wie schon 8 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 99. 9 Gesetz vom 10. August 1906 (GS., S. 378) in der Fassung des Gesetzes vom 8. Juli 1920 (GS., S. 388). 10 Vgl. dazu im Einzelnen Wallbaum, ebd., S. 47 ff, insbesondere S. 52 f, auch zur Erkrankung.

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erwähnt, bildete sie mit SPD und Zentrum das Modell der „Weimarer Koalition“. Seit 1925 stellte sie die parlamentarische Basis der Regierung des Ministerpräsidenten Otto Braun dar. Die DDP war aber bereits seit Januar 1919, dem zweiten Kabinett von Paul Hirsch (SPD), an allen preußischen Regierungen beteiligt, auch an denen der Zentrums-­Ministerpräsidenten Stegerwald und Marx. Es handelte sich hier also um eine Art „Scharnierpartei“. Sie wurde gebraucht, und das erleichterte ihr die politisch achtbare Leistung einer permanenten Regierungsbeteiligung trotz geringer Wahlerfolge. Ob Diels formelles Mitglied war, ist nicht gesichert, ein Eintrittsdatum unbekannt.11 Jedenfalls wurde er der DDP zugerechnet, und er verkehrte in Berlin im „Demokratischen Klub“, der von einem bekannten DDP-Mitglied geleitet wurde, dem Berliner Polizeivizepräsidenten Bernhard Weiß. Es mochte verwundern, dass das Mitglied eines „feudalen Korps“ sich einer Partei zuwandte, die fest auf dem Boden der Weimarer Verfassung stand. Dieser Typus von Verbindungen galt ja als reaktionär. Es gab aber bei dieser Partei einen anderen Anknüpfungspunkt für Diels, das Nationale, welches auch bei der liberalen DDP ein wesentliches Element war. Schließlich hatte sie sich ja geweigert, für die Annahme des Versailler Vertrages zu stimmen und deshalb die Regierung Scheidemann verlassen. Eine weitere Gemeinsamkeit soll das Eintreten für einen „starken Staat“ gewesen sein.12 Für einen Korpsstudenten wie Diels war eine ­solche Haltung nicht überraschend. Dafür werden auch zwei Zeugnisse angeführt. Zunächst die schriftliche Arbeit, ­welche Diels innerhalb der Großen Staatsprüfung im Sommer 1923 anfertigte. Ihr Gegenstand war das „Volksschulunterhaltungsgesetz“ von 1906. Und Diels gab dabei den Rechten des Staates den Vorrang gegenüber denen der K ­ irche. Diese Auffassung dürfte allerdings auch den Prüfern gefallen haben. Zum Zweiten veröffentlichte er zwei Jahre später in einer Fachzeitschrift einen in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel „Die Organisation der ländlichen Mädchenfortbildungsschulen im Kreise Neuruppin“.13 Ihm lagen die praktischen Erfahrungen aus d ­ iesem Kreis zugrunde; offensichtlich war Diels dienstlich damit befasst. In der Sache ging es darum, dass Mädchen auf dem Lande nach Abschluss der Volksschule drei Jahre diese Fortbildungsschule besuchen sollten. Diels beklagte die „Beharrungstendenz der Landbevölkerung“. Die Erkenntnis sei noch nicht Allgemeingut geworden, „daß die ländliche Hausfrau in vorderster Reihe an der sittlichen Erneuerung unseres Volkes mitzuarbeiten hat […].“ Er riet dann aber zu einem pragmatischen Weg insofern, „als sich überall da, wo geeignete Lehrkräfte vorhanden sind, die einzurichtende Schule selbst das Vertrauen der Bevölkerung erobert.“ Er schloss mit lobenden Erwähnungen des Landrats, der Schulräte sowie der Wiedergabe des Lobs eines Ökonomierats nach dem Besuch einer Schule. Der Aufsatz enthielt nationales Pathos, Realitätssinn und, psychologisch geschickt, ermunternde Freundlichkeiten. Einsatz für einen „starken Staat“ konnte man allenfalls darin erblicken, dass er dem preußischen Bildungsprogramm Geltung verschaffen will. Aber eine ganz andere Frage war, inwieweit die DDP für einen „starken Staat“ eintrat. Dies gehörte jedenfalls auf dem Felde der Wirtschafts- und Sozia­lpolitik nicht zur liberalen Tradition. Die DDP war allerdings für einen dezentralisierten Einheitsstaat, also eine umfassende Reichsreform. Darin konnte eine Hinwendung zu einem „starken Staat“ gesehen werden. Aussicht auf Realisierung d ­ ieses Ziels bestand in der Weimarer Zeit kaum. Im Zuge ihres politischen Niedergangs vollzog die DDP eine „Öffnung nach rechts“. 1930 verband sie sich mit 11 Zum Verhältnis Diels‘ zur DDP vgl. ders., S. 57 ff. 12 Dazu Wallbaum, ebd., S. 55 ff. 13 Zeitschrift für das ländliche Fortbildungsschulwesen in Preußen 1927, S. 640 ff, Zitate S. 640 f., 645.

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einer bündischen rechtsgerichteten Organisation, dem „Jungdeutschen Orden“, und nannte sich fortan „Deutsche Staatspartei“. Fatal war schon, dass die DDP, die „Partei der deutschen Juden“, sich mit einer Organisation vereinigte, die Juden von der Mitgliedschaft ausschloss. Der in der Partei insgesamt umstrittene Schritt brachte keinen Erfolg, im Gegenteil. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 erhielt die Deutsche Staatspartei nur 3 % der Stimmen gegenüber 5 % für die DDP 1928. Dann spaltete sich auch noch der „Jungdeutsche Orden“ kurz darauf wieder ab. Eine deutlich verkleinerte Partei mit größerer Nähe zu konservativeren Positionen blieb zurück, was Diels nicht gestört haben dürfte. Der ausschlaggebende Grund für Diels, sich der DDP anzuschließen, war womöglich ein ganz anderer, ohne dass es einen Beleg dafür gäbe. Die DDP war die karriereförderlichste Partei in Preußen. Die SPD war für den Freikorpskämpfer zu „links“, das Zentrum für den Protestanten zu katholisch. Die DDP hingegen war eine liberale Partei, die unterschiedliche Geister beherbergte. Ihr Erfolg in Personalangelegenheiten ließ sich allein schon daraus ablesen, dass vier der zwölf Oberpräsidenten ihr angehörten.14 Im März 1930 vollzog Diels einen privaten Schritt, der ebenfalls beruflich nur vorteilhaft gewesen sein konnte. Er heiratete H ­ ildegard ­Mannesmann, Tochter eines Remscheider Fabrikbesitzers aus dem gleichnamigen Hause. Dadurch stieg er in gesellschaftlich „höhere Kreise“ auf. Ein Jahr später, am 10. April 1931, gelang ihm dann beruflich ein großer Sprung. Ohne in einer Mittelinstanz tätig gewesen zu sein, wurde er Hilfsarbeiter im preußischen Ministerium des Innern. Danach war die Ernennung zum Regierungsrat im September 1931 eigentlich überfällig. Nach anfänglicher Tätigkeit in verschiedenen polizeilichen Aufgabengebieten wurde er bald in der dem Abteilungsleiter Dr. Klausener unmittelbar unterstellten „Politischen Gruppe“ der Polizeiabteilung im Aufgabengebiet „Linksradikalismus“ eingesetzt. Das war ein Arbeitsfeld, bei dem man von Diels hohe Motivation erwarten konnte. Bei seinem frühen Wechsel in die Ministerialinstanz hatten offensichtlich mehrere Faktoren zusammengewirkt. Diels war durch seine Leistungen positiv aufgefallen. Verschiedene Förderer hatten sich schon früh für ihn eingesetzt. Statt des dabei avisierten Amtes hatte er jetzt ein anderes achtbares erreicht. Für das Ministerium bot die Personalmaßnahme den Vorteil, den offenbar sehr ehrgeizigen ­jungen Mann im eigenen Hause und unmittelbar unter Beobachtung zu haben. Zudem war er ja politisch wohl beheimatet; Staatssekretär Abegg gehörte der Staatspartei an, und dem sozia­l­­demokratischen Innenminister Severing war der Koalitionsproporz in seinem Hause wichtig. In seinen Memoiren beschrieb Diels seine Kollegen, und damit auch sich selbst, folgendermaßen: Es verstand sich von selbst, dass die Beamten der Severingschen politischen Polizei […] sich wie die gesamte Beamtenschaft gegen den Hitlerismus immun erwiesen hatten. Sie waren Demokraten und keine Nationalsozia­listen […]. Die denkenden Beamten des Weimarer Preussen lehnten 15 auch den Kommunismus ab.

Dies waren seltsam gemischte, erstaunliche Sätze, der erste angesichts der folgenden Ereignisse unhaltbar, der zweite zweifelhaft, der dritte sicher zutreffend. Über sein Verhältnis zum Minister formulierte er: 14 Vgl. die Aufstellung bei Huber Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 766 f. 15 Diels, Lucifer ante portas, Ausgabe 1949, S. 34, das folgende Zitat S. 35, die einzelnen Bezeichnungen S. 122 f. Im Folgenden zitiert als Lucifer (49).

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Von dem weisen Minister Severing, dem Sozia­ldemokraten, trennte mich sein Wort von den Kommunisten als „den politischen Kindern“ […]. Ich fühlte mich indessen mit den anderen jüngeren Beamten seines Ministeriums so sehr als Schüler d ­ ieses verehrten Mannes […], dass mir heute noch eine kritische Bemerkung zu seiner Haltung schwer fällt.

Die Verehrung für Severing wirkt echt. An anderer Stelle bezeichnete er ihn gar als „Erzieher“, erwähnte aber sogleich sein Autodidaktentum und nannte ihn einen „Arbeiterminister“. Aber Severings Verhalten gegenüber den „Radikalen“ sei, so ließ Diels mehrfach erkennen, ungeeignet gewesen. Dies war ein erstaunlicher Vorwurf, wenn man nur bedenkt, dass die preußische Staatsregierung die treibende Kraft hinter dem SA-Verbot vom 13. April 1932 gewesen war. Ob das Vorgehen anderer und Diels’ eigenes Vorgehen geeigneter war, die „Radikalen“ einzudämmen, ist wohl nur eine rhetorische Frage.

3.3 Lieferant eines Vorwandes: Papens „Preußenputsch“ 1932 und die Folgen Seine Funktion im Ministerium und seine enge Verbindung zu Staatssekretär Abegg verschafften Diels im Sommer 1932 die Gelegenheit, selbst Akteur zu werden im Vorfeld einer hochpolitischen Aktion. Dies war die „Beseitigung“ der geschäftsführenden preußischen Regierung durch die Reichsregierung. Innenpolitisch hatte dies gravierende Auswirkungen, denen in der kollektiven Erinnerung bis heute zu wenig Beachtung geschenkt wird. Aber auch für Diels’ Berufs- und Lebensweg war dies eine überaus wichtige Wegmarke. Die Regierungskonstellationen in Preußen und im Reich wiesen im Juni 1932 Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede auf. Beide Regierungschefs hatten keine parlamentarische Mehrheit, gehörten politisch aber verschiedenen Lagern an. Der eine kämpfte um die Macht, der andere hatte resigniert. Wie schon in Kapitel 1 geschildert, war bei den preußischen Landtagswahlen im April die NSDAP stärkste Fraktion geworden, aber es gab keine klare Mehrheit. Die Regierung Braun war nur noch geschäftsführend im Amt; der Ministerpräsident selbst hatte sich zurückgezogen. Landespolitisch herrschte Stillstand. Der von der Reichwehrführung gekürte Nachfolger des entlassenen Brüning als Reichskanzler, von Papen, konnte sich im Reichstag nur auf die Deutschnationalen stützen. Um von den Nationalsozia­listen toleriert zu werden, hatte er bereits zwei Vorleistungen erbracht. Die Auflösung des Reichstags, bei dessen Neuwahl am 31. Juli ein großer Erfolg der NSDAP zu erwarten war, sodann die Aufhebung des SA-Verbots vom 13. April. Letzteres hatte zur Folge, dass, zumal aufgeheizt durch den Wahlkampf, die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen auf den Straßen wieder zunahmen und die Zahl der Opfer in die Höhe schoss. Um aus seiner Isolierung auszubrechen und sich Respekt zu verschaffen, setzte das Kabinett Papen bei der preußischen Regierung an.16 Ihm „[…] mußte an einer schnellen, sein Autoritäts­bedürfnis befriedigenden Ausschaltung jener größten Länderregierung liegen, die neben ihr in Berlin noch im Geiste der alten Weimarer Koalition amtierte.“ Die demokratische preußische Regierung war der Reichsregierung auf deren Weg zu einem antiparlamentarisch-­autoritären Staat 16 Zur Vorgeschichte und Ablauf des „Preußenputsches“ vgl. vor allem Bracher, Auflösung, S. 501 ff, das folgende Zitat auf S. 503; Graf, ebd., S. 54 ff; Schulz, Von Brüning zu Hitler, S. 924 ff; Schulze, Otto Braun, S. 740 ff; ­Wallbaum, ebd., S. 63 ff; Winkler, Weimar, S. 491 ff.

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im Wege. Insbesondere dem neuen Reichswehrminister war die zu wenig „reichswehrfreundliche“ preußische Regierung ein Dorn im Auge. Bei dem Vorgehen der Reichsregierung gegen Preußen ging es nicht um eine Art Reichsreform, sondern um die Befehlsgewalt über die preußische Polizei und mehr, um Macht, das Regiment in Preußen überhaupt. Denn Preußen war, wiewohl arg geschwächt, immer noch ein Bollwerk der Weimarer Republik. Ob zur „Politik der Vorleistungen“ von Papens auch ein Versprechen an Hitler gehörte, gegen die preußische Regierung vorzugehen, ist nicht belegt. Aber dies kann dahinstehen; denn das Ergebnis der Aktion kam letztlich den Nationalsozia­listen zugute. Zu dem Kanzler und dem Reichswehrminister trat als weitere treibende Kraft Reichsinnenminister Freiherr von Gayl. Ebenso wie der Reichskanzler, der 1925 als Landtagsabgeordneter für eine „Rechtskoalition“ in Preußen eingetreten war, zählte das DNVP -Mitglied von Gayl als Reichsratsbevollmächtigter der Provinz Ostpreußen und Mitglied des Staatsrates ebenfalls zu den Opponenten des Ministerpräsidenten Braun.17 Die Herren waren demnach durchaus nicht unbefangen. Um das Ziel zu erreichen, die preußische Staatsregierung auszuschalten, kam für die Reichsregierung als verfassungsrechtlicher Hebel nur Art. 48 WV in Betracht. Dieser enthielt im Wesentlichen zwei Tatbestände. Nach Abs. 1 konnte der Reichspräsident, wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllte, es mit Hilfe der bewaffneten Macht dazu anhalten. Er konnte nach Abs. 2, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wurden, die zu deren Wiederherstellung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Die dehnbare Bestimmung des Art. 48 WV war gerade in Krisenzeiten oft angewandt worden, von Ebert in den Inflationsjahren und von Hindenburg seit Beginn der Präsidialkabinette 1930. Nun machte Innenminister von Gayl in einer Ministerbesprechung am 11. Juli unter Leitung von Papens ausgerechnet die Schwäche der preußischen Regierung für das beunruhigende Ausmaß der kommunistischen Gefahr verantwortlich. Gegen den Innenminister Severing erhob er den eigenartigen Vorwurf, obwohl die nationalsozia­listische Bewegung immer stärker anwachse, gebe er der Polizei Befehle zu deren Bekämpfung. Auf Vorschlag von Gayls wurde beschlossen, einen Reichskommissar für Preußen zu bestellen. Diese Aufgabe solle der Reichskanzler übernehmen und dabei auch Unterkommissare einsetzen dürfen. Schon am nächsten Tag legte von Gayl dem Reichskabinett den Entwurf einer vom Reichspräsidenten auf Grund von Art. 48 zu erlassenden Notverordnung vor. Dabei berichtete er über „Verhandlungen“, die Staatssekretär Abegg im preußischen Innenministerium „wegen eines Zusammenschlusses der SPD mit der KPD“18 geführt habe. Diese Alarmmeldung machte Eindruck, und der Verordnungsentwurf wurde gebilligt. Dies sprach nicht für ein kühles Urteilsvermögen der Reichsminister; denn wegen der grundsätzlichen, oft von scharfen Auseinandersetzungen begleiteten Gegnerschaft von SPD und KPD lag ein solcher „Zusammenschluss“ völlig außerhalb der Realität. Zudem wäre Abegg, als Beamter und Angehöriger der Deutschen Staatspartei, kaum der richtige Mann dafür gewesen. Die Mitteilung von Gayls hatte allerdings insoweit doch einen realen Kern, als Abegg bereits am 4. Juni im Ministerium ein Gespräch mit kommunistischen Politikern, dem Reichstags­ abgeordneten Torgler und dem Landtagsabgeordneten Kasper geführt hatte. Dabei appellierte

17 Dazu Schulze, Otto Braun, S. 400 und S. 469. 18 Zitiert nach Schulz, ebd., S. 925.

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er an sie, für die Einstellung der Terrorakte ihrer Partei zu sorgen. Außerdem legte er ihnen nahe, die Kommunisten sollten von ihrer scharfen Opposition ablassen. Die Abgeordneten sagten zu, beides ihren Fraktionen und ihrer Parteiführung zu übermitteln. Bei dieser Besprechung war Diels zugegen. Abgesehen von seiner persönlichen Verbindung zu Abegg lag dies auch von der Sache her nahe. Er war ja der zuständige Referent für „Linksradikalismus“ und hatte die Einladung zu dem Gespräch übermittelt, es möglicherweise sogar „arrangiert“. Abegg hatte sich weit vorgewagt. Wegen der politischen Brisanz der Besprechung hätte nachher sogleich der Minister Severing informiert werden müssen. Schwer erklärlich ist, warum der Staatssekretär dies unterließ. Sein Verhalten ist differenziert, allerdings überwiegend kritisch bewertet worden 19: als ein Vorgehen, „so eigenmächtig wie politisch schädlich“, als Alleingang, „der seiner politischen Urteilsfähigkeit wie seiner Loyalität gegenüber seinem Vorgesetzten ein zweifelhaftes Zeugnis ausstellte“. Dem Vorwurf einer „Blauäugigkeit ersten Ranges“ ist entgegengehalten worden, es habe sich höchstens um „einen verzweifelten Versuch“ gehandelt, „der sich deutlich abzeichnenden Katastrophe entgegenzuwirken“.20 Nun schließen Blauäugigkeit und Verzweiflung sich nicht aus, und es spricht doch einiges dafür, dass der leidenschaftliche Republikaner geglaubt hatte, einen solchen Schritt wagen zu sollen. Eminent politisch wirkte das Gespräch erst durch das Zutun eines der Beteiligten, nämlich Diels’. Ob Abegg und Diels darüber gesprochen haben, dass der Minister informiert werden solle, ist nicht bekannt. Wenn der eigentlich als loyal geltende Staatssekretär das nicht tat, wäre es wegen der Loyalitätspflicht Aufgabe seines Mitarbeiters Diels gewesen, selbst auf die Gefahr hin, Abegg zu desavouieren. Diels handelte aber alles andere als pflichtgemäß. Stattdessen informierte er zwei deutschnationale Ministerialbeamte, ­welche die Information, wie nicht anders zu erwarten, ans Reichsinnenministerium oder ans Reichswehrministerium weitergaben. Das war offenbar sogar beabsichtigt, wie sich aus einer ebenso unbekümmerten wie entlarvenden Bemerkung Diels’ folgern lässt: „Sie dachten wohl, dass hier ein Steinchen für das Mosaik sei, das sie brauchten, und haben großen Wert darauf gelegt.“21 So gelangte schließlich die Information an den Reichskanzler. Der schrieb in seinem ersten Erinnerungsbuch von einer Mitteilung Schleichers, „ein hoher Beamter des preußischen Innenministeriums habe ihn in Kenntnis von Verhandlungen ­zwischen dem Staatssekretär Dr. Abegg und dem kommunistischen Abgeordneten Casper gesetzt.“22 In seinem zweiten hieß es dann, die Reichsregierung sei „vor allem auch“ alarmiert gewesen, „nachdem der Ministerialrat [sic!] Diels (preußisches Innenministerium) Material über eine Zusammenarbeit, die ­zwischen preußischer Regierung und KPD beabsichtigt war, beschafft [!] und vorgelegt hatte.“ Der Reichsinnenminister war auch informiert. Papens Erinnerungsbücher sind lügnerisch und deshalb noch kritischer zu lesen als Memoiren ohnehin. Der Gesprächsinhalt wurde von ihm wie auch von Gayl ungenau und aufgebauscht wiedergegeben, aber klar und deutlich tritt doch zu Tage, dass Diels der „Zuträger“ der angeblich so brisanten Nachrichten war.

19 Die folgenden Zitate bei Albrecht, Wehrhafte Demokratie, S. 315 Anm. 98; Schulze, Otto Braun, S. 740. 20 Einerseits Hans Mommsen und andererseits Petzold, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise, 1930 – 1933, München 1992, S. 102 und S. 107. 21 Zitiert nach Schulze, Otto Braun. S. 740. 22 Von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 216; folgendes Zitat aus „Vom Scheitern einer Demokratie“, S. 233. Schulze, ebd., S. 740, und Graf, ebd., verweisen hierauf.

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Hatte das Reichskabinett sich zunächst darauf verständigt, der Reichskommissar solle am 18. Juli eingesetzt werden, so brachte der preußische Innenminister diesen Zeitplan ins Wanken und bewies, dass er selbst jetzt noch zu kraftvollen Maßnahmen durchaus in der Lage war. An demselben 12. Juli, an dem der Entwurf der Notverordnung vom Reichskabinett gebilligt wurde, verpflichtete Severing durch einen unveröffentlichten Runderlass die Polizeibehörden, bei der Anmeldung von Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel scharf zu prüfen, ob ausreichende Polizeikräfte zum Schutz der Teilnehmer zur Verfügung stünden. Andernfalls ­seien die Veranstaltungen zu verbieten. Weiter forderte er durch Funkspruch schärfstes Vorgehen gegen unbefugtes Tragen von Waffen. Personen, die bewaffnet angetroffen wurden, sollten so lange wie möglich inhaftiert werden. So musste von Gayl in einer weiteren Ministerbesprechung am folgenden Tage einräumen, dass der preußische Innenminister in der Tat der Reichsregierung den Boden für die geplante Aktion in Preußen im Moment entzogen habe. Es sei abzuwarten, wie sich der Erlaß in Preußen auswirke. Deshalb müsse von dem gestrigen Beschluß über die sofortige Einsetzung eines Reichs23 kommissars Abstand genommen werden.

Der Reichswehrminister und die übrigen Minister stimmten zu. Zudem gab es Schwierigkeiten, eine Persönlichkeit zu finden, die das preußische Innenministerium kommissarisch leiten und so die Verfügungsgewalt über die preußische Polizei erhalten sollte. Gleichwohl begaben sich von Papen und von Gayl nach Neudeck, dem ostpreußischen Landsitz des Reichspräsidenten. Dort erlangten sie am 14. Juli dessen Unterschrift unter zwei Notverordnungen: die erste über die Einsetzung eines Reichskommissars, die zweite über die Verhängung des Ausnahmezustands in Berlin und der Provinz Brandenburg. Die Letztere war von der Reichsregierung vorsorglich mit beschlossen worden, ein Indiz, dass sie mit Widerstand rechnete. Wahrscheinlich zögerte Hindenburg zunächst mit der Unterschrift. Es spricht auch einiges dafür, dass die Diels’schen Informationen über das Gespräch Abeggs mit Torgler und Kasper eine wesentliche Rolle dabei spielten, den Reichspräsidenten umzustimmen. Als Hindenburg dann überzeugt war und unterschrieb, gab er dem Reichskanzler zugleich noch eine „Blankovollmacht“: Die Datierung der Notverordnungen wurde offengelassen. Es musste eben noch, so eine Formulierung von Gayls, „ein besonderer Anlass zum Eingreifen gefunden werden“.24 So ließ ­dieses scheinbar nur technische Detail das Verfassungswidrige der Absichten der Reichsregierung klar hervortreten. Der „besondere Anlass“ ergab sich nur wenige Tage später durch unfassbar brutale Zwischen­ fälle am 17. Juli in Altona. Dies gehörte damals noch zu Preußen. Nach mehreren politischen Morden, die zu großer Unruhe in der Provinz geführt hatten, verhängte der zuständige Regierungspräsident von Schleswig, Waldemar Abegg, Bruder des Staatssekretärs, für das nächste Wochenende ein Demonstrationsverbot. Unbegreiflicherweise nahm er aber die Großstadt Altona aus. Wegen dieser Fehlentscheidung konnte ein Aufmarsch der SA durch „rote Hochburgen“ stattfinden. Die beabsichtigte Provokation gelang vollkommen mit tragischem Erfolg. Es kam zu einer Straßenschlacht ­zwischen SA, Kommunisten und Polizei, die 17 Tote und über hundert Verletzte forderte, der „Altonaer Blutsonntag“.

23 Zitiert nach Winkler, Weimar, S. 492. 24 Zitiert nach Schulz, Zwischen Brüning und Hitler, S. 929.

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Dieses schreckliche Ereignis, welches ja auch die Folge eines administrativen Versagens war, hätte eine energische Reaktion von Regierungsseite nahegelegt, die letztlich zu personellen Konsequenzen für Regierungs- und Polizeipräsident geführt haben würde. Severings Reaktion war aber verhalten. Er erfuhr in Kiel von den Ereignissen und unterbrach seine Rückfahrt nach Berlin deshalb in Altona. Längere Zeit verbrachte er mit Erkundungen und Gesprächen vor Ort mit dem Polizeipräsidenten. Gegen zwei Uhr morgens meldete sich in dessen Büro telefonisch aus Berlin eine Stimme vom „Minister des Innern“ und bekam den Minister persönlich an den Apparat. Später stellte sich heraus, dass „der Regierungsrat Diels ein sehr beachtliches Interesse um das Wissen bekundet hatte, wie der Sonntag in Altona abgelaufen war.“25 Diels’ Interesse war sicherlich mehr von seiner Rolle als Informant denn sachlich bestimmt. Unterdessen wurde in Berlin allgemein damit gerechnet, bald werde ein Reichskommissar in Preußen eingesetzt, und die Nationalsozia­listen forderten ihn lauthals. Diels musste seine Rolle weiterspielen und wurde bald darin auch gefordert. Der nunmehr als kommissarischer Innenminister ausersehene Essener Oberbürgermeister Franz Bracht war am 19. Juli, dem Vorabend der geplanten Aktion, nach Berlin gekommen. Bei einem Abendessen „mit Damen“ in der Reichskanzlei sollten noch die Einzelheiten festgelegt werden. Danach, kurz vor Mitternacht, begab sich Bracht zusammen mit dem Staatssekretär der Reichskanzlei, Erwin Planck, und anderen Beamten in die Wohnung des Regierungsrats Diels, um dessen Abegg belastende Äußerungen nochmals anzuhören. Offenbar waren sie für Bracht nicht ganz glaubhaft, oder sie sollten „passend“ gemacht werden. Es stellte schon einen seltsamen und befremdlichen Vorgang dar, dass diese Gruppe hoher staatlicher Funktionsträger in dieser Situation und zu dieser Uhrzeit die Privatwohnung eines vergleichsweise dienstjungen und deutlich rangniedri­ geren Beamten aufsuchte. Das hatte etwas Unseriöses, ja, Verschwörerisches an sich. Diels aber fühlte sich wohl geschmeichelt. Eigentümlichkeiten wies auch der über das Gespräch vom ständigen Protokollführer der Reichskanzlei erstellte Vermerk auf, der in seiner Diktion eine Mischung aus Dramatik und sachlicher Unschärfe enthielt und vom 25. Juli datierte, möglicherweise nicht unbeeinflusst von den Ereignissen der folgenden Tage. Bei den Formalien wurden nach Datum, Uhrzeit, Dauer und Ort als Teilnehmer der Besprechung auch die preußischen Ministerialräte Landfried aus dem Handels- und Schütze aus dem Innenministerium angeführt.26 Eingangs des inhaltlichen Teils heißt es einer Fanfare gleich: „Herr Diels führte aus, dass er gegen den Staatssekretär Dr. Abegg den Vorwurf eines Konspirierens mit kommunistischen Führern erheben müsse.“ Auf eine entsprechende Anfrage Abeggs habe er die Abgeordneten Torgler und Kasper zu einer Unterredung in das Preussische Ministerium des Innern gebeten […]. Abegg habe wohl zunächst nicht bemerkt, dass Diels in seinem Zimmer geblieben sei, weil er, Diels, sich im Hintergrunde des Zimmers aufhielt. Diels habe aber dann an der Unterredung teilgenommen.

Schon dies war eine wenig glaubhafte Darstellung. Fraglich ist, warum Abegg Diels nicht als Gesprächsteilnehmer hätte haben wollen, da er ihm bis zu d ­ iesem Zeitpunkt noch vertrauen konnte und er ein willkommener Zeuge gewesen wäre. Zunächst habe Abegg die 25 Darstellung und Zitat aus Severing, Mein Lebensweg II, S. 346. 26 Vermerk abgedruckt bei Graf, ebd., Dokumentenanhang Nr. 6, S. 407 f; daraus auch die Zitate. Zur Zuträgerrolle von Landfried und Schütze Graf, ebd., S. 66 und S. 383.

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kommunistischen Abgeordneten „wegen der blutigen Zusammenstöße“ und ihrer „scharfen Opposition“ zur Rede gestellt. „Die preußische Regierung habe doch nichts Wesentliches gegen die Kommunisten einzuwenden […].“ Den Kommunisten könne doch auch nichts an einer Machtübernahme der Nationalsozia­listen oder der Einsetzung eines Reichskommissars gelegen sein. Es folgte ein ominöser Absatz: „Von größtem politischen Vorteil werde es sein, wenn die preussische Polizei Dokumente bei den Kommunisten beschlagnahmen könnte, ­welche die Legalität der Kommunisten erwiesen. Die Beschlagnahme solcher Dokumente müsste sich unschwer ermöglichen lassen.“ Diels war erkennbar bemüht, die Angelegenheit aufzubauschen und Abegg als „Kommunistenfreund“ darzustellen. Offenbar glaubte er, so den Erwartungen seiner Gesprächspartner und damit der Papen-­Regierung zu entsprechen. Er musste aber im Weiteren deutlich werden lassen, dass es sich lediglich um einen unverbindlichen Gedankenaustausch gehandelt habe: „Nach Angabe des Regierungsrats Diels sind die beiden Abgeordneten auf diesen Vorschlag nicht eingegangen […]. Ein positives Ergebnis hat die Unterredung nach Mitteilung des Regierungsrats Diels nicht gehabt.“ Seine abschließenden Erklärungen waren von der Absicht bestimmt, Minister und auch den eigenen Abteilungsleiter als handlungsfähig erscheinen zu lassen und nicht zu beschädigen. Severing sei am fraglichen Vormittag „nicht im Amt“ gewesen, habe nachher offenbar von der Unterredung gehört und Abegg in Gegenwart von Beamten, unter denen sich auch Diels befunden habe, scharf getadelt. Er allein habe die Politik zu bestimmen, nicht der Staatssekretär. Der Leiter der Polizeiabteilung, ­Klausener, sei auf Weisung Abeggs von ihm (Diels) dahingehend unterrichtet worden, es sei bei dem Gespräch um Polizeifragen gegangen. Klausener habe jedoch erwidert, er glaube das „bestimmt nicht“. Zugespitzt ausgedrückt, die Angelegenheit war hoch konspirativ, Abegg Alleintäter, Diels sein fast willenloses Werkzeug. Die Reichsregierung bekam das Material, das sie brauchte. Und sie sollte es auch gebrauchen. Am Morgen des 20. Juli 1932 begaben sich dann der stellvertretende Ministerpräsident ­Hirtsiefer, Finanzminister Klepper und Innenminister Severing in die Reichskanzlei. Sie waren zwei Tage vorher einbestellt worden, vorgeblich wegen finanz- und agrarpolitischer Angelegenheiten. Nun wurden sie vom Reichskanzler ohne jede vorherige Unterrichtung, aber immerhin in höflicher Form über die getroffenen Entscheidungen ins Bild gesetzt.27 Allerdings kann in einer solchen Situation übergroße Höflichkeit ein Mittel der Camouflage, wenn nicht gar der Täuschung sein. Die Dinge hätten sich in Preußen so entwickelt, ließ Papen hören, dass er den Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung um eine Notverordnung habe bitten müssen, und verlas deren Text.28 Eine genauere Begründung gab er nicht; von Abeggs Gespräch mit Torgler und Kasper war mit keinem Wort die Rede. Die Notverordnung war allerdings nicht allein auf den für eine s­ olche Konstellation gedachten Art. 48 Abs. 2 WV gestützt, sondern auch auf Abs. 1, der ja eine Pflichtverletzung des betreffenden Landes voraussetzte. Die Tatbestandsmerkmale des Abs. 1 wurden aber nicht genannt, geschweige denn mit Tatsachen unterlegt. Auch eine Mängelrüge seitens des Reiches war bis dahin nicht erhoben worden. Der Reichskanzler wurde durch die Verordnung zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt und in dieser Eigenschaft ermächtigt, die Mitglieder 27 Besprechungsniederschrift abgedruckt in: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Nr. 446, S. 509 f; darin auch die im Weiteren erwähnten Dokumente ­dieses Tages. 28 VO des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit im Gebiet des Landes Preußen vom 20. Juli 1932 (RGBl., S. 377).

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des Preußischen Staatsministeriums ihres Amtes zu entheben und selbst die Dienstgeschäfte des Preußischen Ministerpräsidenten zu übernehmen; dessen Befugnisse stünden ihm alle zu. Papen gab sodann kund, er habe den Ministerpräsidenten Braun und den Minister des Innern Severing ihrer Ämter enthoben, also in der Tat selbst die Dienstgeschäfte des Ministerpräsidenten übernommen. Es kam nun zu mehreren Wortwechseln. Severing protestierte sofort „gegen diese Maßnahme“, sie sei verfassungswidrig und die Voraussetzungen von Art. 48 Abs. 1 bestimmt nicht erfüllt. Er weiche nur der Gewalt. Papen betonte daraufhin, was eine bare Selbstverständlichkeit war, den preußischen Ministern könne nicht verwehrt werden, den Staatsgerichtshof anzurufen. Der Reichskanzler gab sich ersichtlich nur wenig Mühe, den Eindruck eines Zwangsakts des Reiches zu vermeiden. Auf Fragen Hirtsiefers, warum die Reichsregierung keine Mängel gerügt habe, die ihrer Ansicht nach zu rügen s­ eien, und was die Länder über diesen Schritt des Reiches denken würden, verwies Papen wiederum auf eine mögliche Entscheidung des Staatsgerichtshofs und bat Severing, „keine Schwierigkeiten zu machen“. Auf wiederholtes Nachfragen Papens, was er unter Gewalt verstehe, antwortete Severing schließlich, er werde jetzt sofort in sein Amtszimmer gehen und es nur räumen, wenn er verhaftet werde. Niemals habe er seine Pflichten als preußischer Minister des Innern verletzt; auch habe er die Pflicht, auf seinem Posten zu verbleiben. Nun wurde der Protokollführer vom Staatssekretär der Reichskanzlei zu dem im Gebäude wartenden Bracht geschickt, um ihn zu unterrichten. Die Besprechung war kurz darauf beendet. Unmittelbar nachdem die preußischen Minister die Reichskanzlei verlassen hatten, wurde die zweite Notverordnung angewandt, die über Berlin und die Provinz Brandenburg den Ausnahmezustand verhängte.29 Der Begriff kam zwar in der Verordnung nicht vor, aber ihr Inhalt lief darauf hinaus. Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt, die vollziehende Gewalt dem Reichswehrminister übertragen und drakonische Strafbestimmungen erlassen. All das bedeutete: Widerstand gegen die Reichsregierung konnte mit militärischen Mitteln bis hin zur Anwendung des Standrechts gebrochen werden. Im Verlauf des Tages vollzog sich dann der Machtwechsel. Otto Braun erhielt am Vormittag durch Boten ein Schreiben des Reichskanzlers überbracht, in dem dieser ihm mitteilte, nachdem er durch eine Verordnung des Reichspräsidenten zum Reichskommissar für Preußen bestellt worden sei, enthebe er ihn seines Amtes als Ministerpräsident. Nähere Begründung und Grußformel fehlten. Auch die anderen preußischen Minister wurden durch Kommissare ersetzt. Sie hatten zuvor Papen in einem Brief mitgeteilt, die Preußische Staatsregierung habe den Staatsgerichtshof angerufen. Sie würden einer Einladung zu einer „Sitzung der Staats­ regierung unter Vorsitz des Herrn Reichskanzlers oder Reichskommissars“ nicht Folge leisten. Am Nachmittag wurde die Führungsspitze des Berliner Polizeipräsidiums abgelöst: Polizeipräsident Grzesinski, dessen Vertreter Bernhard Weiß und der Schutzpolizeikommandeur Oberst Heimannsberg. Diese entschiedenen und energisch handelnden Republikaner waren bei der Rechten verhasst, und der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels hatte dringend ihre Absetzung gefordert. Abegg und drei weitere preußische Staatssekretäre verloren ihre Ämter. Severing verließ abends das Innenministerium, nachdem ihm polizeiliche Entfernung aus seinem Dienstzimmer angedroht worden war.

29 VO des Reichspräsidenten betreffend Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Groß-­ Berlin und in der Provinz Brandenburg vom 20. Juli 1932 (RGBl., S. 377).

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Am Nachmittag schon war z­ wischen Allgemeinem Deutschen Gewerkschaftsbund und SPD-Vorstand endgültig die Entscheidung gefallen, auf Widerstand zu verzichten und nicht zum Generalstreik aufzurufen. In der Reichshauptstadt blieb an ­diesem Tage alles ruhig, und auch außerhalb Berlins fühlte sich die Arbeiterschaft nicht zur Aktion gedrängt. So wurde das republikanische Bollwerk Preußen ohne auch nur einen Versuch des Widerstands erstürmt. Es war lange umstritten, ob SPD und Gewerkschaften nicht doch Widerstand hätten leisten können – und dann auch sollen. Heute überwiegt die Auffassung, Gegenwehr sei nicht möglich gewesen.30 Die SPD war durch die Tolerierungspolitik gegenüber der Präsidialregierung Brüning geschwächt, die Gewerkschaften waren durch die wirtschaftliche Depression ausgezehrt. Von Generalstreik war ernsthaft nicht die Rede. Schließlich ist noch zu bedenken, welches Erfolgsrisiko es für die in ihrer Legitimation seit den Landtagswahlen geschwächte preußische Staatsregierung bedeutet hätte, die Polizei einzusetzen. Die Reichswehr, entschlossen, Widerstand zu brechen, war stärker als Polizei und „Reichsbanner“. Uneingeschränkt zuverlässig war die Polizei ohnehin nicht mehr. Zudem unterstand sie seit dem Morgen dem „Inhaber der vollziehenden Gewalt“. Ein Einsatzbefehl der Staatsregierung hätte sie vor eine Zerreißprobe gestellt. Die Reichsregierung gab am 20. Juli eine „Amtliche Mitteilung“ über das Einschreiten in Preußen“ heraus. Darin behauptete sie, die Selbstständigkeit des Landes Preußen im Rahmen der Reichsverfassung werde nicht angetastet. Die Reichsregierung erwarte vielmehr, dass „alsbald eine baldige Beendigung des auf Grund der Notverordnung geschaffenen Zustandes eintreten wird“. Das sollte sich als unzutreffend erweisen; verräterisch war das zweifache „bald“. Weiter hieß es, die kommunistischen Unruhen, deren die preußische Regierung nicht Herr werde, ­seien Grund des Eingreifens gewesen. Der nationalsozia­listische Anteil an den Straßenschlachten wurde bezeichnenderweise außer Acht gelassen, stattdessen moniert: „In Preußen hat die Reichsregierung die Beobachtung machen müssen, daß Planmäßigkeit und Zielbewußtsein der Führung gegen die kommunistische Bewegung fehlen.“ Es folgte eine undeutliche Anspielung auf das Abegg-­Gespräch: „Es besteht der begründete Verdacht, daß hohe preußische Dienststellen in Berlin und an anderen wichtigen Punkten nicht mehr die innere Unabhängigkeit besitzen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig ist.“ Das habe Vertrauen zerstört und die Zusammenarbeit unmöglich gemacht; als ob es beides vorher gegeben hätte. Papen hielt am Abend über alle deutschen Rundfunksender eine Rede, in der er seinen Akt des machtpolitischen Durchgriffs auf dem Weg zu einem autoritären Staat zu rechtfertigen suchte.31 Dabei schlug er einen pathetisch-­moralisierenden Ton an und argumentierte nach dem einfachen Muster, die Kommunisten ­seien die Todfeinde von Staat und Gesellschaft, und die preußische Staatsregierung habe sich nicht genügend von ihnen distanziert, ja sogar gewissermaßen mit ihnen paktiert. Als nur geschäftsführende Regierung sei sie von der taktischen Haltung der Kommunisten abhängig. Nach längeren Ausführungen über die zerstörerischen Kräfte des Kommunismus erhob Papen einen für ihn kennzeichnenden Vorwurf: Weil man sich in maßgeblichen politischen Kreisen nicht dazu entschließen kann, die politische und moralische Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozia­listen aufzugeben, ist jene unnatürliche Frontenbildung entstanden, die die staatsfeindlichen Kräfte des Kommunismus in eine Einheitsfront gegen die aufstrebende Bewegung der NSDAP einreiht.

30 Vgl. zuletzt Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 292. 31 Abgedruckt in: Preussen contra Reich (Anhang), S. 482 ff. Die folgenden zwei Zitate auf S. 483 f.

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Die Reichsregierung habe spätestens handeln müssen, als dies auf Maßnahmen verantwortlicher Regierungsstellen Preußens übergegriffen habe. „Wenn beispielsweise hohe Funktionäre des preußischen Staates ihre Hand dazu bieten, Führern der Kommunistischen Partei Verschleierung ihrer Terrorabsichten zu ermöglichen“, werde die Autorität des Staates auf unerträgliche Weise untergraben. Papen wiederholte den der Beschwichtigung dienenden Satz, die Maßnahmen richteten sich nicht gegen die Selbstständigkeit Preußens, fügte hinzu, sie dienten auch der geordneten Durchführung des Reichstagswahlkampfes, und schloss mit der Versicherung, die Reichsregierung werde den von ihr als richtig erkannten Weg fortsetzen. Papens Ansprache, zwar etwas konkreter formuliert als die „Amtliche Mitteilung“, arbeitete aber auch mit nachweislich falschen Behauptungen, argumentierte einseitig und zeigte in erschreckender Deutlichkeit, dass er das Wesen des Nationalsozia­lismus völlig verkannte. Die Informationen Diels’ über das Abegg-­Gespräch, die er in der Nacht zum 20. Juli Bracht gegenüber noch zugespitzt hatte, stellten ein ganz wesentlich rechtfertigendes und zugleich handlungsförderndes Moment für das Vorgehen der Reichsregierung dar. Dreimal wurden sie „benutzt“, gegenüber Hindenburg wahrscheinlich, erkennbar in der Amtlichen Mitteilung und in Papens Rundfunkrede. Den preußischen Ministern gegenüber hatte Papen sie wohlweislich nicht erwähnt, weil Severing ihnen hätte sogleich entgegentreten und ihre Unwahrheit dartun können. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten wurde die „Säuberung“ der preußischen Verwaltung in mehreren Schüben und immer größerem Ausmaß fortgesetzt.32 Neben den Ministerialdirektoren Badt und Brecht, beide stellvertretende Reichsratsbevollmächtigte der preußischen Regierung, wurden 5 von 12 Oberpräsidenten, 10 von 34 Regierungspräsidenten und zahlreiche Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand versetzt, später folgte noch eine größere Anzahl Landräte. Insgesamt wurden über hundert Beamte zum überwiegenden Teil in den einstweiligen Ruhestand versetzt oder zu einem geringeren Anteil zwangsweise beurlaubt. Sie waren zumeist Mitglieder der Koalitionsparteien, vor allem von SPD und Deutscher Staatspartei, oder standen ihnen nahe. Alle wurden durchweg durch konservative Beamte ersetzt, oft Deutschnationale. In der Provinz Westfalen und der Rheinprovinz, beide Hochburgen des Zentrums, gingen Papen und Bracht etwas vorsichtiger zu Werke. Die dieser Partei angehörenden Regierungspräsidenten in Aachen und Köln blieben in ihren Ämtern. Ihr Münsteraner Kollege Rudolf Amelunxen, ebenfalls Zentrum, musste aber gehen. Er hatte einmal wegen einer abschlägigen Entscheidung den persönlichen Unmut Papens erregt. In Köln allerdings wurde der Polizeipräsident Bauknecht (SPD) durch den Polizeioberst Lingens ersetzt, einem typischen konservativen Fachbeamten.33 Bei dessen Amtseinführung zeigte sich, wie sehr sich die Atmosphäre geändert hatte. Regierungspräsident Elfgen wandte sich gegen den „Terror der KPD“; die Nationalsozia­listen ließ er unerwähnt. Bezeichnenderweise hatte Gauleiter Grohé kurz zuvor in einer Rede gefordert, das Regierungspräsidium müsse sich „den staatlichen und völkischen Notwendigkeiten“ anpassen. Der Personalwechsel ging aber noch weiter bis zu den Diensträngen der Regierungsräte. Im November wurden zahlreiche Ministerialbeamte als „Sparmaßnahme“ aus ihrer Stellung entfernt. Betroffen waren auch hier zumeist Angehörige der Weimarer Parteien. Unter den neu ernannten Beamten befanden sich auffällig viele Adelige; Angehörigen der alten Eliten sollte wohl wieder mehr Einfluss verschafft 32 Hierzu und zum Folgenden vgl. Bracher, Auflösung, S. 517 ff; Winkler, Weimar, S. 503; Runge, D ­ emokratisierung, S. 237 ff; Graf, ebd., S. 71 ff. 33 Vgl. Jung, Gleitender Übergang, S. 75 ff. Zum Folgenden Matzerath, Oberbehörden, S. 123.

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werden. Rudolf Diels selbst war im August zum Oberregierungsrat befördert worden, nach einem knappen Jahr als Regierungsrat ungewöhnlich früh. Die Innenminister Severing und Grzesinski hatten die „Republikanisierung“ und damit auch „Demokratisierung“ der Innenverwaltung und der Polizei weit vorangetrieben, mochte diese Politik auch einzelne Mängel aufgewiesen haben. Das „Aufbauwerk“ konnte zwar nicht den Beamtenapparat insgesamt reformieren; dazu hätte es eines längeren Zeitraums des Nachwachsens republiktreuer Beamter bedurft. Aber, wie in Kapitel 1 dargestellt, es war schon viel gewonnen, wenn die Behördenleitungen es in ihrer großen Mehrheit waren. Die Kommissariatsregierung machte die Erfolge dieser Personalpolitik binnen weniger Monate großenteils zunichte. Dies als „Festigung des Fachbeamtentums“ zu bezeichnen und von einer „Wiederherstellung der Überparteilichkeit der Staatsverwaltung“ zu sprechen, hieße, die Dinge auf den Kopf stellen.34 Eine ­solche Sicht ist traditionalistisch und gründet auf der Illusion, nur eine hochkonservativ „parteilose“ Beamtenschaft könne qualifizierte Arbeit leisten. Die Kommissariatsregierung überschritt aber mit ihrer Handlungsweise die Grenzen eines Kommissariats. Der Reichskanzler wollte offenbar als Reichskommissar einer anderen politischen Richtung in Preußen Geltung verschaffen. Seine Beschwichtigungsreden waren bloße Rhetorik gewesen. Die weitere Folge dieser Politik sollte sein, dass im Jahr darauf die Nationalsozia­listen den Übergang in die Diktatur mit einem von kämpferisch verfassungstreuen Beamten weitgehend „gesäuberten“ Verwaltungs- und Polizeiapparat leichter würden vollziehen können. Es ist keine Übertreibung, Diels einen persönlichen Anteil an dieser Entwicklung zuzuschreiben. Aber es ging der Kommissariatsregierung nicht allein um Personalien, vielmehr auch um neue Inhalte. Dies betraf vor allem, wie schon erkennbar wurde, die Einstellung gegenüber dem Nationalsozia­lismus und führte dementsprechend zu einer anderen Schwerpunktbildung auch auf dem Arbeitsgebiet von Rudolf Diels, der politischen Polizei. Der Bekämpfung des Linksradikalismus wurde nun in ganz einseitiger Weise der Vorrang eingeräumt, während die meisten nationalsozia­listischen Organisationen und Aktivitäten eine weitgehende faktische Duldung, wenn nicht gar Legalisierung erfuhren. Grundsätzlich zeigte sich dies darin, dass, wie in Kapitel 2 geschildert, der bekannte „Unvereinbarkeitsbeschluss“ des Preußischen Staatsministeriums über die Teilnahme von Beamten an der NSDAP und an der KPD vom 25. Juni 1930 von der Kommissariatsregierung aufgehoben wurde, „soweit er sich auf die Nationalsozia­listische Deutsche Arbeiterpartei bezieht“.35 Allgemeinpolitisch war dies ein unheilvolles Signal; es lag auf der Linie, ­welche die Reichsregierung und der Kanzler selbst schon deutlich gemacht hatten. Die Nationalsozia­listen sollten zur Mitarbeit gewonnen und dadurch womöglich „gezähmt werden“. Beamtenpolitisch war der Änderungsbeschluss vor allem hinsichtlich der Polizei fatal.36 Denn der nationalsozia­listische Einfluss gerade auf die Polizei nahm zu, weil seit ihren ersten Wahlerfolgen die Partei die Beamtenschaft massiv einzuschüchtern versuchte und zugleich umwarb. Auf die Dauer blieb dies selbst bei loyalen Beamten nicht ohne Wirkung. Die Konsequenzen des politischen „Rechtsschwenks“ in Preußen für die Polizei lassen sich noch an weiteren Beispielen aufzeigen. Um die Jahreswende 1932/33 war in der Abteilung I des Berliner Polizeipräsidiums, w ­ elche ja eine Zuständigkeit als Nachrichtenzentrale für ganz Preußen besaß, nur noch ein Dezernat vorgesehen, das sich mit der NSDAP befassen sollte, dagegen 34 So aber Huber in seiner renommierten Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1034. 35 Beschluss des Staatsministeriums (Kommissare des Reichs) vom 27. Juli 1932, MBliV., Sp. 773. 36 Zum Folgenden vgl. Graf, ebd., S. 85 ff.

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fünf waren auf die KPD und mit ihr verbundene Organisationen ausgerichtet. Die ebenfalls in dieser Abteilung Anfang 1932 eingerichtete „Zentralstelle zur Beobachtung und Bekämpfung der staatsfeindlichen Zersetzung in Reichswehr und Polizei“ wurde personell verstärkt und befasste sich in ihren regelmäßigen Berichten fast ausschließlich mit kommunistischen Aktivitäten. Die weitere kennzeichnende Maßnahme traf Diels selbst. Er beauftragte am 16. August 1932 das Landeskriminalpolizeiamt Berlin telefonisch, über die bisher mitzuteilenden Angelegenheiten hinaus auch über SPD und Reichsbanner für ganz Preußen zusammenfassend zu berichten. Wenn die uneingeschränkt verfassungstreue Partei und der ihr nahestehende Verband zum Schutz der Republik in das Visier der politischen Polizei genommen wurde, zeigte dies deutlich, wie es um den Weimarer Staat stand. Aus heutiger Sicht erscheint es wie ein Vorspiel auf die im Jahr darauf einsetzende politische Verfolgung. Es könnte zudem für eine gute „Witterung“ Diels’ sprechen. Der Versuch der preußischen Staatsregierung, der Reichsregierung gerichtlich entgegenzutreten, misslang zunächst.37 Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich lehnte am 25. Juli deren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Die Staatsregierung hatte damit unter anderem das Ziel verfolgt, den Reichskommissaren die dauernde Ernennung und Absetzung von Beamten zu untersagen. Der Staatsgerichtshof begründete seinen Spruch damit, der Entscheidung in der Hauptsache nicht vorgreifen und insbesondere eine Spaltung der preußischen Staatsgewalt vermeiden zu wollen. Im anschließenden Hauptverfahren spielte das „Abegg-­Gespräch“ wieder eine wesentliche Rolle. Die in den vorbereitenden Schriftsätzen enthaltenen oder ihnen beigefügten Darstellungen Abeggs und Diels’ über das Gespräch mit den kommunistischen Abgeordneten gingen weit auseinander, zumal Diels seine neuerliche Aussage gegenüber der vom 19. Juli noch ausschmückte und anders akzentuierte. Im Kern blieb er bei der Behauptung, Abegg habe Torgler und Kasper gesagt, die Kommunisten sollten ihre Terrorakte in bestimmter Weise verschleiern, was Abegg vehement abstritt. Im Oktober 1932 fand die mehrtägige mündliche Verhandlung statt. Der Prozessvertreter der Staatsregierung, Ministerialdirektor Brecht, griff den eklatanten Unterschied z­ wischen den beiden Darstellungen auf. Jeder, der den seit langem in preußischen Diensten stehenden Abegg kenne, wisse, dass dieser s­ olche ungeheuerlichen Äußerungen nicht getan haben könne, Abegg sei denn geisteskrank geworden. Der Staatssekretär habe genau das Gegenteil gesagt, die Kommunisten sollten alle Terrorakte lassen und ihre Führer dies auch durchsetzen. Die Staatsregierung würde gerne eine Beweiserhebung sehen. Weiter rügte Brecht Diels auch wegen seines Informationsverhaltens. Er sei nicht zu Severing gegangen, sondern „zu anderen“. Severing hat dieser Darstellung Brechts in seinen Lebenserinnerungen ausdrücklich zugestimmt; damit wurden seine früheren Äußerungen in einem Spruchgerichtsverfahren gegen Diels hinfällig, nach denen er eher in Abegg einen „Verräter“ gesehen hatte.38 Brecht versagte sich auch nicht den Hinweis, Diels sei befördert worden „zunächst als einziger außer dem Polizeipräsidenten“. Der Staatsgerichtshof erachtete aber eine Beweiserhebung nicht als notwendig. Prozessual mochte dies richtig gewesen sein; möglicherweise schreckte das Gericht untergründig davor zurück, die Darstellung der Reichsregierung könnte sich als unzutreffend erweisen. Deshalb

37 Vgl. im Einzelnen die Dokumentation „Preussen contra Reich“; zu den Schriftsätzen Bracher, Auflösung, S. 508. 38 Severing, ebd., S. 342; zum Spruchgerichtsverfahren Wallbaum, S. 70. Ferner Graf, ebd., S. 61.

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konnte nicht gerichtlich festgestellt werden, dass Diels zumindest stark übertrieben oder gar die Unwahrheit gesagt hatte. Die Geschichtsschreibung hält überwiegend die Version Abeggs für glaubwürdiger. Am 25. Oktober 1932 verkündete der Staatsgerichtshof seine Entscheidung, die auf den e­ rsten Blick nicht leicht nachzuvollziehen war.39 Die Notverordnung vom 20. Juli wurde für verfassungsmäßig erklärt, aber nicht ganz. Ein Reichskommissar habe eingesetzt werden dürfen, auch war er ermächtigt, preußischen Ministern Amtsbefugnisse zu entziehen und selbst zu übernehmen. Dann folgte aber eine wesentliche Einschränkung. „Diese Ermächtigung durfte sich aber nicht darauf erstrecken, dem preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern die Vertretung des Landes Preußen im Reichsrat oder gegenüber dem Landtage, dem Staatsrat oder gegenüber anderen Ländern zu entziehen.“ Kaum erklärlich war, dass die Reichsregierung in einer ersten Stellungnahme forsch behauptete, die Notverordnung sei „in vollem Umfang“ bestätigt worden. Las man die Entscheidungsgründe genau, passte der Begriff „unentschieden“ besser – im doppelten Sinne. Das Gericht verwarf die Begründung der Notverordnung nach Art. 48 Abs. 1 WV; denn Preußen habe seine Pflichten gegenüber dem Reich nicht verletzt. Die Behauptungen, mit denen die Reichsregierung eine Pflichtverletzung geltend gemacht hatte, wurden Punkt für Punkt zurückgewiesen. Das Gericht bejahte aber die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 WV. Diese ­seien „ohne weiteres“ gegeben gewesen. „Denn es ist offenkundig, dass die Verordnung vom 20. Juli 1932 in einer Zeit schwerer Störung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen worden ist.“ In dieser Lage habe der Reichspräsident nach pflichtmäßigem Ermessen zu der Auffassung gelangen können, es sei geboten, die gesamten staatlichen Machtmittel des Reiches und Preußens in einer Hand zusammenzufassen und die Politik des Reiches und Preußens in einheitliche Bahnen zu lenken. Hieran würde es nichts ändern können, wenn die Behauptung Preußens zuträfe, dass die Gefahrenlage mindestens zu einem Teil auf die eigenen innenpolitischen Maßnahmen der Reichsregierung zurückzuführen sei.

In seinen Ausführungen räumte das Gericht dem Reichspräsidenten und mittelbar auch der Reichsregierung einen außerordentlich weiten Ermessensspielraum ein. In ­diesem Punkt wäre aber ein Ansatz gewesen, die Notverordnung insgesamt in Zweifel zu ziehen. Wie das Wort „offenkundig“ belegt, wurden die tatsächlichen Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 WV als gegeben angesehen; es herrschten ja auch gewalttätige Zustände auf den Straßen deutscher Großstädte. Der letzte Satz wirkt wie eine Beschwörungsformel, und „die Behauptung Preußens“ traf nun wirklich „ohne weiteres“ zu; denn nach der Aufhebung des SA-Verbots durch die Regierung Papen hatte sich, wie schon erwähnt, die Zahl der Todesopfer und Verletzten bei politischen Zusammenstößen wieder stark erhöht. Das Gericht leitete die Grenzen, die es dem Reichskommissar setzte, aus den Art. 17, 60 und 63 WV ab. Sie schrieben jedem Land eine freistaatliche Verfassung vor und bestimmten, dass die Länder durch Mitglieder ihrer Regierungen im Reichsrat bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches vertreten sein sollten. Hiernach hätten die preußischen Minister nicht ihrer Ämter enthoben und die Reichskommissare nicht als Staatsregierung eingesetzt werden dürfen.

39 Die folgenden Zitate aus der Urteilsbegründung S.493, S. 513 und S. 514.

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Es war ein zwiespältiges Urteil, moralisch eine Niederlage der Reichsregierung; denn Braun und seiner Regierung blieben „Amt und Ehre“. Aber die Exekutivmacht, darunter die beamten­ rechtlichen Befugnisse, behielt das Reichskommissariat. Ein geflügeltes Wort brachte dies pointiert zum Ausdruck: „Brecht hat das Recht und Bracht hat die Macht.“ Als ausgleichend konnte man die Entscheidung allenfalls dann ansehen, wenn man in resignativem Realismus mehr nicht für erreichbar hielt und es als vorgegeben ansah, wie offenbar die Richter auch, dass die Autorität des Reichspräsidenten nicht beschädigt werden sollte. In einem Kommentar des „Vorwärts“ wurde treffend ausgeführt, es sei eine politische Entscheidung. „Das Urteil ist das Gegenteil eines salomonischen: Es hat das strittige Kindlein fein säuberlich in zwei Hälften zerlegt und jeder der beiden Mütter je eine Hälfte zuerkannt.“40 Nach dem Urteil des Staatsgerichtshofs bestanden also nun in Preußen zwei Regierungen gleichzeitig, die Staatsregierung und die Kommissare des Reichs, beide rechtmäßig, aber von unterschiedlicher Legitimität und unterschiedlicher Macht. Wenn es überhaupt zu einem Minimum an Zusammenwirken kommen sollte, bedurfte es dazu viel guten Willens, aber Papen zeigte nicht das geringste Entgegenkommen. So blieb es bei einem unbefriedeten Nebeneinander.41 Vor einer abschließenden Wertung ist auf Diels’ eigene Darstellung in seinen Memoiren einzugehen. Sie ist – etwas verstreut – in dem Kapitel „Rettungsversuche vor Hitler“ zu finden.42 Es enthält eine generelle Kritik an den „Weimarer Parteien“, besonders an der SPD , ­welche ihrerseits die Demokratie aufgegeben habe. Die „Aktion des 20. Juli“ sei verkannt worden. „Die herzhaftesten Versuche zur Rettung der Demokratie werden von den Anhängern derjenigen, die sich 1932 selbst aufgaben, bedenkenlos als eine ‚pronazistische‘ Stellungnahme mit dem Makel des Verrats belegt.“ Diese Aktion sei „als ein Komplott gegen die Demokratie“ erschienen. „Das ‚Ende der Demokratie‘ ist [sic! jedoch] lange vor dem 20. Juni [!] 1932 durch die Weimarer ­Parteien selbst herbeigeführt worden.“ Später stellte er eine überraschende Verbindung her: „Die Abnahme der nationalsozia­listischen Stimmenzahl war die Folge von S­ chleichers und Papens Aktion am 20. Juli 1932.“ Welche Wahlen er damit meinte, schrieb er nicht. Jedenfalls ist der Satz völlig unsinnig. Denn bei den kurz auf den „Preußen-­Putsch“ folgenden Reichstagswahlen am 31. Juli verdoppelte die NSDAP die Zahl ihrer Mandate, während ihre Stimmen­zahl erst bei der nächsten Reichstagswahl am 6. November 1932 wieder etwas abnahm. Es folgte im Buchtext ein emphatisches Lob des 20. Juli 1932: Dieser Tag wirkte wie ein heller Trompetenstoss in der brütenden und lähmenden Indolenz der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es war das einzige Mal, dass sich eine Gruppe bewusster Demokraten [!] zusammengetan hatte, die Vaterlandsliebe, Klugheit und Tapferkeit verbanden, um zu handeln.

In der Neuausgabe seiner Memoiren 1950 wurden zwei Begriffe vielsagend ausgetauscht.43 Statt „Trompetenstoss“ hieß es nun „Fanal“, ein fataler Begriff der NS-Kriegspropaganda, statt des unzutreffenden „Demokraten“ jetzt auch nicht passend „Patrioten.“ 40 Zitiert nach Winkler, Weimar, S. 530; zum Urteil ferner Bracher, Auflösung, S. 556 ff; kritisch zu dem der Klage stattgebenden Teil Huber, ebd., S. 1125. Allerdings vertrat sein Lehrer Carl Schmitt die Reichsregierung im ­Prozess, und er selbst gibt an, Berater des Reichswehrministeriums gewesen zu sein (a. a. O., S. 1078, FN 14). 41 Vgl. Schulze, Otto Braun, S. 765 ff. 42 Lucifer (49), S. 105 ff; dort die folgenden Zitate. 43 Lucifer (50), S. 148.

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Seine eigene Rolle bei d ­ iesem Geschehen kam erst später in einem anderen Zusammenhang zutage: Anfang Januar 1933 […] liess mich der preussische „Staatskommissar“ Bracht zu sich kommen. Schleicher [inzwischen Reichskanzler] trage sich mit dem Gedanken, sagte er, mir den Versuch anzuvertrauen, bei den Kommunisten wegen einer Tolerierung seines Kabinetts zu sondieren. Mir sass noch der Ärger in den Gliedern, den mir ein Auftrag Abeggs kurz vor dem 20. Juli 1932 eingetragen hatte. Dieser [!] Staatssekretär Severings hatte damals in letzter Stunde durch meine Vermittlung [!] die Kommunisten im Preussischen Landtag auf die Seite der preussischen Regierungskoalition ziehen wollen. Es war ein in jeder Hinsicht sinnloses Unterfangen, dessen Bekanntwerden mir bei der demokratischen Presse den Vorwurf des „Verrats“ zugezogen hatte. Wie seinerzeit Abeggs Absicht […] so schien mir auch Schleichers Plan die völlige Verkennung 44 der kommunistischen Mentalität zu verraten. Er kam nicht zu Ausführung.

Die doch etwas großspurig formulierte Darstellung insgesamt ließ Überlegenheitsgefühl und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein erkennen. Dem entsprach der Inhalt. Die „Aktion“ des 20. Juli wurde auf das Äußerste hochstilisiert und so zugleich mittelbar sein Anteil daran aufgewertet, ohne ihn direkt anzusprechen. Dessen indirekte knappe Erwähnung im späteren Verlauf des Textes erweckt den Eindruck, als sei ihm in seiner Rolle beim Abegg-­Gespräch nicht ganz wohl gewesen, nicht aber den eines „schlechten Gewissens“. In der Sache identifizierte er sich mit Papens Vorgehen. Diels’ Verhalten war in der Tat zwielichtig und alles andere als korrekt. Auch falls zutreffen sollte, was nicht sicher ist, er habe die Initiative zu einem Gespräch mit kommunistischen Vertretern ergriffen und Abegg nahegebracht, es zu führen, ist nicht erkennbar, wieso ihn das entlasten soll.45 Bei aller Wendigkeit Diels’ erscheint es als wenig wahrscheinlich, dass er ernsthaft an Sinn und Erfolg ­dieses Gesprächs geglaubt hat. Sein gesamtes folgendes Verhalten spricht jedenfalls dagegen. Wahrscheinlicher wäre bei dieser Version, dass er Abegg hätte eine Falle stellen wollen, in ­welche dieser hineintappte. Dann wäre Diels’ Handeln noch verwerflicher. Bündig und zu Recht ist sein Verhalten charakterisiert worden als „das Manöver eines ehrgeizigen Beamten […], der das sinkende Schiff der Regierung Braun zeitig genug verlassen und durch einen wertvollen Beitrag zur Papenschen Begründung des Preußenputsches den Anschluß an die neuen Machthaber gewinnen wollte.“46 Diels hat eine markantere Rolle gespielt als andere Zuträger und erwies sich als typischer „Überläufer“. Erstmals hat Bracher diese Bezeichnung verwendet, Wallbaum hat sie zum Titel seiner Biographie gemacht. Ob enttäuscht von Preußens bisheriger „politische[r] Klasse“ oder nicht, Diels sah in Papen und auch Schleicher offenbar die Männer der Stunde. Unbeschadet früherer politischer Zuordnung kam es ihm allem Anschein nach in erster Linie darauf an, auf der Seite der Mächtigen zu sein. Im 20. Juli 1932 liegt eine fast tragisch zu nennende Ironie. Die im 19. Jahrhundert zu ­Gegnern des traditionellen Preußen erklärten Sozia­ldemokraten, Zentrums-­Katholiken und Links­liberalen hatten diesen Staat über den Zusammenbruch am Ende des E ­ rsten Weltkrieges hinüber­gerettet und ihm neue, demokratisch legitimierte Macht und eine achtbare Stellung im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik verschafft. Es war ein Preußen mit demokratischer Sendung, ein Bollwerk der Republik, wenn auch zuletzt geschwächt. Dieses neue Preußen 44 Ebd., S. 110 f. 45 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 71. 46 Bracher, Auflösung, S. 508, S. 517 die Bezeichnung „Überläufer“.

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wurde von Vertretern der rückwärtsgewandten, monarchisch gesinnten alten Eliten zerstört und seine verbliebene Macht dem autoritären Reich einverleibt. Papen und die Seinen haben auch das föderative System der Weimarer Republik erschüttert. Die süddeutschen Länder waren alarmiert, dass eine Präsidialregierung, selbst nur außerparlamentarisch legitimiert, eine legale Landesregierung durch „Präsidialakt“ ablösen konnte. Der 20. Juli 1932 hatte überdies politisch-­psychologische Fernwirkungen. Mochte ein Widerstand auch sinnlos erschienen sein, jedenfalls wirkte demoralisierend auf die Anhängerschaft der SPD, dass er gänzlich unterblieb. Hitler aber konnte nun davon ausgehen, dass ihm von der SPD auf seinem Weg zur Macht wohl kaum mehr eine Gefahr drohte. So gesehen wurde die Rolle Diels’ bei Papens „Preußen-­Putsch“ noch gewichtiger. Der Historiker Christopher Clark hat den „Preußen-­Putsch“ ähnlich gedeutet. In gewisser Weise könnte man also sagen, dass am 20. Juli 1932 das alte Preußen das neue zerstörte. Genauer ausgedrückt: Das partikularistische, agrarische Preußen legte Axt an das universalistische, zentralistische Preußen der Weimarer Koalition. Die traditionelle Gesellschaft setzte 47 sich gegen die Modernisierungstendenzen des Staates durch […].

Die „Metaphorik“ Clarks ist so treffend wie anschaulich. Eine Gesamtbewertung des „Preußen-­ Putsches“ kann nur uneingeschränkt negativ sein. Darüber ist sich die Geschichtsschreibung weitgehend einig. Der 20. Juli 1932 war ein „Markstein auf dem Weg in die nationalsozia­listische Diktatur“.48 Alternativen zu Hitler hätte es vielleicht noch gegeben, aber nachdem, was tatsächlich folgte, war es ein tödlicher Streich.

3.4 Vertrauensmann Görings in der Anfangszeit des „Dritten Reiches“ 3.4.1 Eine Annäherung Diels’ Verhältnis zur NSDAP war offenkundig so lange distanziert, als die Regierung Braun im Amt war und er der Deutschen Staatspartei (früher DDP) zugerechnet wurde. Er soll sogar einmal gegen die Partei aktiv geworden sein. Hierbei ging es um Briefe, w ­ elche der Stabschef der SA, Ernst Röhm, an einen Berliner Arzt gerichtet hatte.49 Darin äußerte er sich freimütig über seine sexuelle Veranlagung. Diels soll sich diese Briefe beschafft haben, oder sie waren ihm zugespielt worden, und er gab sie an einen Journalisten weiter, der, wiewohl selbst Nationalsozia­ list, sie veröffentlichte. Beider Ziele waren unterschiedlich. Diels wollte wohl Röhm persönlich und darüber hinaus der Partei insgesamt schaden, der Journalist nur einer innerparteilichen Reizfigur. Die erhoffte Wirkung blieb aber aus, und Hitler bestätigte im Juni 1932 Röhm in seinem Amt. Tatsächlich können sich diese Vorgänge nur in den ersten fünf Monaten des Jahres 1932 abgespielt haben. In die politische Landschaft seit dem Juni 1932, als Papen Reichskanzler geworden war, hätten sie nicht mehr gepasst.

47 Clark, Preußen, S. 741. 48 Matzerath, ebd. 49 Zum Folgenden Wallbaum, ebd., S. 73 ff, und weiter S. 77 ff.

Vertrauensmann Görings in der Anfangszeit des „Dritten Reiches“

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Im Sommer 1932 war Diels wegen seiner Rolle bei Papens „Preußen-­Putsch“ bekannt geworden, auch bei den Nationalsozia­listen. Er war einer der Vertrauensleute der Kommissariatsregierung, die mit der Reichsregierung personell und inhaltlich auf das Engste verbunden war. Diese sah sich im Reichstag seit den Juliwahlen der NSDAP als stärkster Fraktion gegenüber. Das war die Situation, in der es zu mehreren dienstlichen Kontakten Diels’ mit dem Reichstagspräsidenten Göring kam.50 Der kommissarische Innenminister Bracht soll Diels nämlich im Herbst 1932 zweimal als Emissär verwandt haben. Bracht, von Diels fälschlich als „Regierungschef “ bezeichnet, der „alles tat, die Nationalsozia­listen nicht zu reizen“, habe ihn gebeten, den „Hauptmann“ Göring, der sich über das Verhalten der Berliner Polizei beim Streik der Verkehrsbetriebe beschwert hatte, aufzusuchen und zu beschwichtigen. Die Unterredung im Reichstag habe den gewünschten Erfolg gehabt. Dieser Besuch wird sich so zugetragen haben; der Auftrag dazu zeigte aber die Schwäche der Regierung. In seiner Schilderung flocht Diels eine bemerkenswerte Beschreibung Görings ein: „Der erste Eindruck, der mich bei seinem Anblick ergriffen hatte, war ein angenehmer gewesen. So musste ein Mann sein, der alles Zeug zur Volkstümlichkeit mitbringt. Alle Behaglichkeit und Umgänglichkeit schien er in seinem Embonpoint zu beherbergen.“ Dies war eine unzulängliche Einschätzung. Denn Göring besaß ausgeprägt grausame und brutale Wesenszüge, wie Diels später auch erfahren sollte. Weiter berichtete er eine ziemlich phantastische Geschichte. Reichskanzler von Schleicher und Bracht ­seien auf die Idee gekommen, Polizei in den Reichstag zu ­schicken, um Material gegen die Kommunisten sicherzustellen. Dies sollte der NSDAP gefallen. Die Aktion sei jedoch ein Fehlschlag gewesen; in den Fraktionsräumen der KPD habe sich nichts gefunden. Nun soll Diels von Bracht ein weiteres Mal zu Göring entsandt worden sein. Dieser habe sich zum Schutzherrn des Parlaments und der „roten Halunken“ aufgeworfen und ihn mit einem „Hagel von Beschimpfungen“ empfangen. Diels habe die dubiose Unternehmung verteidigt, so gut er konnte. Sollten die Dinge sich tatsächlich so zugetragen haben, hätte Göring durchaus über die Eigenmächtigkeit der preußischen Polizei empört sein können. Als Reichstagspräsident hatte er nach Art. 28 WV die Polzeigewalt und das Hausrecht. Er hätte, seinem Naturell entsprechend, auf die Beachtung seiner Kompetenzen durchaus Wert gelegt. Die von Diels genannten dienstlichen Anlässe waren aber nicht die einzigen Gelegenheiten, bei denen er Göring „kennen lernte“. Sie hätten für sich allein auch nicht plausibel erklärt, warum Göring später so gezielt auf ihn zurückgreifen sollte. Diels berichtete über die dienstlichen Zusammentreffen wohl auch deshalb so breit, um von denen abzulenken, die er gar nicht erwähnte. Er knüpfte noch eigene Kontakte zu Göring und stand so seit Ende 1932 mit ihm in Verbindung.51 Er versorgte Göring mit Informationen für eine spätere Übernahme der Polizei und mit Material „über die kommunistische Gefahr“. Nach einer anderen Darstellung soll Diels mit einer Liste von Polizeioffizieren und Regierungsbeamten, die nach einer Machtübernahme der Nationalsozia­listen entfernt werden müssten, zu Göring Kontakt aufgenommen haben. Unwahrscheinlich erscheint das nicht. Diels hatte also offenbar einen weiteren Kurswechsel vollzogen. Er ahnte wohl, dass nach Papen auch Schleicher als Kanzler scheitern würde und sah die Nationalsozia­listen als die künftigen Machthaber. So war es nachvollziehbar, wenn mehrere seiner „republikanischen“ Kollegen aus dem Innenministerium und dem Berliner Polizeipräsidium Diels mehr oder weniger eindeutig als „einen der wichtigsten Zuträger […] der Nationalsozia­listen“ bezeichnet haben. Die

50 Lucifer (49), S. 128 ff, von dort auch die wörtlichen Zitate. 51 Zum Folgenden: Siehe Graf, ebd., S. 104 ff, von dort auch die Zitate, und Overy, Hermann Göring, S. 49.

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Befragten Kollegen hatten ihre subjektive Einschätzung bekundet und waren politische Gegner von Diels, aber im Kern traf es zu, wenn sie ihn als „Verräter der Republik“ bezeichneten. Diels hat später im „Dritten Reich“ seine Kontakte ausgeschmückt. In dem schon erwähnten Lebenslauf für seine SS-Personalakte beschrieb er seine Aktivitäten folgendermaßen 52: Nach dem 20. Juni [richtig Juli] 1932 wurden meine Befugnisse zur Bekämpfung des Kommunismus bedeutend erweitert und ich konnte mich bereits damals im engsten Einvernehmen mit den führenden Männern der NSDAP [!] der Vorbereitung der Niederwerfung des Kommunismus in Deutschland widmen.

So „dick aufgetragen“ das auch war, es war nicht gänzlich erfunden; dies wäre auch riskant gewesen. Insgesamt ergibt sich, dass Göring Diels nicht nur bei einem dienstlichen Anlass kennengelernt hatte. Vielmehr war Diels ihm auf Grund offenbar zahlreicher anderer Begegnungen von eher persönlich-­informellem Charakter bereits gut bekannt. Eine weitere Form der Annäherung an den Nationalsozia­lismus könnte darin bestanden haben, dass Diels bereits vor der Machtübernahme 1933 einer seiner Organisationen beigetreten wäre.53 So soll er seit März 1932 förderndes Mitglied der SA-Untergruppe Berlin-­Ost gewesen sein, wie er in seinem Fragebogen für seine SS-Personalakte später angab. Zweifelsfrei ist das aber nicht, auch wenn in einer grundlegenden Studie eine s­ olche Mitgliedschaft bereits seit d ­ iesem frühen Zeitpunkt als bewiesen bezeichnet wird, ohne dabei einen dokumentarischen Beleg zu liefern.54 Die Frage einer fördernden SA-Mitgliedschaft spielte nach dem Krieg auch eine Rolle. In dem niedersächsischen Entnazifizierungsverfahren wurde Diels’ SA-Eintritt im März 1932 als gegeben unterstellt. Diels ging kurz vor seinem Lebensende verwaltungsgerichtlich dagegen vor. Das Gericht wies die Klage ab, ließ aber die Frage des Eintrittsdatums offen. Danach kann man es als feststehend ansehen, dass Diels förderndes SA-Mitglied gewesen ist. Sein Anwalt hatte in dem Prozess vorgetragen, Diels sei erst im Sommer 1933 förderndes Mitglied geworden. Der Zeitpunkt sei zurückdatiert worden, um Angriffen, er sei Vertreter des alten Systems, eine frühe Zugehörigkeit entgegensetzen zu können. Das klang nicht unwahrscheinlich. Rückdatierungen von Eintrittsdaten gab es im NS-Regime. Es hat auch in der Tat im Falle Diels ein Kriminalbeamter unter Eid ausgesagt, er habe die entsprechenden Manipulationen vorgenommen. So spricht doch alles in allem viel mehr dafür, dass Diels erst nach der Machtübernahme förderndes SA-Mitglied geworden ist. Organisatorisch hat er sich also vorher nicht den Nationalsozia­listen angenähert.

3.4.2 Ein neues Regime und die Polizei als Kampfinstrument Zunächst ist noch einmal aufzugreifen, was in den beiden früheren Teilen schon Gegenstand war, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Es war eine „Regierung der nationalen Konzentration“, die von einer „nationalen Front“ getragen wurde, bestehend aus NSDAP, DNVP und dem „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“. Dem Kabinett gehörten außer 52 Abgedruckt bei Graf, ebd., S. 410 f. 53 Insgesamt dazu Wallbaum, ebd., S. 85 ff. 54 Graf, Polizei, S. 319.

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dem Kanzler nur zwei Nationalsozia­listen an, der Reichsinnenminister Wilhelm Frick und der Reichminister ohne Geschäftsbereich Hermann Göring. Diese drei sollten durch Vizekanzler von Papen und die übrigen Minister, Deutschnationale oder rechtskonservative (Fach-) Minister, „eingerahmt“ werden. Dies war der personelle Teil von Papens „Zähmungskonzept“. Viele, vor allem die Konservativen in Politik und Gesellschaft, wollten daran glauben. Zu dem Konzept gehörte auch, dass, zu Hitlers Verdruss, nicht er, sondern der Vizekanzler mit dem Reichkommissariat in Preußen betraut wurde.55 Das war ­Hindenburgs ausdrücklicher Wunsch. Dafür musste Göring als stellvertretender Reichskommissar und kommissarischer preußischer Innenminister akzeptiert werden. Dies war, nach der Reichskanzlerschaft Hitlers, die wohl folgenreichste Personalentscheidung bei dieser Regierungsbildung. In besonderem Maß galt das auch für Diels’ Karriere und seinen Lebensweg überhaupt. Um wieder an der Macht teilzuhaben, lieferte also Papen die preußische Polizei einem nationalsozia­listischen Ressortchef aus. Dies zu verhindern, war nach seinen Worten ein halbes Jahr vorher eines der Motive für das Eingreifen in Preußen gewesen. In einem seiner Erinnerungsbücher klingt durch, wie er sich selbst vergeblich Mut zusprach: „Die Tätigkeit Görings […] hoffte ich, als kommissarischer Ministerpräsident, in den gewünschten ­Grenzen halten zu können.“56 Das „Zähmungskonzept“ versagte bereits, ehe die neue Regierung überhaupt im Amt war, zumal einer seiner Erfinder sich selbst nicht daran hielt. Während die Kabinettsmitglieder schon im Büro des Staatssekretärs Meißner auf die Vereidigung durch den Reichspräsidenten warteten, führte Hitlers plötzliche Forderung nach Reichstagsneuwahlen zu einer heftigen Diskussion mit Hugenberg, dem Führer der Deutschnationalen und designierten Wirtschafts­ minister. Dabei schlug Papen sich auf Hitlers Seite. Trotz ihrer beider Beschwichtigungen blieb Hugenberg bei seinem Nein. Er hatte erkannt, dass Neuwahlen nur Hitler nützen würden, weil er die staatlichen Machtmittel für seine Wahlkampfagitation hemmungslos verwenden würde. Schließlich stürzte Meißner mit der Uhr in den Raum und mahnte, man könne den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen. Da lenkte Hugenberg ein. Wieder hatte der „Hindenburg-­Mythos“ geholfen. Nach der Vereidigung entließ der Reichspräsident die neue Regierung mit dem schönen Wort: „Und nun, meine Herren, vorwärts mit Gott!“ Diels schilderte in seinen Memoiren effektvoll Görings Einzug in seinem neuen Ministerium. Spannung und Angst lagen an jenem Wintertag des 30. Januar über dem Ministerium des Innern […]. Am späten Nachmittag fuhr der ehemalige Hauptmann und nunmehrige Minister Göring mit seinem Adjutanten Körner vor dem Hause Unter den Linden 76 vor. Die Ministerial57 beamten waren über die Dienststunden hinaus im Hause geblieben.

Kurz darauf wurde Diels von Körner zu Göring gerufen. Der begann mit ihm eine grundsätzliche Erörterung von Personalfragen. Mit immer noch verhaltenem Stolz fuhr Diels fort: Göring liess mich in jenen ersten Tagen nicht mehr von seiner Seite weichen. Meine Kollegen fanden keine Erklärung für Görings Vorliebe für meine Person. […] Aber ich musste offensichtlich regelrecht mit den Nazis konspiriert haben, […] so waren nun den gewundenen Wegen [!], die ich gegangen sein musste, gar keine Grenzen mehr gesetzt. 55 VO des Reichspräsidenten vom 31. Januar 1933 (RGBl., S. 33). 56 Von Papen, ebd., S. 272. 57 Lucifer (49), S. 127 f. Von dort auch die folgenden Zitate.

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Diels schloss in aller Unschuld: „In Wirklichkeit lag die Sache so, dass Göring mich als einzigen aus der verruchten Gesellschaft um Severing schon vor dem 30. Januar kennen gelernt hatte.“ Diese Formulierungen sind nicht ohne Koketterie. Wiewohl einmal der „verruchten Gesellschaft um Severing“ angehörig, hatte Diels sich durch doppeltes Überläufertum Göring zielbewusst bekannt gemacht. Die weitere politische Entwicklung war bestimmend für Aufgaben und Führung der preußischen Polizei und das dienstliche Verhältnis ­zwischen Göring und Diels. Am 31. Januar ließ Hitler Verhandlungen mit dem Zentrum über eine Verbreiterung der Regierungsbasis scheitern; er wollte ja Neuwahlen. Am folgenden Tag unterschrieb ­Hindenburg die Verordnung zur Reichstagsauflösung, „damit das deutsche Volk durch die Wahl eines neuen Reichstags zu der Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt“. 58 Diese lapidare und etwas eigentümliche Begründung lässt erkennen, dass Hindenburg der dritten Reichstagsauflösung innerhalb von acht Monaten positiv gegenüberstand. Als Datum für die Neuwahlen wurde der 5. März festgelegt. Wie die Auflösung des Reichstags, war die Auflösung des preußischen Landtags für Hitler und seine Partei unbedingt erstrebenswert. Sie wollten den unvollkommenen Sieg bei den letzten Landtagswahlen so übertreffen, dass sie, wenn nötig mit Hilfe der DNVP, einen Nationalsozia­ listen zum Ministerpräsidenten würden wählen können. Dann gäbe es keine Notwendigkeit mehr für einen Reichskommissar von Papen. Nachdem am 4. Februar 1933 ein nationalsozia­listischer Antrag auf Selbstauflösung des Landtags mit klarer Mehrheit abgelehnt worden war, gab es nach der preußischen Verfassung noch eine andere Möglichkeit, einen Beschluss des „Dreimännerkollegiums“. Es bestand aus dem nationalsozia­listischen Landtagspräsidenten Hans Kerrl, dem Vorsitzenden des preußischen Staatsrats und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (Zentrum) und, nach dem Urteil des Staatsgerichtshofes, dem geschäftsführenden Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD). Braun und Adenauer waren wie die Landtagsmehrheit ebenfalls gegen eine Auflösung. Nun trat wieder der „homo regius“ Hindenburg auf den Plan, um sein fatales Talent einzusetzen, scheinbare Auswege zu finden. Ausgerechnet Papen nämlich brachte in zwei Schritten einen solchen zustande, der aber auch zur Beendigung seines Reichskommissariats ­führen sollte. Zum E ­ rsten war wieder die Hilfe des Reichspräsidenten zu erbitten. Dieser erließ am 6. ­Februar eine Verordnung nach Art. 48 Abs. 1 der Reichsverfassung „zur Herstellung geordneter Regierungsverhältnisse in Preußen“.59 In § 1 der Verordnung wurde behauptet: „Durch das Verhalten des Landes Preußen gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofes vom 25. Oktober 1932 ist eine Verwirrung im Staatsleben eingetreten, die das Staatswohl gefährdet.“ Die Folgerung daraus war, deshalb würden „bis auf weiteres“ die dem Staatsministerium nach dem Urteil zustehenden Befugnisse dem Reichskommissar übertragen. Das war ein offenbarer Verfassungsbruch von völliger Ungeniertheit, ein zweiter Staatsstreich nach dem vom 20. Juli 1932. Die Begründung stellte die Dinge auf den Kopf. Als einzige „Verfehlung“ der Regierung Braun und damit Pflichtverletzung im Sinne von Art. 48 Abs. 1 konnte nach außen vorgegeben werden, der preußische Ministerpräsident habe entscheidend dabei mitgewirkt, dass die Auflösung des Landtags unterblieben sei. Wohlweislich hatte man dies nicht in den Verordnungstext aufgenommen. Eine weitere Klage der legalen Regierung wurde vom Staatsgerichtshof erst gar nicht verhandelt.

58 RGBl. 1933, S. 45. 59 Ebd., S. 43.

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Der zweite Schritt erfolgte bereits am nächsten Tag. Das „Dreimännerkollegium“ trat erneut zusammen, diesmal mit dem Reichskommissar Papen anstelle des Ministerpräsidenten Braun.60 Gegen den Protest Adenauers, der die verfassungswidrige Zusammensetzung des Gremiums rügte, beschloss es die Auflösung des Landtags und dessen Neuwahl am 5. März, dem Tag der Reichstagswahl. Die Kommissariatsregierung hatte im Übrigen zuvor eine Verordnung beschlossen, wonach die kommunalen Vertretungen am 12. März neu gewählt werden sollten. Die Situation konnte für Hitler und die NSDAP kaum günstiger sein. Durch die doppelte Auflösung von Reichstag und Landtag hatten weder die Reichsregierung noch die Kommissariatsregierung von ihren Parlamenten etwas zu befürchten. Den sich anbahnenden Dreifachwahlkampf im Reich und dem bei weitem größten Einzelstaat konnte „die Bewegung“ im Besitz staatlicher Machtmittel führen. Die Marschrichtung hatte Hitler selbst schon am 1. Februar im Reichskabinett vorgegeben, Angriff gegen den Marxismus. Das traf auch die Überzeugung der nationalkonservativen Partner und war geeignet, die Ängste der Wähler zu mobilisieren. Diese doppelte Thematik vom Zerfall während der „Parteienherrschaft“ und der Wiederherstellung nationaler Einheit variierte Hitler in all seinen Reden. Dies begann in der vom 10. Februar zur Eröffnung des Wahlkampfes im Berliner Sportpalast. Ihm, ­diesem nationalen Erretter und christlichen Erneuerer, würde sich nichts und niemand mit Erfolg entgegenstellen können. Vier Jahre Zeit sollten die Deutschen ihm geben, womit eine Herrschaft ohne Parlament angedeutet war, und dann über seine Regierung richten. Lautsprecher übertrugen diese Rede auf die Plätze, ein Film verbreitete sie im ganzen Reich. Das Ineinander von Emotionen und Appellen, propagandistischer Mobilisierung und Machtkalkül machte die Unverwechselbarkeit dieser „nationalen Erhebung“ aus, in deren ­­Zeichen ein beispielloser Wahlkampf begann. Er wurde begleitet von zahlreichen Terrorakten, in erster Linie der SA , denen vor allem Kommunisten und Sozia­ldemokraten zum Opfer fielen. Auch hier gab es ein „Ineinandergreifen“ von offenbar geduldetem, auch gewolltem Terror der Kampfverbände der Partei und dem mit äußerster Konsequenz vorgenommenen Einsatz der Staatsmacht. Ein erstes Beispiel dafür bei der Normgebung ist die Notverordnung des Reichspräsidenten mit dem schönfärberischen Titel „zum Schutze des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933.61 Als Rechtfertigung diente die (wirkungslose) Aufforderung der KPD zum Generalstreik vom 31. Januar. Mit dieser Verordnung bereits wurde der Weg zur Ausnahmegesetzgebung beschritten. Sie enthielt sehr allgemeine Verbotsgründe für Versammlungen und eine Vielzahl dehnbar formulierter Gründe für deren Auflösung. Dasselbe galt, neben zahlreichen anderen Tatbeständen, für das Verbot „periodischer Druckschriften“, die im Übrigen auch beschlagnahmt werden konnten. In den Händen entschlossener, mit polizeilichen Befugnissen ausgestatteter Amtsträger waren diese Vorschriften ein politisches Kampfinstrument erster Ordnung. Ein solcher war Göring. Er machte Preußen zum Hauptschauplatz politischen Kampfes in der ersten Phase der Machtübernahme. In einem Runderlass stellte er klar, die Reichsregierung habe den Reichspräsidenten „um diese scharfen Handhaben bitten müssen“, um ihre Wiederaufbauarbeit „gegen Störungen staatsfeindlicher Kräfte zu sichern“. Die zur Durchführung berufenen Stellen hätten sich dessen stets voll bewusst zu sein. Die Verordnung sei nicht dazu

60 Vgl. hierzu Schulze, ebd., S. 780 f, und Adenauer, Konrad Adenauer als Präsident, S. 397. 61 RGBl., S. 35.

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geschaffen, „die hinter der Regierung der nationalen Erhebung stehenden Volkskräfte in ihrer willkommenen und notwendigen Mitarbeit an der Förderung der hohen Ziele der Reichsregierung zu behindern“.62 Später formulierte Diels es wie häufig sehr anschaulich: Der „Kampf gegen den Kommunismus“, das war nun wirklich der Göring ganz und gar beherrschende Gedanke. In blutrünstigen Ausdrücken wetterte er gegen die Kommune […]. Er wollte Krieg gegen sie führen […]. Göring betrachtete […] den gesamten Staat als militantes Wesen, und er fand sogar rund 50 000 bewaffnete Polizisten vor, die teilweise wie eine Truppe organi63 siert waren.

Diese leicht ironisierende Beschreibung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier auch inhaltliche Übereinstimmungen bestanden. Diels war seinerseits entschiedener Antikommunist, wie damals in bürgerlich-­konservativen Kreisen weithin üblich. Der junge Oberregierungsrat erhielt von Göring noch am Abend des 30. Januar den Sonderauftrag, systematisch alle kommunistischen Funktionäre zu erfassen. Der erkennbare Zweck war, spätere Massenverhaftungen zu ermöglichen. Diese würden wesentlich dazu beitragen, die KPD als Machtfaktor auszuschalten. Diels bildete nun „zur Bekämpfung des Kommunismus“ innerhalb des Polizeipräsidiums Berlin eine Sonderabteilung der politischen Polizei mit entsprechendem Personal. Dabei blieb es jedoch nicht. Mitte Februar, nämlich noch vor dem 17., wurde Diels von Göring zugleich zum Leiter der politischen Abteilung im Polizeipräsidium Berlin ernannt.64 Diese hatte in der republikanischen Zeit als polizeiliche Nachrichtenzentrale für ganz Preußen gedient; nunmehr erhielt sie die illegitime Zielsetzung, ein diktatorisches Regime installieren zu helfen. Diese Personalmaßnahmen Görings erweiterten Diels’ Kompetenzen und sollten eine effizientere Aufgabenerfüllung ermöglichen. Von einer Beschränkung auf den Sonderauftrag war keine Rede mehr. Diels behielt sogar sein Referat in der Politischen Gruppe des Ministeriums.65 Dies alles sprach für ein wachsendes Vertrauen des kommissarischen Innenministers, der schon zu ­diesem Zeitpunkt Diels eine herausgehobene Stellung innerhalb der politischen Polizei Preußens verschafft hatte. Diese Stellung, die er von Mitte Februar 1933 bis April 1934 innehaben sollte, unter ständigen Auseinandersetzungen vor allem mit SA und SS, verschaffte ihm Zugang zu höchsten Funktionsträgern des „Dritten Reiches“ und sollte ihn zum Zeugen oder gar Beteiligten dramatischer Ereignisse werden lassen. Doch mit der „Installation“ von Diels allein konnte es nicht getan sein. Göring brauchte, um seine politisch-­polizeilichen Ziele erreichen und das „Kampfinstrument“ der Verordnung vom 4. Februar effizient verwenden zu können, in größerem Umfang entsprechendes Personal, zunächst in den Spitzenstellungen der Polizeiverwaltung. Dies würde das Personalgefüge sein, in dem Diels sich künftig bewegen sollte. Im Ministerium selbst beließ Göring den als Nachfolger Abeggs eingesetzten Staatssekretär von Bismarck einstweilen noch im Amt, nicht aber den Leiter der Polizeiabteilung, Ministerialdirektor Klausener, einen Exponenten des Zentrums. Er wurde alsbald ins Reichsverkehrsministerium versetzt. Nachfolger wurde der 62 63 64 65

RdErl. des Ministers des Innern (Kommissar des Reichs) vom 10. Februar 1933, MBliV., Sp. 147. Lucifer (49), S. 130 f. Zur Datierung vgl. Plum, Staatspolizei, S. 191, FN 3; zu Diels’ Aufgaben ferner Graf, ebd., S. 120 f. Darauf weisen Tuchel/Schattenfroh hin, Zentrale des Terrors, S. 67.

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ehemalige Staatsanwalt Ludwig Grauert, der zuletzt Geschäftsführer eines Arbeitgeberverbands der Stahlindustrie im Ruhrgebiet gewesen war; damals noch parteiloser Nationalist, aber auch Förderer der NSDAP. Die wohl gewichtigste und zugleich ungewöhnlichste Personalentscheidung Görings im Ministerium war die Berufung von Kurt Daluege zum Kommissar z. b. V. (zur besonderen Verwendung) für Polizeifragen unter Verzicht auf Besoldung.66 Als „alter Kämpfer“, preußischer Landtagsabgeordneter und SS-Gruppenführer sollte er der richtige Mann sein, um Parteiinteressen und insbesondere die der SS im Ministerium rückhaltlos zur Geltung zu bringen. Seine Aufgabe war personelle Säuberung, Neuorganisation und „Gleichschaltung“ der preußischen Polizei. Es spricht einiges dafür, dass Göring Daluege eingesetzt hatte, um den Einfluss der SA einzudämmen. Der SS-Mann hatte auch als eigenen Apparat das „Büro“ beziehungsweise die „Sonderabteilung Daluege“ zur Verfügung, die aus drei Referaten bestand. Diese Art „Nebenverwaltung“ war typisch für die Herrschaftstechnik der Nationalsozia­listen. Durch Einrichtung oder Zulassung externer oder an eine Verwaltungseinheit angedockter „Büros“ oder „Dienststellen“, die ausschließlich dem Interesse der Partei und ihrer Gliederungen oder gar nur denen einzelner Funktionäre dienten, wurden Konkurrenzlagen geschaffen, ­welche die traditionelle Verwaltungsorganisation aufbrachen. Sie vergrößerten letztlich den Parteieinfluss, mochten sie auch Doppelarbeit und Wirrwarr erzeugen. Das Konstrukt eines ehrenamtlichen Kommissars z. b. V. hatte auch den weiteren Zweck, jemanden unter Umgehung haushalts- und beamtenrechtlicher Hindernisse in die Verwaltung einschleusen zu können. So sollte es denn auch einige Zeit später mit Daluege geschehen. Diels hat, sei es aus Überheblichkeit oder Konkurrenzneid, Daluege als „einen der dümmsten Menschen“ bezeichnet, die ihm je begegnet ­seien. Dieses Urteil war verfehlt. „Daluege war weder dumm noch unbedeutend, sondern erfüllte seine personalpolitische Schlüsselfunktion in der Anfangsphase mit größtem taktischen Geschick und Erfolg.“67 Nicht zuletzt Diels selbst hat zumindest, wenn es ihm zweckmäßig erschien, die Zusammenarbeit mit Daluege gesucht. Aber wie in der allgemeinen Verwaltung setzte Göring auch im nachgeordneten Bereich der Polizei bereits im Februar die Säuberungen fort, w ­ elche die Kommissariatsregierung nach dem 20. Juli 1932 vorgenommen hatte. Die letzten Behördenleiter, die Mitglied der SPD waren, wurden entfernt, und schließlich kamen auch die Mitglieder des Zentrums „an die Reihe“. An deren Stelle wurden allerdings aus Rücksicht auf den deutschnationalen Koalitionspartner nicht in dem von der Partei erhofften Umfang Nationalsozia­listen berücksichtigt. So wurden in den preußischen Großstädten vierzehn Polizeipräsidenten ihres Amtes enthoben, unter den Nachfolgern waren aber nur vier Nationalsozia­listen. Dazu gehörte auch der Admiral a. D. von Levetzow in der herausragenden Berliner Präsidentenstelle. Er war allerdings den Deutsch­ nationalen wegen seiner Bekanntheit „als reaktionärer Führer vaterländischer Verbände“ gut zu vermitteln.68 Formal war er Diels’ Vorgesetzter in dessen Eigenschaft als Leiter der Abteilung IA der Berliner Behörde. Diels meinte später in typisch beschönigender Rückschau, mit Levetzow und ihm selbst sei Göring entschlossen gewesen, „dem Revolutionären“ den Zugang zu versperren.69 In Köln blieb der nach dem „Preußen-­Putsch“ 1932 eingesetzte nationalkonservative Polizeipräsident Lingens im Amt. „Naturgemäß“ beschränkten sich die „Säuberungen“ 66 67 68 69

Vgl. Graf, ebd., S. 113 ff. Graf, ebd., S. 115; Diels-­Zitat aus Lucifer (49), S. 132. Broszat, Staat Hitlers, S. 81. Lucifer (49), S. 133.

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nicht auf die höheren Polizeiränge. Insgesamt lässt sich jedenfalls sagen, Göring habe die Polizei „ausgekämmt“.70 Wenn Diels mit Blick auf die politische Polizei von „geringfügigen Veränderungen der Personalien nach 1933“ schrieb, ist dies irreführend. Es ließe sich allenfalls von der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums Berlin sagen, aber auch das nur deshalb, weil hier schon im Vorjahr ein großer Personalschub stattgefunden hatte. Sehr viel weiter noch als in seinen Personalmaßnahmen ging Göring mit zwei Runderlassen, die sowohl der Wahlkampagne wie der Machtkonsolidierung dienten. Mit beiden bewiesen Göring und die Nationalsozia­listen ihren politischen Gegnern, wie nützlich es sei, den Staatsapparat fest in den Händen zu haben, und was man mit ihm alles anstellen könne. Der erste vom 17. Februar, erlassen „zur Förderung der nationalen Bewegung“, wurde als „Schießerlass“ bekannt.71 Er verpflichtete die preußischen Polizeibehörden, mit den nationalen Verbänden (SA, SS und Stahlhelm) und Parteien […], in deren Kreisen die wichtigsten staatserhaltenden Kräfte vertreten sind, das beste Einvernehmen her[zu]stellen […]. Darüber hinaus ist jede Betätigung für nationale Zwecke und die nationale Propaganda mit allen Kräften zu unterstützen. Von polizeilichen Beschränkungen und Auflagen darf insoweit nur in dringendsten Fällen Gebrauch gemacht werden. […] Dafür ist dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten. Gegen kommunistische Terrorakte und Überfälle ist mit aller Strenge vorzugehen und, wenn nötig, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Polizeibeamte, die in Ausübung dieser Pflichten von der Schußwaffe Gebrauch machen, werden ohne Rücksicht auf die Folgen des Schußwaffengebrauchs von mir gedeckt; wer hingegen in ­falscher Rücksichtnahme versagt, hat dienststrafrechtliche Folgen zu gewärtigen.

Dieser Erlass, der einem Schießbefehl gleichkam, machte deutlich, wie es erst knapp drei Wochen nach der Machtübernahme um die Rechtsstaatlichkeit in Preußen bestellt war. Er bewirkte eine ungleiche Behandlung der Wahlkampfparteien, schuf zweierlei Recht für die Bevölkerung und trug darüber hinaus zu einer weiter um sich greifenden Rechtsunsicherheit bei. Denn er ermunterte zu Übergriffen gegen Angehörige linker Organisationen; es war nicht ersichtlich, dass ausschließlich Kommunisten gemeint waren. In ­diesem Erlass zeichnete sich schon die künftige Aufspaltung ­zwischen der „Volksgemeinschaft“ und den von ihr Ausgeschlossenen ab. Seitdem gehörte es zur propagandistischen Taktik offizieller Verlautbarungen, durch weit übertriebene Darstellungen angeblicher politischer Gefährdungen Rechtfertigungen für polizeiliche Eingriffe zu konstruieren, ohne dass eine eindeutige rechtliche Grundlage dafür wirklich bestanden hätte. Der Ausnahmezustand wurde förmlich „herbei geschrieben“. 72 Diels kommentierte in seinen Memoiren den „Schießerlass“ auf widersprüchliche Weise.73 […] für die Schutzpolizei bedeutete der Schießerlass eine Erlösung aus einer Situation, in der sie sich die letzten Jahre im wahren Sinne des Wortes als Prügelknabe der Kommunisten und Nationalsozia­listen befunden hatte. […] Die Polizeibeamten atmeten auf, als sie hörten, dass sie von „oben her“ gedeckt würden, wenn sie sich den lebensgefährlichen Rüpeleien gegenüber zur Wehr setzten.

70 71 72 73

Treffende Bezeichnung bei Delarue, Gestapo, S. 20; das folgende Zitat bei Lucifer (49), S. 124. MBliV., Sp. 169. Vgl. Schulz, Maßnahmenstaat, S. 430 f; auch Thamer, ebd., S. 243 f. Lucifer (49), S. 134 f.

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Der Erlass galt nun aber gerade nicht den Nationalsozia­listen, und die angeblichen Gefühle der Polizeibeamten bezogen sich auf einen anderen Sachverhalt. Einige Zeilen später ließ Diels dann erkennen, dass ihm die Problematik des Schießerlasses nicht verschlossen war. „Der politischen Polizei, als dem intellektuellen Kopf [!] der Schutzpolizei in den Grossstädten, hatte ich die Weisung erteilt, dass der Schiesserlass nicht als eine Aufforderung zu leichtsinnigem Waffengebrauch aufzufassen sei.“ Diels’ Äußerungen ließen die eigentliche Brisanz des „Schiess­erlasses“ völlig außer Acht. Auch ist zu bezweifeln, ob er eine ­solche Weisung wirklich erteilt hat; jedenfalls ist sie nicht belegt. Überdies ist fraglich, ob Diels als „nachgeordneter Beamter“ sie hätte erteilen können, mit der er sich in einen offenen Widerspruch zum (kommissarischen) Minister begeben hätte. Anschließend lobte Diels dann „Mässigung und Selbstzucht“ der Polizeikommandeure. Das ist schwer nachzuvollziehen, noch weniger, Polizeikommandeure und Polizeioffiziere hätten ihre maßvolle Haltung auch vor Hitler und Göring „unverblümt“ ausgedrückt, wenn es ihm gelungen sei, sie zum Vortrag mitzunehmen. Dies habe imponiert, aber die „Gleichschaltung“ herausgefordert. „Dies schrie mit der Zeit nach einer Revolutionierung durch den SS-Geist Himmlers und Heydrichs.“ Allerdings zog dieser erst ein Jahr später in die preußische politische Polizei ein, und „Gleichschaltung“ war ohnehin schon im Gange. Diese dramatisch-­effektvollen Formulierungen dienten einmal mehr der Verschleierung, der Verharmlosung und dem Ziel, das Bild eines Amtsträgers zu entwerfen, der Schlimmeres verhindert hat. Die harte Realität sah anders aus; der „Schießerlass“ zeigte Wirkung. Demonstrationen der Linken wurden von der Polizei abgedrängt, während die SA ungehindert mitten durch die Stadt ziehen konnte; Polizei sah tatenlos zu, wie SA-Trupps Teilnehmer republikanischer Wahlveranstaltungen angriffen, Wahlkundgebungen von SPD und Zentrum terrorisierten, Politiker dieser Parteien angriffen oder überfielen. Ein Appell der Zentrumsführung an den Reichspräsidenten fand kein Gehör. Nur wenige Tage nach dem „Schießerlass“ traf Göring eine noch weiter greifende Maßnahme durch seinen Runderlass vom 22. Februar „über die Einberufung und Verwendung von Hilfspolizei“. Er wurde bezeichnenderweise nicht veröffentlicht, deshalb nur verzögert bekannt und auch nicht gleich in seiner Bedeutung erfasst, zumal die Umsetzung eines organisato­rischen Vorlaufs bedurfte.74 Zu Anfang hieß es: „Die zunehmenden Ausschreitungen von linksradi­ kaler, insbesondere kommunistischer Seite haben zu einer unerträglichen und ständigen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit wie des Lebens und des Eigentums der staatsbewußten Bevölkerung geführt.“ Die vorhandenen Polizeikräfte ­seien seit langem überbeansprucht. Auf die freiwillige Unterstützung geeigneter, als Hilfspolizeibeamte zu verwendender Helfer könne daher nicht verzichtet werden. Vom Minister des Innern bestimmte Polizeibehörden sollten die Verstärkung der Polizei, denn darum handelte es sich ja, und die Einweisung in die Aufgaben bewirken. Genannt wurden insbesondere Unterstützung beim Schutz politischer Versammlungen und der Sicherung von Lokalen politischer Organisationen – wobei man davon ausgehen konnte, dass dies nur der Rechten zugutekommen sollte – sowie im Falle von inneren Unruhen oder eines Notstandes. Nach den Durchführungsbestimmungen waren „bis auf weiteres“ nur die Angehörigen nationaler Verbände zur Hilfspolizei zugelassen, SS, SA, Stahlhelm und Deutschnationaler Kampfring. Dabei legte ein Verteilungsschlüssel deren Anteile an den rund 50.000

74 Erlass und Durchführungsbestimmungen (Auszug) sind abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 9, S. 39 ff; zur Handhabung beim Polizeipräsidenten Köln vgl. Jung, ebd., S. 91 ff.

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Hilfspolizisten fest. Die Hälfte stellte die SA. Die Hilfspolizisten trugen die Uniformen ihrer Verbände, lediglich durch eine weiße Armbinde mit der Aufschrift „Hilfspolizei“ kenntlich gemacht, und hatten Gummiknüppel und Pistole. Der Erlass selbst hatte ferner bestimmt, die Aufstellung der Hilfspolizei bedürfe der Genehmigung des Regierungspräsidenten, und die Hilfspolizisten sollten unter der Führung von Polizeioffizieren stehen. Doch diese wohl nur der Optik halber vorgenommene Beteiligung staatlicher Stellen verlor bald in der Praxis jede Bedeutung. Diels sah den „Hilfspolizeierlass“ anders.75 Zunächst bezeichnete er ihn als Verordnung Hitlers auf Vorschlag Röhms, eine seiner häufigen Ungenauigkeiten im Detail, hier geradezu eklatant zu nennen. Wichtiger war seine inhaltliche Wertung. „Durch eine kluge Kollaboration ­zwischen beiden, Polizei und Revolutionären, eröffnete sich auch eine Möglichkeit, einen verständigen Verlauf der Dinge zu sichern.“ Wo alte Polizeipräsidenten auf ihren Posten verblieben und den neuen Männern geschickt begegnet ­seien, habe es keine nennenswerten (!) Exzesse gegeben. Es ist überaus fraglich, ob es wirklich ­solche „Inseln“ gegeben hat, und wenn überhaupt, konnten sie am Gesamtbild nichts ändern. Auch hier ging die Bewertung Diels’ an der Realität völlig vorbei. Gerade der die nationalsozia­listische „Parteiarmee“ mit Polizeifunktionen versehende „Hilfspolizeierlass“ gab der SA die Möglichkeit, „nunmehr im Gewande einer legalen Polizeihilfe unter ebenso entschlossenen wie bedenkenlosen Führern terroristische Aktionen vorzunehmen. Sie schritt nach wie vor zu eigenmächtigen Verhaftungen, richtete eigene Schutzhaftstätten ein […].“76 Die Hilfspolizeifunktionen ermöglichten der SA, wie offen zu Tage trat, in noch größerem Maße als schon davor ihren Rachedurst zu stillen und niedere Instinkte zu befriedigen. Die Schleusen des Terrors waren vollends geöffnet. Zweifellos trug dies zur Einschüchterung derer bei, die sich von der nationalsozia­listischen Wahlagitation noch nicht hatten beeindrucken lassen. Die Erlasse Görings zeigen, dass dieser ein Antreiber war. Insgesamt war das taktische Vorgehen der Nationalsozia­listen auf eine sich steigernde Einschüchterung politischer Gegner hin angelegt, wobei gleichzeitig ein gemäßigtes Verhalten Hitlers auf die Gesamtbevölkerung beruhigend wirken sollte. Um eine „sensationelle Aktion“ zum Durchbruch bei der Machteroberung starten zu können, fehlte es zunächst an einer gegnerischen Veranlassung. Wenn es eine Grund- und Idealvorstellung nationalsozia­listischer Machteroberung gab, dann war es die Vorstellung, daß man im Augenblick eines bolschewistischen Aufstands sich als Retter der bedrohten Ordnung bewähren und so die Legitimation zur eigenen Herrschaft 77 erwerben könne.

Die Gelegenheit, eine ­solche Situation zumindest als gegeben anzunehmen und der Öffentlichkeit dies zu suggerieren, ergab sich wenige Tage später.

75 Lucifer (49), S. 135 f. 76 Schulz, ebd., S. 438; vgl. auch Broszat, ebd., S. 94 f. 77 Thamer, Verführung und Gewalt, S. 248.

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3.4.3 Diels, der Reichstagsbrand und die Reichstagsbrandverordnung Am Abend des 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Diese weltweit Aufsehen erregende Brandkatastrophe und die Reaktion der nationalsozia­listischen Führung darauf übertrafen in ihren Auswirkungen alles Bisherige bei weitem. Es war „das“ schlechthin einschneidende Ereignis der Zeit ­zwischen der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar und den Reichstagswahlen am 5. März 1933. Nun sollte sich zeigen, zu welcher weiteren Steigerung propagandistischen Aufwands die Nationalsozia­listen fähig waren und zu ­welchen Maßnahmen sie sich imstande sahen. Deutlich wurde auch, w ­ elche herausgehobene Stellung Diels inzwischen besaß. Der Brand wurde kurz nach 21 Uhr bemerkt. Im Plenarsaal war der Brandherd; das Feuer wurde zum Großbrand. Obwohl die Feuerwehr rasch vor Ort war, brannte der Plenarsaal vollständig aus. Im Reichstag wurde ein Mann festgenommen, der angab, allein den Brand gelegt zu haben, Marinus van der Lubbe. Er war niederländischer Staatsangehöriger, 24 Jahre alt, Maurergeselle. Zunächst Mitglied der kommunistischen Partei, schloss er sich später einer anarcho-­syndikalistischen Gruppe an. Auf seiner Wanderung war er Mitte Februar in Berlin angelangt. Die innenpolitische Situation in Deutschland und das ihm unbegreifliche Verhalten der Linksparteien machte ihn verzweifelt. Deshalb wollte er ein gewaltiges Protestsignal setzen. Diels, von einem Mitarbeiter alarmiert, beschrieb in seinen Memoiren sehr anschaulich seine Eindrücke vom Ort des Geschehens.78 Als ich mit Schneider in das brennende Gebäude eindrang, mussten wir […] schon über die prallen Schläuche der Berliner Feuerwehren hinwegsteigen. Es waren schon Beamte meiner Abteilung dabei, Marinus van der Lubbe zu vernehmen. Mit nacktem, verschmiertem und schwitzendem Oberkörper sass er, schwer atmend, vor ihnen. […] Ein wilder Triumph lag in den brennenden Augen des blassen, ausgemergelten jungen Gesichts. Ich sass ihm noch einige Male in dieser Nacht im Polizeipräsidium gegenüber und hörte seinen wirren Erzählungen zu. Ich las die kommunistischen Flugzettel, die er in seiner Hosentasche bei sich trug […] und ich versuchte aus den primitiven Schriftzeichen seines Tagebuches seinen Irrfahrten […] zu ­folgen. Die freimütigen Geständnisse des Marinus van der Lubbe konnten mich gar nicht auf den Gedanken bringen, dass ein solcher Feuermichel, der sich so ausgezeichnet auf seine Narrheit verstand, Gehilfen brauchte. Warum sollte nicht ein Streichholz genügen, die feuerempfindliche kalte Pracht des Plenarsaales […] in Flammen zu setzen? Nun hatte dieser Spezialist einen ganzen Rucksack ­voller Anzündemittel verwendet.

Diels’ erste Einschätzung in dieser Nacht soll also einerseits gewesen sein, van der Lubbe sei Alleintäter, aber die Formulierung deutete auch an, dass es nicht dabei bleiben würde. Andererseits hatte er bereits im vorangehenden Absatz geschrieben: „Ich war in der Nacht nach dem Brand der Überzeugung, dass es sich um einen Ausbruch der kommunistischen Angriffsstimmung handeln könnte.“ Dies klang schon eher wie die offizielle Lesart der NS-Führung. Überdies darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dies Sätze aus der Rückschau Ende der Vierzigerjahre sind. Göring, von der Brandmeldung anscheinend ganz konsterniert, war bereits vor Diels in den Reichstag gekommen, begleitet vom Leiter der Polizeiabteilung Grauert. Hitler mit

78 Lucifer (49), S. 142 ff, dort auch die folgenden Zitate.

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Goebbels, der die Nachricht zuerst für einen „schlechten Scherz“ gehalten hatte, Papen, Frick und andere folgten einige Zeit später. Diels, so seine weitere Schilderung, erhielt die Aufforderung, sich sofort in der hohen Runde einzufinden. Auf einem in dem Plenarsaal vorspringenden Balkon waren Hitler und seine Getreuen versammelt. […] Als ich eintrat, schritt Göring auf mich zu. In seiner Stimme lag das ganze schicksalsschwere Pathos der dramatischen Stunde: „Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstandes, sie werden jetzt losschlagen! Es darf keine Minute versäumt werden!“ Göring konnte nicht fortfahren. Hitler wandte sich zu der Versammlung. Nun sah ich, dass sein Gesicht flammend rot war vor Erregung und von der Hitze […]. Als ob er bersten wollte, schrie er in so unbeherrschter Weise, wie ich es bisher nicht an ihm erlebt hatte: „Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozia­ldemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr.“ Ich berichtete von dem Ergebnis der ersten Vernehmungen des Marinus van der Lubbe, – dass es sich meiner Meinung nach um einen Verrückten handelte. Doch da kam ich bei Hitler an den Richtigen; er höhnte über meinen Kinderglauben: „Das ist eine ganz raffinierte, von lange her vorbereitete Sache. Das haben sich diese Verbrecher sehr schön ausgedacht; aber nicht wahr, meine Parteigenossen, sie haben sich verrechnet! […]“ Ich bat Göring auf die Seite; doch er liess mich nicht zu Wort kommen. […] Ich rekapitulierte, dass in seinem Namen ein Polizeifunkspruch an alle Polizeibehörden hinausgehen werde, der den Alarmzustand der Polizei und die Verhaftung derjenigen kommunistischen Funktionäre anordne, die für eine Festnahme im Falle eines Parteiverbots schon seit längerer Zeit vorgesehen s­ eien. Göring hörte nicht zu. „Es darf uns kein kommunistischer und kein sozia­ldemokratischer Landesverräter entrinnen“, waren seine letzten Worte. Als ich wieder vor Schneider stand, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen: „Das ist ein Narrenhaus, Schneider, aber im übrigen ist es soweit; alle kommunistischen und sozia­l­ demokratischen Funktionäre sollen festgesetzt werden, grosse Razzien, Alarmzustand und alles, was dazu gehört!“ Schneider vergass die Sozia­ldemokraten, als er Görings Befehl als Polizeifunkspruch weitergab.

Inwieweit diese Wiedergabe im Einzelnen verlässlich war, kann nicht sicher gesagt werden. Die eigene Rolle wurde sicherlich beschönigend dargestellt. Als feststehend kann aber angesehen werden: Schon in der Brandnacht bezeichneten Hitler und Göring die Kommunisten als Hintermänner van der Lubbes und sahen darin den Beginn eines kommunistischen Aufstands. Zugleich ließen sie keinen Zweifel daran, dies zum Anlass einer gewaltigen Propaganda­ schlacht und auch Verfolgungsaktion nehmen zu wollen. Hier drängt sich die Frage auf, ob van der Lubbe tatsächlich Alleintäter war, oder ob er Mittäter oder Hintermänner hatte, oder ob Nationalsozia­listen die Brandstifter waren. Damit würde zugleich geklärt, ob Diels in die Brandstiftung verwickelt war. Die Frage nach der Urheberschaft des Brandes ist vor dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie politisch diskutiert worden. Ihre Sicht der Dinge wurde der NS-Führung von Anfang an überwiegend nicht geglaubt, im Ausland allemal nicht. Sie gab allenfalls der Propaganda und der Gegenpropaganda Nahrung; sie fand auch keine Stütze im Tatsächlichen und hat sich letztlich als Chimäre erwiesen. Die Möglichkeit einer Brandstiftung durch „die Kommunisten“ hat sich erledigt.

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Nach dem Krieg überwog zunächst in der Geschichtsschreibung die Auffassung, die Nationalsozia­listen ­seien es selbst gewesen, die den Reichstag angezündet hätten. Als 1962 Fritz Tobias in einer eingehenden Untersuchung zu dem Ergebnis kam, van der Lubbe sei Alleintäter gewesen und von niemandem angestiftet worden, wirkte dies überraschend.79 In Wissenschaft und Publizistik wurde eine „Entlastung“ der Nationalsozia­listen befürchtet. Es folgte eine lange und zeitweise ungewöhnlich heftige Kontroverse, bei der es sogar an massiven gegenseitigen persönlichen Vorwürfen und sogar Unterstellungen nicht fehlte. Eine Zeitlang schien sie zur Ruhe gekommen zu sein, ist dann aber wieder aufgelebt und scheint immer noch nicht abgeschlossen.80 Nun lässt sich zu Recht einwenden, die Frage nach dem wirklichen Brandstifter sei zweitrangig; entscheidend sei vielmehr, dass die NS -Führung den Brand rücksichtslos für ihre Zwecke ausgebeutet und ihn sich so zu eigen gemacht hätte. Dabei darf der Aspekt geringer bewertet werden, ob die Nationalsozia­listen in jeder Phase der Machteroberung planvoll handelten oder Situationen ausnutzten. Skrupellos waren sie in jedem Falle und für die moralische Bewertung des NS-Regimes liegt darin kein notwendiger Unterschied. Überdies weist diese Betrachtungsweise durchaus den Weg zu einer überzeugenden Beantwortung der Täterschaftsfrage. Ausgangspunkt ist, dass die Nationalsozia­listen, mit Recht oder eher zu Unrecht, fest mit einem kommunistischen Aufstand rechneten. Im Reichstagsbrand wollten sie den „Auslöser“ dafür erblicken. Die freudige, fast ungläubige Überraschung der NS-Führung über die Nachricht vom Reichstagsbrand verweist auf diesen Umstand. Denn in der Tat war ihnen der Gedanke an einen ­solchen provokativen Akt als Vorwand, um gewaltsam gegen die Linke vorzugehen, durchaus nicht fremd. Nun aber war ihnen der bloße Zufall zu Hilfe gekommen. Nichts konnte ihnen 81 gelegener sein […].

So erweist sich die These von der Alleintäterschaft des Marinus van der Lubbe als eine plausible Lösung der Problematik, wer den Reichstag in Brand gesetzt habe. Mag ein Rest von Ungewissheit bleiben, die Gegenposition leidet viel stärker darunter, dass sie nicht weitere oder andere Täter konkret benennen und deren Täterschaft belegen kann. Um es noch einmal zu betonen: Eine „Entlastung“ des NS-Regimes bedeutet eine Alleintäterschaft van der Lubbes keineswegs. Die Schuld, die es durch alle ihre Machenschaften und Verbrechen auf sich geladen hat, ist ohnehin unendlich groß. Zu bemerken bleibt noch Folgendes: Es ist kein triftiges Argument gegen die Alleintäterschaftsthese, Tobias habe sie erst spät dezidiert aufgestellt und begründet. Es waren zeitbedingte Umstände, wegen derer die Version von der nationalsozia­listischen Brandstiftung maßgeblich blieb. Ferner sind verschiedentlich angeführte Selbstbezichtigungen von Nationalsozia­listen ohne Gewicht. Sie können ohne Weiteres der „Eigenheroisierung“, wenn nicht gar der bloßen Prahlerei zugeordnet werden. 79 Tobias, Reichstagbrand, insbesondere S. 7 ff, 517 ff; zustimmend Mommsen, Reichstagsbrand und politische Folgen, VfZ 1965, S. 351 ff. 80 Siehe auch die Literaturangaben bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 1095 f; ferner den Sammelband ­Deisenroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Berlin 2006. Zuletzt Hett: Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, Reinbeck 2016. 81 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 310; ebenso Wehler, a. a. O., S. 604.

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Im Grunde ist auch die weitere Frage beantwortet, ob Diels an der Brandstiftung beteiligt war. In der Tat wird zwar auch ihm selbst eine s­ olche tiefe Verstrickung in den Reichstagsbrand angelastet, allerdings bezeichnenderweise von Vertretern der Version, die Nationalsozia­listen hätten selbst den Reichstag in Brand gesteckt, namentlich Christoph Graf. Darauf sollte eingegangen werden, auch, wenn man der Prämisse nicht folgt, eben weil es um die Person Diels’ geht. Graf zielte jedoch in seiner großen Studie über „Politische Polizei z­ wischen Demokratie und Diktatur“ in erster Linie auf sie und eher nur indirekt auf Diels als ihren „Kopf “. Graf verwies auf die Vorbereitung von Verhaftungslisten, Razzien in der KPD-Zentrale vor dem Brand, Steuerung der Ermittlungen, insbesondere „Manipulation“ van der Lubbes, weitere Manipulationen und Vertuschungen bis hin zum Reichstagsbrandprozess. Diels wurde nur einmal namentlich erwähnt.82 Dies alles ist aber nicht zwingend. Es wird erst schlüssig, wenn ohnehin eine Täterschaft der Nationalsozia­listen angenommen wird. Selbst eine wie auch immer geartete „Manipulation“ van der Lubbes lässt sich genauso mit der Absicht erklären, die Kommunisten mit allen Mitteln zu bekämpfen und ihnen die Brandstiftung „anzuhängen“. Mit Recht ist Graf entgegengehalten worden, seine eindrucksvolle Untersuchung leide „unter dem selbst gesetzten Druck, […] die These von der Täterschaft nationalsozia­listischer Stellen […] bei der Inbrandsetzung des Reichtags zu stützen.“83 In einem umfangreichen Buch über den Reichstagsbrand gingen die Autoren dagegen den Leiter der politischen Polizei direkt an. Diels habe zu den vorab in die Reichstagsbrandstiftung „Eingeweihten“ [gehört]. Er hatte nicht nur die Verhaftungslisten von Gegnern des neuen Regimes mit vorbereitet, sondern auch bereits 6 Stunden vor der Brandlegung per Polizeifunkspruch die Verhaftung von Kommunisten angeordnet. In der Brandnacht leitete er die Massenverhaftungen. Diels erschien überraschend schnell im brennenden Reichstagsgebäude und war auch bei der ersten Vernehmung van der Lubbes zugegen. Er war gut bekannt mit dem der Brandstiftung bezichtigten KPD-Fraktionsvorsitzenden Ernst Torgler […]. Sogar befreundet war Diels mit dem mutmaßlichen Führer des Brandstifter-­ 84 Kommandos, SA-Führer Karl Ernst.

Dies alles war eine Mischung aus Faktenwiedergabe, Behauptungen und Vermutungen, die in ihrer Kombination dann den Schluss nahelegen sollten, Diels sei an der Brandstiftung beteiligt gewesen. Belege führen die Autoren nicht an.85 Zur Existenz von Verhaftungslisten, die bei der gegen ihn gerichteten Argumentation so stark betont wurden, hat Diels in seinen Memoiren behauptet, diese Listen hätte es schon unter Severing gegeben und sie hätten „keiner Ergänzung mehr bedurft“.86 Hier dürfte es sich wieder um eine Schönfärberei handeln, mit der er sich entlasten wollte. Zunächst muss grundsätzlich unterschieden werden ­zwischen solchen Listen zu polizeilichen Zwecken einer demokratisch legitimierten Regierung und solchen zur Verfügung eines Unrechtsregimes mit dem Zweck politischer Verfolgung. Es ist auch keinesfalls anzunehmen, Göring hätte diese Listen unverändert übernommen, vielmehr ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass sie verändert oder 82 83 84 85 86

Vgl. Graf, ebd., S. 221 ff (S. 224 ff). Herbert, Best, S. 567 Anm. 3. Alexander Bahar/Winfried Kugel, Der Reichstagsbrand – Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001, S. 717. So auch Wallbaum, ebd., S. 99. Lucifer (49), S. 151.

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ergänzt wurden. Bestätigt wird dies durch die Darstellung von Diels’ früherem Ministeriumskollegen Kempner, Diels habe ihm bei einer Begegnung Mitte Februar eingestanden, er sei dabei, neue Listen zusammenzustellen.87 Abschließend ist hinsichtlich der Entstehung des Reichstagsbrandes noch einmal darauf einzugehen, wie Diels selber die Frage der Urheberschaft eingeschätzt hat. Er gab dazu nie eine wirklich klare Auskunft, obwohl er sie als der damals maßgebliche Mann der politischen Polizei Preußens durchaus hätte geben können. Hätte er es getan, wäre es wohl nicht zu der erwähnten langandauernden Kontroverse um den Reichstagsbrand gekommen. Diels hatte, wie geschildert, bereits seine ersten Eindrücke in der Brandnacht nicht frei von Widerspruch formuliert. Wenige Seiten weiter gab er, ohne sich festzulegen, einen sehr eigenwilligen Kommentar zu den drei Möglichkeiten einer Brandstiftung ab. Wenn der Reichstagsbrand der Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands dienen sollte, so war er eine Dummheit. Wenn es die Tat eines Einzelnen, noch dazu eines Verrückten war, so war es eine gemeine Brandstiftung, und zwar eines „nicht bewohnten Gebäudes“. Wenn aber die Nationalsozia­listen die Täter waren, da musste sich mir nur die Frage erheben, warum sie es nicht in aller Offenheit vollbracht und als eine revolutionäre Tat gefeiert hatten. Sie verbrannten ja auch Bücher und Bilder vor allem Volk; sie zerstörten die Druckereien der roten Zeitungen […].

Diesem Gedanken hing er etwas nach, um dann, fast schon feierlich, zu erklären: „Ich habe mich 1946 schriftlich an das Internationale Militärtribunal in Nürnberg gewandt mit dem Hinweis, dass das deutsche Volk ein Recht habe, von dem Gericht Aufklärung über den Reichstagsbrand zu verlangen. Ich habe dargetan, dass diese Aufklärung noch möglich sei.“ Seine persönliche Einschätzung gab er dann so wieder: „Ich selbst habe schon nach einigen Wochen nach dem Brand bis 1945 geglaubt, dass die Nationalsozia­listen die Brandstifter ­seien. Ich glaube es heute nicht mehr.“88 Auch nach der Veröffentlichung seines Buches hat sich Diels noch mehrere Male bis kurz vor seinem Tode zur Problematik der Brandstiftung geäußert, ohne allerdings eine eigene Beteiligung auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Die Einlassungen Diels’ zu dieser Thematik dürften aus unterschiedlichen Motiven so wechselhaft gewesen sein. Zeitströmungen mögen auch eine Rolle gespielt haben. Wahrscheinlich war er sich nicht gewiss, wer wirklich der oder die Täter waren. Aber dies mochte er sicher nicht zugeben; das schien er seiner früheren Funktion schuldig zu sein. Andererseits konnte er sich durch unterschiedliche, mehr oder minder ominöse Äußerungen weiter interessant machen. Dies hat wohl zu einer Überschätzung seiner Rolle bei der Entstehung des Reichstagsbrandes beigetragen. Allerdings sollte betont werden: Ebenso wenig wie die Nationalsozia­listen und ihre Führer ist Diels von historischer Schuld von vornherein entlastet, wenn er persönlich nicht an der Brandlegung beteiligt war. Auf Grund seiner Funktion war er an der „Ausnutzung“ des Reichstagsbrandes beteiligt. Es ist nun zum weiteren Ablauf der Brandnacht zurückzukehren und damit zur Reaktion der NS-Führung auf das für sie unerwartete Ereignis. Dabei tritt auch Diels’ tätiger Anteil zu Tage.89 Göring, vor der anderen Prominenz am Brandort eingetroffen, hatte den Gedanken 87 Ankläger einer Epoche, S. 110 f. Kempner, Demokrat und jüdischer Herkunft, hatte bereits im Februar das Innenministerium verlassen müssen. Vgl. auch Wallbaum, ebd., S. 100 f. 88 Lucifer (49), S. 145 und 147. 89 Dazu vor allem Mommsen, ebd., S. 387 ff. Weiter vgl. z. B. Thamer, ebd., S. 249 ff.

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eines kommunistischen Aufstandsversuchs aufgebracht. Maßgeblich geschah dies auf Grund der Mitteilung, die KPD -Reichstagsabgeordneten Torgler und Koenen hätten als letzte das Gebäude verlassen. In der überaus erregten Situation bekam die Mitteilung sogleich den Charakter einer gesicherten Beschuldigung. Dies erklärte sich aus dem Zusammenhang mit den bereits umlaufenden Gerüchten, wegen der rasanten Entstehung und großen Wirkung des Brandes müsste es eine Vielzahl von Tätern gewesen sein. Den innenpolitischen „Hintergrund“ bildete die zunehmende Spannung, je näher der Wahltag kam. Die NS-Führung wurde nervös, als die erwarteten kommunistischen Gewaltaktionen größeren Umfangs ausblieben. Die von Diels geleitete politische Polizei hatte durch ihre Aktivitäten die verbreitete Angst gefördert. Diels selbst will Göring auf den Gedanken gebracht haben, die Zentrale der KPD, das Karl-­Liebknecht-­Haus, zu durchsuchen. „Obwohl praktisch nichts von Bedeutung gefunden wurde, erklärte die Polizei, sie hätte riesige Mengen hochverräterischen Materials sichergestellt […] “90 Die angekündigte Veröffentlichung der Dokumente erfolgte aber nie. Diels hatte aber jedenfalls seinen Anteil zur allgemeinen Hysterie geleistet. Mit Görings Einschätzung, es handele sich um die erwartete Gewaltaktion der KPD, die er sogleich Hitler übermittelt hatte und dieser übernahm, lag die Marschroute der NS-Führung fest. Göring gab dies auch alsbald an die Öffentlichkeit. Wie sein Pressesprecher später berichtete, verwarf er dessen Entwurf einer amtlichen Presseerklärung.91 Dieser sei „ein Polizei­bericht“ und kein „politisches Kommuniqué“. Göring redigierte höchstpersönlich den Text neu. Der angezündete Reichstag wurde als „Fanal“ eines kommunistischen Aufstands dargestellt und die Verhaftung kommunistischer Funktionäre sowie das Verbot der marxistischen Presse wurden verkündet. Nachdem Göring seine Anordnungen für polizeiliche Maßnahmen an Diels erteilt hatte, begab er sich mit Hitler ins preußische Innenministerium zu einer Besprechung. An ihr nahm außer dem Staatssekretär von Bismarck, dem Polizeiabteilungsleiter Grauert und dem Berliner Polizeipräsidenten von Levetzow wiederum auch Diels teil, der sie in seinen Memoiren nicht erwähnt. Es liegt nahe, dass es wesentlich um weitere und umfassendere Maßnahmen ging, allerdings auch um Fortführung des Wahlkampfs. Dabei soll Grauert erstmals den Gedanken einer Notverordnung, allerdings nur für Preußen, aufgebracht haben. Am nächsten Tag solle jedoch von der Reichsregierung eine Verordnung für das ganze Reich beschlossen werden. Hitler und Goebbels fuhren nun weiter zur Redaktion des „Völkischen Beobachters“ und ließen die Setzmaschinen anhalten. Goebbels verfasste für ein neues Kopfblatt einen polemischen Leitartikel, mit dem er eine „wilde Pressekampagne“ gegen die Kommunisten begann. Die von Göring angeordnete Verhaftungsaktion begann alsbald. Diels’ spätere Schilderung war sehr anschaulich: Als ich nach Mitternacht in den „Alex“ zurückkehrte, schwärmte es dort wie in einem Bienenhaus. […] Während Einsatzwagen heranrollten und truppweise Kriminalisten, mit […] fertigen Listen in der Hand, sich mit uniformierten Beamten auf die Rampe schwangen, rollten schon die 92 ersten Wagen mit den aus dem Schlaf geholten erstaunten Arrestanten […] wieder an.

90 Kershaw, Hitler, S. 580. Vgl. dabei Diels, Lucifer (49), S. 139 f. 91 Sommerfeldt, Ich war dabei, S. 26 f. 92 Lucifer (49), S. 144.

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Etwa 4000 vor allem kommunistische Funktionäre, auch Reichstagsabgeordnete, wurden Opfer der nächtlichen Aktion; außerdem Ärzte, Rechtsanwälte und Schriftsteller, die sich missliebig gemacht hatten. Die von Diels behauptete Begrenzung auf Kommunisten war also unzutreffend. Die kommunistische Presse wurde unbefristet, die sozia­ldemokratische für vierzehn Tage verboten, also über den Termin der Reichstags- und Landtagswahl am 5. März hinaus. Nach der Zahl der Verhafteten war das Ergebnis der Aktion erfolgreich; allerdings blieben zahlreiche Spitzenfunktionäre unbehelligt. Die konkreten Umstände der Verhaftungen widersprachen ihrerseits der Behauptung eines „kommunistischen Aufstandsversuchs“, und der Abgeordnete Torgler tat noch ein Übriges und stellte sich selbst der Polizei, um die Haltlosigkeit der Beschuldigungen deutlich zu machen. Dies hinderte natürlich nicht die Herausgabe der amtlichen Presseerklärung in der von Göring redigierten Fassung. Die Haftbefehle waren auf § 22 der erwähnten Notverordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 gestützt. Danach konnten Personen unter bestimmten Voraussetzungen in Polizeihaft genommen werden. Diese weite Fassung der Verordnung war verfassungsrechtlich bedenklich. Konkret waren die Verhaftungen deshalb rechtswidrig, weil sie auf falschen Annahmen oder falschen Verdächtigungen beruhten. Mit der Weitergabe der Anordnungen Görings und der Verhaftungslisten hatte Diels einen erheblichen Anteil an der rechtswidrigen Großaktion dieser Nacht. Hitler selbst sah in der Brandstiftung auch den kommunistischen Versuch, die kurz bevorstehenden Reichstagswahlen zu verhindern.93 Die Wahlen mussten aber unter allen Umständen stattfinden. Denn der Reichskanzler erwartete einen großen Wahlerfolg, der ihn unmittelbar persönlich legitimieren und seinen politischen Spielraum deutlich erweitern würde. Die „Waffe der Legalität“ bliebe in seiner Hand, ein Ermächtigungsgesetz wäre möglich, die Abhängigkeit von Notverordnungen des Reichspräsidenten entfiele und endlich würde der deutschnationale Koalitionspartner abgeschüttelt werden können. Ein verschärfter Kampf gegen die Kommunisten und die Linke überhaupt diente letztlich der Sicherung des Wahltermins. Unter all diesen Aspekten ist die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ zu verstehen, die das Reichskabinett am Morgen des 28. Februar beschloss.94 Den Entwurf legte Reichsinnenminister Frick vor. Die Verordnung kam etwas improvisiert zustande. Trotzdem war sie von großer Geschlossenheit und sicherer Berechnung. Der Inhalt der zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erlassenen Verordnung war schwerwiegend und überaus weitreichend. In § 1 Satz 1 wurden Art. 114 f., 117 f., 123 f.und 153 WV „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt“. Das blieb im Ermächtigungsrahmen des Art. 48 Abs. 2 WV, betraf allerdings fast alle Grundrechte der Verfassung. Im Verfassungstext wurde allerdings statt des ominösen „bis auf weiteres“ der Begriff „vorüber­gehend“ verwendet. § 1 Satz 2 präzisierte: Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.

93 Vgl. Mommsen, ebd., S. 397 f. 94 RGBl, S. 83.

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Die in Art. 48 Abs. 2 WV nicht genannten und daher in der Verordnung nicht enthaltenen „diktaturfesten“ Grundrechte waren beispielsweise der Gleichheitssatz (Art. 109) und Freizügig­ keit und Berufsfreiheit (Art. 111). Sie wurden aber doch mittelbar durch den Wegfall der vielen anderen Grundrechte in ihrer Wirkung beeinträchtigt. Die Gerichte wandten sie dann später auch nicht mehr an. Nach § 2 konnte die Reichsregierung, wenn in einem Lande die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen nicht getroffen wurden, „insoweit die Befugnisse der obersten Landesbehörde vorübergehend wahrnehmen“. Diese Bestimmung schloss erkennbar an die „Preußenverordnung“ vom 20. Juli 1932 an. Sie ging aber in zweifacher Hinsicht weiter, indem sie die unmittelbare Übernahme der Befugnisse durch die Reichsregierung selbst statt durch einen Reichskommissar vorsah, und dies auch nicht erst auf Grund einer Verordnung des Reichspräsidenten ermöglichte. Scharfe Strafbestimmungen in §§ 4 und 5 komplettierten die Verordnung. So waren beispielsweise nach § 5 Abs. 1 Verbrechen, die nach dem Strafgesetzbuch mit lebenslangem Zuchthaus bedroht waren, mit dem Tode zu bestrafen, darunter Hochverrat und auch Brandstiftung. Hindenburg unterschrieb die Verordnung noch am selben Tag anstandslos. Er folgte Papens Berichterstattung, wonach sie als „Sonderverordnung zur Bekämpfung kommunistischer Gewaltakte“ gedacht sei.95 Die Reichstagsbrandverordnung ging in ihren Folgen weit über den Anlass ihrer Entstehung hinaus. Der militärische Ausnahmezustand, den Hitler nicht wollte, war vermieden worden; dafür gab es jetzt den zivilen. Die „vollziehende Gewalt“ wurde der Reichsregierung übertragen, eben um die Durchführung der Wahlen nicht zu gefährden. Vorbedingung des zivilen Ausnahmezustands im gesamten Reichsgebiet aber war, dass die Polizei in dessen größten Teil, insbesondere in Preußen, unter nationalsozia­listischer Führung stand und der SA die Funktion einer Hilfspolizei zugebilligt worden war. Es handelte sich bei der Verordnung um den Höhepunkt der Notverordnungspolitik der Regierung Hitler. Insgesamt zwanzig Notverordnungen auf Grund Art. 48 WV wurden in den Wochen seit dem 30. Januar und dem Zusammentreten des neugewählten Reichstags am 21. März erlassen. Sie haben erst die Voraussetzungen für die Scheinlegalisierung der Diktatur entstehen lassen, die durch das Ermächtigungsgesetz erfolgte.96 Die Reichstagsbrandverordnung enthielt keine rechtsstaatlichen Sicherungen in Form von Beschwerdemöglichkeiten. Die zeitliche Begrenzung der Außerkraftsetzung von Grundrechten „bis auf weiteres“ ist in der Herrschaftspraxis des Regimes nie berücksichtigt worden. Die Verordnung blieb bis zum Ende des Dritten Reiches bestehen und wurde auch zu Maßnahmen herangezogen, die mit ihrer vorgeblichen Veranlassung durch kommunistische Aktionen nichts zu tun hatten. Sie war die unwiderrufliche Ablösung des Rechtsstaates durch den Polizeistaat, und so auch für Diels’ Tätigkeit und deren Beurteilung von elementarer Bedeutung. Im Verhältnis z­ wischen dem Einzelnen und der öffentlichen Gewalt war sie nach einem berühmten Wort des aus der Emigration zurückgekehrten Politologen Ernst Fraenkel die „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“. Sie war die Grundlegung für Terror und Verfolgung von Regimegegnern. Insbesondere die Einführung der Todesstrafe für Hoch- und Landesverrat gab der späteren nationalsozia­listischen Terrorjustiz den Schein von Legalität.

95 Vgl. Pyta, Hindenburg, S. 814. 96 Zur Bedeutung der Reichstagsbrandverordnung vor allem Bracher, Stufen der Machtergreifung, S. 85 ff.

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Ein weiterer rechtsstaatlicher Mangel der Verordnung war, dass der Reichsinnenminister keine Ausführungsvorschriften erließ. Das tat mit verschärfender Tendenz für Preußen Göring. Sein Durchführungserlass vom 3. März spitzte die Verordnung zu. § 1 beseitigte „auch alle sonstigen für das Tätigwerden der Polizei gezogenen reichs- und landesgesetzlichen Schranken[!], soweit es zur Erreichung des mit der VO erstrebten Zieles zweckmäßig und erforderlich ist.“97 Zudem legte der Erlass das in der Verordnung genannte Ziel der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewalttaten“ extensiv aus. Nach Zweck und Ziel der VO werden sich die nach ihr zulässigen erweiterten Maßnahmen in erster Linie gegen die Kommunisten, dann aber auch gegen diejenigen zu richten haben, die mit den Kommunisten zusammenarbeiten und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstützen oder fördern.

Hier zeigte sich exemplarisch, wie die NS-Führung in ihrer „legalistischen“ Herrschaftspraxis vorging. Eine ohnehin schon exzessive Verordnung wurde einfach im Erlasswege noch weiter ausgedehnt. Dies alles waren von nun an wesentliche „Arbeitsgrundlagen“ für Diels und die von ihm geleitete politische Polizei. Er selbst erwähnte bezeichnenderweise die Reichstagsbrandverordnung und den Durchführungserlass Görings in seinen Memoiren mit keinem Wort. Die Verhaftungswelle ging in den Tagen nach dem Reichstagsbrand weiter. Es war ja die letzte Woche vor der für den 5. März angesetzten Reichstags- und preußischen Landtagswahl. Die Verhaftungen trafen vor allem die mittleren kommunistischen Kader. Am 3. März wurde auf Grund einer Denunziation der Parteivorsitzende Ernst Thälmann verhaftet. Andere führende Funktionäre gingen in die Emigration. Wie rigoros das Vorgehen in Preußen im Gegensatz zu den süddeutschen Ländern war, bewies die Tatsache, dass in der Mehrzahl der 34 preußischen Regierungsbezirke bis zum 15. März 7.784 Personen auf Grund der Verordnung vom 28. ­Februar verhaftet wurden.98 Diels seinerseits schilderte diese Verfolgung in dem ihm eigenen Stil: „Das Unternehmen war zwar wie am Schnürchen abgelaufen, doch weder Göring noch Hitler waren von dem Erfolg befriedigt.“99 Es waren eben viele wichtige Funktionäre entkommen. Mit der gleichzeitig mit Hochdruck betriebenen polizeilichen Untersuchung der Brandstiftung selbst will Diels nichts zu tun gehabt haben. Göring hatte […] eine Sondergruppe für die Untersuchung des Falles eingesetzt. Zu irgendwelchen Anweisungen dieser Beamten war ich nicht befugt. Sie waren mit dem Beginn der Ermittlungen automatisch „Hilfsbeamte der Reichsanwaltschaft“ geworden. Göring konferierte mit den 100 Beamten und dem Oberreichsanwalt persönlich und häufig.

Dies war wiederum beschönigend, um die eigene Rolle zu verkleinern. In der Tat hatte Göring einige Kriminalkommissare der politischen Polizei zu einer „Brandkommission“ zusammengefasst. Diels war auf Grund seiner Funktion ohnehin bis zur Übernahme der Ermittlungen durch den Oberreichsanwalt ihnen gegenüber weisungsbefugt. Am 3. März soll Diels persönlich den „Abschlussbericht“, den einer seiner Mitarbeiter entworfen hatte, Göring überreicht und 97 MBliV., Sp. 233. Vgl. zum Folgenden Pehle, Machtergreifung Aachen, S. 342 f. 98 Vgl. Broszat, Der Staat Hitlers, S. 101. 99 Lucifer (49), S. 150. 100 Lucifer (49), S. 149.

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eine Presseerklärung veranlasst haben. In dem Bericht wurde van der Lubbe als ­Alleintäter, aber zugleich als „vorzügliches Werkzeug der KPD “ bezeichnet. Dringender Tatverdacht wegen Anstiftung bestehe gegen die kommunistischen Reichstagsabgeordneten Torgler und Koenen.101 Nach alldem war Diels offenbar auf die „Generallinie“ Görings eingeschwenkt, die Kommunisten steckten hinter der Brandstiftung. Der Oberreichsanwalt übernahm dann am 3. März 1933 die Leitung der Ermittlungen. Denn für die Strafsache gegen van der Lubbe „wegen Vorbereitung des Hochverrats durch Brandstiftung“ war damals das Reichsgericht und damit als Anklagebehörde der Oberreichsanwalt zuständig. Die preußischen Polizeibeamten waren dadurch in dem konkreten Ermittlungsverfahren Hilfsbeamte des Oberreichsanwalts geworden und verpflichtet, seinen Anordnungen zu folgen. Diels’ Weisungsrechte im Übrigen blieben davon unberührt. Diels dürfte sich die Möglichkeit einer mittelbaren Einflussnahme auf die Ermittlungen nicht haben entgehen lassen. Angesichts der Bedeutung des Falles für das Prestige der NS-Führung spricht Vieles dafür, dass der preußischen politischen Polizei vorgeworfen werden kann, die Reichstagsbrand-­ Untersuchung manipuliert zu haben. Sie soll Zeugen unterdrückt und falsche Zeugen und Dokumente präsentiert, Spuren verwischt und Hintergründe vertuscht, schließlich auch die bulgarischen Kommunisten Dimitroff, der auch Funktionär der Komintern war, Popoff und Taneff hineingezogen und als Hintermänner der Brandstiftung hingestellt haben.102 Diese dezidiert und summarisch erhobenen Vorwürfe treffen zwangsläufig auch Diels. In welchem Maße sie berechtigt sind, ist daher kaum zu bestimmen. Diels nahm allerdings für sich in Anspruch, zu Göring in der Absicht gegangen zu sein, „ihm seinen Vorsatz auszureden, Torgler und die Bulgaren anzuklagen, dafür aber der Anklage eine haltbare Grundlage durch die Einbeziehung der ebenfalls verhafteten, allerdings kleinen Kommunisten zu geben.“103 Dessen Reaktion habe „die Formen einer Tobsucht“ angenommen. „Was geht Sie überhaupt das Ganze an? Der Oberreichsanwalt ist zuständig für den Prozess. Er handelt nach meinem Willen[!].“ Ob Göring sich wirklich über alle Zuständigkeiten hinweg so großsprecherisch geäußert hat, muss offenbleiben. Nicht unwahrscheinlich ist, dass Diels sich für Torgler einsetzte. Wie die Abegg-­Affäre gezeigt hatte, kannten sie sich schon längere Zeit. Der Kontinuität halber ist nun im zeitlichen Vorgriff das weitere Verfahren zu schildern. Die gerichtliche Voruntersuchung zog sich den Sommer 1933 über hin. Der Prozess vor dem Reichsgericht begann erst am 21. September und dauerte drei Monate. Angeklagt waren außer van der Lubbe und dem früheren KPD-Reichstagsabgeordneten Torgler auch Dimitroff sowie die beiden anderen bulgarischen Kommunisten. Die Qualität des Belastungsmaterials hätte eigentlich für einen so groß aufgezogenen Strafprozess nicht ausgereicht; bis kurz vor Prozessbeginn wurde noch nach Material gesucht. Das Regime wollte eben einen Prozess mit stark antikommunistischer Tendenz. „Wie der Prozess durch antikommunistische Ressentiments veranlasst wurde, so litt die Prozessführung ständig darunter.“104 Die Anteilnahme des Auslands an dem Prozess war ungewöhnlich groß. Göring wurde am 4. November als Zeuge vernommen und lieferte sich ein denkwürdiges rhetorisches Duell mit Dimitroff. Dabei machte er insgesamt keine überzeugende Figur. Auch die Kriminalbeamten, 101 Zum Abschlussbericht Tobias, Der Reichstagsbrand, S. 76 ff. 102 Vgl. Graf, ebd., S. 226 ff. 103 Lucifer (49), S. 149. Dort auch die beiden folgenden Zitate. 104 Vgl. zum Prozess bis zu dessen Abschluss Mommsen, ebd., S. 408 ff. Dort auch das Zitat.

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­ elche die Ermittlungen durchgeführt hatten, wurden vernommen, nicht aber Diels. Verschiew dentlich wird in der Literatur ein anderer Eindruck erweckt, aber weder Diels selbst noch sein Biograph erwähnen eine Vernehmung.105 Immerhin berichtet seine Bekannte Martha Dodd, Tochter des damaligen amerikanischen Botschafters in Berlin, in ihren Erinnerungen, Diels habe sie eingeladen, bei einigen Verhandlungsterminen „dabei[zu]sein“.106 Sie schrieb zunächst von einer Verhandlung in einem „riesenhaften Gebäude“ und meint damit wohl einen Orts­ termin im Reichstag selbst. Dann schilderte sie eine weitere Verhandlung vor dem Reichsgericht, bei der Göring als Zeuge vernommen wurde. Die ganze Zeit, in der Göring sprach, stand Diels hinter ihm, stützte sich auf der Richterbank auf, beobachtete jede Bewegung und lauschte jedem Ton und jedem Wort. […] ich bin fest davon überzeugt, daß Diels an der Rede Görings mitgearbeitet hat, wenn er sie nicht überhaupt entworfen hatte; daß er alles geplant und zeitlich abgestimmt hatte, daß Göring sich über die gerissene Meisterschaft Diels, mit der er die Fakten und die Szene beherrschte, im klaren war und daß er es ihm verübelte.

Diese Darstellung enthält Unstimmigkeiten. Die Szene kann sich nicht so abgespielt haben. Nach der Strafprozessordnung steht der Zeuge allein vor den Richtern und spricht grundsätzlich frei. Diels hätte sich allenfalls auf der Zuschauerbank befinden können, wenn er denn überhaupt anwesend war. Das aber ist unsicher, denn der Tag der Vernehmung Görings, der 4. November, fiel möglicherweise in den Zeitraum, in dem Diels die Leitung des Geheimen Staatspolizeiamtes entzogen war. Am 23. Dezember 1933 wurde das Urteil verkündet. Van der Lubbe wurde wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung zum Tode verurteilt. Das Gericht befand in den Urteilsgründen, er müsse einen oder mehrere Mittäter gehabt haben. Beides war noch im Sinne des Regimes. Aber die anderen Angeklagten, Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff, wurden „mangels Beweises“ freigesprochen. Die NS-Führung war darüber empört, sie hatte einen erheblichen Prestigeverlust erlitten. Den Freispruch der Kommunisten konnte man als Beleg dafür sehen, dass sich das Gericht seine Unabhängigkeit jedenfalls zu d ­ iesem Teil bewahrt hatte. Andererseits wurde im Ausland der Prozess sehr genau verfolgt, und das Gericht hätte sich mit einer Verurteilung mit Sicherheit unglaubwürdig gemacht. Van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 hingerichtet; er ging gefasst in den Tod. Das Urteil gegen ihn war ein Unrechtsurteil, weil es gegen das rechtsstaatliche Prinzip eines Rückwirkungsverbots verstieß. Die Vorschriften, auf denen es beruhte, waren ja erst nach der Tat durch die Reichstagsbrandverordnung mit der Todesstrafe bedroht worden. Diese Strafverschärfung war durch ein Gesetz vom 29. März 1933 auf den Zeitraum ab dem 31. Januar 1933 vorverlegt worden.107 Die Reichsregierung hatte es auf Grund des Ermächtigungsgesetztes selbst erlassen können. Oben ist bereits auf den Zusammenhang ­zwischen der Reichstagsbrandverordnung und dem doppelten Wahltermin am 5. März hingewiesen worden. Sicherlich war die Verordnung auch zur massiven Beeinflussung der Wähler gedacht. Unmutsreaktionen waren aber kaum festzustellen; die Verordnung wurde weithin begrüßt. Darüber hinaus dürften 105 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 102. Keine Erwähnung auch bei Tobias, ebd., S. 347 ff. 106 Martha Dodd, Meine Jahre in Deutschland, S. 67 ff, von dort auch die Zitate. 107 RGBl, S. 151. Das Urteil des Reichsgerichts ist veröffentlicht bei Deisenroth, ebd., S. 225 ff.

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Terror und Einschüchterung ihre Wirkung auf zahlreiche ängstliche und unsichere Wähler nicht verfehlt haben. Manche Deutsche waren auch von den Ereignissen wie betäubt und nahmen nicht alles wahr, was geschah. Viele durchschauten nicht, dass es bei der Reichstagsbrandverordnung auch um ihre Rechte und nicht nur um die politischer Gegner des Nationalsozia­lismus ging. Besonders bemerkenswert ist die Deutung von Golo Mann: Wenn […] Adel und Bürgertum die Untat hinnahmen, den Feuerzauber zu glauben vorgaben, dann mussten sie von nun an schlucken, was ihnen geboten wurde, selbst noch viel tollere Dinge, und waren ihre politischen Besitztümer, Parlamentarismus, Parteien, Rechte der Länder, Rechte der Beamtenschaft, Rechtssicherheit überhaupt, Geistesfreiheit und Handlungsfreiheit verloren. Sie nahmen hin. […] Das übrige war, […] bei einem Teil des Bürgertums, heimliches Achsel­ zucken und Schmunzeln. Der Brand, wer auch die Täter sein mochten, hatte seine Wirkung 108 getan; man war die „roten Strolche“ los, Kommunisten und Sozia­listen.

3.5 Doppelter Gipfelpunkt: Göring preußischer Ministerpräsident und Diels Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts in Preußen 3.5.1 Personalentscheidungen und das Erste Gestapogesetz Die anschließende politische Entwicklung bildete den bewegenden Hintergrund für die weiteren Stationen von Diels’ Karriere und der seines Gönners Göring. Die Wahlen vom 5. März 1933 im Reich und in Preußen verschafften den Nationalsozia­listen eine neue Basis ihrer Macht. Die Auswirkungen im Reich und in Preußen waren erheblich. Dort führten sie zu einer Veränderung der Machtposition des bisher kommissarischen Innenministers Göring sowie der Stellung und Funktion der politischen Polizei im Staatsapparat. Bei den Wahlen zum Reichstag errangen bei hoher Wahlbeteiligung, wie in Kapitel 2 schon dargestellt, die NSDAP mit 288 und ihre Verbündeten, die „Kampffront Schwarz-­Weiß-­Rot“, mit 52 Mandaten die absolute Mehrheit. Die katholischen Parteien, Zentrum und Bayerische Volkspartei (BVP), hatten sich gut behauptet, die Linksparteien, SPD mit geringen, KPD mit stärkeren Verlusten, sich doch achtbar gehalten. Insgesamt ist festzustellen, dass es den mit allen Mitteln der Propaganda und der Einschüchterung errungenen bisher größten Wahlerfolg der NSDAP doch minderte, weiter auf einen Koalitionspartner angewiesen zu sein. Die Mehrheit der Bevölkerung war eben nicht wie erhofft gewonnen. Maßgeblich war aber etwas anderes. Der Ausgang der Wahl erfüllte gleichwohl die entscheidende ihr zugedachte Funktion: Sie erbrachte der neuen Regierung eine plebiszitäre Legitimation, die als moralischer Rückhalt umso wichtiger war, als mit Hilfe ­dieses Mandats die parlamentarische Demokratie endgültig zugunsten einer 109 autoritären Führung verabschiedet werden sollte. 108 Mann, Deutsche Geschichte, S. 797. 109 Broszat, Staat Hitlers, S. 105.

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Ungeachtet der enttäuschten Erwartungen konnten die Nationalsozia­listen das Ergebnis deshalb als gewaltigen, entscheidenden Sieg feiern, und Hitler sagte im Reichskabinett „beschönigend aber im Grunde hochbefriedigt […], daß das Wahlergebnis einer ,Revolution‘ zugunsten seiner Regierung gleichkomme.“110 Dabei hatte er auch das Ergebnis der preußischen Landtagswahlen im Blick, die ähnlich ausgefallen waren. In der Tat folgte nun das, was die Nationalsozia­listen eine „nationale Revolution“ nannten. Zu deren Erscheinungsformen gehörten die weitere Machtkonsolidierung im Reich, die „Gleichschaltung“ der Länder, das Erringen der Macht in Städten und Gemeinden, eine weiter verschärfte Verfolgung politischer Gegner und auch der Mitgliederzuwachs der NSDAP. Gleich nach den Wahlen strömten Massen neuer Mitglieder in die Partei, vornehmlich Beamte und Lehrer, die sogenannten „Märzgefallenen“. Die Zahl der Parteimitglieder verdoppelte sich so bis Anfang Mai 1933 auf etwas über drei Millionen. Diels gehörte nicht zu ihnen; er trat erst viel später der NSDAP bei. Er hatte es wohl noch „nicht nötig“. Zugleich folgte eine weitere Welle des Terrors der SA, wie auch Diels beschrieb. „Mit der Reichstagswahl war es […] vorbei mit der Legalität. Anfang März nahm das Treiben der Berliner SA die rabiatesten Formen an.“111 So wurde gnadenlos mit den „Bolschewisten“ und, die man dazu zählte, abgerechnet. In Berlin und Umgebung errichtete die SA ­Konzentrationslager, die häufig mit einem problematischen Beiwort als „wilde“ bezeichnet werden. Das erste „offizielle“ Konzentrationslager wurde ebenfalls im März im bayerischen Dachau von der SS eingerichtet. In all diesen Lagern wurden außer Kommunisten zunehmend auch Sozia­l­ demokraten und andere Regimegegner gefangen gehalten und gequält. Diels schilderte die Vorgänge sehr deutlich. Es kamen Nachrichten über Lager [sc. der SA] bei Oranienburg, Königswusterhausen und ­Bornim. Nach den Berichten von Beamten und Freunden trat die SA mit eigenen „Vernehmungsstellen“ in Berlin selbst in eine grauenvolle Tätigkeit ein. […] Die „Bunker“ in der Hedemann- und Vossstraße wurden zu infernalischen Stätten der Menschenquälerei. Es entstand das Columbia-­ 112 Gefängnis der SS, die allerschlimmste Marterstätte.

Diese Vorgänge lastete Diels auch seinem Vorgesetzten, dem Berliner Polizeipräsidenten von Levetzow an. „Das waren die Folgen von Levetzows Abneigung, sich mit solchen Sachen zu ‚beschmutzen‘ […].“ Auch hatte er ihm einen „Mangel an politischer Vorausschau und psycho­ logischem Urteil, verbunden mit der Abneigung gegen die in ihrer Schwungkraft unterschätzten Revolutionäre“113 vorgehalten. Seine Sache sei nicht „die Würdigung der im Kern der SA verborgenen Imponderabilien [gewesen], die vielleicht Ansatzpunkte für einen Sieg der Vernunft geboten hätten.“ Die Berechtigung ­dieses Vorwurfs erscheint zweifelhaft und noch mehr die Annahme, dass „ein Sieg der Vernunft“ möglich gewesen wäre. Der Sinn dieser Sätze erschloss sich eher, wenn man Diels’ allgemeine Beschreibung der SA heranzieht.114 Er bezeichnete sie als kulturlos und auf „ihre eigene besondere Weise“ diszipliniert. Sie hätten sich „politische Soldaten“ genannt. 110 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 605. 111 Lucifer (49), S. 157. 112 Ebd. (49), S. 163, ebenso das folgende Zitat. 113 Ebd. (49), S. 161, das folgende Zitat S. 162. 114 Ebd. (49), S. 153.

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In der alten SA gab es die „einfachen Marschierer“, die ohne Gegenleistung zu opfern bereit waren. Sie wollten nichts erben und nichts gewinnen, weil sie sich von der dunklen Idee, die sie im Wort Sozia­lismus ansprach, gepackt fühlten. Dafür hatten sie die Mühsale des SA-Dienstes auf sich genommen […].

Diels’ Darstellung war in Teilen idealisierend und ungeachtet einzelner sicherlich zutreffender Beobachtungen nicht in sich geschlossen. Offenbar sah er in der SA positive Ansätze, und ihre Exzesse hätten sich bei richtigem Herangehen eindämmen oder gar hindern lassen. Seine Reaktion auf die Geschehnisse fasste Diels, sich selbst stilisierend, folgendermaßen zusammen: Ich stand damals fassungslos vor allem, was ich hörte […]. Meine feste Überzeugung, dass Deutsche trotz ihrer blutrünstigen Drohungen keiner grausamen Revolution fähig ­seien […], war erschüttert. Ihnen mit allen Mitteln entgegenzutreten – auch wenn es nicht meines Amtes war [!] – wenn nicht mit Gewalt, dann mit Klugheit und List auf die Verhütung des Massenmordes 115 auszugehen, entwickelte sich zu meiner leitenden Idee.

Letztlich sollen diese Formulierungen auch eine Rechtfertigung dafür sein, warum man im Amt geblieben sei, eben um „Schlimmeres“ zu verhüten, wie eine später gängige Formel lautete. Sein Ressortchef Göring solidarisierte sich allerdings mit der SA. „In jenen Tagen lebte er, eine Mischung von Renaissancemensch und glücklichem Kindskopf, aus dem Vollen. Er fühlte sich ganz und gar mit der SA verbunden. Er zeigte sich in der Uniform des SA -Gruppen­ führers.“116 Göring war also in doppelter Hinsicht ein Antreiber. So wie er der Polizei die Hemmungen vor dem Schießen hatte nehmen wollen, so fachte er die Gewaltbereitschaft der SA-Mannschaften an, denen er in einer Rede zwei Tage vor der Reichstagswahl den schrecklichen Satz zugerufen hatte: „Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“117 Göring musste sich die Exzesse der SA zumal deshalb zurechnen lassen, weil er sie zur Hilfspolizei gemacht hatte. Diels hatte auf Grund seiner Intelligenz Görings Neigung zur Brutalität sicherlich erkannt. Es fragt sich, ob er trotz der Entwicklung des NS-Regimes und insbesondere des Charakters seines „obersten Dienstherrn“ wirklich glaubte, „Schlimmeres“ verhüten zu können. Bei der Machtübernahme in den Kommunen, die in Preußen nach den für die NSDAP ebenfalls erfolgreichen Kommunalwahlen am 12. März stattfand, spielte die SA ebenfalls eine wesentliche Rolle. Am folgenden Tag marschierten SA und SS auf und forderten vehement die Einsetzung nationalsozia­listischer Stadtoberhäupter. Dies führte meist zum gewünschten Ergebnis, zumal die Staatsaufsicht untätig blieb, wie auch das in Kapitel 2 geschilderte Beispiel der Stadt Köln zeigt. Außerhalb Preußens bedeutete die „Gleichschaltung der Länder“ zunächst die Ersetzung der bestehenden, legalen durch nationalsozia­listisch geführte Landesregierungen. Preußen war ein Sonderfall. Hier war die „Gleichschaltung“ zu einem wesentlichen Teil, wie schon geschildert, bereits mit der Bildung der Regierung Hitler am 30. Januar vorgenommen worden, mit dem Vizekanzler Papen als Reichskommissar und Göring als kommissarischem Innenminister. 115 Ebd. (49), S. 163 f. 116 Ebd. (49), S. 166. 117 Zitiert nach: Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, S. 872.

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Papen, wiewohl kein Nationalsozia­list, entwickelte als Reichskommissar kein eigenes Profil und stand im Schatten Görings, der ihn, wenn es darauf ankam, immer wieder überspielte. Nach den Landtagswahlen am 5. März 1933 war seine Stellung nicht mehr haltbar. Das Wahlergebnis bescherte der NSDAP und der mit ihr verbündeten „Kampffront Schwarz-­ Weiß-­Rot“ zusammen 254 Mandate, das war die absolute Mehrheit. Wie schon in Kapitel 2 erwähnt und nun detaillierter ausgeführt werden soll, ermöglichte dies eine reguläre Regierungsbildung; das Reichskommissariat war dadurch in Frage gestellt. Damit würde eine wesentliche Vorbedingung für das „Kabinett der nationalen Konzentration“, neben der Vizekanzlerschaft Papens, wegfallen. Das Reichskommissariat Papens hatte ja einem ausdrücklichen Wunsch Hindenburgs entsprochen. Hitler sah sich insoweit noch beim Reichspräsidenten im Wort. Andererseits drängte Göring, unterstützt vom Landtagspräsidenten Kerrl und dem Vorsitzenden der NSDAP-Fraktion Kube nach der Ministerpräsidentschaft. Es kam zu heftigen Meinungsverschiedenheiten, und Hitler sah sich in einer ihm unangenehmen Entscheidungssituation. Auf der anderen Seite waren Hitlers Energien durch die Aufgabe gebunden, seine Macht als Reichskanzler vom Reichstag unabhängig zu machen. Das sollte durch ein Ermächtigungsgesetz geschehen, welches, mit Zweidrittelmehrheit angenommen, der Reichsregierung eine eigene Gesetzgebungsbefugnis gab, unabhängig von der des Reichstags und von dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten. Es sollte Gegenstand der ersten Arbeitssitzung des neuen Reichstags sein. Am 21. März wurde dieser mit einem feierlichen Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche eröffnet. „Der Tag von Potsdam“ suggerierte eine Verbindung von Preußentum und Nationalsozia­lismus und rührte viele nationale Emotionen auf. Bei der konsti­tuierenden Sitzung am Nachmittag in der Berliner Kroll-­Oper wurde Göring wieder zum Reichstagspräsidenten gewählt. Die kommunistischen Abgeordneten waren erst gar nicht zur Sitzung geladen worden. Am 23. März verabschiedete der Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat“.118 Nur die SPD stimmte dagegen. Es gab der Reichsregierung ein eigenes Gesetz­ gebungsrecht, auch für Gesetze verfassungsändernden Inhalts, soweit sie nicht „die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als ­solche“ zum Gegenstand hatten. Es war auf vier Jahre befristet, galt aber, mehrfach verlängert, bis zum Ende des „Dritten Reiches“. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit hatte Hitler, wie schon in Kapitel 2 geschildert, durch vage Zugeständnisse an das Zentrum erreicht, welches darauf wie die anderen bürgerlichen Parteien dem Gesetz zustimmte. Auch waren die Mandate der verhafteten kommunistischen Abgeordneten nicht berücksichtigt worden. Schon deshalb war das Gesetz verfassungswidrig zustande gekommen. Zum Zweiten war der Reichsrat, wegen des „doppelten Staatsstreichs“ in Preußen nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt. Beim ersten vom 20. Juli 1932 hatte Diels ja eine eigene Rolle gespielt. Das Gesetz war auch seinem Inhalt nach verfassungswidrig, weil es die Gewaltenteilung und das parlamentarische System faktisch aufhob. So wurde die Zerstörung der Verfassung auf Grund der schmachvollen Kapitulation des Reichstags vollendet. Auf dem Papier blieb sie noch als leere Hülle bestehen. Das „Ermächtigungsgesetz“ gab nun der Reichsregierung die formale Möglichkeit, durch massive Eingriffe in die Länderhoheit die „Gleichschaltung“ der Länder rechtlich abzusichern.

118 RGBl., S. 141.

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Zunächst erließ sie am 31. März 1933 ein „Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“.119 In § 1 wurde den Landesregierungen ihrerseits ein eigenes Gesetzgebungsrecht gegeben. Im Abschnitt „Volksvertretungen der Länder“ wurde deren Auflösung und Neubildung nach dem Ergebnis der Reichstagswahlen angeordnet. Preußen konnte hiervon auf Grund der Landtagswahlen am 5. März ausgenommen werden. Bereits am 7. April ließ die Reichsregierung ein „Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“120 folgen, welches einen die Länder entmündigenden organisatorischen Überbau für sie schuf. Danach sollte der Reichspräsident auf Vorschlag des Reichskanzlers in den Ländern Reichsstatthalter ernennen, w ­ elche die Aufgabe hatten, für die Beobachtung der vom Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen. Dazu waren sie mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, so zur Ernennung und Entlassung des Vorsitzenden und – auf dessen Vorschlag – der übrigen Mitglieder der Landesregierung. Auch sollte er den Landtag auflösen können. Für Preußen galten Sonderregelungen. Dort übte der Reichskanzler die Rechte eines Reichsstatthalters aus. Weiter war festgelegt, dass Mitglieder der Reichsregierung auch Mitglieder der preußischen Landesregierung sein könnten. Ersichtlich sollte dies auch Göring weiter seine „Doppelmitgliedschaft“ ermöglichen. Diese gesetzliche Neuregelung war ein weiterer Grund, der für den Fortfall des Reichskommissariats in Preußen sprach. Ein Reichskommissar in Gestalt des Vizekanzlers mit der Funktion eines preußischen Ministerpräsidenten erschien widersinnig, wenn der Reichskanzler die Befugnisse eines Reichsstatthalters hatte. Papen soll sich wohlweislich bei den Gesetzesberatungen für die Lösung eingesetzt haben, den Reichspräsidenten zugleich als preußischen Staatspräsidenten zu etablieren. Als er damit nicht durchdrang, stellte er nach der Kabinettssitzung vom 7. April sein preußisches Amt zur Verfügung. Unterdessen hatten die Dinge in Preußen einen eigenen Verlauf genommen und Hitler einen Weg aus der ihm unbequemen Entscheidungssituation aufgetan.121 Signalwirkung besaß schon ein Beschluss des neu gewählten preußischen Landtags bei seiner konstituierenden Sitzung vom 22. März. Er bestätigte (!) die Weiterführung der Amtsgeschäfte durch die Kommissariatsregierung, behielt sich aber die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten ausdrücklich vor. Dies konnte nur ein Nationalsozia­list sein. Als dann noch Landtagspräsident Kerrl, ohne Hitler vorab zu informieren, doch wohl mit Zustimmung Görings, für den 8. April eine Landtagssitzung zur Ministerpräsidentenwahl einberief, griff der Reichskanzler ein. Die Landtagssitzung musste abgesagt werden. In seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter bestellte er aber Göring am 10. April zum neuen preußischen Ministerpräsidenten und am 21. April auch zum Innenminister. Papen hatte seine durch Görings unbekümmertes Agieren ohnehin schon stark verminderte preußische Machtstellung verloren, die nach den Intentionen der Regierungsbildung am 30. Januar seine Vizekanzlerschaft noch hätte stärken sollen. Nach außen täuschten er und Göring Einvernehmen vor, wobei sich Papens Talent bewährte, auch aus dem größten Debakel mit der Miene eines Siegers hervorzugehen […]. [Dies] verschleierte den Bankrott des Zähmungskonzepts. […] [Es war] die schlimmste Niederlage, die Papen als Hitlers Vizekanzler einstecken musste, da sie die Fiktion 122 eines Duumvirats […] zerstörte.

119 Ebd., S. 153. 120 Ebd., S. 173. 121 Vgl. Kube, Göring, S. 32 f; auch Volk, Reichskonkordat, S. 90 ff. 122 Vgl. insgesamt Volk, Reichskonkordat, S. 90 ff; Zitat auf S. 92 f.

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Papen erntete jetzt die Früchte seines eigenen Tuns; denn er hatte maßgeblich die Auflösung des preußischen Landtags am 6. Februar herbeigeführt. Seine Ambition, selbst Ministerpräsi­ dent zu werden, hatte sich als völlig illusionär erwiesen. Diels, der ja im Sommer 1932 auf Papen gesetzt, sich aber später von ihm abgewandt hatte, dürfte das nicht berührt haben. Die Stellung seines Protektors Göring war deutlich gestärkt worden. Preußen war für diesen eine Machtbasis, von der Hitler selbst nicht zu Unrecht argwöhnte, Göring könnte sie derart ausbauen, dass sie dem Einfluss anderer, sogar des Reichskanzlers selbst, kaum noch zugänglich sein würde. Dies galt noch mehr, als Hitler sich am 25. April 1933 wegen der Eigentümlichkeiten der neu geschaffenen Rechtslage veranlasst sah, Göring auch noch die Ausübung der Rechte des Reichsstatthalters zu übertragen. Mehr konnte Göring in Preußen wahrhaftig nicht werden. Göring, der sich seinerseits der Abhängigkeit von Hitler durchaus bewusst war, dankte ihm überschwänglich mit den Worten, er übernehme die preußische Staatsführung „in erster Linie als treuester Paladin seines Führers Adolf Hitler“.123 Unmittelbar vor seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten wurde er auch selbst aktiv, um seine Machtstellung im Innenministerium auszubauen. Am 9. April wurde der hochkonservative Staatsekretär von Bismarck durch seinen Parteigänger Grauert ersetzt. An dessen Stelle als Leiter der Polizeiabteilung trat der bisherige Kommissar z. b. V. Daluege. Mit einer anderen Personalmaßnahme hatte Göring Anfang April noch keinen Erfolg gehabt. Der (noch) kommissarische Innenminister Göring drang bei der Kommissariatsregierung nicht mit dem Antrag durch. Die Gründe waren womöglich formaler Natur. Diels war ja erst im August 1932 zum Oberregierungsrat befördert worden. Es konnte aber auch ein letztes Aufbegehren gegen Göring gewesen sein.124 Der Ausbau der Machtbasis betraf auch die rechtlichen Grundlagen der politischen Polizei: Am 10. April, formal noch als kommissarischer Innenminister, ließ Göring den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung eines Geheimen Staatspolizeiamtes in beschleunigten Umlauf an die Kommissare des Reichs gehen. Einem überarbeiteten Entwurf stimmte das Preußische Staatsministerium in seiner Sitzung vom 24. April 1933 zu. Damit war das Gesetz ohne Beteiligung des Landtags entsprechend dem Vorläufigen Gleichschaltungsgesetz verabschiedet. Es trat am 27. April in Kraft.125 Das Gesetz war mit nur vier Paragraphen sehr kurz gehalten. Dies lag vor allem daran, dass es zu Leitung und Organisationsstruktur der neuen Behörde so gut wie nichts enthielt, und dass es die sachliche und örtliche Zuständigkeit der neu geschaffenen Behörde nicht selbst regelte, vielmehr dies dem Minister des Innern zuwies (§ 1 Abs. 2). D ­ ieser sollte auch die zur Durchführung des Gesetzes erforderlichen Vorschriften erlassen (§ 3). Der Schwerpunkt des Gesetzes lag eindeutig in § 1 Abs. 1: Zur Wahrnehmung von Aufgaben der politischen Polizei neben den oder an Stelle der ordentlichen Polizeibehörden […] wird das Geheime Staatspolizeiamt mit dem Sitze in Berlin errichtet. Es hat die Stellung einer Landespolizeibehörde und untersteht unmittelbar dem Minister des Innern.

§ 2 legte fest, das Geheime Staatspolizeiamt könne im Rahmen seiner Zuständigkeit alle Polizeibehörden um polizeiliche Maßnahmen ersuchen. In § 1 Abs. 3 schließlich wurde der Rechtsweg geregelt: Unter Hinweis auf die Vorschriften des preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes (PVG) 123 Kube, ebd., S. 33. 124 Vgl. Graf, ebd., S. 131; dort auch zur unmittelbaren Vorgeschichte des E ­ rsten Gestapogesetzes. 125 GS., S. 122.

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vom 1. Juli 1931 über die Anfechtung landespolizeilicher Verfügungen wurde der „Bezirksausschuß in Berlin“ bei Klagen im Verwaltungsstreitverfahren gegen Verfügungen des Geheimen Staatspolizeiamtes für zuständig erklärt. Am Tag der Verkündung des Gesetzes am 26. April gab Göring einen umfangreichen Runderlass unter der Bezeichnung „Neuorganisation der politischen Polizei“ heraus.126 Er enthielt die Zuständigkeitsvorschriften und Durchführungsbestimmungen, zu deren Regelung und Erlass er vom Gesetz ermächtigt worden war. Einleitend hieß es mit großer Ausführlichkeit: Um die wirksame Bekämpfung der gegen den Bestand und die Sicherheit des Staates gerichteten Bestrebungen zu sichern, hat die Staatsregierung sich entschlossen, die Organisation der politischen Polizei straffer als bisher zu gestalten […]. Zu ­diesem Zwecke ist […] im Interesse einer einheitlichen Oberleitung der politischen Polizei das Geheime Staatspolizeiamt […] errichtet worden, das mir unmittelbar unterstellt ist. Seine Aufgabe besteht darin, durch eigene Vollzugsbeamte, mit Hilfe von Außenstellen für die einzelnen Landespolizeibezirke (Staatspolizeistellen) und mit Unterstützung der ordentlichen Polizei-­Behörden alle staatsgefährlichen politischen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen, das Ergebnis der Erhebungen zu sammeln und auszuwerten, mich, den MdI, laufend zu unterrichten und mir für meine Entschlüsse die erforderlichen Unterlagen jederzeit bereitzuhalten, schließlich auch die anderen Polizei-­Behörden über politisch wichtige Beobachtungen und Feststellungen auf dem laufenden zu halten und mit Anregungen zu versehen. Außerdem ist das Geheime Staatspolizeiamt befugt, im Rahmen ­seiner sachlichen Zuständigkeit andere Polizei-­Behörden um polizeiliche Maßnahmen zu ersuchen und mit Weisungen zu versehen.

Es folgten nun in weiterer Präzisierung des bisher Ausgeführten eine Fülle von Detailregelungen organisatorischer Art, insbesondere von Berichtspflichten und von Zuständigkeiten. So wurde klargestellt, das Geheime Staatspolizeiamt übernehme die Aufgaben des bisherigen Landeskriminalpolizeiamts für die politische Polizei – unter gleichzeitiger Entbindung des Polizei-­Präsidenten in Berlin von ­diesem Auftrag – und wird allgemeine zentrale Nachrichtensammelstelle der politischen Polizei für das gesamte Staatsgebiet.

Das war ein großer Kompetenzverlust des Berliner Polizeipräsidenten. Der Runderlass enthielt „erstmals auch eine offizielle und rechtskräftige Definition der Aufgaben der Politischen Polizei im nationalsozia­listischen Staate“.127 Der dabei anstelle des bisher üblichen Wortes „staatsfeindlich“ verwendete Begriff der „staatsgefährlichen politischen Bestrebungen“ erweiterte den Handlungsspielraum der politischen Polizei erheblich, und das war sicherlich von Göring auch so gewollt. Andererseits diente § 1 Abs. 3 mit seiner Zuständigkeitsbestimmung für Klagen im Verwaltungsstreitverfahren gegen Verfügungen des Geheimen Staatspolizeiamtes nur dem rechtsstaatlichen Schein. Denn in dem oben bereits erwähnten Durchführungserlass Görings vom 3. März zur Reichstagsbrandverordnung war für die politische Polizei insbesondere die inhaltliche Schranke des § 41 PVG als „beseitigt“ bezeichnet worden. Wenn aber keine inhaltliche Schranke besteht, ist eine Maßnahme kaum nachprüfbar.

126 MBliV., Sp. 503. 127 Graf, ebd., S. 133.

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Die Formulierung „dem Minister des Innern unmittelbar unterstellt“ ist nicht so zu verstehen, dass damit Göring persönlich gemeint sei. Die traditionell monokratisch geprägte preußische Verwaltungsterminologie setzte die Behörde insgesamt mit der Amtsbezeichnung des Leiters gleich, und das galt auch für die Ebene der Ministerien. „Minister des Innern“ war deshalb die Bezeichnung für das Ministerium insgesamt. Von besonderer Außenwirkung war die Herauslösung der politischen Polizei aus dem bisherigen organisatorischen Aufbau der Polizei insgesamt, wie sie durch § 1 Abs. 1 Satz 1 bewirkt wurde. Mit der ihm in Satz 2 zugewiesenen „Stellung als Landespolizeibehörde“ besaß das Geheime Staatspolizeiamt denselben „Rang“ wie die Behörde des Regierungspräsidenten. Die für jeden Regierungsbezirk neu zu bildenden Staatspolizeistellen waren nach dem Runderlass als „Hilfsorgan[e] des Geheimen Staatspolizeiamtes“ und damit als dessen „nachgeordnete Exekutive“ konstruiert, zugleich aber blieben sie „Organ der zuständigen Landespolizeibehörde“, also der Regierungspräsidenten. So wurde auf dieser Ebene Konfliktpotenzial geschaffen, zugleich aber auch das „Gerippe“ einer künftigen verselbstständigten Geheimpolizei schon deutlich erkennbar. Weder Gesetz noch Runderlass enthielten eine ausdrückliche Bestimmung über die Leitung der neuen Behörde. Nach der preußischen Verwaltungstradition gerade bei Polizeibehörden konnte dies nur eine Einzelperson sein, ein umfassend weisungsbefugter Behördenleiter. Diels äußerte sich in seinen Memoiren zur Entstehung und Benennung des „Geheimen Staatspolizeiamts“ auf die ihm eigene Weise. Zunächst behauptete er, wegen des Konflikts ­zwischen der SA und dem Berliner Polizeipräsidenten von Levetzow, den er nicht habe „seines Amtes entsetzen [wollen, sei Göring auf den Ausweg verfallen,] die Abteilung IA des Polizeipräsidiums sich persönlich [!] zu unterstellen.“128 Diese verharmlosende Version unterstellt Göring zu viel Rücksichtnahme. Es liegt doch offen zutage, dass er mit der Errichtung des Geheimen Staatspolizeiamtes seine Machtstellung in Preußen verstärken wollte. Das Amt war in erster Linie Machtinstrument. Die Benennung der Behörde erklärte er damit, „von jeher“ ­seien die Angelegenheiten der politischen Polizei „Staatspolizeisachen“ gewesen. „Geheim“ ­seien diese in allen Staaten. Deshalb habe nichts nähergelegen, als das neu etablierte Amt „Geheimes Polizeiamt“ zu nennen. Doch die Abkürzung „GPA“ sei eine zu starke Annäherung an die GPU – die damalige sowjetische Geheimpolizei – gewesen, weshalb Göring ihm den Namen „Geheimes Staatspolizeiamt“ gegeben habe. „Die Abkürzung ‚Gestapo‘ war eine selbständige Erfindung der Reichspost; sie wurde uns eines Tages auf ihrem Laufstempel zu Gemüte geführt.“ Das Letztere mag stimmen. Der Name erklärte sich einfacher daraus, dass es sich um „Staatspolizeiaufgaben“, um, wie es auch in der Weimarer Zeit hieß, „Staatsschutz“ handelte. Dieser wurde traditionell als „Geheim“ behandelt wurde. Göring bestellte Diels mit Wirkung vom 1. Mai 1933 zum Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes. Für einen Beamten im Range eines Oberregierungsrats war dies ein überaus großer Karrieresprung. Diels’ Kommentierung in seinen Memoiren ist objektiv unrichtig. Er behauptete, Göring habe ihn zum „stellvertretenden Leiter des Staatspolizeiamtes ernannt“, sich selbst dagegen zum „Chef der politischen Polizei“. So mag sich Göring selbst damals schon bezeichnet haben; offiziell wurde der Begriff aber erst mit dem Zweiten Gestapogesetz eingeführt. Eindeutig wurde Diels zum Leiter des Amtes bestellt. Bestätigt wird dies durch den Geschäftsverteilungsplan vom 19. Juni 1933, in dem Diels unter der Amtsbezeichnung „Oberregierungsrat“

128 Lucifer (49), S. 168, die folgenden Zitate befinden sich auf S. 169.

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auch mit dieser Funktion verzeichnet ist. Nicht zuletzt Diels selbst hat sich in seinem für die SS 1935 verfassten Lebenslauf als „Leiter“ bezeichnet.129 Diels behauptete zudem, dass Göring seiner Stellung als Behördenleiter nicht gerecht werden konnte; daher schob sich ­zwischen ihn und das Amt die ganze Hierarchie des Ministeriums hurtig wieder ein: Der Leiter der „Politischen Gruppe“ des Ministeriums, der Chef der Polizeiabteilung Daluege und die Staats130 sekretäre Görings im Innen- und Staatsministerium. Ich litt unter diesen Vormundschaften.

Auch diese Darstellung ist objektiv unrichtig. Nach der Gesetzeslage war das neue Amt eindeutig dem Ministerium untergeordnet, und das betraf alle seine Funktionsebenen: Politische Gruppe, Abteilungsleitung und Staatssekretär. Jemandem wie Diels war eine s­ olche Organisationsstruktur naturgemäß unwillkommen. Eine andere Frage ist, inwieweit das Geheime Staatspolizeiamt seinerseits sich zu verselbstständigen suchte. Die Dinge lagen auch deshalb kompliziert, weil Diels noch eine Zeitlang sein Referat in der Politischen Gruppe beibehielt. Seine Befugnisse als Leiter des Amtes versuchte er sogleich auszuweiten, indem er Weisungsrechte gegenüber den Ortspolizeibehörden, ja sogar gegenüber den Landespolizeibehörden beanspruchte.131 Eine Erklärung für Diels’ merkwürdige Darstellung dürfte, außer in seiner Neigung zu Ungenauigkeiten, darin liegen, dass er sich von dem übrigen Apparat im Nachhinein absetzen und seine eigene Rolle wieder einmal kleiner erscheinen lassen wollte. Schließlich ging der organisatorischen Verselbstständigung der politischen Polizei eine räumliche voraus. Im März war bereits eine Teileinheit im enteigneten Karl-­Liebknecht-­Haus der KPD untergebracht worden. Mitte April zog sie in eine ehemalige Kunstgewerbeschule in der Prinz-­Albrecht-­Straße ein. Diese Adresse wurde im Verlauf des „Dritten Reiches“ zum Synonym des Schreckens. Die Übertragung der neuen Funktion zum 1. Mai bedeutete für Diels einen Höhepunkt in seiner Karriere und auch in seinem Verhältnis zu Göring. Es irritierte viele Parteigenossen, dass dieser das neu geschaffene Amt einem früheren Anhänger der Deutschen Demokratischen Partei anvertraute. Göring selbst hat bei seiner Vernehmung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess dazu erklärt, er habe eine große Reihe von unpolitischen Beamten, die das Fachkönnen hatten, hinein[genommen], […] da ich zunächst Wert auf die Facheignung legen mußte. Ich wollte auch, daß sich diese Polizei ausschließlich mit der Sicherung des Staates […] befassen sollte. Auch der Führer, den ich hierfür ausersah, war nicht aus der Partei, sondern kam aus der bisherigen Polizei […] der damalige 132 Oberregierungsrat Diels.

Ungeachtet seiner Persönlichkeitsstruktur hatte also Göring rationale Gründe für seine Entscheidung gehabt. Man hat Göring eine „neronische Natur“ zugeschrieben.133 So problematisch dieser Vergleich ist, trifft er doch insoweit zu, als damit eine Verbindung von Machtgier und Prunksucht hergestellt wird. Außer seinen zahlreichen Ämtern legte er Wert darauf, „erster 129 Zum Geschäftsverteilungsplan vgl. Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 70 f; Lebenslauf abgedruckt bei Graf, ebd., S. 410 f; zum Bestellungsdatum Romeyk, Leitende Beamte, S. 412. 130 Lucifer (49), S. 169. 131 Vgl. Graf, ebd., S. 138. 132 IMT, Bd. IX, S. 291. 133 Schulz, Maßnahmenstaat, S. 470.

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Paladin des Führers“ zu sein, eine kennzeichnende Formulierung von ihm selbst, die aber seine damalige Machtstellung treffend wiedergab. Sein Lebensstil und seine offenkundige Eitelkeit wurden vielfach belächelt. Im Gegensatz zu anderen führenden Nationalsozia­listen genoss er wegen einer gelegentlichen Umgänglichkeit eine gewisse Popularität in der Bevölkerung. Seine Bonhomie war aber nur Fassade; Göring war im Grunde brutal und skrupellos. Das alles hinderte nicht gelegentliche Einsichten und die Erkenntnis, in Diels einen Vermittler zur alten Bürokratie und vor allem den Fachmann zu sehen, den er für die Leitung des Geheimen Staatspolizeiamts brauchte. Diels hatte als Leiter der politischen Polizei seit Mitte Februar 1933 bewiesen, dass er organisieren und selbstständig handeln konnte. Es gab noch weitere Gründe, teils persönlicher, teils fachlicher Natur. Göring, der aus gutbürgerlichem Hause stammte, schätzte Diels’ Gewandtheit im Auftreten, zumal dieser auch „Beziehungen zu Diplomaten pflegte, er hatte eine Weile im Hause des amerikanischen Botschafters in Berlin verkehrt. Solche Leute suchte Göring […].“134 Schließlich mochte Göring geglaubt haben, dass ein „Nicht-­Parteigenosse“, der in hohem Maße von ihm abhängig war, leichter zu lenken sei. Aber es liegt nahe, dass das Verhältnis z­ wischen Göring und Diels auf Dauer nicht ungetrübt sein konnte. Nach dem ersten Geschäftsverteilungsplan vom 19. Juni 1933 war das Amt in acht Dezernate gegliedert.135 Außer der Verwaltungsabteilung (Dezernat I) gab es noch sieben „Fachabteilungen“. Dezernat II war zuständig vor allem für Pressepolizei, das hieß auch Verbote und Beschlagnahmungen, Dezernat IIa für „Beschränkung der persönlichen Freiheit“ (Schutzhaft). Wie die Kennzeichnung verrät, war d ­ ieses später eingefügt worden. Einen Schwerpunkt der Aufgaben bildete sicherlich das Dezernat III , „Internationaler Bolschewismus; Allgemeine Kommunistensachen“. Die Zuständigkeit für die DNVP (!), SPD und zuletzt auch das Zentrum war in den weiteren Dezernaten angesiedelt; in dem für das Zentrum zuständigen auch noch die Kulturpolitik und der „Kulturbolschewismus“. Insgesamt entsteht bei ­diesem Geschäftsverteilungsplan der Eindruck einer (noch) kleinen, straff gegliederten Behörde, die inhaltlich nach den aktuellen nationalsozia­listischen Zielen ausgerichtet war. Der Personalbestand war zunächst nicht wesentlich größer als der der politischen Polizei bisher. Er stammte hauptsächlich aus der Abteilung IA des Berliner Polizeipräsidiums. Diels hatte die Beamten überwiegend nach eigener Personenkenntnis ausgesucht. Fachkompetenz blieb in der politischen Polizei noch bis Anfang des folgenden Jahres das wesent­ liche Auswahlkriterium, nicht Verbundenheit mit der Partei. Gerade die aus der bisherigen politischen Polizei ins Geheime Staatspolizeiamt übernommenen Beamten hatten überwiegend eine national-­konservative Gesinnung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte aber eine gewisse Anzahl schon organisatorischen Anschluss an die NSDAP gesucht. Insgesamt sollen in der Anfangszeit nicht mehr als 34 Beamte der Behörde angehört haben. Aber im Laufe des Jahres kam es zu einer beträchtlichen Personalvermehrung. So wurden bei einer Mehranforderung vom 7. September 1933 20 neue Stellen für den höheren Dienst und 90 für mittlere und untere Beamte angesetzt.136 Dies markierte eine Ausweitung der (Überwachungs-)Tätigkeit des Geheimen Staatspolizeiamtes und zugleich ein Fortschreiten auf dem Weg zum totalitären Staat.

134 Kempner, Ankläger einer Epoche, S. 114. 135 Vgl. Tuchel/ Schattenfroh, ebd., S. 70 f, ferner Aronson, Frühgeschichte, S. 88. 136 Vgl. Schulz, ebd., S. 537, FN 95. Dabei dürften die Stapoleitstellen inbegriffen gewesen sein.

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Im Folgenden werden beispielhaft einige gewichtige Tätigkeiten des Geheimen Staatspolizeiamts behandelt, bei denen Diels auch persönlich hervorgetreten ist. Wegen des Sachzusammenhangs wird das Jahr 1934 einbezogen. Dabei ist unerheblich, dass die Tätigkeit des Amtes ab dem zweiten November 1933 auf einer anderen gesetzlichen Grundlage stattfand; diese betraf im Wesentlichen dessen organisatorische Stellung.

3.5.2 Entwurf eines Judengesetzes und antijüdische Maßnahmen Der Antisemitismus gehörte zum Wesen aller faschistischen Bewegungen. Für den Nationalsozia­lismus war er schlechthin konstituierend und am schärfsten ausgeprägt. In letzter Konsequenz führte dies zu dem Menschheitsverbrechen der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden. Die NSDAP, ihre Untergliederungen und Publikationsorgane setzten nach der Machtübernahme ihre antisemitische Propaganda verstärkt fort, und es kam bald auch zu entsprechenden Maßnahmen. So wurden Beamte jüdischer Herkunft aus dem Amt gedrängt, beispielsweise, wie in Kapitel 2 geschildert, der Kölner Regierungsvizepräsident Hermann Bier. Am 1. April 1933 fand im ganzen Reich ein Boykott jüdischer Geschäfte statt, der offiziell von der Partei gelenkt war, hinter dem aber auch die Reichsregierung selbst stand. Die politische Polizei koordinierte die „Polizeibegleitung“. Wenige Tage später, am 7. April, erließ die Reichsregierung das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“.137 Es richtete sich gegen politisch missliebige Beamte und bedeutete insbesondere den Ausschluss von Menschen jüdischer Herkunft aus dem öffentlichen Dienst. Beamte „nicht arischer Abstammung“ waren nach § 3 in den Ruhestand zu versetzen, mit Ausnahme vor allem für Frontkämpfer aus dem ­Ersten Weltkrieg. Eine Aufnahme von Bewerbern jüdischer Herkunft war für die Zukunft praktisch ausgeschlossen. Diels deutete in seinen Memoiren an, er sei mit den ersten antisemitischen Maßnahmen nicht einverstanden gewesen, insbesondere nicht mit dem Boykott jüdischer Geschäfte. Er habe auch auf Görings Anweisung SA-Leute aus den Kinos und Theatern entfernen lassen, „wo sie durch wüste Radauszenen die Vorführung von ‚jüdischen‘ Filmen unmöglich machten“.138 Ob Göring einen solchen Befehl tatsächlich erteilt hat, erscheint zweifelhaft. In der zweiten, 1950 in Stuttgart erschienenen Ausgabe seiner Memoiren beschrieb Diels sehr ausführlich die Lage der Juden in Deutschland im Jahr 1933.139 Dabei machte er deutlich, dass es in der NSDAP Kräfte gegeben habe, die sich gegen Übertreibungen des Antisemitismus und vor allem gegen den Fanatismus von Goebbels und dem fränkischen Gauleiter Julius Streicher wandten. Er nahm für Göring und sich in Anspruch, immer wieder gegen exzessive Handlungen eingeschritten zu sein. Er erweckte den Eindruck, die Entwicklung sei noch offen gewesen. Dabei lassen seine Formulierungen durchaus eine gewisse Distanz zu jüdischen Deutschen erkennen. Ein Teil von ihnen und insbesondere national gesonnene jüdische Verbände hätten die latenten Gefahren der Lage verkannt. Umso weniger könne man das den Deutschen verdenken. Der Exkulpationscharakter dieser Ausführungen ist überdeutlich, und eine im Folgenden beschriebene Tätigkeit wurde bezeichnenderweise mit keinem Wort erwähnt. Diels wirkte nämlich in einem Arbeitskreis mit, welcher den Entwurf eines Gesetzes „zur Regelung der Stellung 137 RGBl., S. 175. 138 Lucifer (49), S. 205. 139 Lucifer (50), S. 277 ff.

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der Juden“ in Deutschland formulierte. Es war ein ganz umfassender Versuch, ausführlich und hoch spezialisiert.140 Dieser Arbeitskreis ging wohl auf die Initiative eines nationalsozia­listischen Ministers zurück, möglicherweise Göring, sicherlich nicht auf eine Anordnung Hitlers. Zu den Mitgliedern zählten überwiegend Beamte, aber auch der scharf antisemitische NS-Propagandist Johannes von Leers. Es ist nicht bekannt, warum Diels Mitglied des Arbeitskreises wurde. Seine Vorgesetzten hatten wohl einen Bezug zu seiner Tätigkeit angenommen. Es ist möglich, dass die beamteten Mitglieder auf Anordnung, weniger aus eigenem Willen, dem Arbeitskreis angehört hatten, ob auch Diels, ist offen. Der Entwurf befasste sich in sechs Abschnitten mit Judenbegriff und Judenregister, der Organisation und der Rechtsstellung der Juden in Deutschland sowie Fragen zur Staatenlosigkeit und zu ausländischen Juden. Wer Jude sei, bestimmte sich nach dem „mosaischen Glauben“ seiner selbst oder seiner Vorfahren. Es sollte eine Eintragungspflicht in das Register geben. Alle Juden würden auf diese Weise zu Mitgliedern des „Verbandes der Juden in Deutschland“ und einen Judenrat wählen. Dieser Zwangsverband sollte durch einen vom Reichskanzler ernannten „Volkswart“ geleitet und beaufsichtigt werden. Schließlich enthielt der Entwurf eine Vielzahl von Berufsverboten weit über den öffentlichen Dienst hinaus. Insgesamt nahm er spätere gesetzliche Regelungen in weitem Maße vorweg, wurde aber selbst nicht Gesetz. Wahrscheinlich lag das daran, dass das Reichsinnenministerium auf seiner Zuständigkeit beharrte; dem gegenüber besaß die Arbeit einer halboffiziellen Expertengruppe weniger Gewicht. Allerdings ist es schon erschreckend, an w ­ elche Maßnahmen dieser Arbeitskreis in der Frühphase des Regimes bereits gedacht hat. Schwer einzuschätzen ist, inwiefern der Entwurf „wesentlichen Aufschluss über die von [Diels] und seiner Behörde vertretene Auffassung über die rechtliche Stellung des Judentums erteilt“.141 Inwieweit Diels inhaltlich zu dem Entwurf beigetragen hat, lässt sich dementsprechend nach der Aktenlage nicht ermitteln. Er muss sich jedenfalls seine Mitgliedschaft in dem Arbeitskreis zurechnen lassen. Diels war ein Vertreter der „Dissimilation“, einer Richtung, w ­ elche die Assimilation der deutschen Juden rückgängig machen wollte. Diese Richtung war in konservativen Kreisen verbreitet. Einige Beispiele aus der Praxis des Geheimen Staatspolizeiamtes unter der Leitung von Diels scheinen ein differenziertes Bild zu entwerfen.142 Bereits im Mai 1933 wurde die Bezeichnung „Jude“ neben „Kommunist“ als Grund für staatsfeindliche Einstellungen verwendet. Im Juli 1933 ordnete ein Rundschreiben an die Staatspolizeistellen an, „Listen aller jüdischen politischen und unpolitischen Vereine, Logen etc. sowie aller in- und ausländischen Juden (mit Personalien), die bisher in politischer Hinsicht in Erscheinung getreten ­seien“ zu erstellen. Jüdische Vereine wurden generell überwacht und auch mit Verboten belegt; zionistische Tätigkeit, also das Eintreten für einen „Judenstaat“ in Palästina, dagegen wurde nur überwacht. Die politische Polizei ließ sie gewähren, um die Auswanderung zu fördern. Auf der anderen Seite wandten sich das Amt und auch Diels selbst immer wieder gegen allzu scharfe Boykottmaßnahmen, weil sie der Wirtschaft schadeten. Das galt ebenso für andere antijüdische Maßnahmen, wie ein persönlicher Vermerk Diels’ vom 30. August 1933 für den preußischen Ministerpräsidenten eindrucksvoll belegt:

140 Vgl. Aronson, Frühgeschichte, S. 93, und Graf, ebd., S. 234 ff. 141 So aber Graf, ebd., S. 234. 142 Siehe dazu im Einzelnen dens., ebd., S. 237 ff; dort auch S. 240 das wörtliche Zitat.

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In der letzten Zeit haben verschiedentlich Behörden der kommunalen Selbstverwaltung durch Polizeiverordnungen und in anderer Weise zur Judenfrage in einer Form Stellung genommen, die im Auslande lebhaftestes Aufsehen erregt hat. In der ausländischen Presse sind diese Vorgänge verschiedentlich dahin ausgelegt worden, daß in Deutschland sich offenbar entgegen den ausdrücklichen Erklärungen, die der Herr Reichskanzler und Sie, Herr Ministerpräsident, […] 143 abgegeben haben, eine neue Welle der Judenhetze und Judengreuel vorbereite.

Diels verwies dann insbesondere auf die „verstimmende Wirkung“ eines Plakats am Haupteingang des Städtischen Strandbads Wannsee in Berlin mit der Aufschrift „Juden haben k­ einen Zutritt“. Weiter thematisierte er die sich häufenden Verbote zahlreicher Kurverwaltungen gegenüber jüdischen Besuchern. Sie schadeten den deutschen Handelsinteressen im Ausland, auch auf Kosten des deutschen Arbeiters. Für Tausende von Ihnen könne das Erwerbslosigkeit nach sich ziehen. Einen konkreten Handlungsvorschlag unterließ Diels in d ­ iesem ganz auf die Person Görings zielenden Vermerk wohlweislich; offenbar sollte bei Göring Einsicht erweckt und ein entsprechendes eigenes Handeln aus dieser Einsicht bewirkt werden. Bemerkenswert ist auch der Schlussabsatz. „Von ­diesem Sachverhalt habe ich im Interesse entsprechender Unterrichtung auch der parteiamtlichen Stellen dem Leiter der politischen Zentralkommission der NSDAP, Herrn Rudolf Heß, Kenntnis geben zu sollen geglaubt.“ Alles in allem hat sich gezeigt, dass Diels und das Geheime Staatspolizeiamt die Judenpolitik des Regimes grundsätzlich mittrugen. Das umfasste auch die Mitwirkung Diels’ an programmatischen Entwürfen. Diels selbst war Vertreter einer Richtung, die Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse herabstufen wollte. Andererseits war er gegen unkontrollierte Exzesse und wilde Boykottmaßnahmen. Dies entsprach aber nüchternem Kalkül, weil er ­solche Aktionen als abträglich für das nationale Interesse hielt. Immerhin hat er versucht, auf seinen obersten Dienstherrn in ­diesem Sinne einzuwirken.

3.5.3 Diels, das Geheime Staatspolizeiamt und die K ­ irchen Der Nationalsozia­lismus war grundsätzlich kirchenfeindlich, weil er seiner Natur nach keine andere auch nur geistige Macht neben sich dulden konnte. Anderslautende Beteuerungen ­Hitlers in der Anfangszeit des Regimes waren nur taktisch bedingt, Täuschungsmanöver, die nur der Beruhigung dienen sollten. Während die Juden, eine Minderheit, von Beginn des ­„Dritten ­Reiches“ an der Diskriminierung ausgesetzt waren, bestand den ­Kirchen gegenüber eine andere Ausgangslage. Sowohl die evangelische als auch die katholische waren Volks­kirchen, durch die Zahl ihrer Mitglieder, durch ihre Tradition und Bindungskraft hochgeachtete Organisationen. Das Regime konnte sich keinen offenen Kirchenkampf in seiner Anfangsphase erlauben. Überwachung und repressive Maßnahmen gab es aber von Anfang an. Im Umgang des Regimes mit den K ­ irchen gab es allerdings einen grundlegenden Unterschied ­zwischen den beiden Konfessionen. Wie in Kapitel 2 geschildert, schloss die Reichsregierung am 20. Juli 1933 mit der katholischen ­Kirche ein Konkordat ab, welches eine vertragliche Basis für die beiderseitigen Beziehungen bildete. Diese waren in der Folgezeit allerdings belastet durch Auseinandersetzungen wegen der Umsetzung des Vertrages. In die evangelische K ­ irche

143 Abgedruckt als Dok. 18 bei Graf, ebd., S. 428.

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hatte der Nationalsozia­lismus einen Spaltpilz hineingebracht. Seit 1932 gab es eine „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, die in Anlehnung an das Parteiprogramm der NSDAP ein „artgemäßes positives Christentum“ vertrat. Nach dem 30. Januar 1933 versuchten die „Deutschen Christen“, unterstützt von Vertretern des Regimes, die bestimmende Macht in der Evangelischen ­Kirche zu werden. Dagegen regte sich innerkirchlicher Widerspruch und es bildeten sich zwei gegensätzliche Lager heraus. Diels schrieb in seinen Memoiren, bei „den noch zögernden Angriffen gegen die K ­ irchen hatte die Staatspolizei auf der Seite der ­Kirchen gestanden“.144 Dieser nicht nur zur eigenen Entlastung, sondern wohl auch wegen des kirchenfreundlichen Klimas Ende der 1940er Jahre formulierte Satz, entsprach nicht der Realität. Zu einer ersten großen Verbotsmaßnahme kam es bereits am 1. Juli 1933, als, wie ebenfalls in Kapitel 2 geschildert, im ganzen Reich Geschäftsstellen katholischer Verbände geschlossen wurden, weil sie sich staatsfeindlich betätigt hätten. In Preußen vollzog das Geheime Staatspolizeiamt die Maßnahme. Das Verbot wurde einige Tage später wieder aufgehoben. Offenbar von höchster Stelle angeordnet, hatte Diels es jedenfalls konsequent umgesetzt. In der evangelischen K ­ irche nahmen im Laufe des Jahres die Spannungen zu. Die nicht zuletzt auf staatliches Drängen vorgenommene Bildung einer Reichskirche mit Reichskirchenverfassung und einem Reichsbischof an der Spitze verstärkte das Konfliktpotenzial. Bei den Kirchenwahlen Ende Juli 1933 errangen die „Deutschen Christen“ die Mehrheit. Am Ende des Monats wurde der nationalsozia­listische Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof gewählt. Mitte des Monats war von der innerkirchlichen Gegenbewegung, angeführt von dem Berliner Pfarrer Martin Niemöller, der „Pfarrernotbund“ gegründet worden.145 Die offizielle Linie des Regimes und auch Hitlers in Person lief auf „Nichteinmischung“ hinaus. Das entsprach insbesondere nicht der Praxis des Geheimen Staatspolizeiamtes. Sicherlich wurde der „Pfarrernotbund“ von Anfang an beobachtet und überwacht. Das Regime favorisierte die „Deutschen Christen“ und innerkirchliche Gegenkräfte waren ihm suspekt. Dies kam auch zum Ausdruck in einem „Telegraphischen Runderlaß“ des Geheimen Staatspolizeiamtes an die Staatspolizeistellen und Regierungspräsidenten vom 8. Januar 1934.146 Unter Verweis auf eine Anordnung des Reichsbischofs, der insbesondere Angriffe evangelischer kirchlicher Amtsträger in Wort und Schrift gegen „Kirchenregiment und dessen Maßnahmen“ verboten habe, wurden sämtliche preußische Stellen angewiesen, s­ olche Kundgebungen genauestens zu überwachen und nur notfalls einzugreifen. Über bemerkenswerte Vorfälle sei sofort zu berichten. In einem weiteren derartigen, von Diels selbst unterzeichneten Runderlass vom 10. Januar 1934 wurde „mit Rücksicht auf verschärfte Oppositionstätigkeit des evangelischen Pfarrer-­Notbundes, Vorsitzender Pastor Niemöller“ darum ersucht, „sofort in eingehende Ermittlungen über politische Gesinnung und Betätigung der Mitglieder des Pfarrer-­Notbundes einzutreten. […] Ich erwarte Berichterstattung binnen drei Tagen […].“ Am 25. Januar 1934 empfing Hitler die zerstrittenen führenden Persönlichkeiten der Evangelischen K ­ irche.147 Das Geheime Staatspolizeiamt hatte ihm zuvor eine Zusammenstellung über „politische Ausschreitungen evangelischer Geistlicher“ als Informationsgrundlage zugeleitet. Göring gelang gleich zu Beginn der Unterredung ein psychologischer Coup, indem er einen 144 Lucifer (49), S. 260. 145 Vgl. Strohm, Die ­Kirchen im Dritten Reich, S. 36 f. 146 Abgedruckt in Dokumente zur Kirchenpolitik, Bd. II, S. 2 f, dort auch der folgende Runderlass. 147 Vgl. Graf, ebd., S. 251, ferner Scholder, Bd. 2, S. 58 f.

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Abhörbericht der Gestapo über ein Telefongespräch Niemöllers vorlas. Der Pfarrer hatte sich darin sarkastisch über einen Empfang Hitlers bei Hindenburg geäußert und dabei von einer „letzten Ölung“ gesprochen. Die schockierten Kirchenvertreter wurden damit sogleich in eine missliche Gesprächssituation gebracht. Auf die erwähnte Zusammenstellung ging ein Runderlass Görings über die „Behandlung kirchen­politischer Fragen durch die Geheime Staatspolizei“ vom 29. Januar 1934 zurück.148 Darin wurde betont, dass der Staat sich nicht in theologische Auseinandersetzungen ­einmischen solle. Andererseits führten der „Pfarrernotbund“ und die ihm angeschlossene Laienbewegung unter dem Deckmantel solcher Auseinandersetzungen Angriffe gegen Staat und Bewegung. Es handele sich um „aktive Kampfgruppen“. In einer solchen Situation könne die politische Polizei nicht tatenlos zusehen. Sie habe mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Grenzen der innerkirchlichen Streitigkeiten nicht überschritten würden, und dass „alle offenen oder versteckten Angriffe auf den Staat und die Grundsätze der nationalsozia­listischen Bewegung namentlich gegen das Führerprinzip, gegen die Rassenlehre, gegen die Symbole des nationalsozia­listischen Staates verhindert, unterdrückt oder geahndet werden.“ Bei der Wahl des polizeilichen M ­ ittels sei sorgfältig abzuwägen; zu große Langmut sei zu vermeiden, aber ebenso ein zu scharfes Vorgehen, das nur Märtyrer schaffe. Ungeachtet der erkennbar repressiven Tendenz wirkten diese Wendungen noch moderat. Der Schlussabsatz ließ allerdings den Durchsetzungswillen des Regimes erkennen: „Bei der großen politischen Bedeutung, die der beginnenden Auseinandersetzung des nationalsozia­listischen Staates mit den Ansprüchen der K ­ irche zukommt“, erwarte er fortlaufende Unterrichtung. Ein weiteres Mal kam in scharfer Form die Haltung zur innerkirchlichen Opposition in einem von Diels unterzeichneten Schreiben vom 3. März 1934 an den Reichsinnenminister zum Ausdruck, dessen Anlass eine Beschwerde des Leiters der Pressestelle des „Pfarrernotbundes“ war. In den von ihm dem Herrn Minister des Innern vorgelegten Berichten sei in genügender Form der Nachweis erbracht, daß die geistige Grundhaltung des Pfarrernotbundes als reaktionär im eigentlichen Sinne des Wortes zu bezeichnen ist. [Gerade der Verfasser der vorliegenden Eingabe] hat die Unverfrorenheit besessen, […] als Anlage eine Information beizufügen, die er einem Vertreter der englischen Zeitung „News chronicle“ (einem alles andere als deutschfreundlichen Blatte) gegeben hat, und in der die Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen in besonders schmutziger Weise vor dem Auslande ausgebreitet werden sollten. […] Es ist wirklich die höchste Zeit, daß dem evangelischen Kirchenstreit in Hinblick auf die Schädigung des deutschen Ansehens im Aus149 lande endlich ein Ende bereitet wird.

Dem Schreiben beigefügt war eine umfangreiche Denkschrift des Geheimen Staatspolizeiamts über die Tätigkeit des „Pfarrernotbundes“ vom 29. Februar. Darin wurde zunächst positiv erwähnt, dass nach ihrem Empfang bei Hitler die Kirchenführer […] bereits am 27. Januar aufgrund einer bei der Reichskirchenregierung stattgefundenen Sitzung eine einmütige Erklärung dahin abgegeben [hätten], daß wir restlos und geschlossen den Verordnungen und der kirchenpolitischen Linie des Reichsbischofs zu folgen 148 Abgedruckt in Dokumente zur Kirchenpolitik, Bd. II, S. 33 ff. 149 Abgedruckt ebd., S. 70 ff; dort S. 72 ff die im Folgenden zitierte Denkschrift. Zum dann Folgenden S. 77 ff.

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bereit sind. […] Andererseits ist nicht zu verkennen, dass innerhalb des preußischen Staatsgebiets im Pfarrernotbund immer noch eine geschlossene Opposition besteht, die sich namentlich mit aller Schärfe gegen die zahlreichen disziplinarischen Maßregelungen derjenigen Notbundpfarrer wendet, ­welche besonders aktiv im Kirchenstreit hervorgetreten waren.

Im Folgenden wurde die theologische Kritik des „Pfarrernotbundes“ an den „Deutschen Christen“ scharf gerügt. Auch wurde die dichte Überwachung der Aktivitäten des Notbundes deutlich, sogar durch Informanten im Ausland. Und auch polizeiliche Maßnahmen wie die Beschlagnahme von Postsendungen wurden erwähnt. Es sei zu hoffen, dass der Kirchenstreit bald zu Ende sei. Diese Hoffnung sollte sich als trügerisch erweisen; die A ­ useinandersetzungen innerhalb der ­Kirche verstärkten sich im Laufe des Jahres 1934 sogar noch. Diels war aber zu dieser Zeit nicht mehr an der Spitze der preußischen Gestapo. Auffällig ist, dass wenige Tage nach ­diesem Schreiben das Geheime Staatspolizeiamt die Reichskanzlei über zwei Rundschreiben des „Pfarrernotbundes“ unterrichtete. Zwingend notwendig schien die Information nicht; gegen den „Pfarrernotbund“ sollte wohl Stimmung gemacht werden. Das repressive Einwirken des Geheimen Staatspolizeiamtes auf die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen kommt auch in dessen „Mitteilungen“ – offenbar für den internen Gebrauch – zum Ausdruck.150 Neben dem harten Ton fällt auf, dass darin auch die Eingliederung der konfessionellen Jugendverbände in die Hitlerjugend gefordert wurde. Kennzeichnend ist auch die Reaktion des Geheimen Staatspolizeiamtes auf Beschwerden kirchlicher Stellen über Verfolgungsmaßnahmen: Sie wurden, wenn überhaupt, nur verzögert oder nach Mahnung beantwortet. Anders als im Schriftverkehr seiner Behörde verhielt sich Diels in persönlichen Unterredungen durchaus auch verbindlich. Bei den Reichskirchenwahlen im Juli 1933 wollte eine kirchliche „Oppositionsgruppe“, die „Jungreformatoren“, mit einer „Liste Evangelische ­Kirche“ antreten. Die „Deutschen Christen“ ließen diesen Namen gerichtlich verbieten. Flugblätter der „Jungreformatoren“ wurden beschlagnahmt. Zwei Vertretern der Gruppe, dem bekannten Theologen und späteren Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer und seinem Mitbruder Gerhard Jacobi gelang es, zu Diels vorzudringen. Sie erreichten, dass sie unter dem Namen „Evangelium und ­Kirche“ an der Wahl teilnehmen konnten, und auch ein Teil der Flugblätter wieder herausgegeben wurde.151 Am 22. Februar 1934 fand eine Unterredung Pastor von Bodelschwinghs mit Diels statt. ­Bodelschwingh war vor Ludwig Müller für eine kurze Zeit Reichsbischof gewesen, dem Regime aber nicht genehm. Das Gespräch kam offenbar auf Diels’ Wunsch zustande, weil Bodelschwingh „politisch unangefochten sei und bei näheren Beziehungen zum Notbund doch über den Dingen stände“.152 Im ersten Teil der Besprechung wurde ausführlich über die Auslandsbeziehungen des „Pfarrernotbundes“ diskutiert. Dabei ergab sich nichts wirklich Gravierendes gegen dessen Vertreter. Diels stimmte sogar der Auffassung Bodelschwinghs zu, dass „im ganzen genommen die Aktion des Notbundes außenpolitisch als Aktiv-­Posten für das Reich anzusehen sei“. Im weiteren Verlauf des Gesprächs deutete Diels an, die Gewährung gewisser Freiräume habe regelmäßig dazu geführt, dass der Staat herausgefordert werde.

150 Graf, ebd., S. 245 ff; dort S. 248 auch zur Reaktion auf Beschwerden. 151 Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer, München 2005, S. 151 f. 152 Gesprächsaufzeichnung Bodelschwinghs in Dokumente, S. 61 ff (62); von dort auch die weiteren Zitate.

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Eine ähnliche Sorge knüpfe sich für die Regierung an die kirchlichen Kämpfe. Darum sei es im staatlichen Interesse unbedingt notwendig, sie zu beenden. Dabei handle es sich immer, wenn von der Polizei zugegriffen werde, nicht um die Sache, sondern um die Form und um einzelne Dummheiten, die ebenso gut vermieden werden könnten.

Nach dieser eigenwilligen Interpretation polizeilichen Eingreifens kamen nun „Entstehung und tiefere Ursache des kirchlichen Kampfes“ zur Sprache. Bodelschwingh wies auf das radikale Verhalten einzelner Führungspersönlichkeiten der „Deutschen Christen“ hin, die einen Kurs der „Gewaltherrschaft“ führten. Auf diese Weise könnte in der ­Kirche kein Friede entstehen. Dafür hat D. ein gewisses Verständnis und sagt, er könne vielleicht von sich aus nach dieser Richtung hin einwirken. Im übrigen ­kommen die bekannten allgemeinen Gedanken: Die ­Kirche habe ihre große Stunde versäumt, wo sie in wirksamer Weise dem Staat bei dem einzigen Kampf, den er zu kämpfen habe, nämlich gegen den Katholizismus, hätte helfen können. Er selbst, D., sei „enragierter Protestant“ 153 und bedaure darum, daß durch den theologischen Kampf so viel Kräfte verbraucht würden.

Nachdem sein „Schutzherr“ Göring und vor allem Hitler selbst immer wieder die Bekämpfung des Marxismus an die Spitze gestellt hatten, ist Diels’ Auffassung vom „einzigen Kampf gegen den Katholizismus“ überraschend. Die antikirchliche Grundtendenz des Nationalsozia­lismus richtete sich gegen beide großen ­Kirchen. Es entsteht einmal mehr der Eindruck, dass Diels seine Formulierungen sehr bewusst auf seine Gesprächspartner ausrichtete. Im letzten Teil des Gesprächs warb Bodelschwingh für die „jetzt zum Teil zurückhaltenden Pfarrer und Gemeindeglieder, die doch im innersten Grunde national und sozia­l gesinnt s­ eien“. Der Staat dürfe sie nicht um der „Deutschen Christen“ willen belasten und vergrämen. Reaktionäre gebe es in allen Lagern. Diels entgegnete darauf mit der bemerkenswerten Definition: „Reaktionäre […] sind Leute, die sich quer legen.“ Er verwies dann noch darauf, dass er der Anregung nicht gefolgt sei, den „Pfarrernotbund“ aufzulösen, sondern sich auf das Verbot der „Laien-­Notbünde“ beschränkt habe. Bodelschwingh lobte die sehr offene, vertrauensvolle Weise der Unterhaltung. Er bat Diels darum, Nachricht zu geben, wenn „besondere Dinge passierten“, was dieser „in Aussicht“ stellte. Zur Herkunft seines „Materials“ räumte Diels ein, „daß die Geheime Staatspolizei manchmal an der Wand horchen müsse. Daher das Abhören der Telefongespräche. Es läge ihnen aber fern, tschekistische Methoden anzuwenden.“ Ob diese Abgrenzung von der sowjetischen Geheimpolizei, deren erster Name „Tscheka“ lautete, in der Sache begründet war, kann bezweifelt werden. Welchen Zweck Diels bei d ­ iesem Gespräch verfolgte, äußerte er nicht. Auch aus dem Zusammenhang ließ sich dazu nichts entnehmen. Wahrscheinlich wollte er gegenüber einem eher ­zwischen den Lagern stehenden Kirchenmann nur den Eindruck eines verständigen Gesprächspartners erwecken in der Hoffnung, dass dieser weiterverbreitet werde. In der Sache zeigte Diels ja kaum Entgegenkommen. Seine unverändert rigorose Einstellung zum „Pfarrernotbund“ ließ sich aus dem nur wenig später verfassten, oben erwähnten Schreiben an den Reichsinnen­ minister entnehmen.

153 Die Anmerkung des Bearbeiters der Dokumentation, Diels sei katholisch gewesen, trifft nicht zu, vgl. Romeyk, Leitende Verwaltungsbeamte, S. 412.

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Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass Diels mit dem Geheimen Staatspolizeiamt den kirchenpolitischen Kurs des Regimes mittrug und im Rahmen der Zuständigkeit seiner Behörde durchzusetzen versuchte. Nur gelegentlich zeigte er sich in persönlichen Gesprächen mit einzelnen Kirchenvertretern entgegenkommend. Der harte Ton im amtlichen Schriftverkehr hängt wohl damit zusammen, dass er in den K ­ irchen eine Macht sah, gegenüber der sich das Regime durchsetzen musste. Die Folgerung hieraus ist, dass Kirchen und nationalsozia­ listisches Regime letztlich nicht nebeneinander existieren konnten.

3.5.4 Folterkeller der SA, Schutzhaft und Konzentrationslager Die Selbstherrlichkeit der SA und ihre Übergriffe nahmen nach dem Reichstagsbrand, wie schon erwähnt, in einem unerhörten Maße zu, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte. Manchmal deckte sie deren Aktionen sogar. Welches Ausmaß die Willkürherrschaft der SA in Berlin annahm, zeigte sich an den zahlreichen Folterkellern, die es in vielen Stadtteilen gab. Es sollen etwa fünfzig gewesen sein. Diels schilderte in seinen Memoiren ausführlich die Zustände in diesen „Prügelkellern“, und wie er dagegen angekämpft habe.154 Er nannte es einen „Ringkampf in einem dunklen Keller […], [bei dem er] nur in hasserfüllte Augen sah. Aber Göring fiel mir nicht in den Rücken.“ Sein konkretes Vorgehen habe darin bestanden, dass er mit einer polizeilichen Begleitmannschaft jeden einzelnen dieser „Keller“ aufgesucht habe. Wie er einen Beispielsfall beschrieb, hätten ihm die SA-Männer, schwer bewaffnet, erst den Zutritt verwehren wollen. Er habe erklärt, dass Göring ihm die Räumung befohlen habe. Es sei dann zu einer längeren Auseinandersetzung gekommen, bei der schließlich die SA nachgab und „gegen das Versprechen, dass sie im polizeilichen Gewahrsam bleiben sollten“, die Gefangenen auslieferte. Bei Betreten des Kellers habe sich ein schreckliches Bild geboten. „Die Opfer, die wir vorfanden, waren dem Hungertode nahe. Sie waren tagelang stehend in enge Schränke gesperrt worden, um von ihnen ‚Geständnisse‘ zu erpressen. Die ‚Vernehmungen‘ hatten mit Prügeln begonnen und geendet.“ Die Gefangenen hätten zu den Polizeiwagen getragen werden müssen, die sie dann in ein Polizeigefängnis brachten. Diels gab an, bis auf das Columbia-­Haus s­ eien bis Ende Mai 1933 alle „Bunker“ aufgelöst worden. Diese Darstellung zeigt einmal mehr seinen Sinn für Dramatik und Ausdrucksstärke. Man darf in ihr auch ein gewisses echtes Maß an Mitempfinden und fortwirkender Empörung erkennen. In ihrem Kern sind die Fakten zutreffend wiedergegeben und Diels’ Vorgehen war deshalb durchaus verdienstvoll. Auch scharfe Kritiker haben eingeräumt: „Diels bemühte sich […], einige der schlimmsten SA-Prügelkeller in Berlin mit Polizeigewalt aufzulösen […].“155 Sein Vorgehen lag auf der Linie, bei grundsätzlicher Regimetreue Exzessen entgegenzuwirken. In seiner und wohl auch Görings Motivation wird auch mitgewirkt haben, dass die Ausschreitungen der SA dem neuen Regime nur schaden konnten. Bei den Konzentrationslagern lagen die Dinge anders und komplizierter. Diels’ Selbstbeschreibungen und die Realität klafften hier oft weit auseinander. Er will sogar letztlich das große Ziel ihrer Beseitigung gehabt haben. „Ich wollte […] Schritt für Schritt auch den Kampf

154 Lucifer (49), S. 187 ff, von dort auch die Zitate. Vgl. dazu Thamer, Verführung und Gewalt, S. 265 f. 155 Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 72.

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gegen die Konzentrationslager aufnehmen. Sie sollten bald und völlig verschwinden.“156 Aber Diels’ Rolle erscheint sehr diffus. Schutzhaft und Konzentrationslager waren von Anfang an Erscheinungsformen und Ausprägungen des nationalsozia­listischen Unrechtssystems. Die polizeiliche Maßnahme der Schutzhaft gab es bereits im königlichen Preußen und auch im Preußen der Weimarer Republik. Es war eine polizeiliche Maßnahme der Freiheitsentziehung unter strikten rechtsstaatlichen Beschränkungen; Schutzhaft konnte nur zum Schutz einer Person vor sich selbst und im Falle einer Gefahr oder Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung verhängt werden. Im „Dritten Reich“ begann mit der Reichstagsbrandverordnung und dem dazu ergangenen preußischen Durchführungserlass eine grundsätzliche, immer mehr zunehmende Ausweitung der Schutzhaft. Die Reichstagsbrandverordnung hatte ja das Grundrecht der Freiheit der Person außer Kraft gesetzt, und der Durchführungserlass Görings dazu, wie erwähnt, überdies die inhaltlichen Schranken des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes beseitigt. Mehrere Runderlasse Görings in den Folgemonaten regelten weitere Anwendungsfälle. Durch all das war die Möglichkeit eröffnet, Schutzhaft als Maßnahme gegen politische Gegner und zu deren Verfolgung einzusetzen. Die Orte, an denen die Schutzhaft vollzogen wurde, waren überwiegend die Konzentrationslager. Das erste dieser Art in Preußen entstand im März 1933 in Oranienburg nördlich von Berlin. Es war in der Hand der SA. Weitere Lager kamen bald hinzu, staatliche und auch die anderer Machtträger. Ab Mitte März begann die Polizeiabteilung des Preußischen Innenministeriums mit Planungen. Sie bemühte sich, die Schutzhaftunterbringung zu zentralisieren, selbst zu überwachen und geeignete Lager ausfindig zu machen.157 Diels schrieb in seinen Memoiren: Für die Entstehung der Konzentrationslager gibt es keinen Befehl und keine Weisung; sie wurden nicht gegründet, sie waren eines Tages da. Die SA-Führer errichteten „ihre“ Lager, weil sie der Polizei ihre Gefangenen nicht anvertrauen wollten, oder weil die Gefängnisse überfüllt waren. 158 Von vielen dieser wilden Lager drang niemals eine Kunde nach Berlin.

Dies ist eklatant falsch. In der Tat gab es ja, wie gerade erwähnt, sehr frühe Planungen im preußischen Innenministerium. Zudem war in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 12. April 1933 zu lesen: „Ferner teilte Oberregierungsrat Diels mit, daß in der Provinz Brandenburg in der nächsten Zeit neue Konzentrationslager entstehen würden, in denen die Schutzhäftlinge wieder zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden sollten.“159 Wenig später würde er mit dem Leiter der Polizeiabteilung, Daluege, das staatliche Lager Sonnenburg planen. Gegen Diels’ Bezeichnung „wilde Lager“ für die Lager der SA-Führer, die für längere Zeit auch von der historischen Literatur übernommen wurde, sind zu Recht Einwände erhoben worden. Sie verschleiere und leugne, überlegt oder gedankenlos, „die Planmäßigkeit, mit der 1933 Konzentrationslager errichtet wurden, das Zusammenspiel der unmittelbaren Terror­ instrumente, regionaler Stellen und Ministerien bei ihrer Anlage, Ausstattung und Führung“. Deshalb wird sie hier vermieden. Völlig unglaubhaft ist Diels’ Bemerkung, von ­diesen Lagern sei „niemals eine Kunde nach Berlin“ gedrungen. Er selber hatte doch die Lager gekannt 156 Lucifer (49), S. 191. 157 Hierzu vor allem die grundlegende Studie von Tuchel, Konzentrationslager, S. 60 ff. 158 Lucifer (49), S. 190. 159 Zitiert nach Tuchel, ebd., S. 65. Zum Folgenden vgl. S. 41.

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und auch aufgesucht, wie er auf den folgenden Seiten seines Buches schilderte. Auch waren Gerüchte über diese Lager einfach nicht zu unterdrücken. Dieser verschleiernde Satz passte gut zu der „Verdrängungsmentalität“, die zur Zeit der Veröffentlichung des Buches in Deutschland herrschte. Diels beschrieb dann Besuche in verschiedenen Lagern, die er im Spätherbst 1933 unternommen habe.160 Es handelte sich sowohl um Lager der SA als auch der SS. Er tat dies in aller Ausführlichkeit und mit einer selbst für ihn ausgeprägten Dramatik. Was er bei seinen Besuchen konkret erreichte, war nicht immer genau auszumachen. In den Einzelheiten jedenfalls ist das alles nicht belegbar. Am Ende seiner Ausführungen schrieb er, er sei Mitte Oktober dabei gewesen, „mit einer gehörigen Vorbereitung durch eine Denkschrift […] bei Göring und Hitler einen Vorstoss einzuleiten, der zur Beseitigung der Lager führen sollte.“ Falls er diesen Vorstoß tatsächlich unternommen hat, blieb er, wie nicht anders denkbar, erfolglos. Diels hat sich nach dem Krieg gerühmt, jedenfalls gegen die nach seiner Wortwahl „wilden Lager“ vorgegangen zu sein. Er bezog sich dabei auf ein Zitat aus dem Buch des früheren KZ-Häftlings Eugen Kogon: Rudolf Diels überzeugte seinen Herrn davon, dass die wilde Methode dem Ansehen des nationalsozia­listischen Staates auf die Dauer schaden könne. […] Man solle reguläre Lager ­einrichten […]. Diels übernahm der Reihe nach fast alle irregulären KL der Anfangszeit und löste 161 sie, einige wenige, darunter das Columbia-­Haus in Berlin ausgenommen, bis März 1934 auf.

Diese Darstellung wird im Grundsatz gestützt von einem unveröffentlichten Runderlass Görings vom 14. Oktober 1933.162 Danach sollte Schutzhaft, hier irreführend als Polizeihaft bezeichnet, grundsätzlich nur in den im Einzelnen aufgezählten staatlichen Konzentrationslagern vollstreckt werden, für kürzere Dauer nur in staatlichen oder kommunalen Polizeigefängnissen. Sonstige Einrichtungen „zur Unterbringung politischer Schutzhäftlinge ­seien bis Ende des Jahres aufzulösen“. Soweit in der Literatur Diels gefolgt wird, ist nur von einer Bremswirkung die Rede. Nach dessen eigener Darstellung sei es ihm auch nicht gelungen, bei Hitler eine Totalamnestie durchzusetzen.163 Eine Teilamnestie sollte aber doch kommen. Deren Größenordnung lässt sich nur schwer bestimmen. Denn die Zahlen derer, die 1933 in Schutzhaft genommen wurden, sind lückenhaft.164 Ohnehin liegen keine über die „illegalen Lager“ vor. Nach einem ersten Höhepunkt im Frühjahr nach der Verhaftung der kommunis­ tischen Funktionäre und einem zweiten im Juli nach „Liquidierung“ der sozia­ldemokratischen Partei und der bürgerlichen Parteien soll es in Preußen 14.906 Schutzhäftlinge gegeben haben. Diese Zahl kann sich nur auf die staatlichen oder staatlich kontrollieren Lager beziehen. Nachdem das Geheime Staatspolizeiamt, wie es Hitlers Entscheidung erlaubte, die Regierungspräsidenten und Staatspolizeistellen über die beabsichtigten Entlassungen aus Konzentrationslagern informiert hatte, ließ Göring am 7. Dezember 1933 im amtlichen preußischen Pressedienst verlauten:

160 Lucifer (49), S. 192 ff, Zitat auf S. 197. 161 Diels, Lucifer (49), S. 258; bei Kogon, Der SS-Staat, S. 39. 162 Dazu Graf, ebd., S. 265. 163 Sauer, Mobilmachung der Gewalt, S. 876 f mit FN 287. 164 Vgl. dazu im Einzelnen Tuchel, ebd., S. 96 ff.

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Im Hinblick auf das günstige Ergebnis der Reichstagswahl, insbesondere in den Konzentrationslagern, und aus Anlaß des Weihnachtsfestes habe ich die Absicht, Entlassungen aus den Konzentrationslagern vorzunehmen. Ich halte es bei der Beruhigung der innerpolitischen Lage und im Hinblick auf die abgeschlossene Stabilisierung des nationalsozia­listischen Regiments für trag165 bar, auf diese Weise bis Weihnachten noch rund 5.000 Gefangene zur Entlassung zu bringen.

Diels erhöhte diese Zahl nach dem Krieg gegenüber den Nürnberger Ermittlern auf rund 25.000 [!] während eine sehr differenzierte neuere Berechnung auf eine Gesamtzahl von 3900 bis 4700 Entlassungen kam.166 Wie Görings Verlautbarung gezeigt hat, erfolgte die Teilamnestie aus einem Gefühl der Stabilisierung des Regimes heraus, sicherlich auch zu psychologischen Zwecken im Inland und propagandistischen im Ausland. Immerhin forderte Diels im Auftrag des Ministerpräsidenten in einem Rundschreiben vom 5. Januar 1934 die „Integration“ der aus Anlass der Weihnachtsamnestie entlassenen Schutzhäftlinge „in die Volksgemeinschaft“.167 Es fragt sich aber, w ­ elche Wirkung die Auflösung illegaler Lager durch Diels denn letztlich hatten. Die Zahl der Konzentrationslager verringerte sich, aber andere blieben in staatlicher Regie erhalten. Das mag eine graduelle Minderung der Drangsalierung der Häftlinge bewirkt haben, aber auch unter staatlicher Kontrolle blieben die Lager Stätten politischer Verfolgung mit schlimmen Folgen für die Häftlinge. Nimmt man noch hinzu, dass seit Juli 1933 die Bewachung der Häftlinge in den staatlichen Emslandlagern von SS-Wachmannschaften übernommen worden war und im Laufe der Zeit die SS in allen Konzentrationslagern die Bewacher stellte, dann wird man letztlich zu dem Urteil kommen, anstelle des ungezügelten Terrors der SA sei nach und nach der kalte und systematische der SS getreten.168 Es sollte offenbleiben, ob das für die Häftlinge einen wesentlichen Unterschied machte. Es kann in d ­ iesem Zusammenhang auch nicht unerwähnt bleiben, dass Diels jedenfalls im Frühjahr bzw. Frühsommer 1933 auf das SA-Lager Oranienburg und das von der SS beherrschte Columbiahaus in Berlin zurückgriff. Er behandelte sie, obwohl er die dortigen Verhältnisse genau kannte, als amtliche Partner und lieferte ihnen in Schutzhaft genommene Menschen routinemäßig aus. Wenn ein Konzentrationslager in seinem Einflußbereich lag oder die Geheime Staatspolizei zumindest ungehinderten Zugriff auf die Häftlinge hatte, war Diels keineswegs empfindlich, mochten die SA-Männer zu den Häftlingen 169 auch noch so brutal sein.

Das ambivalente und schwer einzuordnende Verhalten Diels’ wird besonders deutlich in Zusammenhang mit dem Lager Bredow in Stettin. Vorauszuschicken ist, dass Diels an der Einrichtung einer „Zentralen Staatsanwaltschaft“ im Sommer 1933 maßgeblich beteiligt war, ­welche unter anderem Übergriffe in Konzentrationslagern verfolgen sollte. Folgt man Diels’ Memoiren, hat er darüber mit dem Reichsjustizminister Gürtner gesprochen.170 Der tatsächliche Ablauf war so. Die „Zentrale Staatsanwaltschaft“ war eine Idee des Staatssekretärs im „Preußischen 165 Zitiert nach Tuchel, ebd., S. 104. 166 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 108 f und Tuchel, ebd., S. 104 f. 167 Zitiert nach Graf, ebd., S. 266. 168 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 73 ff. 169 Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 72 f. 170 Lucifer (49), S. 223 ff; dazu auch Gruchmann, Justiz, S. 324; zum Folgenden ebd., S. 345 f.

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Justizministerium“, Roland Freisler, dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs. Dieser sah sie als notwendig an, nachdem häufiger die Staatsanwaltschaften vor Ort unkoordiniert und ohne Unterrichtung des Ministeriums vorgegangen waren. Diels unterstützte ihn, da er sich durch eine s­ olche Strafverfolgungsbehörde besseren Rückhalt in der Auseinandersetzung des Geheimen Staatspolizeiamtes mit SA und SS in der Schutzhaftfrage erhoffte. Es ging also auch um Kompetenzen und Macht. Die Erfolge dieser „Zentralen Staatsanwaltschaft“ waren wohl eher begrenzt. Im Falle des Lagers Bredow konnte sie ihre Rolle aber gut ausfüllen. Das Lager war im Oktober 1933 als Polizeilager im ehemaligen Gebäude einer Werft eingerichtet worden. Bald kam es dort zu unerträglichen Zuständen, die die Öffentlichkeit beunruhigten.171 Mitte Februar inspizierte Diels das Lager, fand aber nichts zu beanstanden. Auf Grund einer vom Regierungspräsidenten schließlich durchgesetzten Untersuchung nahm die „Zentrale Staatsanwaltschaft“ Ermittlungen auf. Göring verfügte die Auflösung des Lagers, und Diels reorganisierte in dessen Auftrag die Staatspolizeistelle. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mündeten Ende März 1934 in einem Strafprozess, der zu einer Verurteilung des Lagerkommandanten und von Mitgliedern der Wachmannschaft führte. Immerhin war dies im Frühjahr 1934 noch möglich. Es ist schwer zu erklären, warum Diels’ Inspektionsbesuch im Lager Bredow nichts ans Licht brachte, was zu beanstanden gewesen wäre. Er selber erwähnte den Besuch in seinem Buch nicht. Nach der Literatur hierzu sind zwei Deutungen denkbar.172 Diels wollte, was höchst fragwürdig gewesen wäre, nicht tiefer in die Sache eindringen, oder er sah keinen Grund zum Einschreiten, weil alle Spuren beseitigt und eine korrekte Behandlung der Häftlinge vorgetäuscht worden war. In Anbetracht von Diels’ Intelligenz fällt es schwer anzunehmen, er wäre einer Täuschung zum Opfer gefallen, zumal er durch die Berichte vorgewarnt worden war. Jedenfalls beeinträchtigt d ­ ieses Vorkommnis Diels’ Selbstbild, er habe sich vielfach wirksam für zu Unrecht Gequälte eingesetzt. Diels’ Verhalten insgesamt ist höchst unterschiedlich gewertet worden. Einmal heißt es, die Schließung der meisten illegalen Konzentrationslager und die Einrichtung der „Zentralen Staatsanwaltschaft“ im Preußischen Justizministerium habe „ein Stück Rechtsstaatlichkeit [!] nach Preußen“ zurückgebracht.173 Dieses sehr wohlwollende Urteil ist wegen der sehr begrenzten Wirkung der genannten Maßnahmen überzogen. Ohnehin kann ein Staat nur in seiner Gesamtheit nach Verfassung und Praxis ein Rechtsstaat sein oder sein wollen. Eine andere Bewertung ist völlig negativ. Das Geheime Staatspolizeiamt unter Rudolf Diels hat – im Gegensatz zu den Exkulpationsver­ suchen von Diels nach 1945 – nicht zur Verbesserung der Haft- und Lebensbedingungen der Häftlinge beigetragen. Weder vor noch nach dem November 1933 hat das Geheime Staatspolizeiamt 174 versucht, das Konzept des Preußischen Innenministeriums zu unterstützen oder fortzuführen.

Der zweite Satz bedarf einer Erläuterung. Das Preußische Innenministerium hatte sich seit dem Frühjahr 1933 um die Planung staatlicher Konzentrationslager und deren Zentralisierung sowie eine Organisation nach der Art von Gefängnissen mit einem zivilen Direktor an der Spitze 171 Im Einzelnen Gruchmann, ebd., S. 348 f. Vgl. auch Thévoz u. a., Pommern (Darstellung), S. 31 ff. 172 Dazu Gruchmann, ebd., S. 349. 173 Höhne, Zeit der Illusionen, S. 201. 174 Vgl. Tuchel, ebd., S. 118 f, auch zum Folgenden.

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bemüht. Ein durchschlagender Erfolg blieb ihm dabei versagt. Im Frühjahr 1934 sei das große Ausmaß fehlender Planung und Kontrolle zu einem Problem für Göring geworden, wie insbesondere die Vorgänge um das Lager Bredow gezeigt hätten. In d ­ iesem Zusammenhang wird auch der Vorwurf wiederholt, Diels habe Häftlinge der Folterung und Ermordung ausgeliefert. Zu dieser Zeit s­ eien die preußischen Konzentrationslager im Positiven wie im Negativen der Willkür ihrer Kommandanten ausgesetzt gewesen, die sich gegenüber den Lagerdirektoren als die Stärkeren erwiesen hätten. Diese Entwicklung wird auch im Wesentlichen Diels und dem Geheimen Staatspolizeiamt angelastet. Dieses Urteil ist überaus hart. Hier entsteht der Eindruck, als liege die Verantwortung für diese Entwicklung allein bei Diels, was allerdings nicht zuträfe. Auch der Wankelmut Görings und die Doppelrolle Dalueges als Vertreter staatlicher und SS-Interessen, müssen als mitursächlich angesehen werden. Die bei Diels bleibende Verantwortung ist auch so groß genug. Der erste oben zitierte Satz, Diels habe zur Verbesserung der Haft- und Lebensbedingungen der Häftlinge nicht beigetragen, geht ebenfalls zu weit. Die Schließung der meisten SA-Lager mag, wie oben aufgeführt, nur eine „Bremswirkung“ gehabt haben, und dies, so ist zu ­ergänzen, nur eine Zeitlang. Immerhin war das eine, wenn auch geringe, positive Wirkung. Im Frühjahr 1934 sollen die Todeszahlen in den preußischen Konzentrationslagern, gemessen an den Häftlingszahlen, deutlich höher gelegen haben als in den Zeiten davor. Wenn dies zutrifft, dann zeigt dies, wie gering und kurzfristig die beschriebene „Bremswirkung“ gewesen sein muss, ohne dass dafür Diels allein die Verantwortung treffen müsste. Es bleibt für ihn genug. Das Bild wäre aber unvollständig, wenn zwei gegensätzliche Handlungen Diels’ nicht genannt würden. Zunächst geht es um den Fall „Ali Höhler“, den mutmaßlichen Mörder von Horst Wessel.175 Diels schilderte in seinen Memoiren, der SA sei es gelungen, Höhler aus der Polizeihaft zu entführen; er sei dann von SA-Leuten auf einer Waldlichtung bei Berlin erschossen worden. Nach Zeugenaussagen „in späteren Prozessen“ und weiteren Hinweisen soll Diels bei der Erschießung Höhlers nicht nur zugegen gewesen sein, sondern sie zusammen mit dem SA -Führer Ernst sogar geleitet haben. Gesichert ist, dass Diels Göring kurz nach der Tat im September 1933 den Entwurf eines Erlasses an den Justizminister zugeleitet hat, in dem die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt angeordnet wurde. Diels hätte also die Aufklärung eines Mordes unterbunden, wahrscheinlich, um seine Beteiligung zu vertuschen. Auf der anderen Seite hat Diels einzelnen Personen Hilfe vor der Verfolgung von SA und SS geleistet.176 Zu nennen sind hier der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe, der deutschnationale Politiker Gereke und auch der spätere Bundesminister Ernst Lemmer. Sie waren alle Angehörige der politischen Prominenz der Weimarer Zeit. Weniger dramatisch war die Einstellung der Postüberwachung des DDP-Politikers und späteren Bundespräsidenten Th ­ eodor Heuss infolge von dessen brieflicher Beschwerde gegenüber Diels selbst; dieser gewährte allerdings nicht die erbetene persönliche Aussprache.177 Aber er half auch weniger Prominenten. Zwei Marburger Studienkollegen, einer davon Bruder des späteren Widerstandskämpfers Adam von Trott zu Solz, waren bei einer Razzia gegen Kommunisten verhaftet worden. Diels „ließ beide jedoch laufen“.178 Die Motive für d ­ ieses Verhalten waren sicherlich sehr s­ ubjektiv. 175 Zum Folgenden Lucifer (49), S. 222 f; Wallbaum, ebd., S. 110 f. 176 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 107 f. 177 Vgl. Merseburger, Theoder Heuss, S. 337 f. 178 Von Krusenstjern, Daß es Sinn hat zu sterben S. 218. Im Übrigen Wallbaum, ebd., S. 107 f.

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Persönlich Bekannten hilft man eher, auch ehemals Prominenten macht man sich gerne noch einmal gefällig. Diese Hilfeleistungen entlasten nur wenig. Zusammenfassend bleibt aber festzuhalten, dass Diels nach dem Krieg ein riesiges Panorama der Selbstentlastung entworfen hat, seine Rolle in Angelegenheiten der Schutzhaft und Konzentrationslager jedoch in hohem Maße negativ war.

3.5.5 Zusammenarbeit und Machtkämpfe; Ablösung und Flucht Wie schon gezeigt, war das Aufgabengebiet der politischen Polizei bald nach Beginn des NS-Regimes ein vielfach beanspruchtes Feld. Auch Parteifunktionäre und Parteiorganisationen ihrerseits drängten auf d ­ ieses Gebiet. Göring hatte durch den Hilfspolizeierlass SA und SS Zugang zu Polizeiaufgaben überhaupt eröffnet. Das war eine fundamentale Abkehr von einer traditionellen Polizei. Diels hat in seinen Memoiren mit zahlreichen Belegen den Eindruck zu erwecken versucht, gegen diese Grundtendenz mit aller Konsequenz und großer Energie angekämpft zu haben. Musterbeispiel dafür ist, dass er sich dem „Eindringen“ von SA und SS und ihrer Methoden in die Polizei entgegengestemmt haben will.179 Diesen Eindruck zu erwecken, ist offensichtlich dem apologetischen Zweck der Memoiren zuzuschreiben. Tatsächlich aber konnte sich Diels unter den gegebenen Umständen nicht von vorneherein jeder Zusammenarbeit versagen. SA und SS waren Gliederungen der Partei, die aber schon seit Februar einen Platz im staatlichen Polizeiapparat Preußens hatten. Die weitere Frage war, wie viel Einfluss sie sich darüber hinaus noch verschaffen konnten oder man ihnen einräumen musste. Göring hatte, wie bereits geschildert, mit Kurt Daluege einen hohen SS -Offizier ins preußische Innenministerium geholt und nach wenigen Monaten zum Leiter der Polizeiabteilung bestellt. Im Sommer 1933 ging Göring mit der Institutionalisierung des Einflusses von SA und SS noch einen Schritt weiter, indem er deren Führer persönlich mit seinem Ministerium verband. Durch Runderlass vom 7. Juli legte er fest, dass Hilfspolizeibeamte der SA künftig nur der Sicherheitspolizei zugeordnet sein sollten, Hilfspolizeibeamte der SS dem Geheimen Staatspolizeiamt. Gleichzeitig ernannte er den Stabschef der SA Ernst Röhm zum Ministerialkommissar für die Sicherheitspolizei und den Reichsführer SS Heinrich Himmler zum Ministerialkommissar des Geheimem Staatspolizeiamtes.180 Allerdings wurde die Hilfspolizei kurze Zeit darauf mit Wirkung vom 15. August 1933 aufgelöst, weil „sie ihrer Zweckbestimmung in vollem Umfang gerecht geworden ist“.181 Der Runderlass vom 7. Juli wurde allerdings nicht ausdrücklich aufgehoben. Der Satz über die Zweckerfüllung war durchaus zutreffend. Die Hilfspolizei hatte sich als Verfolgungsinstrument im staatlichen Gewand betätigt und dadurch zur Ausschaltung politischer Gegner beigetragen. Zudem bedeutete der Erlass nur formal das Ende der Hilfspolizei, weil dies im Zuge des „Abschlusses der Revolution“ für opportun gehalten wurde. Denn Göring ließ in einem geheimen Zusatz die Mitwirkung von Hilfspolizisten bei Massenaufmärschen und Razzien zu. Zudem hatte Diels kurze Zeit vorher Daluege die weitere Ausbildung von Hilfspolizisten angeboten. Die Hilfspolizei bestand also in gewissem Umfang fort.

179 Vgl. Lucifer (49), S. 179; vgl. zu ­diesem Abschnitt auch Graf, ebd., S. 189 ff. 180 Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 9, S. 351 f. 181 RdErl. des Innenministers vom 2. August 1933, MBliV., Sp. 932a.

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Aus einem weiteren Grund war die Hilfspolizei allerdings in der Tat entbehrlich geworden. Im Spätsommer 1933 waren die Polizei und insbesondere das Geheime Staatspolizeiamt ungleich stärker auf das Regime ausgerichtet als noch in dessen ersten Monaten. Viele altgediente Beamte hatten sich innerlich dem Regime zugewandt und dies auch durch Beitritt zur Partei bekundet. Außerdem waren im Zuge der Personalverstärkung des Geheimen Staatspolizei­amtes auch zahlreiche überzeugte Nationalsozia­listen nachgerückt. In d ­ iesem Zusammenhang hatte Diels schon am 26. Juni an Daluege geschrieben: „Grundsätzlich sollen in Zukunft die Exekutivbeamten der Geheimen Staatspolizei der SS entnommen werden.“182 Damit habe „Diels ganz offiziell das Eindringen der SS in das Preußische Geheime Staatspolizeiamt, ja das Monopol […] auf dessen für die konkrete Alltagsarbeit entscheidenden Außendienst“ begründet. Aber das Schreiben Diels’ kann auch anders verstanden werden. Auf Grund der Erkenntnis, dass er die SS nicht vollständig vom Geheimen Staatspolizeiamt ausschließen konnte, war es möglicherweise ein Versuch, deren Zugang zu „kanalisieren“. Das bedeutete, diesen Zugang auf den Außendienst zu begrenzen und den Innendienst einschließlich der Leitungsebene abzuschirmen. Hier zeigte sich deutlich, dass er keinen ausschließlichen Abwehrkampf gegen Parteigliederungen wie die SS führen konnte; er musste mindestens elastisch agieren in einer Kombination von Abwehr und Zusammenspiel. Daraus zu folgern, Diels habe „gleichzeitig alle Behauptungen [widerlegt], wonach er sich gegen die Infiltration der SS in das Gestapa gewehrt habe“, ist überpointiert. Eine andere Verfahrensweise wäre dem Nicht-­Parteimitglied und von Parteimitgliedern misstrauisch beäugten früheren Angehörigen des „alten Systems“ nicht möglich gewesen. Um die politische Polizei Preußens wurde ein Machtkampf geführt, der erst einige Zeit später endgültig entschieden werden sollte. So bestand ein Interessensgegensatz mit dem Reichsinnenminister, der eine „Verreichlichung“, das heißt eine einheitliche politische Polizei des Reiches anstrebte. Eine reichseinheitliche Polizei war auch das Interesse der SS; vor allem ihr Führer Heinrich Himmler strebte sie an. Zunächst sollten die politischen Polizeien der Länder in seiner Hand vereint werden. Im März 1933 zum „Politischen Polizeikommandeur“ in Bayern ernannt, begann er zusammen mit seinem Gehilfen Reinhard Heydrich eine Art „Sammel­tätigkeit“. Er ließ sich vom Juni des Jahres an nacheinander von Reichsstatthaltern der einzelnen Länder die Leitung der jeweiligen politischen Polizei übertragen.183 Da Himmler je eher je lieber das preußische als das größte Geheime Staatspolizeiamt übernehmen wollte, musste z­ wischen ihm und Diels ein spannungsgeladenes Konkurrenzverhältnis entstehen, welches nur gelegentlich durch Gesten des Wohlwollens überdeckt wurde. Die dabei angewandten Methoden charakterisierte der Umstand, dass schon im Frühjahr 1933 ein SS -Führer in Berlin mit der Aufgabe betraut war, gegen Diels zu konspirieren.184 Er wurde sogar ins Geheime Staatspolizeiamt eingeschleust, aber es entwickelte sich z­ wischen ihm und Diels im Laufe der Zeit sogar ein gewisses Vertrauensverhältnis. Dies wiederum zeigte, wie geschmeidig Diels reagieren konnte: Er hatte wohl „etwas geahnt“ und bewegte sich meist sehr vorsichtig. Für Göring und Diels kam es in erster Linie auf die Eigenständigkeit des Geheimen Staatspolizeiamtes an. Es gab aber selbst auf preußischer Seite andere Interessen. Der Staatssekretär des Innenministeriums, Grauert, und der Polizeiabteilungsleiter, Daluege, wollten unbedingt, dass das Geheime Staatspolizeiamt Teil der Innenverwaltung bliebe. Das Gebiet 182 Zitiert nach Graf, ebd., S. 179, dort auch die folgenden Zitate. 183 Dazu im Einzelnen Aronson, Frühgeschichte, S. 169 ff. 184 Vgl. dens., ebd., S. 154; dazu und zum Folgenden auch Wallbaum, S. 124 ff.

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der politischen Polizei im NS-Regime war kein „Haifischbecken“, denn Haifische greifen sich nicht gegenseitig an. Passender ist das Bild eines Käfigs von Kampfhunden, die einander ständig zu beißen trachten. Der Machtkampf um die politische Polizei in Preußen erreichte im Herbst 1933 einen Kulmi­ nationspunkt, der zugleich einen tiefen Einschnitt in Diels’ Karriere darzustellen schien. Er wurde als Leiter des Gestapa abgelöst und floh kurz darauf in die damalige Tschechoslowakei. Diels gab in seinen Memoiren eine wiederum äußerst dramatische Schilderung der Vorgeschichte.185 Die Auseinandersetzungen vor allem mit der Berliner SA hätten zu einem heftigen Zusammenstoß z­ wischen dem SA-Gruppenführer Ernst und ihm geführt, bei dem Ernst ihn mit wilden Drohungen bedacht habe. Die SA hätte sogar einen Anschlag auf ihn geplant. Gemäßigte SA-Führer hätten jedoch auf eine Beilegung des Konflikts gedrungen. Letztlich sei es der SA lieber gewesen, ihn an der Spitze des Geheimen Staatspolizeiamtes zu dulden und Himmler und Heydrich zu verhindern. Anlässlich eines Versöhnungsversuchs bei Göring im September 1933 habe Ernst sogar vorgeschlagen, Diels solle einen hohen SA-Rang erhalten. Bei einem Besuch im Stabsquartier der SA, um seine „Bestallung“ entgegenzunehmen, habe Röhm ihm jedoch geraten: Wenn schon, dann müssen Sie den schwarzen Rock anziehen. Es wird Ihre Rettung sein k­ önnen. Ich würde Ihnen einen schlechten Dienst erweisen, wenn ich durch Ihre Aufnahme in die SA Himmlers und Heydrichs noch grösseren Zorn gegen Sie herausfordern würde, denn diese Leute werden einmal tödlich gefährlich werden.

Eine Unterredung mit Röhm war allemal möglich. Ob sie im Zusammenhang mit dem Beitritt zu einer Parteigliederung stattgefunden haben soll, muss offenbleiben. Schwer vorstellbar ist, dass Röhm dabei Diels einen Beitritt zur SS statt zur SA empfohlen hätte. Kaum glaubhaft aber ist, dass Röhm seine Beseitigung ein dreiviertel Jahr vorher geahnt haben soll. Diels schilderte nun, wie er den Ränkespielen des SD , des Sicherheitsdienstes der SS , in Berlin und Brandenburg entgegengearbeitet habe. Göring habe ihm sogar befohlen, Heydrich bei einem Betreten Berlins zu verhaften. Davon habe er ihn aber abgebracht. Göring werde ihn, Diels, nicht gegen Himmlers Rache schützen, wenn Heydrich schließlich die „Berliner politische Polizei“ doch einmal übernehmen sollte. Daraufhin habe Göring entschlossen geantwortet: „Himmler und Heydrich kommen niemals nach Berlin.“ Er fuhr fort, Anfang Oktober habe seine Frau ihm telefonisch mitgeteilt, „eine Bande“ sei in die Wohnung eingebrochen und habe diese durchsucht, während sie sich im Schlafzimmer habe ruhig verhalten müssen. Er sei nach Hause geeilt und habe festgestellt, dass es sich um ein SS-Kommando des Sturmführers Packebusch gehandelt habe. Wenig später habe er mit Unterstützung einer schwer bewaffneten Polizeieinheit dessen Quartier umstellt. Er habe Packebusch, auf dessen Schreibtisch die aus seiner Wohnung mitgenommenen Unterlagen gelegen hätten, festgenommen und letztlich in das Gefängnis des Polizeipräsidiums bringen lassen. Am nächsten Morgen habe Daluege Packebuschs Freilassung gefordert und Göring ihm (Diels) seine Herausforderung der SS verwiesen. Einige Tage später sei er Himmler in Görings Arbeitszimmer begegnet. Göring habe ihm mitgeteilt, der Reichsführer bedauere die „Disziplinlosigkeit seines Unterführers“. Er solle von einem SS -Gericht abgeurteilt werden,

185 Lucifer (49), S. 231 ff; Zitate von Röhm und Göring S. 236. Zum Folgenden S. 236 ff.

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deshalb sei die Entlassung aus der Haft erfolgt. „Zum ­­Zeichen der versöhnlichen Einstellung des Reichsführers“ ernenne er Diels zum SS-Führer.186 Mitte Oktober habe er Himmler dafür „in einem im neuen Hofstil gehaltenen Schreiben“ gedankt. Diels warf sich vor, Packebuschs „Beute“ nicht wieder vollständig an sich genommen zu haben. Das hatte Folgen. Nach seiner weiteren Schilderung sei er im selben Monat auf der Fahrt ins Amt von Mitarbeitern gewarnt worden, ­dieses sei von SS und Schutzpolizei besetzt, sein Dienstzimmer durchsucht und viel „Belastungsmaterial“ gefunden worden. Göring habe einen Haftbefehl gegen ihn unterzeichnet; er habe fliehen müssen. Darauf habe er sich, auf den Rat seiner Frau hin, um den Grenzübertritt zu erleichtern, in Begleitung einer amerikanischen Freundin noch am selben Tag in die Tschechoslowakei abgesetzt. Wie häufig bei Diels’ Memoiren entsteht auch hier der Eindruck, dass nur Weniges den Tatsachen entspricht, vieles aber phantasievoll erfunden ist. Seine Schilderung ist zwar im Spruchkammerverfahren von seiner ersten Frau bestätigt worden.187 Es mag aller Ehren wert gewesen sein, sich für den geschiedenen Ehemann einzusetzen, die Aussage ist aber als Beweis nicht ausreichend. Als feststehend angesehen werden kann Diels’ Ablösung von der Leitung des Geheimen Staatspolizeiamts und seine Flucht. Fest steht auch, dass er den Rang eines SS-Obersturmbannführers erhielt, dies aber bereits am 15. oder 29. September.188 Das von Diels erwähnte Dankschreiben trägt das Datum des 10. Oktober: Mein Reichsführer! Mit der Ernennung zum Obersturmbannführer der SS haben Sie mir eine so große Freude bereitet, wie ich es mit diesen k­ urzen Worten des Dankes nicht andeuten kann. Ich hoffe, dass ich Ihnen auf Grund der menschlichen Beziehungen, die mich sowohl bereits mit der Front der SS, als auch mit Ihnen, mein Reichsführer, verbinden, Ihnen die Gewißheit bieten kann, daß ich SS-mäßig zu denken und zu leben in der Lage sein werde. Ich verspreche Ihnen, daß ich die Grundsätze, die die Schutzstaffeln ausgeprägt haben, insbesondere in meinem beruflichen Wirkungskreis bei dem Aufbau und den Arbeiten der preußischen politischen 189 Polizei durchsetzen werde.

Dieser Brief, mit dem Etikett „im neuen Hofstil“ nachträglich verniedlicht, war in Wirklichkeit doch ein Beleg für eine zumindest gut gespielte Unterwürfigkeit. Sie galt einem Mann, den er, wenn auch wiederum aus der Nachkriegssicht, „als halbgebildeten und starren Spiesser […] [mit einem] Spleen für Rasse und Sippe und ‚Ahnenerbe‘“ bezeichnen sollte.190 Dieser war von dem Brief so angetan, dass er den Verfasser nur einen Monat später, am 9. November, zum SS-Standartenführer ernannte.191 Der Ernennungszeitpunkt lässt Zweifel an der Datierung von Diels’ Flucht aufkommen; sie geschah wohl später als Ende Oktober. In der Literatur gibt es verschiedene Erklärungsversuche für Diels’ Abgang.192 Eine besondere Variante besagt, der Reichspräsident selbst habe auf die Ablösung Diels’ gedrängt. Es ist jedoch kaum denkbar, dass Hindenburg, der sich durch zahlreiche Appelle nicht dazu hatte bewegen

186 Ebd., S. 238. Hier auch das folgende Zitat. 187 Wallbaum, ebd., S. 133. 188 In der SS-Führerpersonalakte des BA-Berlin sind beide Daten enthalten. 189 Abgedruckt bei Graf, ebd., S. 426. 190 Lucifer (49), S. 91. 191 SS-Führerpersonalakte; dieser SS-Rang entsprach dem eines Obersten. 192 Vgl. Delarue, Geschichte, S. 47; Overy, Hermann Göring, S. 54 f; Aronson, Frühgeschichte, S. 93; Tuchel/­ Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 77, aber auch Tuchel, Konzentrationslager, S. 58.

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lassen, wegen Missständen bei der Reichsregierung zu intervenieren, nun, veranlasst durch ein Dossier von Frick, sich derart in die Geschäfte der preußischen Regierung eingemischt hätte. Ein anderer Erklärungsversuch folgt Diels insoweit, als Göring Material zugespielt worden sein soll, welches SS-Leute in Diels Wohnung heimlich ausfindig gemacht hätten. Dieses habe das Vertrauen ­zwischen beiden „restlos zerstört“. Ein weiterer geht von einem Konflikt z­ wischen Göring und Diels aus, wobei einiges dafür spreche, dass Diels nicht ganz grundlos ein Mordkomplott der SS befürchtete und sich von Göring zu wenig unterstützt sah. Schließlich heißt es, es sei Staatssekretär Grauert in einer mehrstündigen Unterredung im Oktober gelungen, Göring zu einer Entlassung von Diels zu überreden. Dies wird in einen Zusammenhang mit den verschiedenen Lösungsmodellen für die Organisation der politischen Polizei gesetzt. Möglicherweise, so die letzte hier zu erwähnende Erklärung, haben aber auch „nur“ Intrigen aus dem Amt selbst oder aus der SS, ohne alles andere, dazu ausgereicht, dass Göring ihm sein Vertrauen entzog.193 Namentlich sind hier Diels’ Mitarbeiter Gisevius und der Kriminalrat Nebe zu nennen. Nach alldem kann man nur feststellen, dass sich die Gründe für Diels’ Ablösung nicht wirklich aufklären lassen, es allerdings einen Konflikt mit Göring gegeben haben muss. Was die Flucht in die Tschechoslowakei angeht, bestehen ebenfalls Ungereimtheiten. Diels hatte in seinen Memoiren geschrieben, er habe seinen Wagen „in einer Garage an der böhmischen Grenze“ untergebracht; in der Nacht noch sei er in Karlsbad angekommen.194 Dies spricht für eine Flucht über die „grüne Grenze“, bei der er seine „amerikanische Freundin“ nicht hätte mitnehmen müssen. Zudem erwähnte diese, bei der es sich nur um die Tochter des US-Botschafters handeln konnte, diese Reise in ihren Erinnerungen mit keinem Wort. Diels seinerseits hat bei einer Vernehmung als Zeuge in Nürnberg angegeben, er sei „in Begleitung des amerikanischen Botschafters Dodd [!]“ geflohen.195 Die Details der Flucht müssen offenbleiben.

3.6 Göring, ein wankelmütiger Chef – Diels’ erneuter Gipfel und Fall 3.6.1 Zweites Gestapogesetz und Wiederkehr ins Amt Der Konflikt ­zwischen Göring und Diels fiel in eine Zeit, in der eine Neuorganisation der politischen Polizei vorbereitet wurde. Im Herbst 1933 sprach Vieles dafür, dass es zu deren „Verreichlichung“ kommen werde. Sie wäre eine konsequente Fortsetzung der im Frühjahr mit den Gesetzen über die Gleichschaltung der Länder eingeschlagenen Linie gewesen. Über die weitere Entwicklung gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Versionen und dazu wiederum eine Darstellung von Diels.196 Sie stimmen darin überein, dass auf Vorschlag Dalueges der Altonaer Polizeipräsident Paul Hinkler zum kommissarischen Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes bestellt wurde. Dieser konnte sich jedoch nur 15 Tage im Amt halten und wurde am 29. November von Göring wieder abgelöst. Dies könnte auch dafür sprechen, dass Diels’ Übertritt in die Tschechoslowakei erst Anfang November erfolgte. 193 Vgl. Graf, ebd., S. 140. 194 Lucifer (49), S. 239. 195 Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 77 mit FN 22. 196 Dazu Graf, ebd., S. 141; Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 76 f. Sehr präzise Darstellung: Browder, Foundations, S. 87 f mit FN 48.

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Eine sehr detaillierte Darstellung komplizierter Abläufe findet sich bei Graf.197 Danach sei Diels während der k­ urzen Amtszeit Hinklers nicht untätig gewesen; er scheine vielmehr mit Unterstützung der SA-Führung (!) maßgeblich zum schnellen Sturze Hinklers beigetragen zu haben. Während dessen Amtszeit und „seines angeblichen Exils“ sei er am 18. November 1933 als Ministerialrat in die Stellung eines kommissarischen Polizeivizepräsidenten von Berlin eingetreten und am 23. November offiziell ernannt worden. Graf folgerte daraus, dass Diels höchstens einige Tage von Berlin abwesend war, wobei er verschiedene Zeiträume des Monats Oktober in Betracht zog. „In der Zeit seiner angeblichen Verfolgung und Flucht“ habe er „maßgeblich in dem Ränkespiel um die preußische Polizei mitgewirkt“. Diese Ausführungen sind wenig überzeugend. Graf fuhr fort, die Ernennung Diels’ zum Polizeivizepräsidenten weise noch auf einen wichtigen Aspekt der Abläufe hin. Sie stehe nämlich in Verbindung mit „gewissen, offenbar auch im preußischen Innenministerium verfolgten Plänen […] zur Rückgliederung der Politischen Polizei in die ordentlichen Polizeibehörden.“ So habe am 20. Oktober Staatssekretär Grauert seinem Kollegen im Reichsinnenministerium von der Absicht informiert, die Selbstständigkeit des Geheimen Staatspolizeiamtes wieder aufzuheben. Am 15. November habe Göring dem Altonaer Polizeipräsidenten Hinkler einen entsprechenden Sonderauftrag erteilt. Daluege hätte sich aus der Rückgliederung der politischen Polizei einen Gewinn versprechen können. So verwirrend die Abläufe auch gewesen sein mochten und nicht präzise festzustellen sind, zumal Göring höchstwahrscheinlich Täuschungsmanöver vollführt hatte, am Ende stand dessen eindeutige Entscheidung als preußischer Ministerpräsident, die er Grauert am 29. November schriftlich mitteilte. Er selbst übernehme ab sofort die Führung der politischen Polizei, der Hinkler übertragene Sonderauftrag erlösche und dieser habe in seine Stellung als Polizeipräsident zurückzukehren, schließlich bestimmt er, dass der „Ministerialrat Diels unter Beibehaltung seiner Stellung als kommissarischer Polizeivizepräsident von Berlin das Amt eines ‚Inspekteurs der Geheimen Staatspolizei‘ übernehme und die Umorganisation der Politischen Polizei […] vorzubereiten habe.“ Zugleich übersandte Göring mehrere Schriftstücke, auch einen Gesetzentwurf. Knapp und klar ist die Darstellung bei Tuchel.198 Danach habe Göring bereits im Oktober den Gesetzentwurf im Staatsministerium vorgelegt. Dieser sei jedoch wegen der „Scheinwahl“ zum Reichstag und der Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund am 12. November, aus wahltaktischen Gründen erst nach ­diesem Zeitpunkt beschlossen worden. Hinkler habe sich „in dem verworrenen Geflecht der internen Machtkämpfe“ an der Spitze des Geheimen Staatspolizeiamtes nur fünfzehn Tage halten können; SA -Kreise hätten Gerüchte über eine angebliche Geistesschwäche verbreitet. Diels sei am 30. November 1933 zurück­gekehrt und habe auf der Planstelle eines Polizeivizepräsidenten von Berlin wieder die Leitung des Geheimen Staatspolizeiamtes übernommen. Was diese beiden Darstellungen betrifft, so liegen die Unterschiede hauptsächlich in Datierungen und in der Frage der Ernennung zum Polizeivizepräsidenten von Berlin. Ob diese Ernennung jemals vollzogen wurde, ist zu bezweifeln. Diels hat wahrscheinlich diese Stelle nie angetreten. Dies spricht dafür, es habe sich, wie Tuchel annimmt, eher um ein haushaltstechnisches Detail gehandelt. Diese Unterschiede sind vornehmlich eine Folge der verworrenen Verhältnisse und unsicheren Abläufe im NS-Regime.

197 Vgl. ebd., S. 141 ff, von dort die Zitate. 198 Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 76 f; Tuchel, Konzentrationslager, S. 59 f.

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Diels’ Schilderung der Abläufe ist wie fast immer farbig, in einigen Passagen theatralisch.199 Zunächst kommentierte er höhnisch die Bestellung Hinklers. Göring habe geglaubt, damit einen „besonders schlauen Griff “ zu tun, aber sie habe Hitler nicht recht sein können. Dann fuhr er fort, seine „amerikanische Freundin“ habe eines Morgens von Karlsbad aus bei Görings Staatssekretär Körner angerufen. Sie sei entschlossen gewesen, die Stimmung zu erkunden und zu erfahren, ob man ihm noch nachstelle. Als Körner geantwortet habe, er suche in Görings Auftrag nach Diels, habe er das Gespräch übernommen. Körner habe ihn beschworen, sofort zurückzukehren. Die Vorwürfe gegen ihn hätten sich als haltlos erwiesen und auch der ­„Führer“ wünsche Diels’ Rückkehr. Er habe dann Garantien gefordert für seine Person und freie Hand für seine Arbeit, insbesondere freie Hand gegen die SA, Schluss mit den KZ und den sinnlosen Verhaftungen. Göring sei mit allem einverstanden, habe Körner gesagt. Wegen seiner widerstreitenden Gefühle habe er einige Tage verstreichen lassen und dann wiederum Körner angerufen, der ihn mit Göring verbunden habe. Dieser habe erneut den dringenden Wunsch nach seiner Rückkehr geäußert. „Ich habe eine Verordnung [?] vorbereitet, die Ihnen jede Unabhängigkeit gibt. Was Sie wünschen, will auch ich. […] Wann können Sie hier sein?“ Am Abend sei er in Görings Villa am Leipziger Platz gewesen. Göring sei wie verwandelt gewesen. Er habe ihm (Diels) den Text der Verordnung (offenbar des späteren Gesetzes) vorgelegt, aus dem sich die völlige Verselbstständigung des Geheimen Staatspolizeiamtes ergab. Göring habe betont, er sei bereit, ihn in allen seinen Absichten zu unterstützen. Der „Führer“ stehe jetzt ganz auf seiner, Görings, Seite; auch hätten ihm (dem „Führer“) die Treibereien gegen Diels die Augen geöffnet. Dieser machte sich aber einen eigenen Reim auf Görings Worte. „Ich erklärte mir indessen das Ganze so, dass Görings Wärme ihr Feuer von Hitlers Unwillen über meine Vertreibung erhalten […] hatte.“ Göring sei nun entschlossen gewesen, sich der „alten“ Beamten und Offiziere gegen die Revolutionäre zu bedienen. Weiter habe Göring erklärt, er sei und bleibe Chef der politischen Polizei in Preußen. Himmler könne in den anderen Ländern machen, was er wolle. Er habe sich mit ihm ausgesprochen. Das Gespräch mit Göring wurde nun immer vertraulicher. Göring habe ihn über den Inhalt der Denunziationen informiert, die sich als haltlos herausgestellt hätten. Längere und sehr abschätzige Äußerungen über die Denunzianten Gisevius und Nebe hätten den Abschluss des Gesprächs gebildet. Diels beschrieb dann negative Reaktionen von SA und SS auf seine Rückkehr. Er schloss mit einem ihn kennzeichnenden Satz. „Ich habe mich nun ungern mit ­diesem Teil der Darstellungen aufgehalten, die sowohl zuviel des Persönlichen wie des Unernsten mit sich brachte; aber das charakterisiert den Gang der Dinge und der Entscheidungen.“ Er war eben eine Spielernatur. Was den Wahrheitsgehalt von Diels’ Schilderung angeht, kann man wohl annehmen, dass die Telefonate mit Körner und Göring stattgefunden haben; wohl auch mit dem Inhalt, Diels solle doch zurückkehren. Völlig offen bleibt, ob Diels tatsächlich Bedingungen gestellt hat und diese von Göring akzeptiert worden sind. Möglicherweise handelt es sich nur um nachträgliche Behauptungen. Der folgende, größere Teil des Gespräches erscheint inhaltlich auch sehr zweifelhaft. Allerdings gibt es einen Beleg für die Richtigkeit von Diels’ Annahme, auch Hitler habe seine Rückkehr ins Amt gewünscht. Im Tagebuch des Propagandaministers Goebbels, der noch am 2. Oktober mit Diels ein dienstliches Gespräch geführt hatte, findet sich unter

199 Lucifer (49), S. 243 ff; das Telefonat mit Körner auf S. 244, das mit Göring auf S. 246. Die folgenden wörtlichen Zitate auf S. 247 und S. 249.

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dem 23. November 1933 die Aufzeichnung über ein Treffen mit Hitler. „Chef beklagt sich über Göring, dass er Diels gehen ließ und an seine Stelle Hinkler setzte.“200 Den Darstellungen in der Literatur und von Diels ist bei allen Unterschieden gemeinsam, dass sie alle zum selben Resultat führen, einem neuen Gestapo-­Gesetz. Dieses „Gesetz über die Geheime Staatspolizei“ vom 30. November 1933 trat am selben Tag in Kraft.201 Es war etwas umfangreicher als das Vorläufergesetz vom 26. April, aber in seinen Auswirkungen noch weitreichender. Das galt vor allem für die Polizeiorganisation Preußens. So bestimmte § 1 Abs. 1, die Geheime Staatspolizei bilde einen selbstständigen Zweig der inneren Verwaltung mit dem Ministerpräsidenten als ihrem Chef. Mit der laufenden Wahrnehmung der Geschäfte (richtig: Wahrnehmung der laufenden Geschäfte) beauftrage dieser den Inspekteur der Geheimen Staatspolizei. Abs. 3 legte fest, der Inspekteur sei zugleich der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts. Nach § 2 gehörten zum Aufgabengebiet der Geheimen Staatspolizei die von den Behörden der allgemeinen und der inneren Verwaltung wahrzunehmenden Geschäfte der politischen Polizei. Welche Geschäfte im Einzelnen auf die Geheime Staatspolizei übergehen sollten, werde durch den Ministerpräsidenten als deren Chef bestimmt. Als Präzisierung ­dieses Grundsatzes sollten nach § 3 Abs. 1 die bisher von dem Ministerium des Innern wahrgenommenen Geschäfte der politischen Polizei auf das Geheime Staatspolizeiamt übergehen. Abs. 2 unterwarf alle L ­ andes-, Kreis- und Ortspolizeibehörden dem Weisungsrecht des Geheimen Staatspolizeiamtes. Gerade das Weisungsrecht gegenüber den Regierungspräsidenten als Landespolizeibehörden hob das Amt auf eine gleichsam ministerielle Ebene. Der entscheidende Schritt, den Göring mit d ­ iesem Gesetz tat, war also die Herauslösung des Amtes aus dem Innenressort. Damit verbunden war ja die Übertragung der Geschäfte der politischen Polizei von den Behörden der allgemeinen und inneren Verwaltung einschließlich des Innenministeriums selbst auf das Amt. Dieses wurde dadurch zu einer Zentralbehörde im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten, sodass die Übertragung der bisher vom Innenminis­ terium wahrgenommenen Aufgaben zwingend war. Die Konstruktion der Amtsspitze war ungewöhnlich. Die Bezeichnungen „Chef “ und „Inspekteur“ waren der militärischen Terminologie entnommen. Was es genau bedeutete, dass der Ministerpräsident der „Chef “ des Amtes sei, wurde nicht klar, ebenso wenig der Unterschied z­ wischen der Wahrnehmung der laufenden Geschäfte durch den Inspekteur und dessen gleichzeitige Aufgabe, das Amt zu leiten. Göring ging es wohl in erster Linie darum festzulegen, dass er der „Herr“ der politischen Polizei sei und die Letztentscheidung treffe. Der Inspekteur der Geheimen Staatspolizei und Leiter des Amtes sollte offenbar das administrative Werkzeug sein. Im Übrigen widersprach es aller preußischen Verwaltungstradition, dass eine Behörde derart an einen Regierungschef gebunden wurde. Aber die politische Polizei war eben Görings ureigenes Machtinstrument, typisch für eine Diktatur. Verwaltungs- und machtpolitisch war das Gesetz insoweit von erheblicher Bedeutung, als Göring so die „Verreichlichungspläne“ Fricks durchkreuzte; es stärkte dabei aber die Stellung des Geheimen Staatspolizeiamtes auf Kosten vor allem des Innenressorts ganz außerordentlich. Das neue Gesetz wies noch eine weitere Besonderheit auf. Es enthielt keine Bestimmung über den Rechtsschutz gegen Maßnahmen des Geheimen Staatspolizeiamtes wie noch das Vorgängergesetz vom 26. April 1933, welches noch eine Klagemöglichkeit vorsah. Anderthalb Jahre später wurde dann in aller Form gerichtlich festgestellt, gegen Verfügungen des Amtes ­seien seit

200 Goebbels, Tagebücher, Teil I, Bd. 2/III, S. 321. Zum 2. Oktober S. 282. 201 GS., S. 413. Zum Inhalt des Gesetzes Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 76 f.

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Inkrafttreten des Gesetzes vom 30. November 1933 Klagen nicht mehr zulässig. Dabei wurde auch auf dessen Herauslösung aus der allgemeinen Verwaltung abgestellt. Diese gerichtliche Feststellung war in der Logik des Regimes konsequent und entsprach den realen Machtverhältnissen. Diels, der gerne die Prinzipien einer ordentlichen Verwaltung beschwor, hatte offenbar keine Bedenken, an die Spitze einer solchen traditionswidrigen „Sonderbehörde“ zu treten. Nach dem Krieg schrieb er am 12. August 1945 an die alliierten Ermittler zur Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse, seine Bedingungen dafür s­ eien von Göring auch akzeptiert worden. Bestimmend für meinen Entschluss, zurückzukehren, war die Hoffnung, mein Werk zu Ende führen zu können, nämlich die Wiederherstellung rechtmäßiger Verhältnisse in meinem Vaterlande. Ich stellte daher […] folgende Bedingungen: 1. Amnestie für die politischen Gefangenen (Kommunisten), 2. Freie Hand für ein Vorgehen zur Brechung des SA-Terrors, 3. Beseitigung 202 der Schutzhaft.

Die Durchsetzung dieser Bedingungen, sofern überhaupt gestellt und akzeptiert, hat Diels allerdings nur zu einem geringen Teil erreichen können, wie oben dargestellt, zum Beispiel eine Teilamnestie im Dezember 1933. Diels machte sich nun an seine Aufgabe, das Amt neu zu organisieren. Bereits am 22. Januar 1934 legte er einen neuen Geschäftsverteilungsplan vor. Die Zahl der Dezernate wurde reduziert und vor allem inhaltlich verändert.203 So fielen beispielsweise die Aufgabengebiete DNVP und rechtsoppositionelle Organisationen sowie Zentrum weg. Dafür wurde in der „Bewegungsabteilung“, w ­ elche den Außendienst umfasste, neben einem Dezernat „Kommunismus, Anarchismus, Syndikalismus […]“ auch ein weiteres Dezernat „Kommunistische und marxistische Flugblätter sowie Zersetzung (in Reichswehr) […]“ aufgeführt. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf den Widerstand zu dieser Zeit und auf dessen Bekämpfung ziehen. Ein über das Reichsgebiet hinausgehendes Interesse des Amtes zeigte sich an dem Aufgabengebiet „Ausland“, welches neben „Auslandsdeutschen und nationalen Minderheiten“ auch „Danzig, Memelland und Österreich“ nannte. Auffällig war auch eine Umorganisation an der Spitze des Amtes. Es gab keinen Stellvertreter des Leiters mehr, dafür einen persönlichen Referenten und dort war auch ein SS -Kommando Gestapa angefügt. Das Kommandohaus soll sich in der Columbiastraße befunden haben; daraus ist geschlossen worden, dass Diels auf diese Weise das SS-Lager Columbiahaus in das Gestapa eingegliedert und legitimiert habe.204 Das ist aber nicht gesichert. Eine andere Verkoppelung mit der SS gab es jedoch allemal. In der Organisationseinheit V „Verbindungsführer“ gab es neben einem Vertreter der SA auch einen der SS allgemein und einen des SS-Reichsführers persönlich. Die SS hatte also einen Fuß in die Tür des Gestapa gesetzt. Die Stellung als Inspekteur und Leiter eines deutlich gestärkten Geheimen Staatspolizeiamtes sowie das wiedergewonnene volle Vertrauen Görings könnten den Eindruck erwecken, Diels habe sich auf einem weiteren Höhepunkt seiner wechselhaften Karriere befunden. Ein zugespitztes Urteil dazu lautete: „Diels war bis gegen Jahresende 1933 zweifellos der wichtigste Mann im Berliner Polizeiapparat.“205 Damit wird auch angedeutet, dass 1934 dieser Höhepunkt überschritten war. 202 Zitiert nach Wallbaum, ebd., S. 137. 203 Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 77 f; Aronson, Frühgeschichte, S. 174. 204 Aronson, ebd., S. 173 und S. 176. 205 Schulz, Maßnahmenstaat, S. 539.

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Wenn Göring am Abend von Diels’ Rückkehr tatsächlich gesagt haben sollte, Himmler könne in den Ländern machen, was er wolle, wäre dies leichtfertig gewesen. Himmler setzte jedenfalls seine „Sammeltätigkeit“ in den Ländern fort. In den ersten Monaten des Jahres 1934 wurde er in weiteren Ländern Politischer Polizeikommandeur, bis nur der Kleinstaat Schaumburg-­Lippe und Preußen übrigblieben. Hitler ließ ihn gewähren; er war darauf bedacht, dass die Macht ­zwischen seinen „Unterführern“ möglichst gleich verteilt war. Wohin Himmlers Machtwille zielte, war nicht zu übersehen. Es fragte sich, ob die in Preußen neu geschaffene Struktur d ­ iesen Willen werde aufhalten können. Die Herauslösung des Geheimen Staatspolizeiamtes aus der allgemeinen und inneren Verwaltung mit einstweiligem Verbleib der Stapostellen bei den Regierungspräsidenten barg die Gefahr, die Polizei auseinanderzureißen. Andererseits konnte den Regierungspräsidenten diese Neuregelung und die mit ihr dem Gestapa eingeräumte Weisungsbefugnis ihnen gegenüber nicht gefallen. Das war wohl auch ein Grund dafür, dass Durchführungsregelungen zu dem neuen Gesetz erst im März ergingen. Es handelte sich um mehrere „Regelwerke“: ein Runderlass und eine Verordnung zur Durchführung des Gesetzes jeweils vom 8. März 1934 und wenig später ein weiterer Runderlass vom 14. März, alle drei unter der Ressortbezeichnung „Ministerpräsident (Chef der Geheimen Staatspolizei)“ ergangen.206 Trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihres Umfanges lassen sie kein einheitliches Bild entstehen. Die Durchführungsverordnung legte in ihrem § 1 Abs. 3 fest: Soweit vom Ministerpräsidenten nicht etwas anderes bestimmt wird, sind die Staatspolizeistellen den Regierungspräsidenten […] unterstellt, mit denen sie in unmittelbarer Geschäftsverbindung stehen. Die Leitung der Staatspolizeistellen wird von Beamten geführt, die der Ministerpräsident bestimmt.

Die schwache Stellung der Regierungspräsidenten kam zuvor in Abs. 2 zum Ausdruck, wonach „der Inspekteur […] die Oberaufsicht über die Staatspolizeistellen im Auftrag und nach den Weisungen des Ministerpräsidenten (Chef der Geheimen Staatspolizei)“ führe. In dem Runderlass vom selben Tage wurde den Leitern der Staatspolizeistellen aufgegeben, mit den Regierungspräsidenten engste Fügung zu halten und sie über die wichtigen Beobachtungen und Vorgänge laufend zu unterrichten. Wünschen der Regierungspräsidenten sei zu entsprechen, „soweit nicht Weisungen oder Richtlinien des Geheimen Staatspolizeiamtes entgegenstehen“. Eindeutig beruhigende Absicht verriet der folgende Satz: „Vertrauensvolle Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung setze ich dabei als selbstverständlich voraus.“ In dem Runderlass vom 14. März hieß es anfangs, mit Beginn des Rechnungsjahres 1934 würden die Staatspolizeistellen aus ihrem bisherigen organisatorischen Zusammenhang mit der Bezirksregierung oder einer anderen staatlichen Polizeiverwaltung losgelöst und zu selbstständigen Behörden der Geheimen Staatspolizei bestellt. Für jeden Landespolizeibezirk [Regierungsbezirk] werde eine Staatspolizeistelle errichtet mit einem höheren Verwaltungsbeamten als Leiter und dem erforderlichen Personal. Diese Regelung bedeutete eine weitere Verselbstständigung der Geheimen Staatspolizei. Eine endgültige Klärung des Verhältnisses zu den Regierungspräsidenten nahmen die das Gesetz ergänzenden Regelungen nicht vor.

206 MBliV., Sp. 469 ff.

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Diels als ihrem Inspekteur war diese Entwicklung der Gestapo sicherlich recht. Machtbewusst wie er war, lag ihm sehr an einer Erweiterung seiner Kompetenzen und einem Weisungsrecht gegenüber anderen Polizeibehörden. In der ihm verbleibenden Amtszeit wuchsen diese Spannungen zu anderen Behörden eher noch; sie bestanden zum Reichsministerium des Innern, auch sogar zum preußischen Innenministerium. Ein Konfliktfeld waren vor allem Personalentscheidungen. Es kam sogar zu einer Beschwerde des Polizeiabteilungsleiters Daluege, die Göring wiederum mit einer scharfen Erwiderung an den Staatssekretär des Innenministeriums Grauert beantwortete, am Schluss mit einem Appell zur Zusammenarbeit gemildert.207 Den richtete der Ministerpräsident de facto auch an sich selbst, denn er war noch selbst Innenminis­ ter. Die Bruchlinien, ­welche das Zweite Gestapogesetz und die ergänzenden Vorschriften in der preußischen Staatsverwaltung hatten entstehen lassen, führten also, verstärkt durch die Doppelfunktion Görings, zu geradezu grotesken Situationen. Unabhängig davon machte Diels das Geheime Staatspolizeiamt zu einer straff organisierten und rationell arbeitenden Behörde. Darüber besteht in der Literatur völlige Einigkeit.

3.6.2 Kontakte mit Goebbels und ein Sonderauftrag Hitlers Außer zu Göring und notgedrungen zu Himmler hatte Diels auch zu anderen führenden Nationalsozia­listen persönlichen Kontakt, darunter zu Goebbels und sogar zu Hitler selbst. Seinem Naturell nach drängte es ihn eben zu „den Großen“. In seinen Memoiren entwarf er in längeren Ausführungen ein Persönlichkeitsbild von Goebbels. Dabei betonte er dessen intellektuelle und vor allem rhetorische Fähigkeiten. Er verwies aber auch darauf, die SA-­Führer hätten ihn gehasst, weil sie ihn durchschauten.208 Diels erwähnte schließlich Kontakte zu Goebbels’ persönlichem Referenten und seinem Adjutanten, nicht aber zu ihm selbst. Doch es hat ­solche Kontakte durchaus gegeben. Es kann nur darüber spekuliert werden, warum er sie verschwieg. Wesentliche Quelle für Kontakte z­ wischen Diels und Goebbels sind dessen Tagebücher.209 Schon unter dem 28. Februar, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, findet sich ein Eintrag. Goebbels ist zu d ­ iesem Zeitpunkt noch nicht Propagandaminister, aber doch der wichtigste Propagandist der NSDAP im Wahlkampf. Nach Schilderung der vorangegangenen dramatischen Ereignisse heißt es: „Mit Diehls [sic!] vom Pr.IM. verhandelt. In der Nacht werden alle komm. Parteifunktionäre verhaftet. Ganze K. P. D. und S. P. D. Presse verboten.“ Der nächste Eintrag stammt vom 10. Juni 1933. Nach der Erwähnung von Etatberatungen wird vermerkt: „O. R. R. Diels. Staatspolizeiamt. Presseverbote durchgesprochen. Wir sind uns einig. Bald Pressegesetz.“ Ein weiterer findet sich unter dem 2. Oktober 1933. Goebbels berichtet über einen Besuch bei Hitler und fährt dann fort: „Mit Diels K. P. D. durchgesprochen. Ali Höhler +. Er starb mit Ganovenehre.“ Ali Höhler war, wie oben geschildert, der mutmaßliche Mörder Horst Wessels. Offenbar war dessen „Beseitigung“ ein so bedeutendes Ereignis, dass es dem Propagandaminister mitgeteilt wurde. Ein letzter Eintrag aus Diels’ Berliner Amtszeit ist der schon erwähnte vom 23. November 1933, welcher Hitlers Unmut darüber festhält, dass Göring Diels gehen ließ. Aus all dem ergibt sich, dass Diels auf Grund seiner amtlichen Funktion einen 207 Graf, ebd., S. 153. 208 Lucifer (49), S. 83 ff. 209 Goebbels, Tagebücher, Teil I, Bd. 2/III, S. 137; S. 203, S. 282 und S. 321.

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„festen Draht“ zum Reichspropagandaminister hatte. Offenbar verliefen die Gespräche ohne wesentliche Differenzen und führten zumindest im Ergebnis zu Einigkeit. Dies belegt auch, wie fest das Geheime Staatspolizeiamt in das Führungssystem des NS-Regimes eingebaut war. Diels widmete Hitler in seinen Memoiren ein ganzes Kapitel im ­Ersten Teil.210 Es begann merkwürdigerweise mit einer Erinnerung an die Überführung der Gebeine Napoleons von St. Helena nach Paris. Dabei zitierte er ausgerechnet ein Gedicht von Heinrich Heine, welches die Gefühle eines Zuschauers zum Ausdruck brachte. Wenn er dann vom „Napoleonerlebnis“ der Deutschen sprach, liegt der Schluss nah, er habe in Hitler eine Art deutschen Napoleon gesehen. Diese historisch kaum haltbare Deutung war eine bildungsbürgerliche Geschmacklosigkeit. Die Beschreibung von Hitlers Physiognomie lautete so: Ich sehe noch die sphärische Flächenhaftigkeit seines Gesichtes vor mir, ein Ebenbild der Masse selber in den sich verlaufenden Konturen. Man konnte von dem Anblick der Person nicht den Gedanken abstrahieren, dass der Mann vor einem stand, der zum ersten Mal in der zerfahrenen Geschichte der Deutschen siebzig Millionen auf ein Ziel gerichtet hatte. Man konnte bei seinem Anblick nicht das Gefühl unterdrücken, dass Gewalt von ihm ausging.

Neben seiner Menschenkenntnis, „die ihm aus einer schrankenlosen Menschenverachtung erwuchs“, schrieb er ihm „eine Art Röntgenblick zu, der ihn befähigte, seinen Partnern ‚tief ins Herz‘ zu sehen.“ Gleichwohl sei er (Diels) seiner Suggestionskraft nie erlegen (!). Diels schilderte Hitlers Verhalten durchaus widersprüchlich. 1933 habe man ihm noch widersprechen können. Aber Ende desselben Jahres sei er auch durch Hinweise auf die Öffentlichkeit des Auslandes nicht mehr zu beeinflussen gewesen. Im Jahre 1933 sei Hitler „in seiner psychophysischen Konstitution“ derselbe gewesen, der er 1939 war. Die Umstände hätten sich geändert, die Einflüsse, die Persönlichkeiten, die ihn umgaben. Bei einer solchen Sichtweise nimmt nicht wunder, dass Diels zu der Auffassung kommt: „Der Hitler der Jahreswende 1933 auf 1934 hatte sich noch nicht schuldig gemacht.“ Wenn Diels in der Nachkriegsrückschau trotz einigem Negativen immer noch ein überwiegend bewunderndes Bild von Hitler entworfen hat, so war er offensichtlich von Hitler nach wie vor überaus beeindruckt. Verwunderlich ist deshalb, dass er über seine Ausführungen insgesamt die Worte „der zögernde Hitler“ setzte, während sein Biograph zu Recht die Überschrift „der faszinierende Hitler“ wählte. Diels’ Empfindungen entsprach auf Seiten Hitlers ja allem Anschein nach Sympathie, denn er schätzte bestimmte Eigenschaften Diels’. Adjutanten hätten berichtet, so Diels, „dass es ihm ein Vergnügen bereite, mit mir zu sprechen und meine Vorträge anzuhören.“ Als Göring sich einmal wegen Diels’ lässigen Formen beklagt habe, sei Hitlers Antwort gewesen: „Das schadet nicht, er ist jedenfalls kein Bürokrat. Vielleicht ist er ein Putschist! Doch solange es dem Staat nicht schlecht geht, brauchen wir ­solche Leute.“ Diels hatte offenbar häufiger dienstliche Begegnungen mit Hitler und konnte sich durchaus geschätzt fühlen. Im Januar 1934 will Diels von Hitler einen Sonderauftrag erhalten haben. Dieser hatte eine besondere Vorgeschichte. Nach Diels’ Darstellung legte er Anfang des Jahres Göring eine „Denkschrift“ über die HJ vor.211 Diese habe auf einem Bericht des Oberpräsidenten der Rheinprovinz

210 Lucifer (49), S. 40 ff; wörtliche Zitate von: S. 42 und S. 50, S. 44 und S. 59; siehe auch Wallbaum, ebd., S. 93 ff. 211 Zum Folgenden Lucifer (49), S. 273 ff. Wörtliche Zitate S. 275, S. 276 f, S. 280. Dazu auch Wallbaum, ebd., S. 141 f.

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basiert und schilderte den kirchenfeindlichen Radikalismus der Parteijugend und Verfehlungen von HJ-Führern. Göring sei so beeindruckt gewesen, dass er mit Diels zu Hitler gegangen sei und ihm die „Denkschrift“ übergeben habe. Hitler habe zunächst unwillig reagiert, aber aufgehorcht, als Diels homosexuelle Vorkommnisse in der HJ erwähnte. Er wechselte das Themenfeld: Diels solle lieber seinen Blick auf die SA lenken, ­welche der „Schrittmacher“ des Übels sei. Diels fuhr fort: „Nun war das Wort gefallen“, und wollte damit offenbar andeuten, dass er die Unterredung in diese Richtung habe lenken wollen. Hitler habe dann eine ebensolche „famose Denkschrift“ über die Zustände in der SA verlangt, aber betont, er interessiere sich nicht nur für das Treiben der SA im Lande, sondern „für Herrn Röhm und seine Freundschaften“. In einer weiteren Unterredung Görings und Diels’ bei Hitler zu d ­ iesem Thema habe schließlich Hitler ihn allein sprechen wollen. „Ich aber erlebte dann eine gute Stunde den ganzen ­Hitler […] mit seiner verblüffenden, aber faszinierenden Mischung aus Logik und Vergewaltigung.“ Er vermutete, Hitler habe ihn auf irgendeine große Richtung und Aktion festlegen wollen. Er habe in seinem Geist die Ahndung der Revolutionsverbrechen durch die Gerichte gesehen (!), auch wenn diese Verbrechen und die Veranlagung Einzelner für Hitler nur ein Vorwand für die „Ausmerzung der machtgierigen Prätorianer“ gewesen sein mochte. Er habe sich noch einmal ausdrücklich ermächtigen lassen, auch alle Fälle von schwerer Körperverletzung, Totschlägen und Morden „in einer grossen Bilanz für das Jahr 1933 zusammenzustellen. […] Der Gedanke, dass aus dieser Stunde Mord und Totschlag einer Bartholomäusnacht erwachsen würde, kam mir nicht.“ Er habe den Auftrag, Material über die SA in einer Denkschrift zusammenzustellen, alsbald erfüllt. Am 12. Januar 1934 sei er auf den Obersalzberg bestellt worden. Göring habe sich bereits im Gespräch mit Hitler befunden. Von den Verfehlungen der SA sei keine Rede mehr gewesen, sondern nur in heftigen Worten, vor allem Hitlers selbst, von den „Verrätern“ Strasser und Schleicher, ­welche unverständlicherweise die Zeit „bis heute“ überdauert hätten. Draußen habe Göring ihm den Befehl Hitlers mit aller Drastik noch einmal klargemacht: „Diese drei [also auch Röhm] müssten verschwinden, und zwar bald.“ Auf Diels’ Nachfrage, ob man nicht ein Gericht, wenigstens ein Ehrengericht der Partei, darüber urteilen lassen könne, habe Göring eindringlich erwidert: „Des Führers Befehl ist mehr als ein Gericht.“ Diels schilderte weiter, er sei nun in einen „dumpfen Zustand des Brütens und Ratens und Zweifelns“ geraten. Er habe dann aber gedacht, dass die Sache Hitlers „gut und gross und schön sein könne“. Dann müssten Verräter ausgeschaltet werden, aber das sei Sache der Partei gewesen, er aber habe den Staat vertreten. Andererseits sei der Befehl zu eindeutig gewesen, um ihn einfach zu vergessen. Er habe nach eingehender Überlegung und Beratung mit einem Freund den Mordbefehl, allerdings beschränkt auf Strasser, an den Kriminalrat Nebe, den einzigen (sic!) Nationalsozia­listen im Gestapa, weitergegeben. Dieser habe bei Göring zurückgefragt. Der Ministerpräsident habe ihn [Diels] noch am selben Abend rufen lassen und ihm voller Groll vorgeworfen, wider seinen Befehl gehandelt zu haben. Diels habe erwidert, er komme „für dienstliche Aufträge auch weniger bedenklicher Art nicht mehr in Betracht. Ich bin krank. Ich bitte Sie um meinen Abschied.“212 Darauf habe Göring ihm erklärt, wenn er also wirklich krank sei, dann könne er auch keinen Dienst mehr tun. Wallbaum sieht in Diels’ Verhalten das eines Überläufers, der zu zweifeln beginne und sich auf seine formale Rolle zurückziehe. Selbst in einem Augenblick, da er Hitlers Befehle nicht mehr ausführen wollte und offenbar Skrupel gehabt hatte, habe er nicht den Entschluss

212 Lucifer (49), S. 283.

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gefasst, mit dem System zu brechen.213 Diese interessante Sicht erfasst allenfalls einen einzelnen Aspekt. Diels befand sich seiner Darstellung nach in dem damals typischen Dilemma konservativer Beamter, die sich auf das Regime eingelassen hatten, aber feststellen mussten, dass ­dieses immer radikaler wurde. An dem Wahrheitsgehalt der weit ausgreifenden und höchst dramatischen Schilderung Diels’ bestehen erhebliche Zweifel. Sie gründen sich zunächst schlicht auf die Datierungen. Nach der ersten Unterredung bei Hitler Anfang Januar 1934 will er eine umfangreiche SA-Denkschrift erstellt haben und schon am 12. Januar auf den Obersalzberg zitiert worden sein. Diese Zeit­abschnitte sind zu knapp. Allzu viele Tage werden nicht bis zu der zuletzt genannten Auseinander­setzung mit Göring vergangen sein. In dieser Zeit muss Diels aber an dem neuen Geschäftsverteilungsplan des Amtes gearbeitet haben, der vom 22. Januar 1934 datiert. Inhaltliche Zweifel bestehen bereits an der Materialsammlung über die HJ. Das Gestapa hat sich, wie in Kapitel 2 gezeigt, tendenziell auf deren Seite geschlagen. Auch ist unwahrscheinlich, dass der Oberpräsident der Rheinprovinz ausgerechnet Diels über die Vorkommnisse berichtet haben soll. Kaum glaubhaft sind die Hitler’schen Mordbefehle gerade zu d ­ iesem Zeitpunkt und auch an Diels. Es musste noch einige Zeit vergehen und das Konfliktpotenzial noch erheblich anwachsen, bis es zu der Mordaktion der SS vom 30. Juni 1934 kam. Diels’ Darlegungen haben in der Literatur nur wenig Niederschlag gefunden. Einmal wird die Aufforderung Hitlers erwähnt, bei der SA „schärfer“ hinzusehen; ein anderes Mal heißt es lapidar: Diels „erhielt Anfang 1934, seinen eigenen Angaben zufolge, von Hitler den Auftrag, Material gegen die SA zu sammeln […].“214 Inhaltlich lassen sich Diels’ Darlegungen in dem zweiten Zitat zusammenfassen. Aber sie machen in ihrer ganzen Breite seine Persönlichkeit und Darstellungsweise erkennbar. Die ganze große, erst nach dem Ende des „Dritten Reiches“ geschriebene Erzählung diente neben der Apologie auch der Selbsterhöhung und Selbststilisierung als eines Mitspielers auf der geschichtlichen Bühne. Sie war geschickt, aber nicht bruchfrei, in den Ablauf der Ereignisse eingepasst.

3.6.3 Diels, Opfer des Arrangements ­zwischen Göring, Frick und Himmler Die kommenden Wochen schilderte Diels als einen Schwebezustand.215 Er habe sich als entlassen betrachtet und nicht mehr mit dem Gedanken gespielt, zu bleiben. Auch nicht, als Göring den „Hausarrest nicht mehr ernst nahm“. Das Amt habe er nur noch selten betreten. Dies kann nicht zutreffen. Im Februar ging er seiner Amtstätigkeit weiter nach. Er inspizierte, wie erwähnt, das Lager Bredow in Stettin und hatte am 22. des Monats die oben wiedergegebene längere Unterredung mit dem Pastor Bodelschwingh. Ein Kuraufenthalt in einem Schweizer Sanatorium im Frühjahr 1934, auf den seine amerikanische Freundin hingewiesen hat, ist wenig wahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.216 Jedenfalls wurde Diels am 1. April 1934 formell zum „Inspekteur der Gestapo“ bestellt.217 Haushaltsrechtliche Gründe könnten für die ­mehrmonatige Verzögerung der Maßnahme ursächlich gewesen sein. Diels’ Amtszeit als Inspekteur sollte aber nicht lange währen. 213 Wallbaum, ebd., S. 142 f. 214 Longerich, Himmler, S. 181; das vorige Zitat bei Höhne, Mordsache Röhm, S. 177. 215 Vgl. Lucifer (49), S. 284 ff, verbunden mit phantastischen Einzelheiten. 216 Martha Dodd, ebd., S. 153. 217 Vgl. Graf, ebd., S. 216, FN 294

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Anfang 1934 war Bewegung in die Konstellation der NS -Führer gekommen, die um die Macht über die politische Polizei rivalisierten: Göring, Frick und Himmler. Dies resultierte aus dem sich verschärfenden Gegensatz ­zwischen der NSDAP und ihrem Wehrverband. Die SA war im Laufe des Jahres 1933 auf vier Millionen Mann angewachsen. Ihre Ambitionen waren nicht befriedigt. Auf Grund ihrer Verdienste in der „Kampfzeit“ und bei der Machtübernahme glaubte sie, Forderungen stellen zu können: Die Anerkennung als eine der Säulen des NS-Staates und als paramilitärischer Faktor. Dabei erscholl auch der Ruf nach einer „zweiten Revolution“. All dies musste die Reichswehr als Bedrohung empfinden, Röhms Konkurrenten in der NS-Führung ebenso, und es passte nicht in Hitlers Konzept. Vor ­diesem Hintergrund wurde eine Entwicklung vorangetrieben, ­welche zu einschneidenden personellen Änderungen führte. Sie betrafen in erster Linie das preußische Innenministerium und die preußische politische Polizei. Die maßgeblichen Darstellungen des Ablaufs der Ereignisse ergänzen einander.218 Ende 1933 begann Himmler damit, sich allmählich von Röhm zu lösen, dies ungeachtet dessen, dass die SS noch eine Untergliederung der SA war. Er wandte sich Göring zu. Seit Beginn des Jahres 1934 bemühte er sich aber auch um Material gegen Diels, der ja noch als „Görings Mann“ an der Spitze des Geheimen Staatspolizeiamtes gelten konnte. Der musste weichen, sollte Himmler die preußische Gestapo in seine Hand bekommen können. Zu Himmlers „Lieferanten“ zählten Staatssekretär Grauert, der Polizeiabteilungsleiter Daluege und auch ihm feindselig gesonnene Mitarbeiter Diels’. Göring hörte im März 1934 von den Nachforschungen Dalueges und ließ dessen Material bei Grauert anfordern. Das war eine für Diels gefährliche Entwicklung. Auf der anderen Seite näherten sich Göring und Frick einander an. Wiederum seit Anfang des Jahres hatten sie gemeinsam versucht, die Schutzhaft in Preußen und auch in anderen Ländern einzuschränken. Im April konnten sich dann beide auf einheitliche Bestimmungen einigen, in denen die jeweilige Oberste Landesbehörde für zuständig erklärt wurde, in P ­ reußen also das Geheime Staatspolizeiamt. Göring behielt in Schutzhaftangelegenheiten also das letzte Wort. Nach dem Einbau dieser Sicherung im Regelwerk waren sich der Reichsinnenminister und der preußische Ministerpräsident bzw. Innenminister im Grundsatz einig, die politische Polizei auch in Preußen Himmler überlassen zu können. Über das nun allein noch übrig gebliebene Schaumburg-­Lippe würde man sich noch verständigen müssen. Letztlich hätte dann Himmler die politische Polizei des gesamten Reichs in seiner Hand. Dabei gingen Frick und Göring davon aus, dies würde eine Art Personalunion bleiben. Nachdem Göring sich als Chef der Gestapo gegenüber dem Reichsinnenminister behauptet zu haben schien, konnte er mit ­diesem einen zweiten, noch weiter reichenden Kompromiss schließen. Frick sollte neben seinem Amt als Reichsminister des Innern auch das Amt des preußischen Innenministers übernehmen. In einem weitschweifig-­feierlichen Schreiben an Hitler vom 17. März 1934 rühmte Göring zunächst seine eigenen Verdienste bei der Reichsreform und schlug dem Reichskanzler vor, Frick „mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Preußischen Ministers des Innern zu beauftragen“.219 Damit würde Frick die größte Polizeiorganisation innerhalb des Reiches übernehmen. Das musste Himmler auf den Plan rufen und seine Bemühungen um das preußische Gestapa noch weiter anfachen. Es kam zu einer 218 Vgl. Aronson, Frühgeschichte, S. 187 f; Longerich, Himmler, S. 176 ff; Tuchel/Schattenfroh, Zentrale des Terrors, S. 79 f; auch Graf, ebd., S. 208 ff; Browder, Foundations, S. 117 ff, S. 124. 219 Abgedruckt in: Der Aufbau des deutschen Führerstaates, S. 118 ff.

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Aussprache z­ wischen Göring und Himmler. Dies lag ja in beiderseitigem Interesse, auch wegen des Machtwillens der SA. Himmler musste dabei den Widerstand Görings gegen Heydrich überwinden und setzte schließlich durch, dass Heydrich mit ihm zusammen von München nach Berlin wechseln solle. Göring glaubte, auch hier nachgeben zu können, weil er selbst ja „Chef der Gestapo“ bleiben sollte. Die ganze Entwicklung war Hitler recht. Er hatte bisher schon Himmler gewähren lassen. Das preußische Gestapa Frick und seinem Beamtenapparat zu übertragen, kam für ihn nicht in Betracht; ihm sollte ohnehin die allgemeine Polizei unterstellt werden. Eine Vergrößerung der Macht Himmlers konnte nützlich sein, weil er die SS bei einer sich abzeichnenden großen Kraftprobe mit der SA brauchen würde. Göring dagegen hatte als preußischer Ministerpräsident und seit Herbst 1933 auch Reichsluftfahrtsminister genug Macht. So war das Gleichgewicht ­zwischen den beteiligten Gefolgsleuten einigermaßen gewahrt. Bei Göring selbst wirkte als Motiv auch mit, dass er in dem noch illegalen Aufbau der Luftwaffe ein neues Betätigungsfeld gefunden hatte. Nach all dem war der Weg für Himmler und Heydrich in die Prinz-­Albrecht-­ Straße frei. Himmler hatte die Machtkämpfe der anderen geschickt auszunutzen verstanden. Diels’ Darstellung seiner Ablösung, die er zu einem „Weggang“ umdeutete, war sehr persönlich und ein weiteres Mal höchst dramatisch, allerdings ungewöhnlich knapp.220 In der zweiten Märzhälfte habe Göring ihn zu sich befohlen und ihm eröffnet, er habe sich entschlossen, sich von ihm zu trennen und Himmler die preußische politische Polizei „anzuvertrauen“. Diels habe ihn enttäuscht, kompromittiert und im Stich gelassen. Nach einer ­kurzen heftigen Auseinandersetzung habe er (Diels) das Zimmer verlassen. Während einer abendlichen Abschiedsfeier mit seinen Mitarbeitern habe ihn Göring angerufen und aufgefordert, doch zu bleiben; Hitler wünsche das auch. Am kommenden Morgen habe er den Auftrag erhalten, sich ohne Verzug bei Hitler zu melden. Dieser habe ihm in einer längeren Rede erklärt: „Sie sind ein Fachmann und bleiben auf Ihrem Posten. Wenn Sie stärkere Vollmachten haben wollen, so werde ich Sie Ihnen erteilen.“ Diels habe, obwohl Hitler dies zunächst nicht wahrhaben wollte, mehrfach entgegnet, er sei wirklich krank, und könne nicht bleiben. „Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt haben.“ Hitlers Verstummen habe er genutzt, um den Raum zu verlassen. Abgesehen von der offensichtlich falschen Datierung, stellt sich hier zum wiederholten Mal die Frage, was von Diels’ Darstellung zu halten sei. Belege fehlen natürlich. Sie von vorneherein als gänzlich unglaubwürdig abzutun, könnte vorschnell sein. Zumindest einzelne Elemente dürften zutreffen. Hitler schätzte Diels als unbürokratischen Fachmann, wie durch einen Tagebucheintrag Goebbels’ belegt ist. Nicht auszuschließen ist, dass es nach all seinen Aktionen und den Strapazen des Amtes um seine Gesundheit nicht gut stand. Anwandlungen von Amtsmüdigkeit hatte er angeblich bereits länger, und die Schilderung einer wilden Gewalttat der SA im Frühjahr 1934 beschloss er mit dem Satz: „Meines Bleibens war nicht mehr.“221 Diese Gefühlsregungen mag Diels tatsächlich verspürt haben. Ein abschließendes Gespräch mit Göring hatte sicherlich stattgefunden, möglicherweise auch eines mit Hitler. Zweifel beziehen sich vor allem auf den Inhalt des mit Hitler geführten Gesprächs. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser nach dem schwierigen Austarieren der Machtverhältnisse Diels zum Bleiben aufgefordert haben soll.

220 Lucifer (49), S. 294 ff. Von dort auch die Zitate. 221 Lucifer (49), S. 293, und zuvor S. 223.

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Nach einem Jahr voller Aktionen, Auseinandersetzungen und vielem Lavieren an der Spitze der politischen Polizei in Preußen war Diels am Ende seiner Amtszeit angelangt. Göring soll einmal unmutig zu ihm geäußert haben: „Ich warne Sie, Diels, Sie wollen auf zwei Stühlen zugleich sitzen!“ Diels habe schlagfertig geantwortet, „der Chef der Geheimen Staatspolizei muss auf sämtlichen Stühlen sitzen, Herr Ministerpräsident.“222 Nun sollte Diels nur noch auf einem Stuhl sitzen. Am 20. April 1934 berief Göring Rudolf Diels von seinem bisherigen Amt ab und ernannte ihn zum Regierungspräsidenten in Köln. Er ließ also Diels ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten z­ wischen ihnen und auch des immer wieder aufkommenden Misstrauens nicht fallen. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg hat Göring die Übernahme der Geheimen Staatspolizei Preußens durch Himmler als natürliche Folge des Umstands ausgegeben, dass dieser in allen anderen Ländern die Leitung der politischen Polizei bereits innehatte. Er fügte an: „Ich war damals mit Diels sehr zufrieden und sah von meinem Standpunkt aus keine Veranlassung, hier eine Änderung eintreten zu lassen.“223 Diese Aussage war allzu verharmlosend, denn Göring hatte ja aus Machtkalkül gehandelt. Er übertrug nun Diels als Kompensation ein traditionsreiches und respektiertes Amt. Die Stelle in Köln war gerade frei geworden (vgl. Kapitel 1). Am selben 20. April führte er Heinrich Himmler als neuen Inspekteur der Geheimen Staatspolizei und zugleich auch als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes ein. Beide Ämter waren nach dem Zweiten Gestapogesetz miteinander verbunden. Heydrich folgte etwas später in das Gestapa nach. Über die getroffenen Personalentscheidungen erschien eine Mitteilung des Amtlichen Preußischen Pressedienstes. Der preußische Ministerpräsident Göring hat den Ministerialrat Diels am 20. April [1934] von seinem Amt als Inspekteur der Geheimen Staatspolizei entbunden und ihn gleichzeitig zum Regierungspräsidenten in Köln ernannt. Zum Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes hat der 224 Ministerpräsident den Reichsführer der SS, Himmler, berufen.

Beide Amtswechsel, von Diels zu Himmler und der von Diels nach Köln, wurden also am ­selben Tag vollzogen, ohne dass dieser zunächst in den einstweiligen Ruhestand versetzt w ­ orden wäre. Heydrich blieb in der Meldung unerwähnt; auch wurde die Berufung Himmlers zum „Inspekteur der Geheimen Staatspolizei“ weggelassen. Der Wechsel an der Spitze der politischen Polizei in Preußen wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Es gibt einmal die Auffassung, es habe zwei Phasen in der Geschichte der preußischen Gestapo gegeben, die erste unter Diels, die eine des Übergangs gewesen sei, und die zweite unter Himmler und Heydrich.225 Diese zweite habe neben einem durchgreifenden personellen Wechsel eine Intensivierung der Tätigkeit der politischen Polizei bis hin zu einer totalitären Geheimpolizei gebracht. Die Gegenmeinung wird eindringlich von Christoph Graf vertreten, welcher im 20. April 1934 wesentlich „nur“ einen personellen Wechsel an der Spitze des Amtes sieht. Einen Wendepunkt in der Entwicklung der Behörde habe er nicht dargestellt. Dabei beruft er sich zunächst auch auf einen Zeugen, Hans Bernd Gisevius, den er als „nicht über alle Zweifel erhaben“ bezeichnet. Dieser hatte in dem Wechsel von dem „flatterhaften“ 222 Zitiert nach Höhne, ebd., S. 207. 223 IMT, Bd. IX, S. 295. 224 Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 9, S. 358. 225 Aronson, Frühgeschichte, S. 92 f; Plum, Staatspolizei, S. 191.

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Diels zu dem mit „mörderischen Qualitäten“ versehenen Heydrich nur eine Verschärfung des vorher schon verbrecherischen Charakters der Gestapo gesehen.226 Graf betont mit Blick auf die Rivalitäten der ersten Monate des Jahres 1934, „dass alle beteiligten Kreise und Personen, inklusive Diels, den Ausbau der Gestapo zu einem totalitären Machtinstrument anstrebten und daß d ­ ieses Ziel schließlich auch erreicht wurde.“ Als Ergebnis der Neuorganisation der politischen Polizei auf Grund des Zweiten Gestapogesetzes ­seien zwei wesentliche Kriterien der „Gestapo“, wie sie sich später für die Öffentlichkeit mit Himmler [und] Heydrich […] identifizierte, bereits unter der Leitung Diels’ erfüllt [gewesen], nämlich einerseits die Herauslösung aus der allgemeinen und inneren Verwaltung und andererseits ihre enge organisatorische Verbindung zur SS.

Diese Auffassung vermag letztlich nicht zu überzeugen. Sicherlich war Diels als Leiter der politischen Polizei belastet genug. Seine diffuse „Devise“, es sei darauf angekommen, „nicht den oder jenen Totschlag, sondern das Morden zu verhindern“,227 ist moralisch unvertretbar. Das war die Sprache eines Opportunisten und Zynikers, den er nun einmal darstellte. Das Amt nahm jedenfalls nach dem Wechsel vom 20. April 1934 zwar keine völlig andere, aber eine sehr viel weiter gehende Entwicklung. Die organisatorische Verselbstständigung einige Monate zuvor hat als Kriterium wenig Wert. Was die SS betrifft, so wurde nach Himmlers Amtsantritt ein neuer Personalschub vorgenommen und das Amt erst endgültig zu einer „SS-Behörde“. Die Verfolgungspraxis der Gestapo nahm immer mehr eliminatorische Ausmaße an. Allerdings hatte schon Diels in einem Redeentwurf für Göring vom 11. September 1933 geschrieben: Es [das Gestapa] hat, als die kommunistisch-­marxistische Verschwörung in den Tagen der Machtübernahme das Haupt erhob, […] den Kommunismus vernichtend geschlagen. Darüber hinaus 228 hat es alle staatsfeindlichen Bestrebungen niedergehalten und bis zur Vernichtung bekämpft.

Aber diese fatalen Sätze sind doch wohl eher als offensichtliches Selbstlob und „rhetorisches Berserkertum“ im Sinne Görings anzusehen. Der Vernichtungswille der Gestapo unter Himmler und Heydrich richtete sich gegen alle politischen Gegner des Regimes, gleich welcher Richtung, und auch gegen alle aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossenen. Dies betraf insbesondere Menschen jüdischer Herkunft, gegenüber denen sich der Verfolgungswille bis zur physischen Beseitigung steigerte. Das Amt unter Himmler und Heydrich legte sich keinerlei Beschränkungen mehr auf und ließ Einwände nicht mehr gelten. Den Unterschied ­zwischen der ersten Phase des Geheimen Staatspolizeiamtes und der zweiten ließe sich auch so formulieren: Göring und Diels hatten „aus der ehemaligen Abteilung I A des Berliner Polizeipräsidiums die ersten Ansätze eines neuen ­Verfolgungsapparates geschaffen. Seine Effektivierung und Systematisierung blieb jedoch Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich vorbehalten.“229 Nun begann „der Aufbau der deutschen Gestapo als eines völlig selbständigen und unkontrollierten Zwangs- und Terrorinstruments“. Die hier 226 Graf, ebd., S. 211. Zum Folgenden S. 145 und S. 153. 227 Lucifer (49), S. 173. 228 Abgedruckt bei Graf, ebd., S. 425 f, Dok. 17. 229 Tuchel, Konzentrationslager, S. 60. Folgendes Zitat nach Sauer, Mobilmachung der Gewalt, S. 880.

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vorgenommene Differenzierung ist um der Sache und der gebotenen Objektivität willen notwendig. Darin kann aber keine Entlastung für Diels gesehen werden. Zu Recht ist über Diels geurteilt worden, „im Rahmen seiner ‚konventionellen‘ Methoden war er grausam und wirkungsvoll“.230 Gegen Ende seiner Amtszeit traf Diels in Berlin seinen früheren Kollegen Robert Kempner. Zum Abschluss des Gesprächs sagte er zu ihm: „Sagen Sie mal Ihren Freunden, daß ich nicht der Schlimmste bin.“ Kempners Erwiderung: „Das werde ich nicht sagen, lieber Diels. Sie sind schlimm genug.“

3.7 Regierungspräsident in Köln 1934 – 1936 3.7.1 Dramatischer Anfang und die Listen des 30. Juni 1934 Im „Amtsblatt der Regierung zu Köln“ vom 19. Mai 1934 erschien mit der schlichten Überschrift „Ernennung“ folgende Mitteilung des Regierungspräsidenten Diels: „Nachdem der Herr Preußische Ministerpräsident mich am 20. 4. 1934 zum Präsidenten der Regierung in Köln ernannt hat, habe ich d ­ ieses Amt am 11. 5. 1934 angetreten.“ Die Vakanz seit dem „Weggang“ seines Vorgängers zur Bonsen, ebenfalls am 20. April 1934, hatte also genau drei Wochen gedauert. Wie sorglos Diels mit Daten umging, belegt seine spätere Angabe, er habe „Anfang April [!]“ seine Tätigkeit aufgenommen.231 Mit 33 Jahren war Diels der jüngste Behördenleiter, den die Bezirksregierung Köln je gehabt hat. Diels übernahm einen mittelgroßen Regierungsbezirk mit einer Bevölkerung von etwa anderthalb Million Menschen. Er umfasste zwei kreisfreie Städte, Köln und Bonn, sowie sieben Landkreise. Diels’ Wechsel nach Köln konnte rein äußerlich als Abschiebung in die Provinz angesehen werden. 1931 hatte es ja den ehrgeizigen Diels unbedingt in die preußische Hauptstadt gezogen, aber immerhin lag sein neuer Amtssitz in der rheinischen Metropole. Allerdings war sein räumlicher Wirkungsbereich nicht mehr das gesamte preußischen Staatsgebiet, sondern nur noch einer der fünf Regierungsbezirke der Rheinprovinz. Das Amt des Regierungspräsidenten hatte in dieser Phase des NS-Regimes noch sein traditionelles Prestige mit Ausstrahlungswirkung in den Bezirk hinein. Der Ministerpräsident bekundete sein Wohlwollen damit, dass er den neuen Behördenleiter persönlich in sein Amt einführen wollte. Üblicherweise war dies Aufgabe des Oberpräsidenten. Göring soll dies nach seiner Rede zum Amtswechsel von Diels zu Himmler mit den Worten angekündigt haben: „Ich werde Sie selbst in Köln einführen, damit jeder sieht, dass ich trotz allem, was geschehen ist, zu Ihnen stehe. Ich werde Sie zum preussischen Staatsrat ernennen.“ Nach einer gesetzlichen Neurege­lung im Vorjahr bestand der Staatsrat nicht mehr aus Vertretern der Provinzen, sondern überwiegend aus Mitgliedern, die vom Ministerpräsidenten ernannt wurden.232 Diels wurde diese Ehre tatsächlich doch nicht zuteil. Göring wollte also die Versetzung nach Köln als Ausdruck der Anerkennung und Wertschätzung verstanden wissen. Dies kann auch besonders deutlich dessen Brief an Diels vom 9. Mai 1934 entnommen werden. Nach der Anrede „Mein lieber Diels“ erinnerte er zunächst an den gemeinsamen Aufbau der Geheimen Staatspolizei. Er sei sich bewusst gewesen, er habe in Diels 230 Aronson, Frühgeschichte, S. 92. Das folgende Kempner-­Zitat in: Ankläger einer Epoche, S. 115. 231 Lucifer (49), S. 298 f, auch zum Folgenden. Von hier auch das Zitat, wieder mit falschem Datum. 232 Gesetz über den Staatsrat vom 8. Juli 1933 (GS., S. 241) und Änderungsgesetz vom 31. Juli 1933 (GS., S. 289).

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den geeigneten Mann zu dieser schweren Aufgabe gefunden […]. Getragen von meinem festen Vertrauen, das zu keiner Zeit erschüttert werden konnte [sic!], haben Sie alle Schwierigkeiten […] überwunden und ein Instrument geschaffen, mit dem ich den Kampf gegen die Staatsfeinde so erfolgreich führen konnte.

Man werde später einmal feststellen, dass er ein gerüttelt Maß am Erfolg des Geheimen Staatspolizeiamtes habe. Diels solle seine Beförderung zum Regierungspräsidenten als äußeres ­­Zeichen des Dankes ansehen. „Sie haben damit einen Aufstieg vollzogen, wie er innerhalb der preußischen Beamtentradition bisher nur in seltensten Ausnahmefällen stattgefunden hat.“ Er habe ihn auf diesen Posten gestellt in der festen Erwartung, dass es Ihnen gelingen wird, auf der so wichtigen und schwierigen Stelle stets die Autorität von Staat und Partei zu sichern. Die Sorge für die Ihnen anvertraute Bevölkerung muss für Sie oberste Richtschnur Ihres Handelns sein. Ich bin sicher, dass Sie auch hier mein Vertrauen wie bisher vollkommen rechtfertigen werden. Auch in Zukunft werden Sie mit 233 mir aufs engste verbunden bleiben.

Dieses beinahe überschwängliche Schreiben kaschierte alle Schwankungen und Brüche im Verhältnis z­ wischen Göring und Diels. Der Sache nach stellte es einen konkreten Auftrag und eine starke Verpflichtung dar. In ­diesem Auftrag konnte auch eine Stoßrichtung gegen die im Rheinland besonders starke katholische ­Kirche gesehen werden. Dies barg Konfliktstoff. Andererseits bedeutete das Schreiben eine Rückendeckung für Diels, auch gegenüber ihm übelwollenden anderen Vertretern des Regimes. Ferner ist auch seinem Biographen darin zu folgen, dass das Schreiben auch sollte örtlichen Parteiführern vorgezeigt werden können. Denn die Gauleitung hatte sich offenbar heftig gegen den Wechsel Diels’ nach Köln gewehrt.234 Ebenso wenig wie das Schreiben Görings an ihn erwähnte Diels in seinen Memoiren einen Brief, den er, mehrere Wochen vor seiner Amtseinführung, am 4. Juni, ausgerechnet an Himmler richtete.235 Dieser war eine bis zur Selbstverleugnung gehende, geradezu schamlos formulierte Unterwerfungserklärung. Diels behauptete darin allen Ernstes, er habe sich immer als „Statthalter Himmlers“ gefühlt. Er versicherte, keinen Ehrgeiz zu haben, wieder „Politischer Polizist“ zu werden, distanzierte sich von aller Kritik anderer Regierungspräsidenten und der Berliner Bürokraten und beschwor Himmler, nicht zu glauben, dass er, Diels, hinter „Treibereien“ gegen den Reichsführer stecke. Schließlich bot er sich Himmler sogar als Informant an. Es spricht einiges für die Interpretation des Biographen, Diels habe von einer bevorstehenden „Säuberung“ gewusst und mit ­diesem Schreiben seinen Kopf aus der Schlinge ziehen wollen. Er suchte also den Reichsführer SS als weiteren Schutzherren zu gewinnen, sich also doppelt abzusichern. Einen weiteren umfangreichen Brief schickte er am 12. Juni 1934 an den Stellvertreter des Führers Rudolf Heß, bei dem, nach Diels Worten, früher „Beschwerden aus Partei und SA und SS gegen mich“ in großer Zahl zusammengelaufen waren.236 Ein „Unterwerfungscharakter“ kommt in ­diesem Schreiben nicht so stark zum Ausdruck. Diels betonte seine Loyalität 233 Schreiben aus dem Nachlass Diels, abgedruckt bei Wallbaum, ebd., S. 149; dort auch zum Folgenden. 234 Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 125. 235 Vgl. zu ­diesem Brief Wallbaum, ebd., S. 150 f. 236 Lucifer (49), S. 289; zu dem Brief vgl. Wallbaum, ebd., S. 151 ff.

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gegenüber der NSDAP, zu deren Berliner Führung er bereits 1930 (!) Kontakt gehabt haben wollte. Er stellte seine konsequente Haltung im Kampf gegen den Kommunismus heraus. Andererseits habe er aber auch zur „Wiederherstellung der gelockerten Rechtssicherheit im Lande“ gegen Ausschreitungen der SA und damit gegen „Angehörige der eigenen Bewegung [der er nicht einmal als Parteimitglied angehörte]“ vorgehen müssen. Durch eine interne Untersuchung des preußischen Innenministeriums sei er vor kurzem noch von Vorwürfen wegen seiner politischen Vergangenheit vor 1933 entlastet worden; er sei kein enger Mitarbeiter Severings gewesen, mit dem er nie ein Wort gesprochen habe (!). Auch sei er kein Günstling des Herrn von Schleicher gewesen; er habe ihn „bis heute“ nicht kennengelernt. Auch ­dieses Schreiben erweckt den Eindruck, Diels hegte bestimmte Befürchtungen und wollte sich nach allen Seiten absichern. Anzunehmen, Diels’ dienstliches Leben würde nun in ruhigeren Bahnen verlaufen, ginge fehl. Bereits am Tag seiner Einführung, dem 27. Juni 1934, und wenige Tage später zeigte sich das Gegenteil. Diels beschrieb wiederum sehr anschaulich den Empfang Görings auf dem damaligen Kölner Flugplatz Butzweilerhof.237 Zahlreiche Parteifunktionäre in ihren Uniformen, darunter mehrere Gauleiter, er selbst in SS-Uniform, zudem als einziger Zivilist der Oberpräsident „von Lünigk“ (richtig: Lüninck), waren bei strahlendem Wetter erschienen, mehrere Ehrenkompanien von Polizei- und Parteiformationen aufgeboten. Die Musikkapellen spielten den Parteimarsch. „Weiß gekleidet, einem Lohengrin der Sage ähnlich, entstieg Göring der Maschine.“ Ihm [Diels] sei sogleich dessen tückischer, verklemmter Blick aufgefallen. Nachdem er die anderen Offiziellen begrüßt hatte, habe er zu ihm, ohne ihm die Hand zu reichen, nur geäußert: „Ich habe Ihnen etwas zu sagen.“ Dann sei er mit ihm beiseite gegangen und habe mit verhaltener Stimme erklärt: „Ich werde Sie nicht einführen.“ Auf Diels’ Entgegnung, damit habe er gerechnet, Heydrich habe wohl Material gegen ihn gefunden und ihn endgültig als „Beauftragten der Komintern“ entlarvt, habe Göring eindringlich erwidert: „Lassen Sie Ihre Scherze. Es geht um Ihren Kopf.“ Sie beide hätten sich dann im Gespräch immer weiter von der Gruppe der Wartenden entfernt, und er habe ihm mit allem Nachdruck zu vermitteln versucht, er müsse ihn einführen, könne nicht „das Minutenprogramm“ umstoßen und alle die vielen Wartenden aus dem ganzen Rheinland enttäuschen. Göring habe ihm nun endlich konkret vorgehalten, er habe sich „mit den deutschen Kardinälen“ getroffen, und fragte nach dem Inhalt des Gesprächs. Diels habe mehrfach beteuert, dies sei unzutreffend; er habe lediglich im Einvernehmen mit Göring einen Antrittsbesuch bei dem Kölner Erzbischof Kardinal Schulte gemacht. Den weiteren Vorwurf eines Treffens mit dem ehemaligen Reichskanzler Brüning in der Schweiz, dem er bei der Flucht geholfen hätte, will Diels schlicht damit ausgeräumt haben, er kenne Brüning überhaupt nicht, er halte das Ganze für närrisch. Göring, immer noch ernst, nachdenklich und böse, weil er Himmler und Heydrich, mit denen er einen Bund geschlossen hatte, gerne eine „lästige Person“ geopfert hätte, habe nachgedacht. Diels will in ­diesem Moment die Ereignisse der folgenden Tage vorausgesehen haben. Endlich habe Göring kurz erklärt: „[I]ch werde Sie einführen.“ Diels’ Wiedergabe des Ablaufs zeigt erneut seine Fähigkeit zur Ausschmückung, wenn nicht sogar Erfindung von Einzelheiten. Möglicherweise stimmt kaum ein Wort. Aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass Himmler und Heydrich oder auch nur Heydrich nach Diels’ Abgang gegen ihn bei Göring intrigiert haben. Eine Zusammenkunft der drei deutschen Kardinäle, der

237 Lucifer (49), S. 302 f. Von dort auch die Zitate.

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höchsten Repräsentanten der katholischen K ­ irche, mit einem gerade neu bestellten Regierungspräsidenten ist völlig abstrus. Auch ein Besuch bei Kardinal Schulte ist eher unwahrscheinlich, denn Diels hatte, was sicher belegt ist, erst am 29. Mai 1934 einen Antrittsbesuch im Generalvikariat gemacht. In der Tat kann es aber zu einer Auseinandersetzung z­ wischen Göring und Diels gekommen sein. In mehreren Darstellungen wird insoweit Diels auch gefolgt, allerdings in komprimierter Form. Als Göring am 27. Juni 1934 zur offiziellen Amtseinführung Diels’ nach Köln flog, kam es noch auf dem Flugplatz zu einer erregten Aussprache z­ wischen Göring und Diels, in der es dem Regierungspräsidenten gelang, die gegen ihn von Himmler und Reinhard Heydrich erhobenen 238 Vorwürfe zu zerstreuen.

Im Nachlass Diels befinden sich mehrere Zeitungsartikel über seine Amtseinführung.239 Danach soll sich die Ankunft des Ministerpräsidenten im Regierungsgebäude verzögert haben. Eine Passage wird aus Görings Rede hervorgehoben: Die Rheinprovinz habe immer besondere Aufgaben und erhöhte Anforderungen gerade an die Beamtenschaft gestellt. Deshalb weise er energisch die Gerüchte zurück, die wissen wollten, dass die Berufung von Regierungspräsident Diels eine Strafversetzung sei. Im Gegenteil ­seien es immer die besten Beamten, die er in die Provinz, besonders in die Grenzprovinzen, schicke.

Im Grunde bestätigte Göring damit im Kern die umlaufenden Gerüchte. Der neue Regierungspräsident, schrieb eine andere Zeitung, habe versichert, „dass er mit großer Pflichterfüllung sein Amt führen werde“. Nachdem er seine große Freude über den Besuch des Ministerpräsidenten ausgedrückt hatte, habe er erklärt, „dass er im Einvernehmen mit der politischen Leitung des Bezirks alle seine Kräfte dafür einsetzen werde, um die nationalsozia­listische Gesinnung deutsch-­preußischer Prägung durchzusetzen.“ Hier kam die Ideologie der Einheit von Partei und Staat zum Ausdruck. Die Amtseinführung Diels’ am 27. Juni steht mit den Ereignissen der nächsten Tage, die unmittelbare Vorbereitung und Durchführung der sogenannten „Röhm-­Aktion“, in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang. Wie oben dargestellt, hatten die Forderungen der SA konservative Kreise und vor allem die Reichswehr aufs Höchste beunruhigt. Hitler, der ohnehin keine Machtkonkurrenz duldete, wollte aber die Aufrüstung des Reiches allein auf der Grundlage der professionellen Truppe durchführen. Angesichts des absehbar nahen Todes des Reichspräsidenten sah er sich ohnehin auf die Reichswehr angewiesen. Obwohl Röhm am 8. Juni die SA für den gesamten Juli in einen Urlaub geschickt hatte, blieb die Spannung fast unerträglich hoch. Hitler fühlte sich zusätzlich in die Enge getrieben durch eine kritische Rede seines Vizekanzlers von Papen. Dieser hatte, wie schon in Kapitel 2 erwähnt, am 17. Juni in der Universität Marburg vor einer „zweiten Welle der Revolution“ gewarnt. Nun entschloss Hitler sich endgültig, mit einem Doppelschlag gegen seine vermeintlichen oder tatsächlichen Widersacher in der SA -Führung und auf der nationalkonservativen Seite vorzugehen. Göring und Goebbels standen ihm dabei unmittelbar zur Seite. Himmler 238 Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 125 f; vgl. ferner Adolf Klein, Köln im Dritten Reich, S. 155 f; August Klein, Festschrift Köln, S. 112 f. 239 Wallbaum, ebd., S. 148 f, von dort auch die folgenden Zitate.

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hatte eine seit längerem geplante Aktion gegen die SA auf höchstkonspirative Weise mit der Reichswehr abgestimmt, ohne sie aber vollständig einzuweihen, und sich deren logistischer Unterstützung versichert. Nun konnte zur Tat geschritten werden.240 Am Donnerstag, dem 28. Juni, waren Hitler und Göring bei der Hochzeit des Gauleiters Terboven in Essen zugegen, weniger zur Ehre der Brautleute, als zur Beruhigungswirkung nach außen. Tatsächlich herrschte aber bei SS und Reichswehr Alarmstimmung, und die zum Losschlagen erforderlichen Maßnahmen ­wurden getroffen. Hitler verließ die Hochzeitsgesellschaft, alarmiert durch eine Falschmeldung Himmlers aus Berlin über eine angeblich bevorstehende SA-Revolte. Er zog sich mit Göring zur Beratung in sein Hotel zurück. Am Abend noch befahl er Röhm telefonisch, für den Vormittag des 30. Juni eine Führertagung nach dessen Urlaubsort Bad Wiessee einzuberufen. So konnte man leichter der „Verräter“ habhaft werden. Am folgenden Tag besichtigte Hitler Arbeitsdienst­lager in Westfalen. Göring flog nach Berlin zurück, um dort die Leitung zu übernehmen. Am Nachmittag begab sich Hitler nach Bad Godesberg in das Hotel Dreesen. Dort beriet er sich mit Goebbels. Auf eine weitere, tendenziell falsche Alarmmeldung hin, diesmal aus München, brach Hitler sogleich mit dem Flugzeug zur „Hauptstadt der Bewegung“ auf. Nachdem er dort zwei hohe SA-Führer hatte festsetzen lassen, fuhr er mit seiner Wagenkolonne nach Bad Wiessee und verhaftete persönlich Röhm in dessen Urlaubsdomizil. Gleiches geschah mit den anwesenden und noch eintreffenden SA-Führern. Sie wurden in das Münchner Gefängnis Stadelheim gebracht; Hitler machte sechs von ihnen namentlich kenntlich und befahl einem SS-Kommando, sie zu liquidieren. Darunter befand sich auch der pommersche SA-Führer von Heydebreck (vgl. Kapitel 2). Röhm wurde am folgenden Tag von zwei SS-Führern erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, Suizid zu begehen. Göring ließ in Berlin von SS-Kommandos nicht nur zahlreiche SA-Führer erschießen, sondern auch konservative Gegner des Regimes wie den General von Schleicher und dessen Frau sowie zwei Mitarbeiter des Vizekanzlers von Papen. Die Mordwelle verbreitete sich über das ganze Reich. Ihr fiel auch Gregor Strasser, der frühere Reichsorganisationsleiter der Partei, zum Opfer. Insgesamt z­ wischen hundertfünfzig bis zweihundert Personen, darunter achtzig SA-Führer, sollen Opfer des 30. Juni 1934 geworden sein. Ein amerikanischer Historiker konnte sich allerdings den Verweis darauf erlauben, die meisten der Erschossenen ­seien weit weniger unschuldig gewesen als andere Opfer des Nazismus.241 In Wirklichkeit hatte die SA keinen Putsch geplant; dies belegt die völlige Überraschung ihrer Führungsleute sowie der Umstand, dass jeder Widerstand von ihrer Seite ausblieb. Die SS wurde zur selbstständigen Organisation der Partei erhoben. Nun begann ihr unaufhaltsamer Aufstieg. Die Mehrzahl der Deutschen war zwar erschrocken, aber im Grunde wenig beeindruckt oder gar froh, dass die braunen Rabauken der SA entmachtet und den meisten ihrer Führer der Garaus gemacht worden war. Sie übersah, dass an deren Stelle eine kaltrechnende Verfolgungs- und Mordmaschine trat und das Deutsche Reich in Wahrheit von einer Verbrecherbande regiert wurde.242 Daran konnte auch eine legislatorische Camouflage nichts ändern. Durch ein Gesetz vom 3. Juli 1934 wurde erklärt: „Die zur Abwehr hoch- und landesverräterischer

240 Zum Folgenden Kershaw, Hitler, S. 631 ff; Longerich, Die braunen Bataillone, S. 215 ff; Sauer, Mobilmachung der Gewalt, S. 954 ff. Vergleiche auch Browder, Foundations, S. 139 ff. 241 Browder, Foundations, S. 143. 242 Vgl. auch Golo Mann, ebd., S. 814.

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Angriffe […] vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.“243 So ungeheuerlich ­dieses Gesetz auch war, zeigte es immerhin ein dumpfes Bedürfnis der Führung des Regimes nach einer Rechtfertigung. Diels gehörte nach eigenem Bekunden zu den möglichen Opfern der „Röhm-­Aktion“. Seine amerikanische Freundin schilderte die gespannte Atmosphäre vor dem 30. Juni.244 Diels selbst sei äußerst nervös gewesen, habe um sein Leben gefürchtet und jederzeit damit gerechnet, erschossen zu werden. Etwas irritierend daran ist, dass sie in dieser Zeit Diels, der doch am 11. Mai seine Amtsgeschäfte als Regierungspräsident in Köln aufgenommen hatte, häufig gesehen haben will, auch in der Nähe von Berlin. Diels schrieb in seinen Memoiren, Göring habe sich vor der Abreise aus Köln von ihm mit den Worten verabschiedet: „Sehen Sie sich in den nächsten Tagen vor.“245 Am Morgen des 30. Juni habe Göring seine Streichung von der Liste der Exekutionen gefordert. Heydrich habe in zynischer Offenheit auf diesen „Kunstfehler“ hingewiesen; das verzeihe dieser Göring nicht. Er, Diels, sei trotzdem „sozusagen außerplanmäßig“ an d ­ iesem Tag für die SS freigegeben gewesen; „seine“ Kölner Staatspolizeistelle habe sich die Ermächtigung dazu verschafft. Er sei aber von der Telefonzentrale gewarnt worden. Während andere dem „staatlich organisierten Meuchelmord“ ausgeliefert worden ­seien, „sass ich auf einem Hochsitz in der Eifel und passte auf den Rehbock. Als Hitler das ,Jagd aus‘ befohlen hatte, ging ich wieder nach Köln zurück.“ Diels berichtete dann auch noch etwas kryptisch von einem zweiten Anschlag Heydrichs auf sein Leben, wohl durch Gift. Das aber dürfte ein Phantasiestück sein. Das bestätigende Zeugnis der ersten Ehefrau im Spruchkammerverfahren hat wenig Beweiskraft.246 Anders verhält es sich mit der Streichung von der Exekutionsliste. Sicher ist, dass s­ olche Listen vor allem vom SD erstellt worden sind. Ob Göring tatsächlich veranlasst hat, Diels’ Name zu löschen, ist nicht belegt. Von Historikern wird es unterschiedlich gesehen. M ­ atzerath schreibt: „Zudem soll Diels – zumindest nach eigenen Angaben – auf der Liste der Mordopfer […] gestanden haben und nur durch Görings Intervention der Ermordung entgangen sein.“247 Matzerath hält die Schilderung Diels’ offenbar nicht für ganz ausgeschlossen. Höhnes Darstellung ist sehr pointiert: Das Abfassen der tödlichen Tabellen wurde zu einem makabren Sport der Eingeweihten. Jeder hatte eine Liste: Göring stellte eine auf. […] SS, SD und Gestapo wetteiferten in der Auswahl der Todeskandidaten. Und bald stritten sie darüber, ob dieser oder jener wahrhaft abschußreif 248 sei. […] Göring wiederum strich den Namen seines ehemaligen Gestapochefs […].

Höhne stützt sich nicht auf Diels, sondern bezieht sich als Beleg auf andere Veröffentlichungen. Dies führt aber nicht weiter: Sauer erwähnt nur die Erstellung von Listen, nicht aber Streichungen; bei Sommerfeldt wird nur die Streichung des eigenen Namens von einer der Listen berichtet, der Name Diels fällt nicht. So bleibt letztlich diese Frage offen. Wäre Diels tatsächlich

243 Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934, RGBl., S. 529. 244 Martha Dodd, ebd., S. 152 f. 245 Lucifer (49), S. 305; dort auch die folgenden Zitate. 246 So auch Wallbaum, ebd., FN 98 auf S. 154 mit Bezug auf Diels a. a. O. 247 Köln im Nationalsozia­lismus, S. 126. 248 Der Orden unter dem Totenkopf, S. 97 mit FN 69, Bezug auf Sommerfeldt, S. 76; gleichlautend in: Höhne, Mordsache Röhm, S. 243 mit FN 89, Bezug auf Sauer, Mobilmachung der Gewalt, S. 954.

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ein mögliches Mordopfer gewesen, würde dies ihn nicht entlasten. Er wäre nicht als Regimegegner umgebracht worden, sondern als Opfer brutaler interner Machtkämpfe. Eine völlig andere Verbindung Diels’ zur „Röhm-­Aktion“ ist bei dem französischen Polizeioffizier und Historiker Jacques Delarue zu finden. Danach „gesellte sich“ Diels in Essen „zur Unterstützung“ Görings dazu. Über den folgenden Tag liest man: „Im Hotel Dreesen beriet der Stab des Regimes, ohne von der Stelle zu kommen. Hitler war jetzt umgeben von Göring, Goebbels, Himmler, Diels, Lutze und anderen Gehilfen von geringerem Rang.“249 Belege werden nicht genannt. Graf schließt weder die Darstellung Diels’ noch die Version Delarues gänzlich aus. Nach einer persönlichen Mitteilung Delarues beruhten dessen Angaben auf von ihm 1945 durchgeführten Verhören ehemaliger Polizei- und SS-Führer in Frankreich. Die Schilderung Delarues ist noch weniger wahrscheinlich als die von Diels. Nach all den Machtkämpfen um das preußische Geheime Staatspolizeiamt ist es doch schwer vorstellbar, dass der soeben in die Provinz geschickte, ehemalige Amtschef zur Durchführung der „Röhm-­Aktion“ hinzugezogen worden sein soll. Die genannten Bekundungen von Polizei- und SS-Führern sind nur mündlich überliefert. Selbst wenn sie zutreffen sollten, können sie allein zu dem Zweck gemacht worden sein, Diels zu schaden. Während zur Bonsen von seinem Dienstsitz Stettin aus die Dinge beobachtete und dem preußischen Innenminister an den Folgetagen über die durchgeführten Maßnahmen berichtete, und Reeder in Aachen die örtliche SA-Führung in Schach hielt, will Diels die fraglichen Tage auf einem Hochsitz bei der Jagd in der Eifel verbracht haben. Ausgeschlossen ist auch das nicht. Es gehört zu den Unwägbarkeiten eines Unrechtsregimes, gerade an Tagen abgrundtiefer Gewalttätigkeiten. In Köln war offenbar alles ruhig geblieben.

3.7.2 Der Regierungspräsident und die katholische K ­ irche Die Lage der ­Kirchen im „Dritten Reich“ hatte sich 1934 gegenüber dem Vorjahr nicht wesentlich verändert. Die Zeit der Unterdrückung und offenen Verfolgung hatte noch nicht b­ egonnen, aber die bestehenden Spannungen hatten sich doch verstärkt. Auch wenn die Kirchenfeindlichkeit des Regimes nur vereinzelt zu Tage trat, war sein Machtanspruch gegenüber den K ­ irchen unverändert und sollte durchgesetzt werden. Für Diels’ Amtsführung als Regierungspräsident war das Verhältnis zur katholischen ­Kirche insoweit von besonderer Bedeutung, als das Erzbistum Köln deren Bastion im Westen war. Die evangelische K ­ irche spielte im Bezirk eine geringere Rolle. Nachdem die seit 1919 eingesetzten Regierungspräsidenten alle katholischer Konfession gewesen waren, wurde nun wieder ein Protestant mit d ­ iesem Amt betraut. Sein Vorgänger zur Bonsen war Nationalsozia­list und bekanntermaßen praktizierender Katholik gewesen. Seine Abberufung betrachtete der ebenfalls katholische Oberpräsident von Lüninck als „kulturpoli­ tische Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung“;250 sie würde sogar, wie in Kapitel 2 erwähnt, mit wachsenden Kulturkampftendenzen des Nationalsozia­lismus in Verbindung gebracht. Auch wenn die konkrete Maßnahme damit etwas überbewertet wurde, so war der Eindruck nicht ganz falsch. Der neue Regierungspräsident war nicht nur wegen seiner Konfession, sondern

249 Geschichte der Gestapo, S. 118 f. Zum Folgenden Graf, ebd., S. 323 f mit FN 6. 250 Vgl. von Hehl, ebd., S. 66 f. Dort auch zum Folgenden.

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mehr noch wegen seiner bisherigen Funktion als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes wenig geeignet, bei Katholiken aufkommende Befürchtungen zu zerstreuen. Diels galt als Verfechter harter Kampfmaßnahmen zur Unterdrückung „konfessioneller Hetzer“. Der neue Behördenleiter suchte durchaus die Formen zu wahren. Am 29. Mai hatte er, wie bereits erwähnt, einen Antrittsbesuch im Generalvikariat gemacht. Die Einschätzung der leiten­ den Persönlichkeiten, die er gewann, hat er später differenziert wiedergegeben. Der Generalvikar David stellte für ihn, was auch dem allgemeinen Urteil entsprach, „die entschlossene Unnachgiebigkeit der katholischen K ­ irche“ dar.251 Diels hat im Gegensatz dazu Kardinal Schulte eine „tolerante Haltung“ attestiert. In seinen Memoiren hat Diels zudem mehrfach behauptet, einen Auftrag Hitlers und Görings erhalten zu haben, den konfessionellen Frieden zu sichern. Allerdings habe der Gauleiter gelacht, als er ihm von ­diesem „Befehl Hitlers“ berichtete. Der oben wiedergegebene Brief Görings vom 9. Mai spricht jedoch eher gegen einen solchen Auftrag. Entscheidend aber sollte sein, wie sich Diels’ Amtsausübung tatsächlich darstellte. Eine immer noch streitige Frage ­zwischen der katholischen ­Kirche auf der einen sowie Partei und Staat auf der anderen Seite war, wie schon in Kapitel 2 behandelt, wo im NS-Regime die Grenzen der Betätigung der katholischen Jugend verlaufen sollten. Es war auch ein beständiges Thema ­zwischen den verschiedenen staatlichen Instanzen, und der Oberpräsident bemühte sich ja seit längerem um eine möglichst einheitliche und den Bestimmungen des Reichskonkordats entsprechende Regelung innerhalb der Rheinprovinz. Mitte Mai 1934 gab er nochmals den Regierungspräsidenten einheitliche Grundsätze über das öffentliche Auftreten konfessioneller Verbände bekannt.252 Am Tag seines Antrittsbesuches im Generalvikariat, erließ Diels eine „Staatspolizeiliche Anordnung zur Befriedigung des öffentlichen konfessionellen Lebens über das Auftreten konfessioneller Jugend- und Standesvereinigungen und die Behandlung von konfessionellen Presseerzeugnissen.“253 Ihnen wurde außerhalb des kirchlichen und religiösen Gebiets jegliche öffentliche Betätigung untersagt, so insbesondere das geschlossene Auftreten, jede Art von politischer Betätigung, das öffentliche Tragen einheitlicher Kleidung (Kluft), das öffentliche Mitführen oder Zeigen von Fahnen, Bannern oder Wimpeln und sogar jede sportliche Betätigung einschließlich des gemeinsamen Wanderns und der Einrichtung von Ferien- und Feldlagern. Außerdem wurde der öffentliche Vertrieb oder die Verteilung von Presseerzeugnissen konfessioneller Jugendverbände untersagt. Die Jugendverbände wurden durch diese rigide Regelung auf den religiösen Bereich beschränkt. Seinem Gesprächspartner am 29. Mai, dem Prälaten Lenné, erklärte Diels, er lege Wert ­darauf, „dass ein solcher Erlass von ihm nicht gleich als eine unfreundliche Handlung der ­Kirche gegenüber aufgefaßt werde“.254 § 1 der Anordnung begann in der Tat mit einem positiven Hinweis: „Die konfessionellen Verbände sind bei ihrer kirchlichen und religiösen Tätigkeit zu schützen.“ Er erläuterte dann wortreich Sinn und Zweck des „Erlasses“ im Übrigen, der eine abschließende Regelung darstelle. Lenné äußerte in seiner Erwiderung demgegenüber deutlich, dass die K ­ irche die „Berechtigung solchen Erlasses“ fundamental anders sehe. Er verwies auf eine Vertrauenskrise ­zwischen katholischem Bevölkerungsteil und Regierung. Diels zeigte ein gewisses Verständnis. Die Besprechung endete allerdings frostig.

251 Lucifer (49), S. 92 und 300; dort auch zum Folgenden. 252 Schellenberger, Katholische Jugend und Drittes Reich, S. 68 f, auch zum Folgenden. 253 Abgedruckt in: Amtsblatt der Regierung zu Köln vom 9. Juni 1934. 254 Vgl. Aufzeichnung des Prälaten Lenné, AEK Köln, Gen. 23.23 a, Leitzordner; auch für das Folgende.

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Die Rigidität der Kölner Anordnung kam auch darin zum Ausdruck, dass bei Zuwiderhandlungen sogar Schutzhaft angedroht wurde. Es war aber kein alleiniger „Paukenschlag“ Diels’, der sich Lenné gegenüber zu Recht auf eine Anlehnung an die übrigen rheinischen Regierungspräsidenten berufen hatte. Denn auch diese hatten ­solche Polizeiverordnungen erlassen. Inhaltlich gingen sie auf die staatspolizeilichen Anordnungen vom Jahresanfang zurück, weniger auf die Grundsätze Lünincks, und stellten eine Verschärfung dar. Nach der Veröffentlichung gab es einen kirchlichen „Proteststurm“, und die Pfarrgeistlichkeit Kölns wandte sich unmittelbar an Hitler und den Papst. Diels wandte sich seinerseits Anfang August an Göring mit der Bitte um dessen Einverständnis, besondere Schärfen in den gegen die katholischen Verbände gerichteten Verboten ohne Aufsehen zurückzunehmen.255 Er möchte ohne die Aufhebung des Verbots zu veröffentlichen, die Polizeibehörden anweisen, gegen das geschlossene Wandern und das Tragen von Abzeichen nicht mehr einzuschreiten. Gerade diese beiden Verbote werden als besonders hart empfunden und in demagogischer Weise ausgeschlachtet.

Bei allen anderen Verboten sollte es aber bleiben. Offenbar ist diese geschickt formulierte Anfrage ohne Reaktion geblieben. Der Oberpräsident unternahm einen neuen Anlauf zu einer einheitlichen Regelung mit dem Entwurf einer Polizeiverordnung zur Sicherung des konfessionellen Friedens. Lüninck hatte aber mit seinen Bemühungen letztlich keinen Erfolg. Die Zentralinstanzen in Berlin zeigten sich reserviert, und die Problematik wurde Gegenstand der Verhandlungen mit dem Vatikan zur Handhabung des Reichskonkordats. Die weiteren Bedrängnisse der K ­ irche stärkten die Geschlossenheit der Katholiken, es kam zu großen „Glaubenskundgebungen“, vor allem der katholischen Jugend.256 Im überfüllten Dom hatten die Jugendlichen ihre Treue zu Christus beschworen und auf dem Domplatz eine Menge von vierzigtausend Menschen der hohen Geistlichkeit zugejubelt. Diels nannte dies in einem Bericht „die bisher gewaltigste katholische Kundgebung in Köln nach der nationalen Erhebung“ und betonte vor allem deren Spontaneität. Dieser Bericht ist so gedeutet worden, er habe dem Ministerpräsidenten die Macht der katholischen K ­ irche vor Augen führen wollen, damit die nationalsozia­listische Führung sich darauf einstelle. Göring offenbarte jedoch seine rigorose Seite und erließ am 7. Dezember 1934 eine Polizeiverordnung, die an alle Staatspolizeistellen versandt, aber nicht veröffentlicht wurde.257 Dies unterblieb wohl mit Rücksicht auf die im Januar bevorstehende Abstimmung an der Saar über deren Rückkehr ins Deutsche Reich oder Beibehaltung ihres Völkerbundstatus. Es kursierten aber Abschriften bei den bischöflichen Ordinariaten. In der Polizeiverordnung wurden „mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres“ sämtliche öffentliche Veranstaltungen und Kundgebungen kirchlich-­konfessionellen Charakters verboten. Ausgenommen waren Veranstaltungen in der ­Kirche, althergebrachte Prozessionen und Wallfahrten. In der Begründung hieß es anmaßend, es sei daher „Sache des Staates, zu verhüten, daß rein religiöse Veranstaltungen […] in einer Weise in die Öffentlichkeit getragen werden, die eher einer Entweihung als einer religiösen Feier gleichkommen.“ Dies war eindeutig konkordatswidrig. Der Kölner Generalvikar protestierte 255 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 176 ff; von dort auch das Zitat. 256 Von Hehl ebd. S. 80 f, dort auch das Zitat Diels’; Wallbaum, S. 179; beide auch zum Folgenden. 257 Abgedruckt bei Stasiewski, Lage der ­Kirche II, S. 60 f, Nr. 188 a. Dazu von Hehl ebd., S. 80, dort das Diels-­Zitat.

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unter Berufung auf diesen Verstoß und bat den Reichsminister des Innern um Rücknahme. Ungeachtet ­dieses Verbots nahm eine überaus große Menge Gläubiger an der Domwallfahrt im Januar 1935 teil. Nach der Feier hätten, wie Diels berichtete, etwa Zehntausend auf dem Domplatz dem Kardinal zugejubelt und das Lied „Wir sind im wahren Christentum“ gesungen. Diels’ Berichterstattung über katholische Kundgebungen war aber nicht lückenlos. Im Mai 1935 wurde er von dem seit zwei Monaten amtierenden neuen Oberpräsidenten der Rheinprovinz, dem Essener Gauleiter Josef Terboven, auf einen „Aufmarsch“ von dreitausend Gläubigen vor dem Altenberger Dom hingewiesen. Diels antwortete, beinahe ein wenig patzig, ihm sei davon „dienstlich nichts bekannt geworden“.258 Bei aller Härte, ­welche der Regierungspräsident gegenüber der katholischen ­Kirche und kirchlichen Stellen zeigen konnte, war er doch auch aus taktischen Gründen zu einem ­flexiblen Vorgehen in der Lage. Auf diese Weise hoffte er sicherlich, offene Konflikte möglichst zu vermeiden, was für das Regime vorteilhaft sein konnte. Diels kam dabei zugute, dass er kein kirchen­feindlicher Fanatiker war und sich von dem kulturkämpferischen Gehabe der Gauleitung und auch der Kölner Partei distanzieren wollte. Nach all dem suchte Diels die Zusammenarbeit mit dem Kölner Erzbischof Kardinal Schulte. Im Sommer 1935 gab es dafür sogar mehrere Anlässe. Ein Thema bildeten die Verstöße von Angehörigen katholischer Orden gegen Devisenvorschriften, die reichsweit festgestellt worden waren und eine anti-­kirchliche Propagandawelle der Partei ausgelöst hatten.259 Das besonders Heikle dieser Verstöße lag darin, dass die Devisenbewirtschaftung einen Teil der Finanzierung der forciert betriebenen Aufrüstung darstellte. Letztere störte das wirtschaftliche Gleichgewicht. Um die notwendigen Rohstoffe zu erwerben, bedurfte es Devisen in hohem Maße. Diese konnten aber nicht durch das gängige Mittel des Exports erwirtschaftet werden, eben weil dieser nachrangig gegenüber der Aufrüstung war. Ein Zwangssystem war die Folge. In Köln waren zwei große Klöster an Devisenvergehen beteiligt. Es entstand große Unruhe in der katholischen Bevölkerung, und die Agitation von HJ und SA war an Plumpheit nicht mehr zu überbieten. So begab sich Diels auf Anregung des Oberpräsidenten zum Kardinal, um ihn zu einer öffentlichen, distanzierenden Stellungnahme zu veranlassen. Sie würde, darauf verwies der Regierungspräsident mit Nachdruck, „der Zusammenarbeit der staatlichen Behörden mit den kirchlichen Dienststellen des Rheinlandes nur zuträglich sein“. Der von den Ereignissen tief getroffene Erzbischof zeigte sich zu einer öffentlichen Äußerung bereit, wenn diese nicht propagandistisch missdeutet würde. Nachdem dies gewährleistet war, wurde am 15. Juni in der Tagespresse eine kurze Erklärung Schultes veröffentlicht, in der es hieß: „Die […] vorgekommenen Vergehen gegen die Devisengesetze, sowie jedes Devisenvergehen verurteile ich vollkommen und beklage sie schmerzlich.“260 Diese Veröffentlichung hatte eine zwiespältige Wirkung, in der Sache Entlastung, aber innerhalb der ­Kirche einige Verwirrung, was der NS-Propaganda nur dienlich sein konnte. Diels’ Methode der verständnisvoll scheinenden persönlichen Einwirkung brachte für das Regime nützliche Ergebnisse. Das zweite Thema der Kontakte Diels’ mit dem Kardinal betraf einen besonderen Fall von Agitation der Partei.261 Dabei handelte es sich um eine Rede auf einer Großveranstaltung der Deutschen Arbeitsfront (DAF ) in Köln Müngersdorf. Ein hoher Parteifunktionär, der 258 Zitiert nach Wallbaum, ebd., S. 178, dort auch zum Folgenden. 259 Von Hehl, ebd., S. 93 ff. Von dort auch das wörtliche Zitat. 260 Zitiert nach Wallbaum, ebd., S. 181 f. 261 Von Hehl, ebd., S. 95 ff; von dort auch die wörtlichen Zitate.

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Treuhänder der Arbeit und preußische Staatsrat Albert Börger, der wegen seiner wuchtigen Rhetorik in der Partei sehr geschätzt wurde, hatte sie gehalten. In einer einstündigen „Generalabrechnung mit dem ‚politischen‘ Katholizismus“, die mit den Devisenvergehen begann, hatte er kein antiklerikales oder antikirchliches Klischee ausgelassen. In einem Bericht an den Reichs- und preußischen Innenminister nannte Diels die rhetorische Leistung Börgers „das Schärfste […], was die K ­ irche in den letzten Jahren zu hören“ bekommen habe. Die Kölner Pfarrgeistlichkeit protestierte sogleich mit einer in allen K ­ irchen Kölns und Umgebung am 2. Juni verlesenen Kanzelerklärung. Die Verleumdungen Börgers wurden entschlossen zurückgewiesen und betont, ein Volk, das die K ­ irche bekämpfe, richte sich selbst zugrunde. Diese Erwiderung, die bar aller Polemik war, missbilligte Diels in seinem Bericht mit gleichen Worten. Es sei das „Schärfste und Unverblümteste“, was er an „offiziellen Ausfällen der K ­ irche“ habe zur Kenntnis nehmen müssen. Bei seinem Besuch im erzbischöflichen Palais brachte er die Kanzelerklärung zur Sprache. Schulte kannte deren Wortlaut nicht. Er ließ erkennen, dass er ungeachtet der Hetze Börgers „das Vorgehen der Kölner Pfarrgeistlichkeit nach Form und Inhalt“ nicht billige. Die Zielrichtung des Kardinals war offenbar, Konflikte mit den staatlichen Behörden möglichst zu vermeiden. Er ordnete daher weiter an, künftig ­seien „alle für mehrere Kölner Pfarreien bestimmten gleichlautenden Kanzelverkündigungen, die die Abwehr von Angriffen gegen die K ­ irche […] zum Gegenstand haben“, zunächst dem Generalvikariat vorzulegen. Sie dürften nur verlesen werden, wenn keine Beanstandung erfolge. Diels hatte also erreicht, dass der konfliktscheue Kardinal mäßigend auf seine Geistlichen in einer Weise einwirkte, ­welche diese als demotivierende Zurechtweisung empfinden mussten. Das Regime war der Entscheidung enthoben, gegen eine größere Zahl von Geistlichen vorzugehen und brauchte einstweilen keine scharfen Kanzelerklärungen mehr zu befürchten. Auch aus Artikeln der Kirchenzeitung entstand Konfliktstoff. Der Gauleiter soll Diels einmal gebeten haben, dem Kardinal eine Warnung zukommen zu lassen. Bei weiterer deutlicher Kritik der Kirchenblätter an der Regierung würde die nationalsozia­listische Presse ihre „reservierte Haltung“ den K ­ irchen gegenüber aufgeben.262 Bemerkenswert ist, dass der Gauleiter, welcher der katholischen ­Kirche, anders als der „Staatsbeamte“ Diels, gänzlich ablehnend gegenüberstand, den Regierungspräsidenten als Überbringer der Warnung benutzte. Realistischerweise traute Grohé offenbar Diels eine größere Einwirkungsmöglichkeit auf den Kardinal zu. Diels sah seinerseits die kirchliche Presse nicht unkritisch und meinte, ein „Überhandnehmen weltlich-­ politischer Artikel in den Kirchenzeitungen“ erkannt zu haben. Sie schienen sich „immer mehr als Ersatzblätter für die nicht vorhandenen konfessionellen Tageszeitungen herauszubilden“. Ein immer wieder kontroverses Thema waren die Auseinandersetzungen ­zwischen katholischer Jugend und der Jugendorganisation der NSDAP, zumeist durch Übergriffe der HJ ausgelöst. Diels hielt deren aggressives Auftreten für verfehlt. Schon zu Beginn seiner Amtszeit machte er bei einer Besprechung der Regierungs- und Oberpräsidenten darauf aufmerksam, „dass die katholische Propaganda in geschickter Weise von Exzessen, die bei der Hitler-­Jugend vorkämen, lebte“.263 Hier tritt wieder das geschickte Argumentationsmuster Diels’ zu Tage, auf die negative Wirkung von „Exzessen“ für das Regime hinzuweisen, um dessen Mäßigung zu bewirken. Sogar bei seiner letzten Begegnung mit Hitler im Sommer 1935 soll er d ­ iesem

262 Wallbaum, ebd., S. 179; das folgende Diels-­Zitat bei von Hehl, ebd., FN 149 auf S. 106. 263 Protokoll zitiert nach Wallbaum, ebd., S. 180 f.

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vorgetragen haben, die Gewaltaktionen der HJ schadeten der Popularität des Regimes.264 In Diels’ Memoiren ist aber nur allgemein vom Kulturkampf der Gauleitung und Belästigungen der Katholiken die Rede. Eine bemerkenswerte amtliche Reaktion Diels’ auf Zusammenstöße z­ wischen katholischer Jugend und Hitlerjugend war die auf einen Zwischenfall im spannungsreichen Sommer 1935.265 Anlass war für die HJ eine Glaubensfeier der katholischen Jugend, die am Dreifaltigkeitssonntag im überfüllten Kölner Dom stattfand. Schon vor deren Beginn war es zu Provokationen seitens der Parteijugend gekommen, und während die Feier stattfand, stimmte sie angesichts einer draußen wartenden Menge beleidigende Sprechchöre an. Nach der Feier rannten sie mit solcher Gewalt auf die Bannerträger zu, die aus dem Dom kamen, dass diese in Panik gerieten und sich eilig in den Dom zurückzogen. Nun entlud sich die Wut der HJ in zahlreichen Schlägereien, die durch Zurufe aus der Menge wie „Christus unser Führer, Sieg Heil!“ noch angestachelt wurden. Der Regierungspräsident legte in einem Bericht an den Reichs- und preußischen Innenminister den Vorgängen besondere Bedeutung bei, „weil nach den bisherigen Feststellungen nicht nur das Vorgehen der HJ einen herausfordernden Charakter“ gehabt habe, sondern „weil auch seitens der katholischen Menge eine demonstrative und einheitlich oppositionelle Haltung an den Tag gelegt“ worden sei. Partei und Staat könnten durch ­solche Vorfälle nur an Ansehen verlieren; deshalb habe er für künftig „hartes polizeiliches Durchgreifen ohne Rücksicht auf die eventuelle Zugehörigkeit der Störer zu nationalsozia­listischen Organisationen angeordnet“. Diels wollte also ganz offensichtlich in erster Linie der Staatsauto­ rität den nötigen Respekt verschaffen. Kardinal Schulte lieferte nur wenig später einen weiteren Beweis seines Verständigungswillens. In einem „Hirtenwort“ zur „Haltung des Klerus in gegenwärtiger Zeit“, veröffentlicht Anfang August im Kirchlichen Anzeiger, verwies er auf den bösen Willen derer, die nur darauf warteten, „eine Äußerung aufzufangen, um dann anklagen zu können“. Deshalb sei Sachlichkeit beim Abwehren antichristlicher Angriffe geboten und öffentlich und privat sei „tunlichst alles zu vermeiden, was in Zeiten wie heute, da die Gemüter besonders erregt erscheinen, missverstanden oder als unzulässige politische Äußerung missdeutet werden könnte“. Diels wertete ­dieses der staatlichen Seite sehr entgegenkommende „Mahnwort“ gegenüber dem Oberpräsidenten überaus positiv und betonte, es hebe sich „erfreulich von dem herausfordernden ­Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 20.8.“ ab. Weniger erfreut war er allerdings, als das Generalvikariat, ebenfalls im kirchlichen Anzeiger, zwei Artikel der offiziösen vatikanischen Zeitung „L’Osservatore Romano“ veröffentlichte. Sie stellten außerordentlich kritisch die Folgeverhandlungen zum Reichskonkordat und die Lage der K ­ irche in Deutschland dar. Der Regierungspräsident sah „Scharfmacher“ im General­ vikariat am Werk, ­welche die „immer wieder auf Verständigung gerichtete Politik des ­Kardinals zu durchkreuzen“ versuchten. Dabei wollte er ­zwischen Schulte und seiner Bistumsverwaltung einen Zwiespalt sehen; dabei hätte die Veröffentlichung kaum ohne Zustimmung des Kardinals geschehen können. Insgesamt war Diels mit der Entwicklung zufrieden, wie aus einem Bericht an den Oberpräsidenten vom November 1935 hervorgeht. Er würdigte die Haltung des Kardinals, stellte fest, dass „das Hervortreten gegnerischer Gesinnungen bei den kirchlichen Stellen entscheidend

264 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 95; zum Folgenden Lucifer (49), S. 62. 265 Von Hehl, ebd., S. 100 f; hier auch zum Folgenden (S. 109 ff), von dort auch die wörtlichen Zitate.

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nachgelassen hat“, lobte den „Fortschritt in der kirchenpolitischen Lage zugunsten des nationalsozia­listischen Staates [!]“. Kritisch merkte er nur an, es sei nach wie vor notwendig, „gegen einzelne unbelehrbare Geistliche mit aller Strenge vorzugehen“. Als eine Bestätigung dieser Einschätzung kam es im November und Dezember zu zahlreichen Kontakten ­zwischen Vertretern von Partei und Staat mit der kirchlichen Seite. Diels traf ein weiteres Mal den Prälaten Lenné. Propagandaminister Goebbels stattete dem Kardinal am 30. November einen Höflichkeitsbesuch ab. Am selben Tag empfing Schulte erstmals den Kölner Gauleiter Grohé. Einige Tage später kam es zu einem Gespräch Lennés mit Oberpräsident Terboven, dem Regierungspräsidenten und einem Vertreter der Kölner Gestapo. Die kirchlichen Beschwerdepunkte und die staatlichen Beanstandungen aus der jüngsten Zeit wurden umfassend erörtert und das Generalvikariat stellte eine gewisse Befriedungswirkung fest. Zusammenfassend lässt sich sagen, Diels folgte mit seinem amtlichen Verhalten gegenüber der katholischen ­Kirche entschiedener als sein Vorgänger im Grunde der Kirchenpolitik des NS-Regimes. Die Wahrung des konfessionellen Friedens war entgegen der Darstellung in seinen Memoiren nicht in erster Linie sein Ziel. Er ging aber immer wieder taktisch geschickt vor und versuchte durch Gespräche, vor allem mit dem Kardinal zu einem gewissen Maß an Zusammenarbeit zu kommen. Dabei ging er ganz offensichtlich auch davon aus, dass eine ­solche Methode für das Regime vorteilhafter sei als eine ausschließlich harte Konfrontationsstrategie. Die Wahrung der Autorität des Staates war es, auf die es ihm zuvörderst ankam; da dieser Staat nun einmal nationalsozia­listisch war, kam sein amtliches Verhalten dann zugleich der Partei zugute. Diels ließ später dem Kardinal noch eine persönliche Ehrung zuteilwerden: „Ich habe als junger Protestant […] dem greisen, frommen und weisen Katholiken nicht nur für seine freundschaftliche Haltung, sondern für das Wiederfinden einer neuen Plattform des Lebens bis zu meinem Ende zu danken.“266 Das war aber selbst für Diels’ Verhältnisse besonders dreist geflunkert, denn er war ja „nach 1934“ aus der evangelischen ­Kirche ausgetreten.267 Möglicherweise ist er nach dem Krieg wieder in die K ­ irche eingetreten; jedenfalls sprach ein Pfarrer bei seiner Beerdigung.

3.7.3 Amtliche Beziehungen des Regierungspräsidenten Diels zu Konrad Adenauer Wie in Kapitel 2 dargestellt, hatte bereits Ende 1933 Diels’ Vorgänger dem preußischen Innenministerium die Einstellung des Disziplinarverfahrens gegen Konrad Adenauer vorgeschlagen. Erst mit Erlass vom 12. Mai 1934 trat das Ministerium der Auffassung des Kölner Regierungspräsidenten bei und forderte ihn auf, die Einstellung des Verfahrens bei der Dienststrafkammer herbeizuführen. Als Behördenleiter verantwortlich war nunmehr Diels, der ja am Tag vorher seinen Dienst als Regierungspräsident angetreten hatte. Darauf beschloss die Dienststrafkammer am 4. Juli, das Verfahren auf Kosten der Staatskasse einzustellen.268 In der Begründung führte die Kammer aus, die Verhängung der schwersten Disziplinarstrafe, Aberkennung des Ruhegeldes und der Amtsbezeichnung, komme nach dem Ergebnis der Voruntersuchung nicht in Betracht. Nur diese aber könne gegen den aus dem Dienst entlassenen Angeschuldigten 266 Lucifer (49), S. 300. 267 Er bezeichnete sich danach als „gottgläubig“, Graf, ebd., S. 244 (FN 35). 268 Abgedruckt in: Adenauer im Dritten Reich, S. 214, Nr. 180; zur Übersendung der Abschrift, S. 570 f.

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ausgesprochen werden. Bei einem noch im Dienste befindlichen Beamten würde eine Verurteilung erfolgt sein. Dieser Abschluss des Verfahrens war, nach der Begründung des Vorschlags, es einzustellen, eigentlich zwangsläufig und für Adenauer einigermaßen günstig. Der letzte Satz der Gründe war allerdings ein kleinliches Nachtreten; denn das Ergebnis der Voruntersuchung hätte wohl auch für eine geringere Strafe nicht gereicht. Dies diente wohl nur dazu, das Gesicht derer zu wahren, die in das Verfahren hohe Erwartungen gesetzt hatten. Diels musste den Beschluss und seine Begründung zur Kenntnis genommen haben. Er leitete am 5. Juni dem Preußischen Innenministerium eine Abschrift zu. Adenauers Anschauung von der staatlichen Mittelinstanz offenbarte sich in Folgendem. Er äußerte in einem Brief an seinen Rechtsanwalt vom März 1935, der seine fortbestehenden finanziellen Auseinandersetzungen mit der Stadt Köln betraf, seine Bitterkeit. Er regte an, dem Regierungspräsidenten persönlich die Sache vorzutragen und dazu seinen Bruder August, ebenfalls Rechtsanwalt, mitzunehmen. Der Regierungspräsident (als Aufsichtsbehörde) werde sich ja doch mit der Angelegenheit befassen müssen, und sein Bruder sei schon einmal bei ihm gewesen. Vielleicht sei „der Regierungspräsident dafür empfänglich, dass es auch für das gegenwärtige Regime nicht gerade angenehm ist, wenn die Stadt Zwangsmaßnahmen gegen mich vornimmt.“269 Adenauer hatte offenbar von der Institution eine hohe Meinung und Erwartungen an den Behördenleiter persönlich. Diels wurde allerdings erst später auf den Streit ­zwischen der Stadt und Adenauer angesprochen. Umso enttäuschender musste für Adenauers hohe Meinung ein Ereignis des Sommers gewesen sein. Am 10. August 1935, wenige Monate nach dem Einzug der Familie Adenauer in ein neu erbautes Haus in Rhöndorf, erhielt er eine in sein persönliches Leben tief einschneidende Verfügung des Regierungspräsidenten. Sie war von dessen Vertreter unterschrieben worden, nicht von Diels selbst, denn er befand sich in Urlaub. Dieses Hindernis, selbst zu unterschreiben, durfte ihm gelegen gewesen sein. Adenauer wurde „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ aufgegeben, „den Regierungsbezirk Köln bis zum 20. ds. Mts. zu verlassen und fürderhin nicht mehr zu betreten. Für den Fall der Zuwiderhandlung haben Sie mit Zwangsgeldverhängung und gegebenenfalls Schutzhaft zu rechnen.“270 Zur Begründung wurde lediglich die gesetzliche Grundlage angeführt, nämlich § 14 Polizeiverwaltungsgesetz in Verbindung mit § 1 der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933. Konkretisierende Ausführungen hätten offenkundig gemacht, dass es sich um einen nichtigen Vorfall handelte.271 Anlässlich der sommerlichen Kirmes hatte vor dem Hause Adenauers zu dessen Ehren ein „Fähndelschwenken“ des Rhöndorfer Junggesellenvereins stattgefunden, bei dem die Feuerwehrkapelle spielte, zum Schluss den „Badenweiler Marsch“, den Lieblingsmarsch Hitlers. Adenauer spendete zum Dank 8 Reichsmark und schenkte einige Gläser Wein aus. Offenbar wurde der Kreisleiter der NSDAP in Siegburg hierüber informiert, möglicherweise durch die Gestapo, die Adenauer observierte. Der Kreisleiter wandte sich an Gauleiter und Regierungspräsident, bauschte den Fall maßlos auf und denunzierte Junggesellenverein und Feuerwehr­ kapelle als anti-­nationalsozia­listisch. Die Sache hätte aber als erledigt angesehen werden können, nachdem weitere Nachforschungen der Ortspolizei klargestellt hatten, dass es sich um einen 269 Adenauer im Dritten Reich, S. 244, Nr. 214; Anmerkung dazu auf S. 585. 270 Ebd., S. 257 f, Nr. 230. Den Urlaub Diels’ belegt Wallbaum, ebd., S. 184. 271 Vgl. dazu Morsey, Adenauer-­Festschrift, S. 489 ff; Schwarz, Adenauer, S. 390 ff; unzutreffend Wallbaum, ebd., S.  184 f.

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Ortsbrauch gehandelt habe, eine politische Demonstration also ausschied, und die Feuerwehrkapelle den „Badenweiler Marsch“ nur deshalb gespielt hatte, weil sie ihn auswendig kannte. Der Gauleiter forderte aber vom Regierungspräsidenten die Ausweisung Adenauers. Dieser musste nun wohl oder übel zum festgesetzten Zeitpunkt und, wie gefordert, gänzlich unauffällig den Regierungsbezirk verlassen. Seinem Bruder August gelang es allerdings, mit dem Regierungspräsidenten in Verbindung zu treten. Neun Tage später wurde er von Diels zu einem Gespräch empfangen. „Dieser Lebemann und Zyniker von hohen Graden, der ein Opportunist ist, aber kein kleiner Geist, sitzt nun Adenauers Bruder gegenüber und erteilt d ­ iesem eine Lektion über kluges politisches Verhalten in einer totalitären Diktatur.“272 Die Angelegenheit sei zwar geklärt, aber der Gauleiter, der in Berlin gedeckt werde, wolle „sein Opfer“ haben. Er, der Regierungspräsident, könne nichts dagegen machen. Adenauer sei auch nicht zu helfen, wenn er ausgerechnet in die Nähe von zwei nationalsozia­listischen Führerschulen gezogen sei. Auch hätte er seinen Umzug der Partei anzeigen sollen, verbunden mit „einige[n] Versicherungen des Wohlverhaltens“. Auf des Justizrats Bemerkung, sein Bruder müsse doch „sein Recht bekommen“, lachte Diels. „Adenauer und Recht bekommen, nein, das gibt es nicht.“ Der Rat des Regierungspräsidenten war: „Abwarten, etwas Gras über die Sache wachsen lassen, vielleicht dann einen Antrag beim Gauleiter stellen, diesen aber nicht merken lassen, dass man wisse, wer hinter allem stecke. Im Übrigen: Die Verweisung aus dem Regierungsbezirk Köln werde nur vorübergehend sein.“ Nach Zwischenaufenthalten wohnte Adenauer ab September in Unkel am Rhein, dem ersten Ort jenseits der Grenze des Regierungsbezirks Köln. Auch wenn die Entfernung nach Rhöndorf nur acht Kilometer betrug, schmerzte ihn doch die faktische Trennung von der Familie tief und belastete ihn auch finanziell. Auf seinen Antrag hin wurde wenigstens für die Weihnachtstage 1935 das Aufenthaltsverbot im Regierungsbezirk Köln aufgehoben.273 Im neuen Jahr begannen verstärkt Bemühungen von familiärer Seite, eine völlige Aufhebung der Ausweisungsverfügung zu erreichen. Es besteht kein Nachweis darüber, dass dies förmlich geschah, aber aus einem Ostergruß Adenauers mit Absendeort Rhöndorf an Abt Herwegen in Maria Laach, der Rechnung eines Katholischen Heims in Unkel sowie weiterer Familienkorrespondenz lässt sich schließen, dass die Familie das Fest wieder vereint in Rhöndorf feiern konnte.274 Adenauers spätere Datierung, die Ausweisung habe bis Anfang August 1936 gedauert, also fast ein Jahr, beruht offenbar auf einem Erinnerungsirrtum.275 Die Ausweisung aus dem Regierungsbezirk zeigte das typische Gebaren einer Diktatur in ihrer Kleinlichkeit und Lächerlichkeit. Staatliche Verwaltungsbehörden waren offensichtlich von den Wünschen einzelner Parteifunktionäre abhängig. Bei Diels’ „Lektion über kluges Verhalten in einer Diktatur“ ist schwer zu entscheiden, ob man die Geschicklichkeit, ja Raffinesse, mit der er sich in ­diesem System bewegte, eher bewundern soll als die zum Ausdruck kommende, bis zur Charakterlosigkeit reichende Anpassungsfähigkeit tadeln. Bei Adenauer muss die Ausweisung mit ihren Folgen nachhaltige Wirkungen erzeugt haben. Diels’ Ratschläge mögen zwar für einen Repräsentanten des NS-Staates noch vergleichsweise hilfreich gewesen 272 Schwarz, ebd., S. 391 f. Vgl. auch Aufzeichnung von Justizrat Adenauer über das Gespräch in: Adenauer im Dritten Reich, S. 264 f, Nr. 237. 273 Adenauer im Dritten Reich, S. 274, Nr. 252 mit Unterschrift des Regierungsvizepräsidenten. 274 Ebd., S. 293, Nr. 280, Anmerkungen dazu S. 609 f. 275 Vgl. Morsey, ebd., S. 491.

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sein. Aber sie waren doch mit sehr pointierten Wertungen von Adenauers Verhalten verbunden. Sie haben bei Adenauer wohl einen tiefen Groll zurückgelassen, wie sich nach dem Krieg noch zeigen sollte. Aus der Gesprächsaufzeichnung des Bruders ergab sich auch der Vorwurf „politische[r] Instinktlosigkeit“. Er galt dem späteren Gründungskanzler der Bundesrepublik. Dergleichen ist nur unter den Bedingungen einer Diktatur denkbar.

3.7.4 Anstrengungen und Kontakte: Diels’ Versuch der Selbstbehauptung als Behördenleiter und das Ende einer Amtszeit Die Stellung des Regierungspräsidenten im „Dritten Reich“ war von Anfang an gefährdet. Dies hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum ­Ersten hatte der überwiegende Teil der Amtsinhaber in Preußen den Parteien angehört oder nahegestanden, w ­ elche die demokratische Staatsregierung Braun gestützt hatten. Sie wurden spätestens nach wenigen Monaten abgelöst. Zum Zweiten waren die Regierungspräsidenten Behörden von langer preußischer Tradition, und damit dem Nationalsozia­lismus überaus fremd. Hinzu kam, dass innerhalb der Verwaltung Organisationsänderungen zu deren Lasten stattfanden, so, wie geschildert, bei der politischen Polizei. Schließlich wurden nicht nur die Regierungspräsidenten, sondern die Verwaltung insgesamt in ihrer Bedeutung zunehmend gemindert, weil sich die Parteiorganisation als ihr Befehlsgeber verstand und diesen Anspruch mehr und mehr durchzusetzen suchte. Diels war nach seinem Naturell nicht der Mann, sich von dieser Ausgangslage schrecken zu lassen. Auch wenn der Wechsel nach Köln als Abschiebung in die Provinz gesehen werden konnte, hinderte dies ihn nicht, die neue Funktion ausschöpfen zu wollen. Am 19. Juni 1934 nahm er erstmals an einer Dienstbesprechung der Ober- und Regierungspräsidenten mit dem Reichs- und preußischen Innenminister Frick teil und meldete sich sogleich vernehmlich zu Wort.276 Ein Thema war, wie oben geschildert, das Auftreten der HJ gegenüber Angehörigen katholischer Jugendverbände. Das zweite Thema betraf die Organisation der Staatspolizeistellen, die in seiner Funktion als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts zu seinem Aufgabenfeld gehört hatte. Offenbar hielt er es nun für verfehlt, dass innerhalb der Gestapo eigene Informations- und Befehlsstränge bestehen sollten, vorbei an den bisher ebenfalls zuständigen Regierungspräsidenten. Diels mahnte deshalb eine Änderung an. Im Besprechungsprotokoll wurde vermerkt: „Auch er halte eine Unterstellung der Staatspolizeistellen unter den Regierungspräsidenten für unumgänglich. Den März-­Erlass des Herrn preußischen Ministerpräsidenten habe er in d ­ iesem Sinne anders aufgefasst, als er wohl mündlich zu nehmen sei.“ Diels meinte offenbar den Runderlass vom 14. März 1934, durch den ja die Staatspolizeistellen zu selbstständigen Behörden der Geheimen Staatspolizei bestellt worden waren. Im Besprechungsprotokoll hieß es später, Innenminister Frick habe den Anregungen zugestimmt und stelle „entsprechende Maßnahmen in Aussicht“. Diels nahm also, ohne das deutlich zu machen, als Regierungspräsident eine andere Position in dieser Frage ein denn als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes. Er verhielt sich, durchaus wertfrei zu verstehen, jeweils entsprechend seinem Funktionsinteresse. Für Frick seinerseits konnte eine Änderung ebenfalls nur im Sinne seines Ressorts sein.

276 Dazu Wallbaum, ebd., S. 189. Von dort auch die wörtlichen Zitate.

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Der Minister machte sich nun daran, für die Innenverwaltung Boden zurückzugewinnen, hatte aber wenig Erfolg damit. Die Verselbstständigung der Gestapo ging weiter. Diels versuchte, sich der Entwicklung entgegen zu stemmen. Er richtete am 4. November 1934 an den preußischen Ministerpräsidenten einen Immediatbericht über die politische Lage, also an Oberpräsident und Innenminister vorbei unmittelbar an Göring.277 Wegen seiner engen Beziehung zu ihm konnte Diels sich ­dieses erlauben, und er verlieh dadurch seinem Bericht eine besondere Dringlichkeit. Dem entspricht auch dessen wesentlicher Inhalt. Die wirtschaftliche Lage sei gut, dennoch die Stimmung gedrückt. Der Grund liege in dem fühlbaren Mangel einer einheitlichen Staatsführung. Es fehle auf den wichtigsten Gebieten des innenpolitischen Lebens an einheitlichen Richtlinien, nach denen sich Behörden, Verwaltung und letzten Endes das Volk richten könnten. „Die Bezirksregierungen mit den Regierungspräsi­ denten der Spitze haben […] eine instanzmäßige Zuständigkeit auf irgendeinem brennenden Gebiet des öffentlichen Lebens nicht mehr.“ Früher schon ­seien ihnen wichtige Aufgaben­ gebiete genommen worden. Das setze sich jetzt auf den Gebieten der Landwirtschaft und des Handwerks durch die Einrichtung des Reichsnährstandes und der Gewerbekammern fort. „Die Abtrennung der politischen Polizei führt auf die Dauer zu Schwierigkeiten, die Ihnen, Herr Ministerpräsident, bekannt sein dürften.“ Als Ergebnis konstatierte Diels eine „Zerbröselung“ der inneren Verwaltung. Dazu kämen „alle die Schwierigkeiten, die durch die Herrschaft der Partei über den Staat heraufbeschworen worden sind“. Die Bevölkerung habe ohne Zweifel einen Blickpunkt in dem Führer, dem sie nach wie vor unbegrenztes Vertrauen entgegenbringe. Für ihre täglichen Sorgen fehle ihr aber dieser Blickpunkt. Sie stehe im Großen und Ganzen vor einer Überorganisierung, Verbürokratisierung und einem nicht mehr zu übersehenden Wirrwarr des staats- und parteipolitischen Lebens. Dazu kämen die ständigen Klagen, dass die Parteidienststellen, zu denen sie geschickt werden, sachdienliche Auskünfte vielfach nicht geben können. Wenn die Regierungspräsidenten „Bürokraten“ wären, müssten sie wohl 90 % der an sie herantretenden Bittsteller und Beschwerdeführer als unzuständig abweisen. Dies ist der Grund der „Vertrauenskrise“. Hier kann nur ein Mann dem Führer die notwendige Arbeit tun.

Im folgenden Satz suggerierte Diels, dies könne nur Göring selbst sein. Im letzten Absatz ging Diels vehement auf das Thema Personalauswahl ein. Es muss einmal Schluß gemacht werden mit dem Begriff der „politischen Zuverlässigkeit“ als alleinigem Auslöseprinzip für die Stellenbesetzung. Dieser Begriff ist der Tummelplatz für das hündische Mißtrauen geworden, dass der Staatsverwaltung die Arbeit erschwert. Er ist die magna charta für die Auslese von Bonzen an Stelle von Männern, die ihre Pflicht tun wollen und die neben der selbstverständlichen politischen Zuverlässigkeit nur den Anspruch erheben, sachlich einwandfrei zu arbeiten.

Dies war ein schonungslos die Dinge beim Namen nennender, mutiger Bericht, auch wenn Diels in der Regel mit Göring offen reden konnte. Die Ausführungen waren klar in der Analyse, wenn auch nicht frei von Übertreibungen, dabei geschickt auf die Person des Empfängers

277 Teilweise abgedruckt bei Plum, Staatspolizei, S. 213 f, von dort auch die Zitate.

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angelegt. Der Schlussabsatz lässt jedoch keinen Zweifel daran, wie der Bericht zu verstehen ist. Es ging Diels nicht um eine Änderung des Regimes insgesamt oder seiner Ziele. Er wollte eine nach sachlich-­traditionellen Grundsätzen arbeitende Verwaltung von hoher Effizienz, aber innerhalb des Regimes. Eine s­ olche von Parteieinflüssen (weitgehend) freie Verwaltung hätte den Charakter der Diktatur in Richtung auf einen autoritären Staat abgemildert, eine Illusion, der Diels lange nachhing. Der Bericht bewirkte allerdings wenig, insbesondere für die politische Polizei kam er zu spät. Göring übertrug nur wenig später, am 20. November 1934, Himmler seine Vertretung in allen Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unter Ausschluss des preußischen Staatsministeriums, also unter alleiniger Verantwortung ihm gegenüber. Himmler wurde damit de facto Chef der Gestapo.278 Diels bemühte sich seinerseits, wenigstens bei der allgemeinen Polizei die Dinge in der Hand zu behalten. So spielte er eine wesentliche Rolle bei der Ablösung des Kölner Polizeipräsidenten Lingens im Sommer 1935.279 Dieser war ja 1932 bei dem Personalrevirement nach dem Papen-­Putsch Polizeipräsident geworden. Er war nicht Mitglied der NSDAP und hatte trotz aller verbalen Anpassungsversuche gegenüber der Partei und deren Organisationen einen schweren Stand. Dies führte zu Unzuträglichkeiten, w ­ elche seine und die Autorität der Polizei beeinträchtigten. Diels äußerte in einem Schnellbrief an den Reichs- und preußischen Innenminister, dass die „recht erheblichen Ordnungsstörungen in Köln“ den Oberpräsidenten und den Gauleiter Grohé veranlasst hätten, über ihn, den Regierungspräsidenten, eine „schleunige Entscheidung“ über einen sofortigen Wechsel zu empfehlen. Den eigentlichen Grund für eine ­solche Maßnahme umschrieb er etwas gewunden, dass „ein mit der Bewegung eng verbundener Polizeipräsident sowohl in der Verhinderung solcher Störungen als auch in der politischen Behandlung der dann entstehenden Situationen einen größeren Einfluss für eine Beruhigung der Dinge besitzt“ als der derzeitige Behördenleiter. Diels setzte sich wegen des fachlichen Könnens Lingens’ für eine würdige Verabschiedung und eine anderweitige Verwendung ein. Es entsteht der Eindruck, der Oberpräsident der Rheinprovinz, Terboven, der ja zugleich Gauleiter von Essen war, und der Kölner Gauleiter ­seien die eigentlich treibenden Kräfte gewesen. Der Regierungspräsident sollte, und das wollte er auch, das Verfahren selbst in Gang setzen. So wurde am 29. Juli Polizeipräsident Lingens mit sofortiger Wirkung beurlaubt und der Kölner SA-Führer Walter Hoevel zu seinem Nachfolger bestellt. Diels’ Funktion als Regierungspräsident änderte wenig an seiner großen Kontaktfreude. Es hätte auch nicht zu ihm gepasst, sich auf seine Rolle als Leiter einer Verwaltungsbehörde zu beschränken. So pflegte er alte und suchte neue Kontakte. Zu den früheren gehörten s­ olche zu Führungspersönlichkeiten des Regimes als besonders markante Beispiele. Bildlich gesprochen, war Diels zwar nicht mehr Nebendarsteller auf der großen Bühne, wollte aber zumindest mit den Hauptdarstellern noch Pausengespräche führen. So traf er sich am 7. August 1935 in Heiligendamm an der Ostsee mit dem Reichspropagandaminister Goebbels, wie sich aus dessen Tagebüchern ergibt.280 Darin hieß es lapidar: „Zug nach Heiligendamm. Schlechtes Wetter. […] Nachm. viel palavert. Mit Graf Luckner und Diels, der mir Episoden von Lewetzow erzählt.“ Luckner war ein sehr bekannter Seeoffizier. Levetzow, der Diels dienstlich wohl bekannte Berliner Polizeipräsident, war kurz zuvor abgelöst worden. Das Treffen war wohl eher zufällig. Diels hatte zu dieser Zeit Urlaub. Er nutzte jedenfalls die Gelegenheit, den Minister mit Anekdoten zu unterhalten. 278 Ebd., S. 199. 279 Hierzu vgl. Jung, Gleitender Übergang, S. 114 ff. 280 Teil I, Bd 3/I, S. 273.

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Verabschiedung von Lingens und Einführung von Hoevel am 31. Juli 1935 (von links nach rechts: Regierungspräsident Diels, Lingens, Hoevel, Gauleiter Grohé). Aus: Harald Buhlan/Werner Jung: Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozia­lismus. Köln, 2000, S. 115.

Ebenfalls in d ­ iesem Sommer fand die, wie Diels in seinen Memoiren schilderte, letzte Begegnung mit Hitler statt, und zwar in Bad Godesberg.281 Auf die Bitte, ihm seine Sorgen kurz vortragen zu dürfen, habe Hitler geantwortet: „Oh, wenn Sie zu klagen haben, dann will ich Ihnen ausgiebig Zeit zum Klagen geben.“ Er habe den Vorschlag einer Fahrt mit dem „Regierungsdampfer“ (?) gemacht, worauf Hitler erfreut eingegangen sei. Diels habe dann am folgenden Tag über seine Ärgernisse mit der radikalen Kölner Gauleitung und ihrem Kulturkampf berichtet, besonders ausführlich dann über das Neben- und Durcheinander der öffentlichen Ämter der Partei und des Staates, welches zu anarchischen Zuständen führe. Hitler habe sich die Klagen „mit leerem Blick“ angehört und, nach einer langen Pause, erwidert, er wisse das alles, ich hasse diese Bürokratie wie die Pest; aber – es interessiert mich nicht, es darf mich auch nicht interessieren. […] Das sind im Grunde genommen nebensächliche Dinge. Sie haben nichts mit meiner Aufgabe zu tun. […] Das ist die Herstellung Grossdeutschlands, die Sicherung der Macht des Dritten Reiches.

Hitler habe dann „ununterbrochen“ von seiner „Berufung“ gesprochen. Er habe eben alles seiner Aufgabe untergeordnet und die normalen Maßstäbe beiseitegelassen. Mit dieser zutreffenden Einschätzung verschleierte Diels, dass das Gespräch, gemessen an seiner Zielsetzung, ein völliger Misserfolg war. Es ist auch schwer nachzuvollziehen, dass Diels, der angeblich Hitler gut kannte, wirklich geglaubt haben will, ihn für das Thema Bürokratie

281 Lucifer (49), S. 59 ff.

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zu interessieren. Das Gespräch könnte tatsächlich 1935 noch stattgefunden haben, ob auch mit ­diesem Inhalt, ist zweifelhaft. Diels’ Wiedergabe der Worte Hitlers trifft aber dessen Ton. Sein Biograph berichtet von neuen Kontakten.282 Neben denen zu dem Kölner Industriellen Otto Wolff und zu der Gräfin Stenbock-­Fermor, einer ehemaligen Kommunistin, war besonders aufschlussreich der Briefwechsel mit Herbert Göring vom Mai 1935. Er war Bruder des preußischen Ministerpräsidenten und im Reichswirtschaftsministerium tätig. Göring berichtete nach einem Besuch in England von der kritischen Sicht, die seine Gesprächspartner gegenüber dem „Dritten Reich“ geäußert hätten, und schien sie sich zu eigen zu machen. Diels antwortete in zynisch direktem Ton. Sein Brief enthielt offene Kritik an den Zuständen innerhalb des Regimes, ließ ihn aber durchaus als dessen prinzipiellen Anhänger erkennen, und schloss sogar die Deutung nicht aus, ihm sei das Unterdrückungssystem nicht konsequent genug. Möglicherweise wollte Diels aber hauptsächlich erreichen, dass Herbert Göring an seinen Bruder transportiere, sein Briefpartner sei ein verlässlicher Anhänger des NS-Systems, Gegner des politischen Katholizismus und des Kommunismus, wolle aber, dass das System effizienter arbeite. Eine wesentliche Ursache für das Ende von Diels’ Kölner Amtszeit im Sommer 1936 war das schwierige Verhältnis zu Gauleiter Grohé sowie dem Oberpräsidenten Terboven.283 Insbesondere mit Grohé gab es von Anfang an Spannungen. Der Gauleiter hatte den Regierungspräsidenten ja nicht gewollt. Sie waren auch gegensätzliche Persönlichkeiten. Der gedrungene, aus einfachen Verhältnissen eines Hunsrückortes stammende, in der Partei aufgestiegene Grohé und der hochgewachsene, elegant und weltstädtisch auftretende Diels. Immer wieder traten Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen auf. Sie wurden dadurch verschärft, dass Grohé, der als starker Gauleiter galt, einer der acht unter seinen dreißig „Kollegen“ war, die kein staatliches Amt bekleideten. Diese Gauleiter „konnten ihre Aufgabe […] nur darin sehen, die Ausübung der Staatsmacht mit Hilfe der Partei zu ergänzen oder der staatlichen Verwaltung gegenüber […] eine Art Kontrollfunktion zu beanspruchen.“284 Hinzu kam eine geringe Meinung Diels’ von den Kölner Nationalsozia­listen überhaupt. Das Reservoir, aus dem die Partei schöpfte, waren mehr als andernorts die entwurzelten Schichten, aus denen die Abtrünnigen der K ­ irche den radikalsten Teil stellten. Zum Unterschied von ande285 ren Landesteilen […] traf man in Köln durchgängig schlechte Elemente in der Parteileitung.

Vor d ­ iesem Hintergrund wurde Diels am 24. Juni 1936 beurlaubt. Sein Biograph hat zu den Vorgängen einige erhellende Schriftstücke ermittelt.286 Nach einer Notiz des Diplomaten und späteren Widerstandkämpfers Ulrich von Hassell sollte Diels wegen seiner Streitigkeiten mit dem Oberpräsidenten „gänzlich abgesetzt“ werden; Hitler habe sich aber für seinen Verbleib im Staatsdienst ausgesprochen. Er hatte ihm die Kritik, die er an den Zuständen in der Verwaltung geäußert haben will, nicht übel genommen. Die Hintergrundkenntnisse von ­Hassells erklären sich aus dessen persönlicher Verbindung zu Göring. Göring intensivierte sie seit ­seinem Rombesuch 1933, wo von Hassell damals deutscher Botschafter war.

282 Vgl. zu allem Folgenden Wallbaum, S. 186 ff. 283 Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 126 f; vgl. ferner August Klein, Köln-­Festschrift, S. 113. 284 Hüttenberger, Die Gauleiter, S. 80. Dort auch S. 214, Kurzbiographie von Grohé. 285 Lucifer (49), S. 300. 286 Vgl. zu den Gründen für die Ablösung in Köln Wallbaum, ebd., S. 192 ff.

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In Diels’ Personalakte, die der Biograph in Moskau einsehen konnte, ist ein interministerieller Schriftwechsel enthalten. Danach soll Diels selbst um seine „Amtsenthebung“ gebeten haben. Gemäß einem Schreiben vom 26. Juni, also zwei Tage nach seiner Beurlaubung, legte er Wert darauf, „dass in den einschlägigen Veröffentlichungen der Hinweis nicht unterbleibt, dass meine Beurlaubung, beziehungsweise meine Dispositionsstellung auf meinen Antrag erfolgt ist.“ Er wünschte also, wenn es schon sein musste, einen „starken Abgang“. Diels strebte konkret eine Tätigkeit im Reichswirtschaftsministerium an. Als sich dies nicht sogleich realisierte, richtete er am selben 26. Juni, wie sich aus seinem Nachlass ergibt, einen Brief an Heydrich [!], in dem er eine Artikelserie „Der deutsche Sieg über den Kommunismus und die Arbeit der Geheimen Staatspolizei“ ankündigte. Die einzelnen Artikel werde er ihm natürlich vorlegen. Zugleich bat er „möglichst im geheimen Auftrag des SD“ für drei Wochen nach Frankreich entsandt zu werden. Wenn er sich ausgerechnet an seinen angeblich ärgsten Widersacher wandte, beweist dies, dass er um jeden Preis zumindest eine übergangsweise Beschäftigung suchte und trotz aller gegenteiligen Beteuerungen wieder geheimdienstlich arbeiten wollte. Eine Antwort Heydrichs ist nicht belegt. Diels’ persönliche Lebensumstände waren im Sommer 1936 alles andere als angenehm. Seine Ehe mit Hildegard Mannesmann war geschieden worden. Bekannt war eine Affäre mit einer Schauspielerin, die ein Kind von ihm bekam.287 Bestätigt wird dies durch SS- Personalunterlagen des Bundesarchivs, ein Ehelichkeitsanerkenntnis einer 1936 geborenen Tochter Korona aus dem Jahr 1943 sowie ein Scheidungsurteil, nach dem die Ehe aus Verschulden der Ehefrau (!) geschieden worden war. Das alles war nicht geeignet, sein Ansehen in dem stark katholisch geprägten Köln zu erhöhen, und spielte für seine Ablösung wohl auch eine Rolle. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass er dadurch als Gesprächspartner für das Erzbistum diskreditiert war. In seiner Personalakte ist weiter ein Schreiben vom Dezember 1937 enthalten, in dem er um eine finanzielle Beihilfe bat. Er begründete diesen Antrag mit den besonders hohen Aufwendungen, die er als Regierungspräsident in Köln gehabt habe. Wegen der Kosten seiner Scheidung habe er nicht, wie geplant, seine Schulden abtragen können. Diels wurde bereits wenig später aus seinen Schwierigkeiten befreit. Der Reichs- und preußische Innenminister versetzte ihn mit Erlass vom 9. Juli „mit Zustimmung des Herrn preußischen Ministerpräsidenten“ als Regierungspräsident nach Hannover.288 Diels’ Amtszeit in Köln von etwas über zwei Jahren war immerhin doppelt so lang wie die seines Vorgängers zur Bonsen. Sie machte aber erneut die Kurzlebigkeit der Personalpolitik der nationalsozia­listischen preußischen Innenverwaltung deutlich. Zusammen mit der Anfang des Jahres erfolgten Ablösung seines Trierer Kollegen, die auf Betreiben des Koblenzer Gauleiters Simon erfolgt war, wurde auch hier der große Einfluss der Partei wieder deutlich. Im „Ministerial-­blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern“ wurde die Personalmaßnahme in aller Schlichtheit mitgeteilt.289 Diels’ Bitte um einen Hinweis, dies sei auf seinen Antrag hin geschehen, war nicht entsprochen worden. Das war auch nicht üblich.

287 Vgl. ders., ebd., S. 192 mit FN 56. Zum Folgenden BA-Berlin, SS-Führerpersonalakte R 9361 III 521240. 288 Erlassdatum bei Schrulle, ebd., S. 639; Wortlaut bei Wallbaum, ebd., S. 195. 289 RMBliV. 1936, Sp. 935.

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3.8 Anderer Bezirk, andere Zustände: Regierungspräsident in Hannover 1936 – 1942 Am 15. Juli trat Diels seinen Dienst an; drei Tage später wurde er offiziell in sein Amt eingeführt. Der Regierungsbezirk Hannover bildete mit fünf weiteren Bezirken die gleichnamige Provinz. Der Bezirk setzte sich zusammen aus den kreisfreien Städten Hannover und Hameln, sowie neun Landkreisen. Er bildete den Westteil des Parteigaues Südhannover-­Braunschweig. Diels’ Beurlaubungszeit währte also nur fünfzehn Tage. Seine rasche Versetzung nach Hannover hatte auch damit zu tun, dass die Behördenleiterstelle bereits seit April 1936 vakant war. Der Vorgänger, Ulrich Stapenhorst, war in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden, nachdem er sich geweigert hatte, der NSDAP beizutreten.290 Die Mentalität der hannoverschen Bevölkerung war natürlich anders als die der rheinischen. Diels berichtete später sogar, H ­ itler habe die Stadt ungern besucht.291 Denn dessen Art, sein Auditorium zu „versportpalasten“, habe dort mehr Zeit beansprucht. Vor einem Abflug zu einer großen Rede in Hamburg habe er nämlich gesagt: „Es wird spät werden heute. In Hamburg und Hannover brauche ich eine Stunde über die normale Zeit, bis ich ‚sie‘ soweit habe.“ Auch die konfessionellen Verhältnisse unterschieden sich von denen in Köln. Er hatte es nicht mehr mit einer trotz der kirchenfeindlichen Tendenzen des Regimes immer noch starken und machtbewussten katholischen ­Kirche zu tun; die Bevölkerung war ganz überwiegend evangelisch und Hannover Sitz einer lutherischen Landeskirche. Die anderen beiden Personen im Machtdreieck mit dem Regierungspräsidenten waren der Gauleiter Bernhard Rust und der Oberpräsident der Provinz Hannover Viktor Lutze.292 Beide waren durch die anderen Ämter, die sie bekleideten, sehr viel stärker an andere Orte gebunden und deshalb nur wenig in Hannover präsent. Rust war Reichs- und preußischer Erziehungsminister, und Lutze seit der „Röhm-­Aktion“ am 30. Juni 1934 Stabschef der SA. Deren Führung hatte ihren Sitz aber in München. Dieser Umstand war geeignet, den internen Konkurrenzdruck zu mindern und Diels die Aufgabe zu erleichtern, zumal er mit dem jeweiligen Vertreter durchaus zurechtkam. Aber auf Dauer sollte sich das Machtdreiecks-­System als zunehmend anfällig für Kompetenzkonflikte erweisen. Diels setzte sich als Regierungspräsident energisch für die Belange der Stadt Hannover ein. Dafür verband er sich anfangs mit dem Oberbürgermeister Arthur Menge, einem bürgerlich-­ nationalen Kommunalpolitiker noch aus der Weimarer Zeit. Als Beispiel ist der Plan zu n ­ ennen, eine „Reichsakademie für BDM-Führerinnen“ in der Stadt zu etablieren. Dies scheiterte jedoch; Standort der Akademie wurde das konkurrierende Braunschweig. Die Kooperation mit dem Oberbürgermeister gründete jedoch nicht tief. Als Menge 1937 eine zweite Amtszeit anstrebte, wusste Diels das zu durchkreuzen; sei es mit Rücksicht auf die Partei, sei es, dass er neben sich keine starke Persönlichkeit dulden mochte. Diels selbst, der ja bereits seit dem Herbst 1933 einen SS-Ehrenrang bekleidete, war am 1. Mai 1937 schließlich doch der NSDAP beigetreten, wahrscheinlich weniger aus eigenem Antrieb, denn auf äußeren Druck hin. Das Geschick seines Vorgängers Stapenhorst war eine Warnung. Der Regierungspräsident betrieb eine intensive Standortpolitik zur Industrieansiedlung im Raum Hannover. Dabei knüpfte er Kontakte zu zahlreichen Industriellen. Diese Gesellschaftsschicht war 290 Schrulle, ebd., S. 696. 291 Lucifer (49), S. 43; dort auch das folgende Zitat. 292 Zum Folgenden siehe Wallbaum, ebd., S. 195 ff.

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ihm von seiner ersten Ehefrau her hinreichend bekannt. Aus solchen Kontakten erwuchsen auch persönliche Freundschaften, die ihm nach dem Krieg nützlich sein sollten. Zu diesen Freunden zählte der Fabrikant Otto Benecke. Er erklärte im Spruchgerichtsverfahren, Diels habe sich regelmäßig in seinem Hause mit Industriellen getroffen. Ihm sei besonders in Erinnerung geblieben, dass dieser sich bei der ersten Zusammenkunft über den Machtkampf ­zwischen Partei und Verwaltung geäußert und geradezu eine feindliche Einstellung gegenüber den Prinzipien der Partei gezeigt habe. Wegen der engen Verbundenheit z­ wischen Diels und Benecke sowie der Zweck­ bestimmung von dessen Äußerung dürfte er jedoch übertrieben haben. Wahrscheinlicher ist, dass Diels’ Kritik sich nicht prinzipiell gegen das Regime wandte, sondern, wie früher schon, gegen seine Ineffizienz. Auf die Dauer konnte jedoch eine derartige Kritik zu einer inneren Distanzierung vom Regime führen. Für eine ­solche mögliche Entwicklung könnte sprechen, dass Diels nach der Erklärung eines früheren Mitarbeiters, wiederum im Spruchgerichtsverfahren, vor Entscheidungen bewusst davon abgesehen habe, das Einvernehmen mit der Gauleitung oder Kreisleitung anzustreben.293 Zudem will dieser Mitarbeiter bei Diels einen „SS-feindlichen Geist“ bemerkt haben. Diese Aussage ist viel zu pauschal, als dass sie so zutreffen könnte, und auch im Übrigen wenig glaubhaft. Wiewohl die häufige Abwesenheit des Gauleiters etwas Spielraum bot, wird es zumindest in Entscheidungssituationen von einigem Gewicht unvermeidbar gewesen sein, sich mit der Gauleitung abzustimmen. Der angeblich „SS-feindliche Geist“ hat jedenfalls Diels nicht gehindert, weitere SS-Ehrenränge von Himmler entgegenzunehmen. Am 20. April 1939, dem fünfzigsten Geburtstag Hitlers, wurde er SS-Oberführer. Dieser SS-Rang war z­ wischen dem militärischen eines Obersten und eines Generalmajors einzuordnen. Auf der anderen Seite versuchte er nach dem Krieg, den Oberpräsidenten und SA-Stabschef Lutze als SS-Gegner darzustellen und ihm damit den Anschein von Widerständigkeit zu verleihen. Dieser habe einen „radikalen Hass“ gegen die SS gehabt und „die SS-Führer regelmäßig als Mörder“ bezeichnet. Er habe auch nicht gewollt, dass die Regierungspräsidenten der Provinz SS-Uniformen trugen. Er habe nach seinem Eindruck Aufgaben gesucht, um seiner enttäuschten SA eine Existenzberechtigung zu geben. Diese Äußerungen beweisen, dass Diels Lutze zu ­diesem Zeitpunkt immer noch wohl gesonnen war und ihm helfen wollte. Sie sind ein weiteres Beispiel seiner außerordentlichen Begabung zu Schönfärberei. Lutzes Hass auf die SS entsprang den brutalen internen Machtkämpfen. Zum Tragen der SS-Uniform ist auf Fotos hinzuweisen, ­welche den Regierungspräsidenten von Hannover mit dieser zeigen. Schließlich war Lutze, ein treuer Gefolgsmann Hitlers, als neuer Stabschef maßgeblich daran beteiligt, dass die SA nach dem 30. Juni 1934 organisatorisch umgestaltet und in der Mitgliederschaft deutlich verkleinert wurde. Auf diese Weise war sie „zur Veteranenorganisation der alten Kämpfer und zum politisch einflusslosen Wehrsportverband abgesunken“.294 Eine „Beschäftigung“, schrecklich zu sagen, fand die SA bei den Gewalttaten und Ausschreitungen der Reichspogromnacht im November 1938, an denen sie in einem großen Ausmaß beteiligt war. Diels’ Verhalten angesichts der Judenverfolgung während seiner Amtszeit in Hannover ist später in die Nähe von Widerständigkeit gerückt worden. Es war aber überaus ambivalent, wie schon als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes. Das rassenideologische Prinzip, dass jüdische Menschen nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörten, stellte er nicht in Frage. Er soll aber in dieser Zeit, in der die antisemitischen Maßnahmen zunehmend verschärft wurden,

293 Zitiert nach Wallbaum, ebd., S. 201 ff. 294 Longerich, Die braunen Bataillone, S. 220 ff. Zitat S. 224.

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zahlreichen Juden geholfen, sie beispielsweise in der Behörde empfangen und vor Verhaftung bewahrt haben. Auch dem jüdischen Altersheim und dem jüdischen Krankenhaus habe er Unterstützung gewährt. Alle diese Hilfsmaßnahmen sind nicht sicher belegt. Es handelte sich ausnahmslos um Aussagen von Freunden und Mitarbeitern in der Nachkriegszeit. Aber ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit wird man ihnen zubilligen können. Diels war ja Dissimilant, also Gegner der Assimilation von Juden. Aber wie er als Gestapochef einzelnen politisch Verfolgten geholfen hat, so wohl auch als Regierungspräsident einzelnen verfolgten Juden. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 soll Diels mit einem Freund zu der brennenden Synagoge gefahren sein. Dieser war mit seiner Frau „Zeuge der Erregung und scharfen Ablehnung d ­ ieses Verbrechens seitens Diels.“295 Gegenmaßnahmen, wie die städtische Feuerwehr zur Bekämpfung des Brandes zu veranlassen, ergriff der Regierungspräsident allerdings nicht. Dafür bezichtigte er nach dem Krieg den zuständigen Inspekteur der Polizei für Braunschweig und Hannover des „Abbrennens“ der Synagoge. Eine wiederum ganz andere Seite hatte Diels gezeigt, als er wenige Wochen vorher einen Brief an den Oberbürgermeister von Hannover zur Verwahrlosung jüdischer Friedhöfe schrieb. Dies könne daran liegen, dass in einzelnen Gemeindebezirken keine jüdischen Einwohner mehr vorhanden s­ eien, „andererseits aber der Jude der Grabpflege völlig abhold ist. Vom nationalsozia­listischen Standpunkt gesehen ist […] zur Duldung derartiger verwahrloster jüdischer Friedhöfe kein Raum.“ Diels gebrauchte hier einen erschreckenden NS-Jargon und verkannte die jüdische Tradition, ­welche bei diesen Gedenkorten bewusst von Grabpflege absieht. Der Regierungspräsident wollte dann alle jüdischen Friedhöfe einebnen lassen, auf denen in den vierzig Jahren zuvor niemand mehr beerdigt worden war. Durch den Kriegsausbruch 1939 verstärkte sich die Tendenz zur Parallelverwaltung weiter. Generell wurden früher oder später die Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren bestellt. Zwar war ausgerechnet in Hannover Diels dafür vorgesehen; dies zerschlug sich aber. Die herrschende Praxis bewirkte wiederum einen Bedeutungsverlust der Ober- und Regierungspräsidenten. Es gab sogar Pläne, die Regierungspräsidenten überhaupt abzuschaffen. Diels’ Sicht auf diese Entwicklung brachte er im November ­dieses Jahres gegenüber Ulrich von Hassell zum Ausdruck. Dieser gehörte, wie oben erwähnt, zum Bekanntenkreis Hermann Görings. 1937 als Botschafter in Rom abberufen, unterhielt von Hassell in den folgenden Jahren intensive Kontakte mit Ilse Göring, einer Schwägerin, die er ebenfalls seit längerem kannte. Dies wollte er auch dazu ­nutzen, mäßigend auf Göring einzuwirken. Der Kontakt mit dem Diplomaten dürfte über Ilse Göring geknüpft worden sein, w ­ elche Diels sicher nicht unbekannt war. Er sollte sie einige Jahre später in zweiter Ehe heiraten. Am 1. November notierte von Hassell: Morgens besuchte mich der „Regierungspräsident“ Diels (früher Gestapo, dann Köln, jetzt Hannover), ein undurchsichtiger aber sicher kluger Mann. Auch sein Besuch ein ­­Zeichen des niedrigen Barometerstandes. Er beschrieb den geradezu grauenerregenden Zustand des Staatsapparates, den das Dritte Reich durch das Nebeneinander von Partei und Staat und die Vielzahl der „Stellen“ überhaupt in d ­ ieses Chaos gebracht hat. Solch Apparat könne die große Probe eines Krieges nicht bestehen. […] Alles das habe er Göring stundenlang dargelegt, aber er habe 296 kaum Hoffnung auf Änderung. Diese Leute wissen ja im Grunde gar nicht, was ein Staat ist. 295 Wallbaum, ebd., S. 207, zum Vorigen S. 203 ff. Das wörtliche Zitat auf S. 209. 296 Tagebücher, S. 137 f.

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Diels’ wie üblich dramatisch formulierte Sicht war durchaus zutreffend. Göring hatte eben für eine rational organisierte Staatsverwaltung wenig übrig. Das Staatsverständnis des Nationalsozia­ lismus war nun einmal rein instrumentell. Bis in die ersten Kriegsjahre war Diels’ Zusammenarbeit mit Gauleitung und Oberpräsidium insgesamt ohne größere Konflikte verlaufen. Gleichwohl gab es bei Diels gewisse Anzeichen von Amtsunzufriedenheit wie häufige Krankmeldungen, spezielle Urlaubsanträge und lange Klagen über zu geringe Besoldung.297 Dafür gab es noch mehr Anlass, als sich das verhältnismäßig gute Einvernehmen mit Gauleitung und Oberpräsidium durch einen doppelten Personalwechsel änderte. Gauleiter Rust und Oberpräsident Lutze wurden von ihren Ämtern entbunden; ihrer beider Doppelbelastung sollte nicht fortbestehen. Hartmann Lauterbacher, der bereits im August 1940 stellvertretender Gauleiter geworden war, wurde im Dezember zum Gauleiter des Gaues Südhannover-­Braunschweig bestellt und im April 1941 zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover ernannt. Später wurde er auch noch Reichsverteidigungskommissar. Er war neun Jahre jünger als Diels, überaus karrierebewusst und energisch. Im November 1933 hatte er sich als HJ-Obergebietsführer bei Auseinandersetzungen z­ wischen seiner Organisation und der katholischen Jugend in Köln durch die selbstbewusste Äußerung hervorgetan, was die Polizei sage, gehe die HJ nichts an (vgl. Kapitel 2). Der Zweck dieser Personalmaßnahmen lag auf der Hand. Die vergleichsweise „gemäßigten“ Zustände in Hannover sollten durch die Zusammenfassung der Ämter des Gauleiters und des Oberpräsidenten in der Hand eines tatkräftigen Mannes ein Ende haben. Die „neue Energie“ zeigte sich im Frühjahr 1941 durch die Pläne, die Juden Hannovers in Barackenlager am Stadtrand abzuschieben. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich dies nicht so rasch verwirklichen ließ, wie Gauleiter und Regierungspräsident angenommen hatten. Lauterbacher fand sich damit jedoch nicht ab; er betrieb nun eine Maßnahme, die später als „Aktion Lauterbacher“ bezeichnet wurde. Er setzte im September 1941 durch, dass mehr als tausend in Hannover verbliebene Juden schlagartig ihre Wohnungen aufgeben mussten und in nur sechzehn „Judenhäusern“ auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. „Judenhäuser“ gab es bekanntlich schon früher, zum Beispiel in Dresden bereits 1940. Die Art und Weise der Einrichtung in Hannover zeigte aber eine besondere Rücksichtslosigkeit des immer wieder den „Kampf gegen das Weltjudentum“ propagierenden Gauleiters. Bei einer Vorbesprechung ­zwischen Gauleitung und Stadt, an welcher auch Diels teilgenommen hatte, hatte dieser lediglich darauf verwiesen, „die beabsichtigte Zusammenlegung der Juden [sei] nicht Aufgabe der Kommunalverwaltung“. Mit ­diesem formalen Argument drang er jedoch nicht durch. Solche Argumente mögen in einer Diktatur weniger riskant sein als inhaltliche, die den Verdacht auf Gegnerschaft erzeugen können, sie lassen sich aber auch leichter beiseitewischen. Ein Brief des Regierungspräsidenten an den Oberpräsidenten vom 8. Dezember 1941 könnte als Beweis gedeutet werden, nicht immer dessen Linie einhalten zu wollen. Er sprach aber eher für Diels’ zwiespältige Haltung in „Judenangelegenheiten“. Es ging um einen Erlass des Reichsverkehrsministers zu einer antisemitischen Maßnahme im Nahverkehr. Diels schrieb, er beabsichtige nicht, „weitere besondere Bestimmungen über die Benutzung der Verkehrsmittel durch Juden zu erlassen, zumal die Mehrzahl der hier wohnenden Juden demnächst abgeschoben wird.“ Um es zynisch auszudrücken, Diels wollte vor der Abschiebung Juden nicht noch zusätzlich schikanieren. Er wusste also von den geplanten Deportationen und könnte geahnt haben, was weiter mit den Juden geschehen würde.

297 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 212 f. Dort auch zum Folgenden, mit Zitat aus einem Brief Diels’.

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Die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit z­ wischen Lauterbacher und Diels bestanden also fort. Lauterbacher schrieb in seinen Nachkriegserinnerungen ebenso selbstbewusst wie unwahrhaftig: „Wir mochten uns nicht sonderlich, das hatte viele Gründe. In Hannover klappte die Zusammenarbeit mit ihm – ich war ja sein Oberpräsident – leidlich gut.“298 Tatsächlich wollte Lauterbacher schon bald nach seinem Amtsantritt Diels loswerden.299 Bei einer Besprechung mit Vertretern des Reichs- und preußischen Innenministeriums erklärte er laut Protokoll, Diels auf die Dauer nicht als Regierungspräsidenten behalten zu wollen. Fachlich sei er tüchtig, aber er wisse noch nicht, ob er charakterlich einwandfrei sei; er zweifle, ob Diels immer zu schweigen verstehe. Im Juli, wenige Wochen nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion, erhielt Lauterbacher dann ein Signal aus dem Reichs- und preußischen Innenministerium, Diels sei als Generalkommissar für eine große Stadt im Osten vorgesehen, die aber auch noch nicht „von unseren Truppen besetzt ist“. Selbst bei einer Einzelpersonalie wurde erkennbar, wie groß während der noch siegreichen Kriegsphase inzwischen die Hybris des Regimes geworden war. Nun wandte sich auch Karl Kaufmann, Vertrauter Diels’ und Reichsstatthalter von Hamburg, brieflich an den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg und setzte sich nachdrücklich dafür ein, ihn als „Kommissar für Petersburg [Leningrad]“ vorzusehen, wie vom Reichsinnenministerium vorgeschlagen. Die Hybris war also noch zu steigern, auch bei Diels selbst. Er hatte sich offenbar Kaufmanns bedient, um sich „für Petersburg ins Gespräch [zu] bringen“, wie eine Kopie des Briefes in seinem Nachlass belegt. Die Stadt wurde zwar Opfer einer langen und schrecklichen Belagerung durch die Wehrmacht, ohne jedoch eingenommen zu werden. Aber auch ein Einsatz Diels an anderer Stelle in den besetzten Ostgebieten kam nicht zustande. Die Akten geben dazu keinen näheren Aufschluss. Diels verfolgte nun die Strategie, seinen Wechsel zu betreiben, aber die Stelle in Hannover auf jeden Fall vorerst beizubehalten. Der Oberpräsident stellte sich allerdings in einem Schreiben an das Reichs- und preußische Innenministerium gegen Diels Idee, „von seinem neuen Standort aus den Regierungsbezirk Hannover jeweils über Sonnabend und Sonntag [zu] leiten“. Er bat darum, „Diels möglichst umgehend abzulösen“. Das wiederum veranlasste Diels zu einem persönlichen Brief an den Reichs- und preußischen Innenminister, in dem er die Meinung vertrat, eine vorübergehende Vakanz „bei den einfach gelagerten Verhältnissen des Regierungsbezirks“ müsse doch angängig sein. Couragiert und zugleich beinahe sarkastisch fuhr er fort: Ich würde sogar bei der hier eingerissenen Methode, in alle, aber auch alle Kleinigkeiten seitens des Herrn Oberpräsidenten und Gauleiters hineinzuregieren, eine vorübergehende Nichtbesetzung der Stelle im Interesse einer Beruhigung der hiesigen Lage für sehr erwünscht halten. Wenn vorübergehend kein Partner da ist, […] an dem man sich reiben kann, so kann das nur von Vorteil sein.

Lauterbacher setzte sich jedoch durch, und Göring schrieb im Februar 1942 in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan an den Reichsinnenminister: Ich bitte, mir den Regierungspräsidenten Diels für eine besonders wichtige, im Konzern der Reichswerke „Hermann Göring“ liegende Stellung sofort freizugeben. Ich empfehle, Herrn Diels vorerst ohne Gehalt auf ein Vierteljahr zu beurlauben. Da Regierungspräsident Diels auch in 298 Lauterbacher, Erlebt und mitgestaltet, S. 255 f. 299 Vgl. dazu und zum Folgenden: Wallbaum, ebd., S. 214 ff; von dort auch die wörtlichen (Brief-)Zitate. Der Personalabteilungsleiter des Ministeriums wird hier unbegreiflicherweise als Nachfolger von Rudolf Heß bezeichnet.

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seiner neuen Stellung im Reichswerke-­Konzern wichtige allgemeine Interessen wahrnehmen wird und seine Berufung meinem Wunsche entspricht, bitte ich, ihn nach Ablauf der Beurlaubung unter Gewährung der zuständigen Bezüge zur Disposition zu stellen.

Das war die Lösung; Diels wurde beurlaubt und wechselte am 15. März 1942 zu den Reichswerken. Im August 1942 wurde er dann in den Wartestand versetzt.300 Schon seit September 1941 hatte er sich bemüht, in der Nähe seines Dienstsitzes, der ihm wohl ans Herz gewachsen war, privat ansässig zu werden. Erst nach einigen Monaten stellte sich der Erfolg ein. Im Frühjahr 1942 erwarb er von der Stadt Hannover, deren Beschluss Göring durch seinen Stabsleiter nachhelfen ließ, einen ehemaligen Bauernhof in Twenge.

3.9 Die schützende Hand des „Familienoberhaupts“: Binnenschifffahrtsverwaltung, Verhaftungen, Kriegsende Göring hatte also erneut seine Hand über Diels gehalten, womöglich etwas widerwillig, weil es zum wiederholten Male notwendig erschienen war. Denn es war nicht ungefährlich, dass Diels auch in Hannover in einen Dauerkonflikt mit dem Oberpräsidenten und Gauleiter geriet. Das Verhalten Görings war aber sicherlich auch dadurch bestimmt, dass Diels sich anschickte, Familienmitglied zu werden.301 In zweiter Ehe wollte er Görings Schwägerin Ilse heiraten, die Witwe seines älteren, 1932 gestorbenen Bruders Karl. Dieser war in Hannover Polizeibeamter gewesen. Sie war zudem eine Halbnichte des Ministerpräsidenten. Ihre ­Mutter entstammte der ersten Ehe von dessen Vater. Einige Züge der Persönlichkeit Ilse Görings finden sich in den Aufzeichnungen des Diplomaten Ulrich von Hassell, der, wie erwähnt, in den Jahren 1938 bis 1940 in enger Verbindung mit ihr stand. Er schrieb im September 1938: „Sie war verständig im Urteil wie immer und voller Sorge über die Geistesart Hitlers“; und im Dezember desselben Jahres: „Die arme Trägerin des Namens G[öring] ist sehr geschlagen durch die Ereignisse und in Angst um Inneres und Äußeres ihres Schwager-­Onkels.“302 Weiter notierte er, dass sie ihren Sohn konfirmieren ließ, also nicht kirchenfern gewesen sein konnte, und Anfang 1940, „dass im Kreise Göring der Gedanke leise vordringt, man müsse nötigenfalls Hitler abschreiben und unter der Flagge Göring zum Frieden kommen.“ Als Träger eines SS-Ehrenrangs musste Diels ein Heiratsgesuch an den Reichsführer SS stellen. Es währte bis Dezember 1942, bis Himmler geruhte, dem Gesuch zu entsprechen. Der naheliegende Grund für das lange Zögern war, dass Diels durch die Verwandtschaft mit Göring für die SS (fast) unangreifbar wurde. So wurde die Ehe erst Anfang 1943 geschlossen. Sie war keine reine Liebesheirat; das Motiv, dem umtriebigen Bräutigam einen Schutz zu gewähren, spielte ebenfalls mit. Die „Reichswerke Hermann Göring“ waren ein riesiger staatlicher Konzern, der aus zahlreichen Einzelfirmen verschiedener Branchen bestand. Einen Schwerpunkt bildeten Unternehmen der Stahlindustrie mit den Standorten Salzgitter und Linz. Die Reichswerke gehörten zum „Imperium“ Görings als Beauftragten für den Vierjahresplan und waren ein spezifisches 300 Vgl. Urteil des VG Hannover vom 9. Dezember 1959, S. 2. Die entsprechende Datierung „z[ur] D[isposition] gestellt“ bei Romeyk, Leitende Verwaltungsbeamte, S. 412 f trifft nicht zu. 301 Vgl. im Einzelnen Wallbaum, ebd., S. 169 ff. Ilse Göring war nicht die Schwester Hermann Görings, wie es mehrfach heißt. Vgl. Lebenslauf im Fragebogen RuS, BAB, R 9361 III 30765. 302 Von Hassell, ebd., S. 51 und S. 72; zum Folgenden S. 131 und S. 157.

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Instrument nationalsozia­listischer Wirtschaftslenkung. Vor Kriegsausbruch dienten sie der forcierten Aufrüstung, im Krieg der Rüstungswirtschaft. Diels wurde nun in der Binnenschifffahrts-­AG der Reichswerke eingestellt und soll sich fortan „Generaldirektor“ genannt haben. Göring wollte seinem neuen Verwandten in den Reichswerken nicht nur eine neue Tätigkeit verschaffen; er wollte diesen auch Diels’ Kontakte zur Industrie nutzbar werden lassen. Die Kontakte bestanden zu Otto Wolff und auch zur Firma Mannesmann. Diels hatte sich schon seit seiner ersten Eheschließung für die wirtschaftlichen Interessen von Mannesmann eingesetzt, und engagierte sich auch nach seiner Scheidung weiter immer wieder für die Firma, bis in die Kriegsjahre hinein. Aber er sollte auch, so die Vorstellung Görings, dem mächtigsten Manager des Konzerns, Paul Pleiger, Grenzen setzen. Allerdings nahm Görings Nimbus als „Wirtschaftsführer“ ab. Der seit 1942 amtierende Rüstungsminister Albert Speer spielte zunehmend eine stärkere Rolle. Diels’ Tätigkeit bei der Binnenschifffahrts-­AG der Reichswerke war vielgestaltig.303 Sie reichte von der Kontrolle der Transportwege auf Kanälen und Flüssen über Ausbaupläne für die Donau bis zur Verwaltung der Schwarzmeer- und Dnjepr-­Werften. Für kurze Zeit hatte Diels auch das Amt eines „Reichskommissars für das Transportwesen auf dem Schwarzen Meer“ inne. Dieser überspannte Titel lässt den Größenwahn erkennen, der das Regime noch zu Beginn seines militärischen Niedergangs beherrschte. Die mit seiner Tätigkeit verbundenen zahlreichen Reisen und die vielen Kontakte, die er weiter pflegen oder neu aufbauen konnte, kamen seinem Arbeitsstil entgegen. Wieder stellte er seine Fähigkeit unter Beweis, überaus agil auf unterschiedlichen Feldern präsent zu sein. Bei seinen Inspektionsreisen in den von deutschen Truppen eroberten Gebieten Osteuropas erfuhr er allerdings auch von den schrecklichen Gräueltaten, die dort vor allem von der SS verübt worden waren. Er sagte darüber in Nürnberg aus, deutete Gefühle der Mitschuld an, aber keine weiteren Konsequenzen.304 Mit dem bald darauf verstärkt einsetzenden Rückzug der Wehrmacht im Osten verschlechterte sich aber auch die Lage der Gesellschaft. Das Jahr 1943 wurde gerade noch als erfolgreich dargestellt. Im Folgejahr, als Südosteuropa zum Kriegsschauplatz wurde, konnte die Binnenschifffahrtsverwaltung ihre Geschäfte nur noch eingeschränkt betreiben, und es begann ein wirtschaftlicher Niedergang. In ­diesem bewegten Jahr war Diels nur noch zeitweise für die Gesellschaft tätig. Die Darstellung ­dieses Zeitabschnitts in der Biographie ist sehr detailliert. Sie beruht durchweg auf Aussagen Diels’, seiner Frau und mehrerer Zeugen im Spruchkammerverfahren, auch auf Diels’ Aussagen vor Vernehmern in Nürnberg. Sie sind deshalb mit großer Vorsicht zu bewerten. Seine kritischen Äußerungen bezogen sich nicht mehr nur auf die inneren Zustände des Regimes, sondern begannen, sich gegen d ­ ieses selbst zu wenden. So soll er die Behandlung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern kritisiert und einen Beschwerdebrief an Fritz Sauckel gerichtet haben, dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Ob er damit Erfolg hatte, ist sehr zweifelhaft. Ein Brief an die „oberste Seekriegsführung“ mit Kritik an deren Maßnahmen soll ihm die Drohung mit einem Kriegsgerichtsverfahren eingetragen haben. Schließlich habe er auch Beschwerden über Hinrichtungen von Arbeitern der Schwarzmeer-­Werften weitergeleitet.

303 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 224 ff, wo sie im Einzelnen dargestellt ist. 304 Vgl. dens., ebd., S. 244 ff.

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Diese und andere Vorfälle, durch Denunziationen transportiert, führten schließlich Ende 1943 zu einem Bruch mit Göring. Diels’ Angabe, Göring habe im August 1943 seine Entlassung aus den Reichswerken befohlen, ist allerdings unzutreffend; sie erfolgte erst sehr viel später. Zutreffend dürfte aber sein, dass Diels Ende 1943 auf Görings Befehl als Soldat eingezogen werden sollte.305 Eine ärztliche Untersuchung habe jedoch seine Untauglichkeit erwiesen. Daraufhin habe Göring ihm befohlen, ein Sanatorium aufzusuchen. Diels begab sich nach eigener Angabe dann in die Schweiz, nach Lugano. Er will sich dort ausgerechnet mit seinem Intimfeind Gisevius, aber auch mit Emigranten getroffen haben. Anfang 1944 sei er aus der Schweiz ausgewiesen worden und habe sich dann bis März im Sanatorium „Bühlerhöhe“ im Nordschwarzwald aufgehalten. Danach sei er in seiner Berliner Mietwohnung, wo er seine Papiere habe ordnen wollen, von der Gestapo verhaftet worden; sein Aufenthalt in der Schweiz sei Desertion gewesen. Nach dreitägiger Haft sei er auf Bitten (!) Görings wieder freigelassen worden. Nach der Aussage eines Mitarbeiters soll es aber über längere Zeit erforderlich gewesen sein, mithilfe von Diels’ Sekretärin den äußeren Schein zu wahren, er sei weiter im Dienst. Das kann sich aber auch auf die zweite Jahreshälfte beziehen. Dies alles wirkt verwirrend, zumal wegen des unklaren Zeitablaufs. Nur Diels führt den Aufenthalt in der Schweiz an. Außer dem „Bruch“ mit Göring und der Einberufung als Soldat wird man jedenfalls noch die Verhaftung als gesichert ansehen können. In welchem Umfang Diels im Jahre 1944 tatsächlich in der Binnenschifffahrtsverwaltung tätig war, bleibt offen. Für die folgenden Ereignisse des Jahres 1944 gilt Ähnliches wie oben ausgeführt. Die detaillierte Schilderung in der Biographie, zudem mit unterschiedlichen Zeitansätzen, basiert weiter hauptsächlich auf mit großer Vorsicht zu wertenden Zeugenaussagen im Spruchgerichtsverfahren, auch einer Aussage von Diels selbst. Nach der Freilassung aus der ersten Gestapohaft soll sich Diels im Sommer 1944 wieder auf die „Bühlerhöhe“ begeben haben.306 Offensichtlich hätten sich zwei Gauleiter, die sich ebenfalls dort aufhielten, über Diels, einen der „gefährlichsten Feinde“, heftig beschwert. Es fand sich aber wieder ein Fürsprecher. Sein Arzt soll nach eigener Aussage zu Göring gefahren sein. Er habe sich in drei Unterredungen auf dessen Landsitz „Karinhall“ nördlich von Berlin für Diels eingesetzt. Sie hätten teilweise in einem größeren Kreis stattgefunden; der Arzt sei über den gegen Diels herrschenden Hass entsetzt gewesen, und Göring habe angedroht, Diels werde seinen Verrat am „Dritten Reich“ mit dem Leben bezahlen. Der Einsatz des Arztes hat nach Auffassung seines Biographen Diels jedoch etwas schützen können. Im Herbst 1944 wurde Diels ein zweites Mal verhaftet. Wie es dazu kam, ist nicht ganz einfach zu rekonstruieren. Nach der Aussage seiner zweiten Ehefrau Ilse soll dies von Himmler veranlasst worden sein. Im Auftrag Himmlers sei von dem Grafen Roedern eine Schrift verfasst worden, „die ausreichen sollte, ihm [Diels] den Kopf zu kosten“.307 Die „Verdächtigungsschrift“ basierte auf freimütigen Äußerungen Rudolf Diels’ im Familienkreis eines deutschen Diplomaten. Dieser ehemalige Botschafter von Bülow-­Schwante, ein Bekannter von Diels, bestätigte nach dem Krieg die Gefährlichkeit der Äußerungen Diels’. Sie ­seien infolge einer Indiskretion an die Gestapo verraten worden. Er und seine Tochter hätten „bei der Polizei“ eindringlich bestritten, dass Diels sich tatsächlich gegen das Regime gewandt habe. Die Unterhaltung fand, so Bülow-­Schwante, im Frühsommer 1944 statt; die Gestapo habe „im weiteren Verlauf des Jahres“ Kenntnis erhalten und Diels verhaftet. Diese vage Zeitangabe lässt aber die Deutung 305 Vgl. dens., ebd., S. 240 f. 306 Wallbaum, S. 247 f. 307 Zitiert nach dems., ebd., S. 241. Zum Folgenden auch S. 246 f. Vgl. insgesamt auch Graf, ebd., S. 327.

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Rudolf Diels

zu, die Verhaftung habe erst im Herbst oder Spätherbst stattgefunden. Dann wäre sie mit der Angabe von Frau Diels, „Herbst 1944“, in Einklang zu bringen. Sonst könnte in ­diesem Falle die Aussage Bülow-­Schwantes und seiner Tochter bei der Gestapo nicht Diels’ Freilassung herbeigeführt haben. Auffällig ist, dass auch der Diplomat dieselbe Formulierung wie die Ehefrau verwandte, die Äußerungen hätten Diels „den Kopf kosten“ können. Ilse Diels fügte in ihrer Aussage aber auch noch einen zusätzlichen Verhaftungsgrund an. Wenige Monate später jedoch wurden gelegentlich einer Zusammenkunft von Bauern in s­ einem Gutshaus in Twenge bei Hannover geführte Gespräche und ein Besuch des Erbprinzen von Cumberland [damit ist der Chef des Hauses Hannover gemeint] daselbst zum Anlass genommen, Rudolf Diels in den Kellern der Gestapo verschwinden zu lassen [Gestapo-­Gefängnis in 308 der Berliner Prinz-­Albrecht-­Straße].

Es sei ihr aber gelungen, sein Leben zu retten. Diels hat wohl in der Tat im Herbst einige Landwirte auf seinen Hof in Twenge eingeladen, um mit ihnen „die Möglichkeiten eines Staatsstreichs“ zu erörtern.309 Wohl weil ein Spitzel zugegen gewesen sei, wurden alle Teilnehmer am folgenden Tag bereits verhaftet, ob Diels selbst auch, ist unklar. Diels will sich einige Tage versteckt gehalten haben, sei nach Berlin gefahren, als er von den Verhaftungen hörte und sei dort dann ebenfalls verhaftet worden. Nach ausführlicher Wiedergabe der Aussagen der beteiligten Landwirte im Spruchgerichtsverfahren und auch des Vertreters der Anklagebehörde, kommt der Biograph zu dem Ergebnis, es habe sich bei dem Gespräch mit den Landwirten „offenbar nicht um irgendwelche Putschpläne“ gehandelt, sondern lediglich „um die Überleitung der Verwaltung nach einem erwarteten Zusammenbruch des NS-Regimes“. Als Diels im Gestapo-­Gefängnis gefangen saß, war die Situation für ihn sehr gefährlich geworden. Göring war so weit in seinem Zorn über ihn, dass er mit „seiner Liquidierung“ einverstanden war, ließ sich aber durch seinen Familiensinn doch dazu bewegen, „bei Himmler ein letztes Mal zu intervenieren“.310 Der „Preis“ war, dass die Ehe ­zwischen Ilse und Rudolf Diels geschieden wurde und er in einer Strafkompanie dienen musste. Ilse Diels sagte dazu aus, sie habe lange mit Göring gesprochen, der sich sehr über Diels erregt habe. „Es gelang mir, sein Leben unter Versetzung in eine Strafkompanie der Wehrmacht auszuhandeln gegen die Lösung unserer Ehe, die Himmler ein Dorn im Auge war.“ So kam die Zwangsscheidung. An anderer Stelle gab sie an: Die Entlassung von Diels, den ich im Gestapo-­Gefängnis nicht besuchen durfte, zögerte sich hinaus. Ich musste Göring wiederholt drängen. […] 1945 erfolgte dann im Februar oder März die Abstellung in die Strafkompanie. Diels kam in Begleitung eines Gestapo-­B eamten zu mir, um sich zu verabschieden. Er war, wie Göring mir vorher gesagt hatte, seiner Dienststellung bei den Reichswerken enthoben, aus der SS ausgeschlossen und zum einfachen Soldaten degradiert.

308 Zitiert nach Wallbaum, ebd., der diese Passage allerdings nicht auf S. 241 wiedergibt, vielmehr an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang auf S. 172. 309 Spruchgerichtsakte Rudolf Diels, BA-Koblenz, ZV 42/IV/1960. Die folgenden Zitate bei Wallbaum, ebd., von S. 253. 310 Dazu ebd., S. 248 f; von dort auch die wörtlichen Zitate.

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Formal endete Diels’ Mitarbeit bei den Reichswerken erst Anfang 1945. Er erhielt ein vom 24. Januar datiertes Schreiben seines früheren Gegenspielers Paul Pleiger in dessen Eigenschaft als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Darin wurde die Bestellung zum Mitglied des Vorstandes widerrufen. Das ­zwischen ihm und der Gesellschaft bestehende Dienstverhältnis werde „aus wichtigem Grunde mit sofortiger Wirkung gekündigt […]. Als wichtiger Grund wird unter anderem insbesondere angesehen Ihre längere Behinderung an der Ausführung Ihres Dienstes und die den Anlass dieser Behinderung bildenden Umstände.“311 Die teilweise kryptischen Formulierungen des Briefes entsprachen den Zuständen des „Dritten Reiches“ kurz vor seinem Ende. Im Aufsichtsratsprotokoll war etwas präziser von „sicherheitspolitischer Schutzhaft“ die Rede. Nach diesen Dokumenten der Reichswerke steht die zweite Verhaftung Diels’ im Herbst 1944 fest, und die Haft dauerte ebenfalls zweifelsfrei diesmal mehrere Monate. Der Ausschluss aus der SS, wenn auch in der SS-Führerpersonalakte nicht dokumentiert, und die Überstellung in eine Strafkompanie können auch als gesichert angesehen werden. Es spricht vieles dafür, dass nur Görings „letzte Intervention“ das Äußerste verhindert hat. Diels konnte, was berufliche Stellung und Dienstränge in der militärischen und in der NS-Hierarchie betraf, nicht tiefer fallen, aber er war immerhin mit dem Leben davongekommen. Was den massiven Eingriff in sein Privatleben anging, so mutet seltsam an, dass die ursprünglich zu seinem Schutz „gestiftete“ Ehe nun zwangsweise aufgelöst wurde, um ihn vor Schlimmerem zu bewahren. Aber auch dafür gibt es eine Erklärung. Göring wollte ihn nach allem, was Diels sich hatte zu Schulden kommen lassen, einfach nicht mehr in seiner Familie haben. Zugleich bedeutete das, bei einem weiteren Verstoß gegen Regeln des Regimes hätte Himmler freien Zugriff gehabt. Das Kriegsende war auch in Hannover chaotisch.312 Diels gab nach dem Krieg an, bis Mitte März 1945 in Haft gewesen zu sein. Danach sei er einer SS-Strafkompanie zugewiesen worden, also nicht, wie seine Frau angegeben hatte, einer der Wehrmacht. Der Einsatzort lag westlich von Mainz; er sei dort als einfacher Soldat bis zur Auflösung der Einheit geblieben. Im April war er wieder in der Nähe von Hannover, womöglich auf seinem Hof in Twenge. Diels äußerte sich nicht dazu, wie er sich dorthin durchgeschlagen hatte. Ein literarisches Zeugnis dieser Tage findet sich bei Ernst Jünger, der sich damals in Kirchhorst bei Hannover aufhielt. In seinem Tagebuch hielt er fest: „Vor dem Sturm. Nachmittags kam General Loehning mit Diels, der aus dem Gefängnis entlassen ist und dessen Frau […]. Diels war guter Laune; Loehning hatte ihn in die Uniform eines Luftwaffengefreiten gesteckt.“313 Weitere Einzelheiten wurden nicht notiert. Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner erließ der Gauleiter Lauterbacher einen martialischen Durchhalteappell, der jeden mit dem Tode bedrohte, der die weiße Fahne hissen würde. Diels soll daraufhin zum kommissarischen Bürgermeister Bönner gefahren sein und ihn gedrängt haben, Lauterbacher erschießen zu lassen. Bönner sei jedoch nicht darauf eingegangen, sondern habe den Gauleiter aufgesucht, um weitere sinnlose Zerstörungen der Stadt zu verhindern. Am 10. April rückten die Amerikaner in Hannover ein.

311 Ders., ebd., S. 241 f, von dort das Zitat. 312 Vgl. Wallbaum, ebd. S. 254 ff. 313 Jünger, Strahlungen II, Stuttgart 1979, S. 407. Zum Weiteren vgl. Wallbaum a. a. O.

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Rudolf Diels

3.10 Zwischenfazit: Diels, der Widerstand und seine Rolle im „Dritten Reich“ Über Diels’ Verhältnis zum Widerstand können außer eigenem Verhalten seine Kontakte zu dessen Vertretern Aufschluss geben. In seinen Memoiren lässt er einen engen Mitarbeiter von einem Treffen mit bekannten Widerstandskämpfern berichten; ähnlich der Biograph die Sekretärin.314 Die meisten gehörten zum konservativen Flügel des Widerstands und wurden später hingerichtet. Sicher belegt sind allerdings nur Kontakte mit Ulrich von Hassell. Sie hatten ohnehin einen besonderen Charakter, weil er und Diels ja in einem persönlichen Verhältnis zur Familie Göring standen. Außer der oben wiedergegebenen Begegnung, bei der Diels die Verrottung des Staatsapparats beschrieb, erwähnte von Hassell am 1. August 1942 ein Frühstück mit ihm. Er beschrieb Diels als „klug, schwer durchsichtig, glühend ehrgeizig, sicher skrupellos“.315 Unter dem 20. April 1943 notierte er von einer weiteren Begegnung auf der Fahrt nach Magdeburg, Diels habe „neben tollen Dingen, die er mit den sogenannten Gesandten in Bukarest und Sofia erlebt hatte“, berichtet, Ribbentrop setze im auswärtigen Dienst nur noch auf Gesinnung. Er habe zu Hitler gesagt, vierzig SS-Leute, vierzig SA-Leute und vierzig HJ-Führer haben und das Amt neu besetzen zu wollen. Hier äußerte Diels also wieder nur seine schon bekannte Kritik an den inneren Zuständen des „Dritten Reiches“. Auch wenn seine Distanz zum Regime später größer geworden sein soll, schloss er sich der Widerstandsbewegung nicht an.316 Die Äußerungen im Familienkreis Bülow-­Schwantes und der Inhalt des Treffens mit den Landwirten in Twenge im Herbst 1944 könnten nach nationalsozia­ listischem Verständnis hochverräterischen Charakter gehabt haben. Sie reichen aber nicht aus, ihn als wirklichen Widerstandskämpfer einzuordnen. Die Äußerungen sind nicht wörtlich überliefert. Das Treffen hatte lediglich die Überleitung der Verwaltung nach Kriegsende zum Gegenstand, und war offenbar eher nur technischer Natur. Auch ist es überzogen, Diels unter die „am 20 Juli-­Attentat unbeteiligte[n] Hitlergegner und frühere[n] Regimekritiker“ einzureihen.317 Das alles hat ihn nicht gehindert, sich nach dem Kriege als Widerstandskämpfer hinzustellen. An das niedersächsische Innenministerium schrieb er 1954: „Ich wurde nach dem 20. Juli 1944 verhaftet. Die bedeutendsten unter den Getöteten waren meine Freunde und Gesinnungsgenossen.“318 Bei einer Vernehmung machte er sogar geltend, er sei Ende der 1930er Jahre bei dem Putschversuch von General Halder als Attentäter vorgesehen gewesen. Das erste war eher ein Bluff, das zweite im Grunde eine Hochstapelei. Der von Halder im Jahr 1938 geplante Putsch richtete sich gegen die Kriegstreiberei Hitlers in der Sudetenkrise. Der Plan wurde aufgegeben, nachdem es bei der Münchner Konferenz doch noch zu einer friedlichen Lösung gekommen war. Nirgendwo ist zu lesen, Diels sei als Attentäter ausersehen gewesen. Er war damals als Regierungspräsident von Hannover im Machtgefüge des NS-Regimes fest verankert. Es ist abstrus, dass er zu d ­ iesem Zeitpunkt als Attentäter sollte in Betracht gezogen worden sein. Diels’ Rolle im nationalsozia­listischen Regime kündigte sich im Grunde schon vor dem 30. Januar 1933 an. Auf dem Weg dorthin wurde er, der bisherige Angehörige einer demokratischen Partei, zum zweifachen „Überläufer“. Als Stichwortgeber für den „Papen-­Putsch“ 314 Lucifer (49), S. 225 ff (228); Wallbaum, ebd., S. 228. 315 Von Hassell, ebd., S. 324; das folgende Zitat S. 363. 316 Vgl. Wallbaum, S. 31 und S. 246. 317 So aber Ueberschär, Für ein anderes Deutschland, S. 214. 318 Zitiert nach dems., ebd., S. 259; dort auch zum Folgenden.

Zwischenfazit

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am 20. Juli 1932 half er wesentlich mit, das Bollwerk Preußen entscheidend zu schwächen. Das erleichterte den Übergang vor allem des Verwaltungsapparats ins „Dritte Reich“. Durch gezielte Kontaktsuche zu Göring war er „dessen Mann“ beim Aufbau einer neuen politischen Polizei und in der Leitung des dabei gegründeten Geheimen Staatspolizeiamts in Preußen. Nach der Errichtung d ­ ieses Verfolgungsinstruments, welches nach ihm Himmler und Heydrich bis zum Äußersten benutzen sollten, war er für das Regime weiter in leitender Stellung tätig. Er wurde Regierungspräsident in Köln und danach in Hannover. Seine autoritären Staatsvorstellungen konnte er dabei nicht realisieren. So wurde er zwei Mal von Gauleitern aus dem Amt des Regierungspräsidenten gedrängt und dann von Göring als leitender Angestellter in dessen Reichswerken untergebracht. Ungeachtet aller Versuche, die er wohl tatsächlich unternommen hat, Auswüchse des Regimes zu verhindern oder rückgängig zu machen, war er doch jedenfalls bis Ende 1943 dessen Funktionsträger. Ein solcher, zudem maßgeblicher zu sein, bedeutete eine gewichtige Unterstützung des Unrechtsstaats. Es ist wohl seinem Ehrgeiz und seinem Bedürfnis zuzuschreiben, auf der Bühne der Macht notfalls in Nebenrollen mitzuspielen, dass er sich nicht wirklich vom Regime abkehrte, auch nicht, als er von den deutschen Verbrechen in Osteuropa erfuhr. Dabei hatte er das seltsame Bedürfnis, auch bei den Opfern des Unrechtsstaats ein wenig beliebt zu sein: „Sagen Sie Ihren Freunden [in der Emigration], daß ich nicht der Schlimmste bin.“ Das war auch, neben möglichen humanitären Regungen, ein Impuls bei von ihm geleisteter Hilfe im Einzelfall. Kein Mensch handelt immer nur aus einem Motiv. Ganz ungewöhnlich ist auch die Kontaktfreude Diels’, die in diesen Jahren von Spitzen des NS-Staates wie Goebbels bis hin zu konservativen Vertretern des Widerstandes reichte. Darin offenbarte sich ein hohes Maß an Unvoreingenommenheit, aber auch Opportunismus. Er, der „Zyniker und Lebemann“, war aber „kein kleiner Geist“. Das ist in gewisser Weise faszinierend, sollte aber nicht Sympathie erwecken. Denn Diels war, wie sich immer wieder zeigte, auch skrupellos. Die Skrupellosigkeit zeigte sich bereits in seinem „Überläufertum“, aber vor allem in seiner Leitung des Geheimen Staatspolizeiamtes. Sie brachte ihn in die Nähe zu historischen „Vorbildern“. So hat ihn die Frau des früheren rheinischen Oberpräsidenten von Lüninck später als „Fouché in der Westentasche“ bezeichnet.319 Diese Benennung enthält ein zutreffendes Element. Joseph Fouché war der Polizeiminister Napoleons, der zuvor der Revolution gedient hatte und danach der restaurierten Monarchie. Sie klingt aber wegen der „Westentasche“ etwas verharmlosend. Andererseits waren Diels’ Machtbefugnisse als Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes immer begrenzt, nicht zuletzt durch seine Abhängigkeit von Göring. Von der Machtfülle Fouchés war er doch weit entfernt. Ohne tiefere moralische Wertung lässt sich alles in allem sagen: Diels war ein gänzlich ungewöhnlicher Beamter und auch ein gänzlich atypischer Funktionsträger des „Dritten Reiches“. In dessen Anfangsphase war er vor allem Göring nützlich und verhinderte eine Zeitlang Himmler. Das waren Verdienste von äußerster Ambivalenz. Dies entsprach der Besonderheit seiner Person, die recht unbeschwert politische Lager, Grundsätze und Standpunkte wechselte. Die Bezeichnung „leichtgesinnter Flattergeist“ trifft gut auf ihn zu.320

319 Schellenberger, Katholische Jugend und Drittes Reich, S. 68, FN 300. 320 Nach der Kantate von Johann Sebastian Bach „Leichtgesinnte Flattergeister“, BWV 181.

Eggert Reeder (1894 – 1959). © Rheinisches Bildarchiv, Köln/Fotograf: ohne Angabe.

4 Eggert Reeder: „Hervorragender Verwaltungsfachmann“ im Inland und auch „draußen“ Der dritte der Regierungspräsidenten, w ­ elche die Nationalsozia­listen in Köln eingesetzt haben, stammte nicht wie seine Vorgänger aus einer der Nachbarprovinzen, sondern aus dem „hohen Norden“, aus Schleswig-­Holstein. Vor allem aber seine Laufbahn wies eine große Besonderheit auf. Zunächst verlief sie nach den in der preußischen Verwaltung üblichen und möglichen Stationen: Regierungsreferendar, Regierungsassessor, bis hin zum Landrat und Regierungspräsidenten. Die ungewöhnlichen Zeitereignisse gaben dann aber seiner Karriere eine ebensolche Wendung, 1940 wurde er Militärverwaltungschef beim Militärbefehlshaber des besetzten Belgiens und Nordfrankreichs. Diese Tätigkeit sollte nach dem Krieg sein weiteres Leben prägen. Seine Amtszeit als Regierungspräsident in Aachen und Köln, weniger seine kommissarische in Düsseldorf, hat in regionalgeschichtlichen Darstellungen ihren Niederschlag gefunden. Auf eine historisch höhere Ebene hob ihn sein Amt als Militärverwaltungschef in Brüssel. Dies hatte zur Folge, dass er in der Geschichtsschreibung der Besatzungszeit und der Verfolgung der Juden in Belgien einen wichtigen Platz einnimmt. Reeder verkörperte, ganz anders als Diels und in noch größerem Maße als zur Bonsen, den Typus des höheren preußischen Verwaltungsbeamten. Schon sein markant strenges Äußeres lässt einen Mann von großer Selbstdisziplin und nüchterner Sachlichkeit vermuten. Memoiren hat er nicht verfasst, und eine umfassende Biographie existiert auch nicht. Wohl gibt es die 1976 erschienene, knapp gefasste Erinnerungsschrift eines Mitgefangenen, die allerdings stark apologetischen Charakter hat, und eine Monographie biographischen Charakters, die sich vor allem mit Reeders Zeit als Militärverwaltungschef auseinandersetzt.1

4.1 Herkunft, Kriegsteilnahme, Studium, politische Orientierungen und berufliche Anfänge Eggert Reeder wurde am 22. Juli 1894 auf dem Holmhof bei Poppenbüll im damaligen Kreis Eiderstedt der preußischen Provinz Schleswig-­Holstein geboren.2 Seine Eltern waren der Gutsbesitzer und spätere Landrat Nicolai Christian Reeder und Wilhelmine Reeder geb. Eggers. Aufzuwachsen als Sohn des Besitzers eines Gutshofes von der doch erheblichen Größe von 64 Hektar, in dem eigentümlichen Marschland einer nordfriesischen Halbinsel, konnte schon zur Charakterprägung beigetragen haben. In d ­ iesem Landstrich herrschte eine patriarchalische Ordnung. Sie verkörperte sich in der Person des Vaters, der als Familienoberhaupt auch nach außen hohe Autorität besaß. Dies alles erschien dem Sohn natürlich und selbstverständlich. Auch in der Erinnerungsschrift wird die bäuerliche Tradition der Familie betont; zwei der drei 1 2

Rehm, Eggert Reeder; Wilken, Diener in Köln, Herr in Brüssel? Eggert Reeder 1933 – 1945. Kurzbiographien bei Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 335 f, August Klein, Festschrift Köln, S. 113 ff. Lebensdaten und Mitgliedschaften bei Romeyk, Leitende Verwaltungsbeamte, S. 683 f; weiter Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie, S. 679 (beide mit falschem Geburtsmonat); Zu Werdegang und Person auch Plum, Staatspolizei, S. 206 ff.

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Eggert Reeder

Brüder wurden ebenfalls Landwirte.3 Nach der Landschule Poppenbüll besuchte Reeder das humanistische Gymnasium in Husum. Es ist schon bemerkenswert, dass alle drei Regierungspräsidenten auf einem Gymnasium dieser klassischen Form waren, dem eine ausgesprochen elitäre Bildungsvorstellung zugrunde lag. Kurz nach Kriegsausbruch, am 10. August 1914, bestand Reeder die Kriegsreifeprüfung. Anschließend nahm er als Kriegsfreiwilliger bei der Infanterie am Weltkrieg teil, wurde Reserveoffizier, mehrfach verwundet und erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse sowie das Verwundetenabzeichen.4 Die Kriegsniederlage des Deutschen Reiches dürfte Reeder, ähnlich wie zur Bonsen, tief getroffen haben. Nach der Demobilisierung begann er Ende des Jahres mit dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Halle. Dort trat er einer schlagenden Verbindung bei, dem studentischen Korps „Palaiomarchia“. Der Name sollte „Altmark“ bedeuten. Im Frühjahr 1919 war er Führer einer Zeitfreiwilligen-­ Abteilung im Freikorps Maercker in Halle, welches Arbeiteraufstände bekämpfte. Während Diels, ebenfalls Kriegsfreiwilliger und Freikorpskämpfer, einige Jahre später sich der Deutschen Demokratischen Partei näherte, blieb Reeder exponiert in rechtsnationalen Organisationen. Er hatte unterdessen den Studienort gewechselt und war an die Universität Kiel in die nähere Heimat zurückgekehrt. Nach eigenem Bekunden habe er der Brigade Ehrhardt, einem Freiwilligenverband, der überwiegend aus Marineangehörigen bestand und am Kapp-­Putsch beteiligt war, bis 1922 angehört.5 Die Dauer der Zugehörigkeit kann aber nicht zutreffen, weil die Brigade unmittelbar nach dem Kapp-­Putsch im April 1920 aufgelöst worden ist. Ebenfalls nach eigenen Angaben war Reeder allerdings Mitglied der „Organisation Consul“ (OC), eines nationalistischen und antisemitischen Geheimbundes, in der sich viele Angehörige der Brigade Ehrhardt wiederfanden.6 Der Reichsregierung war ihre Existenz bekannt, aber nicht ihre Aktivitäten. Ihr entstammten die ehemaligen Offiziere, die 1921 den früheren Reichsfinanzminister Erzberger brutal ermordet und 1922 das tödliche Attentat auf Reichsaußenminister Walther Rathenau verübt hatten. Die „Organisation Consul“ war also eine „Mordorganisation“, aber keine „Mörderzentrale“; die Masse der Mitglieder wusste von den Taten nichts.7 Wie bei vielen Geheimorganisationen war die Mitgliedschaft abgestuft und die interne Kommunikation unterschiedlich intensiv. Aber schon die „einfache“ Mitgliedschaft ließ einen extremen politischen Standpunkt erkennen. 1921 traf Reeder auch eine Entscheidung über seine parteipolitische Zugehörigkeit. Er trat konsequenterweise der rechtskonservativen und republikfeindlichen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) bei. Damit siedelte er sich in seiner Heimat politisch ganz rechts an. Denn die schleswig-­holsteinische DNVP zählte zum radikalen Flügel der Partei und vertrat einen „deutschvölkischen Antisemitismus“. Nach kurzer Studiendauer bestand Reeder am 23. Mai 1921 die erste juristische Staatsprüfung. Sodann traf er eine berufliche Vorentscheidung. Denn nach einjährigem gesetzlich vorgeschriebenem Gerichtsreferendariat bis zum Mai 1922 wurde er Regierungsreferendar in seinem heimat­lichen Regierungsbezirk Schleswig. Für diese Entscheidung wird auf die Familientradition verwiesen. Die Vorfahren hätten als Bürgermeister und Deichgrafen „für das Gemeinwesen 3 4 5 6 7

Rehm, ebd. S. 5 f. Deutsches Führerlexikon, S. 371. Vgl. Fehrmann, Lebensbilder, S. 309, dort auch Hinweis auf Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung. Plum, ebd., S. 206; Wilken, Diener in Köln, S. 9 f. Vgl. Stern, The Organisation Consul, S. 20 ff. Einen Abdruck ­dieses Aufsatzes verdanke ich Frau Svenja Weers.

Herkunft, Kriegsteilnahme, Studium, politische Orientierungen und berufliche Anfänge

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Verantwortung“ übernommen.8 Als „Muss-­Preuße“ geboren – Schleswig-­Holstein war erst seit 1866 preußische Provinz – sei er nun zum „Überzeugungspreußen“ geworden. Offenbar hatte Reeder keine Bedenken, in den Staatsdienst eines republikanischen Preußens zu treten. Der „Organisation Consul“ dürfte er zu dieser Zeit nicht mehr angehört haben. Hier zeigten sich die personalpolitischen Schwierigkeiten für die preußische Regierung. Wie in Kapitel 1 geschildert, konnte sie an die Spitze der Behörden republiktreue Beamte setzen, aber offenbar nicht verhindern, dass republikkritische eingestellt wurden. Als Regierungsreferendar war Reeder von März bis Juli 1923 kommissarischer Bürgermeister der Stadt Bad Oldesloe. Dort bewies er schon in d ­ iesem frühen Stadium ausgesprochene Führungsqualitäten. Die Stadt lag seit anderthalb Jahrzenten mit ihren Bürgermeistern in Fehde. Was all diesen misslungen war, vollbrachte ausgerechnet der junge Regierungsreferendar: Es gelang ihm, endlich geordnete Verhältnisse herzustellen. Bei seinem Weggang wurde dies von allen im Rat vertretenen politischen Gruppierungen anerkannt. Sogar seine Heimatzeitung, die „Husumer Nachrichten“, berichtete, er habe sich „mit außerordentlichem Fleiß in die verschiedensten Zweige der städtischen Verwaltung gründlich eingearbeitet und in allerseits friedlichstem Zusammenwirken mit der Stadtvertretung Hervorragendes geleistet“.9 Im Juli 1924 bestand Reeder die Große Staatsprüfung für den höheren Verwaltungsdienst und wurde kurz darauf zum Regierungsassessor ernannt. Sein Einsatz erfolgte nun in der preußischen Rheinprovinz. Von Oktober 1924 bis Anfang Februar 1926 war er dem Landratsamt des damals noch selbstständigen Kreises Lennep im Regierungsbezirk Düsseldorf zugewiesen. Im Anschluss an seine Tätigkeit in Lennep wurde er an die Regierung Köln als Dezernent versetzt, wo er sechs Jahre verblieb. Während seiner Zeit im Landratsamt hatte sich eine private Lebensentscheidung vorbereitet. Am 26. September 1926 heiratete Reeder Dora Schlieper, die Tochter eines Fabrikanten aus Elberfeld, das später mit Barmen zu Wuppertal vereinigt wurde. Reeders Schwiegervater, ein promovierter Chemiker, war Teilhaber einer Stoffdruckerei, in mehreren Aufsichtsräten vertreten und Mitglied des Hauptausschusses des Reichsverbandes der deutschen Industrie.10 Im selben Jahr 1926 verließ Reeder die DNVP und trat in die Deutsche Volkspartei (DVP) ein. Diese Partei hatte sich gerade unter dem Vorsitz Gustav Stresemanns „vernunftrepublikanisch“ entwickelt und galt als industriefreundlich. Es liegt nahe, dass dieser Parteiwechsel mit der Änderung seines Familienstandes zusammenhing. Beide Vorgänge zeigen wiederum eine Parallelität zur Vita von Rudolf Diels. Dieser hatte ja in erster Ehe ebenfalls eine Industriellentochter geheiratet, Hildegard Mannesmann. So gewannen beide Männer aus bäuerlicher Gesellschaftsschicht familiären Anschluss an die rheinische Großindustrie. Weiter fragt sich, ob der Parteiwechsel Reeders wie die politische Schwenkung Diels’ 1932 eine Art „Überläufertum“ darstellte. Es gab jedoch Unterschiede. Die Abkehr Diels’ von der Deutschen Staatspartei, der früheren DDP, zu den Regierungskreisen um den autoritären Reichskanzler von Papen war weitreichender als der Übertritt Reeders von der DNVP zur benachbarten DVP. Auch betrieb Diels die Schwenkung von sich aus aktiv mit dem Ziel, seine Karriere zu fördern, während Reeders Parteiwechsel eher den Charakter einer familiär bedingten Anpassung hatte. Am 11. August 1929 wurde der Regierungsassessor Reeder bei der Regierung Köln zum Regierungsrat ernannt. Nach grundlegenden politischen Veränderungen im Freistaat Preußen sollte er drei Jahre später zu höheren Funktionen berufen werden. 8 Rehm, ebd. S. 6. Dort auch zum Wandel von Reeders „Preußentum“. 9 Zitiert nach August Klein, ebd., S. 114. Dort auch zum Übrigen. 10 Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Bd. 2, Berlin 1931. S. 1641.

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Eggert Reeder

4.2 Endzeit der Republik und Beginn des „Dritten Reiches“: Aufstieg in hohe Ämter Wie in Kapitel 1 geschildert, war bei den Preußischen Landtagswahlen am 24. April 1932 die NSDAP stärkste Partei geworden. Die DVP sank von 8,5 % auf gerade noch 1,5 % hinab. D ­ ieser Niedergang sollte sich bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1932 bestätigen. Reeder zog offenbar daraus seine Folgerungen und trat aus der Partei aus. Die Partei seiner ursprüng­ lichen politischen Überzeugung war sie ja wohl nicht gewesen. Es war eher die kühl-­nüchterne Konsequenz aus einer faktischen Entwicklung, nicht ohne ein unvermeidbares Element von Opportunismus. In eine andere Partei trat er nicht ein, näherte sich aber wohl der NSDAP an. Der „Papen-­Putsch“ des 20. Juli 1932 hatte, wie in Kapitel 2 geschildert, ein umfangreiches Personalrevirement zur Folge. Auch Eggert Reeder war von ihm betroffen, allerdings zu seinen Gunsten. Im August 1932 wurde er vertretungsweise mit der Verwaltung der Stelle eines Landrats in Segeberg beauftragt, einem holsteinischen Kreis westlich von Lübeck mit etwa 50.000 Einwohnern, also unweit seines Herkunftsorts. Der bisherige Landrat von Segeberg, Graf zu Rantzau, war kommissarischer Polizeipräsident in Kiel geworden. Den dortigen Amtsinhaber hatte die Kommissariatsregierung mit zahlreichen anderen Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Reeder nun kam für höhere Aufgaben in Betracht, weil er sich den Ruf guten fachlichen Könnens erworben hatte und als Mann bekannt nationaler Gesinnung sowie ohne parteipolitische Belastung den neuen Herren genehm war. Als eigentümliches familiäres Zusammentreffen ergab sich, dass Reeders Vater Nicolai von der politischen Umwälzung negativ betroffen war. Dies war nicht eine Folge des Personalrevirements, sondern der „Verordnung über die Neugliederung von Landkreisen“ vom 1. August 1932.11 Der Kreis Eiderstedt wurde nach deren § 44 in den neuen Kreis Husum eingegliedert und er selbst in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Der Sohn Eggert blieb nicht lange in Segeberg, sondern wechselte am 18. November zu dem größeren und bedeutenderen Landkreis Flensburg an der dänischen Grenze. Er war zunächst vertretungsweise, ab Dezember kommissarisch mit der Verwaltung der Stelle des Landrats beauftragt.12 „Vertretungsweise“ bedeutete eine interimistische Wahrnehmung, die „kommissarische“, dass der Betreffende die Stelle nach einer gewissen Zeit endgültig erhalten sollte. Reeder leistete in Flensburg sicherlich gute Verwaltungsarbeit, aber sein Verbleib im Amt des Landrats hing letztlich von den Nationalsozia­listen ab. Diese stellten ja mit Göring seit dem 30. Januar 1933 den kommissarischen preußischen Innenminister. Ihre Wahlerfolge des Vorjahres konnten sie bei den Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen im März 1933 noch ausbauen. Insbesondere der Landkreis Flensburg war eine Hochburg der NSDAP; sie hatte mit 14 Kreistagsmitgliedern eine übergroße Mehrheit. Reeder wusste sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Das zeigte sich vor allem im April 1933 bei der konstituierenden Sitzung des neugewählten Kreistags, zu der die nationalsozia­ listischen Kreistagsmitglieder im „Braunhemd“ einmarschiert waren.13 Der kommissarische Landrat formulierte in seiner Rede ein förmliches Gelöbnis: „Wir wollen in fester Treue zu unserem Herrn Reichspräsidenten, Herrn Reichskanzler Hitler und seinen Mitarbeitern jeder

11 GS., S. 255; zur Personalie MBliV., Sp. 873. 12 MBliV., Sp. 1233; Wilken, Diener in Köln, S. 11, FN 21. 13 Zum Wahlergebnis und zur ersten Kreistagssitzung Schartl/Koch, Landräte und Kreispräsidenten, S. 38 f.

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an seinem Platz und in seinem Amt seine Pflicht gegenüber der Heimat und dem Vaterland tun.“ Dann appellierte er an die Kreistagsmitglieder in der neuen politischen Rhetorik: Sie, meine Herren, sind gewählt worden in den denkwürdigen Tagen, […] da […] das deutsche Volk in ungeahnter Stärke aufgestanden ist, um mit dem vergangenen Zeitabschnitt endgültig Schluss zu machen und einer Entwicklung die Zukunft zu eröffnen, die eine völlige Umstellung unserer politischen und zur Zeit auch wirtschaftlichen Struktur in einem Ausmaß bedeutet, wie sie bisher in der deutschen Geschichte einzig dasteht.

Eine „Einpassung“ in den stattfindenden Wandel werde verlangt. Denn die Wünsche und Belange des Einzelnen müssen sich in Einklang setzen mit dem neuen großen Gesamtgedanken einer gleichen nationalen Geistes- und Willenseinheit. Wir dürfen aber stets vertrauen, dass die vor uns liegende Entwicklung organisch an die ruhmreiche Vergangenheit unseres vorkriegszeitlichen Vaterlandes anknüpfen und unter Achtung der Grundgesetze und dem Dreigestirn: Mut, Verantwortungsgefühl gegenüber der Allgemeinheit und Zuversicht am Wiederaufstieg gestaltet wird.

Die Rede schloss mit einem „Hoch“ auf Reichspräsidenten und Reichskanzler. Die rhetorische Anstrengung des kommissarischen Landrats erweckte den Eindruck grundlegender Übereinstimmung mit der Kreistagsmehrheit, sprach aber mit den vaterländischen Tönen auch die übrigen Kreistagsmitglieder an. Sie wurde allseits honoriert. Der Kreistag verzichtete auf das nach der Kreisordnung vorgesehene Recht der Landratswahl und richtete einen e­ instimmigen Appell an den preußischen Innenminister Göring, Reeder unverzüglich „endgültig“ zum Landrat zu ernennen. Das geschah dann am 5. Mai 1933.14 Dauerhaft war die Ernennung zum Landrat aber ganz und gar nicht. Bereits zehn Tage später wurde Reeder kommissarisch zum Regierungspräsidenten in Aachen bestellt. Diese überraschend kurzzeitige Abfolge führte zu dem Kuriosum, dass in derselben Spalte des „Ministerial-­Blattes für die Preußische innere Verwaltung“ die Ernennung Reeders zum Landrat in Flensburg und seine Beauftragung mit der kommissarischen Verwaltung der Stelle eines Regierungspräsidenten in Aachen verzeichnet war.15 So kehrte er nach neun Monaten wieder in die Rheinprovinz zurück. Der rasche Wechsel Reeders nach Aachen hatte eine für die Anfangsphase des „Dritten Reiches“ kennzeichnende Vorgeschichte. Seit 1929 war dort Georg Stieler Regierungspräsident, der dem Zentrum angehörte.16 Während, wie in Kapitel 2 geschildert, die anderen vier rheinischen Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Köln, Koblenz und Trier zunächst im Amt verblieben, wurde Stieler bereits am 13. Februar 1933 telegraphisch ohne Nennung von Gründen über seine Beurlaubung unterrichtet.17 Möglicherweise stand diese Maßnahme in Zusammenhang mit Überlegungen, den Polizeiabteilungsleiter des Innenministeriums Klausener nach Aachen „abzuschieben“, was aber dann doch nicht geschah. Auch sollen Intrigen des 14 Der Ernennungsmonat März bei Romeyk, Leitende Verwaltungsbeamte S. 683 f, und Schrulle, ebd., S. 679, kann nicht zutreffen. 15 MBliV., Sp. 580. 16 Zu Stielers Person und der Schlussphase seiner Amtszeit in Aachen Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 332 ff. 17 Hierzu und zum Folgenden Pehle, Machtergreifung Aachen, S. 359 ff; Gasten, Aachen 1933 – 1944, S. 41 ff.

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Gauleiters Grohé mitgespielt haben. Die Beurlaubung wurde im Aachener Bezirk als Schlag gegen das Zentrum zu Beginn des Wahlkampfes empfunden. Stieler reiste noch am selben Tag nach Berlin und hatte dort eine „grundsätzliche Aussprache“ mit Göring. Möglicherweise auch auf Intervention des Reichskommissars von Papen wurde zwei Tage später amtlich mitgeteilt, dass der kommissarische Innenminister die Beurlaubung aufgehoben und den Regierungspräsidenten ersucht habe, sein Amt fortzuführen. Stieler äußerte zum Inhalt des Gesprächs, er habe von seinen Grundsätzen nichts aufgegeben, und so auch einen gewünschten Parteibeitritt abgelehnt. Aber es war doch ein „Warnschuss“ gewesen. Ohne sich etwas zu vergeben, suchte der Regierungspräsident nun, sich zumindest in seinen Reden den neuen Machthabern ein wenig anzunähern. Denn nach den Reichstags- und preußischen Landtagswahlen am 5. März und der Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ knapp drei Wochen später brauchten Hitler und Göring auf das Zentrum keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wie in Kapitel 2 dargestellt, wurde bereits am 15. April 1933 Stielers Kölner Kollege Elfgen beurlaubt. Dann wurde Stieler selbst am 4. Mai 1933 erneut beurlaubt und zwei Tage später in den einstweiligen Ruhestand versetzt.18 Bemühungen, einen neuen Regierungspräsidenten für Aachen zu finden, hatte die Kölner Gauleitung schon seit einiger Zeit unternommen. Stieler war ihr schon länger äußerst missliebig. So beauftragte nach seinem eigenen Bekunden der Gauleiter Grohé seinen früheren Mitarbeiter in der Gauleitung zur Bonsen, eine entsprechende Anfrage an den kommissarischen Flensburger Landrat Reeder zu stellen. Dies dürfte nach dem gesamten zeitlichen Ablauf um die Monatswende März/April gewesen sein. Zur Bonsen und Reeder waren seit gemeinsamen Zeiten als Dezernenten bei der Kölner Regierung befreundet. Möglicherweise kannte Grohé Reeder auch von daher als Verwaltungsbeamten mit hervorragendem Ruf. Nach anfänglichem Zögern war dieser zur Übernahme des Aachener Postens bereit. Wahrscheinlich stand sein Aufnahmeantrag in die NSDAP vom 10. April 1933 hiermit in Zusammenhang. Am 1. Mai wurde Reeder Mitglied der „Partei“. Am selben Tag erwarb er auch die Mitgliedschaft im Förderkreis der SS.19 Im Eintritt in die NSDAP eine Art „Überläufertum“ zu erblicken, wäre übertrieben. Sicherlich lag darin ein hohes Maß an politischer Anpassung wie schon in seiner Kreistagsrede. Möglicherweise hielt er sie sogar für seine Pflicht. Seit seinem Austritt aus der DVP im Vorjahr hatte er sich wohl ohnehin der NSDAP angenähert. Es war eben ein zeitlich gestreckter Prozess, und Reeder hatte sich politisch immer innerhalb des rechten Spektrums bewegt. Auch gab es nach den Märzwahlen 1933 eine wahre Beitrittswelle von Beamten in die „Partei“; sein Beitritt war nur einer unter vielen, allerdings auch nicht ganz frei von Opportunismus. Nachdem Reeder sein Interesse an der Aachener Stelle bekundet hatte, benannte Grohé Ende April gegenüber dem Staatssekretär des preußischen Innenministeriums seinen Kandidaten für die Regierung in Aachen. Am 6. Mai meldeten dann die Aachener Zeitungen Stielers Abberufung und nannten sogar den Namen seines Nachfolgers, obwohl der noch gar nicht bestellt war. Eine Intervention des Bistums zugunsten des bisherigen Amtsinhabers, durch ein Telegramm an Hitler persönlich, blieb wirkungslos. Erst recht konnte Papen nicht mehr helfen. Er war nicht mehr Reichskommissar für Preußen, Göring aber Ministerpräsident. Grohé jedenfalls hatte die Arbeitsebene des Innenministeriums überspielt, ­welche von einem 18 Zum Amtswechsel zu Reeder eingehend Pehle, ebd., S. 406 ff, mit Wiedergabe eines Grohé-­Interviews von 1972, welches aber auch Erinnerungsfehler aufweist; Gasten, ebd., S. 55 ff. 19 Plum, ebd., S. 206.

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Verbleib Reeders in Flensburg ausgegangen war, und eine personelle Lösung in seinem Sinne erreicht. So wurde der Flensburger Landrat am 16. Mai 1933 mit der Verwaltung der Stelle des Regierungspräsidenten beauftragt. Die förmliche Ernennung würde nur noch eine Frage der Zeit sein. Sie erfolgte am 15. Juli 1933. Schon am 17. Mai wurde der neue Behördenleiter im Sitzungssaal des Regierungsgebäudes von Oberpräsident von Lüninck in sein Amt eingeführt, zugleich mit dem ebenfalls seit dem Monatsbeginn der NSDAP angehörenden neuen Regierungsvizepräsidenten Froitzheim.20 Lüninck forderte in seiner Rede von den Angehörigen der Regierung „letzte Hingabe an die Erfüllung ihrer Pflichten und sogleich geschlossene und rückhaltlose Gefolgschaft hinter unserem Führer, Reichskanzler Adolf Hitler“. In seiner Antrittsrede bezog sich Reeder auf das traditionelle Beamtentum, vollzog ebenfalls eine Abkehr vom Weimarer Staat und versuchte auf seine Weise, eine Verbindung zum neuen Regime herzustellen. Schon die Anfangsstrecke des neuen Weges, den der Führer Adolf Hitler gewiesen habe […], die Schaffung eines allen Ständen und Schichten einigen christlichen Volkes, müsse die allerhöchste Bewunderung erwecken. Die Beamten s­ eien daher besonders dankbar, weil […] das Parteiwesen, das gerade sie so bedrückt habe, vernichtet worden sei. Gerade das Dritte Reich verlange die Ausübung einer höchsten Gerechtigkeit, die nach einheitlichen Gesichtspunkten auf alle Volksgenossen gleichmäßig Anwendung finden müsse.

Reeder betonte, eine der wichtigsten Aufgaben der inneren Verwaltung sei es, den „neuen Weg“ des Führers von Gesetzen frei zu räumen, „die von Menschen […] einer anderen Welt geschaffen“ worden s­ eien. Der nationalen Erhebung solle dies „den nötigen Gleichklang“ geben. Dafür sei es „besonders notwendig, mit den kampferprobten und vielerfahrenen, aus dem Volke herausgewachsenen Führern der neuen Bewegung auf das engste Verbindung zu pflegen.“ Trotz vieler sprachlicher Anklänge war dies im Grunde keine nationalsozia­listische Rede. Es wurde hier das Modell eines patriarchalisch-­konservativen, autoritären Staates entworfen. Verwaltung und Beamtenschaft sollte eine staatsbildende Rolle zukommen. Die Freude über das Ende des „Parteiwesens“ war unverkennbar. Darin bestand eine Gemeinsamkeit mit den Nationalsozia­listen, ebenso in der Betonung des Gemeinschaftsgedankens. Einen Unterschied bildete dagegen Reeders Hervorhebung der „höchsten Gerechtigkeit“. Der NSDAP sollte aber nicht gänzlich das Feld überlassen werden. Ungeachtet der lobenden Beiwörter „kampferprobt“ und „vielerfahren“ wollte er offenbar „die aus dem Volke herausgewachsenen Führer“ eher auf Distanz halten. Denn „auf das engste Verbindung [zu] pflegen“ bedeutete zwar gegenseitige Information, aber, außer in gravierenden Einzelfällen, nicht notwendig ständige inhaltliche Übereinstimmung. So ist Pehle beizupflichten, der „deutlich kritische Unterton seiner Rede“ lasse erkennen, „daß Reeder ein Ausufern der Revolution im Sinne eines Hineinregierens der Partei in den Staat aus Gründen der Staatsraison und der Einheitlichkeit der Verwaltung nicht ohne weiteres hinnehmen würde.“ Es blieb die Frage, inwieweit der neue Behördenleiter sein Amt entsprechend der programmatischen Antrittsrede würde ausüben können.

20 Dazu Pehle, ebd., S. 410 ff, von dort auch die Zitate aus den Reden, die indirekt aus einer amtlichen Pressemitteilung zitiert werden.

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4.3 Regierungspräsident in Aachen 1933 – 1936 Reeder stand nun mit knapp 39 Jahren an der Spitze der Behörde des Regierungspräsidenten in Aachen. Damit war er verhältnismäßig jung. Unter seinen Vorgängern der vorangegan­genen Jahrzehnte hatte dasselbe Alter nur Wilhelm Rombach (1923 – 1928) gehabt. Der ungleich jüngere Diels in Köln stellte einen Sonderfall dar. Der Regierungsbezirk Aachen hatte seine größte Ausdehnung in Nordsüdrichtung entlang der deutsch-­niederländischen und der deutsch-­belgischen Grenze. Er bestand 1933 aus der kreisfreien Stadt Aachen und sieben Landkreisen. Den Bevölkerungsschwerpunkt bildeten die Stadt Aachen und ihr Umland. Die Fläche des Bezirks war durch den Friedensvertrag von Versailles 1919 deutlich verringert worden, weil seine bisherigen Kreise Eupen und Malmédy an Belgien abgetreten werden mussten. Im Übrigen war der Bezirk bis 1930 besetzt, die meiste Zeit von belgischen Truppen.21 Zusammen mit der Grenzlage waren dies prägende geschichtliche Erfahrungen im Bezirk. Vor allem die Abtretung der genannten Gebiete mit ihrer überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung wurde als schmerzlicher Verlust empfunden. Dabei drang kaum ins Bewusstsein, dass die Wurzel hierfür im deutschen Überfall auf Belgien 1914 zu sehen war. Reeder seinerseits stammte aus dem Grenzland Schleswig-­Holstein, die rheinische Mentalität kannte er aus langjähriger Tätigkeit in Köln. Beides dürfte ihm den Zugang zu seinem neuen Wirkungskreis erleichtert haben. Dessen aktuelle Probleme ergaben sich aber vornehmlich aus der politischen Umwälzung des Jahres 1933.

4.3.1 Reeders Umgang mit den „leidigen“ Personalangelegenheiten Das von den neuen Machthabern initiierte Personalrevirement ging weiter, auch nachdem Anfang Mai die beiden Spitzenstellungen der Behörde neu besetzt worden waren. Ziel war offensichtlich eine angepasste Verwaltung; missliebige Beamte sollten entfernt oder auf weniger wichtige Posten abgeschoben werden. Personalveränderungen fanden auch bei anderen staatlichen und kommunalen Behörden statt; der Regierungspräsident war daran als übergeordnete oder Aufsichtsbehörde beteiligt. Reeders Handhabung von Personalangelegenheiten war sehr differenziert, wie an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Sich der Entwicklung grundsätzlich entgegenstellen konnte er nicht. Die erste „Bereisung“, wie das verwaltungssprachliche Unwort damals lautete, der Landkreise des Bezirks nahm er mit seinem Vorgänger Stieler gemeinsam vor.22 Dies wurde aufmerksam registriert; denn es war eine Demonstration. Reeder wollte offenbar deutlich machen, der Amtswechsel sei ein rein staatlicher Vorgang gewesen. Er bekundete damit auch persönlichen Respekt gegenüber seinem Vorgänger. Kritikern konnte er entgegenhalten, sein Vorgehen wirke beschwichtigend und es sei auch einfach zweckmäßig, den Vorgänger mitzunehmen, der den Bezirk ja durch und durch kannte. Anders als d ­ ieses Bekunden von Eigenständigkeit kamen erste Personalentscheidungen ­Reeders dem Regime sehr entgegen. Bereits zwei Tage nach seiner Einführung gab er einem Drängen des preußischen Innenministeriums nach.23 Er entzog dem lange in ­diesem polizeilichen 21 Vgl. Romeyk, Verwaltungsschichte, S. 88 f. 22 Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 335. 23 Pehle, ebd., S. 398 mit FN 266.

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Aufgabengebiet tätigen Oberregierungsrat das „politische Dezernat“. Zum Nachfolger bestellte er einen viel zu dienstjungen Gerichtsassessor, der, gerade erst in die Behörde des Regierungspräsidenten eingetreten, NSDAP-Mitglied und Günstling der Kreisleitung war. Reeder mochte sich von seinem Vorgehen auch Vorteile versprechen. Ende April war das Erste Gesetz über die Geheime Staatspolizei erlassen und die politische Polizei neu organisiert worden. In dieser Lage war der bisherige Stelleninhaber einfach nicht mehr zu halten. Der Nachfolger verschaffte zwar der NSDAP einen Informationszugang, konnte aber auch dem Regierungspräsidenten gegenüber dem neu geschaffenen Geheimen Staatspolizeiamt nützlich sein. Zwei Monate später tat Reeder in einer anderen schwierigen Personalsache einen folgenschweren Schritt.24 Gegen einen leitenden Beamten der Behörde, einen Regierungsdirektor, schwebte ein Dienststrafverfahren wegen angeblicher Bestechlichkeit, bei dem sich aber die Haltlosigkeit der Vorwürfe herauszustellen schien. Gleichwohl stellte Reeder am 18. Juli 1933 beim preußischen Innenministerium den Antrag, den Beamten gemäß § 4 des in Kapitel 2 bereits mehrfach erwähnten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 zu entlassen. Diese Vorschrift ermöglichte die Entlassung von Beamten, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür boten, jederzeit für den „nationalen Staat“ einzutreten. In der Tat war der betreffende Beamte lange Zeit SPD -Mitglied gewesen, inzwischen aber ausgetreten. Reeder begründete den Antrag mit einem Widerspruch im Lebenslauf des Beamten. Vor dem E ­ rsten Weltkrieg sei er „Waffenstudent“ gewesen, nach dem Krieg allerdings in die SPD eingetreten, wohl deshalb, weil er sich davon dienstliche Vorteile versprochen habe. Ob Reeder berechtigt war, in Fragen der Parteizugehörigkeit anderen Opportunismus anzukreiden, mag dahinstehen. Charakteristisch für ihn, der ja ebenfalls „Waffenstudent“ gewesen war, ist die Anschauung, ein solcher gehöre nicht in die SPD. Jedenfalls wurde der betreffende Beamte im September 1933 mit sofortiger Wirkung aus dem Dienst entlassen. Zu nennen ist hier auch der Fall eines Regierungsassessors, der bis zuletzt SPD-Mitglied gewesen war.25 Zunächst mehrere Jahre in leitender Funktion beim Polizeipräsidium Aachen tätig, wurde er nach dem „Preußenputsch“ Papens ab Herbst 1932 bei einem Landratsamt als Hilfsarbeiter eingesetzt. Reeder stellte „in Übereinstimmung mit der Gauleitung“ den Entlassungsantrag nach § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Die geradezu denunziatorische Begründung lautete, der Beamte habe seine dienstliche Stellung dazu benutzt, „die ihm unterstellten Beamten zum Übertritt zur SPD zu verleiten“. Überdies sei er „ein sozia­ldemokratischer Aufpasser, der von dem damaligen Innenminister [sic. Severing] gesandt worden [wäre], um Behörden und Beamten zu überwachen.“ Diese Formulierungen verraten eine sicher schon länger vorhandene, wahrscheinlich zeitbedingt verschärfte Aversion gegen die SPD. Die tieferen Gründe für die besondere Abneigung des neuen Regimes gegen den Beamten waren jedoch darin zu sehen, dass dieser während seiner Zeit im Polizeipräsidium heftige Konflikte mit der NSDAP des Gaues Köln-­Aachen durchzustehen hatte. Außer diesen Fällen wurden im Verlauf des Jahres 1933 im höheren Dienst der Regierung Aachen noch gegen eine Beamtin und vier weitere Beamte Maßnahmen nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums getroffen.26 Sie hatten alle dem Zentrum angehört und wurden entweder nach § 5 aus dienstlichen Gründen in ein anderes Amt von geringerem 24 Dazu ders., ebd., S. 414 ff. 25 Zum Folgenden ders., ebd., S. 417 f. Die Zitate von S. 418. 26 Vgl. Tabelle bei Pehle, ebd., S. 419; zum Folgenden ebd., S. 425 und 417; auch Gasten, ebd., S. 69.

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Rang oder nach § 6 aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung in den Ruhestand versetzt. Zumindest in einem Fall hat sich Reeder persönlich gegenüber dem Innenministerium für einen Beamten, welcher denunziert worden war, eingesetzt und erreicht, dass er bei der Behörde verblieb. Die „Zentrumsbeamten“ wurden zwar in ihrer Rechtsposition geschwächt, aber kamen doch glimpflicher davon. Insgesamt waren ein Drittel der höheren Beamten bei der Regierung Aachen betroffen. Besonders lagen die Dinge bei Reeders Vorgänger Stieler. Dieser war erst Ende 1921 in der Funktion eines kommissarischen Polizeipräsidenten als „Außenseiter“ in den öffentlichen Dienst gekommen. Rechtlich war dies unter bestimmten Voraussetzungen durchaus zulässig und im republikanischen Preußen häufiger praktiziert worden, wie in Kapitel 1 geschildert. Hätte man ihm im Nachhinein doch die Eignung abgesprochen, wäre nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums eine Entlassung aus dem Dienst möglich gewesen. Stieler hätte dabei keine Pensionsansprüche gehabt. Auch hätte man ihn nach § 4 des Gesetzes wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ mit um ein Viertel verringertem Ruhegehalt pensionieren können. Im August wurde Stieler jedoch nach § 6 endgültig in den Ruhestand versetzt. Auf diese Weise gelangte Stieler in den Genuss der vollen Ruhestandsbezüge, und dies durfte er seinem Nachfolger zuschreiben, der eine s­ olche für ihn günstige Lösung an höherer Stelle erreicht hatte.27 Ein bemerkenswerter Fall aus dem nachgeordneten Bereich ist der des Jülicher Landrats von Mylius, in dem Reeder sich wiederum von einer der NSDAP entgegenkommenden Seite zeigte.28 Von Mylius war kurz ausgedrückt eine gescheiterte Existenz. 1930 hatte er in der NSDAP eine Art „Zuflucht“ gefunden und es bis zum Kreisleiter von Jülich gebracht. Sein vehementer Einsatz für die NSDAP trug ihm aber auch Verurteilungen wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung und Schusswaffengebrauchs ein. Im Mai 1933 gelang ihm aber der zunächst vorläufige Sprung ins Jülicher Landratsamt. Reeder bestätigte dann im August 1933, er sei „nach seinen bisherigen Leistungen geeignet, mit der Leitung des Landratsamts […] endgültig beauftragt zu werden“. Deshalb bat er „im Einvernehmen mit der Gauleitung“ das Verfahren zur Ernennung einzuleiten. So wurde von Mylius mit Wirkung vom 1. November 1933 dann endgültig zum Landrat ernannt und erwarb auf ­diesem Wege die äußere Anerkennung, die ihm lange Zeit versagt geblieben war. Die eigentliche Arbeit im Landratsamt erledigte aber ein Kreissekretär. Schließlich ist noch auf die Ablösung des Aachener Oberbürgermeisters Dr. Wilhelm Rombach einzugehen.29 Reeders Rolle dabei ist von kennzeichnender Ambivalenz. Rombach war einer der führenden Vertreter des Zentrums und die wohl stärkste kommunalpolitische Gestalt im Aachener Regierungsbezirk. Nach der Machtübernahme der Nationalsozia­listen steigerten sich in Aachen die kommunalpolitischen Auseinandersetzungen z­ wischen der NSDAP und der Stadtverwaltung, aber Rombach konnte sich erstaunlicherweise noch einige Zeit im Amt halten. Insoweit verlief die Entwicklung in Aachen zunächst anders als in Köln. Mit der Auflösung des Zentrums Anfang Juli war Rombach die politische Basis genommen. So wurde er am 11. Juli 1933 vom preußischen Innenminister Göring telegraphisch beurlaubt. Die Aachener NS-Presse meldete die Beurlaubung, ohne sie mit dem gängigen Vorwurf von Verfehlungen im Amt zu verbinden. Sie zollte Rombach, sicherlich ungewollt, 27 Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 334; Pehle, ebd., S. 409 f. 28 Zum Folgenden Pehle, ebd., S. 438 f, mit FN 519. 29 Dazu ders., ebd., S. 481 ff. insbesondere S. 484 ff; von dort auch die Zitate.

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Respekt, indem sie ihn als „schwersten politischen Gegner und schlimmsten Hemmschuh“ für die Aachener NSDAP bezeichnete. Als kommissarischen Nachfolger setzte das Innenministerium den Stadtverordneten und stellvertretenden Kreisleiter Quirin Jansen ein. Zu einer Art Einführung wurde eine „pompöse Ratssitzung“ veranstaltet, auf dem Rathausplatz über Lautsprecher übertragen. Dabei ergriff auch Reeder das Wort, der offenbar Zweifel an der fachlichen Eignung Jansens zerstreuen wollte. Er rühmte den beruflich nicht sonderlich erfolgreichen Jansen als Vorbild für Aktivität und Energie, insbesondere wegen des „muster­gültigen frühen Selbststudiums, des Besuches der hiesigen Handelsschule sowie Kursen der Hochschule“. Jansen missverstand dies offenbar als eine Art Freibrief und scheute sich nicht, als eine seiner ersten Amtshandlungen Rombachs Entlassung nach § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zu beantragen. Zur Begründung bezog er sich schlicht auf bei der Gauleitung lagerndes Material. Der Regierungspräsident bezeichnete den Antrag als „gänzlich unzureichend begründet“ und veranlasste Jansen in einer persönlichen Aussprache dazu, ihn zurückzuziehen. Der Gauleiter aber beharrte weiter auf der Anwendung von § 4 des Gesetzes. Reeder nahm jetzt die Angelegenheit selbst in die Hand. Er erreichte Rombachs Bereitschaft, sich freiwillig zurückzuziehen. In einem Gespräch überzeugte er Grohé davon, dass er „es für untunlich [halte], den Oberbürgermeister der westlichsten Grenzstadt wegen mangelnder nationaler Gesinnung, also cum infamia, zu entlassen“; außerdem habe er sich „in der Besatzungs- und Separatistenzeit gut benommen“. Auf Grund dieser geschickten Argumentation zeigte sich Grohé nunmehr mit einer Pensionierung des früheren Oberbürgermeisters nach § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums einverstanden. Reeder beantragte sie dann am 26. August 1933 beim preußischen Innenministerium. Diese Lösung war für Rombach deutlich günstiger. Der Vorwurf „politischer Unzuverlässigkeit“ belastete ihn nicht mehr, und er erhielt seine volle Pension. Zur Gesamtwürdigung bei Reeders differenzierter Handhabung von Personalien sind zwei Obergruppen zu unterscheiden: Solche, bei denen Reeder in erster Linie den Wünschen der NSDAP entsprach und ­solche, bei denen er auf unterschiedliche Weise Einfluss genommen hat. Zur ersten Gruppe gehören die Fälle des „politischen Dezernenten“ Dr. Nockemann und des Landratsaspiranten von Mylius; auch die Rede auf Quirin Jansen kann man hierzu zählen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Reeder in allen drei Fällen letztlich gegen seine innere Überzeugung handelte. Eigentlich wollte er Nockemann in dieser Funktion nicht, und an der Eignung von Mylius’ und Jansens dürfte er starke Zweifel gehegt haben. Offenbar sah er aber nicht die Möglichkeit, sich in diesen Fällen insbesondere gegen die Gauleitung zu stellen, und ließ es erst gar nicht zu einem Konflikt kommen. Dies als schwächlich ansehen zu wollen, lässt außer Acht, dass es jedenfalls realistisch und letztlich klug war. Bei der zweiten Obergruppe sind drei Fallgruppen zu unterscheiden. Zunächst die der eher konservativen Zentrumsbeamten seiner Behörde, dann die der Beamten, ­welche der SPD angehört hatten, und schließlich die Fälle seiner beiden Vorgänger. Bei den eher konservativen Zentrumsbeamten wurde durchweg § 6 angewandt, der eine vergleichsweise günstige Lösung darstellte. Dies entsprach einem fürsorglichen Zug in Reeders Führungsverhalten. Die NSDAP konnte sich auch deshalb damit zufriedengeben, weil die übrigen Beamten des höheren Dienstes sich auf unterschiedliche Weise anpassten, ein großer Teil durch Parteibeitritt bereits im Frühjahr 1933. Bei den SPD-Beamten ging Reeder deutlich rigoroser vor und beantragte jeweils die Dienstentlassung nach § 4. Dies durfte allemal den Wünschen der Partei entsprochen haben. Hier zeigte sich die deutliche Distanz des nationalkonservativen

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Regierungspräsidenten zur untergegangenen Weimarer Republik und zur SPD als staatstragender Partei des republikanischen Preußens, die aber eben auch eine Partei der Linken war. Deren Angehörige gehörten nach seiner Meinung offenbar nicht in die Verwaltung. Fälle für sich waren die seiner beiden Vorgänger im Amt des Regierungspräsidenten. Beide waren zugleich profilierte Politiker des Zentrums gewesen, die sich in ihren Ämtern den erheblichen Unmut der NSDAP zugezogen hatten. Gleichwohl engagierte sich Reeder für sie in einer auffallenden Weise. Die Erklärung dürfte sein, dass er ­dieses Engagement dem Amt des Regierungspräsidenten und damit indirekt auch seiner eigenen Stellung als geschuldet ansah. Er legte auch Wert darauf, dass beide Herren weiter am „Regierungstisch“ teilnahmen, einem wöchentlichen Treffen der Beamten des höheren Dienstes.30 Mag in Reeders Motivation auch ein „eigennütziges“ Element enthalten gewesen sein, so änderte dies aber nichts daran, dass sie moralische Qualität besaß und es Courage erforderte, aus ihr heraus zu handeln. Dem gegenüber grenzt es an Schnödigkeit, wie er bei den Beamten vorging, die der SPD angehört hatten.

4.3.2 Autoritäres Staatsverständnis Reeders mit Blick auf Geheime Staatspolizei und katholische Jugendverbände Befremdlich mag erscheinen, wenn im folgenden Abschnitt sowohl „Geheime Staatspolizei“ als auch „katholische Jugendverbände“ behandelt werden, die oft in einem Täter-­Opfer-­Verhältnis standen. Maßgeblich ist aber hier der übereinstimmende Handlungsansatz des Regierungspräsidenten Reeder, der aus seinem autoritären Staatsverständnis erwuchs. Bei der Geheimen Staatspolizei ging es ihm um die Wahrung des für ihn unabdingbaren Grundsatzes der „Einheit der Verwaltung“. Die Wahrung der Staatsautorität war auch bestimmend bei der Eingrenzung der katholischen Jugendverbände. Zunächst ist auf die Darstellung in Kapitel 3 zu verweisen, wonach die Geheime Staatspolizei durch das Zweite Gestapogesetz aus der inneren Verwaltung herausgelöst und dem preußischen Ministerpräsidenten als deren Chef zugeordnet wurde. Durch einen Folgeerlass Görings waren die Staatspolizeistellen zu selbstständigen Behörden der Geheimen Staatspolizei bestellt worden. Der Machtkampf ­zwischen Göring und dem Reichsinnenminister Frick ging weiter, zumal dieser ab Mai 1934 zugleich auch preußischer Innenminister war. Himmler als kurz zuvor neu ernannter Inspekteur der Gestapo verfolgte ohnehin eigene Wege. In einer ausführlich kommentierten Dokumentation wird die weitere Entwicklung nachgezeichnet und dabei auch Reeders Haltung wiedergegeben.31 Im Frühsommer 1934 bestand eine breite Kluft ­zwischen den rechtlichen Regelungen und der Praxis. Wie bei den meisten Bezirksregierungen war auch in Aachen der politische Dezernent zugleich Leiter der Staatspolizeistelle. Ein allgemeiner Runderlass Görings hatte keine wirk­ liche Klarheit gebracht. Kurz darauf, am 7. Juli, gab Frick durch einen Erlass als Reichsminister des Innern den Regierungspräsidenten die monatliche Vorlage politischer Lageberichte auf, unbeschadet der besonderen Berichterstattung der Staatspolizeibehörden.32 Damit wollte er die Position der Regierungspräsidenten stärken. Im August 1934 machte Reeder bei seinem ersten Lagebericht deutlich, „daß noch die politische Verantwortlichkeit in seiner Hand lag“, indem 30 Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 335. 31 Plum, Staatspolizei, S. 191 ff. Vgl. auch Romeyk, Verwaltungsgeschichte, S. 268 ff. 32 Plum, ebd., Dok. 2, S. 210 f, S. 197 ff, auch zum Folgenden; dort auch das Zitat.

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er statt eines separaten eigenen Berichts den Monatsbericht der Staatspolizeistelle lediglich zusätzlich mit einem Begleitschreiben versah. Zur Begründung verwies er auf die Personengleichheit von politischen Dezernenten und dem Leiter der Staatspolizeistelle sowie auf den engen Informations- und Arbeitszusammenhang ­zwischen dieser und seiner Behörde. Eine andere Handhabung würde Mehrarbeit bedeuten und zu konkurrierender Berichterstattung führen, ­welche die Staatsautorität (!) schwächen würde. Görings Position gegenüber Frick und Himmler wurde im Verlauf des Herbstes 1934 deutlich schwächer. Wie in Kapitel 3 schon geschildert, überließ er im November Himmler die laufenden Geschäfte der Geheimen Staatspolizei, welcher dadurch zu deren Chef wurde. Das wachsende Machtgefühl des Geheimen Staatspolizeiamts zeigte sich in seiner Anordnung aus dem Frühjahr 1935, dass den Oberpräsidenten keine Tagesmeldungen der Staatspolizeistellen mehr vorzulegen s­ eien. Ihr Informationszugang wurde dadurch spürbar reduziert und ihnen die Wahrnehmung ihrer Funktionen, Weisungs- und Anordnungsrechte erschwert. Sich gegen die Anordnung des Geheimen Staatspolizeiamts an eine höhere Stelle zu wenden, sah sich ­Reeder wohl nicht in der Lage. Er bot jedoch dem Oberpräsidenten ersatzweise Informationen über „wissenswerte Geschehnisse“ an, also eine Art Alternativlösung als Ausdruck der Solidari­sierung der beiden Behörden der inneren Verwaltung.33 Ein gleichzeitiger Hinweis machte Reeders Befürchtungen deutlich: Aus dem fraglichen Geheimerlass scheine hervorzugehen, „daß die wiederholt in Aussicht gestellte Regelung der Zusammenarbeit der Staatspolizeistellen mit der allgemeinen Verwaltung, deren Notwendigkeit außer allem Zweifel steht, vorläufig nicht zu erwarten ist.“ Wenige Monate später sah Reeder offenbar den Zeitpunkt für gekommen an, die Dinge grundsätzlich zur Sprache zu bringen. Am 21. Juni 1935 sandte er „[o]hne Erlass“, also aus eigener Initiative, einen umfangreichen Bericht an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern.34 Er hatte das Thema der Verselbstständigung der Staatspolizei ersichtlich schon mehrfach angesprochen, wie ein einleitender Hinweis auf mehrere von ihm vorher schon erstattete Berichte bewies. Das Nebeneinanderbestehen zweier für dieselbe Angelegenheit im gleichen Bezirk zuständigen politischen Behörden sei für die Dauer untragbar, weil die politische Verantwortung innerhalb eines Gebietes „im Interesse der Einheitlichkeit der Staatsführung unteilbar in einer Hand liegen muß und ein Dualismus in der Handhabung der politischen Polizei die Sicherheit und Ordnung, der sie dienen soll, nicht verstärkt, sondern schwächt“. Als Beleg für diesen dezidierten Standpunkt gab er mehrere staatliche Anordnungen wieder, w ­ elche die Befugnisse von HJ-Streifen zu Pfingsten 1935, an dem zahlreiche Jugend- und Wandergruppen unterwegs waren, widersprüchlich regelten. Hier hatten unterschiedliche Anordnungen des Regierungspräsidenten und des Geheimen Staatspolizeiamts zu großer Verwirrung bei den Landräten geführt. Als weiteres Beispiel des fortschreitenden Dualismus z­ wischen innerer Verwaltung und Staatspolizei verwies Reeder auf die Folgen einer Entscheidung des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 2. Mai 1935. Danach ­seien deren Verfügungen nicht gerichtlich anfechtbar, ebenso wenig die der Landräte als Hilfsorgane der Geheimen Staatspolizei. Polizeiliche Verfügungen des Regierungspräsidenten blieben dies aber. Durch Zusammenarbeit könne dieser Dualismus allenfalls gemildert, aber nicht beseitigt werden. Ihm scheine jedoch „neuerdings

33 Ebd., Dok. 6, S. 214 f, von dort auch das Zitat. 34 Ebd., Dok. 7, S. 215 ff. Die Zitate sind auf S. 215 und S. 221.

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in zunehmenden Umfange die Tendenz innerhalb des Geheimen Staatspolizeiamtes dahin zu gehen, sich möglichst gegen die allgemeine Verwaltung zumindest in der Bezirksinstanz abzuschließen und die Maßnahmen selbstständig […] durchzuführen.“ So müsse festgestellt werden, „daß bei einer weiteren Entwicklung des Dualismus es dem Regierungspräsidenten insbesondere in einem Grenzgebiet kaum noch ermöglicht wird, die politische Verantwortung für Geschehnisse innerhalb seines Bezirks […] zu übernehmen.“ Schließlich spitzte Reeder die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung bis zum Letzten zu. Die Bekämpfung politischer Gefahren lasse sich von Aufgaben der allgemeinen Verwaltung nicht trennen. Auch Sonderbehörden, wenn man sie denn für notwendig halte, müssten „in den Bau der allgemeinen Verwaltung eingegliedert sein“. Das machte aber nach Reeders Argumentation eine Entscheidung notwendig. „Die Staatsautorität und -sicherheit verlangt eine einheitliche Führung und hiermit unlösbar verbunden Verantwortung einer Bezirksstelle; es gibt hier nur ein Entweder-­Oder: Regierungspräsident oder Staatspolizeistelle.“ Mit einem Unterton von Gekränktheit fügte er an, halte man „die Ersteren“ für weniger geeignet, Behörde der politischen Polizei zu sein, solle man sie dieser Verantwortung „entkleiden“. Das sei weniger „ein parteipolitisch bedeutsames Problem“, als „eine Frage des verwaltungstechnisch richtigen Aufbaues zur Beseitigung des für die Dauer untragbaren Dualismus in der Mittelinstanz, dessen Wachsen sich immer mehr zum Schaden des Ansehens des Staates und der Bewegung [!] auszuwirken droht.“ Der Bericht insgesamt und als Gipfelpunkt der Schlussteil zeigen Reeders Staatsauffassung, aber auch seine Sicht „der Bewegung“ mit voller Klarheit. Plums Resümee ist zuzustimmen: Die fast ausschließliche Fixierung auf die Verwaltungsführung schärft und trübt ihm den Blick. So erläutert er bemerkenswert weitsichtig, die aus der gegebenen Spaltung […] sich ergebenden Entwicklungstendenzen, übersieht jedoch, dass hier Kräfte mit ganz anderen Vorstellungen von 35 politischer Führung eine neue Exekutive aufbauen […].

Diese Kräfte, personifiziert im Inspekteur der Geheimen Staatspolizei, Heinrich Himmler, wollten eben weg von den traditionellen, preußisch geprägten Regierungspräsidenten hin zu Staatspolizeibehörden neuen Typs, ideologisch gefestigt und letztlich totalitär. Der große Grundsatzbericht Reeders hat allerdings die weitere Entwicklung nicht erkennbar beeinflusst, so wenig wie der in Kapitel 3 wiedergegebene „Immediatbericht“ Diels’ vom November 1934. Den Schlusspunkt von Reeders Aktivität auf ­diesem Felde bildete seine Replik auf einen Erlass Görings als Preußischer Ministerpräsident vom 2. April 1936, in dem er die Regierungspräsidenten ersuchte, „Lageberichte in Zukunft nicht mehr zu erstatten“.36 Diese Pflicht war ihnen ja durch den oben erwähnten Erlass Fricks vom Juli 1934 aufgegeben worden. Die Anordnung Görings entsprach offenbar einer Intention des Geheimen Staatspolizeiamts. Die Begründung war einigermaßen merkwürdig. Göring mäkelte über die Inhalte der Berichte. Sie schwächten Tat- und Entschlusskraft; es werde berichtet, statt selber einzugreifen (!). Weiter glaubte er, befürchten zu müssen, dass die Lageberichte die Stimmung verschlechterten, indem sie bei der Erstellung und Bearbeitung einem größeren Personenkreis bekannt würden. Noch schlimmer wäre, wenn s­ olche Lageberichte „in falsche Hände, insbesondere in dem uns gegenüber noch feindlich eingestellten Auslande, geraten sollten […].“ Zuletzt zog er noch einen Gesichtspunkt

35 Ebd., S. 203. 36 Ebd., Dok. 8, S. 222 f, von S. 223 das Zitat.

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heran, welcher seine bisherige Argumentation im Grunde überflüssig machte. Lageberichte ­seien auch nicht erforderlich, weil die Partei die Stimmung im Volke weit besser kenne und beurteilen könne, als dies der Bürokratie der Behörden möglich sei. Nur wenige Tage später, am 7. April 1936, antwortete Reeder dem preußischen Ministerpräsidenten.37 Einigermaßen pikiert verwies er eingangs darauf, dass er die von ihm persönlich verfassten Lageberichte, wie in dem Ausgangserlass vom 7. Juli 1934 gefordert, im Interesse einer ungeschminkten Unterrichtung und als Behördenleiter für deren Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit verantwortlich, pflichtgemäß vorgelegt habe. Aber er widersprach in der Sache Göring nicht, wahrscheinlich weil er es für aussichtslos hielt. Jedenfalls zog er seinerseits weitere Konsequenzen und teilte mit, er habe die Landräte und Ortspolizeibehörden angewiesen, auch ihm keine Lageberichte mehr vorzulegen. Reeder schloss dann eine sarkastische Wendung an, weil diese Behörden dieselben Unterlagen bisher auch dem Leiter der Staatspolizeistelle einzureichen hatten. Da aber die […] ausgesprochene Befürchtung hinsichtlich einer Bekanntgabe der Lageberichte im Auslande bei einer Fortsetzung dieser Berichterstattung durch die zahlreichen Kreis- und Ortspolizeibehörden kaum vermindert wird, im übrigen die Staatspolizeistelle wohl ebenso wie die Regierungspräsidenten bürokratische Behörden im Sinne des dortigen Erlasses sind, ist m. E. auch Weisung an die Landräte zu geben, ebenfalls die Unterrichtung der Staatspolizeistelle einzustellen.

Gerade wenn man Reeders Sachlichkeit und strenge Dienstauffassung berücksichtigt, muss man diesen Bericht, wie Plum, als „bösen Brief “ bezeichnen. Aber die Entwicklung ging, wie auch Reeder schon verspürte, unaufhaltsam in eine dem Regierungspräsidenten abträgliche Richtung. Im Sommer 1936 wurde der Reichsführer SS, Himmler, zum Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern ernannt und insoweit zum Vertreter des Ministers bestellt.38 Kennzeichnend für das Verhältnis des Regimes zur katholischen K ­ irche insgesamt war das Vorgehen der Staatsbehörden gegenüber den katholischen Jugendverbänden. So war dies auch für Reeder ein wichtiges Thema, vor allem in seinen ersten Amtsjahren. Reeder selbst war evangelisch. Nach drei Katholiken war also wieder ein Protestant Regierungspräsident d ­ ieses ganz überwiegend katholischen Bezirkes geworden. Dem Vernehmen nach hatte Reeder ein eher distanziertes Verhältnis zu seiner K ­ irche; die Organisation der katholischen K ­ irche soll er bewundert haben. Offenbar faszinierte ihn die straffe hierarchische Gliederung. Reeders Amtsführung soll konfessionell neutral gewesen sein.39 Wie in Kapitel 2 generell geschildert, wuchsen auch speziell im Regierungsbezirk Aachen schon bald nach der Machtübernahme die Spannungen ­zwischen der Jugendorganisation der NSDAP und den katholischen Jugendverbänden.40 Den zahlreichen, zunächst meist nur punktuellen Übergriffen der Hitlerjugend setzte das Bischöfliche Generalvikariat die Parole entgegen, keine Rechte aufzugeben, aber Erregung zurückzuhalten. Reeder, der dies offenbar aufmerksam beobachtete, berichtete am 24. Juni 1933 dem Reichsjugendführer über Reibungen von SA und HJ mit den konfessionellen Jugendverbänden.41 Anlass war, dass der 37 38 39 40 41

Ebd., Dok. 9, S. 223 f, Zitat von S. 224; dazu auch S. 204. Erlass vom 17. Juni, RGBl., S. 487. Gasten, ebd., S. 56; zum Vorigen Plum, Staatspolizei, S. 207. Grundlegend hierzu Schellenberger, Katholische Jugendverbände im Bistum Aachen, S. 297 ff. Schellenberger, Katholische Jugend und Drittes Reich, S. 58 f.

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Reichsjugendführer den Großdeutschen Bund, einem Zusammenschluss von Verbänden der bündischen Jugend, zwangsweise aufgelöst und die Mitglieder in die Hitlerjugend eingegliedert hatte. Dies hatte große Unruhe erzeugt. Dem Reichsjugendführer zu berichten, war für Reeder ein ungewöhnlicher Schritt, aber sicherlich mit Bedacht zum Zweck einer „ungeschminkten Unterrichtung“ (siehe oben) gewählt. Er war wegen des „grenzpolitischen Interesses“ des Regierungsbezirks in Sorge und befürchtete „ernsthafte kulturpolitische Schwierigkeiten“.42 Unter dem Eindruck fortbestehender Spannungen suchten am 11. Juli Domkapitular Jansen und Diözesanpräses Mund den Regierungspräsidenten zu einem Gespräch auf.43 Sie hofften dadurch die Situation beruhigen zu können. Diese Hoffnung war genährt worden durch ein „Versprechen“ Reeders in einem überaus höflichen Dankesbrief auf ein Handschreiben des Bischofs hin. Ich werde stets darauf bedacht sein, im vollsten Einvernehmen mit Euer Exzellenz die Belange der katholischen ­Kirche meines Bezirks, insbesondere auch der katholischen Jugendbewegung objektiv wahrzunehmen und für ein friedliches Nebeneinanderarbeiten der beiden Jugendbewe­ gungen zu sorgen.

Eine Behebung der Spannungen konnte aber nicht allein durch einen solchen Kontakt erfolgen. Immerhin hatte Reeder sich gesprächsbereit gezeigt. In der Unterredung waren zwar nicht alle Beschwerdepunkte bereinigt worden, aber auf kirchlicher Seite war die Hoffnung geblieben, das werde doch gelingen. Dabei ging es auch darum, dass die Rücknahme der schon mehrfach erwähnten generellen Schließung der Geschäftsstellen insbesondere der katholischen Jugendverbände durch das Geheime Staatspolizeiamt vom 1. Juli 1933 vollständig umgesetzt werde.44 Die Erwartungen, durch Abschluss des Reichskonkordats am 20. Juli 1933 sei eine befriedigende Regelung der Verhältnisse getroffen worden, erfüllten sich jedoch nicht. Die bestehenden Unsicherheiten waren es wohl, die Reeder veranlassten, am 23. August 1933 dem Oberpräsidenten einen ausführlichen Bericht über das Verhältnis der katholischen Jugendverbände zur Hitlerjugend zuzuleiten. Als größte Schwierigkeit bezeichnete er den Mangel an klaren Grundsätzen und einheitlicher Durchführung sowie die Anmaßung behördlicher Befugnisse durch die HJ.45 Die katholischen Jugendverbände hätten ein Recht darauf zu erfahren, inwieweit sie für die Zukunft zugelassen würden und sich betätigen dürften. Wichtig sei eine baldige grundsätzliche Klärung, und zwar durch die amtlichen Organe. Aus dem Bericht lässt sich ein weiteres Mal Reeders Staatsverständnis ersehen; es ist keine Sympathieerklärung für die Verbände. Er wollte offensichtlich erreichen, dass der Staat seine Autorität wahre, insbesondere indem er Parteiorganisationen in ihre Schranken weise. Im Interesse aller Beteiligten würde dies zu klaren Verhältnissen führen. Das Regime war aber nicht daran, sondern allein am Ausbau seiner Macht interessiert, was Reeder verkannte. Sein Bemühen um Ausgleich der Spannungen brachte auch sein ausgewogener Bericht vom 8. November 1933 über 42 Gasten, ebd., S. 292 f, mit FN 59. 43 Schellenberger, Katholische Jugendverbände im Bistum Aachen, S. 301 f. Der folgende Brief Reeders vom 2. Juni 1933 in: Diözesanarchiv Gvs L 8, I. 44 Vgl. Schreiben des Generalvikariats an den Regierungspräsidenten vom 14. Juli 1933. Diözesanarchiv Gvs J 14, I, Bl. 107. 45 Schellenberger, Katholische Jugend und Drittes Reich, S. 59.

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„Hitlerjugend – katholische Jugendorganisation und katholische K ­ irche“ zum Ausdruck. Das darin wiedergegebene Stimmungsbild entsprach der Realität. Kaum realistisch war jedoch das Postulat, es müsse doch eine Aufgabenteilung und ein Nebeneinander z­ wischen Hitlerjugend und katholischer Jugend möglich sein. Die NSDAP war nicht willens, ihren Führungsanspruch aufzugeben und die Jugendarbeit mit der K ­ irche zu teilen.46 Während das preußische Innenministerium keine Aktivitäten entwickelte, bemühte sich der Oberpräsident von Lüninck um eine einheitliche Regelung der Problematik zumindest für seine Provinz.47 Am 30. November 1933 legte er, wie schon in Kapitel 2 erwähnt, in einem nicht veröffentlichten Erlass an die Regierungspräsidenten Grundsätze zur Anwendung des Reichskonkordats fest. In diesen war als ein wesentliches Element ein striktes Verbot jeg­ licher öffentlicher Betätigung der Jugendverbände außerhalb der kirchlich-­religiösen Sphäre enthalten. Danach verfuhren die Regierungspräsidenten im Wesentlichen. Eine umfassende Klärung wurde so aber nicht erreicht. Kurz zuvor hatte ein Erlass des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung eine großzügige Regelung zum Tragen von einheitlicher Kleidung und Abzeichen getroffen. Reeder gab nun aber diesen Erlass nicht weiter, offensichtlich, um Verwirrung unter den nachgeordneten Dienststellen zu vermeiden. Ihm ging es um Klarheit und Eindeutigkeit, nicht jedoch darum, einmal eine günstigere Regelung zuzulassen. Die Stellung der NSDAP insgesamt war im Aachener Bezirk innerhalb der ­Rheinprovinz vergleichsweise besonders schwierig, jedenfalls ungleich mehr als in Köln. Das lag an dem höheren katholischen Bevölkerungsanteil; die damit verbundene größere Zentrums-­Dominanz wirkte noch nach. Das alles musste Reeder berücksichtigen. Prekär waren die Auseinandersetzungen um den im Oktober 1933 zum HJ-Oberbannführer neu berufenen Gottfried Tersteegen.48 Dieser war bereits seit mehreren Jahren in der Aachener Hitlerjugend hervorgetreten und häufig durch antikirchliche Äußerungen aufgefallen. So wurde von kirch­licher Seite heftig gegen seine Bestellung protestiert. Reeder seinerseits machte die mindere Qualifikation der HJ-Führer, die „im umgekehrten Verhältnis zu der Größe der […] fast historisch zu nennenden Aufgaben“ stehe, für deren provokantes Auftreten verantwortlich. Er bemühte sich, den Konflikt beizulegen. Die Kreisleitung verbat sich jedoch eine „Einmischung“ des Regierungspräsidenten. Nun setzte sich Reeder unmittelbar mit der Gauleitung in Verbindung. Der Gauleiter verwarnte den HJ-Führer und verbot ihm die Verteilung antikirchlicher Flugblätter. Tersteegen blieb allerdings noch für einige Zeit in seinem Führungsamt. Reeder hatte dank seines „direkten Drahts“ zum Gauleiter immerhin, aber auch nur einen Teilerfolg errungen. Die Ordnungsmaßnahme des Gauleiters brachte aber die HJ-Führung nicht von ihrem Kurs ab, und so hielten die Auseinandersetzungen an. Am 21. Januar 1934 verbot der Aachener Polizeipräsident eine Veranstaltung des katholischen Jungmännerverbandes „auf Grund der angespannten Lage und zur Wahrung von Ordnung und Sicherheit“. Nicht von ungefähr war ­dieses Verbot erfolgt, nachdem am Tag zuvor eine Anordnung der Staatspolizeistelle Aachen ergangen war, die den konfessionellen Jugendverbänden unter anderem das Tragen von Bundestracht und jedes geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit verboten hatte, auch jede öffentliche

46 Gasten, ebd., S. 293; Schellenberger, Katholische Jugendverbände im Bistum Aachen, S. 303. 47 Schellenberger, Katholische Jugend und Drittes Reich, S. 62 ff, auch zum Folgenden. 48 Gasten, ebd., S. 293 f, auch zum Folgenden.

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Kundgebung in Schrift und Wort.49 Dies war die zweite einer Serie von Anordnungen aller fünf Staatspolizeistellen der Rheinprovinz, die, wie ebenfalls in Kapitel 2 schon geschildert, in der Zeit von Januar bis April ergingen. Wohl der Sichtweise des Geheimen Staatspolizeiamts entsprechend, hatten sie den Charakter reiner Abwehrmaßnahmen.50 Die Aachener Anordnung war noch recht knapp formuliert; sie lehnte sich zwar an den Lüninck-­Erlass an, aber mit rein negativen Formulierungen, und verbot auch jede sportliche und volkssportliche Betätigung. Hier ist schwer auszumachen, ob dies wirklich der Einstellung des eigentlich um Ausgleich bemühten Regierungspräsidenten entsprach, oder ob er sich, der doch durchsetzungsstark war, nicht gegenüber der Stapo-­Stelle hat behaupten können. Nach wie vor betrachtete Reeder es als einen Mangel, dass in Preußen eine einheitliche Regelung zu den Jugendverbänden fehlte. Deshalb bat er Ende April 1934 um Erweiterung der Tagesordnung der nächsten Regierungspräsidentenkonferenz und schlug dafür den Punkt „Einheitliche Anordnung über Beschränkungen der konfessionellen Jugendarbeit“ vor.51 D ­ ieses Vorgehen entsprach in der Sache auch den Intentionen des Oberpräsidenten, der jedoch mit seinen Vorstellungen beim Innenministerium nicht durchdrang. Wahrscheinlich wurde der Tagesordnungspunkt erst gar nicht für die Konferenz angenommen. Um wenigstens eine einheitliche Regelung für die Rheinprovinz zu erreichen, gab von Lüninck am 15. Mai Grundsätze über das öffentliche Auftreten der konfessionellen Verbände bei kirchlichen Veranstaltungen bekannt. Das stellte einen Versuch dar, die über seinen Erlass vom 30. November 1933 hinausgehenden staatspolizeilichen Anordnungen der ersten Monate des Jahres aufzufangen. Zur Unterstreichung seiner Absichten hatte er die Bitte hinzugefügt, die Grundsätze nicht kleinlich anzuwenden. Wie schon in Kapitel 3 geschildert, erließen noch in d ­ iesem Monat außer dem Koblenzer die vier anderen Regierungspräsidenten selbst in Anlehnung an die Grundsätze Polizeiverordnungen. Die Aachener „Polizeiverordnung betr. konfessionelle Organisationen und Jugendorganisationen sowie Verkauf von Druckschriften in der Nähe von ­Kirchen und bei kirchlichen Veranstaltungen“ erging am 26. Mai 1934. Unter Bezug auf diese Verordnung des Regierungspräsidenten hob der Leiter der Staatspolizeistelle Aachen am selben Tage seine eigene Anordnung vom 20. Januar wieder auf.52 Formal hatten von Lünincks Grundsätze also in Aachen ihr Ziel erreicht. Inhaltlich war das aber nicht der Fall. Alle vier Polizeiverordnungen hatten die Tendenz, ungeachtet von Unterschieden im Einzelnen, die staatspolizeilichen Anordnungen in der Sache zu bestätigen und sogar näher auszuführen. Das bedeutete zugleich eine Verschärfung, wie beispielsweise das ausdrück­liche Verbot gemeinsamen Wanderns und des Tragens von einheitlicher Kleidung, der „Kluft“. Hinzu kam noch das bis ins Detail formulierte Verbot des Vertriebs, des Verkaufs oder der Verteilung von Presseerzeugnissen jeder Art, insbesondere auch von Flugblättern auf allen der Öffentlichkeit zugänglichen Straßen und Plätzen (§ 3 VO Aachen). Bei Zuwiderhandlungen gegen die Polizeiverordnung konnte, wie übrigens auch in der Kölner Verordnung angedroht, Schutzhaft verhängt werden. Insgesamt gesehen, war inhaltlich die Intention der Grundsätze des Oberpräsidenten eher ins Gegenteil verkehrt. So gab es denn auch zahlreiche Proteste und auch Anfragen von kirchlicher Seite.

49 50 51 52

Abgedruckt in Schellenberger, ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 64 f. Von dort auch das folgende Zitat. Hierzu und zum Folgenden: Gasten, S. 295 f; Schellenberger ebd., S. 68 ff. Beides abgedruckt im Amtsblatt der Preußischen Regierung in Aachen (Sonderausgabe) vom 28. Mai, S. 142.

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In § 1 der Aachener Verordnung, einer allgemeinen Verbotsvorschrift, fehlt der in Köln vorangestellte Satz: „Die konfessionellen Verbände sind bei ihrer kirchlichen und religiösen Betätigung zu schützen.“53 Diese scheinbar freundliche Geste war eher ein Verschleierungsmanöver; denn es folgten im Verordnungstext fast nur Restriktionen. Eine s­ olche Camouflage war nicht nach Reeders Art, er blieb lieber sachlich und streng. „Die von Reeder erlassene Polizeiverordnung bedeutete das Ende aller Versuche, das Verhältnis ­zwischen HJ und katholischer Jugend in gütigem [gemeint ist wohl: gütlichem] Einvernehmen zu regeln.“54 In der Tat blieb es bei diesen Polizeiverordnungen, und Reeder selbst ist auch auf ­diesem Gebiet erkennbar nicht mehr hervorgetreten. Es war eine, gemeinsam mit den Verordnungen der anderen Regierungspräsidenten für den größten Teil der Rheinprovinz geltende, weitgehend übereinstimmende Regelung getroffen worden. Ob sie ihm in allen Punkten gefiel, war zweitrangig; wichtiger waren Eindeutigkeit und Einheitlichkeit. Reeder wäre es nicht in den Sinn gekommen, einen Vorstoß wie den von Diels bei Göring zu unternehmen. Dieser hatte, wie in Kapitel 3 geschildert, eine mildere Handhabung der Verordnung erreichen wollen. Der katholischen K ­ irche insgesamt zollte der Aachener Regierungspräsident durchaus Respekt und setzte sich für eine gemäßigte Haltung ihr gegenüber ein.55 Ungeachtet der Auffassungsunterschiede ­zwischen einem Funktionsträger des NS-Staates und Kirchenvertretern wusste er die Form zu wahren. Das belegen Formulierungen aus seinen Lageberichten an den Reichs- und preußischen Minister des Innern.56 Einmal schrieb er: Das Verhältnis ­zwischen der Verwaltung und den kirchlichen Behörden ist in jeder Beziehung befriedigend. Wiederholt habe ich Gelegenheit genommen, sowohl über grundsätzliche Fragen als auch über Einzelheiten mit dem Bischof oder mit dem Weihbischof als Generalvikar zu verhandeln, um so Spannungen, soweit sie auf Missverständnissen beruhen, zu bereinigen.

Ein anderes Mal hieß es lapidar: „Das Verhältnis meiner Verwaltung mit den Kirchenbehörden ist nach wie vor korrekt.“ Einmal formulierte er sogar, der Verkehr bewege sich „in angenehmen Formen“. Reeder konnte aber auch einen anderen Ton anschlagen, wie in einem Schreiben ohne Anrede und Grußformel an den „Hochwürdigsten Herrn Bischof “ vom 26. März 1935, also einen Monat nach dem „Heldengedenktag“.57 Grund dafür war die Erklärung von „an sich über das Hausrecht […] verfügenden Geistlichen […], zur Anbringung eines Kranzes mit Hakenkreuz-­ Schleifen am Gefallenendenkmal in der K ­ irche die Genehmigung nur nach vorheriger Zustimmung ihrer vorgesetzten Kirchenbehörde geben zu können.“ Er bat nun den Bischof um eine Anweisung an die Geistlichen, damit sich in der Bevölkerung nicht die Ansicht verbreite, „als wenn die hohen kirchlichen Behörden den Standpunkt vertreten, dass Kranzschleifen in den Farben des neuen deutschen Reiches an den Gedenktafeln der im Weltkrieg Gefallenen in der

53 54 55 56

Vgl. Amtsblatt der Regierung zu Köln vom 9. Juni 1934. Gasten, ebd., S. 296. Fehrmann, Lebensbilder, S. 311. Die folgenden Zitate aus dem Bericht vom 4. Dezember 1934, in: Vollmer, Volksopposition, S. 116 ff (S. 119); ebd. Bericht vom 7. Februar 1935, S. 164 ff (S. 167); ebd. Bericht vom 9. August 1934, S. 72 ff (S. 75). 57 Diözesanarchiv Gvs L 8, I.

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­ irche keinen Platz hätten.“ Es war wohl neben der Zurückweisung der Reichsfarben seine K eigene Kriegserfahrung, ­welche seine unmutige Reaktion hervorgerufen hatte. Das weitere Jahr 1935 war durch eine generelle Verschärfung des kirchenpolitischen Kurses gekennzeichnet, der mit der weiteren Machtkonsolidierung des Regimes einherging. Dazu gehörte auch die Propagandaoffensive des Regimes wegen der Devisenvergehen von Geist­ lichen und Ordensleuten. Sie führte auf der kirchlichen Seite zu einer starken Solidarisierung der Mitglieder, insbesondere der katholischen Jugend, nach innen und nach außen. Eine s­ olche Verfestigung der beiderseitigen Standpunkte hatte Reeder bereits in einem Lagebericht an den Reichs- und preußischen Innenminister am 4. Dezember 1934 angesprochen. Er schrieb, es mehrten sich „die inneren Konflikte der Eltern, die vor der Wahl stehen, ihre Kinder der HJ bzw. dem BDM oder der KJ [Katholische Jugend] zuzuweisen. Zweifellos setzt sich der innere Ausbau und das offizielle nicht bemerkbare Sammeln der katholischen Jugendorganisation ständig fort.“58 Die letzten Monate der Aachener Amtszeit Reeders im Jahre 1936 waren durch eine Verbindung von Zurückdrängen und Rückzug der katholischen Jugend auf den innerkirchlichen Raum gekennzeichnet.59 Dem „Anfangsversprechen“ des Regierungspräsidenten gegenüber dem Bischof, „insbesondere auch die Belange der katholischen Jugendbewegung objektiv wahrzunehmen und für ein friedliches Nebeneinanderarbeiten der beiden Jugendbewegungen zu sorgen“, hatte Reeder kaum mehr Genüge tun können.60

4.3.3 Wirtschaftliche Lage des Grenzlandes und das Nachbarland Belgien Der Regierungsbezirk Aachen war während des Kaiserreiches eine wirtschaftlich ausgesprochen gesunde Region gewesen.61 Bodenschätze und prosperierende Industriezweige trugen dazu wesentlich bei. Durch die bekannten Kriegsfolgen und zusätzlich durch ­sozia­le Unruhen geriet das Gebiet in eine krisenhafte Situation. Sie konnte trotz großer Bemühungen während der Weimarer Zeit kaum verändert werden. Die Lage wurde seit Herbst 1929 durch die Weltwirtschaftskrise noch um einiges schlimmer. Die über ein Jahrzehnt währende Zeit wirtschaftlichen Niedergangs hatte viele Menschen in Not gebracht. Auch wenn die Bevölkerung des Aachener Raumes insgesamt gegenüber der NSDAP eher reserviert eingestellt war, hatten nach deren Machtübernahme sicherlich Erwartungen bestanden, die wirtschaftliche Lage werde sich nun bessern. Sie wurden aber auf ganzer Linie enttäuscht. Die Aachener Wirtschaft konsolidierte sich nur langsam. An dem wirtschaftlichen Aufschwung, der nach 1933 im Reichsgebiet allmählich einsetzte, nahm sie nicht teil. Dieser war hauptsächlich durch die Aufrüstung bedingt, und für Investitionen auf ­diesem Gebiet war Aachen ein schlechter Standort. Arbeitskräfte wanderten in Gebiete mit höheren Löhnen ab. Nach einem niederschmetternden Urteil blieben „Stadt und Regierungsbezirk Aachen auch während des Dritten Reiches ein wirtschaftliches Notstandsgebiet“. Zwei Faktoren waren dafür ausschlaggebend. Einmal die Grenzlage, zum Zweiten fehlende Förderung seitens des Regimes. Strategische Überlegungen dürften dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Der unbedingte Wille seines Führers und die innere Dynamik des Regimes waren auf Krieg ausgerichtet. Auch wenn dieser ins feindliche 58 59 60 61

Vollmer, ebd., S. 116 ff (S. 119). Gasten, ebd., S. 300. Brief vom 2. Juni 1933, vgl. oben FN 43. Vgl. die Zusammenfassung bei Gasten, ebd., S. 271 ff. Auch zum Folgenden.

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Gebiet getragen werden sollte, war nicht außer Acht zu lassen, dass das Grenzland Kriegs­ gebiet werden konnte. Die Möglichkeiten eines Regierungspräsidenten, zur Wirtschaftsförderung tätig zu werden, waren damals nicht sehr zahlreich. Reeder engagierte sich gleichwohl auf d ­ iesem Gebiet; beispielhaft dafür ist das Projekt eines Kanals von Aachen zum Rhein.62 Die Idee dazu war Mitte der Zwanzigerjahre aufgekommen. Der Kanalbau hätte nach ersten Berechnungen, die noch in der Weimarer Zeit angestellt worden waren, für mehrere Jahre 30.000 Arbeitsplätze gesichert und die Baukosten von 180 Millionen Reichsmark deshalb 100 Millionen Reichsmark an Arbeitslosenunterstützung eingespart. 1935 nahm sich Reeder persönlich des Projekts an. Er verfasste eine Denkschrift „Der Aachen-­Rhein-­Kanal, eine grenzpolitische Aufgabe“. Zunächst argumentierte er ökonomisch, um dem ursprünglichen Zweck des Kanalbaus, der Wirtschaftsförderung, noch einmal Gewicht zu verleihen. Dann aber verwandte er, was schon im Titel anklang, allgemeinpolitische Argumente, ­welche die Verantwortlichen des Regimes auf eine spezifische Weise ansprechen sollten. „Die Wirtschaftsgrenze ist der Vorläufer der Volkstumsgrenze“, es sei eine „Austrocknung der bevölkerungspolitisch wichtigen Grenzmark“ zu befürchten. Letztlich gehe es um Grenzsicherung; denn eine Grenzbevölkerung, die wegen einer wirtschaftlichen Benachteiligung desillusioniert sei, könne zu einer Gefahr für den Staat werden. Auch wenn Reeder hier, sicherlich bewusst, die Sprache der Zeit verwandte, war seine Sicht nicht ausschließlich nationalsozia­listisch. Grenzsicherung war auch Anliegen für einen Nationalkonservativen. Die Denkschrift zeigte wohl Wirkung; in den Folgejahren schien der Baubeginn unmittelbar bevorzustehen. Er wurde aber, vor allem wegen des Mangels an Mitteln, immer wieder verschoben, bis der Kriegsausbruch ihn endgültig verhinderte. Das besondere „Grenzlandbewusstsein“ Reeders kam gegen Ende seiner Aachener Amtszeit 1936 anlässlich der Aufnahme des Landeshauptmanns Haake in den Vorstand der „Gesellschaft von Freunden der Aachener Hochschule“ (FAHO) zum Ausdruck.63 Sie war zur Förderung auslandswissenschaftlicher Studien und Forschungen gegründet worden. In ihrem Vorstand dominierten Vertreter der westexpansiv ausgerichteten Schwerindustrie. Haake war der erste Nicht-­Industrielle im Vorstand und ein Protagonist völkischer Grenzlandpolitik. Höhepunkt der Hauptversammlung der FAHO war eine „Grenzlandfahrt“, auf der Regierungspräsident Reeder zahlreiche Gäste vor Ort über die „grenz- und wirtschaftspolitische[n] Fragen“ des Gebiets unterrichtete. Hier stellt sich nun die Frage, wie sich das Verhältnis zu Belgien in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ entwickelte, und sich auf das Grenzland auswirkte. Die nationalsozia­ listische Machtübernahme hatte im demokratisch-­parlamentarischen Belgien allgemein einen kritischen Widerhall erzeugt.64 Überraschend kam es aber außenpolitisch zu einer gewissen „Entspannung“, während noch in der Weimarer Zeit die Abtretung von Eupen-­Malmédy und die aktive „Volkstumsarbeit“ die Beziehungen belastet hatten. „Tatsächlich war Hitler in konsequenter Verfolgung seiner seit 1933 praktizierten Eupen-­Malmedy-­Politik bereit, aus übergeordneten außenpolitischen Gründen […] zumindest vorübergehend auf Eupen-­Malmedy zu verzichten.“ Obwohl die Rheinlandbesetzung am 7. März 1936 die aggressiven Absichten

62 Hierzu und zum Folgenden ders., ebd., S. 230 f, dort auch die Zitate aus der Denkschrift. 63 Müller, Thomas, Ausgangsstellung zum Angriff, S. 823, auch zum Folgenden mit den dortigen Zitaten. 64 Vgl. Lejeune, Die deutsch-­belgischen Kulturbeziehungen 1925 – 1980, S. 170 ff. Zum Folgenden vgl. S. 132 ff.

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des „Dritten Reiches“ erkennen ließ, wurde aber die Annäherungspolitik z­ wischen Belgien und dem Reich fortgesetzt. Gauleiter Grohé gerierte sich zunehmend für die (zurückhaltender praktizierte) „Volkstumsarbeit“ verantwortlich und übernahm im März 1936 „die Gesamtführung der Angelegenheiten in Eupen-­Malmédy“. Für Reeder blieb insgesamt nur eine administrative Rolle. Er beobachtete genau die Verhältnisse in Belgien und die Beziehungen z­ wischen der Bevölkerung diesseits und jenseits der Grenze, wie Beispiele aus seinen Lageberichten zeigen. So berichtete er am 5. März 1934 über einen Generalstreik in dem westlich von Eupen gelegenen Verviers, Teilnehmerzahlen, Streikursachen und Auswirkungen auf den Grenzverkehr.65 In seinem Lagebericht vom 9. August 1934 teilte er unter der Überschrift „Ausland“ mit, es lasse sich nicht vermeiden, dass „die Stimmung im hiesigen Bezirk durch das 240 km angrenzende Ausland Holland und Belgien sowohl durch Lesen der ausländischen Presse, das Hören der ausländischen Sender sowie einen persönlichen Meinungsaustausch jenseits der Grenze sehr stark beeinflusst wird.“66 Aus all dem lässt sich trotz des kritischen Blicks auf die dortigen politischen Verhältnisse nicht erkennen, dass von dem benachbarten Belgien negative wirtschaftliche Einflüsse auf den Bezirk Aachen ausgegangen sind. Dasselbe gilt für die Niederlande.

4.3.4 Verhältnis zur NSDAP: Distanz, Loyalität und der 30. Juni 1934 Ein von den neuen Machthabern aus dem Amt gedrängter Beamter, wahrscheinlich der an die Regierung Aachen versetzte frühere Landrat Hermann Wandersleb, soll geäußert haben, ­„Reeder sei ebensowenig Nationalsozia­list gewesen wie er“.67 Dieses wohlwollende Urteil wirft auch die Frage auf, wie das Parteimitglied Reeder sich als Behördenleiter zur NSDAP verhielt. Der Regierungspräsident soll sich mehrfach „das Hereinreden der Partei in die staatliche Verwaltung verbeten“ haben. Einzelheiten dazu sind nicht überliefert, konkrete Belege schwerlich zu finden. Auch übte er, wie erwähnt, harte Kritik an der Hitlerjugend. Sie betraf lokal begrenzte Teile der HJ. Das brachte ihn nicht ernstlich mit der Partei in Konflikt. Andererseits hat sich gezeigt, dass er in Personalangelegenheiten mehrfach den Erwartungen und Wünschen der NSDAP entsprochen hat. Letztlich wollte er damit einen offenen Konflikt vermeiden. Ein wirklicher Widerspruch ist in diesen Verhaltensweisen nicht zu erblicken. Reeder aber ist immer wieder, und das war entscheidend, mit dem Gauleiter Grohé in Verbindung getreten. Entweder hat er ihn als eine Art „Berufungsinstanz“ gegenüber den örtlichen Parteidienststellen in Anspruch genommen oder bei ihm Unterstützung gesucht. Es gelang ihm dabei, wie im Fall des Aachener Oberbürgermeisters Rombach, den Gauleiter zu überzeugen und auf seine Seite zu bringen. Auch erreichte er, dass der Gauleiter den HJ-Führer Tersteegen verwarnte. Anders als Diels respektierte er den Gauleiter ohne Einschränkung und vermittelte ihm das Gefühl seiner Loyalität. Die personell eher schwach besetzte Kreisleitung nahm er offensichtlich weniger ernst. So hieß es bezeichnenderweise in einem Lagebericht Reeders an Frick vom 9. August 1934: „Das Verhältnis der PO [Politische Organisation] zu den Behörden ist in meinem Bezirk im allgemeinen durchaus zufriedenstellend. Das gilt insbesondere für

65 Vollmer, ebd., S. 27 ff (S. 46). 66 Ebd., S. 74. 67 Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 335, auch zum Folgenden.

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die Beziehungen der Regierung zur Gauleitung.“68 Reeder sah also den Gauleiter als entscheidende Bezugsperson und oberste Instanz in seinem Verhältnis zur NSDAP an. Dies entsprach den vorgegebenen Machtverhältnissen. Zu formulieren, „Reeder beigeordnet war der Leiter des NSDAP-Gaues Aachen-­Köln, Joseph Grohé“,69 geht an der Realität völlig vorbei. Für eine besondere Nähe zur Partei lässt sich auch nichts daraus ableiten, dass Reeder unter Görings „Beteiligung“ Regierungspräsident wurde sowie ab Mai 1934 dem Reichs- und preußischen Innenminister und „Alten Kämpfer“ Frick unterstellt war. Diese suggestiven Formulierungen lassen die einfache Tatsache außer Acht, dass Göring und Frick staatliche Vorgesetzte Reeders waren. Auch sollte eine Parteifunktion als „Gauhauptstellenleiter für das Siedlungswesen“ nicht überbewertet werden. Diese nebenamtliche Funktion soll nur verliehen worden sein, damit er „bei gegebener Zeit in Uniform“ auftreten konnte.70 Ein besonders markantes Ereignis für Reeders Verhältnis zur Partei und ihren Organisationen stellte der 30. Juni 1934 dar, die gewaltsame Ausschaltung der SA. Reeder spielte an ­diesem Tag eine andere Rolle als seine beiden Vorgänger in Köln. Zur Bonsen koordinierte polizeiliche Maßnahmen und berichtete mehrfach dem preußischen Innenminister, wie in Kapitel 2 geschildert. Diels war, wie in Kapitel 3 dargestellt, an ­diesem Tage untergetaucht, weil er sich als gefährdet ansah. Reeder spielte dagegen eine durchaus aktive Rolle.71 Er rief an d ­ iesem Tage den Stabsführer der SA, Klöppel, an und übermittelte ihm Befehle Hitlers zur Entmachtung der SA. Klöppel meldete dies seinem Brigadeführer Henrich. Reeder verlangte nun dessen Ehrenwort, dass in der Brigade Ruhe herrsche. Als Henrich dem nicht sogleich entsprach, tätigte der Regierungspräsident den nächsten Anruf, diesmal beim Aachener SS-Standartenführer. Reeder bat ihn, das Stabsgebäude der SA zu besetzen. Das veranlasste Henrich dann doch, das Ehrenwort zu geben, wie es zudem, unabhängig von Reeder, auch der Gauleiter erbeten hatte. Damit trat aber in der SA noch nicht Ruhe ein, denn die Brigade wurde zu einem Appell zusammengezogen. Daraufhin untersagte Reeder jeden SA-Dienst. Eine Vernehmung Klöppels ergab einen Zustand völliger Verwirrung bei der Aachener SA. Ihre Einschätzung der Situation war geradezu abstrus. Klöppel gab an, von Putschplänen Röhms nichts zu wissen. Das war glaubwürdig; denn es gab ja keine. Der SA-Führer sah in Göring den eigentlichen Übeltäter, der einen Putsch geplant, Hitler habe verhaften und die SA spalten wollen. Deshalb habe sich Unruhe der Brigade bemächtigt und die SA habe auch angenommen, dass der Führer­befehl von Göring gefälscht sei. Reeder, der mit dem Gauleiter in Verbindung stand, wollte nun ergründen, was die Aachener SA wohl vor dem 30. Juni geplant habe. Klöppel gestand ein, er habe einen SA-Führer bei der Staatspolizeistelle als Informanten einschleusen wollen. Auch habe die Brigade eine Liste von SA -Gegnern aufgestellt und eine Kerntruppe von zweihundert Mann gebildet, um ein Abwehrinstrument gegen einen Putsch zu besitzen. Gauleiter Grohé setzte nun alles daran, die Führer der Aachener SA -Brigade aus dem Amt zu bringen. Henrich kam ihm insoweit zuvor, als er Klöppel beurlaubte. Die Brigade wurde nun entwaffnet und gab eine große Zahl von Waffen ab. Der Gauleiter konnte sich aber mit seinem Wunsch nach einem personellen Wechsel nicht durchsetzen. 68 Vollmer, ebd., S. 73 ff, das Zitat auf S. 76. 69 Wilken, Diener in Köln, S. 11, auch zum Folgenden. 70 Vgl. Mitteilungsblätter des Gaues Köln-­Aachen, Folge 11, November 1937 und Vermerk im Arbeitsblatt zum Entnazifizierungsfragebogen, Landesarchiv NRW NW 1000 Nr. 22274. 71 Zum Folgenden Hüttenberger, Die Gauleiter, S. 85 ff.

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Das war für diesen ein Prestigeverlust und auch ein unerträglicher Zustand in den Augen des Regierungspräsidenten. In seinem schon in anderen Zusammenhängen zitierten Lagebericht an Frick vom 9. August 1934 schrieb er: „Ich halte eine vollkommene Auswechslung des hiesigen Brigadestabes im Interesse der SA weiterhin für unbedingt notwendig.“72 Der Gauleiter habe verschiedentlich öffentlichkeitswirksam angekündigt, der Brigadeführer werde seinen Dienst nicht wieder antreten. Tatsächlich sei dieser jedoch wieder im Dienst. So befinde sich die SA in einem starken Konflikt, wem sie zu folgen habe. Da auch die Bevölkerung gespannt sei, wie dieser Konflikt ausgehe, solle eine baldige Entscheidung der SA-Führung erfolgen, „die m. E. nur dahin gehen kann, den Brigadeführer von seiner Diensttätigkeit in Aachen zu entbinden.“ Henrich blieb aber gleichwohl noch bis 1935 im Amt. In einer biographischen Schrift werden die Ereignisse folgendermaßen zugespitzt: „Mit Frick, Grohé und der SS arbeitete Reeder eng zusammen, als Ende Juni 1934 in der sog. ‚Röhm-­ Krise‘ die SA ausgeschaltet wurde, was in Aachen unblutig vonstattenging.“73 Dies erweckt den falschen Eindruck, als habe Reeder an d ­ iesem Tag unmittelbar mit Frick und mit der höheren SS-Führung, wenn nicht gar Himmler oder Heydrich selbst, zusammengewirkt. Pflichtgemäß hat er dem Reichsinnenminister Bericht erstattet, wie auch sein Stettiner Kollege zur Bonsen. Die Zusammenarbeit mit „der SS“ beschränkte sich auf deren örtliche Führung. Die Abstimmung mit dem Gauleiter war allerdings für den Regierungspräsidenten selbstverständlich. Reeder handelte auch nicht als Akteur innerhalb eines Machtkampfs ­zwischen verschiedenen Organisationen der Partei. So wie seine Persönlichkeit und sein Staatsverständnis bisher erkennbar wurden, ging es ihm vornehmlich um die Wahrung der Staatsautorität, deren Spitze der Reichskanzler Hitler bildete und die gegenüber einer aus seiner Sicht unberechenbaren Parteiorganisation durchgesetzt werden musste. Hervorzuheben ist auch seine eigene Wertung der Ereignisse, die in dem schon mehrfach erwähnten Lagebericht enthalten ist 74: Durch die Geschehnisse des 30. Juni hat der Führer an sich an persönlicher Verehrung und Hochachtung und auch in den Kreisen gewaltig gewonnen, die bisher abseits standen. Jedoch hat das Rätselraten über die Liste der am 30.6. und den folgenden Tagen, namentlich nicht bekannt­ gegebenen Erschossenen, angeregt durch die benachbarten ausländischen Zeitungen und Sender, auf die hiesige Bevölkerung, die neugierig und leicht geneigt ist, jedem Gerücht Vertrauen zu schenken, stark nachhaltig gewirkt. Dies gilt insbesondere bezüglich der gerüchteweise verlautenden Begleitumstände der Erschießung (angeblich tage- und wochenlanges Wartenlassen der Hinterbliebenen, Benachrichtigung durch eine Privatperson, nicht aber durch die zuständigen Behörden, Verbrennen der Leichen wider den Willen der katholischen Angehörigen, angebliche Übersendung der Aschenurne mit der Post usw.).

Diese Passage ist mehrfach bemerkenswert. Sicher war zutreffend, dass Hitlers Ansehen durch die Aktion des 30. Juni 1934 auch in bürgerlichen Schichten, die dem Regime distanziert gegenüberstanden, deutlich gewachsen war. Es herrschte eben Erleichterung, dass dem pseudorevolutionären Gebaren der unruhigen SA ein Ende gemacht worden war. Die auffällige Formulierung „der Führer an sich“ sollte wohl bedeuten, dass über die Person Hitlers hinaus „die Bewegung“ nicht an Zuspruch gewonnen habe. Wie Reeder selbst „die Geschehnisse“ 72 Vollmer, ebd., S. 72 ff (S. 77). Von dort auch die Zitate. 73 Wilken, Diener in Köln, S. 12. 74 Vollmer, ebd., S. 73 f.

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bewertete, wird nicht deutlich. Denkbar wäre, dass er sie als nachträglich rechtlich abgesichert ansah, weil sie durch das bekannte Gesetz vom 3. Juli 1934 zur „Staatsnotwehr“ erklärt worden waren. Ausgesprochen couragiert sind die folgenden Sätze, in denen der Gewaltcharakter der Maßnahmen und ihre Wirkung auf die Grenzbevölkerung offen benannt wurden. Riskant war die detaillierte Nennung der „gerüchteweise verlautenden Begleitumstände“. Konkret zielten diese Gerüchte auf die in Kapitel 2 erwähnte Ermordung des Ministerialdirektors Klausener.75 Aussagefähig für Reeders Verhältnis zur Partei ist auch der ungewöhnlich umfangreiche Bericht vom 7. September 1934 über die Volksabstimmung am 19. August.76 Gegenstand war die gesetzlich vorgenommene Vereinigung der Funktionen des Staatsoberhauptes mit denen des Reichskanzlers.77 Den Anfang bildete die Feststellung, bei der Abstimmung s­ eien „im Regierungsbezirk Aachen von den insgesamt abgegebenen Stimmzetteln 18,06 % Neinstimmen und 3,24 % ungültig“ gewesen. Die Zunahme der Neinstimmen um etwa 6 % gegenüber der Reichstagswahl und Volksabstimmung vom 12. November 1933 sah er darin begründet, dass es dort um eine vornehmlich außenpolitische Frage gegangen sei, nun aber, „mit den Augen der Gegner des Nationalsozia­lismus gesehen, um die Verstärkung der Machtstellung der NSDAP bzw. ihres Führers im Reiche“. Eine Anzahl von Wahlberechtigten hätte bei der Ausübung des Wahlrechts am 12. November gesehen, dass entgegen ihren Befürchtungen „die Geheimhaltung der Abstimmung in jeder Beziehung gewährleistet ist und nun am 19.8. ihrer wahren negativen Einstellung zum nationalsozia­listischen Staat Ausdruck gegeben.“ An diese scharfsinnige und plausible Analyse schloss sich eine für das Regime positive Deutung an. Das Ergebnis der letzten Abstimmung dürfte „ein wahrheitsgetreueres Bild aufzeigen und somit einen um so wertvolleren Beweis dafür liefern, ­welche Fortschritte die nationalsozia­listische Bewegung in dem hiesigen, besonders schwer umkämpften Grenzbezirk […] gemacht hat […].“ Die sachlichen Gründe für Neinstimmen sah er auf konfessionellem und wirtschaftlichem Gebiet, deren Zusammenfall im Raum Aachen ungewöhnlich sei. Deshalb verböten sich Vergleiche mit anderen Teilen des Reiches. Die Gründe wurden im Einzelnen dann sehr detailliert ausgebreitet. Insbesondere zum Verhalten der katholischen Geistlichkeit führte Reeder aus, sie habe „nichts getan, um das Abstimmungsergebnis zu fördern“, es ­seien aber wohl auch keine grundsätzlichen Versuche von ihr gemacht worden, „die Wahl negativ zu beeinflussen“. Ein zusätzlicher von Reeder immer wieder herangezogener Gesichtspunkt war die exponierte Grenzlage des Bezirks, ­welche auch zahlreiche Einflussmöglichkeiten aus den Nachbarländern eröffne. Sprachlich war der sehr differenzierte Bericht teilweise deutlicher im Parteijargon abgefasst als der vorangegangene vom 9. August. Möglicherweise hing dies damit zusammen, dass es sich um die grundlegende Gestaltung der Staatsspitze des „Dritten Reiches“ handelte. Der Bericht wurde auch deshalb so breit-­analytisch angelegt, weil er eine „Rechtfertigungsschrift“ für den Bezirk sein sollte. Insgesamt war Reeders Verhältnis zum Regime von grundsätzlicher Loyalität bestimmt. Weniger ausgeprägt galt das für die Partei. Hier war je nach Zusammenhang ein Wechsel von Distanz und Loyalität festzustellen. Besonders gelagert war seine Beziehung zu Gauleiter Grohé, den er als seine unmittelbare parteiamtliche Bezugsperson ansah. Bei unterschiedl­ichen Auffassungen suchte er ihn auf seine Seite zu ziehen, vermied aber jeden offenen Konflikt. 75 Dazu Scholder, Die K ­ irchen und das Dritte Reich, Bd. 2, S. 252 ff. 76 Vollmer, ebd., S. 86 ff, von dort auch die Zitate. 77 Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches vom 1. August 1934, RGBl., S. 747.

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Demgemäß hat er sich doch in erster Linie als autoritätsbewusster Leiter einer staatlichen Behörde gesehen, denn als Mann der Partei. Als im Sommer 1936 Reeders Wechsel auf eine andere Stelle bevorstand, machte er, wie sich aus seiner Personalakte ergibt, mit der „Belegschaft“ der Behörde eine „Gemeinschaftsfahrt“ zu der NS-Ordensburg Vogelsang. Sie lag innerhalb des Regierungsbezirks in der nördlichen Eifel. Dem „Hochwürdigsten Herrn Bischof “ schrieb er am 15. Juli 1936 einen letzten Brief.78 Darin teilte er mit, der Herr Reichs- und Preußische Minister des Innern habe ihn mit der Leitung des Regierungspräsidiums Köln beauftragt. Da er sein neues Amt bereits übernommen habe, sei er wegen der Kürze der Zeit leider nicht in der Lage gewesen, sich persönlich zu verabschieden. Er bitte es auf diese Weise tun zu dürfen und wünschte dem Bischof weiter erfolgreiche Arbeit „für K ­ irche und Volk“. Es war ein überaus höfliches, wenn auch sehr dienstlich wirkendes Schreiben. Bis zu ­diesem hatte der Regierungspräsident seit seinem erwähnten Dankschreiben von Juni 1933 einen Weg zurückgelegt. Damals unterschrieb er mit „Ihr, Hochwürdigster Herr Bischof, stets dankbar ergebener“. Im Juli 1936 lautete die Grußformel kurz „Heil Hitler!“. Nach eigenem Bekunden fiel Reeder der Abschied von Aachen nicht leicht.

4.4 Regierungspräsident in Köln 1936 – 1940 Am selben 9. Juli 1936, an dem Diels als Regierungspräsident nach Hannover wechselte, wurde Reeder als Regierungspräsident nach Köln versetzt. Aus einem Nachkriegsbrief ergibt sich, dass Reeder nicht gewusst haben will, warum er die Nachfolge Diels’ antreten „musste“.79 Dies ist allerdings schwer nachzuvollziehen. Im gleichen Jahr kam es auch zu Amtswechseln in ­Koblenz und Trier; dort wurde der letzte in der Weimarer Zeit noch eingesetzte Regierungspräsident abgelöst. Der Bezirk Köln war größer an Fläche und vor allem doppelt so bevölkerungsstark, nämlich 1.535.000 gegenüber 738.000.80 Auch seine Struktur war eine andere. Neben der gleichen Zahl von Landkreisen umfasste er zwei an der Rheinschiene gelegene Großstädte, von denen Köln wegen seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung sowie seiner Verkehrslage als die „Metropole des Westens“ bezeichnet werden konnte. Sein jetziger war jedenfalls ein bedeutenderer Bezirk als der alte, und Reeders neues Amt zwar keine Rangerhöhung, aber doch eine Steigerung des Prestiges. Wegen seiner Verwendung als Militärverwaltungschef in Brüssel ab Mai 1940 nahm er das Amt des Kölner Behördenleiters faktisch nur bis zu ­diesem Zeitpunkt wahr. Aber auch diese vier Jahre brachten schon mehr Kontinuität in die Kölner Behördenspitze. Formal blieb Reeder Regierungspräsident bis zum Kriegsende. Gegenstand des folgenden Abschnitts kann also im Wesentlichen nur die Zeit bis 1940 sein, über die es, anders als zu der Aachener, nur wenig Literatur gibt. Anders als bei der Berufung Diels’, gegen die sie sich gesperrt hatte, förderte die Gauleitung sogar den Wechsel Reeders von Aachen nach Köln. Dies wird in der Literatur als etwas überraschend dargestellt.81 Die Gauleitung hätte nach der Amtsführung Reeders in Aachen eigentlich befürchten müssen, dass er in Köln „ebenfalls unbekümmert tun und lassen würde, was er für 78 79 80 81

Diözesanarchiv Gvs L 8, I. Vom 19. Dezember 1957 an General von Falkenhausen. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 451: Volks- Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933. August Klein, Festschrift Köln, S. 114; auch zum Folgenden. Von dort auch die Zitate.

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richtig hielt“. Als Beleg für diese Mutmaßung wird auf das oben geschilderte entgegenkommende Verhalten Reeders gegenüber seinen beiden Vorgängern verwiesen. Dies war jedoch nicht geeignet gewesen, ein Misstrauen der Gauleitung zu wecken. Aber abgesehen von der „festen nationalen Gesinnung“ und seinem Ruf als „vorzüglich befähigter und sehr erfahrener Beamter und Behördenleiter“ war entscheidend, dass Reeder, wie mehrfach erwähnt, dem Gauleiter gegenüber stets loyal gewesen war. Die Beteiligten hatten sich eben intensiv kennengelernt.

4.4.1 Führungsrolle: Faire Lenkung innen, Behauptung außen Am 14. Juli 1936 fand Reeders Einführung als Regierungspräsident in Köln statt. Oberpräsident Terboven nahm sie in Anwesenheit des Kölner Gauleiters Grohé vor. Dieser betonte in seiner Ansprache, die Hoffnungen, die er mit Reeders Berufung nach Aachen verbunden habe, ­seien heute zur Überzeugung geworden.82 Regierungsvizepräsident Dietz von Bayer erklärte, „nicht immer habe ein großer Beamtenkörper einem neuen Vorgesetzten ein so großes Vertrauen entgegengebracht, wie es hier geschehe.“ Es folgten noch weitere Vorschusslorbeeren: Man habe ja den neuen Regierungspräsidenten sechs Jahre als Dezernent in der Kölner Bezirksregierung als „starke und gerechte Persönlichkeit“ kennengelernt. Der neue Regierungspräsident entwickelte in seiner Antrittsrede die Schwerpunkte eines Entwicklungsprogramms für den Bezirk. Wesentlich sei, Licht und Raum zu schaffen im Rheinland, wo sich große Menschenmassen stauten, und eine Verkehrsaufschließung in großzügiger Weise zu ermöglichen; […] ferner, das große Erbe der alten Kultur- und Hansestadt zu erhalten und zu fördern, ohne den Gedanken an Stadtstaaten aufkommen zu lassen.

Dies waren zukunftsfähige Aussagen, die sogar aus heutiger Sicht durchaus modern wirken. Als Reeder sein neues Amt antrat, war dies eine Zeit, in der Teile der Kölner Innenstadt saniert wurden, wie das Martinsviertel in der Altstadt seit 1935.83 Von dem geplanten Achsenkreuz für die Innenstadt wurde allerdings nur ein Straßendurchbruch vom Neumarkt bis zur linksrheinischen Auffahrt der Deutzer Brücke verwirklicht. Die durch den Kölner Bezirk führenden Teilstücke der Reichsautobahn Oberhausen-­Frankfurt konnten bis Ende 1938 für den Verkehr freigegeben werden. Auffällig ist der konzentrierte Blick auf die Stadt Köln, die sich seit 1935 auch offiziell „Hansestadt“ nannte. Die Stadt hatte eine besondere Tradition und beherbergte annähernd die Hälfte der Einwohner des Bezirkes. Von Reeder nicht ausdrücklich angesprochen, aber mit der Warnung vor „Stadtstaaten“ wohl gemeint, war die traditionelle Neigung der Stadt Köln, die eigene Wichtigkeit und Rolle sehr zu betonen. Bei all diesen Planungen stand die Bezirksregierung nicht als primär handelnde da. Die Umgestaltung der „Hansestadt Köln“ war deren eigene Sache. Die darüber hinausgehenden geradezu gigantomanischen Ausbaupläne zur Neugestaltung der Gauhauptstadt waren ein Projekt der Gauleitung, der Autobahnbau Reichssache. Die staatliche Mittelinstanz konnte all diese Vorhaben nur begleiten und unterstützen. Hinzu kam, dass man sie ja in ihren rein staatlichen Aufgaben beschnitten

82 Vgl. Westdeustcher Beobachter vom 15. Juli 1936, auch zum Folgenden. 83 Dazu Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 225 ff, zum Folgenden (Verkehrsplanung), ebd., S. 217 ff.

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hatte, vor allem durch die Verselbstständigung der Geheimen Staatspolizei, der Reeder sich vergebens widersetzt hatte. Die Notwendigkeit und der Nutzen einer starken Mittelinstanz innerhalb der staatlichen Verwaltung waren schon in seiner Aachener Zeit ein beherrschendes Thema für ihn gewesen und blieben es auch in Köln.84 Sich dafür einzusetzen war mehr und mehr geboten. Denn die Versuche der NSDAP und ihrer Dienststellen nahmen immer mehr zu, ihren Machtbereich auf Kosten der öffentlichen Verwaltung auszudehnen oder jedenfalls ihrem Machtanspruch Vorrang zu verschaffen. Reeder setzte seine schon länger verfolgte Linie fort und versuchte in zahlreichen Eingaben und Denkschriften dem Grundsatz der Einheit der Verwaltung Geltung zu verschaffen. In aller Offenheit wies er auf die Deformation der staatlichen Mittelinstanz hin, wie sein Kollege Diels die „Zerbröselung“ der Verwaltung durch das Hinzukommen immer neuer staatlicher und parteilicher Dienststellen schon 1934 beklagt hatte. Reeder bewies in ­dieser Streitfrage einigen Mut, konnte aber letztlich an der Entwicklung nichts ändern. Der Regierungspräsident hatte in seiner Antrittsrede aber auch eine Maxime seines Führungsverhaltens formuliert. Seine Mitarbeiter müssten wissen, „daß der Dienststellenleiter sich schützend vor sie stelle, wenn sie richtig gehandelt hätten.“ Nun waren die Erwartungen an Reeders Führungsverhalten ohnehin sehr hoch gesteckt. Mangels unmittelbarer Zeugnisse muss zur Darstellung von Reeders Führungsstil auf Aachener Beispiele zurückgegriffen werden. Der schon erwähnte ehemalige Landrat Wandersleb hat sich anschaulich dazu geäußert.85 Dem Regierungspräsidenten habe er gleich zu Anfang erklärt, „daß er nur auf Gebieten tätig sein könne, die mit Politik und Personalien nichts zu tun hätten.“ Das sei respektiert worden. In der Behörde selbst „hätten sehr angenehme, keineswegs nationalsozia­listische Umgangsformen“ geherrscht, was den leitenden Beamten zu danken gewesen sei. Der Regierungspräsident verleugnete nicht seine Vergangenheit als Korpsstudent, Reserveoffizier und Berufsbeamter. Er wertete sachliche Arbeit und kameradschaftliches Verhalten. Niemanden drängte er zum Eintritt in die NSDAP und NS-Formationen. Oft musste er Rügen von Parteidienststellen hinnehmen, weil unter seinen höheren Beamten zu wenig Funktionäre s­ eien […].

Zwischen Wandersleb und seinem Behördenleiter schien es aber eine fast schon symbiotische Beziehung gegeben zu haben. Anlässlich seines Wechsels nach Köln schrieb der Regierungspräsident an Wandersleb einen für seine Person beinahe überschwänglichen Dankesbrief: „wenn meine Tätigkeit im hiesigen Bezirk von Erfolg begleitet gewesen ist, so habe ich das in erster Linie Ihnen mit zu verdanken“ und bat darum, als ­­Zeichen seines besonderen Dankes ein Bild der alten Reichsstadt Aachen entgegenzunehmen.86 Selbst wenn er Reeder überaus wohlgesonnen war, dürfte Wanderslebs Charakterisierung im Wesentlichen zutreffen. Er zögerte nämlich auch nicht, eine spätere eklatante Fehleinschätzung einzuräumen. Sie betraf nicht so sehr Reeders Führungsverhalten als vielmehr dessen Funktionsverständnis. 1942/43 wurden aussichtsreiche Pläne entwickelt, den Bezirk Aachen mit dem Kölner zu vereinigen. In seiner Not habe er versucht, bei Besuchen in Köln Reeder dafür zu gewinnen, für den Erhalt des Aachener Bezirks einzutreten. „Zu meiner bitteren Enttäuschung

84 Zum Folgenden: August Klein, ebd., S. 115. 85 Wandersleb, Aachen Festschrift, S. 377 ff, Zitate, S. 377, S. 378, S. 383. 86 Fehrmann, Festschrift Aachen, S. 335 f.

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zeigte er sich aber abweisend.“87 Dabei hatte Wandersleb vor allem eines verkannt: Reeder war Funktionalist. Als Kölner Regierungspräsident, der er als Militärverwaltungschef nach wie vor war, konnte ihm der Zuwachs aus Aachen doch nur recht sein. In einer biographischen Schrift wird ein besonderes Beispiel von Reeders Fähigkeit zu entschlossenem Handeln gebracht.88 Es sei sogar von Reeder, der eigentlich wenig von eigenen Leistungen gesprochen haben soll, selbst berichtet worden. 1937 stürzte bei einer Parteiveranstaltung in der Nähe von Euskirchen eine Zuschauertribüne ein. Reeder ergriff in dem „heillosen Durcheinander“ die Initiative, ohne Rücksicht auf die Verantwortlichkeit anderer Anwesender. Er brachte Ordnung in die Abläufe und organisierte vor allem Hilfe für die Verletzten. Der ebenfalls anwesende Göring „zollte ihm Anerkennung“. Was die Partei betraf, so verbesserte sich nach dem Wechsel an der Spitze das Verhältnis ­zwischen Gauleitung und Regierungspräsident, welches zu Zeiten von Diels ja stark getrübt gewesen war. Das hatte Grohé ja auch bezweckt, als er Reeders Wechsel nach Köln befürwortete. Entscheidend war, dass der Regierungspräsident wie in Aachen, so auch in Köln den „politischen Führungsanspruch“89 Grohés anerkannte und jeden Konflikt vermied. Diese „Unterordnung“ bot dem Regierungspräsidenten auch den Vorteil, seine Behörde und seine Zuständigkeiten zumindest gegen untergeordnete Parteistellen weitgehend abzuschirmen. Seine Mitarbeiter deckte er nicht nur, wie in seiner Antrittsrede versprochen, wenn sie richtig gehandelt hatten. Er soll sich auch schützend vor sie gestellt haben, wenn sie wegen ihrer politischen oder religiösen Einstellung in Schwierigkeiten gerieten.90 Ein systemtypisches Beispiel für das Zusammenwirken von Gauleiter und Regierungspräsident bildete der Fall eines Rechtsanwalts, welcher seit langem der Homosexualität verdächtigt wurde.91 Er war seit 1931 Mitglied der NSDAP, später Leiter des Gaurechtsamtes und Mitglied im Rat der Stadt. Schließlich führten umfangreiche Ermittlungen 1938 zu einer Verurteilung zu eineinhalb Jahren Haft. In ähnlichen Fällen war es anschließend zur Einweisung in ein Konzentrationslager gekommen. Hier wurde jedoch der für die NSDAP höchst misslichen Affäre ein stilles Ende bereitet. Gauleiter und Regierungspräsident sorgten gemeinsam dafür, dass der aus der Anwaltskammer Ausgeschlossene anderweitig eine Stelle als Angestellter erhielt.

4.4.2 Strenger Kurs gegenüber der katholischen K ­ irche im Schulwesen Nach einer Phase der „innenpolitischen Beruhigung“ während des Olympiasommers 1936 wurden die Zügel im Innern wieder angezogen. Der Kirchenkampf weitete sich wieder aus, und das nächste Ziel des Regimes war die „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“. Konkret bedeutete dies ein Wiederaufleben der Kirchenaustrittskampagne und eine verschärfte Auseinandersetzung im Schulwesen.92 Die Kirchenaustrittskampagne wurde von der NSDAP vor allem gegenüber ihren Mitgliedern und gegenüber Beamten allgemein verstärkt in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts betrieben. So nahmen denn die Austritte aus der katholischen 87 88 89 90 91 92

Wandersleb, ebd., S. 386. Rehm, ebd., S. 7. Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 127. August Klein, ebd., S. 115. Matzerath, ebd., S. 366 f. Vgl. generell von Hehl, Katholische ­Kirche und Nationalsozia­lismus im Erzbistum Köln, S. 136 ff.

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­ irche stark zu. Eine ähnliche Entwicklung fand bei den Protestanten statt.93 Reeder selbst K soll sich noch in seiner Aachener Amtszeit empört darüber geäußert haben, dass ein anderer Behördenleiter zum Geburtstag eines höheren Funktionärs der NSDAP als „Geschenk“ den Kirchenaustritt seiner Familie überbrachte.94 Im Schulwesen war der Nationalsozia­listische Lehrerband ein Vorreiter, der Anfang des Jahres 1936 im Rhein-­Wupper-­Kreis des Nachbarbezirkes Düsseldorf eine „Schulkampagne“ durchgeführt hatte. Um die Jahreswende 1936/37 setzte eine heftige Propagandawelle gegen die Bekenntnisschule im Erzbistum Köln insgesamt ein.95 Letztlich ging es darum, ­Kirche und Religion aus dem öffentlichen Schulwesen zu verbannen. Der Grund für eine generelle Einführung der Gemeinschaftsschule sollte im Rheinland durch flexiblere Methoden als in anderen Teilen des Reiches gelegt werden. Begünstigt wurde ­dieses Vorgehen durch eine schon vorher deutliche Tendenz der staatlichen Schulaufsicht, ihre Autorität gegenüber der ­Kirche stärker hervorzuheben. Zum besseren Verständnis muss noch einmal in die Zeit vor Reeders Wechsel nach Köln zurückgegriffen werden. In einem Runderlass an die Ober- und Regierungspräsidenten vom 7. Oktober 1935 hatte der für das Schulwesen zuständige Reichs- und preußische Minister Rust eine Verfahrensregelung zur Erteilung von nebenamtlichem Religionsunterricht durch katholische Geistliche getroffen. Danach bedurften die Geistlichen vorab einer staatlichen Zulassung, die aber jederzeit widerrufen werden konnte. Bestünden Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit der Geistlichen, sollte das Urteil der Geheimen Staatspolizei eingeholt werden. Inhaltlich ging dieser Erlass im Wesentlichen auf die nie aufgehobene Anordnung des preußischen Kultusministers aus dem Jahre 1876 zurück, die ausgerechnet der Aachener Regierungspräsident Reeder seit Juni 1935 wieder anwandte, wovon er Rust unterrichtet hatte. Reeders Düsseldorfer und Kölner Kollegen schlossen sich ihm alsbald an. In großen Teilen der Rheinprovinz galt also schon das, was der Minister Rust im Oktober für ganz Preußen vorschrieb. Sein Erlass wurde bezeichnenderweise dem Generalvikariat nicht im Wortlaut mitgeteilt. Auf die kirchliche Behörde musste dies alles wie eine verschärfte Wiederkehr des Kulturkampfes aus dem 19. Jahrhundert wirken.96 Dabei verschlimmerten die nur indirekte Information über den Inhalt des Erlasses sowie die mögliche Beteiligung der politischen Polizei die Dinge noch weiter. Aus heutiger Sicht mag es als nicht sonderlich gravierend erscheinen, wenn für die Erteilung von Religionsunterricht durch Geistliche an öffentlichen Schulen deren förmliche staatliche Zulassung erforderlich ist. Damals lagen die Dinge aber anders. Die katholische Bekenntnisschule war im Rheinland gesetzlich und zudem durch das Reichskonkordat garantiert; bis 1935 konnte die katholische Geistlichkeit in diesen Schulen ohne Weiteres Religionsunterricht erteilen. Die neuerliche Reglementierung durch den Minister wurde als anti-­kirchliche Maßnahme verstanden. Reeder dagegen ging es darum, die Staatsautorität gegenüber der K ­ irche durchzusetzen. Die unterschiedliche Motivation von Minister und Regierungspräsident ändert allerdings nichts an der Wirkung der jeweiligen Maßnahme. Die Problematik der staatlichen Zulassung zur Erteilung von nebenamtlichem Religionsunterricht wurde durch eine zusätzliche Regelung des Ministers weiter belastet. Am 25. Juni 1936, also unmittelbar vor Reeders Versetzung nach Köln, verbot ein vertraulicher Runderlass 93 94 95 96

Zu Beidem Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 172 ff. Fehrmann, Lebensbilder, S. 311 FN 17. Von Hehl, ebd., S. 140 ff, auch zum Folgenden. Zurückhaltend allerdings die Darstellung im Kirchlichen Handbuch, Bd. XIX, 1935/36, S. 89.

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nebenamtlichen Religionslehrern auch jede Betätigung für konfessionelle Jugendverbände. Wiewohl es ein solches Betätigungsverbot für hauptamtliche Lehrer bereits gab, war dies doch ein weiterer Eingriff in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Trotz der „Vertraulichkeit“ sickerte der Inhalt des Erlasses durch und zahlreiche Geistliche erwarteten einen Protest des Kölner Erzbischofs. Kardinal Schulte verbot dann auch am 26. August 1936 mit einem Rundschreiben den betroffenen Geistlichen, „eine Erklärung abzugeben, durch w ­ elche ihre priesterliche Tätigkeit im katholischen Vereinsleben eingeengt würde.“ Ferner sei es „nicht statthaft, daß Priester die Erteilung des Religionsunterrichts in den Schulen einstellen, es sei denn, daß sie förmlich und ausdrücklich aus der Schule ausgewiesen worden sind.“97 Der Inhalt d ­ ieses Rundschreibens dürfte den staatlichen Stellen bekannt geworden sein. Ehe noch eine Reaktion erfolgte, traf der Kölner Regierungspräsident eine weitere den katholischen Religionsunterricht betreffende Anordnung. In einer Rundverfügung vom 5. November 1936 ging er darauf ein, Geistliche benutzten, die für den lehrplanmäßigen Unterricht bestimmten Stunden vereinzelt oder regelmäßig dazu, die Schüler und Schülerinnen zum Empfang der Sakramente, namentlich der Beichte, in die K ­ irche zu führen. Dieses Verfahren widerspricht dem Zweck der Unterrichtsstunden und kann daher nicht zugelassen werden. […] Bei Nichtbeachtung der schulaufsichtlichen Vorschriften würde ich zu meinem Bedauern gezwungen sein, den zuwiderhandelnden Geistlichen die Befugnis zur Ertei98 lung von Religionsunterricht in den Schulen zu entziehen.

Die Maßnahme Reeders, so streng sie formuliert war, bezweckte der Sache nach die Sicherung der Unterrichtserteilung. Sie schränkte deshalb das Selbstbestimmungsrecht der ­Kirche nicht ein, wurde aber im Gesamtzusammenhang so empfunden. Eine „Antwort“ des zuständigen Ministeriums auf das Rundschreiben des Erzbischofs vom August 1936 erfolgte dann erst im Sommer des folgenden Jahres. Ein Runderlass vom 1. Juli 1937 stellte ganz allgemein „Unzuträglichkeiten“ fest, zu denen es bei der „Erteilung des schulplanmäßigen Religionsunterrichts durch Geistliche“ gekommen sei. Deshalb wurde angeordnet, nach den Sommerferien den Religionsunterricht den dazu auf Grund ihrer Prüfungen befähigten und auch dazu bereiten Lehrerinnen und Lehrern zu übertragen; nur noch in Ausnahmefällen sollten Geistliche herangezogen werden. Diese überraschende und überaus harte Anordnung bedeutete praktisch den Ausschluss der katholischen Geistlichen vom Religionsunterricht.99 Der Kölner Regierungspräsident wie auch sein Düsseldorfer Kollege verschärften diese Regelung noch, indem sie anordneten, zum 31. August 1937 ­seien alle nebenamtlich tätigen Geistlichen aus den Schulen zurückzuziehen. Sie zogen mit der Beseitigung der wohl nur verschleiernd gemeinten Ausnahmemöglichkeit nur die letzte Konsequenz aus dem Runderlass des Ministers. Immerhin unterrichteten sie auch den Kardinal davon und wahrten damit korrekte Formen. So wird denn auch Reeder attestiert, er sei „zwar ohne nähere Beziehungen zur katholischen ­Kirche, aber trotz seiner harten Linie frei von antiklerikalen Affekten [gewesen], wie sie für die rheinischen Gauleitungen bezeichnend sind.“ Man hätte den Vorgang so ansehen können, inhaltlich ändere sich ja grundsätzlich nichts, wenn der Religionsunterricht statt von Geistlichen nun von fachlich ebenso befähigten Laien 97 Corsten, kirchliche Aktenstücke, Nr. 114, S. 135. 98 Zitiert nach Kirchliches Handbuch, Bd. XX, 1937/38, S. 85 f. 99 Von Hehl, ebd., S. 142, auch FN 67. Dort auch das folgende Zitat.

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erteilt werde. Dies hätte aber nicht der Wirklichkeit entsprochen. Damals stellten für katholische Eltern Geistliche die eigentliche religionspädagogische Autorität dar. Sodann waren die beamteten Lehrer der Einflussnahme des Regimes noch stärker ausgesetzt als Geistliche. Noch gefährlicher war, dass auf die Kirchentreue selbst der Lehrer, die katholischen Religionsunterricht erteilten, unter den Zeitumständen kein völliger Verlass mehr sein konnte. Allemal endete mit dem erzwungenen Rückzug der Geistlichen die kirchliche Präsenz in den öffentlichen Schulen. Das war ein weiterer Baustein in der „Entkonfessionalisierung“ des öffentlichen Lebens, an der Reeder mitgewirkt hatte. Proteste gegen die von staatlicher Seite getroffenen Regelungen blieben ohne Erfolg. Der Erzbischof nahm in einem Hirtenbrief vom 10. August 1937 nun die Eltern in die Pflicht: „Mehr denn je […] kommt heute für eure Kinder alles an auf deren gute Erziehung und religiöse Gewöhnung im glaubensstarken Elternhaus.“100 Dabei hob er hervor, sehr viele katholische Lehrerinnen und Lehrer bewährten sich im Unterricht biblischer Geschichte, aber man könne nicht mehr zu allen Lehrkräften ausnahmslos volles Vertrauen haben. Hier zeigte sich, dass der andere strategische Ansatz der „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ insgesamt, die Kirchenaustrittspropaganda, sich auswirkte. Auch bei den Lehrkräften stieg die Zahl der Kirchenaustritte in ­diesem Zeitraum, den Jahren 1937/38, drastisch an. Dabei ergab sich aber das Paradoxon, „daß aus der ­Kirche ausgetretene Lehrer den christlichen Charakter der Schule weniger gefährdeten als diejenigen, die nominelle Kirchenzugehörigkeit mit permanenter Hetze gegen K ­ irche und Christentum verbanden.“101 Die Kirchenaustritte von Lehrern führten überdies zu dem administrativen Problem, ­welche Folgerungen die Schulaufsichtsbehörden zu ziehen hatten. Entsprechend einer Grundsatzentscheidung des für das Schulwesen zuständigen Ministers vom Februar 1937 entband der Kölner Regierungspräsident ­solche Lehrer von der Erteilung des Religionsunterrichts. Dies war in jeder Hinsicht zwingend. Inkonsequent war, sie trotz deren Bekenntnischarakters an der bisherigen Schule zu belassen. Wahrscheinlich sollte der Eindruck vermieden werden, der Kirchenaustritt werde durch eine Versetzung an eine andere Schule gewissermaßen „bestraft“. Im Rahmen der Kampagne der NSDAP zur Ablösung der Bekenntnisschule durch die Gemeinschaftsschule fand Anfang 1937 im Rheinland eine Aktion von besonderer Symbolkraft statt.102 In zahlreichen Schulen wurden Kruzifixe von den Wänden genommen oder an eine andere Stelle im Klassenraum umgehängt. Oft trat an den ursprünglichen Platz ein Bild des „Führers“. Dies geschah nicht auf eine generelle ministerielle Anweisung hin, sondern war von unteren Instanzen, so von Schulräten oder Schulleitungen veranlasst. Sie machte deutlich, wie weit sich diese von kirchlichen Traditionen abgewandt hatten. So wurde augenfällig, wie die von der NSDAP mit allen Mitteln herbeigeförderte „deutsche Gemeinschaftsschule“ ausgestaltet sein würde. Die Katholiken reagierten mit großer Empörung auf den Umgang mit den Kreuzen. Sie äußerte sich in Protesten, sogar in regelrechten Aufläufen, zum Beispiel in zwei rechtsrheinischen Orten im Siegkreis, Mondorf und Niederkassel. Dort hatten die ­Pfarrer auf den Kanzeln gegen die „Entehrung des Kreuzes“ gepredigt. Beide Pfarrer wurden von der Staatspolizei verhaftet. Reeders Antwortbrief vom 10. März 1937 auf ein Protestschreiben Davids begann in fast trotzigem Ton, nicht er oder der zuständige Schulrat hätten das Umhängen der Kreuze angeordnet.103 100 Wortlaut des „Hirtenwortes“ bei Corsten, ebd., Nr. 172, S. 205 ff. 101 Von Hehl, ebd., S. 143, auch FN 79. Dort auch das Zitat. 102 Ders., ebd., S. 147 f. Auch zum Folgenden. 103 AEK, Gen. I 26.1,2; von dort auch die Zitate.

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Es sei, wie er erkennen ließ, eine Maßnahme der Schulträger gewesen, zu deren Zweckmäßigkeit er sich nicht äußere. Rechtlich verteidigte er sie: In allen Fällen ist das Kreuz oberhalb der Tür gehängt worden, also an einer durchaus würdigen Stelle, die meistens auch im Blickfeld der Klasse liegt. Dass es einen bestimmten Ehrenplatz in den Schulklassen […] gibt, ist mir unbekannt. Auf jeden Fall handelt es sich bei der beanstandeten Anordnung in der Ausschmückung des Klassenraumes, bei der in keinem Falle eine Entfernung des Kreuzes erfolgte, um eine interne Schulangelegenheit, die die Ortsgeistlichen ebensowenig angeht, wie der Staat sich um die Anordnung der Gegenstände in der Ausschmückung der ­Kirche bekümmert.

Das war eine eher schwache und kleinteilige Argumentation, ­welche die herabsetzende Intention des Umhängens außer Acht ließ. Zudem rechtfertigte Reeder die Verhaftung der Geistlichen. Sie hätten in unverantwortlicher Weise die Angelegenheit zum Gegenstand einer Kanzel­verlesung gemacht. Die beiden Pfarrer würden sich vor Gericht zu verantworten und zu überlegen haben, „dass es auf sie zurückzuführen ist, wenn einige Einwohner ihrer Pfarreien wegen Unbotmässigkeit in Schutzhaft genommen werden mussten.“ Das Generalvikariat solle in Erwägung ziehen, die Geistlichkeit der Erzdiözese darauf hinzuweisen, „dass die Behörden im heutigen Staat es unter keinen Umständen hinnehmen können und werden, Wünsche von der Strasse, die gewollt oder ungewollt von der Kanzel beeinflusst sind, diktiert zu erhalten.“ Erst nach längeren Verhandlungen sowie Interventionen bei Staats- und Parteistellen wurden die beiden Pfarrer nach mehrmonatiger Haft endlich freigelassen. In den Verfügungen, mit denen ihnen die Unterrichtserlaubnis entzogen wurde – noch war die Geistlichkeit nicht generell aus dem Religionsunterricht verbannt –, hatte Reeder ihnen eine Gefährdung des öffentlichen Friedens vorgeworfen, w ­ elche staatspolitisch bedenkliche Weiterungen verursacht habe.104 Einer wurde sogar aus dem Regierungsbezirk ausgewiesen und musste schließlich eine Pfarrstelle im Nachbarbezirk Koblenz übernehmen. Auch bei dieser Auseinandersetzung über Kreuze in Klassenzimmern handelte der Regierungspräsident aus seiner bekannten staatsauto­ritären Denkweise heraus. Zusammenfassend muss festgehalten werden, Reeder stützte im Schul­wesen mit seinem dienstlichen Verhalten, auch wenn ihm ein anderes Staatsverständnis als dem des zuständigen Ministeriums und der Parteidienststellen zugrunde lag, den sich immer mehr verschärfenden Kurs des Regimes gegenüber der katholischen K ­ irche. Wie bereits ausgeführt, machten die unterschiedlichen Denkweisen und Motive im Ergebnis für die Betroffenen keinen Unterschied. Aber zugleich sollte der Objektivität halber betont werden, Reeder sei zwar kirchenfern, aber nicht kirchenfeindlich gewesen.

4.4.3 Denkschrift zur Bedeutung und Förderungswürdigkeit der Kölner Universität Eine durchweg positive Seite vom Staats- und Amtsverständnis des Regierungspräsidenten zeigte sich, wenn er in Denkschriften zu grundsätzlichen Fragen von Staat und Verwaltung seine ureigenen Gedanken entwickelte. Ein markantes Beispiel dafür ist seine 15-seitige Denkschrift

104 Reeder an Pfr. Grimm, 5. oder 6. März 1937, sowie Reeder an Pfr. Demuth, 15. Mai 1937, AEK Gen. 26.1, Vol. 2.

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„Nationalpolitische Stellung und Bedeutung der alten und neuen Kölner Universität“ vom November 1936.105 Reeder war als Regierungspräsident Mitglied in deren Kuratorium. Seine Denkschrift diente dem Ziel, wie sich aus ihrem Vorspruch ergibt, die Berechtigung des bisher erfolglos gebliebenen Wunsches nach staatlicher finanzieller Förderung zu belegen. Dies ergebe sich aus der kulturpolitischen Bedeutung der Universität und auch aus volksdeutschen Belangen jenseits des Rheinlandes. Der Blick war hier offenbar ins benachbarte Ausland gerichtet. Reeder ging in drei Abschnitten historisch-­chronologisch vor; in einem vierten Abschnitt erfolgte die eigentliche Anspruchsbegründung. Der erste behandelte „Die alte Universität 1388 – 1798“. Die Kölner Universität sei eine der ältesten des mittelalterlichen Reiches gewesen, die vierte Gründung nach Prag, Wien und Heidelberg. Die Initiative sei von der Kölner Bürgerschaft ausgegangen. Damit sei die Freie Reichsstadt ihrer Bedeutung als größter Stadt des Reiches gerecht geworden. Mit ihrer Ausstrahlung habe die Universität bis zu den Religionskriegen „den ganzen niederdeutschen Raum“ beherrscht. Von den etwa 2000 Studenten stammten gegen Ende des Mittelalters über ein Drittel aus (den späteren) Niederlanden und Belgien, ein weiteres aus Skandinavien und Schottland. Zahlreiche Universitäten, angefangen mit Löwen, ­seien von Köln aus gegründet worden. Die „Geistesrichtung“ der Universität belegte Reeder mit dem Begriff „niederdeutscher Humanismus“. Mit der Reformation begann der jahrhundertelange Niedergang der Universität, die „in enger Scholastik“ steckengeblieben war. 1798 hoben die Franzosen sie auf. „Ihr Abgang war kein schlechter.“ Rektor und Professorenschaft versagten „den welschen Eindringlingen“ einen Treueid. Im zweiten Abschnitt „Unter der Herrschaft Preussens“ wurden die Auseinandersetzungen darüber geschildert, wo eine Universität für die Rheinprovinz gegründet werden solle. Die Entscheidung fiel schließlich auf das landschaftlich schön gelegene, idyllische Bonn zu Lasten der großen Handelsstadt Köln. Ausschlaggebend war die Befürchtung des preußischen Staatsministeriums, der starke klerikale Einfluss in Köln werde der staatspolitischen Aufgabe der neuen Universität nicht förderlich sein, eine „Verschmelzung“ der katholischen Bevölkerung mit dem protestantischen Preußen zu fördern. In der Tat war von Kölner Seite die Wiedererrichtung einer katholisch-­reichsstädtischen Universität gefordert worden. Die kulturpolitisch-­ konfessionellen Spannungen der 30er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts wären wohl vermindert worden, hätte in Köln eine Universität mit paritätisch besetzter Fakultät bestanden. Das zielte auf die „Kölner Wirren“ um die Mischehenfrage, in denen 1837 der Kölner Erzbischof verhaftet worden war, und auf den späteren „Kulturkampf “. In einem Unterabschnitt mit der nach heutiger Terminologie unzutreffenden Überschrift „Fachhochschulen bis 1919“ wurden dann die Vorstufen einer Universitätsneugründung angeführt. Die weit südlich gelegene Universität Bonn habe nicht alle universitären Bedürfnisse in Köln und am Niederrhein decken können. So sei es 1901 auf Initiative von Bürgerschaft und Rat zur Errichtung einer Handelshochschule gekommen, 1904 zu der einer „Akademie für praktische Medizin“ und 1906 zur „Vereinigung für rechts- und staatswissenschaft­ liche Fortbildung“. Diese Gründungen hätten, so hieß es eingangs im folgenden Abschnitt „Die neue Universität Köln“, ihre Grenzen in dem Fehlen einer „universalen Hochschule“ gehabt. Zudem hätte sich die hochschulpolitische Lage Kölns, inzwischen drittgrößte Stadt des Reiches, verändert. Trotz

105 Universitätsarchiv Köln, Zugang 9/986 ohne Begleitschreiben und Eingangsvermerk.

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mehrerer Hochschulneugründungen im Westen seit der Reichsgründung ­seien die berechtigten Wünsche Kölns nicht erfüllt worden. So habe wieder die Stadt die Initiative ergriffen und 1919 sei die neue Universität gegründet worden. Die treibende Kraft, der damalige Oberbürgermeister Adenauer, wurde von Reeder nicht erwähnt. Er betonte, die Neugründung sei „kein Produkt der marxistischen Revolution“ gewesen, was allerdings zutraf. Nach seiner Deutung wurde sie in den schwersten Stunden Deutschlands […] ein Bollwerk deutscher Kultur und deutschen Geistes gegenüber dem Druck der feindlichen Besatzung […] zu einer Zeit, wo Reich und Staat in ohnmächtiger Schwäche dem Rheinland nicht die […] notwendige Stütze geben konnten.

Es könne nicht mehr maßgeblich sein, dass die Stadt Köln im Vertrag von 1920 auf „staatliche finanzielle Unterstützung“ für ihre Universität verzichtet habe. Die politischen Gruppen, ­welche damals die Neugründung betrieben, hätten wohl nicht die Einheit des Reiches, sondern mehr den Ruhm der Stadt Köln im Blick gehabt. So sei es zu einer städtischen Neugründung gekommen, obwohl es sich um eine nationale Aufgabe gehandelt habe, die eine „nachdrückliche Förderung durch Reich und Staat gerechtfertigt“ hätte. Beide waren dazu aber offenbar finanziell nicht in der Lage, was Reeder nicht erwähnte. Kaum verhohlen kritisch merkte er dann an, nach der „Machtübernahme“ habe die Stadt den Neubau der Universität allein aus eigenen Mitteln fertiggestellt. Unmittelbar darauf folgte der Satz: „Die weitere Zielsetzung des Nationalsozia­lismus macht die gesamtdeutsche Bedeutung der Universität Köln jetzt offenbar.“ Zur Entfaltung d ­ ieses Satzes wurde vor allem darauf verwiesen, Köln sei für die westlichen Nachbarn der „grosse Repräsentant deutschen Lebens. […] Von ihm müssen […] stärkste geistige und kulturelle Ausstrahlungen des Deutschtums ausgehen. Gerade jetzt beleben sich die Verbindungen zum ‚dietschen‘ Volkstum in Belgien und den Niederlanden.“ Die Stadt Bonn könne diese Funktion nicht übernehmen. Der auffällige Begriff „dietsch“ war der „Westforschung“ zuzuordnen, einer völkisch-­nationalen wissenschaftlichen Richtung etwa seit den 20er Jahren. Sie wollte, mit politischen Intentionen, die engen historischen Verbindungen ­zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarländern einschließlich Nordfrankreichs herausarbeiten. Reeder legte auf diese Verbindungen also ebenfalls Wert. Die innerdeutschen Funktionen überträfen die lokalen Interessen der Stadt bei weitem. Das Rheinland sei ein einzigartiges Industriegebiet in Europa und seiner Jugend ­seien Aufgaben gestellt, die in einer kleinen, weit abgelegenen Universität nicht erlernt werden könnten. Vielmehr müsse ihr Studium „durch die tägliche Anschauung und Lebensnähe unterbaut“ werden. Es sei erwünscht, aber eine Frage des Wohlstandes, die Söhne aus dem Elternhaus an Universitäten in andere Teile des Reiches zu s­ chicken. Außerdem böten heute HJ, Arbeitsdienst und Wehrpflicht genug Gelegenheit, die Söhne „zu Männern“ zu formen. Bei der Wahl des Studienorts spielten weniger romantische Vorstellungen oder die Neigung nach „ständischer Absonderung“ eine Rolle, sondern der Wunsch nach Nähe zum „starken Rythmus [sic!] der ernsten Arbeit, des Handels und der Industrie“. Entsprechend s­ eien in Köln die Studentenzahlen gestiegen und Köln liege jetzt an sechster Stelle von den 23 Universitäten des Reiches. Nach einer Untersuchung ergäben sich diese Zahlen nicht durch einen relativ hohen Anteil in Köln geborener Studenten. „Der Raum der Universität“ sei das ganze Rheinland und das nahe liegende südliche Westfalen. Diese Angaben werden mit Schaubildern unterlegt. Der von Reeder als „angemessen“ bezeichnete Anteil von Studenten des „übrigen Deutschlands“ sichere „die innere Verbindung der Universität mit allen Gauen des Reiches“. Etwa 55 % der Väter der Studierenden ­seien, selbstständig oder unselbstständig, in Handel oder Gewerbe tätig, was

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zur Eigenart der Universität passe. Reeder konstatierte weiter, auch wirtschaftlich Schwache könnten wegen der vielen Möglichkeiten zu pendeln in Köln „zum Studium gelangen“. Bonn könne wegen seiner „abseitigen Verkehrslage“ das nicht leisten. Im vierten Abschnitt „Kölns Anspruch auf staatliche Unterstützung“ argumentierte der Regierungspräsident beinahe schlicht, aber schlagkräftig. Nachdem er die große Tradition der alten Universität und die rasch erworbene Bedeutung der neuen gebührend herausgearbeitet hatte, zumal im Vergleich mit Bonn, verwies er einfach darauf, dass sich alle anderen Universitäten des Reiches entweder in staatlicher Trägerschaft befänden oder zumindest vom Staat finanziell gefördert würden. Das müsse bei der Universität Köln denn auch sein, sie sei bisher die einzige, bei der weder das eine, noch das andere zutreffe. Köln habe ein „moralisches Recht“ darauf; einen Rechtsanspruch gab es ja nicht. In einer präzisen Sprache holte Reeder historisch weit aus, um schon von daher seiner Argumentation Gewicht zu verleihen. Einige Begriffe und inhaltliche Wendungen lassen erkennen, dass die Denkschrift von einem Funktionsträger des „Dritten Reiches“ verfasst worden ist, welcher aber durchaus noch sachlich zu argumentieren wusste und nicht dessen Phraseologie verfallen war. Gerade diese Formulierungen schienen geschickt darauf angelegt zu sein, bei höheren Vertretern des Regimes, ­seien sie aus Staat oder Partei, Anklang zu finden. Wie die Denkschrift eingesetzt wurde und ­welche Wirkung sie hatte, konnte nicht ermittelt werden.

4.5 Zusätzliche Funktion in Düsseldorf – Steigerung der Karriere oder bedenkliches Symptom? Im Dezember 1938 war die Amtszeit des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Carl Christian Schmid unter entwürdigenden Umständen zu Ende gegangen.106 Er hatte in einer schwierigen Konstellation amtiert. In seinem Bezirk befanden sich zwei Gauleitungen, Essen und Düssel­ dorf, dort auch die Provinzialverwaltung unter dem Landeshauptmann Haake. Schmid wurde wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau die Aufnahme in die NSDAP verwehrt. Nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 stürmte eine aufgehetzte Menge das Regierungsgebäude und drohte, gegen die Ehefrau Schmids gewalttätig zu werden. ­Diesem war nun klar, dass seine Stellung unhaltbar geworden war. Er wurde beurlaubt und im Dezember 1938 auf eigenem Antrag in den Ruhestand versetzt. Die Regelung der Nachfolgefrage dauerte ungewöhnlich lange. Am Ende wurde der Kölner Regierungspräsident Eggert Reeder mit Erlass des Reichsministers des Innern vom 1. September 1939 zusätzlich mit der kommissarischen Wahrnehmung der Dienstgeschäfte des Regierungspräsidenten in Düsseldorf beauftragt. Dies war ungewöhnlich, denn Düsseldorf war mit Abstand der flächengrößte Bezirk der Rheinprovinz, sowie mit 4,2 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste und wirtschaftlich bedeutendste ganz Preußens.107 Die Übertragung der zusätzlichen Funktion in Düsseldorf war wohl auch eine Anerkennung von Reeders bisherigen Leistungen. Mehr noch drängte sich die Frage auf, wie diese übergroße Aufgabe zusätzlich würde geleistet werden können. Unter normalen Umständen wäre dies kaum möglich gewesen. Nun begann ebenfalls am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Auf Grund der anbrechenden Kriegszeit wird die Personalentscheidung etwas verständlicher. 106 Vgl. Romeyk, Der preußische Regierungspräsident im NS-Herrschaftssystem, S. 125, auch zu allem Folgenden; Ablehnung des Parteibeitritts bei Schrulle, ebd., S. 688. 107 Vgl. Romeyk, ebd., S. 123.

Zusätzliche Funktion in Düsseldorf

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Ausschlaggebend für die Dauer der Vakanz dürfte gewesen sein, dass es erhebliche Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung über Schmids Nachfolge gab. Zunächst ist auf die Vorfrage einzugehen, ­welche Bedeutung die Behörde des Regierungspräsidenten für das NS-Regime im Jahre 1939 überhaupt noch besaß.108 Schon bald nach der Machtübernahme hatte sich eine negative Entwicklung für die Regierungspräsidenten angebahnt. Unter Göring als Ministerpräsident wurde die immer schon etwas labile Balance ­zwischen den beiden Behörden der Mittelinstanz zugunsten der Oberpräsidenten verschoben. Durch das in Kapitel 2 schon erwähnte „Oberpräsidentengesetz“ vom 15. Dezember 1933 wurde ihre politische Führungsrolle unterstrichen und ihnen ein Weisungsrecht gegeben.109 Hinzu kam, dass Göring sehr bald Gauleiter zu Oberpräsidenten ernannte, im Rheinland allerdings erst im April 1935. In größerem Maße wurde die Bedeutung der Regierungspräsidenten durch die zunehmende Aufsplitterung der Verwaltung verringert, wozu noch die Einrichtung zahlloser Parteidienststellen trat. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war die Entwicklung der politischen Polizei, gegen die sich Reeder ja auch mit aller Kraft gewandt hatte. Im Reichs- und preußischen Ministerium des Innern wurde die Problematik der Entwicklung durchaus gesehen. Im Herbst 1937 und um die Wende zum folgenden Jahr unternahm es zwei Versuche, durch gesetzliche Neuregelungen die allgemeine Staatsverwaltung und insbesondere die Regierungspräsidenten zu stärken.110 Zum ­Ersten ging es um eine Aufgaben­ übertragung bei der Schulaufsicht zugunsten der Regierungspräsidenten, zum Zweiten um eine Zusammenfassung aller Aufgaben des Reiches und der Länder bei Behörden der allgemeinen und inneren Verwaltung. Beide Male war das Ministerium an dem zusammenwirkenden Widerstand unterschiedlicher Machtfaktoren gescheitert, nämlich der anderen Ressorts, der Gauleiter und nicht zuletzt des Stellvertreters des Führers. Schließlich schlug auch noch nach der Annexion Österreichs und der „sudetendeutschen“ Gebiete 1938 der Versuch einer betont „nationalsozia­listischen“ Verwaltungsreform des Ministers Frick fehl, eine „Reichsgauverfassung“ einzuführen. Das allen Reformansätzen gemeinsame Element einer Stärkung der Regierungspräsidenten ging also mit ihnen zusammen unter und die Tendenz der Schwächung dieser traditionellen Verwaltungsinstitution durch das NS -Regime blieb ungebrochen. Das also war die Ausgangslage, in der die Nachfolge von Regierungspräsident Schmid geregelt werden sollte.111 Dabei standen sich zwei unterschiedliche Grundpositionen gegenüber. Das Reichs- und preußische Ministerium des Innern favorisierte einen vor allem fachlich versierten, erfahrenen Verwaltungsbeamten. Den Gauleitern Florian und Terboven kam es in erster Linie auf die politische Zuverlässigkeit an, gegen w ­ elche Diels in seinem „Immediatbericht“ an Göring 1934 polemisiert hatte. Es war schon schwierig genug, die verschiedenen Grundpositionen in Einklang zu bringen. Die Situation wurde noch dadurch verkompliziert, dass die Personalvorschläge des Ministeriums mit zwei Gauleitern abgestimmt werden mussten, die jeweils auf Kosten des Anderen ihren Einfluss vergrößern wollten. Der Bedeutungsverlust des Amtes eines Regierungspräsidenten zeigte sich eben auch darin, dass es zu einem solchen „Zankapfel“ werden konnte. Dabei gelang es Terboven offensichtlich nicht, sein Staatsamt als Oberpräsident entscheidend in die Waagschale zu werfen. Hier kam es nur auf das jeweilige – gleichrangige – Parteiamt an. 108 Vgl. Schrulle, ebd., S. 170 ff. 109 GS., S. 477. 110 Vgl. Schrulle, ebd., S. 179 ff. Auch zum Folgenden. 111 Zum Folgenden Romeyk, ebd., S. 126 f.

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Endlich machte das Ministerium im August 1939 einen Personalvorschlag, der den Gaulei­ tern hätte genehm sein können, nämlich den der Übernahme eines bayerischen Regierungspräsidenten, welcher Funktionär der NSDAP gewesen war. Eine s­ olche Personalmaßnahme war rechtlich möglich, weil Frick ja zugleich Reichsminister des Innern war. Das preußische Finanzministerium protestierte aber gegen diesen Vorschlag, weil es wegen der besonderen Bedeutung der Regierung Düsseldorf die Besetzung der Behördenleiterstelle mit einem fachlich erfahrenen Laufbahnbewerber für erforderlich hielt. Die Meinungsverschiedenheit brauchte aber nicht ausgetragen zu werden, weil der betreffende Beamte anderweitig verwendet wurde. Nach ­diesem späten und dann auch noch gescheiterten Anlauf aber war eine rasche Lösung überfällig geworden, und sie wurde, wie beschrieben, in der Betrauung Reeders gefunden. Ihr haftete zwangsläufig etwas Provisorisches an, aber darüber sollte die Erwartung hinweghelfen, der gerade begonnene Krieg werde nicht lange dauern. Der Regierungspräsident nahm sein neues Amt nicht in der Weise wahr, dass er dem Düsseldorfer Regierungsvizepräsidenten die eigentliche Arbeit überlassen hätte. Er teilte vielmehr seine Arbeitszeit ­zwischen den beiden Standorten insofern auf, als er durchschnittlich an fünf Tagen der Woche in Düsseldorf und an zweien in Köln tätig war. Die Aufteilung hing auch damit zusammen, dass in Düsseldorf ein Bezirkswirtschaftsamt zur Regelung von Aufgaben der Kriegswirtschaft eingerichtet worden war, welches auch das Gebiet des Gaues Köln-­Aachen, also zwei weiterer Regierungsbezirke, einschloss.112 Reeder nutzte seine Doppel­funktion auch dazu, die Zusammenarbeit z­ wischen den beiden Behörden bis auf die Ebene der Dezernenten hinunter stärker zu koordinieren, „damit nicht in grundsätzlichen Fragen Berichte abgehen, die zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommen und in ihren Anträgen voneinander abweichen“. Die Doppelbelastung dauerte faktisch nur eine begrenzte Zeit. Am 1. Juni 1940 wurde er wiederum zusätzlich in ein anderes Amt berufen, welches aber seine fast ausschließliche Tätigkeit an einem dritten Standort erforderlich machte, in der belgischen Hauptstadt Brüssel. Dort wurde er Militärverwaltungschef. Auch wenn er sich ganz wesentlich auf diese Aufgabe konzentrieren musste, blieb er doch formal mit der Leitung zweier Regierungen belastet. Dies ließ sich nicht allein mit der Kriegslage erklären; einmal mehr wurde der Verwaltungswirrwarr des NS-Regimes deutlich, Ausdruck der Geringschätzung einer geordneten Verwaltung. Immerhin wurde Reeder im Spätherbst 1941 von der Düsseldorfer Last befreit, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der deutsche Vormarsch vor Moskau stecken geblieben war und absehbar wurde, dass der Krieg noch lange dauern würde. Am 15. November wurde der Ministerialrat Wilhelm Burandt zum kommissarischen Regierungspräsidenten in Düsseldorf bestellt und am 1. Mai 1942 endgültig ernannt. Da Reeder aber seine Stellung in Köln zumindest nominell beibehielt, blieb ihm nicht erspart, die weitere Entwicklung wahrzunehmen: die „Dezimierung“ der Regierungspräsidenten auf Grund der fortgesetzten „Friktionen“ mit Gauleitern, die zugleich „Reichsverteidigungskommissare“ geworden waren, mit Himmlers SS und den Stapoleitstellen.113 Hinzu kamen noch Pläne, die Oberpräsidien mit den am gleichen Ort bestehenden Regierungen zusammenzulegen. Ohnedies war die Tätigkeit eines Militärverwaltungschefs in einem besetzten Land belastend genug. Reeder sollte sie mehrere Jahre ausüben. 112 Ders., Düsseldorfer Regierungspräsidenten 1918 bis 1945, Rheinische Vierteljahresblätter, Jhrg. 44 (1080), S. 289, von dort auch das folgende Zitat. 113 Vgl. Düwell, Der Umbruch 1933/34 auf der Düsseldorfer Ebene der staatlichen Mittelinstanz, S. 57 f. Zum Folgenden vgl. Schrulle, ebd., S. 192 ff.

Militärverwaltungschef in Brüssel 1940 – 1944

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4.6 Militärverwaltungschef in Brüssel 1940 – 1944 Reeders Tätigkeit bei der deutschen Besatzungsverwaltung in Brüssel war der längste zusammenhängende Abschnitt seiner leitenden Funktionen. Reeder wurde eine der markanten Gestalten der Besatzungspolitik des „Dritten Reiches“ und dies fand seinen Niederschlag in der deutschen, belgischen, sogar in der amerikanischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg sowie auch über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozia­listische Deutschland. Für bestimmte Handlungen als Militärverwaltungschef wurde er nach dem Krieg in Belgien strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Insofern hatte die Wahrnehmung seiner Funktionen im NS-Regime weiter reichende Konsequenzen als bei seinen Kollegen zur Bonsen und Diels.

4.6.1 Das Deutsche Reich und Belgien: Vorkriegszeit, Krieg und Besetzung Um die deutsche Besatzungsherrschaft einordnen zu können, sollten die politischen Beziehungen ­zwischen dem Deutschen Reich und Belgien seit Mitte der 1930er Jahre und der Krieg im Westen bis zur Besetzung Belgiens im Mai 1940 kurz dargestellt werden. Nach dem ­Ersten Weltkrieg blieben Belgien und Frankreich durch eine 1920 geschlossene Militärkonvention miteinander verbunden. Diese Orientierung Belgiens wurde mit aller Deutlichkeit durch die Rheinlandbesetzung im März 1936 in Frage gestellt. Das kam der außenpolitischen Intention des „Dritten Reiches“ entgegen, eine Lockerung der engen Bindung Belgiens an Frankreich herbeizuführen. Diesem primären Ziel wurde, wie oben schon angesprochen, die Eupen-­Malmédy-­Frage untergeordnet und, soweit angängig, „heruntergefahren“. Die Koordination der „Volkstumsarbeit“ hatte seit Anfang 1936 der Kölner Gauleiter Grohé übernommen. Dieses „Abschieben“ auf die Parteiebene ließ aber immer noch ein belgisches Misstrauen bestehen. Im Sommer 1936 schwenkte das Land angesichts der Aufspaltung Europas in zwei gegensätzliche Machtblöcke auf eine primär interessengeleitete, eigenständige „Politique d’Indépendance“ um.114 Großen Anteil daran hatte der junge König Leopold III. Die neue Außenpolitik lief auf einen Neutralitätskurs hinaus. Die Gründe lagen in der inneren Situation des Landes. Auch Belgien war von der Weltwirtschaftskrise erfasst worden. Das politische System wurde bedroht durch extreme Gruppierungen wie dem „Vlaamsch Nationaal Verbond“ (VNV), der gegen den Bestand des Staates gerichtet war, und die antiparlamentarisch-­faschistische „Rex-­ Bewegung“ unter Führung von Léon Degrelles. Beide Gruppierungen agitierten heftig gegen die enge Bindung an Frankreich. Eine Neutralitätspolitik wurde von der Regierung als geeignet angesehen, die innenpolitische Lage zu entschärfen und zugleich auch Verständnis für höhere Kosten der Landesverteidigung zu erzeugen. So wurde am 14. Oktober 1936 das französisch-­ belgische Militärbündnis gekündigt. Die Zusammenarbeit der Generalstäbe blieb allerdings bestehen. Im Dezember desselben Jahres wurde die Wehrdienstzeit erhöht. Schließlich gelang es der Regierung auch, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu meistern.

114 Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Klefisch, Das Dritte Reich und Belgien, S. 127 ff, 157 ff, 236 ff, 247 ff.

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Mit der Kündigung des französisch-­belgischen Militärabkommens wurde ein Ziel der nationalsozia­listischen Außenpolitik im Wesentlichen erreicht, wenn auch nicht das eines Nichtangriffspaktes. Damit begnügte sich das Deutsche Reich zunächst. Für seinen Erfolg hatten sich vorangegangene Kontakte mit dem VNV und den Rexisten nicht als hinderlich erwiesen, da sie bewusst klein gehalten worden waren. An der Flamenfrage bekundete das Reich offiziell Desinteresse. Auf französischer Seite war man verständlicherweise ungehalten über die Kündigung und es kam zu heftigen Presseangriffen. Die britische Regierung zeigte dagegen für das belgische Vorgehen Verständnis. Schließlich setzte sich aber bei der französischen Regierung die Einsicht durch, Belgien sollte nicht völlig verloren gehen. So kam es dann zu der britisch-­französischen Erklärung vom 24. April 1937, in welcher von beiden Mächten die Unverletzbarkeit des belgischen Territoriums garantiert wurde. Durch diese Bestätigung seiner Außenpolitik war die Position des Landes gegenüber dem Deutschen Reich gestärkt worden. Die belgische Regierung konnte nunmehr eine entsprechende Erklärung der Reichsregierung verlangen. Für das Deutsche Reich war dies im Vergleich mit den Westmächten auch eine Prestigeangelegenheit. Am 13. Oktober 1937 erfolgte eine deutsche Garantie der territorialen Integrität Belgiens. Die allseitige Anerkennung der Unabhängigkeitspolitik bot für das Reich auch den Vorteil, dass Belgien nicht mehr als Aufmarschgebiet für französisch-­britische Truppen in Betracht kam. Damit war an der deutschen Westgrenze derselbe Zustand wie vor 1914 wiederhergestellt. Die Garantieerklärung hatte mit ihrer impliziten Bekräftigung der belgischen Ostgrenze die deutschsprachige Bevölkerung enttäuscht. Aber nicht nur deshalb wurde eine offizielle Verzichterklärung auf das Gebiet vermieden und weiter Interesse an der kulturellen Entwicklung der Bevölkerung bekundet. Es ging der Reichsführung um ein Druckmittel für belgisches Wohlverhalten. Dieses wurde vor allem auf militärischem Gebiet erwartet. Immer wieder gefordert wurde eine Umgruppierung der bisher zur Reichsgrenze hin ausgerichteten belgischen Truppen. Sie sollten so verteilt werde, dass sie eine Rundumverteilung ermöglichten. Die belgische Regierung ihrerseits praktizierte entschlossen die Unabhängigkeitspolitik, ging soweit, im Frühjahr und Sommer 1938 erstmalig Manöver an der Grenze zu Frankreich abzuhalten. Dies war auch in Zusammenhang mit der „Sudetenkrise“ zu sehen, die für Belgien fatale Einsichten bewirkte: Die zunehmende Aggressivität der deutschen Außenpolitik und die Schwäche Frankreichs. Eine ernsthafte Diskussion, zur früheren westlichen Allianz zurückzukehren, kam deshalb erst gar nicht auf, zumal auch die Reichsführung der belgischen Regierung immer wieder suggerierte, sie könne durch korrekte Neutralitätspolitik selbst Einfluss auf ihr Schicksal nehmen. Zum belgischen Wohlverhalten im weiteren Sinne kann auch gerechnet werden, dass der König Reeder am 30. Mai 1938 zum Großoffizier des Kronenordens ernannte.115 Ungeachtet oft kritischer Töne hinsichtlich des Nachbarlands in seinen Berichten als Aachener Regierungspräsident wird er sich belgischen Behörden und Amtsträgern gegenüber immer betont höflich und korrekt verhalten haben. Anfang des Jahres 1939 waren die deutsch-­belgischen Beziehungen in ein schwieriges ­Stadium getreten. Großbritannien und Frankreich versuchten, Belgien zum Eintritt in ein Defensivbündnis zu bewegen, allerdings vergeblich. Dies erweckte gleichwohl das Misstrauen der Reichsführung. Belgiens Regierung blieb unermüdlich dabei, Zweifel an ihrer Unabhängigkeitspolitik zu zerstreuen. Ende August, als sich die Krise ­zwischen dem Deutschen Reich und Polen

115 August Klein, Festschrift Köln, S. 114.

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aufs Äußerste zuspitzte, bot König Leopold sogar seine Vermittlung an. Aber Hitler begann am 1. September 1939 den Angriff auf Polen entschlossen, und die Westmächte erklärten zwei Tage später dem Deutschen Reich den Krieg, blieben aber im Westen militärisch untätig. Belgien hatte bereits am 25. August zu seiner eigenen Sicherheit die Streitkräfte mobilisiert.116 Die belgische Regierung unter Hubert Pierlot hielt trotz der Warnungen vor einem deutschen Angriff ihre Neutralitätspolitik bei, die sie als bestes Mittel ansah, nicht in den Krieg hineingezogen zu werden. Die Bevölkerung folgte der Regierung mehrheitlich. Die Angst vor einem erneuten deutschen Einfall war aber sehr groß. Die Einmütigkeit wurde allerdings durch Unterströmungen relativiert. In der Wallonie hatten Sympathien für eine Allianz mit Frankreich fortbestanden. Den größten Rückhalt hatte die Neutralitätspolitik in Flandern, wobei allerdings der VNV sich davon insofern entfernte, als er eine zunehmende Affinität für das nationalsozia­listische Deutschland entwickelte. Die Ausrichtung der Außenpolitik war also geeignet, vor allem den Gegensatz ­zwischen Flamen und Wallonen zu verschärfen. Bereits bei einer Besprechung im Mai 1939 mit den Befehlshabern der Wehrmacht hatte Hitler deutlich gemacht, dass bei einem Krieg im Westen die drei neutralen Beneluxstaaten ebenfalls angegriffen werden sollten. Dafür sprachen aus seiner Sicht strategische Zwänge und die kriegswirtschaftliche Notwendigkeit, das Industriepotenzial dieser Länder ­nutzen zu können. Der Angriff im Westen wurde immer wieder verschoben, zuletzt wegen der militärischen Besetzung Dänemarks und Norwegens. So fand er erst am 10. Mai 1940 statt. Auf diese Weise wurden eine weitere Konkretisierung der militärischen Planungen und die genauere Vorbereitung einer Besatzungsverwaltung möglich. Letztlich sollte eine andere Strategie als im ­Ersten Weltkrieg verfolgt werden. Statt eines halbkreisförmigen Marsches durch Belgien auf Paris hin war ein direkter Stoß durch die Ardennen vorgesehen, um die alliierten und die belgischen Truppen gegen die Kanalküste zu drücken. Dafür standen übermächtige und hochtechnisierte Truppen der Wehrmacht zur Verfügung. Die belgische Armee unter dem Oberbefehl des Königs hatte einen weitaus geringeren Kampfwert und war von vornherein auf die Defensive festgelegt. Die Planungen für eine Besatzungsverwaltung in den Beneluxländern begannen ebenfalls im Herbst 1939. Hitler hatte dem Oberkommando des Heeres (OKH) zugestanden, alle westeuropäischen Länder würden nach ihrer Eroberung eine Militärverwaltung erhalten. Die Heeresführung wollte nicht noch einmal dieselbe Erfahrung wie in Polen machen, wo ein Terror­regime vor allem der SS entstanden war, und Hitler wollte kurz vor einer Offensive einen Konflikt mit ihr vermeiden. Eine Zivilverwaltung mit einem Reichskommissar an der Spitze hätte außerdem eine Tendenz vermuten lassen, nach dem Krieg das betreffende Gebiet an das Reich anzuschließen, während eine Militärverwaltung eben keine Festlegung für später enthielt. Dies war bei Belgien wegen der Flamenfrage und Eupen-­Malmédys von besonderer Bedeutung. Hitlers Entscheidung kam am 1. November 1939 in seiner Zustimmung zu den Grundsätzen der „Besonderen Anordnungen für die Verwaltung der besetzten Gebiete Luxemburgs, Belgiens und Hollands“ zum Ausdruck.117 Am selben 1. November hatte Hitler zugleich das Heer mit der Vorbereitung einer einheitlichen Militärverwaltung in den genannten Ländern ohne Beteiligung der zivilen Ressorts beauftragt. Bei der Weitergabe der Anordnungen an die drei

116 Zum Folgenden De Wever, Benelux-­Staaten, S. 70 ff. Zum Folgenden S. 78. 117 Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 56 f. Auch zum Folgenden.

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Heeresgruppen im Westen hob das OKH hervor, die völkerrechtlichen Bestimmungen s­ eien in jedem Fall streng zu beachten. Um dem Generalquartiermeister des Heeres Vorschläge für weitere Ausführungsbestimmungen vorlegen zu können, setzte das Oberkommando der an der deutsch-­belgischen Grenze aufgestellten Heeresgruppe B am 5. November eine Studienkommission ein. Zu ihrem Leiter wurde, wiederum zusätzlich zu seinen anderen Aufgaben, Reeder bestellt. Die Wahl dürfte nicht zuletzt wegen seines hervorragenden fachlichen Rufs und der Kenntnis der belgischen Verhältnisse aus seiner Aachener Zeit auf ihn gefallen sein. Die Studienkommission sollte vor allem dazu dienen, die Fehler aus der deutschen Besatzung im ­Ersten Weltkrieg vermeiden zu helfen. So soll eines der Mitglieder eine Handreichung für deutsche Soldaten verfasst haben.118 Der Generalquartiermeister des Heeres blieb vor Eingriffen in seine weiteren, sehr detaillierten Planungen bewahrt. Die einzuberufenden Verwaltungsfachleute wurden bestimmt, auf die vorgesehenen Dienststellen verteilt und ihr Status als „Kriegsverwaltungsbeamte“ festgelegt. Am Ende konnten Vorschriftensammlungen erstellt werden und das vorgesehene Personal seine künftigen Aufgaben in Planspielen üben. Am 9. Mai, dem Vortag des Angriffs im Westen, erging ein „Erlass des Führers und obersten Befehlshabers der Wehrmacht“ über die „Verwaltung der besetzten Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands“.119 Darin wurde in aller Form festgelegt, der Oberbefehlshaber des Heeres habe in den zu besetzenden Gebieten eine Militärverwaltung einzusetzen. Die Exekutivorgane ­seien vom Heer zu stellen. Dann wurde bestimmt: „3) Die Handhabung der Militärverwaltung hat so zu erfolgen, daß der Eindruck einer beabsichtigten Annektion der besetzten Gebiete nicht entsteht.“ Dies war mehrdeutig. Denn tatsächlich war die Frage für Belgien von Hitler noch nicht entschieden. Weiter hieß es in Ziffer 3: „Die Bestimmungen der HLKO sind zu achten. Die Bevölkerung ist zu schonen, das Wirtschaftsleben in Gang zu halten.“ Schließlich legte Ziffer 4 fest: „4) Feindselige Handlungen der Landesbevölkerung (Freischärlerei, Sabotage, passiver Widerstand, politisch- demonstrative Arbeitsniederlegung) sind mit voller Schärfe zu unterdrücken.“ In Ziffer 3 d ­ ieses Erlasses fanden sich die Intentionen des OKH zur Behandlung der Bevölkerung und Anwendung der Haager Landkriegsordnung (HLKO) wieder, wobei „achten“ etwas Geringeres bedeuten konnte als „einhalten“. Ziffer 4 enthielt vor allem Intentionen des OKW (Oberkommando der Wehrmacht), dem es weniger um die Schonung der Zivilbevölkerung, als vielmehr um die Sicherheit der Truppen ging. Es würde wesentlich darauf ankommen, wie die Militärverwaltung diesen Erlass handhaben würde. Der „Westfeldzug“ begann nun am 10. Mai mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Beneluxländer, ohne förmliche Kriegserklärung. Aber am selben Tag noch erklärten die belgische wie auch die niederländische Regierung den Kriegszustand.120 Statt von einem „Einmarsch“ sollte eher von einem „Überfall“ gesprochen werden; auf Belgien war es der zweite innerhalb von drei Jahrzehnten. Völlig überraschend kann er nicht gewesen sein, denn es hatte sogar geheime Warnungen von deutschen Amtsträgern gegeben. Jedenfalls wurde mit ihm klar, dass die deutsche Vorkriegspolitik gegenüber Belgien ein einziges Täuschungsmanö­ver gewesen war.

118 Vgl. Majerus, von Falkenhausen zu Falkenhausen, S. 141. 119 Abgedruckt bei Moll, „Führererlasse“, S. 117 f. 120 Dazu Umbreit, ebd., S. 58.

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In den Niederlanden entschied sich der Feldzug rasch. Nach der Bombardierung Rotterdams kapitulierten am 15. Mai die niederländischen Truppen. Königin Wilhelmina und die Regierung, die zwei Tage vorher ins Exil gegangen waren, erklärten, den Kampf von London aus fortsetzen zu wollen. In Belgien verliefen die Ereignisse anders.121 Die vorrückenden deutschen Truppen lösten eine enorme Fluchtbewegung aus, die zwei Millionen Menschen erfasste. Am 25. Mai wurde Brüssel kampflos eingenommen. Wenige Tage später war der belgische Widerstand am Ende. Der König sah den Kampf als verloren an. Das belgische Kabinett versuchte ohne Erfolg, ihn zu bewegen, „nach Großbritannien zu fliehen und an der Seite der Alliierten selbst dann weiter zu kämpfen, wenn ganz Belgien besetzt sein sollte.“ So kam es zum offenen Bruch. Leopold beschloss, im Lande zu bleiben; die Regierung Pierlot ging nach London ins Exil. Am 28. Mai ließ der König den Kampf einstellen. Er wollte das Schicksal seiner Soldaten teilen und erklärte sich zum Kriegsgefangenen in seinem Schloss Laeken bei Brüssel. Pierlot bezeichnete in einer Rundfunkerklärung das Verhalten des Monarchen als verfassungswidrig. Noch vor dem Ende der Kampfhandlungen hatte Hitler dem überfallenen Land eine weitere Enttäuschung bereitet, ­welche ungewiss werden ließ, mit wie viel Schonung es von deutscher Seite künftig werde rechnen können. Denn bereits am 18. Mai bestimmte ein Führererlass, dass die ehemals deutschen Gebiete Eupen-­Malmédy von Belgien abgetrennt und dem Regierungsbezirk Aachen zugeschlagen werden sollten.122 Bei der Einrichtung des Besatzungsregimes in beiden Ländern kam es ebenfalls noch im Mai zu Änderungen.123 Nachdem in den Niederlanden bereits General von Falkenhausen zum Militärbefehlshaber ernannt worden war, wurde am 19. Mai doch eine Zivilverwaltung mit einem Reichskommissar an der Spitze eingeführt. Hitler hätte wohl am liebsten auch in B ­ elgien den Wechsel von einer Militär- zu einer Zivilverwaltung vorgenommen. Die Anwesenheit von König Leopold III. soll ihn jedoch davon abgehalten haben. Ein weiteres Hemmnis war für ihn die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung Belgiens z­ wischen den germanischen Flamen und den „rassisch weniger wertvollen“ romanischen Wallonen. Es blieb also bis kurz vor Ende der deutschen Besatzungsherrschaft bei einer unmittelbar dem OKH unterstellten Militärverwaltung. General von Falkenhausen wurde nun Militärbefehlshaber in Belgien und siedelte am 30. Mai nach Brüssel über.124 Reeder war bereits am 11. Mai vom OKH zum „Kriegsverwaltungschef im Range eines Generals“ ernannt worden. Zum gleichen Zeitpunkt nahm er seine Tätigkeit als unmittelbar dem Militärbefehlshaber unterstehender Militärverwaltungschef auf. Kurz nach Beginn ihrer Tätigkeit schuf sich die Militärverwaltung ein eigenes Presseorgan, das aber auch dem Propagandaministerium unterstand, die deutschsprachige „Brüsseler Zeitung“.125 Die erste Ausgabe erschien am 1. Juli 1940. Mehrere Journalisten aus dem Parteiblatt „Westdeutscher Beobachter“ waren bei ihr tätig. Im Juni 1940 waren die Grenzen der Brüsseler Militärverwaltung endgültig festgelegt worden. Ihr wurden die beiden französischen Departements Nord und Pas-­de-­Calais zugeordnet. Die Gründe hierfür waren zunächst strategischer Natur; belgische und französische Kanalküste waren so zusammengefasst. Nach der endgültigen Festlegung des Zuständigkeitsbereichs lautete nunmehr von Falkenhausens Amtsbezeichnung „Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich“. 121 De Wever, ebd., S. 76 f, dort auch das Zitat. 122 Umbreit, ebd., S. 64. 123 De Wever, ebd., S. 78 f. Auch zum Folgenden. 124 Umbreit, ebd., S. 64 f. Auch zum Folgenden. 125 Matzerath, Tor zum Westen, S. 431.

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4.6.2 Aufbau und Ziele der Militärverwaltung Die Militärverwaltung in Belgien war, was ihren administrativen Teil angeht, ganz überwiegend Aufsichtsverwaltung. Sie bediente sich der fortbestehenden Verwaltungen im Lande und beschränkte sich im Wesentlichen auf Direktiven und Kontrollen.126 Der Militärbefehlshaber war dem Generalquartiermeister des OKH unterstellt. Seine Zuständigkeit umfasste den z­ ivilen Sektor und die dem Heere zugehörigen Besatzungstruppen. Insofern war die Bezeichnung „Militär“-Befehlshaber etwas eng. Der Militärbefehlshaber selbst, General Alexander Freiherr von Falkenhausen, geboren 1878, war eine eigenwillige Persönlichkeit von unverkennbarem Äußeren. Schlank, kahlköpfig und mit einem auffälligen Zwicker, wirkte er wie ein ­Intellektueller. Er war längere Zeit militärischer Berater in China gewesen. Politisch konservativ, machte er keinen Hehl aus seiner Verachtung für das nationalsozia­listische Regime. Nach dem Krieg verfasste er Memoiren, die in französischer Sprache veröffentlicht wurden.127 Der Apparat des Militärbefehlshabers gliederte sich der Grundstruktur seiner Aufgaben nach in einen (zivilen) Verwaltungsstab unter dem Militärverwaltungschef Eggert Reeder, und einen (militärischen) Kommandostab unter dem Major und späteren Oberst im Generalstab Bodo von Harbou. Den drei „Spitzen“ der Militärverwaltung war gemeinsam, dass sie im ­Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft hatten. Dabei durften sie bewusst oder unbewusst auch die Verwaltung der besetzten Gebiete miterlebt haben.128 Wegen der Unterschiedlichkeit ihrer Persönlichkeiten, der leicht exzentrische von Falkenhausen, der lebenslustige von Harbou und der pflichtstrenge Reeder, wurden sie in einer belgischen Darstellung als „een paradoxaal ­driespan“ bezeichnet. Reeder sei kein „partijfanaticus“ und ein „knap amptenaar“ gewesen, also ein fähiger und kluger Beamter.129 Ungeachtet von Meinungsunterschieden in ­Einzelfragen gab es bei ihnen eine gemeinsame Grundüberzeugung; es ist sogar von einer „excellent corporation“ die Rede.130 Reeder war als Militärverwaltungschef „zweiter Mann“ der Militärverwaltung. Als Leiter des Verwaltungsstabs hatte er Politik, Wirtschaft und Kultur in seiner Hand vereinigt. In der Literatur wird ihm allgemein das größte politische Gewicht zugebilligt, er habe die bedeutendste Rolle gespielt. Zum Verwaltungsstab gehörten das Präsidialbüro, die Verwaltungsabteilung und die Wirtschaftsabteilung.131 Zum Präsidialbüro gehörten insbesondere das Generalreferat für persönliche und politische Fragen sowie Referate für Personal und Organisation, Gesetzgebung und die Pressestelle. Zur Verwaltungsabteilung zählten insbesondere Referate für die Landesverwaltung, Volkstumsfragen, Polizei, Medizinalwesen sowie Justiz- und Rechtswesen. Aus der Wirtschaftsabteilung sind hervorzuheben die Referate für Arbeitseinsatz sowie Feind- und Judenvermögen. Diese bürokratische Struktur lag auch den regionalen Besatzungsbehörden zugrunde, den Oberfeld- und Feldkommandanturen. Dem Kommandostab unterstanden zwanzig Landsturmbataillone und einige Einheiten der Feldgendarmerie sowie der Geheimen Feldpolizei, dem militärischen Pendant der Gestapo. Stellvertreter Reeders war Harry von

126 De Wever, ebd., S. 81 ff. Dort auch zum Folgenden. 127 Memoires d’outre-­guerre, Brussels 1974; zur Person vgl. u. a. Meinen, Die Shoa in Belgien, S. 245; Umbreit, ebd., S. 59; Warmbrunn, German Occupation, S. 77 f. 128 Dazu Majerus, von Falkenhausen zu Falkenhausen, S. 139. 129 Jacquemyns, Een bezet land, S. 18 f, die folgende Charakteristik Reeders auf S. 11. 130 Warmbrunn, ebd., S. 90 ff (Zitat auf S. 92). 131 Vgl. im Einzelnen die Organigramme bei Umbreit, ebd., S. 68, und Meinen, ebd., S. 240 f.

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Craushaar, zugleich Leiter von Präsidialbüro und Verwaltungsabteilung. Eine weitere markante Person war der schon in der Studienkommission tätig gewesene Franz Petri als Kulturreferent. Für Reeder noch wichtiger war der Kriegsverwaltungsrat Franz Thedieck. Er war Dezernent bei den Regierungen Aachen und Köln gewesen. Im Mai 1940, als Reeder wegen eines Autounfalls nicht voll einsatzfähig war, hatte er die Anfangszeit des Verwaltungsstabes überbrückt und sollte später in seinen verschiedenen Aufgabengebieten für den Militärverwaltungschef „Mädchen für alles“ werden.132 Die am Anfang jedenfalls starke Stellung der Militärverwaltung war aber nicht unangefochten.133 Unmittelbar nach der Besetzung waren uniformierte Angehörige „Berliner Dienststellen“ und Parteiorganisationen ins Land gekommen. Reeders Bestreben war es, einem Hineinregieren von oben durch Reichsstellen neben dem eigentlich zuständigen OKH entgegenzuwirken und, wie schon als Regierungspräsident, ebenso ein Hineinreden durch Partei­stellen von der Seite zu unterbinden. Wenigstens gelang es dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Himmler nicht, einen „Höheren SS- und Polizeiführer“ (HSSPF) nach Belgien zu entsenden. Das sollte für längere Zeit so bleiben. Reeder musste aber zulassen, dass ein Beauftragter der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Brüssel installiert wurde. Die Militärverwaltung konnte jedoch verhindern, dass diese Dienststelle zunächst mehr als eine Fahndungsbefugnis erhielt. Die Zusammenarbeit z­ wischen dem Militärverwaltungschef und den Vertretern der SS war ständig durch Spannungen und Zuständigkeitskonflikte geprägt. Reeder, obwohl Inhaber eines höheren SS-Ehrenrangs, vertrat dabei seinen Überzeugungen gemäß die Staatsautorität. Bei einer Gesamtbetrachtung des klar gegliederten Organigramms der Militärverwaltung fällt auf, dass außer dem erwähnten Beauftragten der Sicherheitspolizei und des SD auch noch weitere wie der des Reichsarbeitsführers danebengestellt sind. Für den Anfang lässt sich allerdings feststellen, dass die Aufbauorganisation den Grundsätzen entsprach, die Reeder drei Jahre später in einem gemeinsam mit dem Militärverwaltungsrat Walter Hailer verfassten Aufsatz mit dem Titel „Die Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich“ formulierte, der in „Reich – Volksordnung – Lebensraum, Zeitschrift für völkische Verfassung und Verwaltung“ veröffentlicht wurde.134 Dies war ein Organ, welches von führenden SS-Juristen herausgegeben wurde und sich als erstes mit nationalsozia­listischer Großraumpolitik und der Verwaltung deutscher Besatzungsgebiete beschäftigte. Reeder wurde dort als „Regierungspräsident, SS-Gruppenführer“ apostrophiert, einem Ehrenrang, den er seit November 1943 innehatte. Jede Verwaltung eines Ordnungsstaates hat sich in möglichst einfachen, Leerlauf und Reibungsflächen vermeidenden Bahnen zu bewegen. Je höher die Kultur, je größer die Zivilisation und je schwieriger die wirtschaftliche Struktur eines Staates ist, umso wichtiger bleibt es, den Verwaltungsaufbau und -ausbau trotzdem klar, möglichst einheitlich und damit einfach zu gestalten und zu halten.

Typisch für sein Selbstverständnis als Amtsträger ist dann die Betonung der „Autorität der Chefs, die die Interessen des Staates und damit auch dessen Autorität zu vertreten haben“. Sie 132 Warmbrunn, ebd., S. 88. 133 Vgl. dazu und zum Folgenden, De Wever, ebd., S. 82. 134 Bd. 13, 1943, S. 7 ff. Von dort auch die Zitate. Vgl. auch Ahlrich Meyer, Großraumpolitik und Kollaboration im Westen, S. 29 ff (S. 35 f). Zu ständigen Mitarbeitern und Autoren auch Herbert, Best, S. 284.

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bleibe „stets abhängig von dem Vertrauen, das sie entsprechend ihrer tatsächlichen Durchschlagskraft bei der obersten Führung genießen, und dem Vertrauen, das sie sich bei der Bevölkerung selbst durch Persönlichkeit und fachliches Können zu erwerben haben.“ Die Methoden der Militärverwaltung waren anfangs maßvoll bis entgegenkommend.135 Sie trat also völlig anders auf als die deutschen Besatzer in Polen. Das war eine Folge ihrer grundsätzlichen Zielsetzung, vor allem die „germanischen“ Völker, also in Belgien die Flamen, für das „Dritte Reich“ zu gewinnen. Weitere Zielsetzungen schloss das nicht aus. Die Soldaten hatten Befehl erhalten, korrekt und diszipliniert aufzutreten. Es gab weder Plünderungen, noch Zerstörungen und auch, was die Sicherheitskräfte anging, in dieser Phase noch keine willkürlichen Verhaftungen. Die deutschen Truppen halfen bei der Repatriierung vieler belgischer Flüchtlinge aus Frankreich. Das Bild des umgänglichen und hilfsbereiten deutschen Soldaten stand in völligem Gegensatz zu den alliierten Soldaten, die im Mai panikartig geflohen waren. Ein solcherart günstiges Klima wollte die Militärverwaltung ausnutzen, um die Bevölkerung durch ein „sanftes Verfahren“ für das Dritte Reich „zu gewinnen“. Das war das Charakteristikum der gesamten ersten Okkupationsphase. So teilt Warmbrunn die Zeit der deutschen Besatzung in vier Perioden ein, deren erste von Juni bis September 1940 er bezeichnenderweise „the honeymoon“ nennt. Ein erstes Anzeichen für eine Ambivalenz in der Besatzungspolitik gab es bereits im Juli. Auf Hitlers Anordnung wurde König Leopold jede politische Aktivität in der Öffentlichkeit versagt. Zugleich gab er der Militärverwaltung, die sich im Prinzip apolitisch verhalten und jede Option für die Zukunft offenhalten sollte, Anweisungen für die Besatzungspolitik, speziell gegenüber den Flamen. Darin hieß es: Der Führer hat hinsichtlich der Zukunft des belgischen Staates noch keine endgültige Entschließung getroffen. Er wünscht einstweilen, jede mögliche Förderung der Flamen einschließlich der Rückkehr der flämischen Kriegsgefangenen in ihre Heimat. Den Wallonen sind keinerlei Vergünstigungen zu gewähren.

In dieser Instruktion spiegelt sich, konzentriert auf Belgien, die oben wiedergegebene „Germanisierungszielsetzung“ wider. Konkretere Ziele der Besatzungsverwaltung hat Reeder in dem oben zitierten Aufsatz recht maßvoll formuliert.136 Dabei war 1943, als er verfasst wurde, der Kurs der Militärverwaltung sehr viel härter geworden, ganz zu schweigen von der 1942 in Belgien begonnenen Deportation der Juden. Unter „Grundsätze und politische Zielsetzung“ verwies er zunächst auf die Ausgangslage einer Besatzungsverwaltung. Im Verhältnis zur Bevölkerung des besetzten Gebietes, „gleichviel, ob es sich dabei um fremdes oder auch völkisch verwandtes Volkstum handelt“, sei sie naturgemäß nicht organischer Bestandteil des Landes. Sie bleibe Fremdkörper und damit reine Zweckverwaltung, die zeitlich begrenzt sei und sich trotz der Sorge um das ihr „anvertraute“ Gebiet und seine Bewohner im Interesse der Kriegsführung oft in bewusstem Gegensatz zu dem Willen der Bevölkerung setzen müsse. Die „Funktionäre der Besatzungsverwaltung“ müssten insbesondere mit der Mentalität der Bevölkerung vertraut sein.

135 Dazu De Wever ebd., S. 82 ff. Die folgenden Zitate aus Hitlers Instruktionen S. 84. Vgl. ferner Warmbrunn ebd., S.  53 ff. 136 Reeder, ebd., S. 7 ff, von S. 10 die Zitate.

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In späteren Ausführungen wurde er noch deutlicher. Die Aufgabe der Besatzungsverwaltung sei eine zwiefältige, nämlich die Wahrung der Interessen des kriegsführenden Reiches vorweg und gleichzeitig der Schutz der lebensnotwendigen Belange des besetzten Landes selbst. Dieser in seiner Durchführung oft zwiespältige Auftrag, der gar zu leicht seitens der Bevölkerung des besetzten Gebietes der Besatzungsverwaltung den Vorwurf einer zu starken Ausbeutung, aus der Heimat jedoch den Tadel einer zu großen Rücksichtnahme auf das besetzte Gebiet einbringt, wird umso besser zugunsten beider Teile durchgeführt, je mehr es gelingt, eine Zusammenarbeit ­zwischen der Besatzungsverwaltung und der landeseigenen Verwaltung […] unter [für beide Seiten tragbaren] Formen herbeizuführen.

Auffällig ist, dass Reeder trotz der zunehmenden Belastung durch die Besatzungsverwaltung immer noch an eine tragfähige Zusammenarbeit mit der landeseigenen Verwaltung glaubte. In diesen Zusammenhang gehörte auch seine Grundforderung, die Mitglieder der Besatzungsverwaltung hätten als Vertreter des Reiches in ihrer inneren und äußeren Haltung besonders untadelig zu sein. Sie müssen sich durch hervorragendes fachliches Können und die Art ihrer Amtsführung bei der Bevölkerung und ihren Organen Respekt und Achtung verschaffen und damit in erster Linie [!] ohne Anwendung unmittelbaren Zwanges die Autorität der Besatzungsmacht sichern.

In Anbetracht der Entwicklung war diese Idealvorstellung kaum mehr realistisch. Möglicherweise wollte Reeder nur eine in seinem Sinne „heile Besatzungswelt“ darstellen. Der Unterschied ­zwischen „Aufgaben“ und „Zielen“ ist in Reeders Ausführungen nicht genau auszumachen. Immerhin kam der Gegensatz ­zwischen den Interessen des Reiches und denen des besetzten Gebietes zum Ausdruck, wenn auch vorsichtig formuliert. Bemerkens­ wert ist, dass er den Begriff „Ausbeutung“ gebrauchte, wenn auch nur zur Bezeichnung eines Vorwurfs der einheimischen Bevölkerung. Durch das Adjektiv „zu stark“ räumte er aber im Grunde ein, dass es für die Besatzungsverwaltung auch darum ging, die Ressourcen ihres Gebiets für das Reich nutzbar zu machen. Das wirtschaftliche Potenzial Belgiens sollte eben in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft gestellt werden. Dies setzte als erste Aufgabe und zugleich Ziel der Besatzungsverwaltung voraus, dass in ihrem Gebiet Ruhe und Ordnung gewahrt blieben. Die beiden deutschen Besatzungsverwaltungen während des E ­ rsten und des Zweiten Weltkrieges unterschieden sich zunächst generell in der rechtlichen Ausformung. Hier eine dem ­Kaiser unterstehende Zivilverwaltung mit einem Militär als Generalgouverneur an der Spitze, dort eine Militärverwaltung mit einem General als Militärbefehlshaber, welcher dem OKH und damit in Person dessen Oberbefehlshaber, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, unterstellt war. Gemeinsam war beiden Verwaltungen ein differenziert strukturierter Aufbau. Beide ­hatten fortwährend mit dem Problem der Konkurrenz anderer deutscher Stellen zu kämpfen. Im Besatzungsgebiet entstanden im Laufe der Zeit regelrechte deutsche „Polykratien“. Im Zweiten Weltkrieg begann sich bereits nach zwei Wochen die Tendenz dorthin zu entwickeln. Bereits am 16. Juni 1940 nämlich ordnete Hitler an, dass Göring im Rahmen seiner Aufgaben als Beauftragter für den Vierjahresplan dem Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich

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Weisungen erteilen könne.137 Eine bemerkenswerte personelle Übereinstimmung war, dass jeweils ein Regierungspräsident in der Besatzungsverwaltung tätig war. Im E ­ rsten Weltkrieg war dies der Aachener Regierungspräsident von Sandt gewesen.

4.6.3 „Wunderbarer Sommer“ 1940 und Umschwung danach Der Anfang der Besatzungszeit war durch die außergewöhnliche Machtkonstellation in Europa nach dem Ende des Westfeldzuges bedingt. Nach der Kapitulation der Niederlande und Belgiens sowie dem deutsch-­französischen Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 schien es, als sei das Schicksal des Kontinents entschieden. Außer Polen, Dänemark und Norwegen gehörte jetzt auch das ganze westliche Kontinentaleuropa zu Hitlers Machtbereich. In Großbritannien fand innerhalb der politischen Klasse eine Auseinandersetzung statt, ob man sich nicht mit dem deutschen Diktator arrangieren oder wirklich den Krieg fortsetzen sollte. Hitler schien die Zukunft zu gehören und es war nicht abzusehen, ob und wann die deutsche Kontinentalherrschaft ein Ende finden würde. Diese Situation beeindruckte tief die Mentalität der Bevölkerung auch in Belgien und prägte sie eine Zeitlang. Deren Mehrheit war bereit, sich mit einer längeren deutschen Fremdherrschaft abzufinden.138 Diese Bereitschaft wurde gefördert durch das überraschend korrekte Verhalten der deutschen Besatzungssoldaten. Hinzu kam, dass sich außer der Verdunklung im täglichen Leben wenig Grundlegendes verändert hatte. In d ­ iesem „wunderbaren Sommer“, wie ein feststehender Begriff belgischer Historiker lautet, waren beide Seiten eher friedlich gestimmt. Die Beamtenschaft war in ihrer Mehrheit zu einer Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht bereit, „um Schlimmeres zu verhüten“. Diese „Politik des geringeren Übels“ bezeichnet Bruno De Wever als „Akkommodation“, also Anpassung. Die ihr zugrunde liegende Einstellung habe man lange Zeit tabuisiert und verdrängt. Denn die Geschichte der deutschen Besatzung sei lange Zeit nur aus der Dichotomie zweier gegensätzlicher Lager in der Bevölkerung, Kollaboration und Widerstand, beschrieben worden. Zunächst aber habe es fast nur die große Grauzone der „Akkommodation“ gegeben. Zur Kollaboration s­ eien am Anfang der Besatzungszeit nur kleine Gruppierungen bereit gewesen. Im weiteren Verlauf s­ eien allerdings bestimmte Formen der „Akkommodation“ in Kollaboration umgeschlagen. Es wäre verfehlt, das Verhalten der belgischen Bevölkerung, und insbesondere auch der Beamtenschaft, nachträglich zu verurteilen. Unter den gegebenen Zeitumständen ist es vielmehr durchaus erklärlich. Um es noch einmal zu sagen: Hitler war im Sommer 1940 auf dem eigentlichen Höhepunkt seiner Macht und im Deutschen Reich auf dem Gipfel seiner Popularität. Die westlichen Alliierten lagen dagegen am Boden. Sicherlich hatte das geschilderte Verhalten etwas Opportunistisches an sich und erwies sich als kurzsichtig. Wer das, in der Sache zu Recht, kritisiert, muss sich aber auch fragen, ob er selbst damals anders gehandelt hätte. Für die als Aufsichtsverwaltung angelegte Militärverwaltung stellte sich die Frage, ob nicht ein Grundakkord mit dem verbliebenen belgischen Verwaltungsapparat hergestellt werden sollte. Dieser schien führungslos, weil ja die Regierung in London im Exil war. Über die

137 Führererlass vom 16. Juni 1940, abgedruckt bei Moll, ebd., S. 126. 138 Vgl. De Wever, ebd., S. 86. Auch zum Folgenden.

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Abwesenheit des gesamten Kabinetts half allerdings ein Gesetz hinweg, welches bereits am 10. Mai, zu Beginn des deutschen Einfalls, erlassen worden war. In Übereinstimmung mit der belgischen Verfassung legte es fest, dass „überall dort, wo die Exekutive an der freien Ausübung ihrer Rechte behindert war, jede untergeordnete Behörde, sobald sie von ihrer vorgesetzten Dienststelle abgeschnitten wurde, deren Aufgaben übernahm.“139 Die Generalsekretäre der Ministerien, das entsprach in der deutschen Verwaltung den Staatssekretären, stellten nun die oberste Führungsebene für die belgische Verwaltung dar. Reeder versuchte schon bald mit den Generalsekretären eine grundsätzliche Übereinkunft zustande zu bringen. Ihm kam entgegen, dass die Interessen beider Seiten nah ­beieinanderlagen. Die Militärverwaltung musste darauf bedacht sein, mit möglichst wenig Personal ihre Aufgabe zu erfüllen, denn der Krieg war ja noch nicht zu Ende und Ressourcen mussten geschont werden. Weiter kam es darauf an, die Verwaltung des besetzten Belgiens intakt zu halten, um Ruhe und Ordnung zu wahren und den Gang der Wirtschaft, insbesondere die Güterproduktion, nicht zu stören.140 Der belgische Behördenapparat wollte seinerseits so rasch wie möglich zurück zur „Normalität“. Dabei nahm er hin, den deutschen Interessen entgegenzukommen, zumal die Militärverwaltung sich anfangs mit Einzeleingriffen sehr zurückhielt. Dem Militärverwaltungschef war sehr daran gelegen, die Rechtsgrundlage des Gesetzes vom 10. Mai zu erhalten, um die Weiterarbeit des zum größten Teil dazu bereiten Verwaltungsapparats zu ermöglichen. Es versteht sich, dass er ihn gleichzeitig, auf möglichst schonende Weise zwar, in den Dienste der Militärverwaltung nehmen wollte.141 Dazu schrieb er sehr differenzierend in seinem ersten Tätigkeitsbericht Anfang Juni und machte dabei zugleich Grenzen der Übereinstimmung deutlich: Wenn die Staatssekretäre sich auch durchweg bereit erklärt haben, ihre Ermächtigung so weit als möglich auszulegen, um Eingriffe der Militärverwaltung zu vermeiden, so wird es sich doch auf einer Reihe von Gebieten nicht umgehen lassen, daß der Militärbefehlshaber selbst von dem ihm zustehenden Verordnungsrecht Gebrauch macht. Um die belgischen Landesbehörden, die sich zur loyalen Mitarbeit bereitgefunden haben, soweit als möglich selbst arbeiten zu lassen, werden sich die Verordnungen des Militärbefehlshabers allgemein auf Rahmenbestimmungen beschränken, während der Erlaß von Durchführungs- und Ausführungsbestimmungen den belgischen Landesbehörden überlassen bleiben kann […].

Die hier skizzierte Arbeitsteilung entsprach Reeders „Leitsatz“ von anderer Stelle, dass die Militärverwaltung „möglichst wenig zu verwalten, sondern […] vorwiegend zu regieren, zu lenken und zu beraten hat“.142 Zum Quellenwert von Reeders Berichten kann hier schon generell gesagt werden, ebenso wie die als Regierungspräsident verfassten ­seien sie durch konkrete Thematik, innere Logik und kraftvolle Sprache gekennzeichnet.143 Unter Berufung auf das Gesetz vom 10. Mai formierten sich die Generalsekretäre als die obersten Behördenleiter und bildeten das „Comité des Secrétaires Généraux“. Dies geschah am 5. Juni, einen Tag nach Reeders Bericht, anlässlich eines Treffens mit ihm. Der Militärverwaltungschef 139 Wagner, Belgien in der deutschen Politik, S. 179 f. 140 De Wever, ebd., S. 86 f. Auch zum Folgenden. 141 Vgl. Wagner, ebd., S. 180. Von dort auch das folgende Zitat aus dem Tätigkeitsbericht. 142 Reeder, Grundsätze und politische Zielsetzung, S. 11. 143 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 95.

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erkannte diese Kundgabe der Generalsekretäre sogleich an.144 Diese stellten in einer Erklärung fest, „daß der Artikel 5 des Gesetzes vom 10.5.40 jeden Generalsekretär ermächtigt, im Rahmen seiner Zuständigkeit und in dringenden Fällen Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen.“ Am Ende betonten sie nochmals, diese Regelungsbefugnis betreffe jede Materie, „soweit es sich nicht um politische Angelegenheiten handelt“. Die Generalsekretäre hatten offenbar die Absicht, möglichst viele Zuständigkeiten für sich zu reklamieren, aber unbedingt zu vermeiden, Dinge regeln zu müssen, die sie als Handlanger der Militärverwaltung erscheinen ließen. Deshalb sollten die „politischen Angelegenheiten“ auf jeden Fall ausgenommen sein. Ob diese Auslegung des Art. 5 weit oder restriktiv war, kann auf sich beruhen. Vielmehr kam es darauf an, was man als „politische Angelegenheiten“ ansah und worauf sich Militärverwaltung und Generalsekretäre im Streitfall verständigen konnten. Auf Drängen Reeders wurde schließlich ein umfangreiches Protokoll über Fragen der Verordnungsgebung und deren Vollzug erstellt und von den Generalsekretären unterschrieben.145 Darin wurde festgehalten: −− Die Generalsekretäre würden die deutschen Verordnungen, sofern sie sich im Rahmen der HLKO hielten, ebenso wie die belgischen Gesetze ausführen. −− Die Generalsekretäre würden, wie von ihnen verlautbart, selbst Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, sofern es sich nicht um politische Angelegenheiten handle, und die Generalsekretäre würden diese ihre Verordnungen vom Militärverwaltungschef genehmigen lassen. Damit war eine rechtliche Grundlage für die Zusammenarbeit z­ wischen deutscher Militärverwaltung und belgischen Generalsekretären gelegt. Nun einen „normalen Besatzungsalltag“ zu erwarten, wäre irrig gewesen. Bereits während des „wunderbaren Sommers“ der Anpassungsbereitschaft waren grundlegende Veränderungen eingetreten und weitere zeichneten sich ab. Mit der Besetzung des ­Landes waren, wie unter der deutschen Militärverwaltung nicht anders zu erwarten, die Voraussetzungen für ein demokratisches Leben und eine demokratische Meinungsbildung in Belgien weitgehend entfallen.146 Das Parlament tagte nicht mehr und die Regierung war ja außer Landes. König Leopold, wie erwähnt durch eine Verlautbarung Hitlers von öffentlicher politischer Tätigkeit ausgeschlossen, gedachte allerdings noch, eine Rolle zu spielen. Die Provinzialräte wurden aufgelöst; die Gemeinderäte dagegen blieben bestehen und arbeiteten einstweilen noch weiter. In der gegebenen Situation stand die Presse zwangsläufig unter Kontrolle. Zunächst gab es eine Vorzensur, ab dem Oktober 1940 eine Nachzensur gemäß den von der Propagandaabteilung bekanntgegebenen Richtlinien. Die demokratischen Parteien, sofern nicht verboten, waren durch die Kontrolle von Versammlungen lahmgelegt. Deshalb fanden politische Diskussionen nur noch in Zirkeln statt, die von der Besatzungsmacht geduldet wurden. Nach der grundlegenden Übereinkunft ­zwischen dem Militärverwaltungschef und dem Komitee der Generalsekretäre Mitte Juni setzte auch in der Verwaltung ein Wandel ein, vornehmlich personeller Art. Die Militärverwaltung begann mit einer Infiltration ihr genehmer Beamter in die belgische Verwaltung, die Anhänger oder zumindest Sympathisanten der „Neuen 144 Vgl. Wagner, ebd., S. 181. Von hier die Zitate. Er erwähnt ein Treffen nicht, wohl aber Jacquemyns, S. 24. 145 Die Protokollierung und deren Inhalt werden bei Meinen, Die Shoa in Belgien, S. 23, wiedergegeben, von ­Wagner aber nicht erwähnt. 146 Vgl. zum Folgenden De Wever, ebd., S. 88.

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Ordnung“ in Europa waren.147 „Neue Ordnung“ bezeichnete die nationalsozia­listischen Vorstellungen, ein vom „Dritten Reich“ erobertes und beherrschtes Europa nach dessen Interessen zu organisieren und zu lenken. Erleichtert wurde dies auch dadurch, dass im Mai 1940 viele Beamte vor den deutschen Truppen nach Frankreich „zu Tausenden“ geflohen waren. Damit hatten sie einem belgischen Gesetz aus dem Jahr 1935 zuwidergehandelt, welches alle Amtsträger verpflichtete, auf ihrem Posten zu bleiben. Sie hatten, wie anzunehmen war, starke Gründe gehabt, vor den Deutschen zu fliehen. Eine Verordnung des Militärbefehlshabers vom 18. Juli 1940 bestimmte, dass die geflüchteten Beamten ihr früheres Amt nur mit ausdrücklicher, jederzeit widerruf­licher Genehmigung der Militärverwaltung wieder antreten durften.148 Außerdem behielt sich die Militärregierung vor, auch in anderen Fällen bestimmten Personen die Ausübung einer öffentlichen Tätigkeit, darunter in öffentlichen Ämtern zu untersagen. Betroffen von diesen Regelungen waren über 600 Personen. Das Interesse der Besatzung verlangte zunächst die Ausschaltung all der Amtsträger, die nach ihrem bisherigen Verhalten für eine loyale Zusammenarbeit mit der Militärverwaltung nicht in Frage kamen, und gab Veranlassung, die Neubesetzung aller wichtigen Ämter in der Staats-, Provinzial- und Gemeinde149 verwaltung von der Zustimmung der Militärverwaltung abhängig zu machen.

Zugleich sollte offenbar eine heimliche Rückkehr geflohener Amtsträger verhindert werden. Der Personalwechsel setzte sich sodann auf höchster Ebene fort. Am 12. August wurde der bisherige Generalsekretär für Wirtschaft durch das VNV-Mitglied Victor Leemans abgelöst. Dies, wie auch die Ernennung mehrerer VNV-Mitglieder zu Provinzgouverneuren hatte auch mit der Weisung Hitlers zu tun, die Flamen zu fördern, und soll erstaunlicherweise von den Betroffenen und der Bevölkerung akzeptiert worden sein.150 Dabei wurden nämlich auch noch zwei weitere Generalsekretäre abgelöst und ihre Aufgaben anderen zugeschlagen.151 Dies alles geschah auf Reeders Drängen; er hatte damit einen Machtkampf mit der Mehrheit der Generalsekretäre gewonnen. Unverkennbar signalisierte dies einen Wandel in der Zusammenarbeit ­zwischen Militärverwaltung und dem belgischen Verwaltungsapparat. Auf dem politischen Feld hatte der Umschwung im Verhältnis z­ wischen beiden Seiten f­ rüher begonnen und vollzog sich über einen längeren Zeitraum. Die Regierung Pierlot, kaum in London angekommen, hatte vergeblich Kontakt zu Berlin mit der Absicht von Friedensverhandlungen gesucht.152 Verschiedene belgische Autoritäten bedrängten nun den König, eine neue Regierung zu bilden und mit der Besatzungsmacht zu verhandeln. Leopold war dazu bereit. Schon kurz nach der belgischen Kapitulation hatte er Hitler um eine Unterredung gebeten. Jedenfalls war der König im Sommer und bis in den Herbst 1940 hinein, unterstützt vor allem von der katholischen ­Kirche, die Symbolfigur eines nationalen Aufbruchs und sah sich bereits als „Machthaber in einem künftigen autoritären Regime“.

147 Vgl. De Wever, ebd., S. 87, auch zum folgenden, ferner insbesondere zur Flucht von Amtsträgern, Jacquemyns ebd. S. 28 148 Verordnungsblatt des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich (VOBlB) 1940, S. 131. Das Verordnungsblatt wurde dreisprachig herausgegeben. 149 Hailer, Organisation der Militärverwaltung und ihr Verhältnis zu den landeseigenen Behörden, S. 38. 150 De Wever, S. 87 f. 151 Verhoeyen, La Belgique Occupée, S. 57 f. 152 Vgl. De Wever, ebd., S. 91 f. Von dort auch das Zitat.

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Eine besondere Rolle spielte bei diesen Vorgängen der Sozia­listenführer und Vorsitzende der belgischen Arbeiterpartei Hendrik De Man. Ende Juni hatte er den Mitgliedern die Auflösung der Partei bekannt gegeben und zu einer nationalen Erneuerungsbewegung um den König aufgerufen.153 Reeder war diese gesteigerte königstreue Betriebsamkeit unliebsam und er erstattete darüber einen Bericht, was die schon erwähnte Anordnung Hitlers zur Folge hatte, jede öffentliche politische Betätigung des Königs zu unterbinden. Gleichwohl wurden die politischen Aktivitäten um den König fortan nicht geringer, wohl aber diskreter gehandhabt. Der VNV seinerseits, vom Militärverwaltungschef personell gefördert, sah sich im Auftrieb und stellte sich im August 1940 mit einer Kampagne als „politische Erneuerungsbewegung“ dar. Parallel zu diesen Vorgängen brach sich im VNV die kollaborationsbereite Richtung mehr und mehr Bahn. Der eigentliche politische Umschwung setzte dann Mitte September ein. Der „Wunderbare Sommer“ war vergangen. Die militärische Lage hatte sich stark verändert, die deutsche Luftwaffe hatte die Luftschlacht um England verloren. Das „Dritte Reich“ schien nicht mehr unbesiegbar. Hitler lud nun endlich den König zu einer Besprechung ein. Sie fand am 19. November auf seinem Berghof bei Berchtesgaden statt. Da die Friedenshoffnungen mit England wieder verflogen waren, kam der Diktator dem König nicht im Mindesten entgegen, und dieser fühlte sich kompromittiert. Zu ­diesem Zeitpunkt erklärte auch die belgische Exilregierung öffentlich, sie werde den Kampf an der Seite Großbritanniens weiterführen. Ein politisches Zusammenspiel der Besatzungsmacht mit den Spitzen des belgischen Staates war jetzt nicht mehr möglich. Der einsetzende Meinungswandel erzeugte Unzufriedenheit mit dem Besatzungsregime. Die Freilassung der belgischen Kriegsgefangenen stockte. Die Versorgungslage war schlecht, Lebensmittel mussten rationiert werden. So entstand auch das Bewusstsein, Belgien werde wirtschaftlich ausgeplündert. Auch auf einem ganz anderen Gebiet verschärfte die Besatzungsverwaltung ihren Kurs. Am 28. Oktober 1940 erließ der Militärbefehlshaber die ersten beiden antijüdischen Verordnungen. Schließlich kam es um den 11. November 1940, dem Gedenktag für den Waffenstillstand von 1918, kurz vor dem Treffen des Königs mit Hitler, zu Demonstrationen.154 Spätestens in diesen Wochen musste den Bewohnern des Landes, vor allem denen jüdischer Herkunft, klar geworden sein, dass die Besatzungsverwaltung in eine neue Phase eingetreten war. Diese bezeichnet Warmbrunn als „period of transition“ und datiert sie von Oktober 1940 bis September 1942.155 Außer an der Verschärfung des Besatzungsregimes macht er sie an der militärischen Entwicklung fest. Großbritannien kämpfte seit dem Sommer 1941 gemeinsam mit der Sowjetunion und seit Dezember d ­ ieses Jahres auch gemeinsam mit den USA. Weiter verknüpft er seine Periodisierung mit zwei einschneidenden Maßnahmen der Verfolgung jüdischer Menschen in Belgien, nämlich der ersten antijüdischen Verordnung und der Abfahrt des ersten Deportationszuges in den Osten Europas im August 1942. Die „Verhärtung“ der Militärverwaltung war aber nicht ausnahmslos. Der katholischen ­Kirche gegenüber wahrte sie ihr anfänglich fast freundliches Gesicht noch längere Zeit.156 Der Militärverwaltung waren die katholische Prägung Belgiens und der große Einfluss des Klerus bewusst. Bedeutungsvoll war, dass 1940 der Primas der belgischen ­Kirche, Kardinal van Roey, 153 Vgl. Wagner, ebd., S. 187 f. 154 De Wever, ebd., S. 108. 155 Warmbrunn, ebd., S. 55 f. 156 Dazu De Wever, ebd., S. 94 f. Dort auf S. 94 die Zitate.

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in mehreren Hirtenbriefen die Position des Königs für ein autoritäres Regime unterstützte. Dabei ging es dem Kardinal darum, durch diese Bindung die starke Position der K ­ irche zu wahren. Die Gläubigen wurden nicht nur aufgefordert, sich um den Monarchen zu scharen, sondern auch, Ruhe und Ordnung zu wahren. Dies war eine mittelbare Mahnung, sich den „zumutbaren Maßnahmen“ der Besatzungsmacht nicht zu widersetzen, jedenfalls solange die ureigenen Interessen der K ­ irche, Religionsunterricht und Fortbestand der Jugendverbände, nicht beeinträchtigt wurden. Aus Furcht vor „öffentlicher Konfrontation“ respektierte die Besatzungsverwaltung diese Interessen und „vermied Konflikte mit kirchlichen Autoritäten.“ Zu dieser Haltung trugen wohl auch die Erfahrungen bei, die Reeder als Regierungspräsident bei den anstrengenden Auseinandersetzungen mit der katholischen ­Kirche gemacht hatte. Auf der anderen Seite konnte der Episkopat politische Bewegungen scharf ablehnen, die, nationalsozia­ listisch inspiriert, gegen den belgischen Staat agitierten und den Einfluss der K ­ irche zurückdrängen wollten. Insoweit baute die K ­ irche ein Hindernis gegen die Kollaboration auf, was die Besatzungsverwaltung hinnehmen musste. Ein besonderes Problem verkörperten die belgischen Kriegsgefangenen. Die Militärverwaltung war nicht zuständige Instanz, sie konnte nur versuchen, Einfluss auf Entscheidungen höchster Stellen zu nehmen. Wie oben schon erwähnt, hatte Hitler selbst vorgegeben, als Teil der Bevorzugung der flämischen Bevölkerung die ihr entstammenden Kriegsgefangenen zu entlassen. Hauptsächlich die wallonischen sollten in Lager nach Deutschland verbracht werden. Hitlers rassenideologisch begründete Entscheidung trieb einen weiteren Keil ­zwischen Flamen und Wallonen.157 Zum Glück für die Militärverwaltung drang die Hitler’sche Vorgabe nicht an die Öffentlichkeit. Andererseits war ihr infolge eines Missverständnisses ein Fehler unterlaufen, als sie im Juli 1940 bekannt gab, alle Kriegsgefangenen sollten entlassen werden. Dazu kam es aber nie, und die Dinge verliefen alles andere als reibungslos. Die Größenverhältnisse ergeben sich daraus, dass von den etwa 600.000 Soldaten der belgischen Armee etwa 225.000 zu irgendeiner Zeit des Krieges in deutscher Gefangenschaft waren. Falkenhausen und Reeder war klar, dass eine Zurückbehaltung von Kriegsgefangenen eine äußerst negative Wirkung auf die Einstellung der belgischen Bevölkerung haben musste, vor allem in Wallonien. Als im Herbst 1940 die Entlassungen fast ganz stockten, sandten sie entsprechende Berichte an ihre vorgesetzten Stellen.158 Ein Gerechtigkeitsgefühl wegen der Diskriminierung der wallonischen Soldaten konnte bei ihnen auch eine Rolle gespielt haben. Immerhin kann man einen Teilerfolg ihrer Bemühungen darin sehen, dass die Entlassung wenigstens der flämischen Kriegsgefangenen bis Ende 1940 im Wesentlichen durchgeführt zu sein schien. Aber eine gewisse Zahl Flamen blieb noch bis 1944 in Deutschland gefangen. Zwei andere Gründe für die Fortdauer der Gefangenschaft wallonischer Soldaten waren ebenfalls Resultat des sozia­ldarwinistischen Weltbildes Hitlers. Kriegsgefangene im Reich waren billige Arbeitskräfte. Zudem sollte es für die Flamen ein bevölkerungspolitischer Vorteil sein, wenn sie nach Hause zurückkehren durften, die wallonischen Soldaten aber nicht. Dies bedarf keiner weiteren Kommentierung. Die Kriegsgefangenenfrage war jedenfalls eine Belastung während der gesamten Zeit der Besatzung.

157 Vgl. zum Folgenden Warmbrunn, ebd., S. 186 ff. Dort auch das Zahlenwerk. 158 Hierzu insbesondere Wagner, S. 211.

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4.6.4 Wirtschaft unter der Besatzung, Zwangsarbeit – und Kirchenglocken Wie anders die Besatzungsmacht mit Organisationen umging, w ­ elche nicht deutschen Ordnungsvorstellungen entsprachen, zeigt das Beispiel der Gewerkschaften.159 Es gab neben der großen sozia­listischen auch noch katholische und liberale Gewerkschaften, die nach der Besetzung ihre Arbeit zunächst fortsetzten, um ihre Organisationen am Leben zu erhalten. Bereits im Juni 1940 war in Den Haag eine Dienststelle der DAF installiert worden, der nationalsozia­ listischen Zwangsvereinigung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der Dienststellenleiter hatte den Auftrag, auch die belgischen Gewerkschaften gleichzuschalten. Am 22. November 1940 wurden in der neugegründeten „Unie van Hand- en Geestesarbeiders“ (Union der Handund Geistesarbeiter) die bisherigen traditionellen Gewerkschaften mit dem „Arbeidsorde“, einer Vereinigung der Gewerkschaften des VNV, zusammengeschlossen. Nur ein Viertel der bisherigen Gewerkschaftsmitglieder traten der neuen Organisation bei. Zufolge der systematischen Förderung durch die DAF -Dienststelle wurde der „Arbeidsorde“ bald in der Union tonangebend, allerdings um den Preis eines weiteren Mitgliederschwundes. Für die Militärverwaltung dürfte das Ergebnis akzeptabel gewesen sein, weil jedenfalls die Vielfalt von Gewerkschaften beseitigt war. Aber das maßgebliche Handeln der DAF, einer Nebenorganisation der Partei, zeigte, dass die Militärverwaltung nicht allein das Feld beherrschte. Ähnliches galt für die belgische Wirtschaft. Lag zu Beginn der Besatzungszeit noch das Schwergewicht bei der Militärverwaltung, so waren die Nutzbarmachung der ökonomischen Ressourcen des Landes für die Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“ und ihre Ausbeutung, je länger die Besatzung dauerte, umso mehr Sache anderer Dienststellen. Um ihren Auftrag auf d ­ iesem Gebiet erfüllen zu können, verfügte der Verwaltungsstab der Militärregierung über eine Wirtschaftabteilung mit mehr als 20 nach Aufgabenbereichen differenzierten Referaten.160 Angeschlossen waren mehrere externe Stellen wie die Allgemeine Warenverkehrs GmbH. Die Abteilung beschäftigte mehr als die Hälfte des Personals der Militärverwaltung. Vor allem ­Reeder hatte darauf geachtet, dass besonders sachkundige Angehörige der deutschen Verwaltung und Wirtschaft sich darunter befanden. Er persönlich trat bei wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht so stark nach außen hin in Erscheinung. Wie schon auf administrativem Gebiet, so wurde der Einstieg in diesen Teil der Besatzungspolitik durch die Anpassungsbereitschaft der inländischen Unternehmensleitungen und Bankiers erleichtert.161 Sie äußerte sich in der „Galopin-­Doktrin“, benannt nach dem führenden Industriellen Alexandre Galopin. Er hatte im Juli 1940 mit seinen Kollegen die Entscheidung getroffen, die „nationale Ökonomie wieder in Gang zu bringen, um zu verhindern, daß die Okkupationsmacht die Industrieanlagen demontieren und die Arbeiter zwangsverpflichten würde.“ Bei ­diesem Entschluss wirkten Erfahrungen aus dem ­Ersten Weltkrieg nach. Die Waffenproduktion blieb allerdings ausgeschlossen. So entstand im „Wunderbaren Sommer“ 1940 zunächst ein Klima der Kooperation, von dem sich die Beteiligten beiderseitigen Nutzen versprachen. Die zugrunde liegende Annahme hierfür ließ sich so umschreiben, dass Belgien durchaus für das „Dritte Reich“ produzieren müsse, im Gegenzug dafür aber

159 De Wever, ebd., S. 95 f. Auch zum Folgenden. 160 Vgl. den Organisationsplan der Militärverwaltung bei Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 68 (oben FN 134); zur Personalgewinnung vgl. Warmbrunn, ebd., S. 191. 161 Vgl. De Wever, ebd., S. 96 f. Von dort auch das Zitat.

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1.  ausreichend Lebensmittel gewährt bekommen müsse, um erträgliche Lebensbedingungen beizubehalten, 2.  in der Lage sein müsse, belgische Arbeiter im Inland zu beschäftigen und, wie schon erwähnt, vorzubeugen, dass es zu einer Deportation von Arbeitskräften wie im ­Ersten Weltkrieg kommt, 3.  seiner Geschäftswelt und Industrie erlaubt bleiben müsse, weiter unter eigener Leitung und, soweit als möglich, mit eigenen Institutionen und Praktiken zu operieren.162 Aber die Grundlagen dieser Zusammenarbeit, bestenfalls einer „Zweckehe“, erwiesen sich bald schon als schwach und weitere Kompromisse der Beteiligten waren erforderlich. Die Deutschen mussten Pläne zurückstellen, die belgische Wirtschaft nach dem Muster des „Dritten Reiches“ umzustrukturieren. Die belgische Seite fühlte sich in ein Modell wirtschaftlicher Kooperation gezwängt, obwohl klar wurde, dass die Deutschen nicht eine ausreichende Lebensmittelversorgung sicherstellen konnten. Doch letztlich kam jede Güterproduktion überwiegend dem „Dritten Reich“ zugute. Aber die pragmatische „Galopin-­Doktrin“ wurde weiter angewandt. Denn trotz allem verständigten sich Militärverwaltung und die belgische Seite darauf, so weiterzumachen, weil es unter den gegebenen Alternativen das geringere Übel sei. Ein zusätzliches Motiv der belgischen Wirtschaftsführung war, dass sie eine von NS-Größen gelenkte deutsche Zivilverwaltung noch mehr fürchtete. Als tragisch bezeichnen kann man, dass Galopin im Februar 1944 bei einem Attentat getötet wurde, ausgeübt von Kollaborateuren als Handlung des „Gegenterrors“ zu den Aktionen der Widerstandsbewegung, in deren Nähe sie ihr Opfer offenbar sahen.163 Konkurrierende deutsche Dienststellen und Unternehmen waren das eigentliche Hindernis für die Militärverwaltung bei einer effizienten Nutzbarmachung der Ressourcen des Landes. Darunter waren der Beauftragte für den Vierjahresplan, die Luftwaffe, das Reichswirtschaftsministerium und seit 1942 auch noch der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“. Die Militärverwaltung kämpfte mit zahlreichen Denkschriften gegen d ­ ieses Durcheinander an. Denkschriften waren ja, mit unterschiedlichem Erfolg, eine für Reeder typische Vorgehensweise. Die Militärverwaltung beharrte darauf, die Koordination in die eigene Hand zu bekommen, aber sie stand auf verlorenem Posten. Dieser Machtverlust der Militärverwaltung änderte nichts an den Erscheinungsformen der zunehmend durchgreifenden deutschen Besatzungspolitik.164 Angefangen mit Beschlagnahmungen, über die Festsetzung hoher Besatzungskosten, der Abwälzung deutscher „Verrechnungsdefizite“, bis zur Umlenkung des größten Teils der Exporte ins Deutsche Reich reichten die Eingriffe. Insbesondere die Exportgewinne blieben nur zu einem geringen Teil bei der belgischen Wirtschaft; die Besatzungsmacht schöpfte das meiste ab. Die exorbitanten Besatzungskosten waren so kalkuliert, dass sie gerade noch aufgebracht werden konnten.165 Der Erfolg der Wirtschaftspolitik der Besatzungsmacht in Belgien wurde von Reeder und seinen Mitarbeitern positiv dargestellt, insbesondere von belgischen Historikern dagegen negativ.166 Auf der einen Seite zog die deutsche Kriegswirtschaft unbestritten aus der b ­ elgischen 162 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 191 f. 163 Ders., ebd., S. 146. 164 Vgl. De Wever, ebd., S. 96 f. 165 Vgl. hierzu Aly, Hitlers Volksstaat und die Deutschen, 2. Aufl., Frankfurt a. M., 2005, S. 160. 166 Vgl. hierzu Warmbrunn, ebd., S. 259 f.

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Wirtschaft Nutzen. Auf der anderen Seite erreichte die belgische Wirtschaft während der Besatzung unbestritten nur wenig mehr als die Hälfte des Produktionsniveaus der Vorkriegszeit. Gleichwohl hätten die Erträge doch noch besser sein können, wenn nicht eine Vielzahl deutscher Dienststellen immer wieder die Militärverwaltung in ihrer Arbeit behindert hätten. Insgesamt ergab sich nur ein wirtschaftlicher Teilerfolg der Besatzungsmacht; für den teilweisen Misserfolg aus deutscher Sicht ist Reeder schwerlich verantwortlich zu machen. Ein besonders massiver Eingriff der Besatzungsmacht in die belgische Wirtschaft stellte die zwangsweise Rekrutierung von Arbeitskräften für eine Arbeit innerhalb des Reiches selbst dar. Die Militärverwaltung hatte lange von entsprechenden Maßnahmen bewusst Abstand genommen. Dabei spielten die Erfahrungen aus dem ­Ersten Weltkrieg eine wesentliche Rolle. Wie in Kapitel 2 geschildert, hatte die damals von der OHL gegen den Willen des Generalgouverneurs durchgesetzte Zwangsrekrutierung belgischer Arbeiter in einem Fiasko geendet. Die Dinge wiederholten sich nun im Herbst 1942 auf eine geradezu beklemmende Weise. Zum maßgeblichen Zeitpunkt hatte nach der Einteilung Warmbrunns die „period of transition“ geendet, und es begann im Oktober der letzte und längste Abschnitt der Besatzungszeit, den er ohne Namen lässt und bis Mai 1944 datiert.167 Dieser sei durch fortschreitendes Auseinanderbrechen der Kooperationsstruktur z­ wischen Militärverwaltung und belgischen Stellen charakterisiert. Dem Oktoberereignis war folgendes vorausgegangen: Um den steigenden Bedarf an Arbeitskräften vor allem in der Rüstungswirtschaft decken zu können, hatte Hitler am 21. März 1942 den Gauleiter Fritz Sauckel zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ ernannt und Göring, dem Beauftragten für den Vierjahresplan, unmittelbar unterstellt.168 Dieser übertrug dem Gauleiter seine Weisungsrechte gegenüber den Militärbefehlshabern. Sauckel entwickelte ein anspruchsvolles Programm, welches er rigoros umzusetzen versuchte. Da sich gezeigt hatte, dass aus Belgien freiwillige Arbeitskräfte für das Reich nur in zu geringer Zahl angeworben werden konnten, setzte Sauckel gegenüber der Militärverwaltung durch, wider besseres W ­ issen die Möglichkeiten von Zwangsmaßnahmen wesentlich zu erweitern. Am 6. Oktober 1942 erließ der Militärbefehlshaber eine „Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Sicherung des Kräftebedarfs für Arbeiten von besonderer Bedeutung“.169 Er hatte nämlich bereits am 6. März des Jahres eine nur Belgien betreffende Verordnung erlassen.170 In § 1 Abs. 1 der Änderungsverordnung hieß es nun: Bewohner Belgiens können zu bestimmten Arbeitsleistungen in Belgien und im Reichsgebiet dienstverpflichtet werden. Soweit die Arbeiten im Reichsgebiet durchgeführt werden, wird die Dienstpflicht beschränkt auf männliche Personen vom 18. bis zum 50. Lebensjahr und auf weibliche ledige Personen vom 21. bis zum 35. Lebensjahr.

Diese Formulierung war ein Versuch der Verharmlosung. In Satz 1 sind gegenüber der Ursprungsverordnung nur die Worte „und im Reichsgebiet“ hinzugefügt worden. Gerade das aber war die entscheidende Änderung, die die Deportation von Arbeitskräften ermöglichte. Der scheinbar entgegenkommende als Beschränkung formulierte Satz 2 nahm jedoch nur Personen aus, die ohnehin für Zwangsarbeit im Reich nicht in Betracht kamen: zu Junge oder zu Alte und 167 Vgl. dens., ebd. S. 58 f. 168 Erlass zusammen mit der Durchführungsanordnung veröffentlicht in: Reichsgesetzblatt 1942, S. 179 f. 169 VOBIB, S. 1059, insgesamt zu der Verordnung vgl. Jacquemyns, ebd., S. 97. 170 VOBIB, S. 844.

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verheiratete Frauen. Der Sache nach bildeten beide Verordnungen für die Besatzungsmacht eine Einheit, ­welche ein Maximum an belgischer Arbeitskraft für die Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“ zur Verfügung stellen sollte.171 Die Oktoberverordnung stellte aber eine ganz wesentliche Verschärfung der bisherigen Regelung dar. Entsprechend war die Reaktion Bestürzung und Empörung in der Bevölkerung. Es war wie ein endgültiger Bruch mit der Besatzungsmacht. Ein Strom von Protesten bis hin zum Kardinal und den Generalsekretären ergoss sich. Andererseits wurden die Kollaborateure in eine schwierige Lage gebracht. Auch die Stellung der Militärverwaltung im besetzten Land wurde weiter erschwert. Aber eine Änderung oder Zurücknahme war kaum zu erwarten. Immerhin erreichte der Druck der belgischen öffentlichen Meinung, dass ab Januar 1943 wenigstens die Anforderung von Frauen unterblieb. Offen war die Frage nach der Wirksamkeit der Verordnung. Sauckel hatte für 1943 eine Gesamtzahl von 1,6 Millionen ins Reich zu verbringender Fremdarbeiter geplant, darunter für Belgien 200.000. Diese Ziele wurden natürlich nicht erreicht.172 Dabei begannen die deutschen Dienststellen sogleich das Land nach in Frage kommenden Arbeitskräften abzusuchen. Angeführt wurden sie von der für den Arbeitseinsatz zuständigen Gruppe VII aus Reeders Wirtschaftsabteilung, deren Leiter ein ergebener Gefolgsmann Sauckels war. Die tatsächlichen Zahlen der im Deutschen Reich eingesetzten Arbeitskräfte aus Belgien lauteten: 20. Januar 1942

31. Dezember 1942

31. Dezember 1943

131.470

144.974

222.851

Daraus ergibt sich, dass nach Erlass der Verordnung vom 6. Oktober 1942 eine geringe Steigerung von etwa 12.000 Arbeitskräften erzielt wurde, für das Jahr 1943 von den erwarteten zusätzlichen 200.000 allerdings nur etwa die Hälfte. Bis zum Ende der Besatzungszeit g­ ingen die Zahlen sogar insgesamt zurück. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfältig.173 Nicht nur hatte Sauckel seine Planzahlen viel zu hoch angesetzt, der starke Widerstand gegen die Verordnung war einfach zu groß. So entzog sich auf unterschiedliche Weise bis hin zum Untertauchen eine schwer bestimmbare Zahl der von der Verordnung erfassten Personen der Zwangsarbeit im Reich. Aber unabhängig hiervon waren Zweifel an der „Qualität“ der Zwangsarbeit angebracht. Sauckels Annahme war wirklichkeitsfremd, die Arbeitsleistung eines ausländischen Arbeiters sei im Reich höher als in seiner Heimat. Den meisten Zwangsarbeitern musste auch klar sein, dass letztlich ihre Arbeit der Verlängerung des Krieges und damit der Besetzung ihres Heimatlandes diente. Da half auch nicht, dass, worauf Sauckel achtete, die Löhne im Reich höher waren. Der Aktionismus Sauckels hatte der Militärverwaltung jeden wirklichen Einfluss auf den „Arbeitseinsatz“ der belgischen Arbeiterschaft genommen.174 Sie war nur noch insoweit Teilnehmerin daran, als sie die erforderliche Verordnung erlassen und die Umsetzung organisieren musste. Darüber hinaus hatte Sauckel sie gezwungen, einen Grundsatz ihrer Besatzungspolitik 171 Vgl. Verhoeyen, ebd., S. 270. 172 Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 218 f, auch zum Folgenden einschließlich der Tabelle und Zitat. Ferner ­Jacquemyns, ebd., S. 101. 173 Außer Jacquemyns, a. a. O., vgl. Warmbrunn, ebd., S. 237 f. Auch zum Folgenden. 174 Vgl. Wagner, ebd., S. 287 f, auch zum Speer-­Erlass.

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zu durchbrechen.175 Falkenhausen und Reeder hatten die belgischen Eliten immer taktvoll zu behandeln gesucht. Nun mussten sie Universitätsabsolventen eine einjährige Arbeitszeit im Reich auferlegen, ehe sie sich um eine adäquate inländische Arbeitsstelle bewerben durften. Dies musste zu einem weiteren Ansehensverlust der Militärregierung bei den höheren Gesellschaftsschichten führen. Allerdings wurde die Stellung der Militärverwaltung durch einen Erlass Speers vom Oktober 1943 zumindest indirekt wieder etwas gestärkt. Durch ihn, der auch auf Berichte Reeders zurückging, dehnte der Rüstungsminister seine Politik der Verlagerung von Konsumgüterproduktion aus dem Reich auf Belgien aus. Dadurch sollten die freiwerdenden deutschen Fertigungsstätten auf die Produktion von Rüstungsgütern umgestellt werden können. Das setzte Sauckels „Sklavenfang“ Grenzen. Reeder konnte sich in seiner Linie bestätigt fühlen. Diese indirekte Stärkung der Militärverwaltung hielt aber nicht lange vor. Eine Beschlagnahmeaktion besonderer Art war die der Kirchenglocken. 176 Sie kam für die Bevölkerung völlig überraschend, nicht aber für die kirchliche Obrigkeit. Im Sommer 1941 hatte nämlich die Militärverwaltung ein Verzeichnis der Glocken anlegen und dabei feststellen lassen, ob sie aus Bronze oder Aluminium waren. Einige Monate später entsandte von Falkenhausen, wohl mit Reeders Wissen, dessen schon erwähnten engen Mitarbeiter Thedieck, zu Kardinal van Roey, um ihm mitzuteilen, der Befehl zur Beschlagnahme sei aus Berlin gekommen und gelte für Deutschland selbst und alle besetzten Gebiete. Offenbar hatte die Militärregierung die Maßnahme für das damals noch sehr katholisch geprägte Belgien nicht verhindern können. Die zunächst noch ausgenommenen Glocken, wie historische und ­solche für Glockenspiele, wurden im Februar 1943 auf ausdrücklichen Befehl aus Berlin ebenfalls beschlagnahmt. Die Bestürzung in der Bevölkerung war groß, und der Kardinal brachte den Protest des belgischen Episkopats in einem Hirtenbrief zum Ausdruck. Letztlich war zu fragen, ob der „Nutzen“ der für die Rüstungsproduktion eingeschmolzenen Glocken nicht durch den weiteren Ansehensverlust der Besatzungsmacht wieder aufgewogen wurde. In Flandern kursierte jedenfalls danach der Spruch: „Wie met klokken schiet, wint de oorlog niet (Wer mit Glocken schießt, gewinnt nicht den Krieg).“ Ein prophetischer Satz, für den es aber keiner großen Prophetengabe bedurfte.

4.6.5 Einwirkungen und Konflikte in Administration, Justiz und Universität Während der so bezeichneten „period of transition“ von Oktober 1940 bis September 1942, der zweiten Phase der Besatzungszeit, verstärkte sich die Einflussnahme der Militärregierung auf die belgische Verwaltung in erheblichem Maße. Es kam auch zu Auseinandersetzungen mit der Justiz und mit der Universität Brüssel. Einige der Konflikte zogen sich bis in den dritten Abschnitt der Besatzungsverwaltung hin, der ja im Oktober 1942 begonnen hatte und bis in den Sommer 1944 währte. Gleichzeitig geschah noch Schlimmeres. Seit Oktober 1940 wurden antijüdische Verordnungen erlassen und im August 1942 begannen die Deportationen nach dem Osten Europas.

175 Hierzu insbesondere Warmbrunn, ebd., S. 233 f. 176 Dazu Jacquemyns, ebd., S. 96.

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Wie rigide die Militärverwaltung nach knapp einem Jahr Besatzungszeit aufzutreten fähig war, zeigte sich bei einem erneuten Personalschub im Frühjahr 1941.177 Um die Beamtenschaft leichter und schneller „erneuern“ zu können, wurde am 7. März eine Verordnung des Militärbefehlshabers erlassen, ­welche eine Altersgrenze von 60 Jahren für Träger eines öffentlichen Amtes vorsah.178 In einer Präambel hieß es, der Verwaltung des Landes ­seien außergewöhn­liche Aufgaben gestellt, zu deren Erfüllung „neue Wege“ beschritten werden müssten. „Tüchtige jüngere Kräfte“ – anpassungswillige? – stünden zum Einsatz bereit. Dabei hatte die Militärverwaltung vor allem aus der Kriegsgefangenschaft entlassene Heeresangehörige im Auge, und das waren ausschließlich Flamen. Als Träger eines öffentlichen Amtes wurden insbesondere Leiter von Ministerien und alle übrigen höheren Staatsbeamten, Provinzgouverneure und Bürger­meister genannt. Von dieser Regelung waren drei Generalsekretäre betroffen, ein wohlbedachter Effekt. Einige Wochen vorher waren bereits zwei andere einflussreiche Inhaber dieser Funktion abberufen worden, der Generalsekretär für Justiz und der für Inneres. Unter den fünf neuen Mitgliedern des Komitees, die am 1. April von der Militärverwaltung eingesetzt wurden, befand sich Gérard Romsée, zuständig für das Innenministerium. Dieses wurde in der Folgezeit das politisch bedeutendste Ressort. Das hing auch mit der Person Romsée zusammen, der vor dem Krieg Abgeordneter des VNV in der Kammer gewesen war. Im Frühjahr 1941 hatte sich der VNV bereits eindeutig zur Kollaboration bereit erklärt. Die Auswahl der neuen Generalsekretäre trug deutlich die Handschrift des Militärverwaltungschefs. Er ließ es, wohl mit Bedacht, nach dem im August des Vorjahres für das Wirtschaftsressort bestellten Victor Leemans bei nur einem weiteren VNV-Mitglied bewenden, welches allerdings die wichtigste Figur des Komitees wurde. Bezeichnenderweise wurden Angehörige der ganz überwiegend wallonischen Rex-­Bewegung überhaupt nicht berücksichtigt. Das lag einmal an der Distanz der Militärregierung zu deren Bewegung wegen des Vorranges der Flamen. Zum Zweiten hatten die Rexisten kaum geeignetes Personal für Spitzen­ämter in der Verwaltung anzubieten.179 Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Einfluss Reeders auf den belgischen Verwaltungsapparat durch d ­ ieses Personalrevirement noch weiter gesteigert worden war. Eine zusätzliche rigide Maßnahme traf die Militärverwaltung am 11. April 1941.180 Sie verbot den Gemeinderäten „für die Dauer der Besatzung die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit“. Das war eine Art Versammlungsverbot, weil sie sich als „Oppositionskollegien“ erwiesen hatten. So trieb Reeder die Einführung des Führerprinzips in der belgischen Verwaltung weiter voran. Er verwirklichte aus seiner staatsautoritären Gesinnung nationalsozia­listische Grundsätze. Ein weiteres schwieriges Thema mit Konfliktpotenzial war das der „grote agglomeraties/ Grandes Agglomérations“, also der Vergrößerung von Städten durch Gemeindezusammenschlüsse. Belgien hatte traditionell auch im Umland größerer Städte eine kleinteilige Gemeindestruktur. Die Initiative für eine Änderung ging allerdings von der Stadt Antwerpen aus.181 Nach der Besetzung hatte sie einen Deutschen als „Stadtkommissar“ angestellt, der Erfahrungen mit einem Gemeindezusammenschluss gemacht hatte. Er griff alte Pläne dieser Art auf und konnte den Bürgermeister von deren Sinnhaftigkeit überzeugen. Antwerpen sollte 177 Vgl. hierzu Verhoeyen, ebd., S. 58. 178 VOBlB 1941, S. 529. 179 Wagner, ebd., S. 200. 180 Dazu Jacquemyns, ebd., S. 32; vgl. auch Hailer, ebd., S. 39. Von dort die Zitate. 181 Zum Folgenden Jacquemyns, ebd., S. 85 ff.

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um zahlreiche Umlandgemeinden vergrößert werden. Ende des Jahres 1940 stimmte der Rat der Stadt der Bildung von „Groot Antwerpen“ zu. Doch regte sich unerwartet Widerstand von Seiten der Militärverwaltung. Von Falkenhausen und Reeder fürchteten wegen der belgischen Empfindlichkeiten Unruhe im übrigen Land und ließen über das Innenministerium das Vorhaben anhalten. Doch im Jahre 1941 konnten die Antwerpener Kaufmannschaft und die Handelskammer unter Hinweis auf die wirtschaftlichen Zwänge für die Hafenstadt den neuen ­Generalsekretär für Inneres Romsée dazu bewegen, den Plan wieder aus der Schublade zu holen. Gleichzeitig erreichte der Stadtkommissar, dass die Militärverwaltung ihren Widerstand aufgab. So wurde am 15. September der Beschluss über die Bildung von „Groot Antwerpen“ gefasst und von Romsée unterschrieben. Am 1. Januar 1942 sollte er in Kraft treten. Der neue Zuschnitt der Hafenstadt vergrößerte auch den Einfluss der Militärverwaltung. Von den dreizehn Beigeordneten („Schepenen“) gehörten zwar noch acht den traditionellen Parteien an, aber fünf neigten der „Neuen Ordnung“ zu. Als sachliche Gründe für die Vergrößerung der Stadt wurden die einheitliche Leitung von Polizei und Feuerwehr angeführt, ebenso die Zusammenfassung der Wasser-, Energie- und schließlich der Lebensmittelversorgung, was in der Besatzungszeit besonders schwer wog. Alle diese Gesichtspunkte sprachen dafür, auch bei anderen Städten dem Beispiel Antwerpen zu folgen. Sie mussten bei der Militärregierung gerade einem Mann wie Reeder einleuchten, der immer für eine rationell und effizient arbeitende Verwaltung eingetreten war. Die Militärverwaltung förderte also den Zusammenschluss zahlreicher Städte mit ihren Umlandgemeinden zu „grote agglomeraties/Grandes Agglomérations“. Durchführende Behörde war das belgische Innenministerium unter Generalsekretär Romsée. Im Laufe des Jahres 1942 waren Städte wie Gent, Charleroi, Namur, Lüttich und schließlich im September sogar die Hauptstadt Brüssel betroffen. Die Militärverwaltung ihrerseits sah die „Bildung von Großgemeinden“ als bedeutenden Verwaltungsumbau an.182 Sie habe „sehr hohe Wellen“ geschlagen. Die Fronten hatten sich also verkehrt. Nunmehr erschien die Militärverwaltung, die im Fall Antwerpen noch gebremst hatte, als die treibende Kraft, Romsée als Werkzeug. Die Gemeindezusammenschlüsse wurden zur vielleicht umstrittensten der von den Deutschen betriebenen administrativen Veränderungen.183 Reeder verlangte jetzt die Zentralisierung im Interesse einer Verwaltung in Kriegszeiten, gerade die Kleinteiligkeit verhindere eine ­effiziente Verwaltung. Die belgische Seite dagegen entdeckte in ihr den Geist liberaler Herrschaft ­wieder. Neben den oben bei Antwerpen genannten Gründen für die Zusammenschlüsse sah die Militärverwaltung auch die Gelegenheit, anstelle unkooperativer Gemeindebeamten vertrauenswürdige Personen zu installieren. Die Städtevereinigungen stießen auf großen Widerspruch unter Regierungsbeamten und in der Justiz. Sie wurden als politisch motiviert und Einmischung in belgische Verhältnisse angesehen. Schließlich erklärte im November 1942 der Kassationsgerichtshof die Bildung von „Groß-­Antwerpen“ für verfassungswidrig. Die Militärverwaltung sah „Politisierende Advokaten“ am Werk, die „versuchten in einer […] Prozeßflut die Rechtsgültigkeit der vom Generalsekretär des Innenministeriums verordneten Eingemeindungen zu bestreiten und damit auch einen Angriff auf die Autorität des Generalsekretärs zu starten.“184 Nur das entschlossene 182 Hailer, ebd., S. 43. 183 Hierzu Warmbrunn, ebd., S. 112 f, auch zum Folgenden. 184 Hailer, ebd., S. 43.

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Eingreifen der Militärverwaltung habe eine allgemeine Justizkrise verhindert. Darauf wird wenig später noch eingegangen. Jedenfalls blieben die „Großen Städte“ erhalten, solange die Besatzung andauerte. Nach dem Krieg wurden sie, psychologisch verständlich, als Werk der Besatzung angesehen und wieder aufgelöst. In einem Brief an General von Falkenhausen vom 20. Januar 1956 beklagte sich Reeder ­darüber mit lebhaften Worten. Während des Krieges sei auf unsere Anregung hin ein Groß-­Brüssel, nicht zuletzt auch aus politischen Gründen [!] gebildet worden […]. Die Belgier haben es als Ehrensache angesehen, die Vernunftsmassnahme nach unserem Abzug sofort wieder rückgängig zu machen. Dieser Vorfall ist nur ein kleiner Beweis der verwaltungsmässigen Rückständigkeit. Wie artig [!] waren doch die Deutschen demgegenüber, als sie die Auflösung Preussens, die Neugliederung der Länder [sic!] [nach dem Krieg] so ruhig hinnahmen und diese Massnahmen nach Wiedererlangung der Souveränität als sacrosankt betrachteten, obwohl man diese Massnahmen im Gegensatz zu unseren Reformmassnahmen 185 zum Teil als föderalistisch reaktionär bezeichnen könnte.

In ­diesem Brief zeigte sich wieder Reeders oft einseitiger Verwaltungsrationalismus und sein völliges Fehlen psychologischen Verständnisses. Von der Rückständigkeit der belgischen Verwaltung war er schon lange überzeugt gewesen; er hatte Belgien einmal als das Land „mit dem schwächsten Staatsapparat“ bezeichnet.186 Der Vergleich mit Nachkriegsdeutschland war verfehlt. Immerhin war die von Hailer beklagte „Prozessflut“ unter der deutschen Besatzung möglich. Dies führt zu der Frage nach dem Rechtswesen in dieser Zeit. Wie erwähnt, war es bei der Verordnungsgebung z­ wischen dem Militärverwaltungschef und den Generalsekretären zu einer Absprache über die Zuständigkeiten gekommen. Danach sollten diese durchaus als Rechtsetzungsorgan fungieren können, die Verordnungsregelung „politischer Angelegenheiten“ aber der Militärregierung vorbehalten bleiben. Nun war der Begriff „politische Angelegenheiten“ nicht immer eindeutig zu bestimmen. Die Zusammenschlüsse von Gemeinden haben offenbar beide Beteiligten als administrative Angelegenheit angesehen. Verordnungen über Waren-, Devisen- und Postverkehr wurden naturgemäß vom Militärbefehlshaber erlassen. Als besonders krasses Beispiel für eine Rechtsetzung, die nach ihrer Zielsetzung nur durch die Militärverwaltung erfolgen konnte, sind die schon mehrfach erwähnten antijüdischen Verordnungen zu nennen. Ein anderes, wenn auch nicht so exorbitantes Beispiel war die „Verordnung zur Wiederherstellung des Rechtes der in Belgien wegen Zusammenarbeit mit der deutschen Besetzungsmacht im Kriege 1914 – 1918 Verfolgten“187 vom 6. September 1940, w ­ elche geeignet war, bei der belgischen Bevölkerung tiefe Emotionen hervorzurufen. Sie sah Wiederherstellung aberkannter Ehrenrechte, Schmerzensgeld bei Freiheitsentziehungen und Entschädigungen bei wirtschaftlichen und finanziellen Schäden vor. Die Kosten dafür sollte der belgische Staat tragen. Reeders Einverständnis mit dieser Verordnung ist anzunehmen. Bei der Gerichtsbarkeit wurde ebenfalls eine Aufteilung der Zuständigkeiten vorgenommen. Die Militärregierung verstand sich als Aufsichtsverwaltung, der belgische Staatsapparat sollte grundsätzlich funktionsfähig bleiben. Den belgischen Gerichten wurde die Rechtsprechung

185 BA-MA, Archiv von Falkenhausen, N 246/106. 186 Reeder, Grundsätze und politische Zielsetzung, S. 19. 187 VOBlB, S. 203, mit Durchführungsverordnung vom selben Tage.

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belassen, soweit es um die Anwendung belgischen Rechts ging.188 Dies umfasste auch die von den Generalsekretären erlassenen Verordnungen. Die deutsche Militärgerichtsbarkeit war zuständig für Gerichtsverfahren gegen deutsche Staatsbürger und urteilte Verstöße von ­Belgiern gegen Anordnungen der Militärregierung nach deutschem Recht ab. Die belgische Justiz hatte äußerlich die Besetzung des Landes besser überstanden als die Legislative, die außer Funktion war, und die Administration ohne ihre ministerielle Spitze.189 Der scheinbar intakte Justizapparat glaubte, sein stolzes Selbstbewusstsein wahren zu können. Doch ­dieses wurde durch die „Rückkehrverordnung“ vom 18. Juli 1940 erschüttert. Sie galt auch für Richter, die das Land verlassen hatten; sie konnten also auch nur mit Zustimmung der Militärregierung ihre frühere Funktion wieder aufnehmen. Darüber hinaus hatte die Militärverwaltung Vorbehalte gegen die belgische Gerichtsbarkeit insgesamt: Sie arbeite zu langsam und sei anti-­deutsch. Dem versuchte sie entgegenzuwirken; so hatte sie sich von Anfang an die Besetzung höchster Richterstellen vorbehalten. Entsprechend der Verordnung von März 1941 über eine Altersgrenze für Beamte wurden auch über 60-jährige Richter entlassen und bei Neubesetzungen Flamen bevorzugt. 1944 nahm die Militärverwaltung dann ein Ernennungsrecht für alle Richterstellen in Anspruch. Zwischen der Gerichtsbarkeit und der Militärverwaltung kam es zu mehreren schweren Konflikten. Bei dem ersten vom Frühsommer 1942 ging es um die Rechtsetzungsbefugnis der Generalsekretäre und deren gerichtliche Überprüfung. Meinungsverschiedenheiten auf der belgischen Seite z­ wischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit entluden sich in einem Urteil des Kassationsgerichtshofs, welches die Befugnis zur Rechtsetzung durch die Generalsekretäre anzweifelte. Die Militärregierung reagierte unverzüglich und verbot generell, die Gesetzmäßigkeit von Beschlüssen der Generalsekretäre zu überprüfen. Daraufhin verschärfte sich die Situa­ tion noch weiter. An dem Verfahren beteiligte Anwälte ließ die Militärverwaltung verhaften. Es drohte ein Streik in der Gerichtsbarkeit. „Hinter den Kulissen“ wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Generalsekretärs für Justiz, Schuind, hart verhandelt. Im Juni 1942 wurde endlich ein Kompromiss erreicht. In Anbetracht der ernsten Situation des Landes akzeptierte der Kassationshof, dass die Generalsekretäre als Kollegium Anordnungen mit Gesetzeskraft t­ reffen konnten. Die Militärregierung ihrerseits ließ die verhafteten Advokaten frei und zog das Verbot zurück, die Gültigkeit von Beschlüssen der Generalsekretäre zu überprüfen. Die zweite große Krise entwickelte sich Ende 1942. Es ging dabei um die Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Gemeindezusammenschlüsse. Zunächst erwies sich vor dem Arbeitsgericht Brüssel die Frage der „Ungesetzlichkeit“ der Bildung von „Groot Antwerpen“ als entscheidungserheblich. Zur selben Zeit wollte der Kassationshof ebenfalls in einer Sache ein Urteil fällen, bei der die „Gesetzlichkeit“ der „grote agglomeraties“ bestritten wurde. Die Militärverwaltung forderte beide Gerichte auf, die Entscheidung zwei Monate zurückzustellen. Das Arbeitsgericht wies dies zurück; jede Beschränkung der Tätigkeit der betreffenden Kammer würde es insgesamt daran hindern, seine Funktion auszuüben. Die Kammer erklärte nun durch Urteil die Beschlüsse zur Bildung der „grote agglomeraties“ für ungesetzlich. Am selben Tag wurden die Richter und Rechtsanwälte verhaftet. Daraufhin setzte das Gericht am 12. Dezember 1942 alle Termine aus, und die Richter weigerten sich, weitere Sitzungen abzuhalten.

188 Hierzu Warmbrunn, ebd., S. 114 f. 189 Vgl. Jacquemyns, ebd., S. 88 ff. Auch zum Folgenden.

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Reeder betrachtete die Entscheidung des Gerichts als eine Provokation und den „Streik“ als nicht hinnehmbar. Er drohte mit schweren Sanktionen, falls die Richter ihre Arbeit nicht wieder aufnähmen. Die Generalsekretäre vermittelten und beriefen eine beratende Kommission ein, ­welche die Rechtsgültigkeit der Beschlüsse über die „grote agglomeraties“ untersuchen sollte. Darauf lenkte die Militärverwaltung auch etwas ein; sie ließ die verhafteten Richter und Rechtsanwälte wieder frei und der „Streik“ nahm ein Ende. Das inhaltliche Problem aber blieb. Im Kern ging es darum, ob die Änderung der Gemeindegrenzen eine administrative Maßnahme gewesen sei, oder ob die Zusammenschlüsse einen politischen Charakter trügen. Dann hätten sie vom Militärbefehlshaber selbst verordnet werden müssen. Dem Streit wurde von der Militärverwaltung kurzerhand ein Ende gemacht. In einer von ihr am 26. Januar 1943 herausgegebenen „Verordnung über die Neugliederung von Gemeinden“ wurde bestimmt, dass die Beschlüsse des Generalsekretärs für Inneres über die „grote agglomeraties“ anzuwenden ­seien.190 Die oben wiedergegebene Wertung Hailers, durch „entschlossenes Eingreifen der Militärverwaltung“ sei eine allgemeine Justizkrise verhindert worden, ist schönfärberisch. Eine Krise war schon ausgebrochen, belgische Gerichte leisteten mutig offen Widerstand. Der Militärverwaltungschef brach ihn mit rigiden Zwangsmaßnahmen und der Drohung weiterer Sanktionen. Das partielle Einlenken der belgischen Gerichtsbarkeit bewies, dass sie sich der Begrenztheit ihrer Möglichkeiten bewusst war und es ihr hauptsächlich darauf ankam, ihre grundsätzliche Funktionsfähigkeit zu erhalten. Als die beratende Kommission nicht das von der Militärverwaltung gewünschte Ergebnis zu bringen schien, entschied diese durch die Setzung eigenen übergeordneten Rechts zu ihren eigenen Gunsten. In dieser zweiten Krise wusste Reeder die Interessen der Besatzungsmacht mit aller Konsequenz durchzusetzen, vermied aber das Äußerste, die Lahmlegung der belgischen Justiz. Im Jahre 1943 kam es schließlich zu einem weiteren Wechsel im Komitee der Generalsekretäre. Er erfolgte im Zusammenhang mit schon länger andauernden Auseinandersetzungen ­zwischen der Besatzungsmacht und der belgischen Seite über die Bekämpfung des „Terrorismus und Bandenunwesens“.191 Um die Wende zum Jahr 1943 kam es zu einer Attentatswelle gegen deutsche Militärpersonen. Als Repressalie wurden fünfzig politische Gefangene exekutiert. Nach einer Aufforderung der Militärregierung verurteilten die Generalsekretäre in einem Appell an die Bevölkerung Attentate, wobei sie nicht ­zwischen motivierten und rein kriminellen Taten unterschieden. Die Militärverwaltung erwartete aber ein energischeres Eingreifen und wurde dabei von Romsée und einem weiteren dem VNV angehörenden Generalsekretär unterstützt. Andererseits befürchtete die Gerichtsbarkeit eine deutsche Einmischung. Um der Klemme zu entkommen, entwarf Schuind, der Generalsekretär für Justiz, einen Plan, um die Strafen für Attentate jeder Art zu erhöhen. Dafür erwartete er ein Entgegenkommen der Militärverwaltung. Die von Schuind angekündigte schnelle Veröffentlichung der Maßnahmen war aber bis Mai immer noch nicht erfolgt. Schuind schien mehr und mehr unter den Einfluss der widerständigen Gerichtsbarkeit zu geraten. Er wollte nun die Erhöhung der Strafen nur unterschreiben, wenn die Deutschen bestimmte Bedingungen erfüllten. Im Juli 1943 erklärte er, die Militärverwaltung habe eine Kriminalität entstehen lassen, es sei an ihr, sie einzudämmen.

190 VOBlB, S. 1139. 191 Vgl. hierzu Verhoeyen, ebd., S. 107 ff.

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Das war ein Satz zu viel, und das Maß war voll. Die Militärregierung verbot Schuind am 17. September die weitere Ausübung seiner Funktion. Dies geschah vor allem wegen des Drucks, den Himmler auf Reeder ausübte. Der Einfluss des Reichsführers SS innerhalb der Besatzungsverwaltung nahm offenbar stetig zu. An die Stelle Schuinds trat Robert de Foy, der vor dem Krieg in der „Sûreté publique (Öffentliche Sicherheit)“ tätig gewesen war. De Foy begann Verhandlungen mit der Militärverwaltung und erhielt das, was diese ein Jahr lang Schuind verweigert hatte: Falls die Strafen für „Terrorakte“ verschärft würden, wäre die Militärverwaltung bereit, den Generalsekretären die schon länger erbetene schriftliche Garantie zu geben. Nach einem Empfang zusammen mit de Foy bei Reeder im Oktober 1943 entwarf Romsée eine Erklärung in ­diesem Sinne. Mitte Januar 1944 erhielt de Foy tatsächlich die erwartete schriftliche Garantie. Sie überließ den belgischen Strafgerichten die Zuständigkeit für die Aburteilung der Personen, ­welche die belgische Polizei wegen Banditentums und Tragens von Waffen verhaftet hatte, mit Ausnahme der Urheber von Attentaten und von Sabotageakten. Die Problematik blieb aber weiter virulent. Im April 1944 hob das OKH die schriftliche Übereinkunft über die deutsche Nichteinmischung bei belgischen Strafprozessen zu Reeders Freude wieder auf.192 Zuletzt soll noch von einem Konflikt z­ wischen Militärverwaltung und der Universität Brüssel berichtet werden.193 Die Besatzungsmacht hatte diese schon immer als Exponent der jüdisch-­freimaurerischen, liberal-­sozia­listischen Gedankenwelt betrachtet, also von allem, was im „Dritten Reich“ verhasst war. Die Militärverwaltung begab sich alsbald auf den riskanten Weg, der Universität eine neue Orientierung zu geben, in der Hoffnung, sie „germanisieren“ zu können. Das bedeutete, die flämischen Abteilungen zu stärken und die Universität zu einer doppelsprachigen auszubauen.194 So sollten angeblich deutschfeindliche Elemente ausgeschieden und die zukünftige Führungsschicht Belgiens mit Deutschland verbunden werden. Dies musste auf Widerstand stoßen, zumal zur Durchsetzung der Pläne ein deutscher Professor als Staatskommissar eingesetzt wurde. Am 25. November 1941 beschloss der Verwaltungsrat, die Vorlesungen auszusetzen. Deutscherseits war „von bezahltem Urlaub und Anwartschaft auf ein billiges Märtyrertum nach dem erhofften englischen Siege“ die Rede. Als die Professoren sich weigerten, die Vorlesungen wieder aufzunehmen, wurde die Universität von der Militärverwaltung endgültig geschlossen. Inmitten der Universitätslandschaft Belgiens war ein g­ roßes Vakuum entstanden.

4.6.6 Kollaboration, Kultur-, Flamen- und Volkstumspolitik In einem besetzten Gebiet gibt es normalerweise Kollaboration. In Belgien ist sie eng mit der „Flamenpolitik“ der Militärregierung verbunden. Hitler hatte ihr ja in seinen grundlegenden Weisungen „jede mögliche Förderung der Flamen“ aufgegeben. Schon deshalb bestand auf flämischer Seite eine größere Bereitschaft zur Kollaboration als in der Wallonie. Hinzu t­ raten historische Gründe sowie die mentale Verwandtschaft von Flamen und Westdeutschen, schließlich die bei manchen Flamen verbreitete Aversion gegen den belgischen Staat. Der ursprünglich wertfreie französische Begriff „collaboration“ ist im Zweiten Weltkrieg negativ aufgeladen 192 Vgl. ders., ebd., S. 112. 193 Jacquemyns ebd., S. 94 f, auch zum Folgenden, von dort auch die zitierte Bezeichnung. 194 Hierzu und auch zum Folgenden vgl. zusätzlich: Lejeune, Die deutsch-­belgischen Kulturbeziehungen 1925 – 1980, S. 235 ff, dort auch die zitierten Bezeichnungen.

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worden und soll nun präzisiert werden.195 Denn ohne dass dies sogleich als „Kolla­boration“ anzusehen wäre, kommt es z­ wischen der Besatzungsmacht und der Bevölkerung eines besetzten Landes sowie deren Autoritäten zwangsläufig zu einem Zusammenwirken. Unter „Kolla­ boration“ sollte im eigentlichen Sinne nur diejenige Zusammenarbeit verstanden werden, ­welche ihrer Zielsetzung nach der deutschen Politik oder Kriegsführung zu dienen bestimmt war. Zumeist gab es dabei eine mindestens teilweise ideologische Übereinstimmung mit dem „Dritten Reich“. Die Entscheidung zu kollaborieren beruhte überwiegend auf einem freiwilligen Entschluss, dem aber häufig Opportunismus beigemengt war, seltener erfolgte sie aus einer Zwangssituation heraus. Die zu einer Kollaboration bereiten Gruppierungen in Belgien boten ein vielgestaltiges Bild.196 In Flandern ist der zumindest anfänglich maßgebliche VNV zu nennen, sowie in der Wallonie die ebenfalls schon mehrfach erwähnte Rex-­Bewegung. Daneben bestand die schon 1935 gegründete „Deutsch-­Flämische Arbeitsgemeinschaft“ (De Vlag), die in einen deutschen und einen flämischen Sektor aufgeteilt war. Eine Besonderheit stellte der „Verbond van Dietsch-­ Nationaal-­Socialisten“ (Verdinaso) dar. Er vertrat die Idee eines großniederländischen Staates, also eines Zusammenschlusses der Niederlande mit Flandern.197 Außerdem gab es in beiden Landesteilen noch mehrere kleinere Kollaborationsgruppierungen. Der VNV war in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel aufgespalten. Zwar hatte noch am 14. Mai 1940 der Verband mit Blick auf die Separatistenbewegung im ­Ersten Weltkrieg die Parole ausgegeben: „Keine zweite Kollaboration.“ Aber der VNV-Führer Staf de Clercq traf sich bereits am 3. Juni 1940 mit General von Falkenhausen. In einem Memorandum stellte er seine Bewegung für eine „aktive Zusammenarbeit“ zur Verfügung, also zur Kollaboration. De Clercq wollte mit seinem Alleingang seinen Verband vor vollendete Tatsachen stellen. Gegen die Gemäßigten durften sich De Clercq und andere Radikale auch der überwiegenden Zustimmung der Verbandsmitglieder gewiss sein. Diese wollten einen „dietsen Volksstaat“ realisieren, der außer den Gebieten flämisch-­niederländischer Sprache auch Französisch-­Flandern umfassen sollte.198 Zugleich sahen sie den Zeitpunkt ihrer Machtübernahme als gekommen an. Dies alles ging der Militärverwaltung entschieden zu weit. Reeder sah den VNV rein instrumentell als ein Mittel für die der Militärverwaltung aufgegebene Flamenpolitik. Er kam dem Verband dann insoweit entgegen, als er VNV-Mitglieder in führende Verwaltungspositionen ­einrücken ließ. Eine Machtübernahme des VNV war das aber nicht; der Militärverwaltungschef war zu einer Zusammenarbeit eben nur bereit, falls es im deutschen Interesse lag. „Er machte De Clercq unmißverständlich klar, daß von einer Zersplitterung des belgischen Staates und der Bildung eines ,dietsen‘ Staates keine Rede sein könne.“ De Clercq begriff, dass er nur in dem von den Deutschen gesteckten Rahmen agieren konnte. Im November 1940 erklärte er in seiner ersten öffentlichen Rede während der Besatzungszeit vor VNV -Mitgliedern, der Verband werde fortan bedingungslos mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten. Grenzfragen werde der Führer nach dem Krieg entscheiden. Der VNV bekannte sich nun öffentlich zum Nationalsozia­lismus mit seinem Rassismus und einer spezifischen Spielart des Imperialismus, „Wallonien als Lebensraum für die Flamen“. Die 195 Vgl. zum Folgenden Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 260. 196 Vgl. zum Folgenden insgesamt De Wever, ebd., S. 101 ff. Von dort auch die späteren Zitate. Ferner sehr eingehend Verhoeyen, ebd., S. 285 ff. 197 Dazu Erbe, Belgien Niederlande Luxemburg, S. 291. 198 Dazu auch Verhoeyen, ebd., S. 288.

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Mitgliedschaft akzeptierte dies ohne zu murren, auch der gemäßigte Flügel. Mehrere Gründe kamen zusammen, weshalb De Clercq gerade Anfang November seinen Verband auf diesen Weg geführt hatte. Zunächst hatte er wohl von der bevorstehenden Begegnung des Königs mit Hitler erfahren. Außerdem hatte Hitler bereits im September den führenden niederländischen Kollaborateur Mussert empfangen. Und schließlich war ebenfalls im September die flämische SS gegründet worden. Sie war für den Anschluss Flanderns an das Reich und richtete sich gegen den katholischen und „dietsen“ VNV. De Clercq musste in der Neugründung eine gefährliche Konkurrenz sehen und verbot den Angehörigen seines Verbandes eine Doppelmitgliedschaft. In der Tat drohte die flämische SS bald gefährlich zu werden. Sie fand nämlich die Unterstützung des Reichsführers SS, der in ihr eine Verstärkung seiner Basis in Belgien und ein gegen die Militärregierung einzusetzendes Mittel sah. Die Mitgliederzahl wuchs aber bis Ende 1940 nicht über tausend hinaus. Reeder schätzte sie gering und hielt Distanz zu ihr. Allerdings disziplinierte er den von ihm bevorzugten VNV mit Verweis auf die flämische SS. 1941 erfolgten Neugruppierungen unter den Kollaborationsverbänden. Der Verdinaso, mit dem Reeder kaum Verbindung gehabt hatte, ging im VNV auf. Bei De Vlag setzte sich der Leiter des SS-Hauptamtes, Obergruppenführer Berger, an die Spitze.199 Er wollte damit eine breitere Basis für politische Beeinflussung in Flandern zur Realisierung der speziellen Absichten der SS erreichen. Dies brachte der Arbeitsgemeinschaft eine zunehmende Unterstützung der flämischen SS ein. Damit standen sich zwei konkurrierende Hauptgruppen bei der Kollaboration gegenüber, VNV sowie De Vlag bzw. flämische SS. Für Reeder, welcher bislang energisch und mit klarer Prioritätenbildung z­ wischen den Verbänden agiert und sie auch teilweise gegeneinander ausgespielt hatte, wurde wegen des zunehmenden SS-Einflusses die Situation schwieriger. Bei einem Gesamtüberblick über die Kollaboration in Flandern lässt sich feststellen, dass der insbesondere von Reeder bevorzugte VNV „zu keinem Zeitpunkt ein echtes politisches Monopol“ besaß.200 Für seine Führer musste das enttäuschend gewesen sein, zumal ihre Situation wegen der sich für die Deutschen verdüsternden Kriegslage und des wachsenden Widerstands der belgischen Bevölkerung zunehmend unbequem wurde. Aber ein Zurück gab es für sie nicht mehr. Im Oktober 1942 starb De Clercq. Sein Nachfolger wurde der von den Deutschen als Bürgermeister in Gent eingesetzte Hendrik Elias.201 In einem Brief an Reeder vom 25. August 1943 brachte er seine rückhaltlose Bereitschaft zur Kollaboration mit der Formulierung von „unzweideutiger Politik völliger Zusammenarbeit“ zum Ausdruck. Die in der Wallonie dominierende Rex-­Bewegung hatte sich durch die belgische Kapitulation im Mai 1940 in ihrer Kritik am Vorkriegsparlamentarismus bestätigt gesehen.202 Da ihr Führer Léon Degrelle kurz vor dem deutschen Überfall verhaftet und nach Frankreich verbracht worden war, scharten sich die Mitglieder erst um den König. Ende Juli 1940 kehrte Degrelle zurück und entwickelte sogleich eine hektische politische Aktivität. Er wollte F ­ ührer einer politischen Massenbewegung werden und mit den Spitzen des „Dritten Reiches“ in Verbindung treten, am liebsten mit Hitler persönlich. Illusionär war der verstiegene Plan, ein burgundisches Großreich wiederherzustellen. Aber Degrelle war zu d ­ iesem Zeitpunkt völlig isoliert, König und K ­ irche versagten ihm ihre Unterstützung. Die Mitgliederzahl stieg aber wieder deutlich an. Die Militärverwaltung wahrte misstrauische Distanz zu Degrelle. Eine wallonische 199 Zu De Vlag Warmbrunn, ebd., S. 133. Zum Verdinaso Erbe, ebd. 200 De Wever, ebd., S. 104. 201 Erbe, ebd., S. 291; das folgende Briefzitat bei Umbreit, ebd., S. 260. 202 Vgl. hierzu und zum Folgenden De Wever, ebd., S. 104 f.

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Volksbewegung wollte Reeder ohnehin nicht, allenfalls war er an seiner Mitarbeit im wallonischen Landesteil interessiert. Da die Rexisten in ihrer politischen Tätigkeit beschränkt waren, verlegte sich Degrelle auf die Pressearbeit. Die Militärverwaltung hatte erst am 30. Juli 1940 eine wallonische Ausgabe der von ihm redigierten Zeitung „Pays Réel“ (Das wirkliche Land) zugelassen. Zugleich versuchte er, sich aus seiner beengten Lage zu lösen. Zunächst nahm er Kontakt mit der Dienststelle des Auswärtigen Amtes in Brüssel auf, der er weit ausgreifende Pläne zur Beeinflussung des belgischen Zeitungswesens andeutete. Das griff man dort aber nicht auf. Degrelle fand aber Zugang zur Pariser Vertretung des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Frankreich.203 Offenbar fühlte er sich daraufhin legitimiert, sich ihr gegenüber in einer Denkschrift über die Verhältnisse in Belgien und seine politischen Vorstellungen zu äußern. Darin übte er scharfe Kritik an den belgischen Eliten sowie der Militärverwaltung, die allzu eng mit ihnen zusammenarbeite, statt mit den neuen nationalen und sozia­len Bewegungen. Er bot sich statt des VNV als der einzige und wahre Freund des nationalsozia­listischen Deutschlands an. Seine großburgundischen Pläne waren allerdings auf ein Groß-­Belgien unter Einschluss von Französisch-­Flandern und der niederländischen Scheldemündung zusammengeschrumpft. Reeder erkannte sogleich die Gefährlichkeit von Degrelles Konzept und verfasste eine kritische Stellungnahme zu dessen Denkschrift, in der er sich auf die Weisung berief, die Flamen zu fördern. Nach seiner Auffassung sollte sich Degrelle auf praktische Arbeit in Wallonien beschränken. Die Radikalisierung der Denkschrift bestimmte auch Degrelles Agieren in Belgien selbst.204 Seine Bewegung kehrte sich nunmehr von den alten Eliten ab, in den rexistischen Zeitungen wurde gegen diese polemisiert, aber auch gegen „die Juden“. Dafür lobten Degrelle selbst und seine Presse zunehmend das nationalsozia­listische Deutsche Reich. Politisch brachte dies nichts ein, sondern vergrößerte vielmehr nur den Graben zur Bevölkerung. Am 1. Januar 1941 erklomm Degrelle den Gipfel seines Kollaborationswillens, indem er in einem mit „Heil Hitler“ unterschriebenen Zeitungsartikel erklärte, „daß seine Bewegung denselben politischen und sozia­len Idealen wie Hitler nachstrebe“. Nun traten bürgerlich-­konservative Mitglieder aus der Partei aus; der Versuch, stärker in der Arbeiterschaft Fuß zu fassen, misslang weitgehend. Die Anhänger der Rex-­Bewegung wurden gemeinhin als Landesverräter angesehen. Nicht zuletzt auf Reeders Veranlassung war Degrelle einstweilen aber noch ruhiggestellt. Im April 1941 wandte sich die Militärverwaltung sogar gegen dessen Gesuch um Aufnahme in die Wehrmacht, und im Monat darauf drängte sie ihn dazu, auch den (kleinen) flämischen Zweig der Rex-­Bewegung auflösen.205 Der Beginn des „Russlandfeldzuges“ im Juni 1941 eröffnete dann Degrelle den Weg zu neuen Aktivitäten. Er trat der Waffen-­S S bei, um mehrere Monate unmittelbar an den Kampfhandlungen teilzunehmen. Zum Leutnant befördert stand er bei einem Besuch in Berlin im Sommer 1942 im Zentrum der Aufmerksamkeit von Größen des „Dritten Reiches“. Nach Fronteinsätzen im Kaukasus und einem weiteren Aufenthalt in Berlin, bei dem er Kontakt zu Mitarbeitern Himmlers hatte, soll er aus dessen Sicht von seiner belgizistischen Haltung abgekommen sein. Am 17. Januar 1943 verwandelte er in seiner Rede bei einer Großkundgebung in Brüssel die Wallonen zu „des Germains à part entiére“206, also zu unverfälschten Germanen. Sie hätten „ein germanisches Erbe und Schicksal“. Das fand 203 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wagner, ebd., S. 200 ff. Zu Reeders Reaktion S. 205. 204 Vgl. De Wever, ebd., S. 105. Von dort auch das Zitat. 205 Hierzu und zum Folgenden insgesamt Wilken, Diener in Köln, S. 26 ff. 206 Zitiert nach Verhoeyen, ebd., S. 313. Das folgende Zitat bei Wilken a. a. O.

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Himmlers Gefallen.207 Dank seines neuen Rückhalts konnte sich Degrelle eine von der Militär­ verwaltung unabhängigere Position verschaffen als die der kollaborierenden Flamen­führer. Dies rief ­Reeder auf den Plan. Er drang bereits Ende Januar 1943 bei seinen militärischen Vorgesetzten in Berlin auf ein einheitliches Auftreten aller deutschen Stellen. Am 22. April schrieb der Chef der Reichskanzlei, sicherlich in Übereinstimmung mit Himmler, an das OKW, dass die Dienststellen der SS „durch einen ständigen Kontakt mit den für die besetzten Gebiete zuständigen deutschen Führungsstellen eine Übereinstimmung mit deren Auffassungen“ sichern sollten.208 Preis der Einheitlichkeit war, dass Reeder Himmlers Unterstützung bedurfte, um Degrelle unter Kontrolle zu halten. Der Machtkampf spitzte sich im Herbst 1943 erneut zu. Degrelle hatte am 23. Oktober wieder eine Denkschrift verfasst, von der Reeder durch den Chef des OKW Kenntnis erhielt. Er schrieb daraufhin an Keitel, in ihr s­ eien der Militärbefehlshaber und die Militärverwaltung mehrfach beleidigt worden. Der Militärverwaltungschef rügte weiter, dass von der Rex-­Bewegung immer wieder Eingaben hinter dem Rücken der Militärregierung an hohe Stellen des Reichs gesandt würden. Einen Monat später schrieb er zudem noch an Himmler, der ja inzwischen auch Reichsinnenminister geworden war, mit seiner Schrift versuche Degrelle „auf primitive Weise die Militärverwaltung zu überspielen“. Sie solle Hitler nicht vorgelegt werden. Degrelles Verhalten war auch doppelzüngig; denn bei einem Abschiedsbesuch, bevor er wieder an die Ostfront zurückkehrte, hatte er dem Militärverwaltungschef gegenüber keinerlei Kritik geäußert. Anlässlich dessen Beförderung zum SS-Gruppenführer am 9. November 1943 hatte er ihm überschwänglich gratuliert. Die Kritik Reeders tat der Reputation Degrelles keinen Abbruch. Dessen Kampfeinsätze in der Ukraine notierte sogar Goebbels in seinen ­Tagebüchern und empfing ihn mit mehreren Generälen zusammen im Februar 1944 in Berlin.209 Der „Rexistenführer“ machte auf den Propagandaminister einen „außerordentlich guten Eindruck“. Degrelle nutze die Gelegenheit, die Wehrmachtsdienststellen, also in erster Linie die Militärverwaltung, anzuschwärzen. Sie arbeite mit ausgesprochenen Deutschenfeinden zusammen, „während die Rexistenbewegung an die Wand gedrückt“ werde. Doch damit nicht genug. Am 20. Februar 1944 verlieh ihm Hitler persönlich das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Für Reeder bedeutete dieser Triumph Degrelles eine Niederlage, zumal er selbst nie von Hitler empfangen worden war. Der Militärverwaltung war ein neuer Rivale erwachsen. Aber auch gegenüber den zerstrittenen flämischen Gruppen hatte Degrelle an Prestige gewonnen. Es zahlte sich für ihn aus, dass er sich auf die Seite der zunehmend an Einfluss gewinnenden SS begeben hatte, während der größte flämische Verband, der VNV, sich fügsam an die ihm gesteckten Grenzen zu halten schien. Die Flamen empfanden ohnehin das von deutscher Seite für Degrelle gezeigte Wohlwollen als enttäuschend.210 Im Zusammenhang mit der Kollaboration standen die miteinander verwandten Aufgabenfelder der Militärregierung, Kultur-, Volkstums- und Flamenpolitik, nicht als „eigene“ Politik, sondern zur Ausfüllung der ihr von Hitler erteilten Vorgaben.211 Alle drei waren den deutschen militärischen Interessen untergeordnet. Reeder hatte es in einem Vortrag einmal mehr so formuliert, die primäre Aufgabe der Militärverwaltung sei, „daß die gesamten 207 Zitiert nach Wagner, ebd., S. 248. 208 Wilken, ebd., S. 27. Zum Folgenden a. a. O., S. 28 mit Fußnoten. 209 Tagebücher, Kapitel 2, Bd. 11, S. 316 und S. 324. Zitate von S. 325. 210 Vgl. Wagner, ebd., S. 248. 211 Vgl. Lejeune, ebd., S. 202 ff. Auch zum Folgenden. Zitate auf S. 202 f.

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Wirtschafts- und Arbeitskräfte des Befehlsbereiches auch gegen dessen natürliches I­ nteresse in möglichst großem Umfang der Kriegsführung des Reiches nutzbar zu machen sind.“ Kulturpolitik im engeren Sinne ließ sich als „Propaganda“ benennen, etwas allgemeiner als Werbung für das „Dritte Reich“ mit kulturellen Medien und Veranstaltungen. Einen besonderen Zweig stellte die Rundfunkpropaganda dar, w ­ elche auch gegen ausländische Sender eingesetzt wurde. Innerhalb der Militärregierung befasste sich die Verwaltungsabteilung mit den Fragen von Kultur, Propaganda und des Rundfunks. Ihr war, wie schon erwähnt, eine Propagandaabteilung angegliedert, die stark unter dem Einfluss des Reichspropagandaministeriums stand. Konkurrenz auf dem Gebiet der Propaganda bestand auch zur Dienststelle des Auswärtigen Amts in Brüssel sowie dem stärker ideologisch ausgerichteten Einsatzstab des Reichsleiters Rosenberg. Nach dem ersten Jahresbericht der Militärverwaltung konnte man das spezifische Ziel der Kulturpolitik so umschreiben, „dem belgischen Leben einen neuen, stärker völkisch bestimmten Inhalt zu geben“. Das hieß zunächst, der liberalen Grundhaltung der maßgeblichen Gesellschaftsschichten und den französischen Einflüssen entgegenzuwirken. Reeder war sicherlich an ­diesem Aufgabengebiet nicht nur aus Pflichtgefühl interessiert, trat hier aber nicht so häufig in Erscheinung. Wohl war er bei der Eröffnung des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Brüssel im Dezember 1942 zugegen und gab für die Teilnehmer ein Essen. Das Institut war als amtliche Zentralstelle der deutschen Wissenschaft und Kulturpolitik von Reichserziehungsministerium, Auswärtigem Amt und Militärverwaltung gegründet worden. Es sollte Verständnis für die deutsche Sprache und für das deutsche Denken auf allen Gebieten vermitteln.212 Die Kulturpolitik litt unter zunehmend ungünstigen Bedingungen. 213 Die politischen Beschränkungen, die schlechte Versorgungslage und die Ungewissheit, was aus Belgien einmal werden würde, trübten die Stimmung. Verstörend wirkte sich die „Judenpolitik“ aus. Ab 1943 erschwerte die verschärfte Kriegslage die kulturelle Arbeit zusätzlich. Der Reiseverkehr nach Deutschland wurde weiter eingeschränkt, und sogar bereits genehmigte ­Veranstaltungen wie Dichtertagungen sowie Kultur- und Festwochen wurden in Frage gestellt. Ob kulturelle Anstrengungen überhaupt noch unternommen werden sollten, wurde kurz vor Ende der Besatzungszeit im Mai 1944 doch noch bejaht. Nach einer Aktenaufzeichnung wurde dies damit begründet, es handle sich bei dem Krieg um einen Kampf der Weltanschauungen, eine Neuformung vor allem Europas, die nicht auf dem Gebiet der Machtpolitik, sondern dem des Geistes entschieden werde.214 Die Einstellung der Militärverwaltung zur Kulturpolitik endete in Ideologie. Die Volkstumspolitik ging nach Inhalt und Zielsetzung über die Kulturpolitik hinaus. Sie wollte Gemeinsamkeiten mit dem „Dritten Reich“ suchen und ausbauen; sie war daher auf die Mitwirkung vorbehaltlos zur Kollaboration bereiter Gruppen angewiesen. Sie war zudem ein genuiner Bestandteil der „Flamenpolitik“. Mit diesen Angelegenheiten befasste sich in der Verwaltungsabteilung die Gruppe „Volkstum“.215 Maßgeblich als Referent für „Deutschtum und flämisches Volkstum“ war ein enger Mitarbeiter Reeders, der schon erwähnte Franz Petri. Aber auch das Präsidialbüro beschäftigte sich mit Volkstumsfragen, auch wenn dies im Organisationsplan von 1941 nicht ausgewiesen war. Der Militärverwaltungschef maß ihnen 212 Vgl. hierzu dens., ebd., S. 239. 213 Lejeune ebd., S. 204 ff. Auch zum Folgenden. 214 Vgl. ders., ebd., S. 209 f. 215 Vgl. Wagner, ebd., S. 249, FN 40; zum Folgenden Lejeune, ebd., S. 211.

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eben hohe Bedeutung bei. Petri formulierte in einem undatierten Bericht, gemeinsam sei der deutschen Flamenpolitik beider Weltkriege „die Anknüpfung an die nahe völkische Verwandtschaft z­ wischen Flamen und Deutschen“.216 Diejenige des Zweiten Weltkriegs habe den Vorteil, daß sie im Rassenprinzip und im großgermanischen Reichsgedanken, sowie in der Idee des neuen sozia­listisch geordneten Europas völkisch-­politische Parolen besitzt, mit denen sich das Flamentum in ganz anderer Weise erfassen läßt, als mit dem […] machtstaatlichen Denken des ­Ersten Weltkrieges.

Mit dieser spezifisch nationalsozia­listischen Sichtweise wurde aber der Blick dafür verstellt, dass allein die Erinnerung an die Flamenpolitik des ­Ersten Weltkrieges die des Zweiten belasten und somit auch beschränken musste.217 Außerdem bestanden Hemmnisse für die Volkstumspolitik in Flandern durch die unbedingte Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit der französischsprachigen Elite des Landes auf administrativem und ökonomischem Gebiet. Die Militärverwaltung schätzte die volkstumspolitische Lage in Flandern allerdings als sehr schwierig ein. Die Mehrheit der Bevölkerung sei abwartend-­passiv eingestellt, deutschfreundlich sei nur eine Minderheit. Sie zerfalle in drei Gruppen mit unterschiedlichen politischen Zielen. Die Militärverwaltung sah ihre Aufgabe darin, diese flämische Minderheit zu einigen, aber keiner ihrer Gruppierungen eine Monopolstellung einzuräumen. Dabei sollte unbedingt der Eindruck vermieden werden, hier würden deutsche Interessen organisiert, vielmehr der Charakter einer einheimischen Bewegung gewahrt bleiben. Die Militärverwaltung versuchte deshalb, unabhängige Organisationsformen zu schaffen, die das Kulturleben ordnen sollten, zugleich aber ein mittelbares Eingreifen erlaubte.218 Zunächst stützte sie sich auf die schon vor dem Krieg gebildeten flämischen Kulturräte und übertrug ihnen den Ausbau der kulturellen Beziehungen zum Deutschen Reich. In der Folgezeit entstanden Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen z­ wischen der Militärverwaltung und der ihr angegliederten Propagandaabteilung, die Pläne über andere Organisationsformen als vorgesehen zu realisieren begann. Zwar wurden Kompromisse abgesprochen und die Kulturdienste als neue Einrichtungen geschaffen, aber zu einer abschließenden Lösung kam es nicht. Wie auf organisatorischem Gebiet, so konnte die Militärverwaltung auch inhaltlich bei der Flamenpolitik keinen durchgreifenden Erfolg erzielen. Sie sah es nach ihrem Tätigkeitsbericht vom 15. September 1940 als notwendig an, dem Flamentum planmäßig einen gesunden, nicht zu stürmischen Auftrieb zu verschaffen, den ihm der belgische Staat […] bisher versagt hat, [und bemüht sich] daher planmäßig um die Stärkung und Aktivierung der im Flamentum lebendigen völkischen Kräfte, um ihre Heranziehung zu verantwortlicher Arbeit und Erziehung zu einer gesamtgermanischen Beurteilung der gegenwärtig aufgeworfenen Probleme.

Um dies zu bewerkstelligen hätten die Gegensätze ­zwischen VNV und De Vlag überwunden werden müssen. Reeder betrachtete allerdings den VNV als in Flandern tiefer verwurzelt. De Vlag dagegen wurde, vor allem nachdem der SS -Obergruppenführer Berger ihr Leiter 216 Zitiert nach Lejeune, ebd., S. 218. Das folgende Zitat aus dem Bericht, S. 218 f. 217 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 130 ff. Vgl. auch zum Folgenden. 218 Hierzu insbesondere Lejeune, ebd., S. 220 ff. Das folgende Zitat auf S. 222.

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geworden war, zunehmend von der SS selbst und dem Propagandaministerium unterstützt. Offenbar wollten sie dadurch ein Instrument gegen die unideologische Militärverwaltung schaffen. De Vlag agierte nun immer selbstständiger und traf hinter dem Rücken der Militärverwaltung Absprachen mit reichsdeutschen Stellen über die künftigen kulturellen Beziehungen. Die Militärverwaltung versuchte, dem Einhalt zu gebieten, wurde aber De Vlag nicht Herr. Letztlich gelang es ihr nicht, unter den flämischen Gruppierungen Einigkeit herzustellen und eine Kooperation zu erzielen. Die Volkstumspolitik in Flandern und mit ihr die Flamenpolitik insgesamt konnten daher nur Stückwerk bleiben. Dies war ihr selbst auch bewusst, wie der Abschlussbericht eines Mitarbeiters des Militärverwaltungschefs belegt.219 In Zusammenhang mit der Flamenpolitik standen, gleichsam als Ausdruck des „großgermanischen Gedankens“ Petris, die Deutsch-­Flämischen Kulturtage vom 26. bis 29. Juli 1941 in Köln.220 Sie wurden von der „Hansestadt Köln“ mit der Gaupropagandaleitung sowie dem Regierungspräsidenten und Militärverwaltungschef Reeder gemeinsam veranstaltet. De Vlag war ebenfalls beteiligt, der VNV nicht. Die Veranstaltung zeigte das Interesse des Gauleiters Grohé an einem Ausgriff nach dem westlichen Nachbarland. Gleichzeitig entsprach sie den schon länger gehegten Vorstellungen des Militärverwaltungschefs von der Stadt Köln als „Tor zum Westen“ und deren Verbindungen insbesondere zum flämischen Raum. Die Tagung hatte zusammen mit einer Vorlesungsreihe der Kölner Universität das Ziel, die kulturelle, wirtschaftliche und damit auch die aktuelle „Verbrüderung“ der beiden germanischen ­Völker zu befestigen. Die Rahmenbedingungen für eine Volkstumspolitik in der romanischen Wallonie waren zwangsläufig anders als in Flandern.221 Erst ab 1941 wollte die zunächst inaktive Militärregierung der wallonischen Bevölkerung aus ihrer politisch-­kulturellen Apathie heraushelfen. Das deutsche Interesse gebiete, dass die Wallonen nicht das Gefühl hätten, ihre vorgesehene Einbeziehung in den großgermanischen Raum bedeute gänzliche Selbstaufgabe. Der Erfolg der Bemühungen war aber noch geringer als in Flandern. Die einzige Gruppierung, ­welche als ernsthafter Partner eines Zusammenwirkens hätte angesehen werden können, die Rex-­Bewegung, arbeitete zunächst völlig unabhängig von der Militärregierung. Auch als diese ihr Misstrauen ab 1943 zurückstellen musste, weil ja Degrelle die Wallonen zu Germanen erklärt hatte, kam eine wirkliche Zusammenarbeit auf kulturpolitischem Gebiet nicht zustande. In welches Dilemma die Volkstumspolitik wegen der Scheidung in einen flämischen und einen wallonischen Teil geraten konnte, zeigte sich auch in der Person Franz Petris. Der Referent für „Deutschtum und flämisches Volkstum“ schien nach der Degrelle-­Rede von Januar 1943, dessen kühne These zu unterstützen. „Wallonien begann, wenn auch zunächst nur in einer entschiedenen Minderheit, die Verbindungen wieder zu erkennen und zu bejahen, die es die längste Zeit seiner Vergangenheit hindurch mit der germanischen Mitte Europas besessen hat.“222 War er selbst schon des Erfolgs seiner Auffassung in Wallonien nicht ganz sicher, so enttäuschte er mit diesen Darlegungen auch die nationalistischen Flamen. Die Absicht, ausgreifende Großmachtpläne „wissenschaftlich“ zu untermauern, konnte nur Misshelligkeiten bei den Betroffenen erzeugen.

219 Vgl. ders., ebd., S. 225. 220 Zum Folgenden Matzerath, Köln im Nationalsozia­lismus, S. 336; ders., Das Tor zum Westen, S. 436 f. 221 Vgl. Lejeune, ebd., S. 225 ff, auch zum Folgenden. 222 Zitiert nach Wagner, ebd., S. 249. Vgl. dort auch zum Folgenden.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Volkstumspolitik der Besatzungsmacht in Belgien insgesamt aus einer Vielzahl von Gründen zum Scheitern verurteilt war.223 Es begann mit der Zweiteilung des Landes, ­welche von vorneherein ein einheitliches Vorgehen erschwerte. Die im Lande agierenden deutschen Stellen verfolgten mit unterschiedlichen Strategien unterschiedliche Ziele. Die national(sozia­l)istischen Gruppierungen in Flandern und in der W ­ allonie konkurrierten heftig miteinander. Kaum braucht hinzugefügt zu werden, dass, soweit deutsche Absichten über die Zukunft Belgiens nach dem Krieg erkennbar wurden – Annexion Flanderns oder ganz Belgiens –, sich im Lande kaum Anhänger dafür fanden.

4.6.7 Widerstand/Weerstand/Résistance – und die Reaktionen der Militärverwaltung Im weiteren Sinne kann man unter „Widerstand“ jede Handlung verstehen, ­welche die Militär­ verwaltung in Belgien an der Erreichung ihrer Ziele hinderte.224 Zu fordern wäre aber, dass sie bewusst vorgenommen wird. Im engeren Sinne dagegen ist Widerstand nur „eine illegal organisierte Aktion, mit oder ohne Gewalt, gegen die Fremdherrschaft und ihre Exekutoren“. Hinzuzurechnen sind auch Handlungen gegen die kollaborierenden Gruppierungen und deren Vertreter. In der Zeit der „Akkomodation“ zu Beginn der Besetzung waren ­solche Handlungen eher selten. Eine Ausnahme stellten die zahlreichen Untergrundzeitungen (la presse clandestine) dar, die schon allein wegen ihrer Illegalität als Widerstand zu klassifizieren sind, aber auch weil ihr Inhalt durchweg der Pressezensur widersprach. Im Jahr 1940 erschienen insgesamt etwa einhundert von ihnen. In Flandern waren es allerdings nur vierzehn, und davon sieben auf flämisch. Noch im selben Jahr fanden um den 11. November, dem Tag des Waffenstillstands von 1918, in Brüssel und der Wallonie Demonstrationen statt. Der Ablauf war friedlich; an den Kriegerdenkmälern wurden Blumen niedergelegt. Dies nahm die Militärregierung, w ­ elche den Gedenktag abgeschafft hatte, aber noch hin. Anders reagierte die Militärverwaltung, als zur gleichen Zeit in Wallonien dagegen protestiert wurde, dass die von dort stammenden Kriegsgefangenen noch nicht entlassen waren und die Lebensmittelversorgung stockte. In Flandern wurde allerdings nur in Antwerpen demonstriert. Zusätzlich gab es Streiks im Bergbau und der Schwerindustrie, w ­ elche sich gegen die (einheimischen) Arbeitgeber richteten. Beide Male kam es zu Unterdrückungsmaßnahmen, auch zu Verhaftungen. Im ersten Fall war ja die Besatzungsmacht Adressat des Protests, im zweiten ging es um die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Funktion der belgischen Industrie als Zulieferer für das „Dritte Reich“. Ein Effekt ihrer Reaktion war eine Solidarisierung der beiden politisch durchaus unterschiedlich motivierten gesellschaftlichen Schichten Bürgertum und Arbeiterschaft. Als es nur ein halbes Jahr später, im Mai 1941, zu einer weiteren großen Streikwelle kam, unterstützte die bürgerliche Untergrundpresse diese ohne Einschränkung. Außer den bereits genannten Gründen gab es noch weitere, ­welche einen Nährboden für den Widerstand bildeten, nämlich die wiederkehrenden deutschen Eingriffe in das öffentliche Leben und auch die privaten Lebensverhältnisse, also die Repression der Besatzungsmacht allgemein. Dazu

223 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 136. Auch zum Folgenden. 224 Zu ­diesem Abschnitt insgesamt De Wever, S. 106 ff, S. 106 auch das folgende Zitat.

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zählten auch Maßnahmen wie die Einführung einer Sperrstunde von Mitternacht bis fünf Uhr morgens, mit früherem Beginn in kleineren Städten, die als wesentliche Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit empfunden wurde.225 Ihren alle Maßstäbe sprengenden Ausdruck hatte die Repression der Besatzungsmacht in der Verfolgung jüdischer Menschen. Aus dem kleinen Personenkreis derer, ­welche die frühen illegalen Zeitungen herausbrachten, bildeten sich oft die Urzellen erster aktiver, zum Teil schon bewaffneter Widerstandsgruppen. Anfänglich waren ihre Aktionen wenig effizient, nicht zuletzt, weil sie isoliert unternommen wurden. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 änderte sich das Bild. Die kommunistischen Gruppen gingen nunmehr zum aktiven Widerstand über. Die Aktionen waren jetzt organisatorisch wie strategisch besser vorbereitet. Folgende große Widerstandsgruppen hatten sich herausgebildet: die „Groupe G“ (Groupe Géneral Sabotage), die „Partisans“ und die „Armée Secrète (belge)“.226 Die Groupe G wurde von London aus gesteuert, die Partisans wurden von der im Geheimen operierenden belgischen kommunistischen Partei kontrolliert, die Armée Secrète bestand aus ehemaligen Angehörigen der belgischen Streitkräfte. Die Koordination der Widerstandstätigkeiten lag beim „Réseau de Résistance/Netwerk van de Weerstand“. Ähnlich wie in anderen besetzten westeuropäischen Ländern kam es mit Fortdauer der Besatzungszeit immer häufiger zu Sabotageakten und Attentaten auf Wehrmachtsangehörige, auch auf Kollaborateure. Die zunehmende Erwartung, das „Dritte Reich“ werde den Krieg verlieren, tat ein Übriges. Entsprechend ihrem Selbstverständnis und ihrem ersten Ziel, Sicherheit und Ordnung zu wahren, musste die Militärregierung reagieren. Wurde sie der Täter habhaft, konnten diese vor ein deutsches Militärgericht gebracht oder aber ins Reich deportiert werden. Wenn nicht, kam als Reaktion das nach dem Völkerrecht grundsätzlich zulässige Mittel der Erschießung von Geiseln in Betracht. Hierin gipfelt die Problematik der Reaktion der Militärregierung auf den belgischen Widerstand. Wegen des deutschen Überfalls auf Belgien im Mai 1940 war es ein selbstverschuldetes Dilemma. Zu Repressalien gegenüber Einwohnern eines besetzten Landes erging am 16. September 1941 ein Erlass des Chefs des OKW. Keitel legte darin Quoten fest; so sollten für einen getöteten Wehrmachtssoldaten ­zwischen 50 und 100 (!) Geiseln erschossen werden.227 Zu ­Keitels Erlass gab von Falkenhausen am 2. Oktober eine detaillierte Durchführungsverordnung heraus, indem er sich Unklarheiten darin zunutze machte. Absichtsvoll verschaffte er sich so gewisse Freiräume. Eine Woche später erhielt er einen zweiten Erlass Keitels, in dem dieser die Vorlage von Geisellisten seitens der Militärbefehlshaber forderte. Auch dazu traf von Falkenhausen Ende November detaillierte Ausführungsregelungen für die ihm nachgeordneten (Ober-) Feldkommandanturen. In ihnen wurde erstmals ­zwischen „Haftgeiseln“ und „Wahlgeiseln“ unterschieden. Zu „Haftgeiseln“, also bereits inhaftierten Personen, wurden alle Untersuchungs- und Strafgefangenen erklärt, für die Geiselnahme von „Wahlgeiseln“, also Personen, die sich in Freiheit befunden hatten, Kriterien aufgestellt. Insgesamt war dies eine umfangreiche Zusammenfassung des geltenden Rechts zur Auswahl und Behandlung von Geiseln. Dadurch wurde ferner die Kontrolle der damit befassten deutschen Dienststellen in Belgien geregelt. Der Militärbefehlshaber behielt sich ausdrücklich die Letztentscheidung über die Anzahl und die Exekution von Geiseln vor. Der Militärbefehlshaber sah die Geiselfrage als seinen ureigenen 225 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 143. 226 Vgl. Verhoeyen, La Belgique Occupée, S. 397 ff. 227 Vgl. hierzu im Einzelnen Weber, Innere Sicherheit, S. 71 ff; zu den beiden Geiselarten S. 74.

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Verantwortungsbereich an. Reeder war nur in zweiter Linie als Stellvertreter und Rechtsberater beteiligt. Die vom Militärbefehlshaber getroffenen Regelungen ließen das Bemühen um ein hohes Maß an Rechtsförmigkeit erkennen, soweit bei einem Besatzungs­regime des „Dritten Reiches“ überhaupt möglich, und hatten offensichtlich die Intention, sich von den Erlassen des OKW abzusetzen. Zu erwähnen ist noch, dass von Falkenhausen von dem Völkerrechtssachverständigen des OKW, Helmuth James von Moltke, beraten wurde, mit dem er seit 1940 in Kontakt stand.228 In Berlin befasste sich außer Keitel niemand anderer als der Reichspropagandaminister Goebbels mit der Reaktion auf Attentate und Sabotageakte. In seinem Tagebuch hielt er am 24. September 1941 fest: Ich halte dem Führer Vortrag über die Lage in den besetzten Gebieten. Auch da ist er genauestens im Bilde. Er teilt alle meine Ansichten, ist auch der Meinung, daß mit härterer Hand zugegriffen werden muss, will auch, […] daß im übrigen gegen die zunehmende Attentats- und Sabotage­seuche 229 mit drakonischen Strafen, in bedenklicheren Fällen mit Erschießungen vorgegangen wird.

Goebbels ging sogar so weit, einen Plan zur Benennung der in Paris und Brüssel zu erschießenden Geiseln vorzulegen, den Hitler billigte. Hier wurde in einer Art Überidentifikation des Ministers Hitler zum Allwissenden erhoben, um dann beglückt festzustellen, er teile alle Ansichten Goebbels’. In der Sache war allerdings Schlimmes zu befürchten, weil sie sich gegenseitig zu denkbar scharfen Reaktionen auf Attentate und Sabotage aufgestachelt hatten. Was den Umgang mit Geiseln anging, konnte dies aber noch abgewendet werden. Am 13. November 1941, also bevor der Militärbefehlshaber seine Anordnungen erlassen hatte, fand im Reichspropagandaministerium eine Besprechung z­ wischen Goebbels sowie von Falkenhausen und Reeder statt.230 Es ging darum, wie mit dem besetzten Belgien weiter verfahren werden sollte. Wieder einmal war nämlich der Gedanke aufgetaucht, eine Zivilverwaltung einzurichten. Es kam aber auch die Geiselfrage zur Sprache. Sowohl der Militärbefehlshaber wie der Militärverwaltungschef versuchten, mäßigend auf den Minister einzuwirken. „Vor allem Reeder gelang es, durch geschickte Darstellung einiger Vorfälle Goebbels von seiner pauschalen Forderung nach ‚wirksamen Sühnemaßnahmen‘ abzubringen.“ Diese Einschätzung beruht auf einem zehnseitigen Vermerk, den Reeder über die Besprechung verfasst hat. Sie habe „einen harmonischen Verlauf “ genommen. Anders war die Sicht in Goebbels’ Tagebucheintrag vom 14. November. Er charakterisierte seine Gesprächspartner. Ich habe eine lange Unterredung mit dem General von Falkenhausen, unserem Militärbefehlshaber in Belgien. Ich lege ihm noch einmal eindringlich meinen Standpunkt in bezug auf die Behandlung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten dar, sehe aber an seinen Gegenargumenten, daß mit ihm nicht viel zu machen ist. Einen viel besseren und politisch brauchbareren Eindruck macht der Chef der Zivilverwaltung [!], der frühere Kölner Regierungspräsident Reder [sic!]. Er geht auch auf meine Beweisführung sehr willig ein, und ich glaube Veranlassung zu der Hoffnung zu 231 haben, daß sich aufgrund dieser Unterredung in Belgien in nächster Zeit einiges ändern wird.

228 Brakelmann: Helmuth James von Moltke, 1907 – 1945, Eine Biographie, München 2007. S. 252 ff (254 f). 229 Tagebücher, Kapitel 2, Bd. 1, S. 485, auch zum Folgenden. 230 Wagner, ebd., S. 241, FN 19. Von dort auch das Zitat. Reeders Vermerk unter BA-MA RW 36/47 fol. 32 – 41. 231 Tagebücher, Kapitel 2, Bd. 2, S. 285. Auch zum Folgenden.

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Im Folgenden ließ Goebbels erkennen, dass er für die Einführung einer Zivilverwaltung ist und er Generäle als unpolitische Wesen ansieht. Diese Eintragung mag als fatales Lob für Reeder erscheinen. Möglicherweise hat sein geschicktes Auftreten bei Goebbels einen irreführenden Eindruck erweckt. Dieser wirkte jedenfalls nach; denn in einem internen Vermerk des Propagandaministeriums vom Mai 1942 hieß es über den Militärverwaltungschef, „dass er gegenüber dem Militärbefehlshaber unsere Linie hält“.232 Zur Exekution von Geiseln kam es vorerst noch nicht. Aber der Ton Reeders in seiner Ansprache bei einem Presseempfang Ende Mai 1942 war bemerkenswert deutlich und sehr scharf.233 Er hatte zum ersten Mal die gesamte belgische Presse eingeladen. Streng rügte er die „Sabotagetätigkeit“ von Teilen der belgischen Verwaltung und Justiz. Dabei habe die Militärverwaltung diese Institutionen doch in ihrer Autorität stärken wollen. Auch äußere sich ein Teil des Klerus deutschfeindlich, obwohl die katholische ­Kirche von der Militärregierung mit Großzügigkeit behandelt worden sei. Notfalls müsse diese die Bevölkerung „gegen ihre eigenen Rechtsbetreuer und Seelsorger“ schützen. Im Folgenden war von „drakonischen Maßnahmen“ gegenüber denen die Rede, die sich einem Befriedungsversuch der Militärregierung widersetzten. Schließlich warnte der Militärverwaltungschef noch alle, die mit England konspirierten. Bei diesen Strafhandlungen müsse „möglichst scharf “ durchgegriffen werden. Am Schluss forderte er „die Bereitschaft, aktiv für den Kampf gegen den Feind der europä­ ischen Kultur und Existenz einzutreten“, und verwies auf die „Flamen und Wallonen, die im Osten an der Seite der deutschen Wehrmacht“ kämpften. Der Militärverwaltungschef wollte offenbar deutlich machen, das weitere Schicksal des Landes hänge vom Wohlverhalten der Bevölkerung ab. Aber die Streiks nahmen weiter zu und die Militärverwaltung musste einsehen, dass sie nicht allein der schlechten Versorgungslage zuzuschreiben waren, vielmehr politischen Charakter hatten. Die Entscheidung über Geiselerschießungen rückte im Laufe des Jahres 1942 immer näher. Die ersten Geiselerschießungen sollen offiziell im Dezember 1942 mit der Exekution von zehn angeblichen Kommunisten begonnen haben.234 Etwa 2000 Personen sind während der Zeit der Besatzung als Geiseln festgesetzt worden. Davon wurden insgesamt etwa 350 exekutiert. Die Zahl steigerte sich von 15 im Jahre 1942 auf 189 im Jahre 1944, davon 65 während der Zeit der Zivilverwaltung ab Juli bzw. August. Eine andere Aufstellung gliedert die Exekutionen entsprechend den Akten des Prozesses gegen von Falkenhausen und Reeder nach Zeit, Ort und Anzahl der Geiseln auf. Danach hat die erste Geiselerschießung bereits im November stattgefunden.235 Auffallend ist, dass nach dieser Aufstellung in der nur knapp zweimonatigen Zeit der Zivilverwaltung die hohe Zahl von 110 Exekutionen stattfand. In die Verantwortlichkeit des Militärbefehlshabers fallen 240 Geiselerschießungen. Davon fanden die meisten in Brüssel statt. Den Geiseln kann kein Gesicht gegeben, wohl aber eine Beschreibung zuteilwerden. Es waren ausschließlich Männer im Alter ­zwischen 18 und 61 Jahren, ganz überwiegend z­ wischen 30 und 45 Jahren. Eine wichtige Kategorie war, aus welchem Landesteil Belgiens sie kamen; zwei Fünftel aus dem frankophonen Teil, ein Viertel aus dem flämischen und etwas über ein Viertel aus dem Großraum Brüssel. Knapp die Hälfte kam aus der Arbeiterschaft. 170 waren 232 Zitiert nach Wilken, Diener in Köln, S. 18. 233 Vgl. den Bericht des Vertreters des Auswärtigen Amtes vom 2. Juni 1942, ADAP, Serie E, Bd. II, S. 449 ff. Von dort auch die Zitate. Dazu auch Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 23. 234 Warmbrunn, ebd., S. 145 f (Tabelle auf S. 146). Auch zum Folgenden. 235 Weber, ebd., S. 186 f.

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Der Militärverwaltungschef in der Uniform eines Wehrmachtsbeamten. © cegesoma DO4/AGR (Picture No. 32692).

nach deutscher Einschätzung Mitglieder einer Widerstandsorganisation, 144 Beteiligte an Attentaten und Sabotageakten, nach einer belgischen Ermittlung nur 99.236 Wolfram Weber kommt zu dem Ergebnis, die Militärverwaltung habe zu dem äußersten Zwangsmittel als Reaktion auf den belgischen Widerstand nur in relativ wenigen Fällen gegriffen und bei der Auswahl der Geiseln wiederum polizeiliche und humanitäre Gesichtspunkte berücksichtigt.237„Relativ wenige Fälle“ dürfte im Vergleich zu anderen Besatzungsgebieten zutreffen. Auch das zweite mag grundsätzlich der Fall gewesen sein. Von Falkenhausen und Reeder haben in ihrem Kriegsgerichtsprozess immer wieder betont, bei den erschossenen Haftgeiseln habe es sich ausnahmslos um Personen gehandelt, „denen ein aktiver Widerstand gegen die Besatzung vorgeworfen“ worden sei. Soweit der Militärbefehlshaber Geiseln wegen Attentaten auf Wehrmachtsangehörige exekutieren ließ, war dies nach Kriegsvölkerrecht bei einer weiten Auslegung von Art. 43 der HLKO gedeckt. Gemäß dieser Vorschrift trifft der Besetzende, nachdem die gesetzmäßige Gewalt tatsächlich in seine Hände übergegangen ist,

236 Diese und weitere Angaben bei Verhoeyen, ebd., S. 552. 237 Weber, ebd., S. 167. Das folgende Zitat auf S. 173. Zum Folgenden vgl. S. 171.

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alle ihm zu Gebote stehenden Maßnahmen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und den regelmäßigen Gang der öffentlichen Angelegenheiten wiederherzustellen und zu sichern. Dabei soll er die im Land geltenden Gesetze aufrechterhalten, wenn nicht unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen. Der Conseil de Guerre, das Kriegsgericht in Brüssel, hat in seinem Urteil vom 9. März 1951 von Falkenhausen und Reeder nur wegen der Geiselerschießungen verurteilt, die wegen Anschlägen auf kollaborierende Landeseinwohner verübt worden waren. Reeder soll Vertretern des VNV versprochen haben, ­solche Attentate würden ebenso geahndet wie die auf Wehrmachtsangehörige. Weber weist explizit darauf hin; der Conseil de Guerre habe also die Unterschiedlichkeit der Motive von Geiselerschießungen bei seiner Urteilsfindung berücksichtigt. Warmbrunn folgt Weber in vorsichtigen Formulierungen.238 Auch er erwähnt, von Falkenhausen habe in seinem Prozess bezeugt, dass alle exekutierten Geiseln in Widerstandshandlungen verwickelt waren, die ihnen die Todesstrafe eingetragen hätten, wenn es zum Prozess gekommen wäre. „It appears to be true, that the Germans in Belgium never executed any ,genuine hostages‘ […]“. Von Falkenhausen habe diese Vergeltungsmaßnahmen mit größtem Widerwillen und unter extremem Druck von Keitel und dem OKW ausgeführt. Diese Feststellung könne weder verschleiern, dass trotz ­dieses Widerwillens die Zahl der Exekutionen 1943 und 1944 ständig angestiegen sei, noch, dass die Schonung der Wahlgeiseln keine moralische Rechtfertigung dafür sein könne. Damit verweist Warmbrunn implizit auf das noch größere moralische Problem der völligen Illegitimität der deutschen Besatzungsherrschaft in Belgien. Daran konnten auch die rechtlichen Unterscheidungen des Militärbefehlshabers nichts ändern. Schwer nachzuvollziehen ist die Wertung des belgischen Historikers Verhoeyen, welcher zum Ausdruck bringt, Geiselerschießungen nach Attentaten auf Wehrmachtsangehörige s­ eien sicherlich konform „aux dispositions légales (allemandes)“, also mit „deutschen“ Rechtsvorschriften gewesen, aber offenbar nur mit diesen. Dies hätte nicht notwendig dafür ausgereicht, um eine Verurteilung von Falkenhausens und Reeders auszuschließen.239 So aber stellt es eine indirekte Kritik an dem Kriegsgericht dar. Außer den umstrittenen, aber unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich vertretbaren Geiselerschießungen waren der Militärverwaltung zur Bekämpfung des Widerstands auch außerhalb des Völkerrechts liegende rechtswidrige Maßnahmen aufgegeben worden. Ihre Grundlage waren Hitlers „Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten“ vom 7. Dezember 1941, bekannt als „Nacht-­ und-­Nebel-­Erlass“.240 Sie legten fest, dass gegen nichtdeutsche Zivilpersonen bei diesen Straftaten, wenn sie die Sicherheit und Schlagfertigkeit des Reichs oder der Besatzungsmacht gefährdeten, grundsätzlich die Todesstrafe angebracht sei. In den besetzten Gebieten ­seien die Taten nur dann abzuurteilen, wenn schnellstmöglich ein Todesurteil verhängt und vollstreckt werden würde, „sonst sind die Täter, mindestens die Haupttäter, nach Deutschland zu bringen“. Dort s­ eien sie „dem Kriegsverfahren nur unterworfen, wenn besondere militärische Belange es fordern.“ Deutschen und ausländischen Dienststellen sei bei Fragen nach solchen Tätern zu erklären, „sie s­ eien festgenommen worden, der Stand des Verfahrens erlaube keine weiteren Mitteilungen.“ 238 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 145. Von hier auch das Zitat. 239 Verhoeyen, ebd., S. 553. 240 Abgedruckt bei Moll, Führererlasse, S. 213 f. Vgl. hierzu insgesamt Weber, ebd., S. 171 ff. Dort auch das Reeder-­ Zitat.

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Der Erlass intendierte ein „Verschwindenlassen“ im Reich, und zur Abschreckung sollte völlige Ungewissheit über das weitere Schicksal dieser Personen erzeugt werden. Opfer d ­ ieser Maßnahme wurden in Belgien etwa 3500 Personen. Die Militärverwaltung wich aber von dem Erlass ab, indem sie Franzosen aus den Norddepartments nach Huy (Provinz Lüttich) und Belgier nach ’s-­Hertogenbosch in den Niederlanden transportieren ließ. Eine Abmilderung war das eher nur für die Häftlinge, nicht für die in Ungewissheit bleibenden Familien und Freunde. Reeder „argumentierte“ in dem Nachkriegsprozess, „für die Betroffenen sei es immerhin besser gewesen, deportiert als füsiliert zu werden.“ So zynisch es klang, in der Sache traf es zu. Die sprachliche und inhaltliche Verklausulierung des „Nacht-­und-­Nebel-­Erlasses“ habe es, so Weber, der Militärverwaltung ermöglicht, ihn zu unterlaufen. Die zur Verurteilung zum Tode „anstehenden“ Häftlinge habe sie zu Haftgeiseln erklärt; diejenigen aber, deren Verurteilung zum Tode aus ihrer Sicht nicht zu rechtfertigen war, ließ sie deportieren. Der ­Conseil de Guerre habe zu dieser Handlungsweise festgestellt, es sei nicht erwiesen, dass Geiseln ins Reich deportiert worden ­seien. Die Militärregierung ließ belgische Widerstandskämpfer auch in das Lager Breendonk westlich von Mecheln verbringen. Dieses Lager wird im nächsten Kapitel behandelt, weil dort von Anfang an auch Juden inhaftiert waren. Insgesamt lässt sich bei der Reaktion der Militärregierung auf den Widerstand ein starkes Bemühen um Differenzierung und ein mögliches Maß an Rechtlichkeit feststellen. Das gilt vor allem für den Militärbefehlshaber selbst, nicht so ausgeprägt für Reeder.

4.7 Der Militärverwaltungschef und die Verfolgung der Juden in Belgien Die Vernichtung der europäischen Juden durch das „Dritte Reich“ war ein in der Geschichte einzig dastehendes Menschheitsverbrechen. Eine Beteiligung des Militärverwaltungschefs Eggert Reeder an der Verfolgung der Juden in Belgien ist ernsthaft nicht zu bestreiten; denn er hatte die zweithöchste Funktion in der Militärverwaltung, deren Wahrnehmung aus den Abläufen nicht weggedacht werden kann. Zu untersuchen ist jedoch sein konkreter Anteil, zu bewerten, soweit möglich, seine moralische Verantwortung. Die Bedeutung dieser Problematik rechtfertigt die Behandlung in einem eigenen Kapitel. Zur Verfolgung der europäischen Juden und insbesondere derer in Belgien sind mehrere Dokumentationen erschienen sowie zahlreiche enzyklopädische wie auch monographische Abhandlungen, in denen der Name Reeder immer wieder genannt wird. Im Einzelnen wird hierzu auf das Literaturverzeichnis verwiesen. Die Verfassung des Königreichs Belgien von 1831 gewährte allen Belgiern gleich welcher Herkunft und Religion dieselben Rechte.241 Das bestätigte die bereits 1794 durch die Franzosen eingeführte Judenemanzipation. Ende des 19. Jahrhunderts flohen zahlreiche osteuropäische Juden vor den Pogromen im zaristischen Russland nach Westeuropa. Mehrere Tausend blieben auf Dauer. Der alteingesessene Teil der jüdischen Gemeinschaft allerdings war bereits weitgehend assimiliert, aber auch den meisten „Neuankömmlingen“ gelang es, sich in die anderen Lebensumstände zu integrieren. Die Juden gehörten überwiegend der Stadtbevölkerung

241 Vgl. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 5, Einleitung, S. 18 f, auch zum Folgenden. (Im Folgenden zitiert: VEJ Bandnr./Dokumentnr.)

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an. Religiöses, politisches und kulturelles Zentrum war Antwerpen. Außer im Finanzwesen betätigten sie sich dort vor allem in der Diamantenindustrie. Eine weitere große Gemeinde bestand in Brüssel. Die alteingesessenen Juden fühlten sich überwiegend dem französischen Sprachraum zugehörig; die aus Osteuropa stammenden Juden pflegten dessen Traditionen und sprachen vielfach noch Jiddisch. Die Weltwirtschaftskrise und die seit Beginn des „Dritten Reiches“ steigenden Flüchtlingszahlen förderten in Belgien fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen. Die radikal-­ nationalistischen Verbände Verdinaso, VNV und Rex-­Bewegung waren sogar offen antisemitisch. Die Regierung reagierte mit einer restriktiven Politik; sie erkannte nur politische, aber nicht rassistische Verfolgung an, duldete aber illegale Einwanderung. „Ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit“ und „spürbaren Antisemitismus“ soll es allerdings nicht gegeben haben.242 Bis Mai 1940 kamen etwas mehr als 25.000 Juden aus dem Reichsgebiet nach Belgien.243 Sie waren zumeist mittellos und wurden von einem Hilfskomitee für jüdische Flüchtlinge unterstützt. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien im Mai 1940 flohen z­ wischen 10.000 und 15.000 der jüdischen Bewohner des Landes nach Frankreich. Überdies internierten die belgischen Behörden jüdische Deutsche und verbrachten sie vor der herannahenden Wehrmacht mit Zustimmung der französischen Regierung ebenfalls dorthin. Nur wenige Juden kehrten nach der Kapitulation der belgischen Streitkräfte zurück. Die Militärverwaltung unternahm zunächst nichts gegen die jüdische Bevölkerung. In ihren ersten Berichten wurde darauf hingewiesen, die Zahl der Juden sei gering und sie stellten kein Problem für das öffentliche Leben dar. Sie warnten vor unnötigem Vorgehen, das nur nachteilige Wirkungen hervorrufen würde.244 Die Atempause für die Juden in Belgien sollte aber im Herbst zu Ende gehen.

4.7.1 Die polizeilichen Zuständigkeiten in der Besatzungsverwaltung und das Lager Breendonk Um das Maß der Beteiligung des Militärverwaltungschefs an der Verfolgung der Juden in Belgien bestimmen zu können, sind zunächst die polizeilichen Zuständigkeiten in der Besatzungsverwaltung zu klären. Wie oben schon ausgeführt, gab es in der Verwaltungsabteilung ein Polizeireferat; die Polizeikräfte der Militärregierung, Feldgendarmerie und Geheime Feldpolizei, unterstanden aber dem Kommandostab. „Außerhalb“ der Militärregierung stand der Beauftragte der Sicherheitspolizei und des SD (BdS). Die Befugnisse des Militärverwaltungschefs ­diesem Beauftragten gegenüber werden kontrovers dargestellt. Hierbei spielte wesentlich mit, dass der Reichsführer SS, nachdem ihm das zunächst nicht gelungen war, beständig weiter versuchte, einen „Höheren SS- und Polizeiführer“ (HSSPF) in Brüssel einzusetzen. In dieser Ausgangslage sah ein belgischer Historiker für die Militärverwaltung, insbesondere für Reeder, den Beginn eines frustrierenden Kampfes, der auf lange Sicht nicht zu gewinnen gewesen sei.245 Dies ist aber allzu sehr vom Ende her betrachtet; die Dinge lagen wesentlich komplizierter. Dasselbe gilt für den Satz aus der Einleitung zur erwähnten mehrbändigen Dokumentation: 242 Wetzel, Frankreich und Belgien, S. 109. 243 Vgl. Meinen, ebd., S. 24. Zum Folgenden VEJ 5/Einleitung, S. 36 f. 244 Warmbrunn, ebd., S. 150. 245 Vgl. De Wever, Benelux-­Staaten: Integration und Opposition, S. 82.

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„Der Chef des Verwaltungsstabs [Reeder] hatte in der Folgezeit eine Schlüsselfunktion bei der Planung und Durchführung der Verfolgung und Deportation der belgischen [genauer: der in Belgien lebenden] Juden inne.“246 Wiewohl im Kern nicht unrichtig, ist es zu allgemein formuliert und bedarf der Differenzierung. Das Heer hatte, kurz gesagt, deshalb auf die Errichtung von Militärverwaltungen in den 1940 eroberten Gebieten Westeuropas bestanden, um die Macht der Besatzung möglichst allein auszuüben und vor allem der SS nicht das Feld zu überlassen. Andererseits war die „politisch-­polizeiliche Arbeit“, wie es in der Sprache des Regimes hieß, in der Sache unverzichtbar. In einem ausführlichen Vermerk vom 2. Juli 1940 kritisierte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, ein enger Vertrauter Himmlers, dass nun der Wunsch des Heeres verwirklicht worden sei, sich mit diesen Angelegenheiten zu befassen, und sie „naturgemäß nach ihrer [sic!] anders lautenden Auffassung über Juden, Freimaurer, Marxisten und Kirchenfragen zu behandeln“.247 Dabei bediene sich das Heer der fachlichen Kräfte der Polizei im eigenen Rahmen, aber ohne SS -Uniform und nicht unter Führung ihrer Polizei- und SS-Vorgesetzten, indem es sich diese als Geheime Feldpolizei eingliedere. ­Heydrich beklagte lebhaft die Folgen, daß Deutschland ja nie wieder Gelegenheit haben wird, in eine s­ olche wichtige Emigranten-, Juden- und Freimaurerzentrale hineinzustoßen, wie dies in Paris, Brüssel, Amsterdam usw. möglich war, und daß das bisher unmögliche Eingreifen und Tätigwerden der Sicherheitspolizei unendliche Erkenntniswerte verloren gehen läßt.

Er machte deshalb den Vorschlag: „Dem Militärverwaltungschef unterstellt wird ein Höherer SS - und Polizeiführer, der unter Unterrichtung ­dieses Militärverwaltungschefs seine fach­ lichen Weisungen im Rahmen der großen Linie vom Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ erhält. Aus ­diesem Vermerk wurde das gespannte Verhältnis ­zwischen dem Heer und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA), seit 1939 polizeiliche Machtzentrale des Regimes, mehr als deutlich. Dem Vorschlag zu dessen Lösung wurde aber bekanntlich wegen der Gegenwehr der militärischen Seite, vor allem Reeders selbst, nicht gefolgt. Gänzlich ausgeschlossen blieb das Reichssicherheitshauptamt allerdings nicht. Schon am Tag vorher, am 1. Juli 1940, war in Brüssel ein Sonderkommando von über zwanzig Polizeibeamten eingetroffen, die in die Geheime Feldpolizei aufgenommen worden waren und auch deren Uniformen trugen.248 Der Leiter meldete sich weisungsgemäß beim Militärverwaltungschef. Dieser selbst (!) hatte bereits im Monat zuvor Heydrich um Verstärkung der Kräfte der Geheimen Feldpolizei gebeten. Nachdem das OKW ausdrücklich dem RSHA eine Mitwirkung in der Brüsseler Besatzungsverwaltung zugestanden hatte, reiste Heydrich persönlich am 27. Juli zur offiziellen Einführung „seiner Statthalter“ beim Beauftragten der Sicherheitspolizei und des SD an. Zwei Tage davor hatte er der Dienststelle die Bearbeitung aller staatspolizeilichen Angelegenheiten übertragen.249 246 VEJ 5/Einleitung, S. 37. 247 Vermerk vollständig abgedruckt in der Dokumentation von Krausnick, Hitler und die Morde in Polen, in: VfZ 1963, S. 196 ff, dort S. 206 ff. Die Zitate auf S. 207 und S. 209. 248 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Meinen, Shoa in Belgien, S. 19. 249 Vgl. Weber, ebd., S. 43.

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Im Herbst 1940 erhielt die Brüsseler Dienststelle, ­welche seit September von dem SS- Obersturmbannführer Constantin Canaris, ein Neffe des Abwehr-­Chefs Admiral Canaris, geleitet wurde, eine verbindliche äußere Form. Nach einem Erlass des OKW vom 4. Oktober war hierzu ­zwischen dem Oberbefehlshaber des Heeres sowie dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei u. a. für den Befehlsbereich Belgien/Nordfrankreich die folgende Regelung getroffen worden.250 Danach sollte die Dienststelle die Bezeichnung „Der Militärbefehlshaber – Verwaltungschef – Dienststelle Sipo und SD“ (in Belgien und Nordfrankreich) erhalten. Dies bedeutete ein zumindest formales Unterstellungsverhältnis. Weiter gab der Oberbefehlshaber des Heeres sein Einverständnis, dass die Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD die Uniform der SS trügen. Der Dienststelle wurden keine Exekutivbefugnisse eingeräumt, vielmehr wurde sie in erster Linie mit der Erfassung und Überwachung von gegen das Reich gerichteten Bestrebungen der Juden, Emigranten, Freimaurer, Kommunisten und K ­ irchen betraut. Eine Unterstellung unter die Geheime Feldpolizei sollte nicht erfolgen, wohl aber eine enge Zusammenarbeit praktiziert werden. Die klare Trennlinie ­zwischen den Polizeikräften der Dienststelle Sipo und SD sowie der Geheimen Feldpolizei war schon ein erkennbarer Schritt weg von der Ausgangslage, wie Heydrich sie in seinem Vermerk angenommen hatte. Durch einen Erlass vom 2. Januar 1941, also drei Monate später, schrieb der Oberbefehlshaber des Heeres die Zuordnung zum Militärbefehlshaber noch einmal fest und erteilte d ­ iesem eine Weisungsbefugnis. Die daneben möglichen Weisungen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD sollten grundsätzlich über den Militärbefehlshaber ergehen. Die Brüsseler Dienststelle erhielt auch eine leicht geänderte Bezeichnung; sie lautete nunmehr „Der Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich. Der Beauftragte des Chefs der SP und des SD“. Organisatorisch bedeutete das Weglassen des Wortes „Verwaltungschef “ keine Änderung; der Behördenbegriff „Militärbefehlshaber“ umfasste auch den Militärverwaltungschef, auch wenn er nicht genannt wurde. Optisch allerdings verschoben sich etwas die Gewichte. Das Verhältnis des Militärbefehlshabers zu der Dienststelle wurde mit aller Deutlichkeit in Ziffer 4 festgelegt, wonach der Beauftragte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD seine im Erlass vom 4. Oktober 1940 umrissenen Aufgaben nach den Weisungen und Richtlinien des Militärbefehlshabers erfüllte. Er handele insoweit im Auftrag des Militärbefehlshabers. Es fragt sich nun, w ­ elche Schlüsse aus diesen grundlegenden Erlassen für die Verantwortlichkeit des Militärverwaltungschefs zu ziehen sind. Nach der Auffassung von Insa Meinen ist die Verantwortlichkeit ungeschmälert. „Reeder wusste sich eine außerordentliche Machtfülle zu sichern.“251 Die von ihm immer wieder angeführte Formel von der „Einheit der Verwaltung“, die sich am nationalsozia­listischen Führerprinzip orientierte, habe für die sehr weitgehend durchgesetzte Absicht gestanden, alle im Gebiet des Militärbefehlshabers tätigen deutschen Verwaltungs- und Wirtschaftsstellen selbst zu kontrollieren. „Dies bezog sich bemerkenswerter­weise auch auf die Brüsseler ,Dienststelle‘ bzw. den ‚Beauftragten‘ des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (Sipo-­SD) – also auf die Außenstelle des Berliner Reichssicherheitshauptamts.“ Reeder habe auch dafür gesorgt, dass die Dienststelle nicht dem Kommandostab, sondern dem Militärverwaltungschef zugeordnet worden sei. In der Tat hatte der Beauftragte der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) als Außenstelle des RSHA eine ähnliche Gliederung, insbesondere ein „Judenreferat“. Der Militärverwaltungschef

250 Hierzu ders., ebd., S. 40 und 42, sowie Meinen, ebd., S. 19 f. Von hier auch die Zitate. 251 Meinen, ebd., S. 17. Hier auch das folgende Zitat. Zum Folgenden vgl. S. 20.

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war bekanntlich auch bestrebt, alle deutschen Dienststellen zu kontrollieren, soweit das überhaupt möglich war. Es war nur konsequent, dass dazu gerade der BdS gehörte, ein wesentliches Stück polizeilich-­administrativer Macht. Zweierlei sollte klargestellt werden. Von den handelnden Personen und den Aufgaben her lag die Zuordnung des BdS zum Verwaltungsstab Reeders näher als zum (militärischen) Kommandostab von Harbous. Zum Zweiten war der Grundsatz der „Einheit der Verwaltung“ nicht etwa eine nationalsozia­listische Erfindung. Tatsächlich ist der Grundsatz älter und soll vom Begründer der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Otto Mayer (1846 – 1924), formuliert worden sein. Er konnte jedenfalls gegen eine sich sehr ausdifferenzierende Verwaltung ins Feld geführt werden, eine Entwicklung, die ebenfalls schon früher begonnen hatte. Reeder hatte diesen Grundsatz bereits bei den Auseinandersetzungen um die Verselbstständigung der Geheimen Staatspolizei gegenüber den Regierungspräsidenten beschworen. Wenn der Militärverwaltungschef ihm mit dem nationalsozia­listischen Führerprinzip in Verbindung brachte, hatte dies eher nur taktische Gründe. In der Sache will Meinen allerdings deutlich machen, und das ist der eigentliche Kern ihrer Darlegungen, der BdS sei nicht nur formell der Militärverwaltung unterstellt gewesen, vielmehr habe dieser „Heydrichs Gehilfen“ sachliche Weisungen erteilen können.252 Sie beruft sich dabei auf die grundlegende Studie des belgischen Historikers Albert De Jonghe über den Kampf ­zwischen Himmler und Reeder um die Einsetzung eines HSSPF in Belgien aus dem Jahre 1974. Weber widerspricht De Jonghes Auffassung, „daß die Dienststelle Sipo/SD der MV auch tatsächlich unterstanden habe“.253 Zur Begründung führe dieser nur (?) einen Erlass des OKH vom 2. Januar 1941 an. Seine Ansicht sei zu sehr dem Gedanken einer geordneten, streng rechtsstaatlichen Verwaltung verhaftet und werde den faktischen Gegebenheiten nicht hinreichend gerecht. Diese Gegenposition überrascht insofern etwas, als im genannten Erlass doch eindeutig von „Weisungen des Militärbefehlshabers“ die Rede ist. Im Übrigen ist sie zu allgemein und wenig fasslich. Sollte gemeint sein, die Dienststelle habe sich an Anweisungen der Militär­verwaltung nicht gehalten, würde dies ja ein Unterstellungsverhältnis voraussetzen. Weiter beruft sich Weber für seine Gegenposition auf Nachkriegsaussagen Reeders und des Dienststellenleiters Canaris. Diese sind schon deshalb von zweifelhaftem Wert, weil beide als im hohen Maße befangen angesehen werden müssen. Wenn Reeder in seinem Prozess das Verhältnis zur Sipo allenfalls als „Koordination“ kennzeichnete, räumte er zumindest ein abgestimmtes Vorgehen ein. Canaris’ Einlassung aus dem Jahre 1964, offenbar bei einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung, er sei dem Militärbefehlshaber unterstellt gewesen, habe seine Weisungen aber vom RSHA bekommen, ist in sich widersprüchlich und lässt außer Acht, dass er von beiden Stellen Weisungen erhalten konnte. An anderer Stelle stützt sich Weber ausdrücklich auf De Jonghe, welcher auf „die Einheitlichkeit der Verwaltung, soweit sie sich in der Zusammenarbeit z­ wischen der Militärverwaltung und der Dienststelle der Sicherheitspolizei und des SD zeigte, […] nachdrücklich hingewiesen“ habe.254 Weber nimmt sodann Bezug auf einen Vermerk des RSHA, in dem es hieß, wenn es nach der ursprünglich ablehnenden Haltung des Militärbefehlshabers gegenüber der Tätigkeit der Sipo/SD doch zu einer Zusammenarbeit ohne große Reibungen gekommen sei, dann zu Lasten der Dienststelle. Er hält die Schlussfolgerung De Jonghes für „verständlich“, die Leiter 252 Meinen, ebd., S. 17 mit Anm. 3. Vgl. auch De Jonghe, La lutte Himmler – Reeder pour la nomination d’un HSSPF à Bruxelles, S. 121 ff, S. 128 und S. 150 ff. 253 Vgl. Weber, ebd., S. 40 f, FN 69, auch zum Folgenden. 254 Weber, ebd., S. 174 ff. unter Verweis auf entsprechende Stellen von „La Lutte“. Von dort auch die Zitate.

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der Dienststelle hätten ihre Beziehungen zum RSHA „nicht zuungunsten der Militärverwaltung ausgebaut“, ebenso wie „die Versicherungen“ des Militärbefehlshabers und des Militärverwaltungschefs, mit den Genannten loyal zusammengearbeitet zu haben. Wie die Berufung auf De Jonghe an dieser Stelle mit der Ablehnung von dessen Standpunkt an anderer Stelle in Einklang gebracht werden könnte, ist nicht ersichtlich. Im Grunde erschüttert Weber seine eigene Position, die Unterstellung des BdS unter die Militärverwaltung sei rein formal gewesen. Insgesamt ist die Argumentation Webers wenig überzeugend. Meinen sieht im Gegensatz zu Weber in der Art und Weise der Zusammenarbeit z­ wischen Militärverwaltung und BdS eine Bestätigung ihrer Position.255 Für sie ist es gerade wesentlich, „dass es z­ wischen der Militärverwaltung und dem BdS nicht zu grundsätzlichen Auseinander­ setzungen, sondern vielmehr zu einer ‚harmonischen‘ Zusammenarbeit“ gekommen sei. Insbesondere zitiert sie eine andere Aussage Reeders in seinem Nachkriegsprozess: „Unsere dienstliche Zusammenarbeit war nicht nur reibungslos, sondern harmonisch, weil sie auf einem persönlichen Vertrauensverhältnis beruhte.“ Reeder habe deutlich werden lassen, er sei der Tonangebende gewesen; namentlich der Dienststellenleiter Ehlers habe sich ihm „in vielen schweren Fällen“ angeschlossen. Dies alles habe im Widerspruch zu der von ihm und von Falkenhausen „ausgegebenen Rechtfertigungslegende“ gestanden. Ungeachtet der von Meinen verwendeten sehr scharfen Formulierung ist ihr insgesamt Recht zu geben, dass die Äußerungen des Militärverwaltungschefs über das Wesen der praktizierten Zusammenarbeit und seiner maßgebenden Rolle dabei kaum mit der Behauptung vereinbar sind, die Unterstellung des BdS unter die Militärverwaltung sei rein formal gewesen. Noch bestehende Zweifel daran, das Unterstellungsverhältnis habe auch materiellen Charakter gehabt, könnten beseitigt werden, wenn im Folgenden konkrete Fälle der Zusammenarbeit in den Blick genommen werden. Dafür kommen das Lager Breendonk und im Zusammenhang damit das Instrument des Sicherheitshaftbefehls in Betracht, die auch von Meinen als erste angeführt werden.256 Reeder habe nämlich die Sipo/SD als Exekutivorgan der Militärverwaltung eingesetzt und sie im Februar 1941 mit eigenen Festnahmekompetenzen ausgestattet. Zugleich sei eine Kontrolle der sicherheitspolizeilichen Verhaftungen durch die Militärverwaltung eingeführt worden, von deren Zustimmung jede Inhaftierung abhängig gemacht wurde, die länger als vier Wochen dauerte. Für die Durchführung dieser als „Sicherheitshaft“ bezeichneten Form der „Schutzhaft“ habe der Militärverwaltungschef das Lager Breendonk bestimmt. Dies gilt es nun näher zu untersuchen. Der Eindruck, Reeder selbst habe das Lager Breendonk im Frühjahr 1941 gegründet, war allerdings falsch.257 Die Sipo/SD brachte anfangs der Besatzungszeit ihre Gefangenen in Haftanstalten der Wehrmacht unter. Als diese bald nicht mehr ausreichten, schlug die Dienststelle der Militärverwaltung die Festung Breendonk als Gefangenenlager vor. Offenbar stimmte sie zu. So wurde im August 1940 in der ehemaligen Festung aus dem 19. Jahrhundert ein solches Lager eingerichtet. Das Dorf Breendonk liegt etwas südlich von Antwerpen an der Straße nach Brüssel. Im September wurden die ersten Gefangenen dorthin gebracht. Sie konnten nicht von der Sipo/SD festgenommen worden sein, weil diese, wie geschildert, bis zum Frühjahr 1941 keine eigene Kompetenz zu Festnahmen besaß. Die Verhaftungen müssen demnach von der 255 Dazu Meinen, ebd., S. 18 f mit Anm. 9. Von hier auch das Zitat. 256 Dies., ebd., S. 17 f. Das folgende Zitat von S. 18. 257 Vgl. Zum Folgenden: Enzyklopädie des Holocaust, Stichwort „Breendonk“, S. 239 f, ferner Meckl, „Unter zweierlei Hoheit“, S. 26 ff.

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Feldgendarmerie oder der Geheimen Feldpolizei durchgeführt worden sein. In der Tat konnte sich die Dienststelle Sipo/SD ihrer bedienen, wenn sie zu einer Verhaftung die Autorisation der Militärverwaltung eingeholt hatte.258 Die Gefangenenzahl war mit 75 Häftlingen 1940 noch nicht sehr hoch. 1941 betrug sie insgesamt 400. Es waren etwa zu gleichem Anteil jüdische und (nichtjüdische) politische Gefangene. Als 1942 zur Durchführung der Deportation der Juden das Sammellager Dossin in Mecheln (fläm. „Mechelen“, frz. „Malines“) eingerichtet wurde, ging die Zahl der jüdischen Häftlinge stark zurück. Insgesamt waren in den vier Jahren seines Bestehens etwa 3500 Personen im Lager Breendonk gefangen gehalten worden. Dort starben auf Grund von Misshandlungen, Folter und der katastrophalen Lebensbedingungen etwa 300 Menschen. Vermutlich 450 ­wurden erschossen und 14 erhängt. Das Lager Breendonk selbst unterstand dem Leiter der Sipo/SD, SS-Leute bewachten die Häftlinge innerhalb der Festung und auch bei der Zwangsarbeit, w ­ elche sie durchweg leisten mussten. Angehörige der Wehrmacht stellten die Außenwachen. Zuständig für die Einlieferung in das Lager war in erster Linie die Brüsseler Dienststelle. Ab Ende 1941 lieferte die Militärverwaltung auch Geiseln ein. Um Häftlinge nach Breendonk einweisen zu können, bedurfte die Sipo/SD einer Autorisierung, nämlich dem erwähnten „Sicherheitshaftbefehl“. Sicherheitshaft als präventive Polizeihaft und Sicherheitshaftbefehl waren durch einen Erlass Reeders vom 6. Februar 1941 eingeführt worden.259 Jede Zivilperson konnte ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit in Sicherheitshaft genommen werden. Als Grund reichte aus, dass „die Verhängung der Haft notwendig erschien zur Verhinderung von Handlungen, die unmittelbar gegen das Reich gerichtet oder die geeignet waren, die deutschen Belange mittelbar durch Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verletzen.“ Die Dehnbarkeit der Formulierung mit der Folge weiterer Handlungsspielräume ist leicht zu erkennen. Wurde die Sicherheitshaft nicht vom Chef der Militärverwaltung selbst verhängt, sondern von der Dienststelle Sipo/SD, so galt ein kompliziertes Verfahren, das hier nur in Grundzügen wiedergegeben wird. Überschritt die Haftdauer sieben Tage, so war ein schriftlicher Haftbefehl zu erlassen. Die Dienststelle hatte darüber den Verwaltungschef der zuständigen (Ober-)Feldkommandantur zu unterrichten. Hielt dieser die Haftgründe nicht für ausreichend, so legte er die Sache dem Militärverwaltungschef zur Entscheidung vor. In jedem Fall musste ein Sicherheitshaftbefehl vom Militärverwaltungschef bestätigt werden, wenn die Haft länger als einen Monat dauerte, ohne dass ein Gerichtsverfahren eingeleitet wurde. Nur Inhaftierungen durch die Dienststelle, die weniger als sieben Tage dauerten und nicht zu einem Haftbefehl führten, wurden der Militärverwaltung nicht bekannt. Der Erlass Reeders ging auf den des OKH vom 2. Januar 1941 zurück, der ja einen Kompromiss mit dem Reichsführer SS enthalten hatte. Die von Reeder der Dienststelle gewährten Exekutivbefugnisse waren schon länger gewünscht worden; sie weiter zu versagen hätte mit Sicherheit zu einem verstärkten Drängen Heydrichs auf Erteilung geführt. Reeder setzte im Grunde die mit den früheren Erlassen des OKH eingeschlagene Linie fort. Daher ist die Formulierung Meinens überzogen, es sei im „nationalsozia­listischen Terrorapparat“ einmalig gewesen, dass „die Gestapo“ (als Teil von Sipo/SD) auf eine von der Militärverwaltung autorisierte Form der

258 Weber, ebd., S. 44. 259 Zu dem Erlass im Einzelnen Weber, a. a. O. Von dort auch das Zitat; vgl. auch Meckl, ebd., S. 28.

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„Schutzhaft“ habe zurückgreifen können, eben die „Sicherheitshaft“.260 Reeders weitere und durchaus positiv intendierte Zielsetzung war, die Dienststelle Sipo/SD möglichst umfassend unter Kontrolle zu halten. Zutreffend ist, der Militärverwaltungschef habe die Sicherheitshaft eingeführt, um gegenüber der Dienststelle Sipo/SD nicht das „Gewaltmonopol“ zu verlieren.261 Die Mitwirkung der Militärverwaltung bei einer Vielzahl von Verhaftungen durch die Sipo/SD führte aber auch zu einer wesentlichen Steigerung ihrer Verantwortung mit der Folge, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wenn die Lagerleitung Breendonks unmittelbar der Dienststelle Sipo/SD „Rechenschaft schuldig“ war, so bedeutete das letztlich doch auch die Verantwortlichkeit der Militärverwaltung. „Allerdings hatte sie sich im ersten Jahr des Bestehens des Lagers nicht weiter um die dortigen Zustände gekümmert.“ Am 9. September 1941 suchte endlich der Militärverwaltungschef selbst das Lager auf, vermutlich veranlasst durch Klagen aus der Bevölkerung. Auf Grund seiner Eindrücke berief Reeder eine Besprechung von Vertretern der Militärverwaltung mit dem Leiter der Sipo/SD Canaris in Brüssel ein. Dabei erklärte er insbesondere, der Militärbefehlshaber fordere eine Verbesserung der Ernährungslage. Aus Sicht des Generalarztes müsse der jetzige Zustand langfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod der Häftlinge führen. Von Falkenhausen möchte nicht, so schloss Reeder, „dass das Lager als ‚Hölle von Breendonk‘ in die Geschichte eingehe“. Der Militärverwaltungschef schickte kurz darauf seinen Vertreter von Craushaar mit anderen Beamten des Verwaltungsstabes und den Leiter der Dienststelle Sipo/SD nach Breendonk, um feststellen zu lassen, ob Mängel beseitigt worden waren, und gegebenenfalls weitere Weisungen zu erteilen. Das Ergebnis ihrer Besichtigung vom 26. September 1941 wurde einige Tage später in einem umfangreichen Vermerk für den Militärverwaltungschef zusammengefasst.262 Folgendes ist aus ihm wiederzugeben: Er enthielt eine Bestandsaufnahme des Lagerpersonals. Aktuell gebe es 346 Lagerinsassen, von denen sich 59 im Krankenrevier und 62 (außerhalb) im Lazarett befänden. Das war ein Indiz dafür, dass der Gesundheitszustand der Häftlinge sich nicht wesentlich verbessert haben konnte. In der Tat wurde festgestellt, dass das Revier überbelegt war mit Schwerkranken infolge Hungers. Sehr detailliert wurde die Verpflegung dargestellt; sie entspreche den rationierten Lebensmitteln der belgischen Zivilbevölkerung. Dabei wurde allerdings außer Acht gelassen, dass die Häftlinge schwere Arbeit leisten mussten. Seit Mitte September sei die Verpflegung verbessert worden. Die Erhöhung der Rationen wurde genau angegeben. Ob dies wirklich ausreichend war, ist fraglich. An Ort und Stelle habe der Vertreter des Militärverwaltungschefs mehrere Anweisungen getroffen. Darunter die, der Lagerkommandant sei persönlich dafür verantwortlich, „daß Mißhandlungen durch die gleichfalls inhaftierten Aufseher nicht stattfinden“. Misshandlungen der anderen Aufseher, die an der Tagesordnung waren, wurden gar nicht erst erwähnt. Dem Leiter der Dienststelle Sipo/SD wurde angekündigt, dass der Militärverwaltungschef einen grundlegenden Organisationsbefehl herausgeben würde. Darin werde er – Canaris – veranlasst werden, seinerseits eine Lagerordnung aufzustellen. Bis zu ihrer Fertigstellung verging aber doch noch erhebliche Zeit. Es liegt nahe, dass Auffassungsunterschiede ­zwischen der Militärverwaltung und der Sipo/SD die Ursache waren. Am 12. Mai 1942 wurde durch einen Organisationserlass von Falkenhausens das Lager Breendonk 260 Meinen, ebd., S. 17 f. 261 Meckl, ebd., S. 28. Zum Folgenden vgl. S. 33, von dort auch die Zitate. 262 VEJ 5/175, S. 473 ff.

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dem Militärverwaltungschef ausdrücklich unterstellt und auch mehrfach dessen Verantwortlichkeit benannt. Mit der Führung des Lagers sei der BdS betraut.263 Die Lagerordnung wurde noch später, erst am 19. August 1942, erlassen. Sie berücksichtigte die Wünsche des Militärbefehlshabers, hatte aber auf die Zustände in der Festung praktisch keinen Einfluss.264 Vor allem zeigte sich dies bei der auf Drängen der Militärverwaltung eingeführten regelmäßigen Kontrolle des Gesundheitszustands der Häftlinge. Der Lagerarzt protokollierte Gewichtsveränderungen, bei Misshandlungen aber sah er weg. Denn den Ursachen von Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung ging er nicht nach. Er hatte auch keine Hemmungen, in einer Übersicht für die Zeit vom Oktober 1942 bis Januar 1943 22 Mal Unternährung und mehrfach Ertrinken als Todesursache anzugeben. Hinter dem Begriff „Ertrinken“ verbarg sich Mord. Wachleute stießen Häftlinge in den Wassergraben der Festung und hinderten sie mit Gewalt daran, wieder an Land zu kommen. Trotz dieser grauenvollen Vorkommnisse konzentrierte sich die Militärverwaltung auf die Ernährungsfrage, zu der intern unterschiedliche Auffassungen bestanden. Bei einer Besprechung am 27. Januar 1943 stellte von Craushaar allen Ernstes die Frage: Will man die Häftlinge mit Rücksicht auf ihren geringen menschlichen Wert [!] allmählich verhungern lassen? Vor der Beantwortung ist zu berücksichtigen, dass das im Lande vielbesprochene Lager Breendonk zu einer Art ‚Visitenkarte‘ des Militärbefehlshabers geworden ist […].

Er fügte hinzu, die gegnerische Propaganda könne behaupten, die vorgeschriebenen Rationen würden den Häftlingen nicht vollständig ausgehändigt, sondern zum Teil unterschlagen. Die Besprechung hatte aber keine feststellbaren Auswirkungen. Die Ernährungslage änderte sich grundlegend erst im Herbst 1943, nachdem sich die Militärverwaltung wegen zusätzlicher Lebensmittellieferungen an das Belgische Rote Kreuz gewandt hatte. Während wenigstens in ­diesem Punkt, wenn auch spät, ein Wandel eintrat, wurde die Militärverwaltung gegenüber der Sipo/SD im Übrigen nicht aktiv, obwohl sie von den ständigen Misshandlungen der Häftlinge wissen musste. Allerdings suchte und fand sie im Winter 1943/44 eine alternative „Unterbringungsmöglichkeit“ in einem niederländischen Lager bei dem Ort Vught, nahe ’S-Hertogenbosch. Im April 1944 begann die Auflösung des Lagers Breendonk. Nach all dem ergibt sich, dass die Militärverwaltung die Möglichkeit hatte, über die Dienststelle Sipo/SD mit allem Nachdruck auf die Lagerführung einzuwirken. Insoweit wird die Auffassung Meinens von einem tatsächlichen Unterstellungsverhältnis der Dienststelle bestätigt. Geradezu unfassbar ist die Untätigkeit der Militärverwaltung angesichts der Misshandlungen im Lager und der Tötung von Häftlingen. Hier wirkten sich wohl allgemeine Verrohung in einem länger dauernden Krieg und die sozia­ldarwinistische Weltanschauung des NS-Regimes, verbunden mit Überforderung und Gleichgültigkeit, verheerend aus. Kennzeichnend ist, wenn zur Begründung einer Verbesserung der Ernährungslage nicht etwa humanitäre Gesichtspunkte angeführt wurden, sondern die Reputation des Militärbefehlshabers und der Hinweis auf Vorteile für die ausländische Propaganda. Nicht zuletzt Reeders Verhalten ist kaum erklärlich. Nur ein Besuch des Militärverwaltungschefs ist bekannt geworden. Letztlich überließ er seinem Vertreter das Weitere mit der Folge, dass die Missstände nur zu einem geringen Teil

263 BA-MA, RW 36/47. 264 Ausführlich zum Folgenden Meckl, S. 34 ff, das Zitat von S. 36.

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abgestellt wurden. Für einen Verwaltungschef mit unbestrittenen hohen Qualitäten ist dies ein niederschmetterndes Ergebnis. Das Lager Breendonk ist zu Recht als eines der schlimmsten in Westeuropa bezeichnet worden.265

4.7.2 Antijüdische Verordnungen: Von der Registrierung der Juden bis zur „Kennzeichnungspflicht“ In den ersten Monaten der Besatzungszeit blieben die Juden in Belgien unbehelligt. Bald aber glaubte die Militärverwaltung, trotz deren verhältnismäßig geringer Bedeutung sei „ein planmäßiges Vorgehen gegen die Juden notwendig, um dieser Frage in Belgien die g­ leiche Ausrichtung zu geben wie in den anderen von Deutschland besetzten oder beeinflußten ­Gebieten.“266 Bei einem Treffen ­zwischen dem damaligen Generalsekretär für Inneres, Vossen, mit Reeders Vertreter von Craushaar Anfang Oktober 1940 kündigte dieser, offenbar von Reeder vorgeschickt, an, dass bestimmte Maßnahmen gegen die Juden getroffen werden sollten, um sie „aus dem Wirtschaftsleben des Landes auszuschalten“.267 In einer Ausschusssitzung informierte Vossen seine Kollegen, die Besatzungsbehörde wolle die Generalsekretäre auffordern, selbst geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Dabei unterstrich er aber die von der belgischen Verfassung garantierten Freiheitsrechte des Einzelnen, so die Religionsfreiheit und die der öffentlichen Religionsausübung. Nach kurzer Diskussion waren „die Mitglieder einstimmig der Ansicht, dass die Generalsekretäre sich nicht dazu hergeben könnten, die Wünsche oder die Anordnungen der deutschen Behörden auszuführen.“ Die Militärregierung sah sich daraufhin gezwungen, die vorgesehenen antijüdischen Vorschriften in der Folgezeit selbst zu erlassen. Am 28. Oktober 1940 wurde in einer umfangreichen Verordnung zunächst entsprechend der im Deutschen Reich durch die „Nürnberger Gesetze“ 1935 eingeführten Festlegungen bestimmt, wer Jude sei.268 Weiter wurde den aus Belgien geflohenen Juden die Rückkehr verboten. Die Gemeindebehörden wurden verpflichtet, erstmals zum 30. November 1940 ein detailliertes Register der über 15 Jahre alten Juden einzurichten, die Juden, sich dazu anzumelden. In weiteren Abschnitten wurde die wirtschaftliche Tätigkeit von Juden eingeschränkt, unter anderem die Kennzeichnung von Gaststätten in jüdischem Besitz vorgeschrieben. Am selben Tag erging eine zweite Verordnung über das Ausscheiden von Juden aus Ämtern und Stellungen. Ihnen wurde die Befähigung abgesprochen, diese in öffentlichen Verwaltungen oder in Vereinen, Stiftungen oder Betrieben, an denen die öffentliche Hand beteiligt war, zu bekleiden. Auch könnten sie nicht Rechtsanwälte, Lehrer an öffentlichen Schulen und Hochschulen sowie nicht Geschäftsführer, Direktoren und Schriftleiter in Presse- und Rundfunkunternehmen sein. Spätestens bis zum 31. Dezember s­ eien sie zu entlassen, jüdische Beamte träten in den Ruhestand.269

265 Enzyklopädie des Holocaust, ebd., S. 239 f, noch schärfer Meinen, ebd., S. 18. 266 Auszug aus dem Jahresbericht der Militärverwaltung vom 15. Juli 1941, VEJ 5/171, S. 467 (künftig zitiert: Jahresbericht 1941). 267 VEJ 5/Einleitung, S. 38 und Dok. 157, S. 440 f, Protokoll der Ausschusssitzung der Generalsekretäre, daraus das Zitat. 268 VOBlB 1940, S. 279, einzelne Verordnungen sind auch in VEJ 5 abgedruckt. 269 VOBlB 1940, S. 288.

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Nachdem die Generalsekretäre es unter Hinweis auf die belgische Verfassung abgelehnt hatten, die Verordnungen selbst zu erlassen, stellte sich nun die Frage, ob sie nicht in der Konsequenz aus demselben Grund auch die Umsetzung verweigern mussten. Die Militärverwaltung beharrte aber darauf; sie bedurfte jedenfalls hier der „Hilfe“ durch die belgischen Behörden. Vor dem drohenden Konflikt bewahrte beide Seiten das „Comité permanent du Conseil de Législation“ (Ständiges Komitee des Rates zur Gesetzgebung).270 Dieses mit hohen Juristen besetzte, einflussreiche Beratungsgremium fand einen rechtlich fragwürdigen Ausweg darin, es handele sich um eine „collaboration passive“, die mit dem belgischen Recht vereinbar sei. Also legten die Kommunen ein „Judenregister“ an. In seinem erwähnten Bericht für das erste Jahr der Besatzung vom 15. Juli 1941 führte Reeder dazu aus, die örtlichen Behörden hätten sich „der neuen Aufgabe anfangs nur sehr zögernd und widerwillig unterzogen“.271 Die Ergebnisse der „Judenregistrierung“ können nur mit schlimmer Vorahnung des Kommenden wiedergegeben werden. Verlässliche Zahlen über die Größe der jüdischen Gemeinschaft in Belgien vor dem deutschen Überfall im Mai 1940 gibt es nicht.272 Dies hatte seinen Grund darin, dass die belgische Verfassung die Ermittlung der Religionszugehörigkeit nicht zuließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben belgische Behörden 65.000 Juden namentlich identifiziert, ob in dieser Gesamtzahl die 25.000 jüdischen Flüchtlinge aus dem deutschen Reichsgebiet ganz oder teilweise enthalten sind, ist ungeklärt. Ebenso wenig gibt es verbindliche Zahlen, wie vielen Juden noch die Flucht vor den Deutschen aus Belgien gelang. Die von der Besatzungsmacht festgestellten Zahlen liegen deutlich niedriger. In der Kartei des Judenreferats der Dienststelle Sipo/SD s­ eien, so Meinen, 56.186 Männer, Frauen und Kinder enthalten gewesen, die nach den deutschen Vorschriften als Juden angesehen wurden. Weniger als 7 % von ihnen hätten die belgische Staatsangehörigkeit besessen, denn der größte Teil der in Belgien lebenden Juden habe aus Emigranten, vor allem aus Osteuropa bestanden. Noch niedriger waren die Zahlen, die sich aus der ersten Judenregistrierung Ende 1940 ergaben; es waren 43.000, von denen nur etwas mehr als 4000 die belgische Staatsangehörigkeit besaßen.273 Die Diskrepanz zu den Zahlen des Judenreferats erklärt sich daraus, dass es sich in einem Fall um eine Art Stichprobe handelte, im Fall der Kartei um eine Ermittlung. Unabhängig von dieser Diskrepanz muss trotz der Strafandrohung in § 18 der Verordnung vom 28. Oktober 1940 bezweifelt werden, dass sich alle Juden registrieren ließen. Allerdings musste die Militärverwaltung die durch die erste Verordnung vorgeschriebene Registrierung von Unternehmen selbst durchführen. Ausnahmslos wurde demnach die Regel von der „collaboration passive“ nicht angewandt.274 Im selben Jahresbericht gab der Militärverwaltungschef dafür eine aufschlussreiche Erklärung. Die Erfassung der jüdischen Unternehmen wird durch eine besondere Dienststelle des Militärverwaltungschefs [Abt. Feind- und Judenvermögen in der Wirtschaftsabteilung] zentral durchgeführt. Eine Übertragung an belgische Behörden konnte vorerst nicht in Betracht kommen, da das deutsche Interesse bei den Arisierungsmaßnahmen überwiegt und eine loyale Mitarbeit 275 seitens der belgischen Behörden nicht erwartet werden konnte.

270 Hierzu und zu der tatsächlichen Umsetzung Meinen, ebd., S. 25. 271 Jahresbericht 1941, S. 468. 272 Hierzu vgl. Meinen, ebd., S. 24, auch zum Folgenden. 273 Jahresbericht 1941, a. a. O. 274 Meinen, ebd., S. 25. 275 Jahresbericht 1941, S. 468 f.

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Die Zahl der angemeldeten 7000 jüdischen Unternehmen habe in den einzelnen Wirtschaftszweigen nur einen geringen Teil ausgemacht. Mit Bezug auf eine jüngst ergangene Verordnungsregelung teilte Reeder mit, die „in jüdischem Eigentum“ stehenden Rundfunkapparate ­seien eingezogen worden. Damit solle der „von jüdischer Seite ausgehenden Flüsterpropaganda“ der Boden entzogen werden. Die Einziehung von Rundfunkgeräten hatte bekanntlich auch im Reich selbst zum antijüdischen „Repertoire“ gehört, wodurch in die Lebensgestaltung jüdischer Menschen massiv eingegriffen wurde. Nichtjüdische Bewohner Belgiens hörten aber mindestens im gleichen Maße „feindlicher Sender“ ab, und auf diese Weise konnte weiter „Feindpropaganda“ verbreitet werden. Tatsächlich sollte die Maßnahme den Juden das Leben vergällen. Zu der Verordnung über das Ausscheiden von Juden aus Ämtern und Stellungen vom 28. Oktober 1940 berichtete Reeder, die zur Durchführung dieser Maßnahmen zuständigen belgischen Ministerien hätten anfangs „gewisse Schwierigkeiten“ gemacht. Der Anteil der Juden am öffentlichen Dienst sei gering gewesen. Es s­ eien insgesamt lediglich 64 Staats- und Kommunalbeamte ausgeschieden. Die geringe Zahl der Betroffenen darf nicht über den hohen symbolischen Gehalt des Vorganges hinwegtäuschen; es ging darum, in der Diktion des Regimes formuliert, „den jüdischen Einfluss im öffentlichen Leben restlos auszuschalten“. Sodann charakterisierte Reeder in seinem Jahresbericht zwei weitere Verordnungen als Grundlage für die zum Teil schon vorher angelaufenen Maßnahmen der „Arisierung“. Sie waren am 31. Mai 1941 erlassen worden und stellten eine Verschärfung der bisher schon bestehenden Rechtslage sowie eine vereinheitlichende Neufassung dar.276 Reeder umschrieb den Begriff der „Arisierung“ entsprechend der NS-Ideologie als „Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und die Überführung jüdischer Unternehmen oder Beteiligungen in nicht jüdische Hände“. Die in den Verordnungen getroffenen einzelnen Regelungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, die jüdischen Vermögenswerte sollten derart sichergestellt werden, dass ein Zugriff seitens der Besatzungsmacht jederzeit möglich war. Alle wichtigeren Rechtsgeschäfte über jüdische Vermögenswerte erforderten die Genehmigung des Militärbefehlshabers. Eine rechtmäßige Überführung dieser Werte an Dritte sei also unmöglich gewesen, wenn sie nicht den deutschen Interessen entsprochen haben. „Die Neigung zur freiwilligen Arisierung“ sei von jüdischer Seite äußerst gering gewesen. Nunmehr könne „zwangsweise durchgegriffen werden“, wenn dies zweckmäßig erscheine. Die Verordnungen sollten Umfang und Tempo der „Arisierung“ erhöhen, die allein in den Händen der Militärverwaltung lag. Reeder betonte dabei, die „Arisierung“ von Unternehmen sei „für die Wirtschaftsverflechtung mit Deutschland von besonderer Bedeutung“. Daher sei es notwendig gewesen, „die Entwicklung hier selbst in die Hand zu nehmen und zunächst die Fälle herauszugreifen und zu klären, in denen eine Überführung der jüdischen Unternehmen oder Beteiligungen in deutsche Hände wünschenswert erschienen sei.“ Auf einem anderen Gebiet als dem der „Arisierung“ gelang es der Militärverwaltung, mehr Kooperation für antijüdische Maßnahmen von belgischer Seite zu erhalten. Der, wie erwähnt, von Reeder im April 1941 als neuer Generalsekretär des Innenministeriums durchgesetzte Gerard Romsée, Mitglied des VNV , gab auf Hinweis der Militärregierung mit Schreiben vom 29. Juli 1941 den Bezirkskommissaren und Bürgermeistern der freien Gemeinden die Anweisung, die Ausweise von Juden mit einem roten Stempel – „JUIF-JOOD“ – zu versehen,

276 VOBlB, S. 607 und S. 617. Zitate aus dem Jahresbericht 1941, S. 468 f.

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ähnlich wie das im Reich selbst einige Zeit früher geschehen war. Außerdem sollten sie der Sipo/SD Abschriften der Judenregister übersenden; sie waren die Grundlage für die deutsche Judenkartei.277 In der zweiten Jahreshälfte 1941 ergingen in kürzeren Abständen drei weitere antijüdische Verordnungen; die „legislatorische“ Verfolgung verschärfte sich. Die erste vom 29. August sprach Aufenthaltsbeschränkungen aus.278 Danach war Juden z­ wischen 20 Uhr und 7 Uhr der Aufenthalt außerhalb der Wohnungen verboten, während die allgemein im besetzten Belgien geltende Sperrstunde nur von Mitternacht bis 5 Uhr reichte. Indirekt stellte es auch ein abendliches Versammlungsverbot dar. Ebenfalls verboten wurde der Zuzug nach anderen Orten als Brüssel, Antwerpen, Lüttich und Charleroi. Damit sollte offenbar die jüdische Bevölkerung auf die genannten vier Städte konzentriert werden, um so Überwachung und letztlich auch den „Zugriff “ zu erleichtern. Tatsächlich hieß es in einem späteren „Sonderbericht“ des BdS vom 31. Januar 1942, diese Städte ­seien als „Sammelpunkte des Judentums in Belgien“ vorgesehen.279 Am 25. November folgte die „Verordnung über die Errichtung einer Vereinigung der Juden in Belgien“ (Vereeniging der Joden in Belgie/Association des juifs en Belgique, VJB/AJB).280 Zu ihrer Vorbereitung hatte Mitte Oktober eine Besprechung im Verwaltungsstab stattgefunden, bei der die Problematik der geplanten Regelung auf der Grundlage eines Entwurfs des SD erörtert wurde.281 Gegengründe, zum Beispiel eine Vereinheitlichung des zersplitterten Judentums, wurden als nachrangig gewertet. Sie müssten sich dem Ziel des Vorhabens unterordnen, nämlich die „moralische Ghettoisierung der Judenwirtschaft in Belgien, insbesondere deren Ausschaltung aus dem sozia­len [!] Leben“. Die Vereinigung erhielt den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, hatte ihren Sitz in Brüssel und sollte alle Juden mit Wohnsitz in Belgien zusammenschließen. Auf die Staatsangehörigkeit kam es offensichtlich nicht an. Die Zwangsmitgliedschaft aller Juden verstärkte deren „Isolierung“. § 3 Satz 1 bestimmte als (einen) Zweck der Verordnung, die Auswanderung der Juden zu fördern. Damit konnte aber nicht eine Auswanderung im üblichen Sinne gemeint gewesen sein.282 Sie war aus dem besetzten Belgien ohnehin praktisch unmöglich. Zudem hatte das RSHA bereits im Mai unter anderem den Leiter des BdS aufgefordert, „im Hinblick auf die zweifellos kommende Endlösung der Judenfrage […] die Auswanderung von Juden […] aus Belgien zu verhindern“; einige Monate später erließ Himmler sogar ein allgemeines Emigrationsverbot. Das RSHA plante bereits vor dem Angriff auf die Sowjetunion eine Abschiebung der europäischen Juden in die dort eroberten Gebiete. Aus dieser Perspektive ist also „Auswanderung“ zu lesen und die Vorschrift bekam so den makaberen Sinn, die Vereinigung solle hierbei mitwirken. Es spricht einiges dafür, dass Reeder als Inhaber eines hohen SS-Ehrenrangs diese Zusammenhänge bekannt waren; zumindest ist es nicht auszuschließen. Nach der Verordnung sollte die Vereinigung auch Träger des jüdischen Schulwesens und der jüdischen Wohlfahrtspflege sein, eine weitere Ausgrenzung. Sie wurde der Aufsicht des von Generalsekretär Romsée geleiteten Innenministeriums unterstellt. Dies entsprach der Grundauffassung der Militärregierung, ihre Verordnungen möglichst durch die belgischen Behörden 277 Vgl. VEJ 5/172, S. 470. 278 VOBlB 1941, S. 703. 279 Klarsfeld/Steinberg, Endlösung in Belgien, S. 6 ff (S. 12). 280 VOBlB 1941, S. 798. Vgl. dazu Meinen, ebd. S. 59 f. 281 VEJ 5/176, S. 478 ff. 282 Zum Folgenden ausführlich Meinen, ebd., S. 62 ff. Hier auch zum Folgenden.

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ausführen zu lassen. Zudem bedurften nach § 4 nicht nur die – von Reeder ohnehin vorgegebene – Satzung, sondern überhaupt alle grundsätzlichen Entscheidungen der Vereinigung über ihre Tätigkeit der Genehmigung des Militärverwaltungschefs. Selbst das Leitungspersonal wurde von der Militärverwaltung bestimmt; sie setzte den Vorstand der Vereinigung ein und ernannte zu dessen Vorsitzenden den Großrabbiner Salomon Ullmann. Faktisch übten Militär­verwaltung und Sipo/SD die Kontrolle über die Vereinigung aus. Nach Veröffentlichung der Satzung konnte die Vereinigung der Juden ihre erste und organisatorisch grundlegende Aufgabe erfüllen, die Umsetzung der Zwangsmitgliedschaft. Dies geschah im Frühjahr 1942 entsprechend einer Weisung der Militärverwaltung. Die besondere Rolle des Militärverwaltungschefs äußerte sich auch in zwei in der Verordnung ebenfalls enthaltenen Ermächtigungen, einmal zum Erlass von Durchführungs- und Ergänzungsvorschriften von grundlegender Bedeutung, vor allem aber durfte er bestehende jüdische Vereinigungen, Anstalten, Stiftungen und Einrichtungen in die neue Vereinigung der Juden eingliedern oder auflösen. Reeder ließ im Tätigkeitsbericht Nr. 18 der Militärverwaltung vom 21. Dezember 1941 erkennen, dass er hiervon vollständig Gebrauch machen werde.283 Solche Eingliederungen entsprachen auch der Zielsetzung der Militärregierung, einen einzigen Ansprechpartner auf Seiten der Juden bei der Durchführung der weiteren gegen sie geplanten Maßnahmen zu haben. Umgekehrt war die Situation für die Vereinigung der Juden völlig anders. Sie hatte nicht nur mit der Militärregierung in Brüssel und der Sipo/SD zu tun, sondern auch mit (Ober-)Feldkommandanturen und einer Vielzahl weiterer Dienststellen.284 Selbst innerhalb der Militärregierung wurde ihr kein genereller Ansprechpartner benannt, vielmehr musste sie sich je nach Zuständigkeit an unterschiedliche Mitarbeiter wenden. Befehle erhielt die Vereinigung der Juden hauptsächlich von der Militärregierung und dem BdS; mit beiden musste sie sich abstimmen. „Vorbild“ für die VJB /AJB war die zwei Jahre zuvor gegründete „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Die Bildung solcher Zwangsvereinigungen stellte auch aus folgendem Grund eine Infamie dar. Sie musste zwangsläufig deren Leitungen immer wieder in ein auswegloses Dilemma ­zwischen ihren Mitgliedern und deutschen Stellen bringen, in Belgien also vor allem der Militärverwaltung und dem BdS. Am 1. Dezember erging dann die Verordnung über das jüdische Schulwesen.285 Sie verpflichtete die VJB/AJB zur Errichtung jüdischer Volksschulen, fakultativ auch Schulen anderer Schulformen, bezeichnenderweise keine Gymnasien. Juden durften nur diese Schulen besuchen und auch nur dort unterrichten. Es verstand sich von selbst, dass nichtjüdische Schüler nicht aufgenommen werden durften, ohne dass dies ausdrücklich erwähnt wurde. Durch diese Verordnung dürfte die Absonderung des jüdischen vom nichtjüdischen Teil der belgischen Gesellschaft ein weiteres Mal verstärkt worden sein. Im Jahr 1942 wurden die rechtlichen Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung zunächst durch eine „Verordnung über die Ausreise von Juden“ vom 17. Januar fortgeführt.286 Danach war ihnen die Ausreise aus dem belgischen Staatsgebiet nur mit einer schriftlichen Genehmigung der zuständigen Feld- oder Oberfeldkommandantur gestattet. Anzunehmen war ferner, dass die Genehmigungen nur ausnahmsweise erteilt werden würden. Diese Verordnung hatte 283 Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 4 f. 284 Dazu Meinen, ebd., S. 60 ff. 285 VOBlB 1941, S. 801. 286 VOBlB 1942, S. 836.

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ersichtlich den Zweck, die in Belgien lebenden Juden im besetzten Gebiet festzuhalten. Praktisch möglich wäre noch eine Ausreise in die Niederlande oder eher noch nach Frankreich gewesen, etwa mit der Absicht, in dem größeren Nachbarland leichter untertauchen zu können. Die Planung einer späteren Abschiebung der Juden nach Osteuropa wird bei der Verordnung auch im Hintergrund gestanden haben.287 Bemerkenswert ist auch der zeitliche Zusammenhang mit der „Wannsee-­Konferenz“. Drei Tage später, am 20. Januar 1942, fand unter Heydrichs Leitung eine unter d ­ iesem Namen bekannt gewordene Besprechung hochrangiger Vertreter der Reichsministerien und der SS statt, bei der es um die Deportation aller europäischen Juden ging. Den Kulminationspunkt der antijüdischen Verordnungen stellte die „über die Kennzeichnung der Juden“ vom 27. Mai 1942 dar. Dahinter verbarg sich die Einführung des „Judensterns“, die im Reich bereits am 1. September des Vorjahres erfolgt war. Die Verordnung des Militärbefehlshabers hatte eine besondere Vorgeschichte.288 Bei einer Besprechung des Judenreferenten Eichmann im RSHA mit den Judenreferenten aus den besetzten Gebieten am 4. März 1942 war die gleichzeitige „Kennzeichnung“ in Frankreich, Belgien und den Niederlanden vereinbart worden. Unter Bezug darauf lud die Pariser Dienststelle dorthin ein, wo am 14. März die Einzelheiten einer Verordnung, insbesondere die Sprachbestimmungen, erörtert wurden.289 Während die Kennzeichnungspflicht in den Niederlanden Ende April in Kraft trat, kam es in Belgien wegen besatzungspolitischer Bedenken des Militärverwaltungschefs zu Verzögerungen. Reeder hatte sie vorab schon formuliert: „Von der Einführung des Judensterns wurde […] bisher Abstand genommen, da anzunehmen ist, daß hierdurch zugunsten der Juden eine Mitleidsbewegung entsteht, der die bisher uninteressierte Bevölkerung fernstand.“ Wenige Tage später soll sich daraufhin der Leiter der Dienststelle Sipo/SD in Paris an das RSHA gewandt haben, damit auf den Militärverwaltungschef in Brüssel Einfluss genommen werde. Ob und wie das geschehen ist, insbesondere, ob Himmler selbst sich an Reeder gewandt hat, steht nicht fest. Irgendeine Art der Einflussnahme muss aber erfolgt sein. Denn am 27. Mai erließ der Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich schließlich doch die genannte Kennzeichnungsverordnung.290 Danach war Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten, verboten, „sich in der Öffentlichkeit ohne den Judenstern zu zeigen“. Dieser wurde mit penetranter Genauigkeit wie folgt beschrieben: Er bestehe „aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ‚J‘“. Er sei auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes aufgenäht zu tragen. In der Strafvorschrift für den Fall von Zuwiderhandlung waren nicht nur, wie sonst auch, Gefängnis und Geldstrafe angedroht, vielmehr konnten daneben oder anstelle der Strafe polizeiliche Maßnahmen angeordnet werden. Das zielte auf „Sicherheitshaft“. Angeblich soll Reeder seinen Widerstand gegen die Kennzeichnungspflicht nicht aufgegeben haben.291 Entweder hätte sich von Falkenhausen ihm gegenüber durchgesetzt, oder Reeder hätte einen inneren Vorbehalt angedeutet, oder beide hätten den Erlass der Verordnung als unvermeidbar angesehen. Das alles sind aber nur Vermutungen. Nachdem die Verordnung erlassen war, unternahm der Militärverwaltungschef jedenfalls das Erforderliche, sie durchzusetzen. 287 Vgl. auch Meinen, ebd., S. 63. 288 Zur Vorgeschichte und zur Durchführung der Verordnung im Einzelnen Meinen, ebd., S. 26 ff. 289 Einladung vom 10. März und Besprechungsvermerk bei Klarsfeld/Steinberg, Endlösung in Belgien, S. 15 ff. Zum Folgenden mit Zitat vgl. S. 20. 290 VOBlB 1942, S. 943 f. 291 Reitlinger, Endlösung, S. 389, allerdings ohne jeden Beleg.

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Am selben Tage nämlich erließ der Militärverwaltungschef eine Durchführungsverordnung.292 Darin waren äußerst komplizierte Befreiungsmöglichkeiten von der „Verpflichtung zum Tragen des Judensterns“ für Partner von Mischehen enthalten. In der Schlussvorschrift wurde angeordnet, für „die rechtzeitige Beschaffung der Kennzeichen haben die zum Tragen verpflichteten Personen selbst zu sorgen“. Kennzeichen s­ eien in beschränkter Zahl bei den Registrierungsbehörden in Empfang zu nehmen. Nicht nur mussten also die Juden den sie diskriminierenden „Gelben Stern“ selbst abholen, sondern die belgischen Kommunen wurden auch als „Verteilungsstelle“ eingesetzt. Die Militärverwaltung wies die belgischen Behörden und auch die Vereinigung der Juden in Belgien darauf hin, Verstöße gegen die „Kennzeichnungsverordnung“ hätten die Einweisung in das Lager Breendonk zur Folge.293 Die Verteilung des „Judensterns“ wurde von den belgischen Kommunen offensichtlich ohne Widerspruch vorgenommen. Anders verhielt sich die Bürgermeisterkonferenz der Brüsseler Agglomeration (der oben geschilderte Zusammenschluss zu Groß-­Brüssel war noch nicht erfolgt). Sie protestierte mit einem Schreiben vom 4. Juni 1942 an die Militärverwaltung.294 Die „Zweckmäßigkeit“ der Maßnahme ließ sie ausdrücklich unerörtert. Sie hätte aber die Pflicht, ihr zur Kenntnis zu bringen, „daß Sie unsere Mitarbeit zur Durchführung […] nicht verlangen können. Eine große Anzahl der Juden sind Belgier, und können wir uns nicht entschließen, einer Vorschrift beizupflichten, die der Würde eines jeglichen Menschen […] direkt Abbruch tut.“ Dieser sei umso schlimmer, als er den Betroffenen untersage, Ehrenzeichen „unserer“ nationalen Orden zu tragen. In der Tat war dies in § 2 verboten worden; die Vorstellung eines mit Orden geschmückten, zugleich mit dem „Gelben Stern“ diskriminierten Juden schreckte wohl den Verordnungsgeber ab. Der Entschluss, einen solchen Protestbrief zu verfassen, wurde wohl dadurch erleichtert, dass er von einem Kollektiv stammte. Der überaus höflich formulierte Brief der Bürgermeisterkonferenz war in der Sache sehr mutig. Er führte der Militärverwaltung vor Augen, dass sie mit der Kennzeichnungsverordnung den Betroffenen die Menschenwürde absprach. Dieser Mut wird auch nicht in seinem Wesen gemindert, wenn bei dem Protest auch andere Motive eine Rolle gespielt haben sollten, nämlich die Verhaftung einer großen Zahl von Geiseln in Brüssel.295 Die Brüsseler Bürgermeister, ­welche bis dahin die antijüdischen Verordnungen ausgeführt hatten, kündigten in aller Form ihre Bereitschaft zur Kooperation auf. Das war ein Wendepunkt. Die Militärregierung ließ nun die Oberfeldkommandantur Brüssel die „Judensterne“ verteilen. Den Konflikt mit den Brüsseler Bürgermeistern wollte sie offenbar nicht eskalieren lassen. Da sie zu wenig Zeit für die Verteilung angesetzt hatte und auch ihr Bestand an „Gelben Sternen“ begrenzt war, zwang die Militärverwaltung die Vereinigung der Juden in Belgien, die weitere Verteilung zu übernehmen und machte sie so faktisch zu Komplizen, ohne dass die Vereinigung sich ernstlich hätte wehren können. Mit der „Kennzeichnungsverordnung“ war die Herausgabe antijüdischer Vorschriften immer noch nicht am Ende. Schon wenige Tage später, am 1. Juni 1942, erließ der Militärbefehlshaber eine „Verordnung zur Ausübung von Heilberufen durch Juden“.296 Den Juden wurde generell verboten, in irgendeinem Heilberuf vom Arzt bis zum Heilgymnasten zu praktizieren. Ausnahmen konnten nur insoweit zugelassen werden, „als sie für die ausreichende gesundheitliche 292 VOBlB 1942, S. 945. 293 Hierzu und zum Folgenden vgl. Meinen, ebd., S. 27 f. 294 VEJ 5/193, S. 510 f. 295 Hierzu im Einzelnen Meinen, ebd., S. 28 f; auch zum Folgenden. 296 VOBlB 1942, S. 947.

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Betreuung der jüdischen Bevölkerung erforderlich“ waren. Am selben Tag erging noch die „Verordnung über Aufenthaltsbeschränkungen für Juden“, ­welche die im August des Vorjahres erlassene verschärfte.297 Die Dauer der Sperrstunde blieb unverändert, aber der Begriff „Wohnungen“ wurde insofern präzisiert, als nunmehr von der „normalen Wohnstätte“ die Rede war, mit der „die im Judenregister eingetragene Wohnung“ gemeint war. Dies stellte zugleich ein Verbot gegenseitiger Besuche dar und machte abendliche Geselligkeit unmöglich. Gerade aber eine bedrängte Minderheit brauchte diese Form der Kommunikation. Zusätzlich wurde die Beherbergung von Juden verboten. Damit sollte vor allem das „Untertauchen“ verhindert werden. Der Militärverwaltungschef kommentierte in seinem 20. Tätigkeitsbericht vom 15. Juni 1942 die jüngst erlassenen Verordnungen folgendermaßen.298 „In der Ausschaltung des Judentums aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben“ sei mit der „Untersagung der Ausübung des Heilberufes“ die „letzte Lücke“ geschlossen worden. Das Gebot, sich während der Sperrzeit ausschließlich in der eigenen Wohnung aufzuhalten, vervollständige die „sicherheitspolizeiliche Überwachung“. Schließlich sei durch die „Einführung des Judensterns die Absonderung des Judentums auch nach außen hin sichtbar zum Ausdruck gebracht worden“. Reeder hatte damit auf fatale Weise Recht; denn der „Judenstern“ brachte äußerlich zum Ausdruck, was mit jeder Verordnung zunehmend in der Sache herbeigeführt worden war. Zugleich wurden Juden für weitere Maßnahmen öffentlich kenntlich. Die belgische Bevölkerung hatte bis dahin die antijüdischen Verordnungen der Militärregierung gleichmütig und ohne nennenswerten Protest hingenommen.299 Die Kennzeichnungsverordnung aber bewirkte einen Schock und löste Empörung aus. Ein Vorstandsmitglied der Zwangsvereinigung hielt fest, die Juden in Brüssel mit dem Davidstern herumlaufen zu sehen, gelber Stoff mit dem B ­ uchstaben J in der Mitte, war der traurigste Anblick. Aber die Belgier haben sich großartig verhalten, sie taten so, als würden sie nichts sehen, und zeigten sich sehr zuvorkommend gegenüber allen, die das Kennzeichen tragen mussten.

Die Untergrundzeitung „La Libre Belgique“ brachte einen Aufruf: „Bürger! Aus Hass auf die Nazis – und aus Selbstrespekt: Tu, was du bisher nicht getan hast: Grüße die Juden!“ Auf der anderen Seite ist nicht bekannt geworden, dass die belgische Polizei Juden, die ohne den „Gelben Stern“ angetroffen wurden, verhaftet hätte. Wohl aber schritt sie ein, wenn durch den „Judenstern“ gekennzeichnete Personen in der Öffentlichkeit attackiert wurden.300 In dem gerade wiedergegebenen Tätigkeitsbericht führte Reeder weiter aus, „die Judengesetzgebung in Belgien“ könne „nunmehr als abgeschlossen betrachtet werden.“ Das sollte sich nicht als ganz zutreffend erweisen. Es ergingen doch noch zwei von ihm selbst in Vertretung des Militärbefehlshabers unterzeichnete Ergänzungsverordnungen. Die eine betraf noch einmal den Verfall des Vermögens von Juden zugunsten des deutschen Reiches, die zweite zusätzliche wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Juden.301 Eine neue Stufe des antijüdischen Terrors 297 VOBlB 1942, S. 948. 298 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 26 f. Von hier auch die zitierten Äußerungen des Militärverwaltungschefs. 299 Vgl. De Wever, Benelux-­Staaten, S. 98. Zum Folgenden VEJ 5/Einleitung, S. 56. Von hier auch die Zitate. 300 Vgl. Meinen, ebd., S. 30. 301 Vom 1. August 1942, VOBlB, S. 982, und vom 21. September 1942, VOBlB, S. 1034.

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hatte aber bereits begonnen. Im Zeitraum des Erlasses dieser Verordnungen waren die ersten zehn Deportationszüge nach Osten abgefahren. Mit einem weiteren Satz hatte der Militärverwaltungschef ebenfalls auf makabre Weise Recht: „Die Juden haben nur äußerst beschränkte Lebensmöglichkeiten.“ Das war ja auch der Zweck der insgesamt 17 antijüdischen Verordnungen, die seit Ende Oktober 1940 erlassen worden waren. Die in Belgien lebenden Juden sollten nicht nur von der übrigen Bevölkerung abgesondert, sondern auch entrechtet und zu einer kaum mehr als vegetativen Lebensführung herabgewürdigt werden. Die über einen längeren Zeitraum nacheinander erlassenen Verordnungen legten sich um sie wie immer enger werdende eiserne Reifen um einen Körper.

4.7.3 Die Deportation nach Westen und die „große“ Deportation nach Osten Nach seiner Feststellung vom Abschluss der Judengesetzgebung in Belgien und deren Wirkung traf der Militärverwaltungschef in seinem Tätigkeitsbericht noch eine zentrale Aussage: „Der nächste Schritt wäre nunmehr ihre Evakuierung aus Belgien, die jedoch nicht von hier aus, sondern nur im Zuge der allgemeinen Planung von den zuständigen Reichsstellen veranlaßt werden kann.“ Dies klang, als habe die Militärverwaltung im besetzten Gebiet das Ihre getan; die Juden aber aus Belgien herauszuschaffen, sei die Aufgabe anderer Stellen im Reich selbst. Erneut zeigte sich hier, dass Reeder über die im Jahre 1942 entwickelten Planungen zur Judendeportation informiert gewesen sein musste. Die „Wannsee-­Konferenz“ hatte bereits Zahlen festgelegt, wie viele Juden insbesondere auch aus westeuropäischen Ländern in den Osten deportiert werden sollten. Für Belgien betrug die Zahl 43.000.302 Dies war auch die Zahl, die sich, wie erwähnt, bei der „Judenregistrierung“ Ende 1940 ergeben hatte. In den Monaten nach der Konferenz wurden diese Planungen bei Besprechungen im RSHA konkretisiert. Vor ihrer Umsetzung wurde die Militärverwaltung ihrerseits aktiv. Reeder drückte es in seinem Tätigkeitsbericht folgendermaßen aus: Bis zu d ­ iesem Zeitpunkt [sc. an dem die ‚Evakuierung‘ veranlasst wird] wird die Militärverwaltung dafür sorgen, daß die arbeitseinsatzfähigen Juden bei kriegswichtigen Arbeiten nützlich eingesetzt werden. Zur Zeit sind die ersten jüdischen Arbeitsgruppen zu Bauarbeiten in Nordfrankreich in Marsch gesetzt worden.

Es handelte sich hier um Arbeiten beim Bau des „Atlantikwalls“.303 Dafür wurden dringend Arbeitskräfte benötigt, die aus verschiedenen Gründen nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung standen. Freiwillige gab es kaum, eine generelle Zwangsarbeitsverpflichtung wurde in Frankreich und auch in Belgien erst später eingeführt. Die Arbeiten galten als gefährlich, besonders weil die Baustellen von den Alliierten bombardiert wurden. Als Ausweg wurden nun „arbeitseinsatzfähige Juden“ herangezogen. Im jüdischen Teil der Bevölkerung herrschte hohe Arbeitslosigkeit, weil er ja aus dem Wirtschaftsleben weitestgehend „ausgeschaltet“ war. ­Reeders Formulierung, sie würden „bei kriegswichtigen Arbeiten nützlich eingesetzt“, insinuierte,

302 Wetzel, Frankreich und Belgien, S. 117. 303 Zum Folgenden Meinen, ebd., S. 31 f. Von dort auch das Zitat aus der Schlumprecht-­Anweisung.

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sie s­ eien bis dahin bei unwichtiger Arbeit unnütz tätig gewesen. Dies gängige Vorurteil der Nationalsozia­listen wurde noch deutlicher in einer Anweisung des Leiters der Wirtschaftsabteilung des Verwaltungsstabes, Schlumprecht, an die nachgeordneten Dienststellen. Nur durch den Arbeitseinsatz könne „der einzelne Jude dem Schwarzhandel und anderen Schiebergeschäften weitgehend ferngehalten und zugleich gezwungen werden, seinen Unterhalt durch ehrliche Arbeit zu verdienen“. Im Juni 1942 begann nun die zwangsweise Verbringung jüdischer Arbeitskräfte an die nordfranzösische Küste. Die für den Bau des „Atlantikwalls“ zuständige Organisation Todt (OT), eine dem Rüstungsministerium unterstehende Organisation zum Bau von Militäranlagen, hatte dort zehn Lager für sie errichtet. Rechtliche Grundlage für die dortige Zwangsarbeit der jüdischen Männer bildete die bisher nicht erwähnte Verordnung vom 8. Mai 1942, die der Militärverwaltungschef unterschrieben hatte.304 Danach hatten Juden die ihnen von den Arbeitsämtern zugewiesenen Beschäftigungen anzunehmen. Sie sollten nur gruppenweise und ohne Kontakt zu Nichtjuden eingesetzt und außerhalb des Heimatortes in „besonderen Unterkünften“ untergebracht werden. Bis zum September 1942 wurden insgesamt 2252 jüdische Männer deportiert, zwei Drittel davon aus Antwerpen, allerdings nur wenige aus Brüssel.305 Grund war das unterschiedliche Maß an Unterstützung der Militärverwaltung durch belgische Stellen. Die zuständigen Mitarbeiter des von ihr 1941 gegründeten Nationalen Arbeitsamts (Office National du Travail, ONT ) sollen in Antwerpen „erbarmungslos“ vorgegangen sein und sogar die kommunale Polizei eingesetzt haben. In Brüssel dagegen verhielten sich die Mitarbeiter des ONT äußerst zögerlich. Nach Aussage von Zeugen hat die Militärregierung in Brüssel auch eine Razzia mit Feldgendarmerie und SS durchführen lassen. Der Brüsseler Bürgermeister Jules Coelst hatte sich nämlich erfolgreich geweigert, die kommunale Polizei zur Verhaftung von Juden einzusetzen. Sie habe in Belgien lediglich die Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die zwangsweise Verbringung von jüdischen Männern nach Nordfrankreich endete im September. Für die katastrophalen Zustände in den Lagern war unmittelbar die Organisation Todt verantwortlich. Die jüdischen Männer blieben nicht lange in den OT-Lagern. Sie teilten das Schicksal der in Belgien zunächst verbliebenen Juden und wurden später ebenfalls in den Osten deportiert. Am 11. Juni 1942 fand im RSHA eine weitere Besprechung zur Konkretisierung der Beschlüsse der Wannsee-­Konferenz statt.306 Eichmann verabredete mit den Judenreferenten aus dem besetzten Westeuropa die Anzahl derer, die im Laufe des Sommers nach Auschwitz deportiert werden sollten, 100.000 aus Frankreich, 15.000 aus den Niederlanden und aus Belgien 10.000. Mit Schreiben vom 22. Juni informierte das RSHA das Auswärtige Amt über die vorgesehenen Deportationen; es sei geplant, die Juden „in täglich verkehrenden Sonderzügen zu je 1000 Personen […] zum Arbeitseinsatz in das Lager Auschwitz abzubefördern.“ Ausgenommen ­werden sollten in „Mischehe“ lebende Juden, Staatsangehörige neutraler und verbündeter Staaten sowie des Britischen Empire und der USA. Das Auswärtige Amt antwortete Anfang Juli, es habe „grundsätzlich“ keine Bedenken. Es bitte aber im Hinblick auf die psychologischen Rückwirkungen „zunächst die staatenlosen Juden zu verschicken“. Dadurch würde schon „in weitgehendem Maße das Kontingent der in die Westgebiete zugewanderten fremdländischen Juden“ erfasst. Aus dem gleichen Grunde beabsichtige die Militärverwaltung in Brüssel, zunächst 304 VOBlB 1942, S. 911. 305 Meinen, ebd., S. 32 ff, auch zum Folgenden. 306 Zum Folgenden ausführlich Meinen, ebd., S. 39 ff.

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nur polnische, tschechische, russische und sonstige Juden auszuwählen.307 Dieser Briefwechsel zeigt, dass die Behörden des außenpolitisch auf seinen Macht- und Einflussbereich reduzierten „Dritten Reiches“ doch glaubten, Rücksichten nehmen zu müssen. Besonders bemerkenswert ist schließlich die Bitte, zunächst nur staatenlose Juden zu „verschicken“, sowie der Hinweis auf die Auswahlentscheidung der Militärverwaltung in Brüssel. Juden belgischer Staatsangehörigkeit schienen ausgenommen zu sein. Dieselbe Tendenz enthielt der Bericht, den der Gesandte Werner von Bargen, Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Brüssel, am 9. Juli 1942 nach Berlin schickte: Militärverwaltung beabsichtigt, gewünschten Abtransport von 10.000 Juden durchzuführen. Militärverwaltungschef gegenwärtig im Hauptquartier, um Angelegenheit mit Reichsführer SS zu erörtern. Bedenken gegen Maßnahme könnten sich daraus ergeben, daß Verständnis für Judenfrage hier noch nicht sehr verbreitet und Juden belgischer Staatsangehörigkeit in Bevölkerung als Belgier angesehen werden. Maßnahme könnte daher als Beginn allgemeiner Zwangsverschickungen ausgelegt werden. […] Militärverwaltung glaubt jedoch, Bedenken zurückstellen zu können, wenn Verschickung belgischer Juden vermieden wird. Es werden daher zunächst polnische, tschechische, russische und sonstige Juden ausgewählt werden, womit das Soll theo308 retisch erreicht werden könnte.

Abschließend wies von Bargen auf praktische Schwierigkeiten hin. Wegen des Bekanntwerdens von „Abschiebungen“ aus Frankreich und Holland sei Unruhe unter den Juden entstanden, die daher versuchen würden, sich dem Zugriff zu entziehen. Für Zwangsmaßnahmen reichten die vorhandenen Polizeikräfte nicht aus. Aus dem Bericht ist der weitgehende Schluss gezogen worden, er lasse „keinen Zweifel an der Einwilligung der Militärs in die Deportation“.309 Das war jedoch nicht so ganz eindeutig. Er lässt erkennen, dass ­zwischen dem Vertreter des Auswärtigen Amtes und dem Militärverwaltungschef ein enger Kontakt bestand, sie sollen auch Studienfreunde gewesen sein. Die weitere zentrale Aussage war, die Deportationen aus Belgien stünden nun unmittelbar bevor, während sie in Frankreich und den Niederlanden schon begonnen hätten. Der Militärverwaltungschef war in der Tat mit Himmler zusammengetroffen, und zwar bereits am Vortag, also am 8. Juli. Reeder hatte ihn eigentlich in anderer Sache aufgesucht. Die Situation ausnutzend sprach der Militärverwaltungschef die „Angelegenheit“ der Juden belgischer Staatsangehörigkeit an und „regelte“ sie mit dem „Reichsführer SS“ dahingehend, dass sie in der Tat vom Deportationsprogramm ausgenommen wurden. Diese Entscheidung war nicht aus humanitären Erwägungen erfolgt. Von Falkenhausens und Reeders Motive waren besatzungspolitisch.310 Sie befürchteten allgemeine Unruhe. Die Erinnerung an die fatalen Wirkungen der Rekrutierung belgischer Zwangsarbeiter für einen Einsatz in der Rüstungswirtschaft des Kaiserreiches (vgl. Kapitel 2) und die Befürchtung in der belgischen Bevölkerung, dies könne sich generell wieder­ holen, hatte beide schon bei der Deportation von jüdischen Männern nach Nordfrankreich veranlasst, belgische Staatsangehörige auszunehmen. Diese Ausnahme galt es erst recht bei der „Verschickung“ in den Osten zu machen. Sogar die Königinmutter Elisabeth hatte sich für 307 Der Briefwechsel ist abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 28 ff. 308 Abgedruckt ADAP, Serie E, Bd. III, S. 125; VEJ 12/175, S. 490. 309 So Meinen, Shoah in Belgien, S. 40; mit Anm. 104, auch zum Folgenden; ferner Steinberg, Persécution, S. 229 f. 310 Hierzu und zum Folgenden Meinen, ebd., S. 40 f, Friedländer, das Dritte Reich und die Juden, S. 804.

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eine „Freistellung“ eingesetzt; sie richtete über den Militärbefehlshaber ein Gesuch an Hitler selbst.311 Makaber aber war, dass, wie geschildert, eine allgemeine Zwangsarbeitsverpflichtung für belgische Männer und zunächst auch Frauen einige Monate später durch eine Verordnung des Militärbefehlshabers vom 6. Oktober 1942 doch noch eingeführt werden musste. Himmler seinerseits hatte keine Bedenken gegen eine Verschiebung der Deportation von Juden belgischer Staatsangehörigkeit; ihm war bewusst, dass sie nur einen geringen Teil, nämlich 6 % der in Belgien lebenden Juden, ausmachten. Diese würden, das war sein Kalkül, dann eben später in den Osten transportiert. Das Deportationsprogramm insgesamt wäre davon nicht wesentlich beeinträchtigt. Die besatzungspolitischen Rücksichtnahmen der Militärregierung zahlten sich allerdings aus. Zu allgemeinen Protesten gegen die Deportationen in Belgien kam es nicht. Deportationen in der geplanten Größenordnung konnte die Militärregierung nicht allein durchführen.312 Die Unterstützung belgischer Behörden war nach den kürzlichen Erfahrungen nicht ohne Weiteres zu erwarten. Die Besatzungsverwaltung beschritt nun einen anderen Weg. Sie bediente sich der VJB/AJB. Diese war Mitte Juli von einem eigens nach Brüssel entsandten Mitarbeiter Eichmanns, dem SS-Obersturmführer Burger, durch eine Mischung aus brutalem Druck und Täuschung dazu gebracht worden, bei der Vorbereitung des „Arbeitseinsatzes“ mitzuwirken. So wurde sie zwangsweise zum Handlanger. Ihr Sekretär Maurice Benedictus erhielt den Auftrag, binnen zehn Tagen eine Kartei der arbeitsfähigen Juden zu erstellen. Die für den ersten Teil des „Abschubs“ nach Osten Vorgesehenen erhielten „Arbeitseinsatzbefehle“.313 Darin wurde mitgeteilt: „Mit sofortiger Wirkung gelangen sie zum Arbeitseinsatz. Sie haben sich daher [hier wurden Tag und Uhrzeit genannt] in dem Sammellager Mecheln = Dossin-­Kaserne = […] einzufinden.“ Die Stadt lag etwa auf halber Strecke ­zwischen Brüssel und Antwerpen. Initiiert durch Reeders Vertreter von Craushaar war dort ein von der SS geführtes Sammellager errichtet worden.314 Es folgte dann im Text die Aufforderung, nichtverderbliche Verpflegung für 14 Tage und Arbeitskleidung mitzubringen. Einspruch gegen diesen Befehl sei untersagt. Bei nicht rechtzeitiger Meldung erfolge die „Verhaftung und Versendung in ein Konzentrationslager nach Deutschland“ sowie die Einziehung des gesamten Vermögens. Die Arbeitseinsatzbefehle trugen den Briefkopf des Militärverwaltungschefs, das Aktenzeichen B. d. S. Abt. II sowie den Vermerk „zugestellt durch die Judenvereinigung“. Sie waren unterzeichnet von Ehlers selbst, dem Leiter der Dienststelle Sipo/SD. Die äußere Form des Befehls legte nahe, dass Ehlers dem Militärverwaltungschef unterstellt war. Obwohl der „Abschub“ nicht reibungslos angelaufen war, fuhr am 4. August der erste Deportationszug mit insgesamt 999 Frauen, Männern und Kindern Richtung Auschwitz ab.315 Von ihnen erlebten nur sieben das Kriegsende. Trotz der angedrohten Repressalien und ungeachtet des Wunsches, möglichst Familienangehörige nicht zu gefährden, folgten höchstens 4000 Juden den Arbeitseinsatzbefehlen, von denen mindestens 12.000 zugestellt worden waren. Die Infamie der zwangsweisen Einbeziehung der VJB /AJB in die Vorbereitung der Deportationen hatte zudem noch die Folge, dass sie Juden gegen Juden aufbrachte. Zusteller der 311 Yahil, Die Shoah, S. 537 f, erweckt dabei den missverständlichen Eindruck eines sachlichen Zusammenhangs mit Reeders Vorstoß bei Himmler. 312 Vgl. zum Folgenden VEJ 12/Einleitung, S. 47; ebenfalls Meinen, ebd., S. 42. 313 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S 38 f. 314 Dazu Meinen, ebd., S. 41. 315 Hierzu und zum Folgenden VEJ 12/Einleitung, S. 47 f, sowie Meinen, ebd., S. 43, auch zum Folgenden.

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Arbeitseinsatzbefehle wurden von anderen Juden angegriffen. Jüdische Widerstandskämpfer verübten einen Brandanschlag auf das von der Vereinigung angelegte Namensregister und ein tödliches Attentat auf einen Mitarbeiter aus deren Verwaltung. Bis Mitte August folgten zwei weitere Deportationszüge aus Belgien in den Osten. Insgesamt waren 2997 Menschen deportiert worden. Diese Anzahl schien der Besatzungsverwaltung als zu gering, um die festgelegte Quote von 10.000 im vorgesehenen Zeitraum bis zum 15. September 1942 zu erreichen. Die Arbeitseinsatzbefehle hatten sich eben als zu wenig wirksam erwiesen. Die Besatzungsverwaltung ging daher zu einer anderen, schärferen Methode über, die Massenverhaftung von Juden. Mit ­diesem Ziel führte sie im August und September in Antwerpen und Brüssel insgesamt fünf Razzien durch.316 Bei jeder wurden ­zwischen 500 und 1000 Juden verhaftet. An der ersten Razzia in Antwerpen vom 15. August waren außer Sipo/SD SS-Leute, Feldgendarmerie und auch etwa 50 belgische Polizisten beteiligt. Der Antwerpener Bürgermeister und andere Vorgesetzte der Polizisten hatten gegen deren Anforderung, w ­ elche gegen die belgische Verfassung verstieß, nicht protestiert. Wegen der Unruhe, die unter der Antwerpener Bevölkerung nach der ersten Verhaftungsaktion entstanden war, wurde die dortige Polizei von den Vertretern der Besatzungsmacht zur nächsten Razzia bewusst erst kurzfristig angefordert. Sie musste am 27. August abgebrochen werden, weil offenbar die Juden gewarnt worden waren. Nun übte die Antwerpener Außendienststelle des BdS brutalen Druck aus und drohte dortigen Polizeiführern mit Einweisung ins Lager Breendonk. Daraufhin führten an den beiden folgenden Tagen 68 Antwerpener Polizisten, das erste und einzige Mal in eigener Regie, eine weitere Razzia durch. Offenbar glaubten sie sich in einer ausweglosen Situation. Dies ist insofern nachvollziehbar, als der Militärbefehlshaber im Juli 50 belgische Polizeibeamte als Geiseln hatte festsetzen lassen, um wachsender „Illoyalität“ entgegenzuwirken. Bei keiner anderen Aktion dieser Art war die Zahl der Verhafteten so hoch. Einen gewissen Spielraum gab es aber noch. Als der Vertreter des BdS für eine Verhaftungsaktion in Brüssel dortige Polizeikräfte anforderte, lehnte die Polizeiführung dies ab und informierte Bürgermeister Coelst. Dieser sandte zur Bekräftigung eine Kopie seines Schreibens vom Juli, mit der er die Verhaftung von Juden zur Vorladung an das Arbeitsamt abgelehnt hatte. So musste die Besatzungsverwaltung, die dafür in Brüssel über genügend Personal verfügte, mit eigenen Kräften am 3. September eine Razzia durchführen. Dies waren Angehörige der Sipo/SD, der Feldgendarmerie sowie der Geheimen Feldpolizei und schließlich Wehrmachtsangehörige. Dadurch war die Zahl der Verhafteten geringer. Wiederum in Antwerpen führten die Deutschen am 11./12. September noch eine weitere Razzia durch. Sie unterschied sich mehrfach von den bisherigen. Sie begann ausgerechnet am jüdischen Neujahrsfest Rosch HaSchana und dauerte bis zum Nachmittag des folgenden Tages, beschränkte sich also nicht auf die Abendstunden. Die Opfer wurden nicht nur aus ihren Wohnungen herausgeholt, sondern auch in Büros, sogar dem Antwerpener der VJB/AJB, und auf offener Straße verhaftet. Die Antwerpener Polizei war hierbei nicht mit einem eigenen Kontingent, sondern allenfalls „marginal“ beteiligt, warum, ist nicht genau zu ermitteln. Man kann in den neuen Verhaftungsmethoden, vor allem dem Zugriff auf offener Straße, den Übergang zu einer anderen Form der „Menschenjagd“ durch Einzelfestnahmen sehen.317 So war ein besonders tückisches Vorgehen, wenn die Außendienststelle des BdS mehrere Hundert Juden an den Ausgabestellen für Lebensmittelmarken verhaftete.

316 Hierzu im Einzelnen Meinen, ebd., S. 44 ff. Ferner VEJ 12/Einleitung, S. 48 ff. 317 So explizit Steinberg, ebd., S. 293.

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Während schon die Razzien in Antwerpen durchgeführt wurden, fanden zeitgleich noch die Arbeitsaufrufe und Festnahmen für die Organisation Todt in Nordfrankreich statt. Der letzte Transport dorthin fuhr, wie erwähnt, am 12. September ab. So überlagerten sich Deportation nach Westen und Deportation nach Osten. Welche dieser Maßnahmen die in Belgien lebenden Juden auch trafen, sie verursachten allesamt tiefen Schrecken und kaum zu schilderndes Leid. Salomon van den Berg, Vorsitzender der Brüsseler VJB/AJB-Teilorganisation, notierte Mitte August in seinem Tagebuch: „Sommer in Mechelen, wo man nur von den Juden spricht, die mit dem Zug oder Lastwagen ankommen und abfahren wie Vieh. Wenn die Leute darüber reden, haben sie Tränen in den Augen, aber da ist nichts zu machen; wir sind hilflos gegenüber ­diesem Unglück.“318 Die bei den Razzien des Spätsommers 1942 verhafteten Juden wurden mit den Deportationszügen IV–X bis zum vorgegebenen 15. September nach Auschwitz verbracht.319 Reeder hatte bei den Verhaftungsaktionen keine nach außen erkennbare persönliche Rolle gespielt. Deren Durchführung lag überwiegend beim BdS, der ihm aber nicht nur formal unterstellt war. Als zweiter Mann der Militärverwaltung traf ihn auch Verantwortlichkeit für die dem militärischen Kommandostab zugeordnete Feldgendarmerie und Geheime Feldpolizei. Insgesamt war seine Rolle jedoch wichtiger, als der Anschein vermuten ließ. Am 15. September konnte der Militärverwaltungschef über die erste Phase der Deportationen nach Berlin berichten.320 Die zentrale Aussage war: „Bisher sind insgesamt 10.000 Juden nach dem Osten transportiert worden.“ Das vom RSHA vorgegebene Ziel war also erreicht worden. Er beschrieb den nach „einer Weisung des Reichsführers SS“ begonnenen „Abtransport der Juden“ als „Aktion, die zunächst als Arbeitseinsatzmaßnahme“ durchgeführt worden sei und sich deshalb vor allem auf arbeitsfähige Jüdinnen und Juden erstreckt habe. Erst auf Grund späterer Weisungen des Reichssicherheitshauptamtes erhielt sie den Charakter einer allgemeinen Evakuierung der Juden, sodaß daher in letzter Zeit auch nicht vollarbeitsfähige Juden abtransportiert werden […]. Unter den Juden rief diese Aktion naturgemäß eine erhebliche Panik hervor.

Reeder unterließ auch nicht den Hinweis, die Juden belgischer Staatsangehörigkeit s­ eien von der Deportation ausgenommen. Viele Juden versuchten, ins unbesetzte Frankreich zu entkommen, ­seien aber größtenteils an der Grenze festgenommen worden. Andere hätten durch Heirat (sc. mit einem nichtjüdischen Partner) rasch die belgische Staatsangehörigkeit zu erwerben versucht. „Diese Bestrebungen sind jedoch umsonst, da s­ olche Heiraten hinsichtlich des Arbeitseinsatzes stillschweigend als ungültig erachtet werden.“ Abschließend ging er noch auf die Reaktionen der belgischen Öffentlichkeit ein. „Die Aktion“ habe kein allzu großes Aufsehen erregt, „da die Juden hier nur eine geringe Rolle spielten und zu 9/10 Emigranten und sonstige Ausländer waren.“ Vertreter verschiedener belgischer Stellen, namentlich des Justizministeriums, hätten immer wieder betont, sich nur für belgische Juden einsetzen zu wollen. Im Gegensatz hierzu berichtete von Bargen wenig später dem Auswärtigen Amt, ein „beträchtlicher Teil“ der belgischen Bevölkerung unterstütze Juden bei dem Versuch unterzutauchen.321 318 Zitiert nach VEJ 12/Einleitung, S. 48. 319 Aufstellung der Deportationszüge bei Meinen, ebd., S. 238. Im Einzelnen wird darauf nicht mehr verwiesen. 320 Tätigkeitsbericht Nr. 21, abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 44 f; VEJ 12/185, S. 506 f. 321 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 45 f.

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Der Militärverwaltungschef berichtete wie ein Alleinverantwortlicher; der BdS bzw. die Sipo/SD werden mit keinem Wort erwähnt. Der nüchterne Duktus seiner Sprache wirkt aus heutiger Sicht erschreckend. Andererseits wäre es ihm nicht möglich gewesen, auch nur den geringsten Anflug von Mitleid mit den Opfern erkennen zu lassen, falls er es denn überhaupt gehabt haben sollte. Bestürzend war, die eilig eingegangenen „Mischehen“ zu ignorieren, zumal viele der jüdischen Partner dadurch eigentlich die belgische Staatsangehörigkeit erwarben.322 Durch diese Handhabung wurde in zahlreichen Fällen eine Rettung in letzter Minute unmöglich gemacht. Da man ihm extreme Bosheit nicht unterstellen kann, kommt als sein Motiv am ehesten extremes Ordnungsdenken in Betracht. Die Deportationen waren von zentraler Stelle des Reiches angeordnet, also wurden sie durchgeführt. Ein enormes Karrierebewusstsein dürfte ebenfalls mitgewirkt haben, das Bedürfnis, weiter als der erfolgreiche Organisator dazustehen und die Militärverwaltung unangreifbar und unersetzbar erscheinen zu lassen. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen des Spätsommers 1942 wurden Utilitarismus und Geringschätzung der Besatzungsverwaltung gegenüber der VJB/AJB offenbar.323 Seit die Razzien begonnen hatten, griffen die Deutschen kaum noch auf die Vereinigung zurück. Zur „Beruhigung“ der jüdischen Bevölkerung konnte sie nichts mehr tun. So richtete der Vorsitzende, Großrabbiner Salomon Ullmann, am 8. September ein Rücktrittsgesuch an den Militär­verwaltungschef, welches trotz seines förmlichen Tons ein Gefühl der Ausweglosigkeit erkennen ließ. Eine unmittelbare Reaktion der Militärverwaltung ist nicht ersichtlich. Am 24. September wurden dann allerdings Ullmann, drei weitere Vertreter der Vereinigung und deren Sekretär Benedictus unvermittelt von dem Judenreferenten des BdS verhaftet. Darüber gab es einen Bericht des Sekretärs.324 Zur Begründung führte er angebliche Illoyalität an. Die Verhafteten wurden ins Lager Breendonk gebracht und dort, insbesondere Ullmann, körperlich misshandelt. Möglicherweise hat Reeder von dieser Verhaftung zunächst nichts erfahren; Belege gibt es nicht. Eigentlich hätte bei voraussichtlich mehr als siebentägiger Inhaftierung bei der Militärverwaltung ein Sicherheitshaftbefehl beantragt werden müssen. Allerdings wurden am 3. Oktober Ullmann und die anderen Vertreter der Vereinigung wieder freigelassen. Dem lag eine Intervention des belgischen Primas, Kardinal von Roey, beim Militärbefehlshaber und eine weitere des Generalsekretärs des belgischen Justizministeriums Schuind beim Militärverwaltungschef zugrunde.325 Ullmanns Rücktritt wurde nun vollzogen. Wegen der Nachfolge kam es zu Auseinandersetzungen ­zwischen der VJB/AJB und dem Judenreferenten des BdS. Schließlich setzte die Militärverwaltung einen allseits akzeptierten Kompromisskandidaten durch, Marcel Blum, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Brüssel. Offenbar hatte Reeder dem Judenreferenten Grenzen aufzeigen wollen. Am 25. September 1942, also zehn Tage nach seinem Bericht über die erste Phase der Deportationen, richtete der Militärverwaltungschef eine Rundverfügung an die (Ober-)Feldkommandanturen mit dem „Betreff: Evakuierung der Juden“.326 Man kann sie als zusammenfassende Aktualisierung und Ergänzung bisheriger Vorgaben ansehen. Auslöser war eine ­Weisung Eichmanns auf einer Besprechung der Judenreferenten Ende August, „dass der Abschub in den nächsten Monaten verstärkt durchzuführen ist, da die Reichsbahn voraussichtlich in den 322 Dazu Meinen, ebd., S. 122. 323 Vgl. dazu und zum Folgenden VEJ 12/Einleitung, S. 52. Rücktrittsgesuch abgedruckt ebd. Dok. 184, S. 506. 324 Abgedruckt in ebd., Dok. 205, S. 537 ff, (S. 539 und 543). 325 Dazu auch Meinen, ebd., S. 55. Zum Folgenden ebd., S. 67. 326 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, Endlösung in Belgien, S. 46 ff; ferner VEJ 12/187, S. 508 f.

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Eggert Reeder

Monaten November, Dezember und Januar keine Transportmittel zur Verfügung stellen kann“.327 Am 25. September fand ein Gespräch ­zwischen dem Militärverwaltungschef und dem BdS Ehlers statt, bei der es ganz offensichtlich um die weitere Durchführung der Deportationen gegangen sein muss. Dies belegt eben die Rundverfügung vom selben Tage. Sie begann mit der Ansage: „Nach dem bisher erfolgten Arbeitseinsatz von 10.000 Juden in den Ostgebieten wird jetzt die völlige Evakuierung der Juden aus dem Kommandobereich durchgeführt.“ Es handle sich „vorläufig nur“ um Juden bestimmter Staatsangehörigkeiten und um staatenlose Juden, aber auch um die in Nordfrankreich lebenden belgischer Staatsangehörigkeit. Ausgenommen s­ eien diejenigen, die eine Mischehe eingegangen hätten oder vom Tragen des „Davidsterns“ befreit s­ eien. Die in Belgien lebenden Juden belgischer Staatsangehörigkeit werden hier nicht genannt. Außerdem sei darauf zu achten, dass Familien nicht getrennt würden und „so wenig wie möglich Aufmerksamkeit erweckt“ werde. Die „Aktion“ werde wahrscheinlich bis Ende Oktober dauern und von der Sicherheitspolizei durchgeführt. Bei größeren Evakuierungsmaßnahmen sollten ihr möglichst Polizeieinsatzkräfte zur Verfügung gestellt werden; belgische Polizei dürfe nicht in Anspruch genommen werden. Nach weiteren Verfahrenshinweisen folgte die Ankündigung, die „in Nordfrankreich in der Organisation Todt zur Arbeit eingesetzten Juden werden in einigen Wochen zur Verfügung gestellt“. Die Verfügung behandelte dann die illegale „Auswanderung“ von Juden, die es in „Übereinkunft“ mit der Sicherheitspolizei zu verhindern gelte. Ferner das Verlassen der vier großen Städte (sc. Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Charleroi), „indem sie ihren gelben Stern abnehmen und sich auf dem Lande oder in kleinen Ortschaften niederlassen.“ Der Schlussabsatz ging noch einmal auf das Problem der Öffentlichkeitswirkung ein: „Die Sicherheitspolizeidienststelle hat den Befehl erhalten, die Aktion so durchzuführen, daß sie so wenig wie möglich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt und bei der Bevölkerung keine Sympathien für die Juden erweckt.“ In der Rundverfügung gerierte sich der Militärverwaltungschef auch den (Ober-)Feldkommandanturen gegenüber als der Letztverantwortliche für deren Durchführung. Hatten sich Feldgendarmerie und Geheime Feldpolizei bisher schon an den Verhaftungen beteiligt, forderte Reeder nun die Kommandanturen in aller Form dazu auf, die Sipo/SD mit Polizeikräften zu unterstützen.328 Damit wurde die Zusammenarbeit beider bekräftigt. Eine weitere Hilfe bestand darin, dass die in den OT -Lagern zur Zwangsarbeit eingesetzten Juden „zur Verfügung gestellt werden sollten“. Die in Nordfrankreich lebenden belgischen Juden wurden gleichsam schon zur Deportation „freigegeben“. Sie sollten also nicht unter die Ausnahmeregelung fallen, die Reeder mit Himmler erzielt hatte. Diese hatte ja ihren eigentlichen Grund darin gehabt, Unruhe in der belgischen Bevölkerung, also im belgischen Staatsgebiet, zu vermeiden. Bezeichnenderweise wurde es in der Rundverfügung auch zweimal zum Gebot erhoben, bei Verhaftungen möglichst Aufmerksamkeit zu vermeiden. Der Ausschluss der belgischen Polizei hatte einen wesentlichen Grund darin, dass der Militärverwaltungschef eingesehen hatte, eine weitere Beteiligung bei Verhaftungen würde erhebliche psychologische Probleme bei den Beamten entstehen lassen. Darüber hinaus dürfte es für Reeder von größter Wichtigkeit gewesen sein, zusätzliche Belastungen des Verhältnisses ­zwischen Besatzungsmacht und belgischer Bevölkerung sowie Verwaltung zu vermeiden. Denn der Erlass einer Verordnung

327 Zitiert nach Meinen, ebd., S. 51, dort auch zum Folgenden. 328 Vgl. dies., ebd., S. 52 ff, auch zum Folgenden (S. 55). Von dort auch Zitate aus dem Schreiben.

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über die Zwangsarbeitsverpflichtung (nichtjüdischer) Belgier im Reich stand kurz bevor. Wie oben gezeigt, konnte die Militärverwaltung sie nicht aufhalten. Mit dieser Verordnung endete jede polizeiliche Zusammenarbeit. Der Vermeidung unerwünschter politischer Rückwirkungen diente auch ein Schreiben Reeders an den BdS Ehlers vom 30. September. Darin wandte er sich gegen die angewandten Methoden der Sipo/SD, die im Widerspruch zu den getroffenen Vereinbarungen stünden. Er benannte dabei insbesondere die Verhaftung von der Deportation vorerst ausgenommener Personen sowie weitere Einzelfälle. Reeder verlangte von der Sipo/SD, „alle größeren Juden­ aktionen“ vorher mit den nachgeordneten Dienststellen des Militärverwaltungsstabes abzustimmen, nämlich den Verwaltungschefs der zuständigen (Ober-)Feldkommandantur. Er verstand es auf diese Weise, seine Autorität gegenüber der Sipo/SD durchzusetzen. Dies vermehrte aber auf der anderen Seite seine Verantwortlichkeit. Reeder hatte also in seiner Rundverfügung vom 25. September der Sache nach eine zweite Phase der Deportationen angekündigt. In der dabei fraglichen Zeit, der zweiten Hälfte des Septembers und des Monats Oktober, fuhren die Deportationszüge XI bis XVII vom Sammellager Dossin in Malines/Mechelen nach Osten ab und beförderten 6584 Juden in das Lager A ­ uschwitz. In seinem Tätigkeitsbericht vom 31. Dezember 1942 teilte der Militärverwaltungschef mit, „die Evakuierung der Juden aus Belgien [sei] zu einem vorläufigen Abschluß“ gebracht worden.329 Sie hatte also einen markanten Punkt erreicht, war aber noch nicht beendet. Reeder beklagte die „starke Flucht“ von Juden aus Belgien; trotz verschärfter Grenzüberwachung habe sie nicht verhindert werden können. Die noch im Lande verbliebenen Juden halten sich verborgen, so daß die später geplante Durchführung weiterer Abtransporte sehr schwierig sein wird. Nach ungefährer Schätzung halten sich z.Zt. noch 10.000 Juden einschließlich derjenigen belgischer Staatsangehörigkeit in Belgien auf.

In der Tat entwickelte sich zunehmend Widerstand der Betroffenen gegen ihren „Abschub“.330 Flucht nach Frankreich hatte es schon seit längerem gegeben, und Reeder hatte dies in seinen erwähnten amtlichen Äußerungen immer thematisiert. Die Gefahr war groß, dabei aufgegriffen zu werden oder in die Hände falscher Fluchthelfer zu geraten. Mit Beginn der Razzien im August 1942 nahm auch die Zahl der Juden zu, die in Belgien untertauchten, so riskant dies auch war. Überhaupt verstärkte sich seit Ende 1942 generell der belgische Widerstand. Auch zahlreiche (nichtjüdische) Belgier tauchten unter, viele schlossen sich Widerstandsgruppen an. Neben der „Zwangsarbeitsverordnung“ vom 6. Oktober 1942 wurde dies durch die schweren militärischen Rückschläge des „Dritten Reiches“ in Nordafrika und im Osten verursacht. Der wachsende belgische Widerstandswille kam zugleich den verfolgten Juden zugute. Es gab zunehmende Hilfsbereitschaft bei der Beschaffung von Lebensmitteln und der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten sowie Verstecken. Die Frage müsse offenbleiben, ob der Einfluss der katholischen ­Kirche diese „Woge von Mitleid und Nächstenliebe“ hervorgerufen habe, oder ob die Helfer schlicht ihren eigenen Gefühlen folgten.331 Die katholische ­Kirche gab jedenfalls ein gutes Beispiel; zahlreiche jüdische Kinder und auch Erwachsene wurden in ihren Einrichtungen versteckt. 329 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 59 f. 330 Zum Folgenden VEJ 12/Einleitung, S. 53 f. 331 Friedländer, ebd., S. 805. Auch zum Folgenden.

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Eine Organisationsform besaß der jüdische Widerstand bereits seit September 1942.332 Nach den Razzien in Brüssel bildeten jüdische Widerstandskämpfer das „Jüdische Verteidigungs­ komitee“ (Comité de Défense des Juifs), welches sich zur wichtigsten derartigen Gruppierung in Belgien entwickelte. Es unterstützte untergetauchte Juden und organisierte Kontakte zu internationalen jüdischen Hilfsorganisationen. Wichtigste Aufgabe des Komitees war aber, jüdische Kinder durch Unterbringung in nichtjüdischen Familien und kirchlichen Einrichtungen vor der Deportation zu bewahren. 3000 Kinder wurden so gerettet. Mit belgischen Widerstandsgruppen kam es zu einer wirkungsvollen Kooperation.333

4.7.4 Wiederaufnahme der Transporte und Deportation der Juden belgischer Staatsangehörigkeit 1943 Mitte Januar 1943 wurden nach der zweieinhalbmonatigen Unterbrechung, w ­ elche durch Kapazitätsengpässe der Reichsbahn bedingt war, die Transporte nach Auschwitz wieder aufgenommen, allerdings in geringerem Umfang. Vom 15. Januar bis zum 19. April fuhren die drei Züge XVIII bis XX mit insgesamt 2.956 Juden nach Osten.334 Danach trat wieder eine Unterbrechung von dreieinhalb Monaten ein. Wie schon aus den letzten beiden Transportzügen des vergangenen Jahres konnten aus diesen dreien besonders viele Menschen fliehen, insgesamt 539. Danach gelang dies nur noch wenigen. Aus dem Deportationszug XX, der erstmals aus Güterwagen bestand und besonders scharf bewacht wurde, entkamen unter außergewöhn­lichen Umständen mehr 200 Menschen. Jüdische Widerstandskämpfer im Zug hatten ihn mit eingeschmuggeltem Werkzeug aufgebrochen, zugleich wurde von drei weiteren Widerstandskämpfern der Zug von außen attackiert. Dieser „Überfall“ war und blieb in der Shoah einmalig. 87 der Entflohenen wurden allerdings wieder verhaftet und einem späteren Transport zugeteilt. 119 konnten in Verstecken überleben. Die tödliche Bedrohung der Judenverfolgung bedeutete für die Betroffenen das Ende aller Sicherheit, auch für die belgischen Juden, selbst wenn sie im Juli 1942 von der Deportation ausgenommen worden waren. Wegen der Zielsetzung des Regimes, das gesamte europäische Judentum zu vernichten, konnte dieser Ausschluss nur vorläufig sein. Schon im letzten Monat des Jahres kündigte sich dies an, als der für die Zusammenarbeit mit dem RSHA zuständige Unterstaatssekretär Luther im Auswärtigen Amt seinerseits aktiv wurde. Am 4. Dezember hielt er in einem Erlass an die Dienststelle des Auswärtigen Amtes in Brüssel fest, es solle „ein energisches Zugreifen eine weitere Ausbreitung [des] Gefahrenherdes verhindern“, der entstanden sei durch das Untertauchen von Juden und auch durch deren aktiven Widerstand.335 Gemeinsam mit dem Militärbefehlshaber solle die Möglichkeit erwogen werden, „die getroffenen Maßnahmen nun mehr auf alle Juden in Belgien auszudehnen“, also auch auf die belgischer Staatsangehörigkeit. Er sprach von einer „durchgreifenden Säuberung“. Daraufhin berichtete am 5. Januar 1943 der Gesandte von Bargen über ein Gespräch mit dem Militärbefehlshaber, dem Militärverwaltungschef und dem Chef der Sicherheitspolizei: 332 Zum Folgenden wiederum VEJ 12/Einleitung, S. 54 f. 333 Hierzu Friedländer, a. a. O. Er nennt dabei die Zahl von 25.000 versteckten Juden. 334 Zum Folgenden VEJ 12/Einleitung, S. 55 f. Der Überfall ist Gegenstand des Buches: Marion Schreiber, Stille Rebellen. Darin S. 165 ff, S. 196 ff, S. 214 ff, S. 241 ff und S. 251 ff. 335 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 55 ff. Ferner VEJ 12/197, S. 523 f.

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Bei der Wiederaufnahme der Abbeförderung ist beabsichtigt, auch sämtliche Juden belgischer Staatsangehörigkeit, die sich auf etwa 4000 Personen belaufen, mit fortzuschaffen; diese sollen indessen erst an die Reihe kommen, wenn die ausländischen Juden alle abbefördert sind. Danach 336 dürften die Absichten der Militärverwaltung mit den dortigen Wünschen übereinstimmen.

Diese erklärte sich also bereits im Grundsatz damit einverstanden, dass auch die belgischen Juden deportiert würden; nur wegen der Reihenfolge machte sie noch Vorbehalte. Luther, der auf seiner Anordnung beharrte, ließ den Briefwechsel an das RSHA weiterleiten mit der Bitte, „das Entsprechende zu veranlassen“. Jedoch dauerte es noch fast ein halbes Jahr, bis die Bedrohung für die Juden belgischer Staatsangehörigkeit insgesamt Realität wurde.337 Mit einem Schreiben vom 29. Juni 1943 kündigte der Judenreferent des BdS dem Sammellager in Mecheln an, gemäß einer Anordnung des Reichsführers SS ­seien nunmehr „unverzüglich die Juden belg. Staatsangehörigkeit in die Abschiebungsaktion einzubeziehen“.338 Die Anordnung Himmlers ist zwar nicht dokumentiert, sie kann aber nicht fingiert worden sein. Das Schreiben blieb kein Alleingang der Sipo/SD; die Militärverwaltung wurde einbezogen; „[…] selbstverständlich war das Plazet der deutschen Machthaber in Belgien erforderlich.“ Am 20. Juli fand beim Militärbefehlshaber von Falkenhausen eine Besprechung mit Vertretern des BdS statt, bei der es auch um die Erfassung der Juden belgischer Staatsangehörigkeit ging. Reeder muss ebenfalls daran teilgenommen haben. Denn er war durch ein umfangreiches Schreiben des Leiters der Dienststelle, Ehlers, auf die Thematik vorbereitet worden. Bezeichnenderweise adressierte Ehlers es an den „Militärverwaltungschef und SS-Brigadeführer Reeder“. Dieser wurde darin darüber unterrichtet, ob und wie in den Niederlanden und Frankreich Juden mit der Staatsangehörigkeit dieser Länder deportiert würden. Insbesondere die niederländischen Juden ­seien „staatenlos gemacht worden“. In einem Gesprächsvermerk vom 28. Juli 1943 wurde ausgeführt, Falkenhausen habe zunächst auf die Erfassung der illegal in Belgien lebenden Juden gedrungen.339 Dann folgte der entscheidende Satz: „General von Falkenhausen hatte jedoch schließlich auch keine Bedenken gegen eine sofortige Aktion gegen die belgischen Juden, doch bat er, belgische Juden, die […] von der Militärverwaltung als zur Evakuierung ungeeignet bezeichnet würden, auszunehmen.“ Dies sei zugesagt worden. Der Militärbefehlshaber tat sich offensichtlich schwer, seine Bedenken zurückzunehmen. Seine und Reeders Position war aber doppelt geschwächt. Zum einen hatte der Militärverwaltungschef, wie er nach dem Krieg angab, vergeblich das OKH und das OKW um Intervention gebeten. Zum Zweiten hatte die Zwangsverschickung belgischer Arbeitskräfte ins Reich Ende 1942 begonnen. Dies hatte praktisch das Argument der Militärverwaltung dafür entfallen lassen, die Juden belgischer Staatsangehörigkeit zu verschonen, nämlich befürchtete Unruhe in der Bevölkerung. Am 31. Juli fuhr nach längerer Pause wieder ein Transport nach Auschwitz; es war der XXI., noch ohne belgische Juden. In seinem Tätigkeitsbericht Nr. 24 vom 1. August 1943 teilte der Militärverwaltungschef lakonisch mit, die „bisher aus politischen Gründen hier belassenen nur etwa 3.000 belgischen Juden [würden] nach Weisung des Reichsführers-­SS ebenfalls in die 336 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 60. Luthers Reaktion auf den folgenden Seiten. 337 Zu den folgenden Ausführungen bis zum Ende des Unterkapitels, sofern keine andere Fundstelle angegeben, generell Meinen, ebd., S. 56 ff, von dort auch die Zitate, sowie VEJ 12/Einleitung, S. 56 ff. 338 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 70. Ehlers’ Schreiben und Zitat auf S. 72 ff. 339 Vermerk abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 74 f. Ebenfalls VEJ 12/ 212, S. 555.

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Evakuierung einbezogen.“340 In der Nacht vom 3. auf den 4. September fand dann in Brüssel und Antwerpen unter dem Decknamen „Aktion Iltis“ die letzte große Razzia der Besatzungsverwaltung statt. Eingesetzt waren Sipo/SD, Feldgendarmerie sowie Wehrmachtsangehörige, ferner Angehörige der flämischen SS. Verhaftet wurden bei dieser Razzia in Brüssel 750, in Antwerpen 225 belgische Juden; zusätzlich auf Grund eines skrupellosen Täuschungsmanövers des Antwerpener Judenreferenten dort weitere 300. Von diesen erstickten neun beim Transport nach Mechelen/Malines in einem Möbelwagen. Dieses Vorgehen löste bei den Generalsekretären der belgischen Ministerien Entrüstung aus. In einem Protestschreiben an den Militärbefehlshaber verurteilten sie zum ersten und einzigen Mal während der gesamten Besatzungszeit mit klaren Worten die Judenverfolgung. Dabei wiesen sie endlich auch auf den Verstoß gegen Art. 43 der HLKO hin. Danach soll eine Besatzungsmacht die im Lande geltenden Gesetze, soweit nur eben möglich, respektieren. Schließlich boten die Generalsekretäre sogar ihre Demission an. Reeder verstand es jedoch, gemeinsam mit seinem für die Beziehungen zu den Generalsekretären zuständigen politischen Referenten den Protest aufzufangen. In einem Gespräch, an dem zumindest der Generalsekretär des Justizministeriums beteiligt war, verwies er darauf, der Befehl zur Deportation sei aus Berlin gekommen. Die Militärverwaltung habe hier keine Entscheidungskompetenzen. Ihr Einfluss beschränke sich darauf, auf eine „möglichst milde Umsetzung der Berliner Anweisungen hinzuwirken, dies habe sie stets getan und werde sie auch in Zukunft tun.“341 Meinen wertet dies als eine ständige Schutzbehauptung von Vertretern der Militärverwaltung, mit der diese möglicherweise auch ihr Gewissen beruhigt hätten. Ungeachtet der Proteste schickte die Besatzungsverwaltung am 20. September 1943 die in Mecheln gefangenen belgischen Juden in zwei Transportzügen nach Auschwitz. An d ­ iesem Tag wurden mit den Transporten XXIIA und XXIIB insgesamt 1425 Personen deportiert. In seinem Tätigkeitbericht Nr. 25 vom 1. November 1943 für die Monate Juli und September gab Reeder eine seltsam lückenhafte Darstellung der Vorgänge.342 Auf „Weisung des Reichsführers SS über die Evakuierung der belgischen Juden“ ­seien nunmehr die Abschiebungsmaßnahmen in Angriff genommen worden. Sodann nannte er nur den ersten Transport vom 20. September; unerklärlich ist, warum er den zweiten überhaupt nicht erwähnte. Bei den „Festnahmeaktionen“ Anfang September sei es in Antwerpen „zu Unfällen“ gekommen: „9 belgische Juden fanden bei ihrer Überführung in das Sammellager in den überfüllten Lastwagen den Erstickungstod. Dieser Vorfall löste Protestschritte des Generalsekretärs im Justizministerium und leitender belgischer Verwaltungsbeamter aus.“ Die „Unfälle“ lasse er vom SS- und Polizeigericht untersuchen. Reeder ließ unerwähnt, dass die Generalsekretäre gegen die Deportation der belgischen Juden protestiert und die Judenverfolgung generell verurteilt hatten. Andererseits bemühte sich der Militärverwaltungschef noch weiter, politische Folgewirkungen zu verhindern. Er ließ 88 belgische Juden aus dem Lager Dossin frei; sie kamen in Zwangsunterkünfte. Überdies versprach er, „dass vorerst keine weiteren belgischen Staatsangehörigen deportiert […] würden“. Diese Zusage scheint im Wesentlichen eingehalten worden zu sein; augenscheinlich wurden nur wenige belgische Juden noch in den folgenden Monaten verhaftet.

340 Klarsfeld/ Steinberg, ebd, S. 75. 341 So Meinen, ebd., S. 57 mit Anmerkungen 165 und 166. 342 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, Endlösung in Belgien, S. 81. Ferner VEJ 12/ 218, S. 573 f.

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In Antwerpen, früher ein Zentrum jüdischen Lebens, gab es nun keines mehr. Etwas anders verhielt es sich in Brüssel. Beschäftigten in der Textilindustrie und Mitgliedern der VJB/AJB boten Ausnahmegenehmigungen der Militärverwaltung noch Schutz. Dies sollte auch der Absicht, unterzutauchen, entgegenwirken. Verschont wurden außerdem Juden mit nichtjüdischem Ehepartner, ebenso Kinder und alte Menschen, die nun mehr als zuvor in den Heimen der Vereinigung untergebracht wurden. Die Intention der Militärregierung bei dieser Praxis war, sich im eigenen Interesse einen kleinen Spielraum für Verhandlungen mit belgischen Stellen zu sichern. Nach dem „Abschub“ der belgischen Juden im September fuhren 1943 keine Deportationszüge mehr in den Osten. Aber 1944 waren es vom 15. Januar bis zum 31. Juli doch noch weitere vier Züge mit den Transporten XXIII bis XXVI, mit denen 2349 Menschen nach Ausschwitz gebracht wurden. Auf Grund von Erlassen des RSHA wurde sogar noch einmal eine Verstärkung der „Judenevakuierungsmaßnahmen“ versucht, wie der Militärverwaltungschef in einem seiner letzten Tätigkeitsberichte vom 10. Mai 1944 mitteilte.343 Durch den „illegalen Aufenthalt“ der Mehrzahl der Juden sei das sehr schwierig, „trotzdem hat die Sicherheitspolizei am 10. 04. 1944 den 24. Judentransport […] vom Lager Mecheln nach dem Osten durchgeführt“. Als der letzte Zug abfuhr, war knapp zwei Wochen vorher die Militärverwaltung von einer Zivilverwaltung mit einem Reichskommissar an der Spitze abgelöst worden. Viel Zeit für irgendwelche Aktivitäten blieb ihr nicht. Denn am 6. September 1944 wurde Brüssel von den Alliierten befreit. In der gesamten Besatzungszeit wurden aus Belgien, ganz überwiegend vom Lager Dossin in Mecheln aus, aber auch auf anderen Wegen, 30.158 Personen nach Osten deportiert. Überlebt haben davon 1640 Menschen, so dass sich eine Gesamtzahl von 28.518 jüdischen Opfern ergibt.344 Geht man von den in der „Judenkartei“ des BdS erfassten 56.186 Personen aus, dann stellten die 24.906 von Mecheln nach Auschwitz Deportierten einen Anteil von 45 %, darunter 4081 Kinder. Die Minderzahl der Opfer waren belgische Staatsangehörige, die große Mehrheit aber Staatenlose oder Angehörige anderer Nationalitäten. Unter den Opfern befanden sich auch viele, die im Laufe der 1930er Jahre aus Deutschland nach Belgien geflohen waren. Gerade auch aus Köln glaubten sich Juden nach Belgien retten zu können, wurden dort aber 1940 von der deutschen Besatzung und anschließend von der Verfolgungsmaschinerie eingeholt. Einzelne solcher Schicksale sind in einem ergreifenden Buch dargestellt.345

4.7.5 Die Verantwortlichkeit der Militärregierung Im Folgenden soll die Verantwortlichkeit der Militärregierung insgesamt bestimmt werden. Sie umfasst die von Militärbefehlshaber und Militärverwaltungschef, wobei es keine feste Grenze ­zwischen den Anteilen beider gibt. Ihre Funktionen waren eng miteinander verbunden. Weiter ist bei der Frage der Verantwortlichkeit nach Komplexen von Verfolgungsmaßnahmen zu unterscheiden. Die zahlreichen antijüdischen Verordnungen, w ­ elche in Belgien in den Jahren 1940 bis 1942 erlassen wurden, entsprachen einem allgemeinen „Programm“ der Besatzungsmacht, welches in allen von ihr besetzten Gebieten durchgeführt wurde. Die Verantwortung hierfür trifft den 343 Abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 85. 344 Wetzel, ebd., S. 130. Ferner Meinen, ebd., S. 184. 345 Becker-­Jakli, Ich habe Köln doch so geliebt, S. 67 ff, 90 ff, 175 ff, 184 ff, 303 ff, 315 ff.

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Militärbefehlshaber von Falkenhausen und den Militärverwaltungschef Reeder im Wesentlichen gleichermaßen. Die Verordnungen waren im Verwaltungsstab vorbereitet worden, ­Reeder hatte sie als dessen Leiter abschließend gebilligt. Die fertigen Entwürfe leitete er dann von Falkenhausen zu, der sie unterzeichnete und in Kraft setzte. Einige trugen vertretungsweise die Unterschrift Reeders. Beide haben mit den Verordnungen, ­welche die Juden ihrer Rechte beraubten, eine schwere Verantwortung auf sich geladen, politisch, rechtlich und auch moralisch. Daran kann kein Zweifel bestehen. Als nächsten Komplex von Verfolgungsmaßnahmen sind die Deportationen jüdischer ­Männer zum Bau des „Atlantikwalls“ in die Lager der Organisation Todt in Nordfrankreich anzusehen. Zu Recht ist darin eine eigenständige Verfolgungsmaßnahme der Militärverwaltung gesehen worden. Sie entsprang eigener Initiative, nicht der einer zentralen Stelle des Regimes. Die selbstgeschaffene Rechtsgrundlage, eine antijüdische Verordnung des Militärbefehls­habers, war ihrerseits menschenrechts- und völkerrechtswidrig. Sie ist von Falkenhausen und Reeder gleichermaßen anzulasten. Auch wenn die Organisation Todt für die Zustände in den Lagern unmittelbar verantwortlich war, hatte die Militärregierung doch die jüdischen Männer dieser Lage ausgesetzt. Die Frage nach der Verantwortlichkeit der Militärverwaltung an den Deportationen der Juden aus Belgien ist nur differenziert zu beantworten. Am meisten betont sie Meinen.346 Ihre Ausführungen werfen die Frage auf, ob nicht die Militärverwaltung die Deportationen hätte verhindern können. Den gegenteiligen Eindruck vermittelt das Oberlandesgerichts Schleswig (OLG) in einem Beschluss vom 8. März 1977 zur Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Ehlers und andere. Danach wird mit aller Deutlichkeit betont, dass die Durchführung der Deportationen und die Organisation der Transporte Sache der Dienststelle des BdS gewesen sei.347 Meinen hebt allerdings durchweg die dominierende Rolle der Militärverwaltung gegenüber dem BdS hervor. Sie verweist darauf, dass die Militärverwaltung in die Deportation eingewilligt und insbesondere später ihr „Plazet“ dazu gegeben habe, auch die belgischen Juden abzuschieben. Deren Einwilligung sieht sie darin, dass der Gesandte von Bargen in seinem Bericht vom 9. Juli formulierte, die Militärverwaltung beabsichtige, die für den Sommer vorgesehene Deportation von 10.000 Juden durchzuführen. Das war keine Einwilligung in aller Form. Es bedurfte ihrer auch nicht, denn die Militärverwaltung war offenbar ohnehin zu dieser Vorgehensweise bereit. Zwischen ihr und dem BdS bestand kein grundsätzlicher Dissens. Überspitzt ist M ­ einens Formulierung, die Militärverwaltung habe ihr notwendiges „Plazet“ zum Abtransport der belgischen Juden erteilt. Allerdings hat nach dem Vermerk über die Besprechung vom 20. Juli 1943 von Falkenhausen seine Bedenken zurückgestellt, und das sicherlich im Einvernehmen mit Reeder. Für den BdS war es nicht nur wegen des Unterstellungsverhältnisses notwendig, die Militärverwaltung einzubeziehen. Vielmehr musste diese ja die „Erfassung“ der Juden belgischer Staatsangehörigkeit gegenüber den Generalsekretären, anderen Institutionen und dann auch der belgischen Bevölkerung vertreten. Zutreffend erscheint eher die Sichtweise, die Militärverwaltung und damit auch Reeder selbst hätten die Berliner Deportationsaufträge und -befehle grundsätzlich als gegeben angesehen und lediglich zunächst aus besatzungspolitischen Gründen eine Zurückstellung der belgischen Juden erreicht. Die Militärverwaltung hätte die vom RSHA angeordneten Deportationen letztlich

346 Ebd., „Die Rolle der Militärverwaltung“, S. 76 ff. 347 Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 116 ff. Das folgende Zitat auf S. 123 f.

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nicht verhindern können. Hätten von Falkenhausen und Reeder das versucht, wäre entweder Reeder als Inhaber eines hohen SS-Ehrenrangs von Himmler in die Pflicht genommen worden, oder er wäre mitsamt dem Militärbefehlshaber abgelöst worden. Die Rolle der Militärverwaltung und vor allem Reeders war nicht völlig passiv. Die gerade erwähnte Formulierung des OLG Schleswig, die Deportationen ­seien „ureigenste Domäne der Dienststelle des BdS“ gewesen, erfasst nicht die gesamte Realität. Zwar lautete die Aussage des ehemaligen Abteilungsleiters IV (Gestapo) des BdS Straub vor dem öffentlichen Ankläger des belgischen Militärgerichts, die Rolle der Militärverwaltung sei „mehr theoretisch als effektiv“ gewesen.348 Der Wirklichkeit näher kam aber der folgende Satz: Die Befehle kamen aus Berlin, die Ausführung oblag der SIPO in Brüssel und die deutsche Militärverwaltung, unter deren Verantwortung das, was in Belgien vor sich ging, stand, mußte selbstverständlich Kenntnis von den im Hinblick auf die Juden getroffenen Maßnahmen haben.

Tatsächlich hatte die Militärverwaltung mit Reeder als ihrem Chef durchaus einen eigenen Anteil an der Durchführung der Deportationen gehabt. Dazu gehörten zunächst die anfangs erteilten „Arbeitseinsatzbefehle“, die unter dem Briefkopf des Militärverwaltungschefs vom BdS ausgestellt und von Ehlers unterschrieben worden waren. Weiter zählten dazu die Gestellung von Kräften der Feldgendarmerie und Geheimen Feldpolizei an den Razzien und Verhaftungen. Schließlich ist hier die Rundverfügung Reeders an die (Ober-)Feldkommandanturen vom 25. September 1942 anzuführen, wonach das Untertauchen von Juden verhindert werden sollte und in der die Reihenfolge der abzuschiebenden Personengruppen festlegt und die weitere Unterstützung der Sipo/SD durch eigene Polizeikräfte vorgegeben wurde. Insbesondere Reeder arbeitete mit dem Leiter der Dienststelle eng zusammen und setzte sich in manchen Punkten gegen ihn durch. Der Militärverwaltungschef gerierte sich sogar mehrfach als Letztverantwortlicher für die Durchführung des „Abschubs“. Das Verhalten von Reeders Militärverwaltung gegenüber der VJB/AJB war autoritär und wenig entgegenkommend, aber nicht so rücksichtslos wie das von Sipo/SD. Exemplarisch war, dass Reeder die Entlassung der willkürlich verhafteten Vorstandsmitglieder der Vereinigung durchsetzte. Seine Haltung entsprach weniger eigener Überzeugung als besatzungspolitischen Überlegungen. Die Militärverwaltung und Reeder selbst betrieben gegenüber dem VJB/AJB ebenso wie gegenüber den Generalsekretären und der belgischen Bevölkerung tendenziell eine Beruhigungsstrategie. Die Vertretung der Juden sollte an einer Selbstaufgabe gehindert, ein Minimum an Zusammenarbeit mit der belgischen Verwaltung gesichert, Unruhen in der Bevölkerung vermieden und insgesamt das Besatzungssystem, soweit überhaupt möglich, stabil gehalten werden. Wenn sie sich dabei als Institution darstellte, die auf die Deportationen „keinen Einfluss“ habe, so verkleinerte sie ihre Rolle erheblich. Entlasten kann sie dies keinesfalls. Das „ob“ der Deportationen nach Osten war in Berlin entschieden worden, das „wie“ der Durchführung lag in der Verantwortung von Militärverwaltung und Dienststelle Sipo/SD zusammen, wobei der Eindruck eines Doppelspiels entstehen konnte, ohne dass ­dieses abgesprochen gewesen wäre. Reeder hat aber seinerseits mindestens in einem Fall die Verfolgung verschärft, indem er die kurz vor den Deportationen geschlossenen „Mischehen“ nicht anerkannte.

348 Die Aussage vom 17. Februar 1948, abgedruckt bei Klarsfeld/Steinberg, ebd., S. 88 ff (S. 89).

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Der Militärverwaltungschef hatte sich gegenüber den Generalsekretären als jemand dargestellt, der „Schlimmeres“ verhüten wolle. Dies war in der Tat auch sein und auch von ­Falkenhausens Selbstverständnis. Aber auch dies ist keine wirkliche Entlastung, sondern offenbart ein Dilemma. Wenn jemand „Schlimmeres“ verhüten will, ist bereits Schlimmes geschehen, das er nicht verhindert hat oder – wie im Falle des Militärverwaltungschefs – an dem er sogar beteiligt war. Auf die Frage, wie von Falkenhausen und Reeder sich der Komplizenschaft mit den Verbrechen der Shoah in Belgien hätten entziehen können, antwortet Werner Warmbrunn ebenso lapidar wie zutreffend: der einzige Weg wäre gewesen, ihre Ämter niederzulegen.349 Sie sollen das 1943 erwogen, aber mit Rücksicht auf die belgische Bevölkerung nicht getan haben. Den in Belgien lebenden Juden hat ihr Verbleiben im Amt allerdings nur in Einzelfällen geholfen. Reeder ist zwar attestiert worden, er sei kein Antisemit gewesen.350 Ungeachtet seiner früheren Mitgliedschaft in der DNVP , einer Partei mit antisemitischen Zügen, traf dies wohl zu. Aber auch, wenn er kein Antisemit war, änderte dies überhaupt nichts an der Wirkung der Handlungen als Militärverwaltungschef. Er und von Falkenhausen hätten, um dem genannten Dilemma zu entgehen, früher eine andere Weichenstellung vornehmen müssen, nämlich sich erst gar nicht in den Dienst des Regimes zu stellen oder zumindest keine Funktionen in der Besatzungsverwaltung zu übernehmen. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Verantwortlichkeit Reeders variiert von einer Teilverantwortung für das, was im Lager Breendonk geschah, einer Gesamtverantwortung gemeinsam mit dem Militärbefehlshaber für die antijüdischen Verordnungen und die Deportationen nach Nordfrankreich sowie endlich einer erheblichen Teilverantwortung für die Durchführung der Deportationen der Juden nach dem Osten. Zusätzlich stellt sich noch die Frage, ob Reeder wusste, wohin die Züge fuhren und welches Schicksal die Deportierten erwartete. Sichere Belege dafür, was er gewusst hat, gibt es nicht. Wenn sein politischer Referent im September 1942 möglicherweise noch nichts wusste,351 so kann dies nicht maßgeblich sein. Ein Artikel einer illegalen Zeitung des belgischen Widerstandes sprach im Oktober 1942 ausdrücklich davon, dass sie von einem „grauenvollen Tod“ bedroht ­seien.352 Reeder hätte also mindestens eine Ahnung gehabt haben können. Außerdem war er ja Inhaber eines hohen SS-Ehrenranges und dürfte über besondere Informationsquellen verfügt haben. Daher besteht die Vermutung, dass er etwas wusste. Aber erfahrungsgemäß verfügt der Mensch über hochwirksame Verdrängungsmechanismen. Wenn er etwas nicht wissen will, weiß er es auch nicht. Was allerdings dem staatsautoritären Nicht-­Antisemiten Reeder abgeht, ist auch nur eine Spur von Mitleid für die verfolgten Juden.

349 Vgl. Warmbrunn, German Occupation, S. 265, auch zum Folgenden. 350 Schreiber, Stille Rebellen, S. 47. 351 Meinen, ebd., S. 74. 352 Vgl. VEJ 12/193, S. 519.

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4.8 Vertretung des Reichskommissars von Juli bis September 1944 sowie die Vorgeschichte der Zivilverwaltung Am 18. Juli 1944 wurde in Belgien eine deutsche Zivilverwaltung mit einem Reichskommissar an der Spitze eingerichtet. Dies war ein tiefer Einschnitt in der Besatzungsherrschaft, der sich aber nicht nachhaltig auswirkte, weil die Zivilverwaltung nicht lange dauerte. Im Laufe des Septembers befreiten die Alliierten Belgien und machten so der deutschen Besatzung ein Ende. Die Zivilverwaltung hatte allerdings eine lange Vorgeschichte. Bekanntlich hatte Hitler 1940 geschwankt, ob er nicht doch eine Zivilverwaltung in Belgien einführen sollte. Seine schwankende Haltung blieb, bis er sich im Sommer 1944 endlich doch dazu entschied. Von den persönlich Betroffenen war der Militärbefehlshaber strikter Gegner einer Zivilverwaltung; sie hätte ihn seiner Stellung beraubt. Reeders tendierte später zu einer anderen Lösung. Es gab mehrere Interessenten, die sich für die Einführung einer Zivilverwaltung stark gemacht hatten. Zu ihnen gehörte, wie erwähnt, Himmler, vor allem weil er dann ohne Weiteres einen höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) einsetzen und so seinen Einfluss bedeutend verstärken konnte. Der zweite war der Reichspropagandaminister Goebbels, weil er Vorbehalte gegen Militärs und deshalb auch eine Militärverwaltung hatte. Ein regionaler Interessenträger war Gauleiter Grohé. War schon das Gebiet seines Gaues durch die faktische Annexion der 1920 an Belgien abgetretenen Kreise Eupen und Malmedy vergrößert worden, gingen seine Ambitionen doch noch weiter.353 Im Februar 1941 unternahm er einen Vorstoß, den beiden Kreisen jeweils noch mehrere belgische Gemeinden zuzuschlagen, die nie zum Deutschen Reich gehört hatten. Hitler versagte sich jedoch ­diesem Ansinnen. Während der Besatzungszeit gab es mehrfach Pläne, eine Zivilverwaltung einzuführen. Die ersten gingen auf Hitler höchstpersönlich zurück. Im September 1941 äußerte er gegenüber dem OKW-Chef Keitel und dem Leiter der Reichskanzlei Lammers diese Absicht.354 Nicht von ungefähr schrieb Goebbels am 24. September in sein Tagebuch: „Meine Meinung über General von Falkenhausen […] teilt der Führer. Er wird ihn ablösen und durch einen Zivilkommissar ersetzen. Ich schlage dafür den Gauleiter Grohé aus Köln vor; dieser Vorschlag findet die Billigung des Führers.“355 Hitler erteilte Ende Oktober Lammers den Auftrag, einen Umwandlungserlass vorzubereiten, benannte Grohé als möglichen Reichskommissar und gab dabei die Überlegung weiter, ob man nicht die wallonischen und flämischen Gebiete trennen solle, die zuerst Genannten einer Zivilverwaltung unterstellen, die zweiten dem Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Das Reichsinnenministerium machte schwere Bedenken gegen eine Teilung Belgiens und gegen ein um Flandern vergrößertes niederländisches Reichskommissariat geltend. Das OKW war ohnehin für die Beibehaltung einer Militärverwaltung. Lammers erweiterte den Kreis der Beteiligten. Ende November teilte das Reichspropagandaministerium mit, der „Fragenkomplex“ sei z­ wischen dem Minister und Reeder besprochen worden. In allen wesentlichen Punkten bestehe Einigkeit. Dies war eine Fehlinformation, möglicherweise bewusst. In der Tat hatte am 14. November eine Besprechung des Ministers stattgefunden, aber nicht mit Reeder allein, sondern zugleich mit von Falkenhausen. Hierbei ging es, wie weiter oben bereits dargestellt, 353 Vgl., auch zum Folgenden, Matzerath, Tor zum Westen, S. 427 f. Vgl. ferner Wagner, ebd., S. 225 f. 354 Dazu und zum Folgenden vgl. Wagner, Belgien in der deutschen Politik, S. 235 ff. 355 Tagebücher, Teil II, Bd. 1, S. 485. Der folgende Eintrag aus Teil II, Bd. 2, S. 285.

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um die „Geiselfrage“. In Goebbels’ Tagebuch ist nur sie als Gesprächsgegenstand erwähnt, nicht aber die Einführung einer Zivilverwaltung. Die Sache zog sich weiter in die Länge.356 Ein geplanter „Führervortrag“ kam monatelang nicht zustande. Der Chef der Reichskanzlei nutzte dann eine Möglichkeit zum vorläufigen Abschluss der Angelegenheit und vermerkte am 13. Mai 1942: „Einer beiläufigen Äußerung des Führers konnte ich entnehmen, daß er die Frage der Einrichtung einer Zivilverwaltung in Belgien zur Zeit nicht vorgetragen haben will.“ Im Vormonat hatte Goebbels in seinem Tagebuch festgehalten: Falkenhausen ist meiner Ansicht nach seinem Amt nicht in vollem Umfange gewachsen. Hierhin gehört ein energischer und zielbewußter Nationalsozia­list. Aber die politisch-­militärische Lage an sich verbietet es vorläufig, die militärische Verwaltung Belgiens in ein Zivilkommissa357 riat umzuwandeln.

Ohne ihn zu nennen, gab er damit sicherlich Gedankengänge seines „Führers“ wieder. Ende September 1942 kam ein neuer Vorstoß für eine Zivilverwaltung durch den Staatssekretär Stuckart in Gang.358 In einer Unterredung mit Lammers berief er sich dafür auf ­Reeder. Dieser habe einen Hitler unmittelbar unterstellten Reichskommissar vorgeschlagen, der, eine komplizierte Konstruktion, in Nordfrankreich zugleich Militärverwaltungschef unter dem Militärbefehlshaber in Paris sein solle. Der Name Grohé fiel dabei auch wieder. Reeder hatte schon seit längerem in seinen Tätigkeitsberichten die ungeregelte Stellung der Kriegsverwaltungsbeamten beklagt. In einer Besprechung mit dem Staatssekretär hatte er wohl die Auffassung erkennen lassen, es sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, sie durch Einführung einer Zivilverwaltung zu verbessern. Eine wohl von Lammers für einen „Führervortrag“ angeforderte Aufzeichnung Stuckarts ging am 10. Oktober in der Reichskanzlei ein. Darin wurde die Einführung einer Zivilverwaltung befürwortet, weil die Militärverwaltung sich abgenutzt habe. Zudem ­seien Militärbefehlshaber und Militärverwaltungschef nicht eng genug mit der Führung des Reiches verbunden. „Eine unmittelbare Einflussnahme des ­Führers auf Belgien ist [aber] durch die Länge des Krieges notwendig geworden.“ Theoretisch wäre eine s­ olche auch deswegen denkbar gewesen, weil Hitler seit Dezember 1941 auch Oberbefehlshaber des Heeres war. Aber er vereinigte zu viele Funktionen, und auch persönlich konnte sich z­ wischen von Falkenhausen und ihm kein engeres Verhältnis entwickeln. Nach Stuckarts Plan sollte eine starke politische Persönlichkeit mit einer Zivilverwaltung an die Stelle des Militärbefehlshabers treten. Im Auftrag des Chefs der Reichskanzlei entwarf nun ein Mitarbeiter eine Vorlage für einen geplanten „Führervortrag“, in der alle Gesichtspunkte für und gegen eine Zivilverwaltung aufgeführt waren.359 Sie ging auch nochmals auf den Teilungsgedanken ein, konnte jedoch darauf verweisen, dass Hitler sich von ihm abgewandt hatte wegen der Befürchtung, dadurch politische Ambitionen des flämischen VNV und des niederländischen NSB anzufeuern. Die Ausarbeitung kulminierte in dem Satz, entscheidend sei, „ob es im Interesse des Reiches nunmehr notwendig ist, die politischen Probleme des belgischen Raumes aktiv anzupacken.“ Die 356 Weiter dazu Wagner, ebd., S. 243 ff, Lammers Vermerk S. 246. 357 Tagebücher, Teil II, Bd. 4, S. 62. 358 Zum Folgenden Wagner, ebd., S. 250 ff, das Zitat auf S. 252. 359 Zum Folgenden ders., ebd., S. 254 ff. Die Zitate auf S. 257 und 258.

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abgewogene Argumentation tat offenbar ihre Wirkung in Lammers’ Sinne. Nach einem tatsächlich stattfindenden „Führervortrag“ vom 23. Oktober 1942 hielt er knapp fest: „Der ­Führer hält den gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht für geeignet, eine Zivilverwaltung in Belgien einzuführen.“ Ein weiteres Mal blieb die Militärverwaltung erhalten. Reeder war für Stuckarts Vorstoß Initiator gewesen. Seinem Führungsverständnis entsprach, sich für seine Beamten nachdrücklich einzusetzen, wie er es schon früher getan hatte. Überraschend ist jedoch, dass er des ungeregelten Status der Kriegsverwaltungsbeamten wegen für eine Zivilverwaltung eingetreten sein soll. Äußerungen in einem anderen Zusammenhang sprechen aber dafür, dass Reeder die Organisationsform einer Militärverwaltung nicht absolut setzte. Für ihn war maßgeblich, wie stark seine Stellung war. So formulierte er im Oktober 1942 intern, der Militärverwaltungschef sei „Reichsstatthalter eines besetzten Staates“.360 Himmler hatte während der Initiative Stuckarts keine aktive Rolle gespielt. Einige Monate später kam es nun z­ wischen ihm und Reeder zu einer Auseinandersetzung, die dem Reichsführer ermöglicht hätte, auf eine Änderung an der Spitze der Besatzungsverwaltung zu drängen. In einem Brief vom 16. Februar 1943 stand, er habe „als Reichsführer-­SS einige Dinge zu beanstanden, die ich bei SS-Führern nicht gewohnt bin.“361 Der erste Punkt betraf die mangelnde Unterstützung des in Flandern und der Wallonie „aufgezogenen Arbeitsdienstes“. Sodann habe Reeder sein Versprechen nicht gehalten, seinen Referenten Thedieck, „der von uns als wenig wünschenswerter – um nicht zu sagen unseliger Ratgeber […] angesehen wird, zum 31. 12. 1942“ zu entfernen. Schließlich sei Reeder als der „verantwortliche politische Mann“ zur Zeit des Todes des VNV-Führers Staf De Clercq im Urlaub gewesen. Zumindest zur Regelung der Nachfolge hätte er dann sofort nach Brüssel reisen sollen. Reeder antwortete postwendend am 20. Februar, einen Tag nach Erhalt des Schreibens. Er war offenbar tief betroffen. Gerne wäre er „vor Erhebung derartig schwerer Vorwürfe“ gehört worden. Er ging dann auf diese in einem zehnseitigen Schreiben im Einzelnen ein. Von der Anweisung, die Arbeitsdienste in Flandern und Wallonien besser zu unterstützen, habe er erst durch Himmlers Brief erfahren. Die Dienste hätten „jederzeit die grösste Unterstützung und Förderung der Militärverwaltung erhalten.“ Sein Vorhaben, Thedieck auch dessen Bitte entsprechend abzulösen, habe er nicht durchführen können. Dazu machte Reeder neben personalwirtschaftlichen Gründen geltend, es ­seien Gerüchte verbreitet worden, Thedieck werde auf Wunsch des RSHA entfernt. Seine Autorität als Militärverwaltungschef wäre schwer erschüttert worden, wenn er „in d ­ iesem Augenblick OKVR. Thedieck abgelöst hätte.“ Auch seine (Reeders) Arbeitskraft, die er insbesondere seit Kriegsbeginn ohne Rücksicht auf sich und seine Familie im Interesse des Dienstes eingesetzt habe, werde überschritten, wenn ihm „ein besonders eingearbeiteter, befähigter und vorbildlich fleissiger Referent […] ohne die Möglichkeit einer Ersatzgestellung in ­diesem Augenblick genommen“ würde. Besonders schwer habe ihn der Vorwurf der Urlaubsabwesenheit zur Zeit des Todes von Staf De Clercq getroffen. Nur nach „eingehender Untersuchung“ sei er in der Lage, ihn hinzunehmen. „Schon jetzt“ machte er aber dazu längere Ausführungen, die sich dahingehend zusammenfassen lassen, er sei nicht in Urlaub gewesen; seit Kriegsbeginn habe er nur einmal ­kurzen „Erholungsurlaub“ genommen. Vielmehr habe er sich zu Dienstgesprächen in Köln aufgehalten, habe von der Krankheit De Clercqs zu spät erfahren und sich auch in die Regelung der Nachfolge eingeschaltet. Zudem

360 Zitiert nach Wilken, Diener in Köln, S. 30. 361 Briefwechsel in SS-Führerpersonalakte Reeder, BA Berlin R 9361 III/ 549445.

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verwies er darauf, er habe in seiner „langjährigen Dienstführung noch keinerlei Tadel, insbesondere bezüglich [seines] Pflichtgefühls erhalten[…]“. Auch seine Gegner könnten nicht behaupten, er sei dem Militärverwaltungsstab gegenüber nicht bemüht gewesen, „beispielhaft zu arbeiten und zu leben“. Offenbar war die Kränkung so tief, dass er eine radikale Konsequenz anbot: „Ungeachtet meiner Bitte, vor endgültiger Aufrechterhaltung der Vorwürfe nochmals ihre Berechtigung zu prüfen, bitte ich, Reichsführer, um Ihr sofortiges Einverständnis zu meinem Wunsche, baldmöglichst aus der Militärverwaltung auszuscheiden.“ Die Kränkung war es aber nicht allein. Er schob auch strukturelle Gründe nach. In steigendem Maße ist während der letzten Zeit in mir die Überzeugung gewachsen, dass die politisch nicht hinreichende Zivilstellung eines Regierungspräsidenten in keiner Weise genügt, um mir als Militärverwaltungschef im Interesse der für das Reich durchzusetzenden Gesamtaufgaben die notwendige Autorität und Durchschlagskraft zu verleihen.

Nach einem selbstzufriedenen Rückblick auf die bisherige Arbeit in Brüssel gab er der „aufrichtigen Hoffnung Ausdruck, daß Sie, Reichsführer, […] meiner Bitte um Entlassung aus der Militärverwaltung wohlwollendes Verständnis entgegenbringen.“ Er wünsche, „im Osten als Offizier […] weiterhin [seine] Pflicht für das Vaterland zu tun.“ Was Reeder mit seiner Bitte um Ablösung bezweckte, ist schwer auszumachen. Fraglich ist, ob sie wirklich ernst gemeint war. Eine Überreaktion aus gekränkter Ehre ist nicht auszuschließen, würde Reeders nüchternem Charakter aber nicht entsprechen. Denkbar wäre, dass er bluffte, um mit kalkuliertem Risiko Himmlers Vorwürfe abzuwehren und sich ­wieder eine störungsfreie Dienstausübung zu verschaffen. So einflussreich Himmler auch sein mochte, er war nicht der Mann, der über Reeders Verwendung als Militärverwaltungschef entschied. Jedenfalls blieb Reeder ja im Amt und eine Reaktion Himmlers auf dessen Schreiben ist nicht in den Akten enthalten. Reeder musste Thedieck allerdings im Verlauf des Jahres 1943 doch „opfern“. Als Himmler am 4. August 1943 Reichsinnenminister geworden war, unternahm er keine Versuche in Richtung Zivilverwaltung, ­welche die Stellung des Militärverwaltungschefs hätte gefährden können.362 Möglicherweise war er doch zu der Einsicht gekommen, besser sei es, den „offenbar unersetzlichen Reeder“ für die eigenen politischen Ziele zu ­nutzen, nämlich einer „allmählichen Germanisierung“ des Landes. Dabei konnte die Militärverwaltung als Hülle bestehen bleiben. Für den Militärverwaltungschef seinerseits war diese Entwicklung durchaus vorteilhaft. Er konnte sich dabei ein Vertrauen Himmlers erhalten und sich sogar der Ansprüche der SS im Lande selbst erwehren. Der Militärverwaltungschef war sogar, wie bereits mehrfach erwähnt, am 9. November 1943 zum SS-Gruppenführer (General) ernannt worden.363 Er musste geradezu einen höheren Rang erhalten, weil sein Vertreter von Craushaar zum SS-Brigadeführer befördert werden sollte, was Reeder bereits war. Der Beförderungszeitpunkt lag zwei Monate nach der Deportation der belgischen Juden. Reeders Aussagen über seine Stellung an der Spitze der Militärverwaltung ließen den Militärbefehlshaber vielsagend beiseite. Zwischen ihm und von Falkenhausen bestanden durchaus Spannungen. Dies kam auch in den Tagebuchaufzeichnungen des in Kapitel 2

362 Vgl. Wagner, ebd., S. 259, von dort die Zitate. 363 Datum bei Schrulle, ebd., S. 679; ferner Wilken, ebd., S. 28 f mit FN 106, auch zum Folgenden.

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erwähnten ehemaligen Botschafters in Rom, Ulrich von Hassell, zum Ausdruck. Am 4. Juli 1943 berichtete er von einer Vortragsreise nach Brüssel, bei welcher Gelegenheit er mit von Falkenhausen und Reeder zusammentraf.364 Von Hassell als Mitglied der Widerstandsgruppe Goerdeler/Beck stand mit dem Militärbefehlshaber in Kontakt, den er stützen wollte. Er war gerufen worden, um auf die Protagonisten befriedend einzuwirken. Im Tagebuch steht, Reeder habe sich bei einer langen Unterredung „in großer, wie mir schien durchaus echter Erregung“ befunden. Hauptsächlich habe er sich darüber beschwert, dass der Militärbefehlshaber „den Landeseinwohnern gegenüber zu weich sei, noch dazu in unsystematischer Weise“. Wegen des Einflusses seiner Freundin aus belgischem Adel bestehe kein wirkliches Vertrauensverhältnis z­ wischen ihm und seinen Beamten; er handle dauernd hinter deren Rücken und lasse sogar durchblicken, „daß er mit deren Maßnahmen nicht immer einverstanden sei“. Nach von Hassells Eindruck lag die Schuld auf beiden Seiten, weil es an gegenseitigem Verständnis mangele. Wie dramatisch auch immer, müssen jedenfalls beträchtliche Reibungen in der Spitze der Besatzungsverwaltung bestanden haben. Sonst hätte der meist so beherrschte Reeder sich kaum einem anderen in dieser Weise offenbart. All dies könnte auch zur Erklärung des Folgenden beitragen. Überraschend nämlich ordnete Hitler im Dezember 1943 Vorbereitungen für die Einführung einer Zivilverwaltung an.365 Der Chef der Reichskanzlei wird dies nicht angestoßen haben. Eher hatte der „Fall Harbou“ die Dinge ins Rollen gebracht. Der Oberst war seit Beginn der Besatzungszeit Leiter des Kommandostabes und mit Reeder als Leiter des Verwaltungsstabs gleichberechtigt. Verstand sich der eine vornehmlich als Heeresoffizier, sah sich der andere für die Militärverwaltung insgesamt verantwortlich. So kam es z­ wischen ihnen zu Rivalitäten. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Militärregierung über der Besatzungspolitik in einem Land, dessen Bevölkerung verständlicherweise widerständiger wurde. Dabei sollte doch die Militärverwaltung den Belgiern als das kleinste Übel erscheinen. Reeder war überdies immer bestrebt gewesen, Differenzen möglichst nicht nach außen erkennbar werden zu lassen. Andererseits legte er auch großen Wert darauf, dass die leitenden Männer der Militärregierung durch ihr gesamtes Verhalten radikalen Vertretern des Regimes keine Angriffsflächen boten. Diese Gefahr bestand bei von Falkenhausens aufwändigem Lebensstil durchaus. Auf seinem Landsitz Seneffe bei Brüssel traf sich die gehobene belgische Gesellschaft. Dort verkehrte ebenfalls häufig von Harbou; dazu passte, dass er in dienstlichen Belangen vom Militärbefehlshaber immer gedeckt wurde. Ende 1943 erhielt Kaltenbrunner, der Leiter des RSHA, Hinweise, die Gräfin Ruspoli, Freundin von Falkenhausens, mache in Frankreich verbotene Devisengeschäfte. Der Militärbefehlshaber solle davon gewusst haben. Nach ersten Untersuchungen wurden zunächst die Gräfin und später auch von Harbou, der die Reisepässe besorgt hatte, verhaftet und ins Reich gebracht. Er beging im Gefängnis Suizid. Von Falkenhausens Lage hatte sich auf das Äußerste zugespitzt. Er betrachtete die Verhaftungen als gegen ihn persönlich gerichtet.366 Hitler kam auf seinen alten Teilungsgedanken zurück; das Gebiet sollte in die Generalkommissariate Flandern, Wallonien und Nordfrankreich aufgegliedert und Grohé zum 364 Hassell, Tagebücher, S. 371 f, von dort auch die Zitate. 365 Hierzu und zum Folgenden vgl. Wagner, ebd., S. 260 ff, zum „Fall Harbou“ insbesondere S. 262 ff. Dazu auch Warmbrunn, ebd., S. 82 ff. 366 Von Falkenhausen, Mémoires, S. 186.

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„Bevollmächtigten“ ernannt werden.367 Was Hitler im Einzelnen angeordnet hat und das Folgende lassen sich nur mühsam rekonstruieren. Jedenfalls kam es auf der Grundlage einer nochmaligen Ausarbeitung der Reichskanzlei dort zu einer „Vorbesprechung“ am 3. Januar 1944. Dazu wurde außer den beteiligten Ressorts auch Reeder, nicht aber von Falkenhausen eingeladen. Die Vorlage war wiederum so angelegt, dass als beste Lösung erschien, keine grundlegende Veränderung vorzunehmen, allenfalls die Militärverwaltung so auszugestalten, dass anstelle eines Militärbefehlshabers Reeder an die Spitze treten könnte. Das Ergebnis der Besprechung wurde in einer Aufzeichnung zusammengefasst. Im Ergebnis wurde die sofortige Einführung einer Zivilverwaltung nicht empfohlen. Reeder scheint aber Argumente für eine allmähliche Überleitung vorgebracht zu haben. Er hatte sich offenbar zu einem moderaten Vertreter einer Zivilverwaltung gewandelt, oder aber sah sie als unaufhaltsam an. Der Chef der Reichskanzlei stimmte dem Besprechungsergebnis zu. Zusammen mit dem Chef der Parteikanzlei Bormann hielt er am 9. Januar Vortrag bei Hitler und übergab ihm die als „Denkschrift“ bezeichnete Gesprächsaufzeichnung. Dieser war verdrossen; denn seinen Hauptanliegen war man ja nicht gefolgt. Hitler entschied an ­diesem Tag abermals nicht. Mit der ein weiteres Mal von Lammers bewirkten Verschiebung wurde der „Fall Harbou“ in seiner unmittelbaren Wirkung aufgefangen. Der Reichskanzleichef konnte aber Hitlers Auftrag nicht als erledigt betrachten.368 Er eröffnete einen neuen, umfangreichen Schriftverkehr mit den Beteiligten. Zu Entwürfen von Führererlassen wurde ein Reigen von Stellungnahmen abgegeben. Aus einem Schreiben des OKW-Chefs Keitel ging Hitlers Entschlossenheit hervor, eine Zivilverwaltung ohne längere Vorbereitungen „kurzfristig anzuordnen und schlagartig durchzuführen“. Weiterer Schriftwechsel verhinderte dies, und Hitler entschied, von Falkenhausen solle noch bleiben. Unbeteiligt geblieben war der Reichspropagandaminister. Goebbels scheint vom „Fall H ­ arbou“ erst mit Verspätung erfahren zu haben. In seinen Tagebüchern fand er sich nur ganz allgemein wieder, daraus wurden aber die bekannten konkreten Schlüsse gezogen.369 Am 17. ­Februar erwähnte er eine „schauderhafte Etappenschweinerei in Brüssel“, am 29. Februar die haarsträubende Korruption „aus unserer Militärverwaltung in Belgien“, weshalb von Falkenhausen „wohl über die Klinge springen“ werde; dann sei „wohl auch der Augenblick gekommen, […] eine Zivilverwaltung einzurichten“. Am 4. März bemerkte er, bei der vorgesehenen Personalveränderung sei Grohé „der rechte Mann am rechten Platz“. Goebbels’ Ausführungen belegen, dass Hitler ungeachtet martialischer Äußerungen auch immer wieder zauderte. Verbündete fand Lammers diesmal nicht.370 Im Mai gewann er schließlich den Eindruck, Hitler könnte jederzeit plötzlich auf die Sache zurückkommen. Ende des Monats waren zwei Entwürfe eines Führererlasses unterschriftsreif vorbereitet, die auf verschiedene Weise die Inte­ ressen der Beteiligten berücksichtigten. Aber kein „Führervortrag“ wurde anberaumt, geschweige eine Entscheidung getroffen. Die Ereignisse des Juni hätten jeweils für sich diese beeinflussen können. Am 6. des Monats landeten die Alliierten an der Normandieküste. Jedenfalls das war eine Stunde der Wehrmacht und sprach für die Militärverwaltung. Andererseits drängte sich Himmler ins Zentrum des Geschehens und ließ den belgischen König mit seiner Familie einen Tag später nach Deutschland bringen. Hitler hatte seine grundsätzliche Zustimmung 367 Dazu und zum Folgenden vgl. Wagner, ebd., S. 264 ff, S. 268 ff und S. 271 ff. 368 Hierzu im Einzelnen Wagner, ebd., S. 274 ff, das Zitat auf S. 276. 369 Teil II, Bd. 11, S. 302, 369 und 407, dort auch der Vorschlag Grohé. 370 Vgl. Wagner, ebd., S. 283 ff. Auch zum Folgenden.

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gegeben, Himmler ihn aber nicht über den konkreten Zeitpunkt informiert.371 Der vom König herbeigerufene von Falkenhausen zeigte sich machtlos, und auch Proteste Reeders und sogar des BdS blieben ohne Wirkung. Die Militärverwaltung war völlig diskreditiert. Himmler hatte einen „Kalender“ in Gang gesetzt. Den letzten Anstoß für eine Zivilverwaltung soll Rüstungsminister Albert Speer gegeben haben.372 Ende Juni drängte er auf eine Änderung der Verwaltungsverhältnisse, weil unter den gegenwärtigen die stärkere Intensivierung der Rüstungsbetriebe nicht durchgeführt werden könne. Am 12. Juli nachmittags fand endlich Lammers’ „Führervortrag“ in Hitlers Hauptquartier statt. Außer dem Chef der Reichskanzlei nahmen Bormann, Himmler, Keitel und nicht zuletzt der Kölner Gauleiter teil, den Himmler herbeigerufen hatte, schließlich der für die Stelle eines Wehrmachtbefehlshabers ausersehene General Grase. Lammers brachte nochmals seine Auffassung zum Ausdruck, dass keine Veränderung die beste Lösung sei. Dafür fand er aber keine Unterstützung. Hitler vertrat allen Ernstes die Ansicht, es handele sich nach wie vor um „eine zivile Verwaltung besetzter Gebiete“, es ändere sich also nichts. Nun fiel die Entscheidung für die Zivilverwaltung und Grohé wurde mit dem Amt des Reichskommissars betraut. Entsprechend Himmlers langjährigem Wunsch wurde sein Bevollmächtigter in Brüssel Jungclaus zum HSSPF bestellt. Was Hitler tatsächlich vorschwebte, wurde mit den Richtlinien erkennbar, die er Grohé und Grase für ihre Politik mitgab. Des Reiches „unverrückbares Ziel müsse es sein, das Gebiet Belgiens endgültig in die Hand zu bekommen, wobei die beste Lösung die Bildung eines flämischen und eines wallonischen Reichsgaues sein würde.“ Dieses nationale Interesse sei „eiskalt zu verfolgen und ganz rücksichtslos und egoistisch zu vertreten“. Hitler war sich wohl des Scheiterns der Besatzungspolitik bewusst. In Anbetracht der Lage waren Hitlers „Richtlinien“ von absurder Wirklichkeitsfremdheit. Nunmehr musste ein „Führererlass“ ergehen; Grohé konnte auf die endgültige Fassung vom 13. Juli 1944 noch Einfluss nehmen.373 Darin hieß es, der an der Spitze der deutschen Zivilverwaltung stehende Reichskommissar Grohé unterstehe Hitler unmittelbar und erhalte von ihm Richtlinien und Weisungen. Ihm werde „zur Durchführung der polizeilichen Sicherung“ ein ihm unmittelbar und persönlich unterstehender Höherer SS- und Polizeiführer beigegeben. Diesem könne der Reichsführer SS „fachliche Weisungen“ erteilen, die, wenn „allgemeiner Art oder politisch von weittragender Bedeutung“, über den Reichskommissar zu leiten s­ eien. Die „militärischen Hoheitsrechte“ würden durch einen dem OKW unterstellten „Wehrmachtbefehlshaber“ ausgeübt. Diesem obliege die militärische Sicherung des Gebietes im Inneren; er unterstütze den Reichskommissar bei dessen politischen und Verwaltungsaufgaben. Der Erlass gab die fein austarierte Machtverteilung ­zwischen den Beteiligten wieder, die sich beim „Führervortrag“ des Vortages bereits abgezeichnet hatte. „Starker Mann“ war Grohé, der sich allerdings die Macht mit dem HSSPF teilen musste. Eine vergleichsweise nachrangige Funktion hatte dagegen der Wehrmachtbefehlshaber. Am 18. Juli 1944 übergab nun von Falkenhausen in einer ­kurzen Zeremonie die Leitung der Besatzungsverwaltung an den neuen Reichskommissar Grohé. Der General zog sich auf seinen Landsitz Seneffe zurück. Grohé übernahm sodann das Personal des ­Verwaltungsstabes, was der Führererlass ermöglicht hatte.374 Zu seinem Vertreter berief er den bisherigen 371 Vgl. Warmbrunn, ebd., S. 129 f. 372 Hierzu und zum Folgenden Wagner, S. 287 ff, von dort auch die Hitler-­Zitate; auch Matzerath, ebd., S. 429. 373 Abgedruckt in Moll, Führererlasse, S. 430 ff. 374 Zur Personalführung Grohés vgl. Matzerath, ebd., S. 431 f; ferner Warmbrunn, ebd., S. 103.

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­ ilitärverwaltungschef. Sicherlich sprach der Grundsatz der Kontinuität dafür, den MilitärM verwaltungschef in einer ähnlichen Funktion beizubehalten. Zudem kannten sich Grohé und Reeder ja gut aus dessen Zeit als Regierungspräsident in Aachen und Köln, in der sie konfliktfrei zusammengearbeitet hatten. Dies war sicher ein wesentliches Motiv bei Grohés Personalentscheidung. So hatte er Reeder gefragt, ob er bleiben wolle. Dieser hatte unter der Voraussetzung zugestimmt, dass er seine bisherige besatzungspolitische Linie fortsetzen könne. Daraufhin übertrug ihm der Reichskommissar alle Zuständigkeiten mit Ausnahme der Polizei. So war dann wunderlicherweise die alte Konstellation des NS -Gaues Köln-­Aachen in der Schlussphase der Besatzung in Belgien wiedererstanden mit Grohé als politischem Repräsentanten des Systems und Reeder als Vertreter der Administration. Grohé ging es aber nicht allein um die Übernahme eines erfahrenen Personalbestands mit einem ihm vertrauten Leiter; vielmehr wollte er seine eigene Personalpolitik betreiben und sich von Himmler absetzen. Die Bestellung Reeders zum Vertreter lässt sich daher als „Erniedri­ gung der SS “ ansehen, zumal wenn man es als Reeders größte Leistung bezeichnet, einen HSSPF verhindert zu haben.375 Überzogen erscheint jedoch die Auffassung, bei der Machtteilung ­zwischen Partei und SS „war Reeder der richtige Mann, um unter Reichskommissar Joseph Grohé die beiderseitigen Ansprüche auszugleichen.“376 Während die Beförderung des Himmler-­Vertrauten Jungclaus zum HSSPF in Berlin noch verzögert wurde, bestellte Grohé ihn zum Hauptabteilungsleiter für Sicherheit. Dies bedeutete eine Rückbindung des HSSPF an die Zivilverwaltung. Andererseits löste der Reichskommissar eine Personalveränderung aus, die ihm nicht gelegen sein konnte. Nach dem A ­ ttentat vom 20. Juli hatte der Wehrmachtbefehlshaber Grase sich der Aufforderung des Reichskommissars widersetzt, ein Glückwunschtelegramm an Hitler mitzuunterzeichnen. Grohé hintertrug dies Hitler, worauf Grase am 11. August abberufen wurde. Neuer Wehrmachtbefehlshaber wurde ausgerechnet Jungclaus, was wiederum eine Stärkung der Position des Reichsführers SS bedeutete.377 Sein Mann vereinigte in Person jetzt die höchste Polizei- und Wehrmachtsfunktion. Der Reichskommissar konnte seinerseits nicht alle Personalvorstellungen durchsetzen, so auch nicht eine Rangerhöhung Reeders. Dessen Aufwertung durch die Bezeichnung „Staatssekretär“ wäre auch ihm zugutegekommen, indem Grohé gleichsam Ministerrang erhalten hätte. Ebenso scheiterte die angestrebte Erhöhung der Hauptabteilungsleiter zu „Generalkommissaren“.378 Gleich nach Amtsantritt hatte der neue Reichskommissar den Generalsekretären der Ministerien und auch der belgischen Öffentlichkeit seine Ziele proklamiert. Sie zu verwirklichen sollte ihm allerdings nicht viel Zeit bleiben. Von seiner Befugnis zur Rechtsetzung, ­welche ihm der Führererlass verliehen hatte, machte er, soweit ersichtlich, nur einmal Gebrauch. In einer nur aus einem Artikel bestehenden Verordnung vom 19. Juli wurde bestimmt, dass die Verordnungen und Anordnungen des Militärbefehlshabers weiter gelten sollten.379 Zu Himmlers Enttäuschung betrieb Grohé auch keine „auffällig“ neue Besatzungspolitik. Bei der SS vermutete man, er sei unter Reeders Einfluss geraten. In der Tat übernahm er dessen Überzeugung, 375 In’t Veld, HSSPF und Volkstumspolitik, S. 137 und S. 128 f. 376 Wilken, ebd., S. 33. 377 Warmbrunn, ebd., S. 103. Wagner, ebd., S. 291, spricht von einer „unbedachten Äußerung“ Grases. 378 Matzerath, ebd., S. 431 f. Zum Folgenden ebd., S. 429. 379 Verordnungsblatt für die besetzten Gebiete von Belgien und Nordfrankreich, 1. Ausgabe, S. 1. Zum Folgenden Warmbrunn, ebd., S. 104.

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die Anführer belgischer Kollaborateure wie Degrelle könnten den Deutschen keine große Unterstützung bieten. Im Allgemeinen, so war festzustellen, unterschieden sich die Strategien der Zivilverwaltung nicht wesentlich von denen der Militärregierung. Eine Ausnahme bildete der Kampf gegen die Widerstandsbewegung, der noch härter geführt wurde, wohl weil die Sicherheitspolizei jetzt ungehindert operieren konnte. Der dramatische Anstieg von Verhaftungen, Exekutionen und Überführungen in Konzentrationslager im August sei allerdings, so eine nicht ganz nachvollziehbare Mutmaßung Warmbrunns, in erster Linie das Ergebnis des Vorrückens der alliierten Truppen. In der Tat erreichten die Alliierten um die Monatswende August/September 1944 die nordfranzösische Stadt Lille im Gebiet des Reichskommissariats nahe der belgischen Grenze. Schon einige Tage zuvor hatte die Zivilverwaltung damit begonnen, sich etappenweise nach Deutschland abzusetzen.380 Am 3. September wurde Brüssel befreit, fünf Tage später Lüttich. Nach etwas über vier Jahren war die deutsche Besetzung Belgiens zu Ende. Es war „het einde van een lange nachtmerrie“ – das Ende eines langen Albtraums.381 In der Geschichtsschreibung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die deutsche Besatzung in Belgien bei aller Belastung nicht die Schwere der Repression bewirkte wie die Herrschaft des Reichskommissars für die besetzten Niederlande. Dies kann man bei aller Kritik im Übrigen dem Militärbefehlshaber und dem Militärverwaltungschef zuschreiben. Möglich erscheint ein allgemeiner Vergleich z­ wischen der Besatzung des Zweiten Weltkrieges mit der des ­Ersten. Sie hatten Gemeinsamkeiten; die Bevölkerung litt unter großen Einschränkungen, auch Nahrungsmittelknappheit, und Unterdrückungsmaßnahmen. Beide Besatzungsregime führten Zwangsarbeit ein. Überraschend sind dann die Aussagen in einem Handbuch aus dem Jahre 1979.382 Danach sei das Verhältnis ­zwischen Militärverwaltung und Bevölkerung trotz aller Härten weniger gespannt als im E ­ rsten Weltkrieg gewesen. Und weiter „überstand die belgische Bevölkerung den II. Weltkrieg besser als den I.“. Diese äußerst subjektiven Wertungen stammen von Franz Petri, der in der Militärverwaltung längere Zeit als Kultur- und Volkstumsreferent tätig war. Die erste Aussage ist eine Behauptung. Die zweite ist ungeheuerlich. Denn bei ihr wird die Judenverfolgung in Belgien praktisch ausgeblendet, wiewohl Petri unter den Opfern der Besatzung auch die erwähnt, „die dem nationalsozia­listischen Vernichtungswillen anheimfielen [!]“. Bei einer Bewertung der Besatzungszeit des Zweiten W ­ eltkrieges kann das Schicksal der in Belgien lebenden Juden nicht außer Acht bleiben. Sie waren, ob belgische Staatsangehörige oder nicht, Teil der belgischen Bevölkerung. Die Verfolgung aller sowie die Deportation und Ermordung annähernd der Hälfte von ihnen bewirken für sich allein schon, dass die deutsche Besatzung des Zweiten Weltkriegs unvergleichlich schwerwiegender war als die des ­Ersten.

380 Umbreit, Deutsche Herrschaft, S. 24. 381 Jacquemyns, Een bezet land, S. 103. 382 Petri, Belgien, Niederlande, Luxemburg vom Ende des I. Weltkrieges bis zur Politik der europäischen Integration, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7, S. 711 ff (S. 714 f). Das Zitat auf S. 715.

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Eggert Reeder

4.9 Falkenhausen und Reeder: Unterschiedliche Charaktere, verschiedene Rückwege ins Reich, Kriegsende Am 18. Juli 1944 wurden von Falkenhausens und Reeders Wege getrennt. Der eine war ohne Amt, der andere blieb als Amtsträger in Brüssel. Unterschiede der Persönlichkeiten waren auffällig. Hier der hohe Offizier aus schlesischem Adel, weltläufig, leicht exzentrisch, mit einem ungewöhnlich großzügigen Lebensstil; dort der disziplinierte, pflichtstrenge, aber auch ehrgeizige hohe Beamte aus großagrarischer Familie. Wiewohl einig im Grundansatz der Besatzungspolitik, offenbar auch in der „Judenpolitik“, gab es doch Auffassungsunterschiede und Spannungen. Sie hingen mit ihrer unterschiedlichen Einstellung zur belgischen Bevölkerung zusammen. Während Reeder im Sinne des Regimes auf die Flamen setzte und sich in der „Flamen­politik“ engagierte, bevorzugte von Falkenhausen die wallonisch geprägte belgische Oberschicht. In seinem Zorn, von Falkenhausen sei gegenüber den „Landeseinwohnern“ zu weich, dachte Reeder wohl auch an die gesellschaftlichen Kontakte des Generals. Der „Fall Harbou“ hatte das Verhältnis ebenfalls stark belastet; hier kam die Kameraderie ­zwischen Militärbefehls­haber und Leiter des Kommandostabes hinzu. Aber letztlich besaßen die autoritative Prägung durch den Heeres- oder Verwaltungsdienst, zudem beider Sinn für hierarchische Ordnung, die stärkere Bindungskraft. Dem Militärverwaltungschef war die Arbeitsteilung ­zwischen ihm und dem Militärbefehlshaber durchaus recht, auch wenn Reeder dies aus gegebenem Anlass in die negative Formulierung kleidete, er sei „im wesentlichen auf [sich] allein gestellt“ gewesen.383 Während von Falkenhausen die Verordnungen unterschrieb, bei besonderen Anlässen auftrat und allenfalls in grundsätzlichen Angelegenheiten entschied, lag alles Übrige bei Reeder. Einige Mitarbeiter hatten den Eindruck, „he lived like a Pascha and left all the hard work to Reeder“.384 Dieser aber war auf diese Weise allzeit präsent und der eigentlich bestimmende Mann der Militärverwaltung. Den Militärbefehlshaber und den Militärverwaltungschef traf die prinzipiell g­ leiche moralische Verantwortung für das Unrecht, welches die Militärverwaltung in Belgien begangen hat, insbesondere, wie bereits ausgeführt, für die Verfolgung der in Belgien lebenden Juden. Warmbrunn hat diese Verantwortlichkeit in ebenso einleuchtender wie eindringlicher Weise beschrieben.385 Im Kern lässt sie sich folgendermaßen zusammenfassen: Beide waren national gesinnte, konservative Männer, in der Weimarer Zeit der republikfeindlichen politischen Rechten angehörend. Im „Dritten Reich“ blieben sie im Dienst, obwohl sie das Verbrecherische des Regimes hätten erkennen können und es ihnen möglich gewesen wäre, ihn zu quittieren. Ihre Funktionen in der Militärverwaltung übernahmen sie bereitwillig und mit Überzeugung. Als sie an einen Punkt kamen, den sie moralisch für nicht mehr verantwortlich hielten, nämlich die Deportation der Juden belgischer Staatsangehörigkeit, gerieten sie in ein auswegloses Dilemma. Hätten sie jetzt ihre Funktionen aufgegeben, wäre aller Voraussicht nach eine Entwicklung zu noch Schlimmerem eingetreten. Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass beide den Sieg des Deutschen Reiches wollten und dafür arbeiteten, wobei zu fragen ist, ob sie sich der weiteren Folgen bewusst waren: „But the Germany they served was Hitler’s Germany, and German victory would have meant Nazi rule, and terror and mass extermination all over Europe.“ Ein Unterschied z­ wischen den beiden trat in der 383 Brief an Himmler vom 20. Februar 1943, S. 9, vgl. FN 368. 384 Wiedergegeben nach Warmbrunn, German Occupation, S. 84. 385 Ders., ebd., S. 263 ff. Das Zitat ist auf S. 265.

Falkenhausen und Reeder

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Schlussphase des „Dritten Reiches“ in aller Deutlichkeit hervor. Von Falkenhausen war ein Gegner des Regimes, während Reeder NSDAP- und SS-Mitglied war. Wie bereits angeführt, stand von Falkenhausen mit der Widerstandsgruppe Goerdeler/ Beck in Verbindung, allerdings nur punktuell. Jedoch galt er allgemein als widerständig. 386 Am 20. Juli 1944, zwei Tage nach seiner Ablösung, misslang das Attentat auf Hitler, und der Staatsstreichversuch scheiterte. An ­diesem Tag kamen aus technischen Gründen Kontakte der Verschwörer in Berlin mit dem ehemaligen Militärbefehlshaber in Seneffe nicht zustande. Er wurde in die Reichshauptstadt bestellt und verhaftet. Gestapoverhöre brachten nichts Schwerwiegendes zutage, vor allem nicht die erwähnten Verbindungen. Als „Führerhäftling“ kam er ins KZ, ein Prozess gegen ihn wurde nicht eröffnet. Kurz vor Kriegsende wurde er mit anderen prominenten in- und ausländischen Häftlingen von der SS ins Südtiroler Pustertal verschleppt mit der Absicht, sie dort zu liquidieren.387 Am 28. April 1945 befreite die Wehrmacht sie aus dieser Lebensgefahr, die Amerikaner dann endgültig. Reeders Rückweg ins Reich war ganz anders. Er kehrte als Funktionsträger des Regimes nach Köln zurück, wie auch Gauleiter Grohé, und nahm seine Arbeit als Regierungspräsident wieder auf. Auch musste er die zusätzliche Bürde eines kommissarischen Behördenleiters in Düsseldorf erneut übernehmen. Der dortige Regierungspräsident war Anfang September mit einem anderen Amt betraut worden.388 Die Verhältnisse, die Reeder in Köln antraf, waren durch die Endphase des Krieges gekennzeichnet. Die Stadt war stark zerstört, das öffentliche Leben lag danieder. Von einer geordneten Verwaltung konnte unter diesen Umständen kaum noch die Rede sein. Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner im März 1945 verlegte er die Behörde ins Landratsamt des Oberbergischen Kreises nach Gummersbach.389 In den letzten Wochen des Krieges lösten sich die Institutionen des nationalsozia­listischen Staates völlig auf. Nachdem der „Ruhrkessel“ gebildet worden war, wurde Reeder als Verwaltungsbeamter zum Stab des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe B kommandiert. Am 18. April 1945 wurde er bei deren Kapitulation gefangen genommen. Seine Beamtenkarriere war damit faktisch beendet. Am 21. Mai 1945 bestellte die amerikanische Militärregierung in Köln einen neuen Regierungspräsidenten, den ehemaligen Richter am Reichsfinanzhof Clemens Busch, der 1936 aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt worden war. Bisher blieb die Frage offen, ob Reeder überzeugter Nationalsozia­list war. Sie lässt sich nicht allein mit Hinweis auf seine frühe Parteimitgliedschaft sowie seinen hohen SS-Rang beantworten. Äußerlich war dieser Rang sogar noch durch Himmler’sche Beigaben wie Ehrendegen, Totenkopfring und Julleuchter überhöht worden.390 Dies waren ja auch Mittel, den so „Geehrten“ noch stärker an die SS zu binden. Wilken macht in seiner Darstellung durchgängig keinen Hehl daraus, dass er Reeder als einen überzeugten Funktionsträger des „Dritten Reiches“ ansieht, wenn auch nur der „Dritten Reihe“. Unter der Militäruniform habe er den „braunen Parteianzug und die Insignien der SS“ getragen. Aber diese Sicht orientiert sich zu sehr an Äußerlichkeiten. Maßgeblich ist und nicht eindeutig zu beurteilen, ob Reeder eine „nationalsozia­listische Überzeugung“ hatte, zumal er der NSDAP auch zur Förderung der eigenen Karriere beigetreten 386 Vgl. dens., ebd., S. 79 f. Zum Folgenden Wagner, ebd., S. 291 f. 387 Dazu Fest, Staatsstreich, S. 305 f. 388 Romeyk, Verwaltungsgeschichte, S. 214. 389 Hierzu und zum Folgenden August Klein, Festschrift Köln, S. 114 und S. 117. 390 Wilken, ebd., S. 29, FN 106. Zum Folgenden Absatz vgl. ebd., S. 33 f.

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Eggert Reeder

ist.391 Sicherlich gab es Elemente der NS -Ideologie, die ihn, den konservativen Nationalen, anzogen, namentlich Führerprinzip und Ablehnung des Parteienstaats. Sein Vertrauen in den „Führerstaat“ wurde aber während des Zweiten Weltkriegs erschüttert. Bestimmte Wesenszüge, die man einem überzeugten Nationalsozia­listen zuschreiben müsste, fehlten ihm jedenfalls. Nicht die Partei oder gar die SS war für ihn das Wichtigste, sondern der Staat und dessen Autorität. Seinem eher statischen Denken musste das Wesen einer „Bewegung“ fremd bleiben, die sich zudem immer mehr radikalisierte. Außerdem war er weder Kirchenfeind, noch Antisemit, noch Rassenideologe. Zutreffend erscheint die Sichtweise, er habe sich zwar für einen Nationalsozia­listen gehalten, sei aber in Wirklichkeit keiner gewesen. Dies kann ihn aber nicht wirklich entlasten. An seinen Handlungen als Funktionsträger des Regimes, der ihm bis zu dessen Ende gedient hat, ändert das Fehlen einer nationalsozia­ listischen Überzeugung im Grunde nichts. Diese Handlungen als Regierungspräsident und Militärverwaltungschef sind es aber, die den Maßstab seiner Bewertung bestimmen, und sie belasten ihn.

391 Hierzu und zum Folgenden vgl. Warmbrunn, ebd., S. 87. Ferner Plum, Staatspolizei, S. 207 f; Fehrmann, Lebensbilder, S. 311.

5 Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit Bei Kriegsende befand sich keiner der Regierungspräsidenten mehr im aktiven Dienst, und keiner von ihnen sollte je nochmals ein staatliches Amt ausüben. Ihr weiterer Lebensweg ist eng mit den Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland verwoben. Er lässt nicht nur ihren eigenen, sondern auch den allgemeinen Umgang mit den Erfahrungen aus dem NS-Regime erkennen. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 und das Ende des Regimes bedeuteten unzweifelhaft die Befreiung vom Nationalsozia­lismus. Das galt auch für den Teil des Landes, in dem einige Jahre später eine kommunistische Diktatur folgen sollte. Das Regime war in einer vollständigen militärischen Niederlage geendet. Das Land war besetzt und vor allem von den Kämpfen der letzten Kriegsphase schwer gezeichnet, die Städte durch Bombardierung weitgehend zerstört. Eine Reichsregierung gab es nicht mehr; die vier Alliierten übernahmen die oberste Regierungsgewalt. Das Land wurde in Besatzungszonen eingeteilt. Neben der amerikanischen, britischen und russischen wurde wenig später auch eine französische gebildet. Die wirtschaftliche Not und die angespannte Ernährungslage wurden noch gesteigert durch die 15 Millionen Vertriebenen, die aus den abgetrennten Gebieten östlich von Oder und Neiße und dem übrigen Osteuropa nach Westen strömten. Es war der absolute Tiefpunkt in der deutschen Geschichte. Ein Gefühl der Befreiung bestand weitestgehend nicht. Vorherrschend waren auch nicht Schuldbewusstsein oder Scham darüber, was während der Diktatur geschehen war, sondern Niedergeschlagenheit und Apathie. Im Laufe der Zeit äußerste sich Unverständnis oder Unmut über Maßnahmen der Besatzungsmächte. Ein Umdenken in der Bevölkerung war nur wenig zu spüren.

5.1 Die Unzulänglichkeiten der Entnazifizierung Die Alliierten waren sich prinzipiell darin einig, dass die nationalsozia­listischen Organisationen, sofern nicht schon zerfallen, zu beseitigen s­ eien. Amtsträger des Regimes und auch dessen Anhänger sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Auf der Potsdamer Konferenz der „großen Drei“ (USA, Sowjetunion und Großbritannien) vom 17. Juli bis 2. August 1945 wurde die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands beschlossen. In den Westzonen, in der sich ja alle drei Regierungspräsidenten aufhielten, wurde die Entnazifizierung in erster Linie von den Amerikanern vorangetrieben.1 Sie veranlassten eine erste Entlassungswelle insbesondere auf allen Ebenen der Verwaltung und der Justiz. Die Amerikaner drängten auch auf ein einheitliches Vorgehen der Besatzungsmächte. Als sich dies nicht im notwendigen Maß erzielen ließ, handelten sie in ihrer Besatzungszone selbstständig weiter. Sie legten die Entnazifizierung in „deutsche Hände“, allerdings unter ihrer Kontrolle. Auch sorgten sie für eine rechtsförmige Grundlage mit dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozia­lismus und Militarismus“ vom 5. März 1946, welches in Bayern, Groß-­Hessen und Württemberg-­Baden gleichzeitig in Kraft gesetzt wurde.2 Es war ein von

1 2

Hierzu und zum Folgenden vgl. Birke, Nation ohne Haus, S. 66 ff. Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Gesetz Nr. 20, S. 145; vgl. auch Nr. 6 der Präambel.

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Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit

der ­Militärregierung genehmigtes deutsches Gesetz. Darin waren Grundsätze und materielle Ausgestaltung der Entnazifizierung enthalten sowie die Regelung des dazu dienenden „Spruchkammerverfahrens“. Insbesondere hatte nach Art. 3 jeder Deutsche über 18 Jahren einen Meldebogen auszufüllen und abzugeben. Wegen der Vielzahl der Fragen und einzelner Formulierungen war der Bogen umstritten und auch Gegenstand teilweise heftiger Kritik. Nach Art. 4 des Gesetzes wurden „zur gerechten Beurteilung der Verantwortlichkeit und zur Heranziehung zu Sühnemaßnahmen“ fünf Gruppen gebildet: 1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer, 5. Entlastete. Eine Anlage zum Gesetz nahm eine Zuordnung zu diesen Gruppen je nach Funktion in Staat oder Parteiorganisationen vor. Über 1,6 Millionen Meldebögen wurden bis Sommer 1946 bei der amerikanischen Besatzungsverwaltung abgegeben und zügig registriert.3 Das ließ den Umfang der Aufgabe erkennen, die es zu bewältigen galt. Auch war sie der Sache nach schwierig genug. Nicht nur der Fragebogen war sehr detailliert, auch das Gesetz selbst. Zudem war geeignetes Personal für die Spruchkammern nur mit Mühe zu finden. So liefen die Verfahren nur zögerlich an. Die Amerikaner waren über das ihrer Ansicht nach zu geringe Engagement der deutschen Stellen so unzufrieden, dass sie sogar kurz überlegten, die Entnazifizierung wieder selbst durchzuführen. Hinzu kam, dass sie zu anderen Zwecken missbraucht wurde, vor allem dem Austragen persönlicher Feindschaften. Insgesamt entwickelten die Verfahren immer mehr eine Tendenz zur Rehabilitierung statt zur Säuberung. Dazu trugen nicht zuletzt die in großer Zahl eingereichten, fast ausnahmslos positiven Leumundszeugnisse bei, die „Persilscheine“. Diese bedenkliche Tendenz wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht letztlich hingenommen. Denn 1947 wandelten sich die Prioritäten ihrer Deutschlandpolitik. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Krieges bekam nun der wirtschaftliche Wiederaufbau Vorrang. So wurde die Entnazifizierung im Ergebnis zur „Mitläuferfabrik“. Anfang der 1950er Jahre sollte sie dann regelrecht „liquidiert“ werden.4

5.2 Ein Beispielsfall: Das Spruchkammerverfahren gegen Rudolf zur Bonsen Seit 1937 hatte Rudolf zur Bonsen seinen Wohnsitz in Grainau, einem Dorf oberhalb von Garmisch. Am 18. Dezember 1947 wurde gegen ihn ein Verfahren vor der Spruchkammer Garmisch-­Partenkirchen eröffnet.5 Dem Verfahren stand nicht entgegen, dass er sich seit 1940 im endgültigen Ruhestand befand. Dies änderte nach dem Gesetz an der Verantwortlichkeit für eine „Vergangenheit“ im NS-Regime nichts. Die abschließende Entscheidung in d ­ iesem Verfahren hatte prototypischen Charakter. Sein Rechtsanwalt reichte im März 1948 eine 38-seitige Verteidigungsschrift ein. Darin stellte dieser den Antrag, den Betroffenen für „entlastet“ zu erklären. Als Belege wurden über fünfzig Bescheinigungen, schriftliche Zeugnisse und eidesstattliche Erklärungen eingereicht, vor allem von Verwaltungsangehörigen und kirchlichen Persönlichkeiten. Zur Bonsen wurde darin durchweg günstig beurteilt. Außerdem war eine von ihm selbst verfasste Erläuterung 3 4 5

Birke, ebd., S. 68 ff. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 54 ff. Die Verfahrensakten im Staatsarchiv München, Spruchkammerakten Karton 4237 Bonsen, Rudolf zur.

Ein Beispielsfall: Das Spruchkammerverfahren gegen Rudolf zur Bonsen

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zum politischen Fragebogen beigefügt. Die Spruchkammer folgte dem Antrag und auch im Wesentlichen den ihm zugrunde liegenden Ausführungen. Sie fällte im schriftlichen Verfahren am 8. Dezember 1948 ihre Entscheidung, Rudolf zur Bonsen sei entlastet. In der Begründung des Spruches wurde zunächst auf dessen Angaben zur Parteizugehörigkeit, Tätigkeit in der Gauleitung, Zugehörigkeit zum Reichsluftschutzbund und weniger belangvollen Parteiorganisationen sowie auf die amtliche Stellung als Regierungspräsident von 1933 bis 1935 (richtig: 1934) verwiesen. Nach der Bewertung der Spruchkammer fiel er als „Altparteigenosse“, „Gauabteilungsleiter“, „Luftschutzführer“ und als Regierungspräsident in die Klasse II der Anlage zum „Befreiungsgesetz“. Daher gelte er nach der gesetzlichen Vermutung des Art. 10 „bis zur Widerlegung als Belasteter (Aktivist, Militarist, Nutznießer)“.6 Nach Art. 7 wurde als „Aktivist“ unter anderem der definiert, „wer durch seine Stellung oder Tätigkeit die Gewaltherrschaft der NSDAP wesentlich gefördert hat“. Der Betroffene habe dagegen eingewendet, aktiven Widerstand gegen die nationalsozia­listische Gewaltherrschaft geleistet und dadurch Nachteile erlitten zu haben; er beanspruche daher die Einstufung in die Gruppe der „Entlasteten“. Im Weiteren hielt die Spruchkammer zur Bonsen zugute, dass nach allen „Urkunden und Zeugnissen“ sein Parteibeitritt 1932 aus „lauterer, idealer Absicht“ geschehen sei und dass er, sobald er dessen wahres Wesen erkannt, dem Nationalsozia­lismus den Rücken zugewandt habe (S. 2).7 Sie beschönigte den Parteibeitritt und überging dabei abweichende Ausführungen. In einer „Bescheinigung für Herrn Regierungspräsidenten a. D. Rudolf zur Bonsen“ vom 4. ­Februar 1948 führte sein früherer Behördenleiter Elfgen aus: „Herr zur Bonsen war von etwas hitzigem Temperament, und seine politischen Ansichten waren ab 1932, nicht unbeeinflußt durch den Rausch dämonischer Reden, etwas verworren […].“ Dies war deutlich genug, auch wenn später das Lob folgte, zur Bonsen habe „zu den besseren bezw. gemässigteren Elementen innerhalb der NSDAP gehört“. In einer eidesstattlichen Erklärung vom 9. März 1947 schrieb ihm sein früherer Kölner Kollege und nachmaliger enger Mitarbeiter Thedieck „eine abwegige Vorstellung von den politischen Möglichkeiten eines Einparteiensystems“ zu. Entscheidend war für die Kammer offenbar zur Bonsens „Erläuterung zum Meldebogen“, er sei der Partei beigetreten, weil er in Hitler den Mann erblickt habe, der das drohende Chaos abwenden könne. Dabei blieb unberücksichtigt, dass das frühere DNVP-Mitglied auch wegen handfester politischer Übereinstimmungen wie autoritärem Staatsverständnis und nationalis­ tischer Gesinnung der NSDAP beigetreten sein könnte. Entsprechend der im Einzelnen wieder­ gegebenen Darlegungen zur Bonsens zu seinem Amt in der Gauleitung führte die Kammer aus, es sei festzustellen, dass der Betroffene formell einige Monate ein Parteiamt, aber ohne aktive Betätigung, innegehabt habe (S. 3). Die Darstellung zur Bonsens war nicht falsch. Sie ließ aber unerwähnt, dass er Sprechstunden gehalten und als Regierungsrat im Organigramm eine „Visitenkarte“ für die Partei abgegeben hatte. Im Folgenden (S. 3 – 6) wandte sich die Begründung den Beförderungen des Betroffenen zum Regierungsvizepräsidenten und zum Regierungspräsidenten im Jahr 1933 zu. Sie stellte fest, die erste sei nicht von einer nationalsozia­listischen Regierung, sondern von den im Juli 1932 anstelle der preußischen Koalitionsregierung eingesetzten „Kommissaren des Reichs“ vorgenommen worden. Die Kammer übernahm damit die Darstellung zur Bonsens in der Erläuterung zum

6 7

Im Folgenden zitierte Artikel sind s­ olche des Befreiungsgesetzes. Die folgenden Seitenzahlen in runden Klammern sind immer s­ olche der Begründung des Spruches.

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Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit

Meldebogen und seines Anwalts im Verteidigungsschriftsatz, ­welche unpräzise und irreführend war. Zur Bonsen hatte unerwähnt gelassen, dass, wie in Kapitel 2 geschildert, sein Vorgänger Sozia­ldemokrat und jüdischer Herkunft war. Die Kommissariatsregierung war auch nicht die des Juli 1932, sondern war mit Hitlers Regierungsantritt am 30. Januar 1933 neugebildet ­worden. Der Reichskommissar von Papen war zwar kein Mitglied der NSDAP gewesen, hatte aber Hitler wesentlich zur Macht verholfen und war als Vizekanzler „Zweiter Mann“ einer nationalsozia­listisch geführten Reichsregierung. Stärkste Figur in Preußen und entscheidend bei zur Bonsens Ernennung war der kommissarische Innenminister Göring gewesen. Von einer „nichtnationalsozia­listischen Regierung“ konnte im eigentlichen Sinne keine Rede sein. Bei der ausführlichen Behandlung der Ernennung zum Regierungspräsidenten war für die Kammer maßgeblich, ob der Betroffene insoweit „Nutznießer“ im Sinne des Art. 9 gewesen sei. Aus dessen umfangreicher Definition konzentrierte sich die Kammer darauf, ob die Ernennung ausschließlich wegen der Mitgliedschaft in der NSDAP erfolgt sei (S. 6). Das verneinte sie unter Bezug auf hochrangige Zeugen, wie den Oberpräsidenten der Rheinprovinz von 1933 bis 1935, von Lüninck, vor allem aber die Bekundungen des Betroffenen selbst. Eine wesentliche Rolle habe gespielt, dass er als Katholik der überwiegend katholischen Bevölkerung in der Rheinprovinz gut zu vermitteln gewesen sei. Zur Bonsen erklärte sogar, er habe das Amt ausschließlich aus „religionspolitischen Erwägungen“ angenommen (S. 4). Die Kammer wertete die beeidete Gegenaussage des Zeugen Sch. als unmaßgeblich. Dieser hatte als „persönliche Meinung“ zur Bonsens Befähigung in Frage gestellt und seine Ernennung allein auf dessen Eintreten für die NSDAP zurückgeführt. In der Tat war die Bestellung zur Bonsens zum Regierungspräsidenten, wie in Kapitel 2 dargestellt, nicht allein wegen der NSDAP-Mitgliedschaft erfolgt. Unerheblich ist dabei die Überbetonung von zur Bonsens Kirchlichkeit. Zu fragen war allerdings, ob die Kammer den Begriff des Nutznießers nicht zu eng gefasst hat, indem sie ihn nur dann anwenden wollte, wenn die Zugehörigkeit zur NSDAP der alleinige Grund der Personalmaßnahme gewesen wäre. Sie hätte ein „Nutznießertum“ auch dann annehmen können, wenn, wie im konkreten Fall, die Parteimitgliedschaft offenbar vorrangiger Grund bei der Personalentscheidung gewesen war. Die dezidierte Auffassung des Zeugen Sch., es genüge für ein „Nutznießertum“, im „Dritten Reich“ Regierungspräsident geworden zu sein, stelle, so die Kammer, eine Diffamierung aller in dieser Zeit ernannten und beförderten Beamten dar. Diese in bezeichnender Weise verallgemeinernde Wertung übersah, dass der Zeuge nur von einem bestimmten Spitzenamt gesprochen hatte. Im Folgenden gab die Kammer mit Bezug auf die Verteidigungsschrift und Zeugenaussagen ausführlich wieder, der Betroffene sei als Regierungspräsident sogleich allen Ausschreitungen mit Energie und Entschlossenheit entgegengetreten, nachdem die katholische ­Kirche in Köln Hauptangriffsziel der Nationalsozia­listen geworden sei (S. 6 – 8). Dabei entsteht der Eindruck, die Amtsführung zur Bonsens sei ganz überwiegend ein Kampf für die katholische ­Kirche gegen die Partei gewesen. Bis ins Jahr 1934 hinein hat er sich jedoch auch, wie in Kapitel 2 dargestellt, um einen „Brückenschlag“ z­ wischen katholischer K ­ irche und Nationalsozia­lismus bemüht. Bei Einzelkonflikten um die katholischen Jugendverbände wirkte er auf einen Kompromiss hin. Die Kammer gab dann noch die von dem Zeugen Thedieck bestätigte Aussage des frühe­ ren Oberpräsidenten von Lünincks wieder, „seines Wissens“ habe zur Bonsen im Frühjahr 1934 „den Führer selbst im mündlichen Vortrag auf das Verhängnisvolle eines Kampfes gegen die ­Kirche in scharfen Worten [!] hingewiesen.“ Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein solches Gespräch, wenn auch ohne Erfolg, tatsächlich stattgefunden hat. Zur Anfangszeit seines Regimes erscheint eine Unterredung Hitlers mit einem Regierungspräsidenten durchaus als möglich.

Ein Beispielsfall: Das Spruchkammerverfahren gegen Rudolf zur Bonsen

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Zur Beendigung von zur Bonsens Amtszeit in Köln machte sich die Kammer die Version eines „Abschiedsgesuchs“ zu eigen. Dazu ist in Kapitel 2 bereits im Einzelnen Stellung genommen worden. Einen Antrag auf Versetzung in den einstweiligen Ruhestand dürfte zur Bonsen jedenfalls gestellt haben. Die Kammer bezog sich auf einen Zeugen, welcher das Abschiedsgesuch „eine mutige Tat“ nannte, „die damals allgemeines Aufsehen erregte“. Dies dürfte aber vor allem durch die Ablösung selbst hervorgerufen worden sein. Die Darstellung des Betroffenen sei wahrscheinlich, fuhr der Beschluss fort, dass Göring wegen der nachteiligen Wirkung auf das Ausland seine Entscheidung revidiert und ihn nach Stettin versetzt habe (Bl. 8). Auch dazu ist in Kapitel 2 bereits kritisch Stellung bezogen worden. Nach seiner Versetzung sei zur Bonsen in Stettin auf den „besonders gewalttätigen und rabiaten“ Gauleiter Schwede-­Coburg getroffen und habe sofort den Kampf gegen ihn aufgenommen. Dies wurde unter Bezug auf verschiedene Aussagen von Zeugen, die ihm seinerzeit dienstlich verbunden waren, ausführlich wiedergegeben (S. 8 f). Dabei sind Unstimmigkeiten und sachliche Mängel zu verzeichnen. So hat zur Bonsen nicht von Anfang an mit Schwede-­ Coburg zu tun gehabt; dieser wurde erst am 21. Juli 1934 zum Gauleiter und Oberpräsidenten bestellt. Deshalb wurden personelle Auseinandersetzungen angeführt, die nicht mit Schwede-­ Coburg stattfanden, sondern zur Zeit von dessen Vorgänger ausgetragen worden sind. Aber ausgerechnet die gewichtigste Personalmaßnahme, die der Regierungspräsident durchsetzen konnte, die Abberufung eines Landrats, erfolgte im Einvernehmen mit dem Gauleiter und Oberpräsidenten. Zur Bonsen hatte geschickt auszunutzen verstanden, dass der Betreffende Protegé des Vorgängers von Schwede-­Coburg gewesen war. All dies ist bereits in Kapitel 2 im Einzelnen wiedergegeben worden. In der Wiedergabe der Spruchkammer wurde aus dem Kampf gegen den Gauleiter ein Kampf gegen das NS-System generell, von dem ein Zeuge sagte, er habe „an Selbstmord“ gegrenzt. Dies habe zum „Sturz“ des Betroffenen führen müssen, was der Gauleiter auch erreicht habe. Es folgte die Schilderung der Umstände von zur Bonsens Beurlaubung und erneuter Versetzung in den einstweiligen Ruhestand (S. 10). Wenngleich sie nicht die extremen Formen angenommen haben dürften, wie von den Zeugen beschrieben, gab es doch derartige Auseinandersetzungen ­zwischen zur Bonsen und dem Gauleiter, dass es schließlich zum Bruch kam und daraufhin zur Abberufung des Regierungspräsidenten (vgl. hierzu ebenfalls Kapitel 2). Die Kammer ging nun darauf ein, dass der Betroffene im August 1935 aus fiskalischen Gründen mit der Leitung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion beauftragt worden sei (S. 10 f). Dies sei gegen seinen Willen geschehen. Aber selbst in einer „unpolitischen“ Funktion habe er im „Dritten Reich“ nicht weiter mitarbeiten wollen und einen Antrag „auf Entlassung“ gestellt. Im Anschluss daran sei er an einem Nervenzusammenbruch schwer erkrankt, eine Folge der zermürbenden Auseinandersetzungen und seiner Desillusionierung über das Regime. Von seinem Auftrag wurde er im Dezember 1936 entbunden. Wie in Kapitel 2 im Einzelnen ausgeführt, ist diese Darstellung teilweise unrichtig, jedenfalls schönfärberisch. Zur Bonsen hatte der Übernahme des Auftrags zugestimmt, und sich dabei Hoffnungen gemacht, bald wieder als Regierungspräsident eingesetzt zu werden. Als dies nicht geschah, kam es zur inneren Abwendung vom Regime, der Nervenkrise und dem Antrag, von seiner Aufgabe entbunden zu werden. Danach habe er gänzlich zurückgezogen gelebt. In einer Gesamtwertung der Persönlichkeit formulierte die Kammer: „Im Ganzen ­bietet der Betroffene das Bild eines Mannes, der sich bemüht hat, ohne Rücksicht auf Stand, Religion, Rasse und politische Einstellung gerecht und hilfsbereit zu sein.“. Sie fügte ein Zitat aus einer Bescheinigung vom 21. Januar 1948 des Kölner Erzbischofs Kardinal Frings an,

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welcher zur Bonsen als „Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle“ bezeichnet habe, „der den Fehler beging, Andere für so anständig und ideal gesinnt zu halten, wie er selbst war! Er wandte sich unzweideutig von ihnen [sic! den Nationalsozia­listen?] ab, sobald er seinen Irrtum erkannte.“ (S. 11 f). Im Folgenden gab dann die Spruchkammer mehrere Einzelfälle wieder, in denen zur ­Bonsen Beamten zu helfen versucht habe, wenn sie aus politischen Gründen aus dem Amt entfernt werden sollten oder sich Angriffen etwa des Gauleiters ausgesetzt sahen. Nicht in jedem Fall war er allerdings erfolgreich. Jedenfalls resümierte die Kammer: „Immer hat der Betroffene sich schützend vor seine Beamten gestellt […].“ (S. 12) Dies alles kann als zutreffend angesehen werden, zumal es von dem gegenüber zur Bonsen kritischen Zeugen Sch. bestätigt wurde. An der Judenverfolgung habe er sich nicht beteiligt, aber trotz des Risikos jüdischen Menschen mit Geld oder auf andere Weise geholfen. Der erste Satzteil ist sehr allgemein formuliert und kann allenfalls so gemeint sein, er habe persönlich keine Verfolgungsmaßnahme vorgenommen; der zweite ist wahrscheinlich zutreffend. Die Spruchkammer fuhr fort, der Betroffene könne nicht ohne Weiteres als „Aktivist“ nach Art. 7 angesehen werden, weil er, was er nicht bestreite, zunächst überzeugter Nationalsozia­list gewesen sei. Wie von mehreren Zeugen versichert, habe er keine Wahlreden für die NSDAP gehalten. Durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen sei die Behauptung widerlegt, zur Bonsen habe bei seinen Beamten für den Parteibeitritt geworben (S. 12 – 14). Er sei auch nicht deshalb ein „Aktivist“ gewesen, weil er nach der Klageschrift sein Amt als Regierungspräsident „mit Entschiedenheit“ im Sinne des Nationalsozia­lismus wahrgenommen habe. „Pflicht jedes politischen Beamten […]“ sei, so das erstaunlich formale Argument, „sein Amt mit Entschiedenheit im Sinne der von ihm vertretenen Regierung zu führen“. Dies allein könne ihm deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden. „Aktivismus“ wäre nach der Auffassung der Kammer erst dann gegeben, wenn er sich über seine Amtspflichten hinaus für den Nationalsozia­lismus engagiert hätte oder im Amte für dessen Verbrechen eingetreten wäre. Beides liege bei ihm nicht vor. Schließlich stempele ihn seine nur untergeordnete Tätigkeit im Luftschutzbund nicht zum „Aktivisten“ (S. 14 f). Ein Austritt aus der Partei, mit der er „zerfallen“ war, sei ihm nicht zuzumuten gewesen. Ein solcher wäre, worauf er sich berufe, mit der Gefahr einer Vernichtung der Existenz seiner selbst und seiner Familie verbunden gewesen. Die Kammer zitierte sogar die eidesstattliche Erklärung des Stettiner Regierungsvizepräsidenten, ein Austritt aus der Partei hätte für zur Bonsen bereits 1934 „zum mindesten ein Verschwinden für immer im ‚KZ‘ bedeutet […].“ (S. 15) In der Tat hätte ein Austritt aus der Partei das Risiko von Sanktionen gehabt. Ob er zu KZ-Haft geführt hätte, ist nach allem, was man hierüber weiß, doch sehr zweifelhaft. Die Spruchkammer sah offenbar den Zugang zu Art. 13 eröffnet, nachdem sie zur Bonsen nicht als „Aktivisten“ klassifiziert hatte. Nach dieser Vorschrift sei entlastet, wer trotz formeller Parteimitgliedschaft erstens sich nicht nur passiv verhalten, sondern zweitens nach dem Maß seiner Kräfte aktiv Widerstand gegen die nationalsozia­listische Gewaltherrschaft geleistet und drittens dadurch Nachteile erlitten hat. Zum E ­ rsten: „Passives Verhalten“ wurde bejaht, weil er aus den genannten Gründen kein „Aktivist“ gewesen sei. Herangezogen wurde noch, dass er nur nominell Abteilungsleiter in der Gauleitung gewesen und angeblich „keinerlei Tätigkeit“ ausgeübt habe. Wiederum wurde unter Bezug auf Zeugenaussagen die Umkehr von Anhängerschaft in Gegnerschaft betont. In seinem Wohnsitz Grainau habe er sich, was zutraf, völlig von der Partei abgesondert. Zum Zweiten: In den vorangehenden Ausführungen, so die Kammer, sei im Wesentlichen schon das Maß des Widerstandes geschildert worden,

Ein Beispielsfall: Das Spruchkammerverfahren gegen Rudolf zur Bonsen

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den der Betroffene der Gewaltherrschaft entgegengesetzt habe. Es folgte eine Aufzählung von zur Bonsens Widerständigkeit auf personellem und kirchenpolitischem Gebiet, bis hin zu einem Vortrag bei Hitler. Das abrupte Ende der Amtszeit in Stettin wurde angeführt; ebenso die als Ablehnung des nationalsozia­listischen Staates gedeutete Bitte um Entbindung von der kommissarischen Leitung der Preußischen Bau- und Finanzdirektion, schließlich noch sein distanziertes Verhalten dem Regime gegenüber in Grainau. Zusammenfassend könne man sagen, „daß er, so oft sich ihm die Möglichkeit bot, und soweit er die Mittel in der Hand hatte, jeder Form der Gewaltherrschaft entgegengetreten ist.“ Zum Dritten: Als Nachteile sah die Kammer das Ausscheiden aus seiner Stellung in Köln an, ebenso das demütigende aus der in Stettin sowie den Nervenzusammenbruch mit Dauerfolgen „in den besten Mannesjahren“. Durch die mehrfachen Versetzungen in den Ruhestand habe er finanzielle Nachteile erlitten, die er mit 30.000 RM beziffert habe. Nachdem die Spruchkammer alle drei Voraussetzungen bejaht hatte, konnte sie die Entlastung des Betroffenen feststellen und das Entnazifizierungsverfahren einstellen (S. 17 f). Der öffentliche Kläger legte Berufung ein, mit dem Ziel, den Betroffenen in die Gruppe II der Belasteten einzureihen, später abgeändert in den Antrag auf Einreihung in Gruppe IV der Mitläufer.8 Der Betroffene habe durch seinen Widerstand nie die Absicht verfolgt, „den Nationalsozia­lismus als solchen zu beseitigen, ohne [richtig: oder] ihm wenigstens nach Massgabe seiner Kräfte Schaden zuzufügen.“ Die Berufung wurde am 20. April 1949 von der Berufungskammer für Oberbayern verworfen. Zur Begründung schloss sie sich dem erst­instanzlichen Spruch an, insbesondere der Verneinung des „Nutznießertums“. Überdies stellte sie darauf ab, zur Bonsens Widerstandstätigkeit habe zur Folge gehabt, „dass er, wenn er auch selbst nicht an einer Widerstandsbewegung [teilgenommen hatte], doch von den in Frage kommenden Männern für einen leitenden Verwaltungsposten nach dem Umsturz in Aussicht genommen [worden] war.“ Somit wurde die Entscheidung der Spruchkammer rechtskräftig. Methodisch litt deren Spruch darunter, dass er sehr breit sowie nicht stringent formuliert war und es zu Wiederholungen kam. Die Kammer brachte zum Ausdruck, solange keine gewichtigen Gegengründe bestünden, habe der Betroffene allgemein Anspruch darauf, dass man ihm Glauben schenke (S. 3). Beweismittel waren die zahlreichen Zeugenerklärungen und eidesstattlichen Versicherungen, die in den jeweils geschilderten Sachverhalten weitgehend übereinstimmten. Der einzigen für zur Bonsen grundsätzlich kritischen Aussage des Zeugen Sch. ist die Kammer im Wesentlichen nicht gefolgt. Sie hatte kaum die Möglichkeit zu vertiefenden Recherchen. An deren Glaubwürdigkeit kann aber nicht von vornherein gezweifelt werden. Allerdings waren die Aussagen offenbar in der Absicht, den Betroffenen zu entlasten, oft wortreich, sehr farbig bis hin zu häufiger Übertreibung formuliert. Die Kammer, ihrerseits dem Betroffenen erkennbar wohlgesonnen, ließ sich möglicherweise dadurch zu Verallgemeinerungen verleiten. So beruhte die Feststellung, zur Bonsen habe die Jugend vor der nationalsozia­listischen Lehre „behütet“, auf drei Zeugnissen von Studenten, die persönliche Gespräche hauptsächlich in der Zeit des Krieges zum Inhalt hatten (S. 15). Später wurde dies dann noch als „Stärkung der inneren Front“ gewertet (S. 17). Schließlich besteht der Eindruck, dass die Kammer negative Äußerungen von Zeugen beiseiteließ. Gar nicht zur Sprache kam seine in Kapitel 2 beschriebene Tätigkeit in der AKD.

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Wiedergegeben in der Entscheidung der Berufungskammer.

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Sachlich ist für die Begründung kennzeichnend, dass an entscheidenden Stellen gesetzliche Begriffe sehr eng ausgelegt werden, der des „Nutznießertums“ und der des „Aktivismus“, jeweils zugunsten des Betroffenen. Ein „Nutznießertum“ sah die Kammer, wie geschildert, nur dann als gegeben an, wenn etwa die Zugehörigkeit zur NSDAP bei einer Beförderung der alleinige Grund gewesen wäre. Für „Aktivismus“ forderte sie über die normale Amtsausübung eines „politischen Beamten“ hinaus ein zusätzliches Agieren für das Regime. Das Prekäre der Stellung eines „politischen Beamten“ im „Dritten Reich“ wurde überhaupt nicht problematisiert. Dabei wäre die Auffassung gut vertretbar gewesen, ein Regierungspräsident sei im „Dritten Reich“ per se „Nutznießer“ und auch „Aktivist“ gewesen. Aber die Kammer verweigerte sich dieser Sicht. Sie wollte den Betroffenen offenbar aus der Gruppe der Belasteten „herausholen“ und ihm den Weg zur Entlastung nach Art. 13 bahnen. Dahinter stand wohl das Ziel, zur Bonsen die Pension zu erhalten, die er nach Art. 16 Nr. 5 als Belasteter verloren hätte. Dies hätte ihn unverdient hart getroffen. Ob der Zweck auch durch eine andere Weise im Rahmen des Befreiungsgesetzes hätte erreicht werden können, muss offenbleiben. Schließlich wurde die spätere Gegnerschaft zur Bonsens zum Regime überbetont. Die Berufungskammer fügte noch ohne weiteren Beleg hinzu, er sei für eine leitende Tätigkeit „nach dem Umsturz“ in Aussicht genommen worden. Das Gesamtbild der Persönlichkeit, welches von den beiden Spruchkörpern entworfen wurde, erscheint im Grunde nicht falsch, aber doch stilisiert und überhöht. Jedenfalls dürfte eine Tendenz der Spruchkammern zu einer für die Betroffenen möglichst günstigen Entscheidung die Regel gewesen sein. Zur Bonsen lebte weiter zurückgezogen in Grainau. Dort starb er am 18. Oktober 1952 im Alter von knapp 66 Jahren. Es wurde eine Totenmaske von ihm abgenommen.9 Über die Höhe der Versorgung kam es z­ wischen dem Innenminister des Landes Nordrhein-­Westfalen und der Witwe Olga zur Bonsen zu Meinungsverschiedenheiten. Am 7. Dezember 1962 schlossen die Beteiligten einen Vergleich darüber „nach dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131)“.10 Dieses erfüllte den Gesetzgebungsauftrag des Art. 131, der unter anderem am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigte Beamte betraf, also hier den Ruhestandsbeamten zur Bonsen. Nach dem Vergleich sollte für die Versorgung seiner Witwe die Ernennung ihres Mannes zum Regierungsvizepräsidenten maßgeblich sein.11 Mit Rücksicht darauf sehe der Innenminister „von einer sonst notwendigen formellen Entscheidung gem. § 7 G 131 über die Ernennungen des Ehemannes […] zum Regierungsvizepräsidenten (22. 2. 1933) und zum Regierungspräsidenten (15. 6. 1933) ab“. § 7 G 131 bestimmte u. a., Beförderungen blieben unberücksichtigt, die wegen enger Verbindung zum Nationalsozia­lismus vorgenommen worden s­ eien. Der Innenminister neigte offenbar dazu, dies sei bei den genannten Ernennungen der Fall gewesen. Das war zutreffend, wie in Kapitel 2 gezeigt. Die inzwischen 70-jährige Frau zur Bonsen wollte ihrerseits kein Risiko eingehen und war vielleicht auch der Auseinandersetzung müde.

9 Steimel, Kölner Köpfe, S. 72. 10 Vom 11. Mai 1951, BGBl. I, S. 307. 11 Vergleichstext in: LA NRW, PersA. Nr. 101354 (Versorgungsakte).

Rudolf Diels auf der Suche nach einer öffentlichkeitswirksamen Rolle

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5.3 Rudolf Diels auf der Suche nach einer öffentlichkeitswirksamen Rolle 5.3.1 Zeuge in Nürnberg Im „Potsdamer Abkommen“ zum Schluss der Konferenz der „Großen Drei“ war die Bestrafung der Kriegsverbrecher nochmals angekündigt worden. Es war eines ihrer Kriegsziele gewesen, und die Überlegungen dafür reichten länger zurück.12 Im Anschluss an die Konferenz unterzeichneten Vertreter der vier alliierten Besatzungsmächte das „Statut für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg“ (IMT) und das „Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse“. Der danach geplante Prozess sollte sich gegen die Hauptkriegsverbrecher richten, Individuen und verbrecherische Organisationen, für deren Taten es keinen geographisch bestimmten Ort gab. Das Statut nannte drei Kategorien von Verbrechen für den Prozess: Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verfahren sollte sich im Wesentlichen nach der angelsächsischen Rechtspraxis richten. Die Rechtsgrundlagen des bis dahin einzigartigen Kriegsverbrecherprozesses mit vierundzwanzig Hauptangeklagten waren zum Teil umstritten. Sie ­seien nachträglich konstruiert worden, lautete ein Einwand. Die anfängliche Zustimmung der Deutschen schwand während des Prozesses; der Vorwurf der „Siegerjustiz“ wurde erhoben. Dabei konnte doch ernsthaft kein Zweifel daran bestehen, dass die Angeklagten wegen ihrer Taten vor Gericht gehörten. Das konnte nur ein internationales sein; ein deutsches wäre mit der Aufgabe überfordert gewesen. Der IMT und die Anklagevertretung waren mit Juristen aus den vier alliierten Mächten besetzt; Verteidiger waren deutsche Anwälte. Der Prozess begann am 20. November 1945 und ging mit der Urteilsverkündung am 30. September bzw. 1. Oktober 1946 zu Ende. Dreizehn Angeklagte erhielten die Todesstrafe, darunter Göring, der frühere Innenminister Frick, der OKW-Chef Keitel sowie der RSHA-Chef Kaltenbrunner. Drei Angeklagte wurden zu lebenslanger, vier zu zeitlicher Haft verurteilt. Weitere drei wurden freigesprochen, darunter von Papen, dessen Verantwortung sich juristisch wohl nicht erfassen ließ. Die unterschiedlichen Urteile sprachen für eine individuelle Schuldzumessung. Rudolf Diels wurde kurz vor Kriegsende am 3. Mai 1945 gefangen genommen und interniert. Nach Diels’ eigener Darstellung in seinem Spruchgerichtsverfahren habe er sich „sofort“ den Amerikanern gestellt, sei auf Veranlassung englischer Diplomaten, die ihn gekannt hätten, freigelassen worden und habe bei der englischen Militärregierung in Bad Oeynhausen mitgearbeitet. Von dort sei er Ende Oktober mit einer englischen Kommission nach Nürnberg gereist.13 Dies war wieder eine typisch Diels’sche Mischung aus Wahrheit, Halbwahrheit und Erfindung. Tatsächlich gehörte Hannover zur Britischen Zone, und Diels wurde von den Briten an die Amerikaner „weitergereicht“. Dort traf er auf seinen früheren Kollegen aus dem preußischen Innenministerium Robert M. W. Kempner, inzwischen stellvertretender amerikanischer Hauptankläger. Sie verband ein eigentümliches Verhältnis, wie in Kapitel 3 schon geschildert.

12 Vgl. Birke, Nation ohne Haus, S. 73 ff, auch zum Folgenden. 13 Wiedergegeben nach Wallbaum, ebd., S. 261. Zum Folgenden ebd.

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Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit

Kempner schilderte die Wiederbegegnung in seiner Autobiographie folgendermaßen. „Ein britischer Offizier, den ich gut kannte, hatte irgendwo in der britischen Zone einen Herrn aufgespickt: ‚Vielleicht können sie den als Zeugen gebrauchen‘. Ich sehe mir den Herrn an und sage: ‚Was wollen Sie denn hier von mir, Diels?‘ Der hat sich gefreut!“14 Auf Diels’ Frage „Ja, was bin ich denn hier?“, habe er geantwortet: „Ich weiß nicht. Was haben denn die Engländer gesagt? Vielleicht kommen Sie als Zeuge in Betracht […].“ Im Verlauf ­dieses etwas unwirklich erscheinenden Gesprächs entschied Kempner dann: „Da Sie hier in Nürnberg sind, bleiben Sie mal hier. Wir haben im Gefängnis ein extra Zeugenhaus.“ Ob das Gespräch tatsächlich und zudem in so leichtem Ton stattgefunden hat, ist nicht gesichert. Schließlich könnte das Erinnerungsvermögen des Autors Kempner, der im Alter von über 80 Jahren seine Autobiographie verfasst hat, bereits etwas getrübt gewesen sein. Das Gespräch schließt aber keineswegs aus, dass die Briten nach Diels gesucht und ihn bewusst an die Amerikaner übergeben haben. Also wurde Diels in dem „Zeugenhaus“ der Amerikaner untergebracht, welches unter Leitung einer ungarischen Gräfin stand, und dort unter Zimmerarrest gestellt.15 Dies schuf Distanz zu den zahlreichen anderen prominenten Zeugen im Hause und förderte eigenwillige Verhaltensweisen des Eingeschlossenen, der pausenlos Patiencen legte. Wenn ein Vertreter des amerikanischen Geheimdienstes ihn abholte, sei er erleichtert gewesen, das Haus verlassen zu können. Es gab aber einen anderen Zeugen, der über eine Begegnung mit Diels in d ­ iesem Hause positiv berichtete, der frühere preußische Innenminister Carl Severing. Er [Diels] kam auf mich zu und drückte mir sein lebhaftes Bedauern darüber aus, daß man mich in den kalten Dachraum gebracht habe, und dann sagte er: ‚Wenn Sie, wie ich nicht annehme, längere Zeit in ­diesem Hause verweilen müßten, biete ich Ihnen mein Zimmer an. Sie können dann wenigstens in einem leidlich warmen Bett schlafen. Die kalte Dachstube und die Pritsche würde ich leichter ertragen können.‘ Von d ­ iesem höflichen Anerbieten brauchte ich jedoch keinen Gebrauch zu machen.

Unerwähnt ließ Severing einen Zusammenstoß mit Diels auf der Treppe des ­„Zeugenhauses“. Danach soll der frühere Minister Diels vorgeworfen haben, er sei ihm damals – vor dem Preußenputsch 1932 – „in den Rücken gefallen“. Nach einer ausweichenden Replik Diels’ habe Severing ihn noch angefaucht, er könne sich „vor denen“, womit er die Amerikaner meinte, „vielleicht reinwaschen, aber nicht vor mir!“.16 Die Menschen im Zeugenhaus glaubten über Diels die schützende Hand Kempners zu erkennen. Dies war nicht abwegig; denn das besondere Verhältnis ­zwischen beiden hatte einen realen Hintergrund. Kempner hatte Diels einmal aus einer peinlichen Situation herausgeholfen und Diels Kempner, der wegen seiner jüdischen Herkunft bereits im Februar 1933 aus dem preußischen Innenministerium ausscheiden musste, offenbar vor weiterer Verfolgung geschützt. ­Kempner gelang es einige Jahre später zu emigrieren, wobei Diels ihm anscheinend geholfen hat.17 In der Tat fragte sich, ob Diels nicht potenziell als Beschuldigter anzusehen gewesen sei. Auch Kempner war klar, dass Diels’ Darstellung seiner Tätigkeit im Jahre 1933 nur die halbe Wahrheit enthielt. Bereits in seiner ersten eidesstattlichen Versicherung vom November 1945 14 15 16 17

Kempner, Ankläger einer Epoche, S. 116 f. Von dort auch die folgenden Zitate. Kohl, Zeugenhaus, S. 43 f, auch zum Folgenden. Severing, Mein Lebensweg, Bd. II, S. 489 f; Kohl, ebd., S. 126 ff. Vgl. Kohl, ebd., S. 51 ff. Zur „peinlichen Situation“ auch Kempner, ebd., S. 111 f.

Rudolf Diels auf der Suche nach einer öffentlichkeitswirksamen Rolle

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hatte der frühere Gestapochef so formuliert, als habe er mit den Verhaftungen nichts zu tun gehabt und sich mit seinen Beamten der Terrorwelle entgegenzustellen versucht. Kempner war der Meinung, ihn nur als Zeugen gebrauchen zu sollen; er brauchte w ­ elche, die nah am Zentrum der NS-Macht gewesen waren. Zudem glaubte er nicht auf andere Weise an ihn heran­ kommen zu können: „Für Diels war kein Haftgrund da. Wir konnten nicht Leute anklagen, die vor 1939 gegen Deutsche was gemacht haben, es musste irgendwie mit kriegsverbrecherischen Vorbereitungshandlungen zu tun haben […].“18 Von dieser Einschätzung auf amerikanischer Seite unterschied sich die der Briten grundlegend.19 Sie hätten Diels am liebsten auf der Anklagebank gesehen und betrachteten ihn als Sicherheitsrisiko. Seit dem Herbst 1945 hatte sich ­zwischen amerikanischen und britischen Besatzungsbehörden eine zum Teil kontroverse Korrespondenz entwickelt. Die Briten wollten von den Amerikanern über Diels’ Aufenthaltsort informiert werden, weil sie befürchteten, er werde in ihre Zone zurückkehren und dort Kontakte mit früheren Nationalsozia­listen aufnehmen. Erst im Laufe des Jahres 1946 kamen die Briten auch zu der Beurteilung, er sei ein wertvoller Informant, kein Sicherheitsrisiko mehr, und könne sich in der britischen Zone frei bewegen. Diels stand also Kempner als Zeuge zur Verfügung; aber er blieb nicht ununterbrochen im „Zeugenhaus“. Im Dezember 1945 hatte er, sicherlich nicht ohne Erlaubnis der Amerikaner, sich im Jagdschloss des Grafen Faber-­Castell südlich von Nürnberg einquartiert. Das freie Leben im Schloss, angeblich auch mit Geheimdienstkontakten, führte zu mancherlei Gerüchten, ­welche auch eine Beziehung Diels’ zur Hausherrin betrafen. Diese gelangten auch in die Presse. Diels wurde daraufhin für vier Wochen in das Nürnberger Gerichtsgefängnis gebracht und gelangte erst nach einem weiteren Aufenthalt im „Zeugenhaus“ wieder in das Jagdschloss zurück.20 Der stellvertretende amerikanische Hauptankläger hatte Diels in der Rolle eines „Kronzeugen“ der Anklage gesehen. Nach Kempners Darstellung sollte Diels bezeugen, dass die SA, entsprechend der Anklage wirklich eine verbrecherische Organisation gewesen sei, ebenso die spätere Gestapo unter Heydrich und Himmler.21 Der „Kronzeuge“ entsprach diesen Erwartungen, und zwar im „Vorverfahren“. Tatsächlich trat Diels nach dem „Amtlichen Text in deutscher S­ prache“ der Verhandlungen des IMT nicht vor d ­ iesem selbst als Zeuge auf. Aber seine Person und sein Handeln waren Gegenstand der Aussagen des Angeklagten Göring und anderer Zeugen. Bei seiner Vernehmung am 13. März 1946 schilderte Göring, wie er ihn zum „Führer“ der politischen Polizei gemacht habe und dass er damals mit ihm „sehr zufrieden“ gewesen sei, er aber gleichwohl die Leitung des Geheimen Staatspolizeiamts an Himmler habe übergeben müssen.22 Waren die Formulierungen seines früheren Protektors eher wohlwollend, stellte die Aussage seines Intimfeindes Gisevius in dessen Vernehmung am 24./25. April 1946 das völlige Gegenteil dar. Nachdem er die „ungeheuerlichen Zustände“ in „dieser neuen Polizeibehörde“ beschrieben hatte, antwortete er auf die Frage eines Verteidigers: Die Politische Polizei unterstand einem gewissen Rudolf Diels. […] Er war ein gelernter Berufsbeamter. Man hätte denken sollen, er kannte noch die Begriffe von Recht und Anstand, aber brutal, zynisch, zum letzten entschlossen, war er gewillt, seine frühere politische Vergangenheit

18 19 20 21 22

Kempner, ebd., S. 118. Hierzu im Einzelnen Wallbaum, ebd., S. 271 ff. Vgl. Wallbaum, ebd., S. 262 f, unter Bezug auf den amerikanischen Geheimdienst. Kempner, ebd., S. 117 f. IMT, Bd. IX, S. 291 und S. 295.

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Die Regierungspräsidenten in der Nachkriegszeit

als Demokrat vor den neuen Machthabern vergessen zu machen und sich bei seinem weiteren Chef, dem preußischen Ministerpräsidenten und Innenminister Göring, einzukaufen. Diels war 23 es, der ­dieses Geheime Staatspolizeiamt erfand.

Es gab eine einfache Erklärung dafür, dass Gisevius sich als Zeuge zum preußischen Geheimen Staatspolizeiamt äußerte, während Diels gar nicht erst als Zeuge vor dem IMT auftrat. Gisevius war als Zeuge der Verteidigung für den früheren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht geladen, äußerte sich jedoch erst ungefragt, dann aber auch auf Nachfragen „zu allem und jedem“.24 Diels reagierte umgehend auf seine Weise. Er hatte sich ohnehin schon über die heftige Kritik Gisevius’ in dessen kurz zuvor erschienenen Erinnerungsbuch „Bis zum bitteren Ende“ sehr erzürnt. Diels legte dem IMT in Form einer eidesstattlichen Versicherung eine 17-seitige Gegendarstellung vor. So begann eine sich länger hinziehende Kontroverse ­zwischen den beiden Intimfeinden. Schließlich widersprach der SA-Führer Schäfer bei seiner Vernehmung vor dem IMT am 13. August 1946 belastenden eidesstattlichen Erklärungen von Diels über die SA. Dieser habe ein außerordentlich freundschaftliches Verhältnis zum Stabschef Röhm gehabt sowie zu Ernst, dem Führer der SA-Gruppe Berlin-­Brandenburg. Es sei nicht Aufgabe von Diels als Leiter der Gestapo gewesen, gegen disziplinwidrige Elemente der SA vorzugehen.25 Diese Aussage war allerdings völlig einseitig. Diels’ Bekundungen richteten sich auch gegen Einzelpersonen. So gab er in Vernehmung vom 24. April 1946 an, „auch Göring sei für die Rechtsbrüche der SA verantwortlich gewesen“.26 Er habe die Polizei nicht gegen die SA eingesetzt, vielmehr sie in den Städten den SA-­ Führern überantwortet. Göring habe den „Mord zum staatlichen Prinzip erklärt“. Deutlich wies der ehemalige Chef des Geheimen Staatspolizeiamtes die Verantwortung von sich und seiner Behörde weg und der politischen Führung zu. Dies zeigte eine gewisse Undankbarkeit, war aber, abgesehen von der Zurückweisung eigener Verantwortung, in der Sache zutreffend. Diels ging aber noch einen Schritt weiter, indem er ganz generell die von Angeklagten und Zeugen ständig verbreitete Version bestritt, „man habe ja nicht von den Vorgängen in den Konzentrationslagern gewusst. Wer sich damals informiert habe, dem konnten nach Meinung von Diels auch ‚die Vergasungen‘ nicht verborgen geblieben sein.“ Er rühmte sich sogar, als Direktor der Schifffahrtsabteilung in den Reichswerken hätte er durch seine Mitarbeiter Deportationen auf dem Wasserwege über die Donau verhindert.27 Dies ist aber doch kaum glaubhaft. Diels’ Zeugenverhalten folgte dem Muster, andere möglichst zu belasten und sich damit als nützlicher Informant zu erweisen, sich selbst aber zu entlasten, so wenn er, als habe er außerhalb des Systems gestanden, ausführlich über die ersten Konzentrationslager berichtete, denen er sich als Gestapochef entgegengestellt habe.28 Nach dem beschriebenen Muster belastete er bei anderen Vernehmungen i­nsbesondere hohe SS -Führer schwer. Eine Aussage richtete sich gegen den Leiter des SS -Hauptamtes, Obergruppenführer Berger. Von ihm hatte Diels gemutmaßt, er habe in seiner Zeit als 23 24 25 26 27 28

Ebd., Bd. XII, S. 186 f. Kohl, ebd., S. 140 f, auch zu Diels’ Reaktion. Ebd., Bd. XXI, S. 86 f. Wallbaum, ebd., S. 267, dort auch zum Folgenden mit dem wörtlichen Zitat. Kohl, ebd., S. 95 f. Wallbaum, ebd., S. 266 ff. Auch zum Folgenden. Zitate auf S. 268 und 269.

Rudolf Diels auf der Suche nach einer öffentlichkeitswirksamen Rolle

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Regierungspräsident SS -Spitzel als Mitarbeiter in die Behörde eingeschleust. In der Funktion eines Verbindungsmanns z­ wischen den Höheren SS- und Polizeiführern im Osten und dem Ostministerium Rosenbergs, so folgerte Diels, habe Berger die Judenausrottung selbst gefördert. Diese Anschuldigung ohne sicheres eigenes Wissen war Ranküne. Über den Höheren SS- und Polizeiführer in der Ukraine, Jeckeln, äußerte Diels, er sei „einer der Brutalsten unter den SS-Führern“ gewesen. Er habe „den Ruf eines kaltblütigen, aber unbestechlichen Mörders“ besessen. Diels kannte ihn, damals Polizeiinspekteur, aus seiner Zeit als Regierungspräsident in Hannover und beschrieb auch genau dessen Rolle bei den Ausschreitungen der Reichspogromnacht am 9. November 1938, wobei er seine eigene herunterspielte. Schließlich belastete er den Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf ohne eigenes Faktenwissen. Er bezeichnete ihn, dem die Ermordung von 90.000 Menschen vorgeworfen wurde, als „eine der hassens­wertesten Figuren“. Ein Motiv hierfür ist nicht erkennbar. Ohlendorf wurde in einem der Nachfolgeprozesse des IMT zum Tode verurteilt. In einem weiteren dieser Prozesse war auch Paul Pleiger angeklagt worden. Das Verhältnis ­zwischen dem dominierenden Mann der Reichswerke und dem Seiteneinsteiger Diels war sehr schlecht gewesen. Diels belastete ihn in mehreren Vernehmungen außerhalb des Verfahrens bis hin zu dem Vorwurf, Pleiger habe „den gewalttätig vorgehenden Gewaltmenschen mit dem egoistischen Unternehmer“ verknüpft. Dies dürfte zu dessen Verurteilung beigetragen haben. Im „IG-Farben-­Prozess“ verhielt sich Diels allerdings anders. Er entlastete den Mitangeklagten Dr. Ilgner von dem Vorwurf, durch den Versuch, einen Informationsdienst aufzubauen, womöglich „Vorbereitungen für einen Angriffskrieg“ getroffen zu haben. Nach einem „­ SPIEGEL“-Artikel soll Diels damit den Ankläger enttäuscht haben, der ihn als Belastungszeugen benannt hatte.29 Dabei ist es allerdings auch interessant, dass Diels einmal erwogen hatte, zum IG-Farben-­Konzern überzuwechseln. In seinem gesamten Verhalten als Zeuge kam seine Zwiespältigkeit, Wendigkeit und Bedenkenlosigkeit zum Ausdruck. Mit seiner generellen Kritik am Regime und am Verhalten der Bevölkerungsmehrheit gab er sich die Attitüde eines Aufklärers. Dies klang wohl auch in amerikanischen Ohren recht gut. Viele seiner Aussagen zu Einzelpersonen waren offenbar davon beeinflusst, ob er mit ihnen noch „eine Rechnung offen“ hatte, oder ob er in einem eher guten Verhältnis zu ihnen stand wie zu Ilgner. All dies mindert wesentlich die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, taucht aber auch seinen Charakter in ein irritierendes Zwielicht. Nicht ansatzweise reflektierte Diels selbstkritisch seine Rolle im „Dritten Reich“.

5.3.2 Doppelter Autor: eine „SPIEGEL“-Serie, ein Buch – und weitere Pläne Auf die Idee, selber publizistisch tätig zu werden, brachte den früheren Gestapochef letztlich das Buch von Gisevius, „Bis zum bitteren Ende“.30 Er hatte es, wie erwähnt, im „Zeugenhaus“ in die Hand bekommen, und es hatte seinen Zorn und auch ein Bedürfnis nach Rechtfertigung geweckt. Hinzu kam der bei Diels latente Drang, in die Öffentlichkeit hineinzuwirken. Den Gedanken, sich mit einem anderen Thema zu befassen, nämlich der Widerstandsbewegung,

29 „DER SPIEGEL“, Nr. 20 vom 12. Mai 1949. 30 Hierzu Wallbaum, ebd., S. 277 f. Dort auch die Zitate.

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ließ er aber wieder fallen. Er sah sich gegen Ende des „Dritten Reiches“ im Widerstand, war sich aber im Nachhinein über seine Rolle darin nicht im Klaren. In einem Brief an den damals sehr bekannten Journalisten Rudolf Pechel vom Januar 1947 hatte er der „Widerstandsliteratur“ pauschal „Geschichtsfälschung“ vorgeworfen und so den Eindruck erweckt, ihr etwas Besseres entgegensetzen zu wollen. Dann fügte er allerdings an, seine „Niederschriften“, die er seit 1934 in der Schweiz versteckt habe, ließen sich nicht veröffentlichen; alles sei „mit zu leidenschaftlicher Ablehnung geschrieben“. Diese Niederschriften sind aber niemals aufgetaucht und es sind starke Zweifel angebracht, ob sie überhaupt existiert haben. Gleichwohl wurden sie in dem Artikel des „SPIEGEL“ vom 12. Mai 1949 mit der Überschrift „Ich will keinen Gehenkten“ erwähnt.31 Dies war nicht überraschend, denn er beruhte zum großen Teil auf Diels’ Angaben. Schon im ersten Absatz hieß es: Erst das dritte Manuskript blieb Rudolf Diels treu. Das erste, in Teilen 1935 und 1944 von dem einstigen stellvertretenden [sic!] Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in der Schweiz deponiert, beschlagnahmten 1945 Beamte der Nürnberger Kriegsverbrechens-­Kommission in Lugano.

Weiter hieß es: Das zweite, von Diels unter einer Blumenrabatte im Garten seines Hofes in Twenge bei Hannover selbst vergraben, überstand zwar die Hausdurchsuchungen der Gestapo, aber nicht die der Amerikaner. Das dritte endlich wurde fertig. Es erscheint in diesen Tagen als Buch in der Schweiz.

Wie genau das Manuskript entstanden ist, lässt sich nicht ermitteln. Ob, wann und in welchem Umfang sich Diels in seiner Amtszeit tagebuchähnliche Notizen gemacht hat, ist offen. Regelmäßige und penible Notate hätten allerdings kaum zu ihm gepasst. Er zitierte in seinem Buch immer wieder in wörtlicher Rede vor allem Göring, aber auch Hitler und nicht zuletzt sich selbst.32 Ebenso wenig wie Tagebuchaufzeichnungen dürfte er über die Gespräche, soweit sie denn stattgefunden haben, Protokolle erstellt haben. Sie deshalb pauschal, wie sein Biograph, als „unglaubwürdig“ zu bezeichnen, geht aber zu weit. Die von ihm wiedergegebenen Unterredungen können durchaus zutreffende Elemente enthalten, wenn auch in jeweils unterschiedlichem Umfang und zugunsten von Diels gefärbt. Allemal lässt das Buch auf Grund seiner Darstellungsweise und Wertungen Aussagen über Persönlichkeit und Sichtweise des Verfassers zu. Diels wusste um seine Schwächen; deshalb bat er einen früheren Mitarbeiter, das Manuskript durchzusehen. Der Auftrag dazu wurde in einem Brief vom Dezember 1948 allerdings bemerkenswert ungenau formuliert. Natürlich bleibe ich auch sehr im Ungefähren, um nicht wegen einzelner Daten und Namen festgelegt zu sein. Das Hauptgewicht des Buches liegt ja auch ganz woanders. Das ­Geschichtliche figuriert eigentlich nur exemplifikatorisch und Sie werden daher an den Unexaktheiten, die nicht die Gesamtkonzeption stören, vorbeilesen können […].

31 Bei Wallbaum, S. 278, FN 3, lautet die Überschrift unrichtig „keine Gehängten“. 32 Hierzu und zum Folgenden ders., ebd., S. 278 f, dort auch die Briefzitate aus dem Nachlass.

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Sodann folgte die Aufforderung: „Ändern Sie radikal am Rande und streichen Sie, wo Sie sich selbst nicht erwähnt haben möchten […].“ Aus Zeitknappheit konnte die Unterstützung aber nicht zu Ende gebracht werden. Jedenfalls erschien das Buch mit zahlreichen Ungenauigkeiten. Diels war es nämlich gelungen, bei einem als rechtsextrem eingestuften Verlag Interesse zu wecken, dem „Interverlag“ in Zürich. Geholfen hatten ihm dabei die Kontakte der aus der Schweiz stammenden Gräfin Faber-­Castell. Über den Titel des Werkes entstand ein längerer Schriftwechsel. Der Verlagsleiter war der Meinung, dieser müsse „jede Art Publikum wie ein Peitschenhieb […] aufzucken“ lassen.33 Verworfen wurden beispielsweise Diels’ Vorschläge „Zwischen Gut und Böse“, ebenso „Gestapo-­Chef in Nöten“ und „Der Wurm im Apfel“. Anderer­ seits lehnte Diels Gegenvorschläge ab, wie „Bürgertum ohne Köpfe“ oder „Und es ward Nacht“. Schließlich verständigte man sich auf „Lucifer ante Portas“. Diels gelang es, noch vor Erscheinen des Buches deutschlandweit Reklame dafür zu machen. Im Frühjahr 1949 erschien ein Vorabdruck im Magazin „DER SPIEGEL“. Der frühere Gestapo­ chef hatte in Hannover den Journalisten und Herausgeber Rudolf Augstein kennengelernt, ebenfalls dessen Bruder, den Rechtsanwalt Josef Augstein.34 Die Bekanntschaft wurde bei gemeinsamen Naturerkundungen in der Nähe von Nürnberg vertieft. Beide waren offenbar voneinander fasziniert. Die Erzählungen des „Geheimdienstmanns“ beeindruckten den erst 25-jährigen Rudolf Augstein sehr, welcher sein Blatt als ein gegen die Besatzungsmächte wirkendes Organ betrachtete. So begann dann in der „SPIEGEL“-Ausgabe Nr. 20 vom 12. Mai 1949 der Vorabdruck. Am Anfang waren in einem Kasten ohne jeden Kommentar „Leitsätze“ enthalten. So wurden Auszüge aus den „Betrachtungen“ bezeichnet, ­welche Diels seinem Buch vorangestellt habe. Diese waren dem Einleitungskapitel des Buches entnommen. Anders als der Buchtitel stand die Serie unter der Überschrift „Die Nacht der langen Messer … fand nicht statt“. In den folgenden Ausgaben des „SPIEGEL“ erschienen nun wöchentlich acht Fortsetzungen, ab Nr. 21 vom 19. Mai bis zu Nr. 28 vom 7. Juli. Die letzte endete mit dem lapidaren Klammerzusatz „(Schluß)“ und einem Hinweis auf das Copyright des Interverlags Zürich. Tatsächlich war die Serie eher als geplant eingestellt worden. Vorangegangen war ein überwiegend kritisches Echo der Leserschaft, insbesondere an Diels’ „Plaudertaschen-­Ton“. ­Dessen Ausführungen enthielten ja allerhand Klatsch über die Führung des „Dritten Reiches“.35 Andererseits war dem Buch sicherlich nicht einiger Informationsgehalt abzusprechen, und das Bedürfnis nach Information über das „Dritte Reich“ war zu dieser Zeit allgemein groß. Besonderes Gewicht hatte der Leserbrief eines der britischen „SPIEGEL “-Gründer, Henry Ormond. Er betraf die Person des Autors selbst und verwies auf die scharfe Kritik, w ­ elche Gisevius in seiner Aussage vor dem IMT an Diels geübt hatte. Dort hatte er ihn als „brutal, zynisch und zum Letzten entschlossen“ bezeichnet. Dieser Leserbrief wurde ohne Kommentar abgedruckt. In seiner Erwiderung an Ormond, offenbar einem persönlichen Brief, dankte der „SPIEGEL“-Herausgeber „für den Hinweis“ und konstatierte lapidar, ein so umstrittener Mann wie Diels könne nicht von einem ebenso umstrittenen Mann wie Gisevius angemessen beurteilt werden.

33 Zitiert nach Wallbaum, S. 279; dort in FN 6 auch zu den weiteren Titelvorschlägen. 34 Dazu und zum Folgenden vgl. Wallbaum, ebd., S. 284 ff. 35 Zum Folgenden vgl. Merseburger, ebd., S. 119 ff, dort auf S. 121 auch das Gisevius-­Zitat, ferner zum drohenden Lizenzentzug.

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Gefährlich wurde es dann für den Vorabdruck des Buches, als sich der Beratende Presseausschuss beim Niedersächsischen Ministerpräsidenten einschaltete. Dieses Gremium ging zurück auf die Verordnung Nr. 108 der Britischen Militärregierung vom 15. Oktober 1947,36 ­welche die Lizenzvergabe für Zeitungen und Zeitschriften deutschen Stellen übertragen hatte. Danach waren auch für die vier Länder der Britischen Zone, darunter Niedersachsen, Länderausschüsse gebildet worden. Der für den „SPIEGEL“ maßgebliche Presseausschuss missbilligte die Serie; sie sei geeignet, nazistische Gefühle wiederzuerwecken. In seiner Antwort argumentierte Augstein, die meisten Leserbriefe s­ eien ablehnend. Darin äußerten frühere oder heutige Nationalsozia­listen Verachtung für Diels, den sie als Opportunisten und Verräter betrachteten. Dies war eine seltsame Argumentation, weil sie die Überzeugungstäter gegen den Zyniker Diels zu Hilfe rief, damit aber im Grunde die Befürchtungen des Presseausschusses bestätigte. So verfing dies beim Presseausschuss nicht, und er verlangte mit einem Brief vom 30. Juni 1949 an Augstein und die beiden anderen Lizenzträger, die Serie bis zum 7. Juli einzustellen, also der oben genannten Nr. 28 des „SPIEGEL“. Andernfalls werde er dem Ministerpräsidenten empfehlen, Maßnahmen zum Entzug der Lizenz einzuleiten. Der Ausschuss hatte zusätzlich darauf hingewiesen, ein Entnazifizierungsverfahren könnte für Diels mit einem Publikationsverbot enden. So stellte Augstein wie gefordert die Serie ein und beließ es bei neun Folgen statt der ursprünglich geplanten zwölf bis maximal zwanzig. Das Buch selbst erschien dann nach Ende des Vorabdrucks unter dem Titel „Lucifer ante Portas – Zwischen Severing und Heydrich“ im Spätsommer 1949.37 Das fast schon ­emphatische Urteil eines sonst strengen Diels-­Kritikers lautete: „Auf juristischer und historiographischer Ebene entwickelte er [im Buch] das Wechselspiel von Anklage ehemaliger Rivalen und Apologie seiner eigenen Tätigkeit in rhetorisch, stilistisch und taktisch brillanter Weise zur Vollendung, nicht ohne Erfolg […]“.38 Ein ähnliches Muster hatte ja auch seinen Aussagen in Nürnberg zugrunde gelegen. In der Einleitung übte Diels Kritik an bisherigen Darstellungen des „Dritten Reiches“.39 Sie schilderten die Jahre 1933 und 1934, die auch Gegenstand seines Buches s­ eien, wie eine von stürmischen, aber gleichmäßigen Wellen erregte See. „Diese Autoren übersehen die Einschaltung antirevolutionärer Kräfte, die sich noch beschwichtigend entfalteten“. Deshalb sei ihnen die Erkenntnis für „das völlige Verschwinden dieser Hemmungen“ nach der „Bartholomäusnacht des 30. Juni 1934“ verbaut. Diels’ Biograph hält dem Buch ein fragwürdiges Geschichtsbild vor.40 Dies ist nicht ganz verständlich. Nicht nur Diels, sondern auch zahlreiche andere, meist noch aus der Weimarer Zeit stammende Funktionsträger des noch jungen „Dritten Reiches“, glaubten in der Tat dessen Entwicklung ins Extreme bremsen zu können. Ein Beispiel hierfür bietet Diels’ Kölner Vorgänger Rudolf zur Bonsen. Wohl aber besaß Diels ein fragwürdiges Rollenbild seiner selbst, nämlich das eines Mannes, der trotz seiner Funktion bei der politischen Polizei immer wieder sich dem Unrecht entgegen stellte. Er verbreitete es durchgängig in seinem Buch. Von der Attitüde des Aufklärers, die in Nürnberg zu seinem Aussagerepertoire gehört hatte, blieb nichts mehr übrig. Aber auch dort hatte er ja sich selbst immer wieder zu entlasten versucht. Sicher hatte er einzelne Missbräuche verhindert und einzelnen Verfolgten geholfen, aber 36 37 38 39 40

Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet Nr. 21. Eintrag über die Vereinnahmung in die Bibliothek der Bezirksregierung Köln vom 22. September 1949. Graf, Politische Polizei, S. 328. Vgl. Lucifer, S. 9 f, wörtliches Zitat von S. 9. Vgl. dazu und zum Folgenden Wallbaum, ebd., S. 280 f.

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vorher beim „Preußenputsch“ schon einen eigenen Beitrag dazu geleistet, den Nationalsozia­ lismus der Macht näherzubringen, und vor allem hatte er für Göring die politische Polizei in Preußen organisiert. Seine egozentrische Darstellung der eigenen Entlastung kam mittelbar auch anderen konservativen Funktionsträgern zugute. Denn was der erste Leiter der politischen Polizei im „Dritten Reich“ für sich geltend machen konnte, musste für andere in weniger exponierten Funktionen erst recht gelten. Die Entlastungsfunktion des Buches konnte auch für die noch laufenden Entnazifizierungsverfahren von Beamten bedeutsam sein, indem sie indirekt die Entscheidungspraxis beeinflusste. Je nachdem, in ­welche Gruppe der Verantwortlichen ein Betroffener eingestuft wurde, kam eine Wiederbeschäftigung im öffentlichen Dienst in Betracht oder nicht. Das war von besonderer Bedeutung in einer Zeitphase, in der kurz nach Gründung der Bundesrepublik eine Bundesverwaltung installiert wurde. Bereits die Schweizer Ausgabe von „Lucifer ante Portas“ schlug in der Bundesrepublik Wellen. Aus der zumeist apologetischen Memoirenliteratur von Funktionsträgern des „Dritten Reiches“ fiel sie etwas heraus. Der Verfasser, ausgerechnet der erste Leiter des preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes, bediente sich einer doch sehr farbigen und auch kräftigen Sprache, die auch vor extremer Kritik an anderen nicht zurückschreckte. Andererseits wurde, wie in Kapitel 3 dargestellt, Göring insgesamt verständnisvoll, Hitler seltsam positiv geschildert. Rezensionen in historischen Zeitschriften sind nicht überliefert. Der bedeutende Historiker Gerhard Ritter bemerkte allerdings einige Jahre später, Diels’ Buch sei glaubwürdiger als das von Gisevius.41 Wohl aber erschienen zahlreiche Artikel in Tageszeitungen.42 Massive Kritik fand sich darin nicht. Der Bogen reichte von differenzierter Kommentierung bis zur Bejahung von Thesen des Buches. In der renommierten „Stuttgarter Zeitung“ wurde Verständnis für Diels’ Rechtfertigungsbedürfnis geäußert. Es stehe heute fest, dass Diels als Gestapochef „viel Unheil“ verhütet habe. „Dass er aber aufgehört hätte, eine zwielichtige Gestalt zu sein, wird kein kritischer Leser behaupten können.“ Wegen seines Paktierens mit Hitler sei er Mittäter, darauf gehe er aber nicht ein. Der Konstanzer „Südkurier“ meinte, der Autor überlasse es dem Leser, ihm zu glauben oder nicht. Das war sehr wohlwollend, denn Diels’ häufig lehrhafter Ton implizierte doch das Gegenteil. Nicht ganz falsch war die Bewertung, der Leser, der Klarheit wolle, solle nicht an dem Werk vorbeigehen. Wirkliche Klarheit bot das Buch zwar nicht, aber doch, mit unterschiedlichem Wahrheitsgehalt, anschauliche und auch abschreckende Einblicke in den Machtapparat des „Dritten Reiches“ in dessen Anfangsjahren. Verfehlt war ein Satz im Aschaffenburger „Main-­Echo“, man gewönne während der Lektüre den Eindruck, „dass hier die Geschichte der Jahre 1933/1934 offen und sachlich dargestellt wird“. Das „Badische Tagblatt“ schloss sich Diels’ These an, er habe rechtsstaatlich gehandelt, was derart pauschal gewiss nicht zutraf. Bei aller Unterschiedlichkeit der Reaktionen hatte das Buch jedenfalls in der eben gegründeten Bundesrepublik so viel Interesse geweckt, dass nur wenige Monate später im Jahre 1950 eine neue Ausgabe bei der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart erschien. Sie enthielt kleinere Änderungen nicht grundlegender Art. So waren einige Unterpunkte im Inhaltsverzeichnis weggelassen. Außerdem fehlte beispielsweise eine Textpassage, in welcher der Staatssekretär im Preußischen Justizministerium und spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler als „prächtige[s] Exemplar eines brutalen Revolutionärs“ bezeichnet und gegenüber

41 Ritter, Carl Goerdeler, Anm. 3 zu S. 97 auf S. 457 f. 42 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 281 f. Von dort auch die Zeitungszitate aus Diels’ Nachlass.

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„ästhetisierenden, moralinfreien Literaten“ verteidigt wurde.43 Der neue Untertitel lautete „Es spricht der erste Chef der Gestapo“. Das war „Sensationshascherei“, wie eine frühere Mitarbeiterin Diels’ zu Recht in einem Brief feststellte, wobei sie ihm zugleich vorwarf, er wolle mit seinem „schlechten Ruf kokettieren“.44 Im Vorwort der deutschen Ausgabe machte der Verlag geltend, er wolle „nicht die umfangreiche politische Enthüllungsliteratur um einen weiteren Band vermehren“.45 Das Buch von Diels bemühe sich darum, „Licht in die vielleicht entscheidungsvollste Periode des versunkenen [!] Regimes zu bringen […]“. Es handle sich um die entscheidende Frage, ob ­dieses Regime von Anbeginn auf das Verbrechen angelegt war, oder ob es erst durch das Eingreifen neuer Männer und Faktoren in die Diktatur des Terrors abgebogen wurde. Sollte, wie der Verfasser glaubt erweisen zu können, letzteres der Fall gewesen sein, so würde d ­ ieses neue Bild vom Start und Ablauf des Schicksalsjahres 1933 von weittragender Bedeutung für die moralische Rehabilitierung weitester Kreise unseres Volkes werden können.

Hier zeigte sich die bekannte Rechtfertigungsstrategie, vor allem von Diels selbst. Sie überging, dass die mit der Machtübernahme der Nationalsozia­listen begonnene Verfolgung politischer Gegner, die nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar massiv verstärkt wurde, das Regime bereits auf einen Weg des Terrors gebracht hatte. Auf ­diesem Wege hatte es sich schubweise oder graduell immer mehr radikalisiert, ohne dass sich sein Wesen verändert hätte. Dem „vielumstrittenen Verfasser“ werde es „vielleicht niemals gelingen, aus dem Zwielicht seiner moralischen und politischen Undurchsichtigkeit herauszufinden.“ Er sei nun einmal der „Schöpfer der gefährlichsten und gefürchtetsten Waffe der Diktatur“ gewesen. Damit machte der Verlag ungewollt die Fragwürdigkeit des ganzen Buches deutlich. Der Verleger übergab aber gleichwohl „guten Gewissens“ das Buch der Öffentlichkeit. Denn der Verlag habe „die Angaben und Behauptungen des Verfassers, soweit es ihm möglich war [!], im einzelnen nachgeprüft“, ­ferner habe er sie, was wichtiger sei, von Männern aus dem „gegnerischen Lager“ „nachprüfen lassen“. Einzelheiten hierzu werden nicht mitgeteilt. Die Publikation des Buches von Rudolf Diels war auch auf höchster Ebene Gesprächsgegenstand, nämlich bei einer Zusammenkunft Adenauers mit den drei Hohen Kommissaren der Westalliierten Mächte am 17. November 1949 in deren Amtssitz auf dem Petersberg bei Bonn.46 Nach den Th ­ emen „Ruhrstatut“ und „Reparationen“ wandte sich, so Adenauers Schilderung, das Gespräch der „Demokratisierung des allgemeinen Lebens in Deutschland“ zu. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy beklagte die Tendenz gewisser Gruppen, andere, die in der NS-Zeit Widerstand geleistet hatten, zu verdrängen. Er würde es begrüßen, wenn die Bundes­ regierung von ihrer Ebene und über die Länderregierungen Maßnahmen treffe. Adenauers Antwort begann verständnisvoll, wurde dann aber sehr persönlich: Ich verstehe die Sorgen, und ich muß sagen, daß ich mich manchmal innerlich sehr über gewisse Vorgänge ärgere. Wenn ich zum Beispiel sehe, daß der Gründer der Gestapo, der frühere Regierungspräsident Diehls [sic] von Köln, jetzt in Düsseldorf [sic!] seine Memoiren erscheinen läßt, 43 44 45 46

Lucifer 1950, S. 295 f gegen Lucifer 1949, S. 215. Vgl. Wallbaum, ebd., S. 284, FN 17, dort auch das Zitat. Lucifer, 1950, S. 7 f, von dort die Zitate. Vgl. Adenauer, Erinnerungen, S. 273 ff und 278 ff, von dort die Zitate.

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und wenn ich dann lese, wie diese als das interessanteste Buch angepriesen werden, so bedauere ich sehr, daß die Bundesregierung keine größeren Rechte hat, dagegen etwas zu unternehmen.

Diese Erwiderung machte zunächst erkennbar, dass Adenauer Diels offensichtlich die Ausweisung aus dem Regierungsbezirk im Jahr 1935/36 immer noch nachtrug, obwohl dieser gar nicht der eigentliche Betreiber der Aktion gewesen war (vgl. Kapitel 3). In der Sache verabsolutierte er einen Einzelfall, und wie die Veröffentlichung hätte unterbunden ­werden können, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich. Adenauers Groll steigerte sich aber noch: „Ich habe mich allerdings auch sehr gewundert, als ich hörte, daß dieser Herr Diehls viele Monate lang Gast [sic!] der alliierten Regierungen in Nürnberg gewesen ist, dort auf die Jagd gehen konnte und herrlich und in Freuden gelebt hat.“ Die eigentlichen Gründe für Diels’ Aufenthalt im „Zeugenhaus“ waren dem Bundeskanzler offenbar nicht bekannt, wohl aber die Feste im Hause Faber-­Castell. Der Dialog endete im leicht Surrealen. McCloy: „Wenn Sie wieder einmal hören, daß wir mit einem Vertreter der Gestapo Feste feiern, bitte ich Sie doch, mich rechtzeitig zu benachrichtigen.“ Adenauer versicherte ihm, er werde dies mit dem größten Vergnügen tun. Einmal als Buchautor hervorgetreten, fand Diels Geschmack daran und erwog bis kurz vor seinem Lebensende mehrere neue Buchprojekte über gänzlich verschiedene Gegenstände.47 So dachte er an eine Veröffentlichung über die „Lizenzdemokratie“, offenbar um gegen den Abbruch der „SPIEGEL“-Serie zu polemisieren. Für ein weiteres Vorhaben mit dem alternativen Titel „Verhängnis der Bürokratie“ oder „Preußische Träumereien“ erhielt er sogar einen ermunternden Brief des früheren Vizekanzlers von Papen; das Buch passe „ganz vorzüglich in das geistige Wirrwarr unserer Tage“. Weitere Buchpläne betrafen die Entnazifizierung und den, wie Diels es 1955 an den rechtsextremen Literaten Hans Grimm schrieb, „sogenannten deutschen Widerstand“. Verwirklicht wurde keiner dieser hochfliegenden Pläne. Der Abbruch der „SPIEGEL “-Serie hatte das Verhältnis z­ wischen dem Herausgeber und dem früheren Gestapochef offenbar nicht getrübt. Anders wäre auch nicht ein Buchprojekt geplant worden, welches als einziges etwas konkretere Formen annahm. Diels sollte für den „SPIEGEL“-Verlag eine Hitler-­Biographie verfassen.48 Für Augstein, der sich zeitlebens mehr für Männer, die Geschichte machen, interessiert als für die strukturelle Seite der Historie, ist Diels, dieser zwielichtige alte Korpsstudent […] ein unersetzlicher Zeitzeuge, denn er kann aus erster Hand über einige Handelnde und über Interna des Dritten Reichs berichten.

Diels wiederum idealisierte den „SPIEGEL“-Herausgeber. Wie er in einem Brief an Augstein schrieb, betrachtete er ihn als einen „von der Sorge um unser Vaterland sich verzehrenden Publizisten“. In dessen Blatt sah er ein eigenständiges kritisches Organ, welches sich von einer der Besatzung genehmen „reeducation“-Mentalität fernhielt. Augstein seinerseits näherte sich Diels’ Geschichtsdeutung an, indem er ihm schrieb, Hitler sei nach der Ermordung des SA-Chefs „ein anderer geworden“.49 Im Oktober 1950 unterzeichneten Diels sowie Augstein 47 Vgl. Wallbaum, S. 287 f. Von dort auch das Papen-­Zitat und das aus einem Brief Diels’. 48 Vgl. Merseburger, Rudolf Augstein, S. 122 (dort auch das Diels-­Zitat), auch zum Folgenden und zum Ende des Projekts. Die Jahresangabe 1953 ist allerdings ein Druckfehler. 49 Zu d ­ iesem Buchprojekt Wallbaum, ebd., S. 288 ff, dort auch das Zitat aus dem Brief Augsteins (S. 290).

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für den „SPIEGEL“-Verlag einen umfänglichen Vertrag. Danach sollten beide [!] ein Werk recherchieren und verfassen, das „das psychologische Phänomen Adolf Hitler in prägnanter und durch persönliche Schilderungen illustrierter Form erklären will“. Weiter waren ein Vorabdruck im „SPIEGEL “ vorgesehen, Spesen in Höhe von 3000 DM für die Recherche, Diels’ Anteil von 10 % am Verkaufserlös sowie ein Umfang des Buchs von 300 bis 400 Seiten. Um das ambitionierte Ziel zu erreichen, begann Diels alsbald mit seinen Recherchen und nahm Kontakt mit ihm aus der NS-Zeit bekannten Personen auf. Die erste Reise im November 1950 führte ihn zu Winifred Wagner nach Bayreuth. Die Schwiegertochter Richard Wagners war unverändert eine große Verehrerin Hitlers, der regelmäßig zu den Festspielen gekommen war. Sie wusste sicherlich vieles aus persönlicher Nähe zu berichten, ob dies aber der historischen Klärung dienlich war, ist zu bezweifeln. Nachdem Diels im Vergleich zu anderen Buchplänen immerhin schon einige praktische Aktivitäten entwickelt hatte, versandete das Projekt einer Hitlerbiographie. Aus dem „SPIEGEL“-Archiv wie aus Diels’ Nachlass sei, so sein Biograph, dazu nichts zu entnehmen. Von anderen wird ein Zusammenhang damit vermutet, dass sich Diels’ Entnazifizierungsverfahren länger hingezogen hat. Dieses sollte noch bis 1952 dauern. Denkbar wäre auch die schlichte Erklärung, dass sorgfältige Recherche und Textkonzeption Diels’ Naturell nicht entsprachen.

5.3.3 Beschuldigter vor dem Spruchgericht und Betroffener im Entnazifizierungsverfahren Als hoher Funktionsträger des „Dritten Reiches“ musste Rudolf Diels, wie schon sein Kölner Vorgänger zur Bonsen, mit einem Entnazifizierungsverfahren rechnen. Diels’ formeller Wohnsitz in Twenge bei Hannover lag in der Britischen Zone. In den einzelnen Besatzungszonen gab es für die Entnazifizierung jeweils eigene Rechtsgrundlagen. In der Britischen Zone verlief deren Entstehung langwieriger als in der Amerikanischen. Erst ab dem Frühjahr 1947 war eine dem dortigen Befreiungsgesetz vergleichbare Gruppeneinteilung möglich, die sogenannte Kategorisierung.50 Zusätzlich gab es zur Aburteilung und Bestrafung von Mitgliedern der vom Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof als verbrecherisch klassifizierten Organisationen ein Verfahren vor deutschen Spruchgerichten.51 So bat mit Schreiben vom 21. Oktober 1948 der Generalinspekteur des Zentralen Justizamtes für die Britische Zone den Leiter der Anklagebehörde beim Spruchgericht Bielefeld, „gegen Diels ein Verfahren wegen Zugehörigkeit zur Allgemeinen SS einzuleiten.“52 Er bezog sich auf Unterlagen, die ihm vom britischen Verbindungsoffizier in Nürnberg zugeleitet worden ­seien. Sie würden nachweisen, dass der Beschuldigte umfassende Kenntnis von den Verbrechen der SS gehabt habe. Der zu erwartende Einwand, Widerstand geleistet zu haben, sei nicht gerechtfertigt. Seine Tätigkeit im NS -Regime sei „Konjunkturrittertum übelster Art“ gewesen. Zudem verwies der Generalinspekteur auf den ersten Band des Buches von Hans Bernd Gisevius, „Bis zum bitteren Ende“. Bei besonderer Verdichtung des Tatverdachtes sei ein Haftbefehl in Erwägung zu ziehen. 50 Vgl. Krüger, Entnazifiziert!, S. 19 f. 51 Verordnung der Militärregierung vom 17. Februar 1947, Verordnungsblatt für die Britische Zone, S. 57. 52 Spruchgerichtsakten in: BA-Koblenz, ZV 42/IV/1960, hieraus auch zum gesamten Verfahren mit den Zitaten; vgl. ergänzend Wallbaum, ebd., S. 293 ff.

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Diels setzte sich nach gängigem Muster zur Wehr, indem er über dreißig Zeugenerklärungen vorlegte, von seinen früheren Ehefrauen, Freunden, Bekannten, Kollegen bis hin zu Hitlers Vizekanzler von Papen und sogar dem früheren preußischen Innenminister Severing. Alle diese Zeugen sagten im Kern übereinstimmend aus, Diels habe sich gegen die Nationalsozia­ listen gestellt und Verfolgten geholfen. Seine Rolle im Verfolgungsapparat selbst wurde praktisch nicht erwähnt. Das Entlastende überzubetonen, das Belastende dagegen kaum oder gar nicht zu erwähnen, war das Übliche, wie schon beim Verfahren gegen zur Bonsen. Belastet wurde Diels nur von einigen wenigen. Nachdem der Generalinspekteur des Zentralen Justizamtes keine Einwände erhoben hatte, stellte der Leiter der Anklagebehörde beim Spruchgericht am 24. Juni das Verfahren gegen Diels ein. In einem umfangreichen Vermerk zur Einstellungsverfügung gab er zunächst einen geschönten Lebenslauf wieder. Diels sei (nur) „stellvertretender Leiter“ des Geheimen Staatspolizeiamtes gewesen. Als ausschließlichen Grund für das Ende seiner Tätigkeit war angegeben, er habe „schon im Februar 1934 um seinen Abschied [gebeten], der auch gewährt wurde“. Maßgeblich sei hier nur die Mitgliedschaft des Beschuldigten in der SS; seine Tätigkeit in der Gestapo liege vor dem Zeitpunkt, zu dem diese vom IMT für verbrecherisch erklärt worden sei. Er habe zwar die Kenntnis von den Verbrechen der SS zugegeben, trotzdem sei seine Mitgliedschaft nicht als strafbar zu betrachten, da er nachweisbar in dem Willen gehandelt habe, „Härten“ aus der Durchführung der verbrecherischen Ziele zu „mildern und abzuwenden“. Er sei, so der Zeuge Severing, ein „retardierendes Moment“ gewesen. Er habe offen den Terror bekämpft. Sogar die Gegner hätten ihn nach der Aussage des Zeugen Torgler als „humanen und konzilianten Mann“ eingeschätzt. Bis zuletzt habe er auch mit Taten Widerstand geleistet, bis er 1944 verhaftet und aus der SS ausgestoßen worden sei. Den belastenden Ausführungen Gisevius’ in dessen Buch könne keinerlei Beweiswert zuerkannt werden. Die Rechtswidrigkeit sei bei Diels’ Handlungsweise ausgeschlossen. Er habe weder die Lebensinteressen eines Einzelnen noch die der Allgemeinheit verletzt, vielmehr sich unter erheblicher Gefahr für deren Schutz eingesetzt. Es liegt auf der Hand, dass diese Gesamtwertung die Realitäten auf den Kopf stellte. Diels erhielt nun die Mitteilung, das Spruchgerichtsverfahren sei aus „materiellen Gründen“ eingestellt worden. Dies erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der Vorabdruck von „Lucifer ante portas“ im „SPIEGEL“ noch lief. Formelle Grundlage für das Entnazifizierungsverfahren gegen Diels war die „Verordnung über das Verfahren zur Fortsetzung und zum Abschluß der Entnazifizierung im Lande Niedersachsen“.53 Aus einem Schreiben des Obersten Klägers vom 2. Dezember 1948 mit detaillierten Hinweisen ergibt sich, dass bereits im Sommer gegen Diels vor einem niedersächsischen Entnazifizierungsausschuss ein Verfahren eröffnet worden war.54 Es sollte sehr viel längere Zeit beanspruchen als das vor dem Spruchgericht. Diels hatte sich dies zum großen Teil selbst zuzuschreiben wegen seiner Auseinandersetzungen mit Fritz Tejessy.55 Beide kannten sich aus der Polizeiabteilung des preußischen Innenministeriums, in der Tejessy bis zum „Papen-­ Putsch“ 1932 Personalreferent gewesen war. Im folgenden Jahr emigrierte er. Hinzu kam, dass er, i­nzwischen in führender Stellung beim nordrhein-­westfälischen Verfassungsschutz, in Diels einen möglichen Konkurrenten auf Bundesebene gesehen haben soll. Am 8. Dezember 53 Vom 30. März 1948, Nds. GVBl., S. 41. 54 Entnazifizierungsakte Rudolf Diels: Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 – IDEA Nr. Hannover 28640. (Darin der gesamte im Folgenden wiedergegebene Schriftwechsel.) Vgl. ferner Wallbaum S. 298 – 303. 55 Zur Person Tejessys siehe auch Kempner, ebd., S. 169.

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1949 schrieb Tejessy dem Leiter der Entnazifizierungsbehörde in Hannover, Diels habe beim „Papen-­Putsch“ mit den Nationalsozia­listen zusammengearbeitet und sei Vertrauensmann Görings geworden. Diels versuchte im Juni 1950 mit einem Schreiben an den öffentlichen Kläger eine Beschleunigung des Verfahrens zu erreichen. Dabei wählte er einen zunächst larmoyanten und dann scharfen Ton. Er werde als „Staatsbürger zweiter Klasse“ behandelt, und sei ohne die Hilfe ­seiner Freunde „arbeitslos und obdachlos“. Er halte die „Denazifizierung für eine ungeheuerliche Anhäufung fehlerhafter und verbrecherischer Staatsakte“. Das war psychologisch ungeschickt und erzielte nicht die gewollte Wirkung. Erst fünf Monate später, am 1. November 1950, beantragte der öffentliche Kläger einen Termin zur mündlichen Verhandlung. Er bezog sich vor allem auf die Vorwürfe von Tejessy und dessen Zeugen Hirschfeld, früher Pressereferent im preußischen Innenministerium. Danach habe Diels, und nicht der Staatssekretär Abegg, 1932 den Gedanken einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten aufgebracht und somit stecke er hinter den Intrigen, die zum „Papen-­Putsch“ geführt hätten. Später habe er den Terrorapparat der Nationalsozia­listen aufgebaut. Im Januar 1951 unternahm es Diels erneut, auf das Verfahren einzuwirken, ­dieses Mal mit einem Brief an Tejessy. Er forderte ihn in massivem Ton auf, seine unwahre Aussage zum „Papen-­Putsch“ zurückzunehmen. Um dem Nachdruck zu verleihen, berühmte er sich Verbindungen zu „führenden Persönlichkeiten der SPD “. Bei einer mündlichen Verhandlung „werden Sie von mir eine Lektion darüber hören, wie sich Beamte in Ihrem Rang der objektiven Wahrheit gegenüber zu verhalten haben“. Der Brief wurde zum Bumerang; denn Tejessy erstattete nun gegen Diels Strafanzeige wegen versuchter Nötigung und versuchter Anstiftung zum Meineid. Der Streit hielt zudem das Entnazifizierungsverfahren auf. Der zuständige Ausschuss verschob nämlich einen für März angesetzten Verhandlungstermin, um das Ergebnis des staatsanwaltlichen Verfahrens abzuwarten. Nun drängte Diels’ Anwalt Josef Augstein auf einen baldigen Verhandlungstermin; das Ermittlungsverfahren gegen seinen Mandanten habe mit dessen Entnazifizierung überhaupt nichts zu tun. Gegenteiliger Meinung war offenbar Tejessys Anwalt Walter Menzel, früherer Innenminister von Nordrhein-­Westfalen, Schwieger­ sohn Carl Severings und seinem Mandanten persönlich und politisch eng verbunden. In einem Schreiben an den Entnazifizierungsausschuss verwies er darauf, das Strafverfahren sei noch nicht abgeschlossen; er werde ihn benachrichtigen, sobald eine Entscheidung vorliege. Immerhin wurde einige Zeit später eine Anklageschrift entworfen, die eine Fülle von Belastungen zusammentrug. Sie bezog sich vor allem auf Diels’ enges Verhältnis zu Göring und seine Funktion als Gestapochef. Seine Ablösung 1934 sei nicht Ausdruck grundsätzlicher Gegnerschaft zum Nationalsozia­lismus gewesen. Aber so umfangreich und detailliert diese Anklageschrift auch war, hatte sie doch keine mündliche Verhandlung zur Folge. Nach Meinung seines Biographen hätte Diels in Kategorie IV (Mitläufer) eingruppiert werden können. Objektiv wäre sogar eine Einstufung in Kategorie III als wesentlicher Förderer des Nationalsozia­lismus in Betracht gekommen.56 Nachdem das Spruchgerichtsverfahren „aus materiellen Gründen“ eingestellt worden war, hätte, so sein Biograph weiter, eine andere Entscheidung als für Kategorie V (Entlastete) großes Aufsehen erregt. Dabei verwies er auf die weiter zugenommene Unpopularität der Entnazifizierung und Diels’ Beziehungen zum „SPIEGEL“-Verlag.

56 Vgl. §§ 5d), 9 Abs. 1, Verordnung über Rechtsgrundsätze der Entnazifizierung im Lande Niedersachsen vom 3. Juli 1948, Nds. GVBl., S. 68.

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Aber der Entnazifizierungsausschuss wurde dieser Schwierigkeiten durch den niedersächsischen Gesetzgeber enthoben. Am 18. Dezember 1951 verabschiedete der Landtag ein „Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung im Lande Niedersachsen“.57 Es entsprach einer allgemeinen gesetzgeberischen Tendenz, auch auf Bundesebene. In § 1 Abs. 1 hieß es, bereits eingeleitete Verfahren ­seien einzustellen. § 3 Abs. 3 präzisierte, Verfahren, die am 31. März vor den Hauptausschüssen noch anhängig s­ eien, würden eingestellt; die Betroffenen gälten mit dieser Einstellung als in die Kategorie V (Entlastete) eingestuft. Diese Regelung sollte den Entnazifizierungsausschüssen Gelegenheit bieten, noch selber eine Entscheidung zu treffen. Geschah dies nicht, führte dies zur Einstellung kraft Gesetzes und der fiktiven Einstufung als Entlasteter. So erhielt Diels am 31. März 1952 einen dementsprechenden Bescheid. Dieses einfache Ende seines Verfahrens auf Grund einer gesetzlichen Regelung, die amnestieähnlichen Charakter hatte, betrachtete Diels als „Freispruch zweiter Klasse“.58 Nach allem Vorangegangenen hätte er lieber eine Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit gehabt, auf Grund derer er eine Entlastung ebenfalls für möglich hielt. Dies aber war reine Spekulation; Diels hätte sich freuen sollen, auf Grund des Gesetzes davongekommen zu sein. Ende Mai 1952 endete auch das durch Tejessys Strafanzeige gegen Diels initiierte Verfahren. Das Landgericht Düsseldorf stellte es auf Kosten der Staatskasse und gegen Zahlung einer Geldbuße von 1500 DM ein. Dies war aber noch an weitere Vorbedingungen geknüpft. Vor allem musste Diels beleidigende Äußerungen gegen Tejessy und auch die gegen einen anderen Ministerialbeamten mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknehmen. Diels hatte Letzteren als „bleiches Ungeziefer“ bezeichnet. Das war auch ein Rückfall in die Sprache des „Dritten Reiches“. Weiter musste Diels erklären, er habe auch nicht die Absicht gehabt, die Verhältnisse in Deutschland seit 1945 herabzuwürdigen. Dies alles war für ihn demütigend, und die Geldbuße für damalige Verhältnisse hoch. Diels hatte sich zur Erfüllung der Vorbedingungen offensichtlich nur deshalb bereitgefunden, weil ihm vermittelt worden war, andernfalls sei mit einer Verurteilung zu rechnen. Von Diels nach dem Entnazifizierungsverfahren erwartete „Angebote“ von Sicherheitsbehörden, ihnen als Berater zu dienen, blieben aus.59 Seinerseits wandte er sich brieflich am 25. Mai 1953 an den Bundesinnenminister Lehr und bezog sich dabei auf einen Artikel im „Manchester Guardian“ des nationalsozia­listischen Dissidenten Otto Strasser, Bruder des am 30. Juni 1934 ermordeten Gregor Strasser. Darin wurde behauptet, Diels arbeite für den deutschen Innenminister Lehr, obwohl er d ­ iesem als Gestapochef erhebliche Schwierigkeiten gemacht habe. Das DNVP-Mitglied Lehr war in der Tat Gegner des Regimes gewesen. Diels beteuerte nun in seinem Brief, der wie ein Bewerbungsschreiben gelesen werden konnte, er sei nicht Urheber der von Strasser lancierten Gerüchte und setzte hinzu, es gebe in Emigrantenkreisen das Interesse, „Sie mit mir zu kompromittieren“. Eine Reaktion Lehrs ist nicht bekannt; nach der Bundestagswahl im September 1953 wurde er auch nicht wieder Minister. Durch den Wahlerfolg war andererseits die Position des Diels-­kritischen Bundeskanzlers erheblich gestärkt. So unterließ Diels weitere Versuche, sich der Bundesregierung als Sicherheitsfachmann anzudienen. Er habe resigniert und sich zurückziehen wollen. Als Rückzugsort bot sich sein Hof in Twenge an.

57 Nds. GVBl., S. 231; Hauptausschüsse waren die Entnazifizierungsausschüsse erster Instanz. 58 Wallbaum, ebd., S. 303. Auch zum Folgenden und dem Abschluss des Tejessy-­Verfahrens. 59 Hierzu und zum Folgenden ders., ebd., S. 304 ff. Das Briefzitat auf S. 305.

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Dorthin zurückzukehren, war allerdings nicht einfach.60 1945 war der Hof beschlagnahmt und einem Treuhänder übergeben worden. Von einer Rückforderung, weil Diels beim Erwerb 1942 seine Verbindung zu Göring ins Spiel gebracht hatte, ließ die Stadt Hannover lange nicht ab. Nach Ende des Entnazifizierungsverfahrens wurde die Beschlagnahme aufgehoben. Diels musste aber noch durch eine Zivilklage den Abzug des vom Treuhänder eingesetzten Pächters erreichen. Am 1. Oktober 1953 wurde ihm der Hof wieder übergeben. Das war denn doch eine Spätfolge des günstigen Ausgangs seiner Entnazifizierung. Auf ein anderes Verfahren hatte dies allerdings keinen Einfluss gehabt, die Festsetzung seiner Versorgungsbezüge. Im Januar 1953 teilte ihm das Innenministerium in Hannover mit, er erhalte Wartegeld nach der Besoldungsgruppe eines Oberregierungsrats.61 Die weiteren Beförderungen ­seien nicht zu berücksichtigen. Gegen den Bescheid erhob Diels Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover. Sie wurde im Wesentlichen damit begründet, die genannten Beförderungen seit 1933 ­seien allein wegen hoher fachlicher Qualifikation erfolgt. Der Prozess zog sich lange hin. Zeitlebens musste Diels mit einer kargen Pension auskommen. Nach seinem Tod 1957 nahm seine Lebensgefährtin und Erbin das Verfahren wieder auf. Das Verwaltungsgericht entschied erst im Dezember 1959; es bestätigte den Bescheid des Innenministeriums und wies die Klage mit einer sehr eingehenden, Diels’ Rolle differenziert wertenden Begründung ab. Diels gehöre zum Personenkreis des G 131 des Bundes in Verbindung mit dem niedersächsischen Landesgesetz zu Art. 131 GG,62 „weil er am 8. Mai 1945 als Regierungspräsident im Wartestand im öffentlichen Dienst bei einer Dienststelle im Gebiet des Landes Niedersachsen gestanden“ habe (Urteil, S. 5). Nach § 11 (Abs. 1) des niedersächsischen Gesetzes, der mit § 7 des Bundesgesetzes übereinstimme, s­ eien Beförderungen u. a. dann nicht zu berücksichtigen, wenn sie wegen enger Verbindung zum Nationalsozia­lismus vorgenommen ­seien. Das sei nach § 11 Abs. 2 auch auf die Beamten anzuwenden, die wie Diels durch das niedersächsische Entnazifizierungsabschlussgesetz „als in Kategorie V eingestuft gelten“ (Urteil, S. 6). Das Gericht bejahte eine ­solche Beförderung sowohl bei der Berufung zum Leiter des geheimen Staatspolizeiamts, wie auch bei den Bestellungen zum Regierungspräsidenten (Urteil S. 7 ff). Die eine Behörde sei als politische Polizei zur Verfolgung von Regimegegnern geschaffen worden, die anderen ­seien untrennbarer Teil des Machtgefüges und deren Leiter politische Beamte gewesen. Bei der Versorgung wurden Diels und seine Erbin demnach härter behandelt als sein Vorgänger und auch sein Nachfolger, wie noch zu zeigen sein wird.

5.3.4 Rechte Kontakte, ein Pamphlet und politische Kabalen Diels’ Drang in die Öffentlichkeit veranlasste ihn immer wieder, politische Kontakte zu knüpfen. Seinen Bemühungen, noch während des Entnazifizierungsverfahrens sich den großen Volks­ parteien anzunähern, war aber kein Erfolg beschieden. Beide blieben distanziert. Zur selben Zeit hatte er aber auch Verbindung zu rechts stehenden Kreisen aufgenommen. Später, im Juli 1953, wurde Diels seinerseits Adressat einer solchen Kontaktaufnahme. Der undurchdringliche 60 Vgl. zum Folgenden ders., ebd., S. 306 ff. 61 Vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. Dezember 1959, Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 731 Hannover Acc. 40/71 Nr. 68. Auch zum Folgenden; hier S. 3. 62 Vom 24. Dezember 1951, Nds. GVBl., S. 233, i. d. F. der Bekanntmachung vom 17. März 1955, Nds. GVBl., S. 149.

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Jurist Dr. Werner Best, zeitweilig im RSHA tätig, schrieb ihm einen persönlichen Brief. Während des „Dritten Reiches“ dürften der „Mann Heydrichs“ und der ehemalige Gestapochef kaum Kontakt gehabt haben. Best war nun im Büro des Rechtsanwalts und FDP-Landtagsabgeordneten Ernst Achenbach tätig. Beide kannten sich aus ihrer Zeit im besetzten Frankreich; Best als Angehöriger der Militärverwaltung, Achenbach als Angehöriger der Deutschen Botschaft in Paris. Best hatte nun die Aufgabe, frühere Parteigänger des Regimes vor Strafverfolgung zu bewahren und bei einem beruflichen Neuanfang zu helfen. Diels sollte zugunsten eines ­früheren Gestapobeamten aussagen, um dessen Hinterbliebenen die Versorgungsansprüche zu sichern. Dieser tat dies verzögert, aber sonst ohne Umschweife. Diels und Best waren auf durchaus verschiedene Weise aktiv. Während der Erste ständig Kontakte knüpfte zu rechten Kreisen, denen er sich verbunden fühlte, Briefe schrieb, Pläne entwickelte, das Publikum wachrütteln wollte, arbeitete Best von seiner Basis im Büro A ­ chenbach aus zurückhaltend, aber beharrlich und systematisch an einem Netzwerk.63 Aus dem Nachlass Diels’ sind, von dem erwähnten Briefwechsel mit ihm im Sommer 1953 abgesehen, aber keine näheren Kontakte zu dem Netzwerk und der Gruppe um Achenbach in der FDP zu belegen. Ausgeschlossen sind sie deshalb allerdings auch nicht. Anders verhält es sich mit Diels’ Verbindungen zur niedersächsischen FDP, in der sich Anfang der 1950er Jahre eine ähnliche Entwicklung anbahnte wie in Nordrhein-­Westfalen, ohne allerdings ein vergleichbares Aufsehen in der Öffentlichkeit zu bewirken.64 Der seit 1949 amtierende Landesvorsitzende Stegner und der Landesgeschäftsführer Huisgen führten die FDP im Sinne einer „nationalen Sammlung“. Verbindung zu ihnen hatte auch wieder der ehemalige Hamburger Gauleiter Kaufmann, Bekannter und Förderer Diels’. Die heftigen Richtungskämpfe endeten auch nicht mit dem Austritt Stegners Anfang 1954. Auf dem kurz darauf stattfindenden Parteitag wurde ein früherer Mitarbeiter Diels’ aus der Regierung in Hannover in den FDP-Landesvorstand gewählt, Udo Veltkamp. Wie oben geschildert hatte er im Spruchgerichtsverfahren zugunsten von Diels ausgesagt. Besonders engen Kontakt mit Diels bekam dann aber seit 1954 ein anderer Politiker der Rechten in Niedersachsen, der Göttinger Verleger Leonhard Schlüter. 1921 wurde er als Sohn eines Offiziers und dessen jüdischer Ehefrau geboren.65 Trotz Auszeichnung wegen Tapferkeit wurde er auf Grund der Herkunft seiner M ­ utter aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Aus demselben Grund konnte er ein Jurastudium danach nicht mit dem ­Ersten Staatsexamen abschließen. Nach dem Krieg verlor er seine Stellung als Leiter der Kriminalpolizei in Göttingen, nachdem gegen ihn wegen strafbarer Amtsdelikte ermittelt worden war. Schlüter akzeptierte nie, dass er im Sinne der NS-Ideologie „Halbjude“ sei, vielmehr wollte er Patriot wie andere sein. So entwickelte er sich in der Nachkriegszeit, offenbar auf Grund eines diffusen Kompensationsbedürfnisses, politisch nach rechts.66 Verdeckt arbeitete er für eine „nationale Sammlungsbewegung“, was ihn in Kontakt zu den Vertretern ähnlicher Tendenzen in der niedersächsischen FDP brachte. Im Mai 1951 wurde er dann für die „Deutsche Reichspartei“ in den niedersächsischen Landtag gewählt. Nun trugen seine Kontakte zur FDP Früchte. Wenige Tage später forderte ihn deren Fraktionsvorsitzender auf, „zu uns zu kommen“. Weil seine eigene Stellung bei der zerstrittenen Rechten gefährdet war, trat er im September 1951 63 64 65 66

Vgl. zum Folgenden generell Herbert, Best, S. 461 ff. Vgl. Wallbaum, ebd., S. 315 ff; auch zum Folgenden. Zu Schlüters Lebenslauf Marten, Ministersturz, S. 14 ff. Zu den politischen Aktivitäten und zur verlegerischen Tätigkeit ders., ebd., S. 17 ff.

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zur FDP -Fraktion über. In ihr entwickelte sich Schlüter zum Wortführer der Rechten und wurde 1954 zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Von Beruf war Schlüter Verleger vorzugsweise rechtsnationaler Autoren. Das Impressum „Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik Leonhard Schlüter“ trug auch eine Schrift, deren Autor Rudolf Diels sich darin zu einem Ereignis äußerte, welches von vielen als größter politischer Skandal der jungen Bundesrepublik angesehen wurde. Am 20. Juli 1954 verschwand der erste Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John. Er hatte zum weiteren Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 gehört und in deren Auftrag auf einer Reise nach Spanien kurz vor dem Attentat Kontakt zu den Westalliierten aufgenommen.67 John war „auf eine bis heute etwas mysteriöse Weise in die DDR gewechselt“.68 Wenige Tage später wurde er in Ostberlin als politischer Flüchtling präsentiert. Dies wurde als moralischer Erfolg der DDR und gleichzeitig als Blamage für die Bundesrepublik empfunden. Fatal war auch, dass Johns Seitenwechsel geeignet war, die Wirkung der Rede von Bundespräsi­ dent Heuss zu beeinträchtigen, mit der dieser zum Gedenktag die Verschwörer des 20. Juli, die in weiten Kreisen immer noch als „Landesverräter“ galten, moralisch rehabilitiert hatte. Die Rechte sah sich bestätigt und zu einer Reaktion herausgefordert. Achenbach, zu dessen schärfsten Kritikern John gehört hatte, glaubte jetzt, Widerspruch gegen seine Verbindungen zu Naumann und anderen in den vorangegangenen Jahren als „kommunistisch gesteuert“ bezeichnen zu können. Er schrieb dem nordrhein-­westfälischen FDP -Landesvorsitzenden Middelhauve den entlarvenden Satz: „Der Unterschied z­ wischen Herrn John und mir besteht nicht darin, dass er Widerstandskämpfer und ich Neo-­Nazi wäre […], sondern darin, dass er unanständig und ich anständig bin.“ Das Entsetzen in den rechtskonservativen Kreisen der FDP brachte den Verleger Schlüter auf die Idee einer Veröffentlichung.69 Sie bot die Möglichkeit, die führenden politischen Akteure in der Bundesrepublik zu attackieren. Daran lag auch Diels. So war es nur konsequent, dass er der Autor sein sollte. Wie im Einzelnen die Aufgabenverteilung ­zwischen ihm und S­ chlüter war, blieb umstritten. Diels war mit John gut bekannt gewesen. Diels betrachtete sich auch in der Sache selbst, deren Kern die Arbeit des Verfassungsschutzes war, wegen seiner früheren Tätigkeit im Geheimen Staatspolizeiamt als besonders kompetent. Bereits Anfang August erschien in Schlüters Göttinger Verlag eine Broschüre mit dem Titel „Der Fall Otto John – Hintergründe und Lehren“. Der Verfasser zeichnete als „Rudolf Diels, Regierungspräsident A. D.“. Das 57 Seiten umfassende Werk konnte zum Preis von 2 DM erworben werden. Eine erste, ausführliche und wohlwollende Besprechung erschien bezeichnenderweise im offiziellen Organ der niedersächsischen FDP. Noch im selben Jahr kam eine zweite Auflage heraus. Die Broschüre war eine Streitschrift. Der „Fall John“ bot Diels eine willkommene Gelegenheit zu einer umfassenden und aggressiven Polemik. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels, „Warum?“, stellte er sich nachdrücklich als anerkannten Fachmann dar. Diels erklärte, es sei ihm einleuchtend erschienen, einiges aus seinem Wissen über die Hintergründe mitzuteilen, um die Lehren daraus umso bereiter darzulegen. Vielsagend fuhr er fort:

67 Ueberschär, Für ein anderes Deutschland, S. 175 f. 68 Herbert, ebd., S. 471, dort auch die folgenden Zitate. 69 Hierzu und zum Folgenden Wallbaum, ebd., S. 317 ff.

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Daß meine ‚Lehren‘ denen ungebeten kommen, die den Bock zum Gärtner gemacht haben, und die nun unter großen Lamentationen neue Böcke suchen […] – das ist es nicht, was mich zu einem unlustigen Schreiber macht. Es ist einfach die Vorstellung Goethes, daß die Resignation die vornehmste Voraussetzung für die Kenntnis und die Beurteilung der Wirklichkeit ist […]. (S. 7)

Offenbar war Diels gekränkt, dass entgegen seiner Wunschvorstellung John ihm seinerzeit vorgezogen worden war, eine illusionäre Selbstüberschätzung. Er ließ erkennen, dass er über den Fall John durchaus eine gewisse Schadenfreude empfand und scheute sich nicht, einen Vergleich mit dem Flug von Rudolf Heß 1941 auf die britischen Inseln anzustellen (S. 7 f). Berechtigterweise aber frage man nach der Schuld, die Bonn am „Fall John“ trage. Es werde Zeit, dass dieser Fall „im Lichte der Wirklichkeit“ gesehen werde. Diels kam dann nochmals auf seine „Kennerschaft“ als jemand zurück, der das „Dritte Reich“ von Anfang bis Ende von einem „vorgeschobenen Ausblick“ aus habe betrachten können sowie unter verschiedenen Ministern und Kanzlern in der politischen Polizei tätig gewesen sei, nicht „aus innerer Neigung zu dem fragwürdigen Handwerk, sondern weil es so kam“. (Alles S. 8) Schließlich setze ihn die „Kenntnis“ bewährter Organisationsformen in den Stand, „den Unfug der Wildwest-­Organisation meines Nachfolgers [sic!] John ebenso zu beurteilen wie die Kindergärten amerikanischer Agentenzentralen.“ (S. 9) Im Folgenden zog er gegen die Besatzungsmächte zu Felde. Unter der „Anleitung hysterischer Umerzieher“ sei das Gegenteil einer sittlichen Erneuerung geschehen. Diels sah offenbar in der „Dollaratmosphäre des Wirtschaftswunders“ das „nationale Bewusstsein“ ausgelöscht. Der Bundeskanzler erhielt nun ein vergiftetes Lob, welches zugleich das politische System der Bundesrepublik verunglimpfte. Er fülle „auf der deutschen Marionettenbühne des Unwirklichen seine Rolle mit Leben“ und verstehe es, „die Kastration der deutschen Staatlichkeit zu verbergen“. Auch von den „Regisseuren der Sache [?]“ werde geklagt, es gebe kein Staatsgefühl mehr. (Alles S. 10). Von den Hintergründen dieser „deutschen Dreyfuß-­Affaire“ wolle niemand etwas hören, auch alle drei westlichen Besatzungsmächte nicht. Diels bedachte hier insbesondere die Amerikaner wieder mit maßlosen Vorwürfen. Sie hätten „hinter der ­Staffage einer fingierten Staatlichkeit den sumpfigen Grund für das Ungeheuerliche“ gelegt. Da das deutsche Volk keine Bücher lese, schreibe er für die, ­welche ein Wort von ihm erwarteten. Kein „betuliches“, wie im angeblich fairen Ton „unserer […] öffentlichen Meinung“, die vergessen habe, „daß schon einmal ein Hitler bei seinem Aufstand gegen die Betulichkeit unserer demokratischen Gemüter [?] Erfolg gehabt hat.“ (Alles S. 11 f) Im zweiten Kapitel „Mister John“ ging Diels zunächst auf dessen Rolle als Zeuge der Anklage bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen ein. John, nach dem 20. Juli nach England emigriert, sei in britischer Uniform aufgetreten und habe ihm Verhaftung angedroht, falls er ohne Erlaubnis die Britische Zone betrete (S. 12 f). John war kaum der dafür zuständige Mann, aber auch Einbildung kann Hassgefühle wecken. Später habe er John bei einem Treffen ehemaliger Gymnasiasten einer Wiesbadener Schule kennengelernt. Dabei habe man diesen den „Deserteur merken“ lassen. Weitere persönliche Kontakte, bei denen es zuletzt um Johns Bestellung zum Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz ging, zu einem „seiner Nachfolger“ (sic!), schilderte Diels ebenso herablassend wie abwertend, zugleich aber eine gewisse persönliche Nähe vorgebend (S. 15 ff). Im dritten Kapitel, „Eine gemischte Gesellschaft“, wollte er das Milieu schildern, aus dem John stamme. Es begann aber mit einer allgemeinen Verunglimpfung von Opfern der NS-Diktatur sowie einer Beschreibung von Widerstandskämpfern und „Widerstandsneurotikern“. Dabei bezeichnete er die Besatzungsmacht als „regierende[n] Feind“. John habe zu den genannten

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Gruppen nicht gehört, er sei „schlicht ein Verräter“ gewesen (S. 19 f). Dies wurde, neben seiner Emigration, auch mit seiner Rolle als Zeuge in Nürnberg zu belegen versucht (S. 21 f). Damit war das Stichwort gegeben, insbesondere die Nürnberger Prozesse als großangelegte Täuschungsmanöver zu denunzieren (S. 23 f). Es sei in Wahrheit „zur Ausrottung des preußischen Geistes“ konstituiert worden. Etwas später hieß es allerdings, „Gegenstand der Nürnberger Anklage“ sei „das Deutsche schlechthin“ gewesen. Emigranten, kollaborierende Deutsche und amerikanische „Deutschenhasser“ hätten dort zusammengewirkt (S. 24 f). Zwei Aussparungen davon fallen auf. Diels billigte der SPD in Emigration und Nachkriegszeit, vor allem ihrem verstorbenen Vorsitzenden Kurt Schumacher, Nationalgefühl zu (S. 22). Sodann nahm er den stellvertretenden amerikanischen Hauptankläger Robert Kempner in Schutz. Er habe „nur die deutschen Verhältnisse bis 1934“ gekannt und der „Anregung späterer Emigranten für die Untermauerung seiner Beschuldigungen“ bedurft. John sei dabei eine „Schlüsselfigur“ gewesen (S. 26). Doch Diels war selbst ein wichtiger Informant Kempners im Hauptprozess gewesen. Im vierten Kapitel, „Ausländische Auftraggeber“, wurde John durchweg als Werkzeug der Alliierten dargestellt. Während Adenauer die politische Polizei überflüssig erschien, hätten deren Hohe Kommissare mit John einem Mann ihr Vertrauen geschenkt, „der bedingungslos einer der ihrigen war“. Er sei der wahre Ausdruck der deutschen „Souveränitätslosigkeit“. Seine Aufgaben ­seien ihm vom „unsichtbare[n] Zwangsgesetz der Fremden“ gestellt worden und er habe sich erwiesenermaßen ihrer „zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber entledigt“ (S. 27 ff). Diels stellte dann auch eine „Spekulation“ zu dem Zeitpunkt von Johns Übertritt nach Ostberlin an. Dieser sei von seinen früheren Auftraggebern in der „Downing Street“ bestimmt worden. Durch Johns Enthüllungen in Ostberlin hätten insbesondere die Kreise der amerikanischen Außenpolitik gestört werden sollen (S. 31 f). Zu Beginn des fünften Kapitels, „Skandal muss sein“, führte Diels aus, es interessiere nicht, was in der Weltpresse breiten Raum eingenommen habe, nämlich unter ­welchen Umständen und aus ­welchen Motiven John nach Ostberlin „ausgewichen“ sei. Der Volksmeinung am nächsten komme ein katholisches Bistumsblatt, in dem John als „Überläufer“ und „Deserteur“ bezeichnet und des „Verrats“ bezichtigt worden war. Aber John habe aufgedeckt, dass man „jemand nicht einfach deswegen, weil er angeblich ein Nazifresser gewesen sei“, mit einer hohen Position habe betrauen können (S. 33 f). Damit gelangte Diels an eines seiner Standardthemen, den von den Alliierten erzwungenen politischen Säuberungen des Beamtenapparats, die zu einer „Auslese der Minderwertigen“ geführt hätten (S. 35). Nun kam er zu der Frage nach einem „Regulativ gegen die Entartung [!] unseres öffentlichen Lebens“, einem „neuralgischen Punkt unserer Demokratie“. Wegen Hitler wolle man um keinen Preis Ordnung und Autorität, Vorbild sei Frankreich; dort sei der Skandal Wesenselement der Demokratie. Er aber, Diels, nehme seine Maßstäbe aus der geistigen Welt Preußens, wo der „ordnende Staatsgeist […] seinen höchsten Gipfelpunkt“ erreicht habe (S. 36 ff). Im sechsten Kapitel „Spitzelapparat und Verfassungsschutz“ kritisierte Diels mit aller Vehemenz dessen Konstruktion auf Bundesebene in der Form einer eigenen Behörde. Die Verselbstständigung der politischen Polizei sei Kennzeichen einer Diktatur (S. 40 f). Da wusste Diels wovon er schrieb. Jetzt wollten aber Bundesregierung und Bundestag eine politische Polizei, „die sie vor dem, wenn auch nur geglaubten, Staatsfeind schützt“. Wenn man aber den „verkappten Kommunisten“ fassen wolle, bedürfe der Verfassungsschutz eines „überdimensionalen Spitzelapparates“. Dagegen gäbe es nur einen Schutz, nämlich wie im republikanischen Preußen dessen Aufgaben „an die normalen Staatsorgane und ihre Polizei“ zu übertragen. So plädierte Diels für die Rückkehr zum preußischen Modell (S. 42 ff).

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Im siebten Kapitel, „Die Chancen des Opportunisten“, schlug Diels einen weiteren Bogen (S. 46 ff). Er beklagte, dass der Wechsel der politischen Systeme in Deutschland den Opportunismus von Beamten derart gesteigert habe, dass ihre Glaubwürdigkeit nach außen in Gefahr geraten sei. „Die Reform unseres Staatswesens, nach der zu rufen unser deutscher Dreyfuß-­ Skandal den Anlaß gegeben hat, muss demnach mit einer völligen Erneuerung unserer Staatsdienerschaft einsetzen“ (S. 50). Im vorletzten Kapitel mit der rätselhaften Überschrift „Selbst Hermann Göring …“ beschrieb Diels sein Ideal eines leitenden Staatsbeamten, dessen Merkmale „Gerechtigkeitsliebe und Herzensgüte [sic!], Strenge gegen sich selbst und Toleranz gegenüber den Mitmenschen“ s­ eien. Er betonte dann die notwendige „Unabhängigkeit des leitenden Beamten von politischen Bindungen“. Denn dem „verhängnisvollen Pluralismus unseres öffentlichen Lebens“ könne nur durch Persönlichkeiten entgegengetreten werden, die allein „dem Staat und seinen Gesetzen verantwortlich“ s­ eien (S. 50 f). Das war das traditionelle Beamtenbild einer vormodernen Gesellschaft. Die Zahl der zur Leitung fähigen Persönlichkeiten sei nicht groß. Trotz ­dieses Mangels würden neue Ämter gebildet (S. 51 f). Dies zielte wiederum auf das Bundesamt für Verfassungsschutz. Noch einmal betonte Diels, ein Beamter solle keiner Partei angehören, und wenn doch, „so soll er diese Zugehörigkeit weder ernst nehmen noch daraus eine Maxime seines Handelns ableiten.“ Er verstieg sich zu dem Satz: „Denn Diktatoren und demokratische Parteien sind sich darin einig, daß sich der Mann am besten zu einem Posten eignet, den man am festesten in der Hand hat.“ (S. 53) In einer Demokratie auftretende Mängel dürften nicht mit Merkmalen einer Diktatur gleichgesetzt werden. Als Beleg nannte er ausgerechnet ein angebliches Zitat Görings aus dessen Vernehmung vor dem Internationalen Militärgerichtshof: „Ich wählte Herrn Diels, weil ich d ­ ieses Amt von einem Fachmann verwaltet wissen wollte, der in der Materie eingearbeitet war und als Nichtparteimann unabhängig.“ (S. 54) Wörtlich hatte Göring das so gar nicht gesagt, allenfalls dem Sinne nach, und auch das Wort „unabhängig“ nicht verwendet.70 Bei ­diesem verdeckten Selbstlob blieben Diels’ Opportunismus und Ehrgeiz außer Acht; schon vor der Machtübernahme hatte er sich Göring gegenüber als willig Handelnder empfohlen. Die Überschrift des Schlusskapitels lautete etwas kryptisch „Der Ring schliesst sich“ (S. 56 f). Damit war nicht gemeint, dass John mit „extrem rechts“ und „extrem links“ zusammengearbeitet habe. Es gehe nicht um Otto John. Dieser sei nur ein Agent gewesen. Aber der Fall John habe „eine Fassade weggerissen“, die der scheinbaren „staatlichen Selbstständigkeit“. Der „große Zusammenhang“, auf den es Diels ankam, war, „im Innern unserer staatlichen Gemeinschaft mit einer menschlichen und organisatorischen Erneuerung endlich zu beginnen“. Nach all den polemischen und unverfrorenen Ausführungen wirkte dieser Appell jedoch wenig überzeugend, erst recht, wenn Diels sich zum Hüter des „wahren Preußentums“ stilisierte. Mit einem deutlich vernehmbaren Echo war zu rechnen. Dies kam vor allem aus dem Bundestag. Als Reaktion auf den Übertritt Johns nach Ostberlin hatte die SPD-Fraktion eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und einen Untersuchungsausschuss beantragt. Beides stand auf der Tagesordnung der Plenarsitzung vom 16./17. September 1954. Dabei wurden auch Diels und seine Broschüre Gegenstand der Diskussion. Sprecher der SPD zur Eröffnung der Debatte war der frühere nordrhein-­westfälische Innenminister Dr. Walter Menzel. Er richtete eine scharfe Attacke gegen den Autor.71 Nun 70 Vgl. IMT-Verhandlungsniederschriften, Bd. IX, S. 291. 71 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlp., Plenarprotokoll vom 16./17. September 1954, S. 1941 ff (1950).

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habe sich „auch der Gründer der damaligen Gestapo unter Hermann Göring zum Fragenkomplex John gemeldet. Wie eine giftige Kröte gießt Herr Diels in einem P ­ amphlet die Kübel seines Unrats über die heutige Zeit, über die Widerstandskämpfer, insbesondere über die Männer des 20. Juli.“ Er, als Gründer und Leiter der Gestapo ein Wegbereiter und Nutznießer des „Dritten Reiches“, sei nunmehr Nutznießer „einer allzu nachsichtigen Demokratie“. Der vielleicht einzige Punkt, worin man Herrn Diels nicht widersprechen sollte, sei, wenn er an einer Stelle seines „Pamphlets gegen die Demokratie“ von John als seinem „Nachfolger“ spreche, „denn genau so wie John zum Feind überwechselte, hat Diels damals die Weimarer Demokratie verraten.“ Ähnlich heftig, äußerte sich der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Dr. von Brentano.72 Zu denken gebe, dass „solche Ratten wie Herr Diels wieder aus den Löchern kommen“. Den Bundesinnenminister bat er zu prüfen, ob Diels nicht die Pensionsansprüche entzogen werden könnten. Beide großen Fraktionen, die sich damals meistens kontrovers gegenüberstanden, stimmten also in der Verurteilung eines früheren hohen NS-Funktionsträgers überein. Am zweiten Tag der Debatte äußerte sich der Innenminister Dr. Schröder auch zur Angelegenheit Diels. Zunächst erklärte er, den Namen in die Debatte einzuführen bedeute zu viel Ehre. Zum Vorschlag, zu prüfen, ob nach § 9 des Gesetzes zu Art. 131 GG Diels das Ruhegehalt aberkannt werden könnte, verwies der Minister auf die niedersächsische Landesregierung. Von dort erhalte Diels seine Bezüge. Auf Zurufe ergänzte er dann, d ­ ieses Verfahren könne auch durch die Bundesregierung eingeleitet werden, diese werde der „Anregung […] in der schnellsten Weise entsprechen“. In einem weiteren Redebeitrag musste Schröder die Rechtslage jedoch noch einmal klarstellen und verlas dazu eine Notiz aus seinem Haus. Diels sei zuletzt in Hannover Regierungspräsident gewesen. Infolgedessen sei allein die niedersächsische Landesregierung für die Einleitung eines Dienststrafverfahrens nach § 9 des Gesetzes zu Art. 131 GG zuständig. Der Minister fuhr fort, er lasse „diejenigen Stellen aus der inkriminierten Publikation“ zusammenstellen, „die Anlaß zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens geben könnten“. Er werde sie „mit einer entsprechenden Bitte an Niedersachsen weiterleiten“. Diels war über die harte Ablehnung und die scharfe Wortwahl in der Bundestagssitzung jedenfalls gekränkt. Sein Anwalt Josef Augstein riet ihm allerdings eindringlich von einer Klage ab. Sie biete keine „hinreichende Aussicht auf Erfolg“; Diels’ Ausführungen s­ eien vielfach überaus heftig gewesen.73 Beide übersahen offenbar Art. 46 Abs. 1 GG, wonach parlamentarische Äußerungen von Abgeordneten grundsätzlich straflos sind. Der Ausnahmefall einer verleumderischen Beleidigung, also einer bewusst unwahren Kränkung, lag hier nicht vor. Diels gab sich mit Augsteins Antwort aber nicht zufrieden. Er setzte die Korrespondenz mit ihm noch einige Zeit fort, sah aber schließlich doch von einer Klage ab. Ende September 1954 schrieb der Bundesinnenminister seinem niedersächsischen Kollegen, ein Disziplinarverfahren gegen Diels sei ernsthaft in Erwägung zu ziehen, und zwar wegen dreier Vorwürfe: „Verächtlichmachung der heutigen Staatsform und ihrer Einrichtungen, Verunglimpfung der Männer der 20. Juli und Verherrlichung des sogenannten Dritten Reiches“. In einer Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischen Innenminister äußerte sich Diels sachlich und beteuerte, ihm habe „ein Angriff auf die Staatsform fern gelegen“. Das Ministerium begann jedoch mit gesetzlichen Vorermittlungen. Diels’ Ton wurde nunmehr

72 Ebd., S. 1994; die folgenden Redebeiträge ebd., S. 2017 und S. 2027. 73 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 325 f. zum Folgenden vgl. S. 327 f. Von dort auch die Zitate.

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schärfer. In seinen Stellungnahmen richtete er Angriffe gegen den Bundesinnenminister und die Kritiker im Bundestag. Seine inhaltlichen Gegenargumente blieben jedoch schwach. Mit der Broschüre sei er nur dem „Wunsch seines Verlegers“ gefolgt. Sie habe mehr als „beschönigende Reden“ zur „Entgiftung verbitterter Staatsgegner“ beigetragen. Zum Vorwurf der Verunglimpfung der Angehörigen des 20. Juli 1944 verwies er darauf, er sei selber danach verhaftet worden. Das hatte ihn allerdings nicht, wie in Kapitel 3 ausgeführt, zum Widerstandskämpfer gemacht. Am 27. Januar 1955 wurde schließlich das förmliche Dienststrafverfahren eingeleitet. Dieses ohnehin schon langwierige Verfahren geriet hier auch noch in den Schatten des Landtagswahlkampfs. In dessen Vorfeld schon hatte Diels durch persönliche Kontakte versucht, die Aussichten der FDP zu verbessern. Das Ergebnis der Landtagswahl vom 24. April 1955 ermöglichte eine „Bürgerblock-­Regierung“ mit dem Ministerpräsidenten Hellwege (DP).74 Dem Kabinett, welches dieser am 26. Mai vorstellte, gehörte als Kultusminister der Diels-­Verleger Leonhard Schlüter an. Dessen Ministerzeit währte aber nur kurz. Vor allem auf Grund massiver Proteste von Göttinger Professoren und Studenten trat Schlüter mit Wirkung vom 11. Juni zurück. Wohl mit Bedacht wurden erst nach diesen Ereignissen Diels und Schlüter Ende Juni zur Entstehung der Broschüre vernommen.75 Diels gab an, kurz nach dem Übertritt Johns habe Schlüter ihn gedrängt, dazu Stellung zu nehmen. Er habe sich ihm gegenüber verpflichtet gefühlt und ihm gesagt, er könne „hineinkorrigieren, gewisse Schärfen herausbringen und dergleichen mehr“. Keine der Überschriften stamme von ihm. Die Aufmachung des Buches sei ihm nicht bekannt geworden. „Wenn ich die Konsequenzen übersehen hätte, hätte ich Herrn Schlüter die Freiheit wohl nicht gelassen.“ Dies alles erschien naiv und sorglos. Schlüter verkleinerte Diels’ Rolle noch. Die Broschüre hätte so rasch auf dem Markt erscheinen sollen, dass Diels sein Manuskript „in spätestens drei bis vier Tagen herstellen musste“. Er habe „Gedankensplitter“ direkt diktiert, „das heißt ohne Disposition“. Daraus habe sich die Notwendigkeit ergeben, „im Verlag selbst die einzelnen Fragmente nach einer bestimmten Disposition […] zusammen zu bauen.“ Danach drängte sich der Schluss auf, Diels habe nur Rohmaterial geliefert, welches erst im Verlag in eine endgültige Form gebracht worden war. Auf Grund der beiden Aussagen musste der Eindruck entstehen, Diels und Schlüter hätten eine Version abgesprochen, w ­ elche den von einer Disziplinarstrafe bedrohten Beamten entlasten sollte. Sie verband ja ein enges Verhältnis. So hatte Diels im Mai 1955 brieflich bei seinem anderen Verleger Augstein für S­ chlüter als Kultusminister geworben. Augstein hatte allerdings kühl reagiert. Das Unglaubwürdige der Version von Diels und Schlüter zeigte sich, als wenig später, noch im Juli, der Verlag die ursprüngliche Fassung der Broschüre zu Tage förderte, die angeblich „verschollen“ gewesen war. Danach war doch Diels der Verfasser. Dies wiederum kam Schlüter zugute, was auch im Interesse der Regierungsparteien lag, zwangsläufig aber zulasten von Diels. Aus der schwierigen Beweislage versuchte sich das Innenministerium durch eine rasche Entscheidung zu befreien. Bereits am 2. August erging eine Einstellungsverfügung.76 Die Begründung war ambivalent. Auf der einen Seite wurde festgestellt, Diels habe mit den beanstandeten Textstellen seine Dienstpflichten verletzt. Auf der anderen Seite hieß es aber, es sei nicht zu erwarten, dass die nach dem Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG allein zulässige Sanktion, die Aberkennung aller Rechte, also vor allem des Ruhegehaltes, gegen ihn im 74 Marten, Ministersturz, S. 11 ff, zum Folgenden S. 22 ff und 64 ff. 75 Dazu Wallbaum, ebd., S. 329 f, auch zum Folgenden. Von dort auch die Zitate. 76 Zu deren Inhalt und dem Folgenden vgl. Wallbaum, ebd., S. 331 ff.

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Dienststrafverfahren verhängt würde. Zusätzlich wurde noch auf angeblich „schuldmindernde Umstände“ verwiesen. Mit allzu viel Verständnis hielt es Diels zugute, er habe letztlich seine Kritik „positiv“ gemeint; das lasse den Ton der Broschüre entschuldbar erscheinen. Wohlweislich kam das Innenministerium der Bitte des Bundesinnenministers um Unterrichtung nicht nach, vorgeblich aus Geheimhaltungsgründen. Hauptsächlich war der Landesregierung wenig daran gelegen, und auch Diels mochte das recht sein, dass dieser „Fragenkomplex“ nochmals im Bundestag behandelt würde. Dann wäre sicher auch der Fall Schlüter zur Sprache gekommen. Auch in einem weiteren Verfahren kam Diels glimpflich davon. Der vom Landtag eingesetzte Untersuchungsausschuss zu den Vorgängen, die zur Berufung Schlüters als Kultusminister geführt hatten, verzichtete darauf, zur Veröffentlichung der Diels-­Broschüre Stellung zu nehmen. Im Abschlussbericht vom 6. Februar 1956 wurde dies damit begründet, durch die Rückkehr Johns und wegen des gegen ihn schwebenden Strafverfahrens sei eine neue Lage entstanden. Außerdem habe der Minister in seiner Einstellungsverfügung Diels’ Verletzung der Treuepflicht als Beamter scharf missbilligt.77 Andererseits hatte ihm während des Diszipli­narverfahrens noch eine weitere scharfe Sanktion gedroht. Ein Bundestagsausschuss forderte die Bundesregierung auf, nach Art. 18 GG gegen Diels und zwei andere Autoren rechtsradikaler Tendenz initiativ zu werden. Danach verwirkt die Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, wer sie zum Kampf gegen die freiheitlich-­demokratische Grundordnung missbraucht. Dies festzustellen, ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig, also ein aufwändiges Verfahren. Die Bundesregierung lehnte es aber ab, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Sie folgte damit dem Bedenken des Bundesinnenministers, die Gefahr einer Abweisung des Antrags sei groß und es würde nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Schriften gelenkt.78 Nach seiner erwähnten Rückkehr wurde John 1956 wegen Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. In einem 1969 veröffentlichten Erinnerungsbuch schilderte er Kontakte zu Diels während seiner Dienstzeit im Verfassungsschutz. Diese sind jedenfalls nicht ausgeschlossen. Möglicherweise erklärte sich der heftige Ton von Diels’ Broschüre auch daraus, dass ­solche Kontakte nicht hatten ruchbar werden sollen. Er soll John vor Intrigen gewarnt haben. Als Regierungspräsident in Köln, gab John dann wieder, habe er „seine schützende Hand über Adenauer gehalten“ und sei verbittert gewesen, dass dieser ihm keinen höheren Posten übertragen habe.79 In Diels’ Broschüre klang dies auch an.

5.3.5 Opfer eines Jagdunfalls Ein Staatsamt hatte Diels nach dem Krieg nicht wieder erringen können, und mit dem Sturz Schlüters war die letzte Möglichkeit geschwunden, über eine rechtslastige FDP zu politischem Einfluss zu kommen. Hatte er sich mit viel Geschick durch das „Dritte Reich“ laviert, so erzielte er im Nachkriegsdeutschland lediglich publizistische Aufmerksamkeit. Seine Selbstüberschätzung, Streitbarkeit und seine grenzenlose Umtriebigkeit erwiesen sich als hinderlich. Aber trotz des formal günstigen Ausgangs des Entnazifizierungsverfahrens war er aus 77 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 333. 78 Protokoll der Sitzung vom 2. Juni 1955, in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, S. 347 f. 79 John, Zweimal kam ich heim, S. 246.

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seiner Tätigkeit im „Dritten Reich“ einfach zu belastet. So ist es nicht überraschend, dass er seit Mitte der Fünfzigerjahre an eine Auswanderung nach Südamerika dachte.80 Dies wollte er von seiner „künftigen Frau“ Elisabeth Breimer abhängig machen. Realisiert wurden die Pläne jedoch nicht, ebenso wenig wie die, mit Tunesien wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen. Diels’ unsteter Charakter kam auch dadurch zum Ausdruck, dass er im März 1955 seinen eigentlich doch sehr geliebten Hof in Twenge an einen örtlichen Landwirt verkaufte. Den Gegenwert wollte er in Aktien erhalten. Das könnte dafür sprechen, dass er tatsächlich wirtschaftliche Unternehmungen plante, sei es im In- oder Ausland. Ganz wollte Diels aber nicht von der Landwirtschaft lassen. Nahe beim Hofe seines Bruders in Berghausen plante er, auf einem Grundstück, welches dieser ihm überließ, „ein besseres Wochenendhaus“ zu errichten. Er behielt aber offenbar in Hannover eine Wohnung. Anfang 1957 fand er sich in einem Rechtsstreit noch einmal mit einer alten Problematik konfrontiert und musste sich als Zeuge vor dem Amtsgericht Hannover zum Reichstagsbrand äußern.81 Grund des Prozesses waren Vorwürfe, die Gisevius gegen einen früheren Kriminalbeamten erhoben hatte. In gewundenen Formulierungen erklärte Diels nunmehr, van der Lubbe sei ein „krankhafter Brandstifter“ gewesen und es habe „ein Streichholz“ genügt, den Reichstag anzuzünden. Aber er hatte vorher auch einmal den Niederländer „armer Schlucker“ genannt; der „heimtückische Dicke“ sei der Organisator des Brandes gewesen. In diesen Jahren sprach er auch mit Journalisten über d ­ ieses Thema, diesmal mit einer Darstellung in Richtung der SA. Zuzugeben, dass er die wahren Täter nicht kenne, brachte er nicht über sich, wohl weil er bei einigen Zeitgenossen in dem Ruf stand, er sei der Einzige, der es wisse. Wie sehr ihn die Angelegenheit umtrieb, belegte ein Brief an den früheren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Torgler, mit dem er nach Kriegsende wieder in Kontakt gekommen war. Darin kündigte er an, er habe nunmehr ernsthaft vor, ganz offiziell beim Institut für Zeitgeschichte in München den Antrag zu stellen, von dort aus eine Untersuchung über den Brand durchzuführen. Es muss nicht überraschen, wenn Diels Torgler schrieb.82 So ungewöhnlich wie sein Leben war auch sein Tod.83 Diels, der seit Langem in ­Berghausen eine Jagd gepachtet hatte, starb an den Folgen eines Jagdunfalls. Noch im Auto, seine Lebensgefährtin war bereits ausgestiegen, hatte sich aus seinem entsicherten Gewehr ein Schuss gelöst, den sein Hund beim Herausspringen verursachte. Ihn traf ein Bauchschuss, der zu schwersten inneren Verletzungen führte. Frau Breimer brachte ihn zum Arzt. Angeblich wollte Diels nicht ins Krankenhaus gebracht werden. In der Nacht starb er, tatsächlich doch im Krankenhaus Katzenelnbogen.84 Die Todesanzeige in „Die Welt“ vom 20./21. November lautete: „Durch einen Unfall verloren wir unseren lieben Rudolf Diels […] Regierungspräsident z. Wvw. [zur Wiederverwendung]“. Aufgeführt waren die Lebensgefährtin, Tochter Henriette, Bruder Hermann sowie Schwester Ena Bremse mit Angehörigen. Es entstanden aber Mutmaßungen, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Ein Bauchschuss spricht bei einem geübten Schützen allerdings dagegen. Nichte und Neffen erklärten dem Biographen, ihr Onkel sei nie depressiv gewesen. 80 81 82 83 84

Zum Folgenden Wallbaum, ebd., S. 339 ff. Auch zum Folgenden, S. 342 ff. Vgl. ders., ebd., S. 344 f. Diels-­Zitate dort und auch bei Kempner, ebd., S. 118. Vgl. Tobias, Reichstagsbrand, S. 529. Zum Folgenden ders., ebd., S. 348 f mit FN 38. Zum Unfall auch Kohl, Zeugenhaus, S. 226 f. Mündliche Auskunft der Standesbeamtin der Verbandsgemeinde Katzenelnbogen vom 10. Oktober 2017.

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Von den Nachrufen ist bemerkenswert der von Ferdinand Fried, welcher am selben 20./21. in „Die Welt“ erschien, unter dem Titel „Ein Fouché war er nicht …“ Das war sicherlich zutreffend: Denn von seiner Bedeutung her war er allenfalls ein „Mini-­Fouché“. Ein Übergang in die Nachkriegsverwaltung war ihm nicht gelungen. Im Übrigen beschönigte der Nachruf Diels’ Rolle als Gestapochef, in der er „vielleicht mehr zu dämpfen und zu legalisieren versuchte[,] als möglich war […]“. Auch sei er „in die Verschwörung des 20. Juni [sic!] einbezogen“ worden. Dem „Galgen vom Plötzensee“ sei er nur mit knapper Not entgangen. Sein Auftreten in Gesellschaft habe „immer dem eines bengalischen Tigers“ entsprochen, und man habe sich „seiner Faszination“ kaum entziehen können. Einen besonders ausführlichen Gedenkartikel widmete ihm der Publizist Harry Wilde unter dem Titel „Rudolf Diels – Porträt eines verkannten Mannes“.85 Beide waren sich 1932 erstmals begegnet. Später, am Morgen nach dem Reichstagsbrand, habe Diels den ins Berliner Polizeipräsidium verbrachten Harry Wilde einfach wieder laufen lassen. Dies schien ihn mit unendlicher Dankbarkeit erfüllt zu haben, denn weitere Begegnungen in der Nachkriegszeit gab er in einem völlig unkritischen Stil wieder. „Diels’ Verrat der Republik an Papen“ (S.  479 f), so eine Zwischenüberschrift, versah er mit einer für diesen günstigen Interpretation, wobei er mit den Tatsachen ungezwungen umging. Diels’ Informationen hätten letztlich Schleicher gegolten. In ­diesem habe er den möglichen Retter der Republik gesehen. Nach dem Krieg habe Diels nicht begreifen wollen, dass der erste Chef der Gestapo in der Bundesrepublik unverwendbar gewesen sei. So gelangte Wilde zu dem befremdlichen Urteil: „Er diente zwar bösen Mächten, aber seine ,Sühne‘ [?] wog seine Fehler bei weitem auf.“ Wilde schloss mit zwei Zitaten. In der Todesanzeige habe es geheißen: „Die Härte des Geschicks, ihn aus einer bevorstehenden glücklichen Wendung seines Lebens und aus neuen Plänen und Unternehmungen herauszureißen, hat ihn in den Sterbestunden nicht bitter werden lassen.“ Dies war wohl eine Anspielung auf eine neue Heirat. Sie findet sich nicht in der Zeitungsanzeige, offenbar in einer privaten Todesanzeige. Der Pfarrer zitierte am Grabe aus dem Prolog zu Schillers „Wallenstein“: „Von der Parteien Haß und Gunst verzerrt, schwankt sein Bild in der Geschichte.“ (Alles S. 481) Dies war nicht abwegig, aber auch nicht wirklich zutreffend; die Angehörigen mochte es getröstet haben. Wilde hatte die Erwartung geäußert, Diels’ Charakterbild „dürfte nicht mehr schwanken, wenn einmal die Geschichte der Gestapo geschrieben sein wird“. Diese Erwartung kann als erfüllt angesehen werden, aber doch anders als gemeint. Nachdem, wie in Kapitel 3 geschildert, die Geschichte der Gestapo in großen Werken geschrieben wurde, ist das Persönlichkeitsbild Rudolf Diels’ überwiegend negativ. Fraglich ist, warum Diels, der zunächst der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) angehört hatte, nach dem Krieg nicht wieder zu diesen Ursprüngen und einem demokratischen Staatsverständnis zurückkehrte. Sein Biograph erklärt dies mit seinem „Überläufertum“.86 In der Tat hatte Diels 1932/33 eine doppelte radikale Wendung vollzogen; erst wandte er sich einem autoritären, dann dem NS-Regime zu. Sein Biograph weist auch zu Recht darauf hin, Diels sei wegen seiner politischen Vergangenheit während des „Dritten Reiches“ ständig misstrauisch beobachtet worden und habe deshalb gegenüber Himmler und anderen NS-Größen zahlreiche Unterwerfungsgesten machen müssen. Es ist ein treffendes Bild, wenn er schreibt, diese ­seien so tief gewesen, „dass es ihm später, nach 85 „Politische Studien“, Monatsschrift der Hochschule für Politische Wissenschaften München, 9. Jahrgang 1958, S. 475. Harry Wilde, ursprünglich Harry Schulze, verwandte auch den Namen Schulze-­Wilde. 86 Vgl. Wallbaum, ebd., S. 350 f. Von dort auch das Zitat.

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dem Ende der NS-Herrschaft, nicht mehr möglich schien, sich wieder aufzurichten.“ Überdies habe ein besonders hoher Rechtfertigungsdruck bei ihm mitbewirkt, sich nicht von seiner antidemokratischen Haltung lösen zu können. So blieb Diels, ist hinzuzufügen, bis zuletzt ein Gefangener seines doppelten „Überläufertums“.

5.4 Eggert Reeder: verurteilter Kriegsverbrecher und geachteter Ruhestandsbeamter 5.4.1 Haft in Belgien, Verurteilung in Brüssel, Empfang in Bonn Wie die beiden anderen Regierungspräsidenten hatte Reeder in der Nachkriegszeit ein ganz persönliches eigenes Schicksal. Während zur Bonsen zurückgezogen in Oberbayern lebte, Diels sich in verschiedenen Rollen versuchte, verbrachte Reeder die ersten sechs Jahre nach Kriegsende bis zur Entlassung aus belgischer Haft überwiegend passiv und die folgenden Jahre bis zu seinem Tode 1959 als hoher Funktionär eines Verbandes. Soweit erkennbar, trat er dabei in der Öffentlichkeit selten auf. Reeder hatte nach § 5 Abs. 2 G 131 den Status eines Regierungspräsidenten zur Wiederverwendung (z. Wvw.). Wie in Kapitel 4 geschildert, war Reeder am 18. April 1945 im „Ruhrkessel“ von den Amerikanern gefangen genommen worden. Die Kriegsgefangenschaft dauerte bis 1947. Ein Mitgefangener, Max Rehm, der promovierte und habilitierte Jurist und Historiker, ihm durch das gemeinsame Erleben eng verbunden, schilderte deren Stationen.87 Sie hatten sich im August 1945 im „War Crime Camp“ Romilly sur Seine, südöstlich von Paris, kennengelernt. Es wurde, offenbar nicht viel später, nach Deutschland verlegt. Der Bahntransport dauerte fünf Tage. Rehm schrieb: „Wir wurden in einen Güterzug […] verladen, 30 Mann je Wagen. Vom Lagerkommando als Wagenältester eingesetzt, wies ich dem General einen geschützten Platz in der Ecke des Güterwagens an. Auf dem blanken Fußboden lagen wir Seite an Seite […]“. Ziel der Verlegung war das Lager Neustadt bei Marburg. Reeder und sein Haftgenosse blieben dort acht Wochen zusammen. Das Mitteilungsbedürfnis unter den Gefangenen muss nach allem, was geschehen war, außerordentlich gewesen sein, wobei die Lagersituation und Ungewissheit der Zukunft mitgewirkt haben dürften. „Tagsüber saßen wir im Freien auf der Wiese hinterm Stacheldraht, abends in der Baracke auf Hockern am schmalen Tisch. Unerschöpflich war der Gesprächsstoff.“ Reeder habe dabei „sein Herz“ geöffnet. Immerhin stellten sich die Gefangenen den existenziellen Fragen. Die Gedanken kreisten um den Zusammenbruch des Vaterlandes, um die zehrende Frage, wie es dahin hatte kommen können, um Schuld und Schicksal. Wir schonten uns nicht, versuchten, dem Scheitern, dem Versagen, den Irrtümern, den Mißständen auf den Grund zu kommen. Wir rangen um den Sinn der Heimsuchung. (S. 7)

Diese vieldeutigen Formulierungen lassen einen gewissen kritischen Blick erkennen, ob dies auch Selbstkritik war, ist nicht sicher. Begriffe wie „Schicksal“ und „Heimsuchung“ standen

87 Rehm, Eggert Reeder, S. 7 f. Auch zum Folgenden. Vgl. auch Vorwort des Sohnes.

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für das Walten einer Macht, der man ausgesetzt war und die man nicht beeinflussen konnte. Die Sicht der Ereignisse wie auch der psychische Zustand der Gefangenen waren offenbar ambivalent. Dann konzentrierte sich der Bericht auf Reeder. „Da breitete [er] Lebenseinsichten und Menschenkenntnis rückhaltlos vor uns aus. Unwillkürlich offenbarte er seine Tatnatur […].“ So entstand das Porträt einer dominierenden Persönlichkeit, die sich aber auch selbst ins rechte Licht zu rücken verstand. Er habe zwar über seine eigenen Leistungen „kaum“ gesprochen, „mehr anekdotenhaft“, so von seinem in Kapitel 4 wiedergegebenen tatkräftigen Eingreifen nach einem Tribüneneinsturz. Aber diese Persönlichkeit besaß auch menschliche Züge, so wenn Reeder davon berichtete, „wie er seine Frau gewonnen habe“. Bei der Wertung dieser hoch achtenden Formulierungen ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine 1976 geschriebene Art von Gedächtnisschrift handelt. In den ersten Monaten seiner Gefangenschaft soll Reeder seltsamerweise von der britischen Besatzungsmacht mit einem Gutachten über „das deutsche Berufsbeamtentum im Wandel der Zeiten“ beauftragt worden sein (S. 9 ff). Es sollte „für einen Neuaufbau der deutschen Verwaltung“ in deren Zone dienen. Er sei dafür nach England verbracht worden und habe es dort geschrieben. Das Gutachten sei aber unvollendet geblieben, weil es nicht mehr benötigt worden sei. Denn, so die bemerkenswerte Formulierung, Mitte 1945 habe sich der Gedanke einer „reinen Militärverwaltung“ durchgesetzt, „also ohne Mitwirkung deutscher Kräfte in leitenden Stellungen (im Gegensatz zur seinerzeitigen deutschen Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich!)“. Es gab aber 1945 schon Deutsche in leitenden Stellen der Verwaltung, und der vorgenommene Vergleich war unangebracht. Das Gutachten begann mit den Ursprüngen des Berufsbeamtentums in der preußischen Monarchie. Durch die Republik sei es in seinen Grundfesten erschüttert worden. Die weitere Entwicklung in der Weimarer Zeit wurde umfassend kritisiert; vor allem der höhere Dienst der allgemeinen Verwaltung habe an „Anziehungskraft“ verloren. Bemerkenswert war der wohl ebenfalls kritisch zu verstehende Hinweis, „die bisher ausgeschlossenen Kreise“ hätten Zugang zu ihm erhalten. Sodann schilderte Reeder einseitig und apologetisch die Machtübernahme der Nationalsozia­listen und den hingebungsvollen Dienst der Berufsbeamten am dynamischen neuen Reich. Später aber sei das Berufsbeamtentum noch schlechter als in der Weimarer Zeit behandelt und als hemmende Bürokratie angesehen worden. Eine einheitliche Reichsgewalt habe gefehlt und die zunehmende Macht der Gauleiter habe zu „Kleinstaaterei“ geführt. Rehm ist Recht zu geben, dass das nach Aufzeichnungen im Lager wiedergegebene Gutachten den Verfasser mit seinem autoritären Staats- und rationalen Verwaltungsverständnis widerspiegele. Seine Hoffnungen auf den NS-Staat waren durch dessen Radikalisierung in eine Parteiherrschaft enttäuscht worden. Unerwähnt blieb, dass die Verwaltung an den Verbrechen des Regimes mitgewirkt hatte. Dessen Ende und die totale Niederlage hatten nicht einmal ansatzweise eine Wendung zum Demokraten bewirkt. Spätere Briefe Reeders, inzwischen aus belgischen Gefängnissen, lassen von einem ähnlichen Grundverständnis aus die seiner Meinung nach sehr negative Entwicklung der Verwaltung in Deutschland erkennen (S. 12 f). Er war offenbar durch Zeitungslektüre darüber informiert. Die scharfe Kritik an einem angeblich zunehmenden „Dilettantismus“ ließ die Zeitumstände und die Herausforderungen eines Verwaltungsneubaus außer Acht. Der Eindruck drängt sich auf, die Haft hätte bei ihm eine einseitige Betrachtungsweise gefördert und zugleich zu einem übersteigerten Selbstbewusstsein geführt. Reeder war also 1947 von den Amerikanern den Belgiern überstellt worden und befand sich seitdem an verschiedenen

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Orten, Lüttich und später Brüssel, in Untersuchungshaft.88 An deren Ende sollte ein Strafprozess wegen Kriegsverbrechen stehen. Alldem lag Folgendes zugrunde: Als die Deutschen 1944 vor den alliierten Truppen aus Belgien zurückweichen mussten, begann keine unbeschwerte Friedenszeit. Durch die Ardennen-­ Offensive im Dezember 1944 kam der Krieg noch einmal in einen Teil des Landes zurück. Die Deutschen hinterließen ein stark zerstörtes Belgien ohne inneren Frieden. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Nachkriegszeit wurden dominiert von der notwendigen Bewältigung der Kriegsfolgen und vor allem der Königsfrage. Dabei wirkte sich der fortbestehende, in der Zeit der Besatzung eher noch angefachte Sprachenstreit z­ wischen Flamen und Wallonen aus. Die Entscheidung König Leopolds, nach der Kapitulation der belgischen Streitkräfte 1940 als „Kriegsgefangener“ im Lande zu bleiben, wurde in den Augen vieler seiner Landsleute ad absurdum geführt, nachdem er im Juni 1944 „ins Reich“ verbracht worden war. Am 20. September 1944 beschloss das Parlament, der König solle abdanken, und bestimmte dessen Bruder Karl zum Regenten. Im Juli 1945 beharrte die Regierung auf der Befolgung des Beschlusses zur Abdankung des Königs. Wühlte schon die Königsfrage die nationalen Emotionen stark auf, so tat dies wenigstens in den ersten Nachkriegsjahren in einem ähnlichen Maße die Frage der Bestrafung von Kriegsverbrechern. Dimension und Problematik wurden deutlich in einem Bericht, den der Vorsitzende Richter des belgischen Militärgerichts, Ganshof van der Meersch, im Oktober 1945 für den Justizminister schrieb.89 Er führte dabei die verschiedenen Kategorien der Opfer des Krieges auf. Darunter wurden an erster Stelle die in Lagerhaft Umgekommenen genannt, insgesamt 38.000, davon 28.000 Juden. An zweiter Stelle standen die insbesondere im Lager Breendonk Getöteten und in der Nationalen Erschießungsstätte Hingerichteten, insgesamt 870 Personen. Die folgenden Gruppen bildeten die Bombenopfer sowie die zivilen Opfer und Gefallenen aus dem Jahr 1940. Nach der Befreiung Belgiens von den Deutschen hatte eine politische Säuberung von möglichen Kriegsverbrechern und Kollaborateuren begonnen. Ganshof van der Meersch zielte auf die Mäßigung ­dieses Prozesses, der im Frühjahr 1945 ausgeufert war. Gleichwohl ging er doch noch von über 2000 wegen „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ Hinzurichtenden aus. Zum Zeitpunkt des Berichtes war die weit überwiegende Zahl von Verfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen „aus Mangel an Beweisen“ eingestellt worden; 23.500 warteten noch auf ihren Prozess. Ungeachtet dieser Entwicklung blieb die zweite Intention des Berichtes bestehen, eine hohe Anzahl von Todesurteilen zu rechtfertigen. Sie sollten auch vollstreckt werden können, obwohl in Belgien seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Todesurteile regelmäßig in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt worden waren. Der Bericht war insgesamt „eine Anklage gegen deutsche Aggression und deutsche Verfolgung“, zumal die Beteiligung belgischer Kollaborateure nicht erwähnt wurde. Letztlich waren die Ergebnisse jedoch völlig anders. Zwar wurden fast 3000 Todesurteile verhängt, allein 242 wurden vollstreckt. Nur zwei Deutsche wurden hingerichtet. Nun ermittelte die belgische Militärgerichtsbarkeit auch lediglich in 1 % der Fälle gegen Deutsche wegen Kriegsverbrechen, nämlich etwa 3500. Nicht alle wurden von den Alliierten nach Belgien überstellt, wohl aber von Falkenhausen und Reeder. Letztlich kam es nur zu 37 Militärgerichtsverfahren gegen insgesamt 83 deutsche Staatsbürger.90

88 Vgl. August Klein, Festschrift Köln, S. 114; auch Rehm, ebd., S. 7. 89 Vgl. Lagrou, Eine Frage der moralischen Überlegenheit, S. 326 f. Auch zum Folgenden. 90 Ders., ebd., S. 328.

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Unabhängig von all dem war von Anfang an klar gewesen, dass die strafrechtliche Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen für Belgien ein komplexes Problem darstellen würde.91 Der Versuch einer solchen Aufarbeitung nach dem ­Ersten Weltkrieg war misslungen. Jetzt kam hinzu, dass auch belgische Staatsangehörige an Kriegsverbrechen beteiligt oder wegen Kollaboration des Landesverrats verdächtig waren. Andererseits relativierte sich das Gewicht der in Belgien verübten Kriegsverbrechen im Verhältnis zu denen in Polen von den Deutschen und ihren Helfern begangenen Gräueltaten. „Belgien war zu einem minder schweren Fall auf einer langen Liste gepeinigter Nationen geworden.“ Zugleich beeinflusste der Kalte Krieg auch die strafrechtliche Aufarbeitung der Kriegsjahre. Nicht von ungefähr stellten die USA und Großbritannien 1948 die Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher an die betroffenen Länder ein. Eigentlicher Grund war, dass in den Ostblockländern die kommunistischen Regime die Gerichtsverfahren steuerten. Dabei aber wurde in Kauf genommen, dass der Auslieferungsstopp auch westliche Länder betraf. Das aber kam von Falkenhausen und Reeder nicht mehr zugute. Zur Durchführung der Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Staatsangehörige fehlte es an einer eindeutigen und einheitlichen prozessualen sowie auch an einer überzeugenden materiellen Rechtsgrundlage.92 Ferner musste möglichst eine Gleichbehandlung belgischer und deutscher Angeklagter erreicht werden. Eine von der Regierung bereits 1944 eingesetzte nationale Untersuchungskommission beschaffte neben den bestehenden Untersuchungsorganen in beachtlichem Umfang Beweismaterial und ermittelte Täter. Ein am 20. Juni 1947 endlich erlassenes Gesetz sollte die legislatorischen Probleme lösen. Darin hieß es nachdrücklich, es regele ausschließlich die Zuständigkeit der Gerichte und das Verfahren. Es schuf also kein neues materielles Strafrecht, um nicht gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen. Als „fundamentale Neuerung“ wurde stattdessen „das Prinzip der doppelten Beschuldigung“ eingeführt. Danach sollte ein strafbares Kriegsverbrechen nur dann vorliegen, wenn eine Tat das belgische Strafgesetzbuch und zugleich das Völkerrecht verletzte. Die formellen Regelungen sahen die ausschließliche Zuständigkeit der regulären Militärgerichte, und es galten für die Angeklagten unabhängig von ihrer Nationalität dieselben Verfahrensregeln. Die Position der deutschen Angeklagten wurde dadurch gestärkt, dass sie neben einem belgischen Pflichtverteidiger auch einen deutschen Rechtsanwalt hinzuziehen konnten. Diese Möglichkeit stieß zunächst auf den Widerstand der Amerikaner. Auch war die Kostenfrage zu klären. So verzögerte sich der Beginn der Prozesse, bis die nordrhein-­westfälische Landesregierung im November 1948 sich bereit erklärte, Auslagen und Reisekosten der deutschen Anwälte zu übernehmen. Das Gesetz vom 20. Juni 1947 bürdete der belgischen Militärgerichtsbarkeit eine überaus schwere Last auf. Organisatorisch ausgeweitet und mit aufgestocktem Personal musste sie auf einem zum Teil präzedenzlosen Gebiet arbeiten. Ihre kaum lösbare Aufgabe bestand darin, den Erwartungen der Öffentlichkeit zu entsprechen, den deutschen Verteidigern standzuhalten sowie unter Beachtung internationaler Standards den nur schwer möglichen Beweis zu führen, dass eine Tat zugleich nationales und internationales Recht verletzte. 1948 begannen also die Kriegsverbrecherprozesse nach dem neuen Gesetz. Von den 533 ausgelieferten Deutschen befanden sich im Februar ­dieses Jahres noch 390 in belgischer Haft. Die Zahl sank noch im Verlauf des Jahres auf knapp 200 und dann weiter. Die Gesamtzahl der in sechs Verfahren 1948 Angeklagten betrug 37, überwiegend Deutsche. In den Folgejahren 91 Zur gesamten Problematik vgl. ders., ebd., S. 328 ff, zu den nach dem Zweiten Weltkrieg getroffenen Initiativen insbesondere S. 331 ff. Von dort auch das Zitat. 92 Zum Folgenden ders., ebd., S. 334 ff. Auch zum Folgenden (S. 339 f).

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sank sie deutlich bis auf zwölf im Jahre 1951. Die Diskrepanz z­ wischen der Anzahl der ausgelieferten und der vor Gericht gestellten Deutschen ist auffällig. Die Gründe sind vielfältig, so Personenverwechslungen beim Auslieferungsverfahren oder Restriktionen des belgischen Haftrechts. Jedenfalls wurde zunehmend nur noch Anklage erhoben, wenn eine relativ hohe Strafe zu erwarten war; eine Tendenz zu größerer Milde war erkennbar. Nach all dem dürfte die lange Dauer der rechtlichen Bewältigung von Kriegsverbrechen in Belgien erklärlich sein. Die in jedem Verfahren notwendigen Voruntersuchungen beanspruchten ja ebenfalls erhebliche Zeit. Als von Falkenhausen Anfang 1948 von den Amerikanern ausgeliefert wurde, waren noch keine Vorbereitungen für eine Anklage getroffen worden. In seinen Memoiren berichtete der ehemalige Militärbefehlshaber auch, Anfang 1949 hätten seine Anwälte ihm mitgeteilt, „der Fall werde niedergeschlagen und alle Verdächtigten würden entlassen“.93 Aber dies war höchstwahrscheinlich nur ein zweckgerichtetes Gerücht. Die Untersuchungshaft von Falkenhausens dauerte also fort, ebenso die Reeders. Eine briefliche Äußerung von ihm aus der Haft vom Januar 1949 lässt deren Anspannung erkennen.94 „Seit zwei Jahren bin ich bereits in Einzelhaft und unterhalte mich mit mir selber. Oft aber wird man sich langweilig.“ Unter Weglassung des Namens folgte das berühmte Zitat aus Ciceros Erster Rede gegen Catilina: „Quousque tandem abutere patientia nostra!“ Die belgische J­ustiz mit dem römischen Verschwörer Catilina gleichzusetzen, verriet ein seltsam elitäres Verständnis. Wieder sachlich fuhr Reeder fort: „Die Behandlung hier ist korrekt und einwandfrei. Aber Gefängnis bleibt Gefängnis. Aber ich suche mein mir nun einmal bestimmtes Los mit Gelassenheit zu tragen.“ Tatsächlich sollte der Prozess gegen von Falkenhausen und ihn erst im Spätsommer 1950 beginnen. Unterdessen entwickelte sich die internationale Lage fort, während die nationale von der „Königsfrage“ beherrscht wurde. Sie wurde im März 1950 Gegenstand einer konsultativen, das heißt rechtlich nicht bindenden Volksabstimmung, ob Leopold III. aus dem Exil zurückkehren dürfe oder nicht.95 Das Gesamtergebnis erbrachte eine Mehrheit von 57 % für seine Rückkehr. Fatal war aber die Unterschiedlichkeit der Teilergebnisse. Im Gegensatz zu der deutlichen Mehrheit in Flandern „für“ sprachen sich die Wallonen „gegen“ eine Rückkehr des Königs aus. Dies zeigte einmal mehr die Spaltung des Landes, zu der die deutsche Besatzung einen Teil beigetragen hatte. Der König kehrte jedenfalls Ende April zurück, was zu schweren Unruhen führte. Nun übertrug er am 1. August seine Vollmachten auf seinen Sohn, den späteren König Baudouin (Baudewijn). Nicht zuletzt vor ­diesem Hintergrund war es delikat, dass von der Bundesrepublik versucht wurde, den Prozess gegen von Falkenhausen und damit auch gegen Reeder vorzeitig zu Ende zu bringen. Sie war auf dem Weg, sich einen Platz im westlichen Lager zu sichern. In einem seiner regelmäßigen Gespräche mit den alliierten Hohen Kommissaren am 16. November 1950 sprach der Bundeskanzler die Frage der Kriegsverbrecherprozesse zunächst allgemein an und äußerte den Wunsch, dass alle noch offenen Verfahren „möglichst bald auf irgendeine Weise beendet werden könnten“.96 Dann wurde er konkret, das gelte auch für „den Prozess in Brüssel 93 Ders., ebd., S. 347, mit Bezug auf dessen Memoiren. Dort, S. 278 f, findet sich dies wörtlich aber nicht wieder. 94 Zitiert bei Rehm, ebd., S. 12. Übersetzung des lateinischen Zitats: „Wie lange noch [, Catilina,] wirst du unsere Geduld missbrauchen?“ 95 Hierzu und zum Folgenden vgl. Erbe, Belgien Niederlande Luxemburg, S. 314 f. Ferner Dann, Der belgische Nationalstaat, S. 43 f. 96 Vgl. ­Adenauer und die Hohen Kommissare 1949 – 1951, S. 258 ff (S. 271). Von dort auch die wörtlichen Zitate.

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gegen Falkenhausen. Ich weiß, daß diese ganze Sache der belgischen Regierung äußerst unangenehm ist.“ Adenauer war sich aber offenbar bewusst, dass die Bundesrepublik aus politischen und moralischen Gründen nicht selbst intervenieren konnte. Vorsichtig fuhr er fort: „Vielleicht kann von alliierter Seite etwas geschehen, damit diese Sache zu Ende gebracht wird.“ Auf die rechtlichen Schwierigkeiten wies er sogleich hin. „Mir ist von der belgischen Regierung erklärt worden, die belgische Gesetzgebung lasse es nicht zu, irgendwie in ein schwebendes Verfahren einzugreifen.“ Pragmatisch wie er war, wusste er aber auch hier Rat: Aber von Falkenhausen kann ja krank werden und das Verfahren kann abgebrochen werden. Er kann auf Ehrenwort entlassen werden. Dann wird sich das Weitere dazu finden. Ich würde irgendeinen Ausweg aus dieser Situation, die, wie ich zuverlässig weiß, der belgischen Regierung selber in höchstem Maße unangenehm ist, außerordentlich begrüßen.

Adenauer erwähnte Reeder, der ihm als ehemaliger Kölner Regierungspräsident bekannt sein musste, nicht ausdrücklich. Löste man von Falkenhausen, die weitaus bekanntere Persönlichkeit, aus dem Verfahren heraus, musste das allerdings konsequenterweise auch für Reeder gelten, und das erhöhte die Schwierigkeiten einer pragmatischen Lösung. Adenauers Kalkül war eindeutig. Die Fortsetzung der Kriegsverbrecherprozesse widersprach den Grundsätzen seiner Außenpolitik, weil sie die moralische Wiederherstellung Deutschlands und die Einbindung ins westliche Lager erschwerte. Der innenpolitische Aspekt war, dass er für diese Politik eine klare Mehrheit bei der nächsten Bundestagswahl benötigte. Hatte sein Vorstoß Erfolg, konnte dies ihm Sympathien von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und auch früheren Nationalsozia­listen einbringen. Der Zivilist und Nichtnationalsozia­list Adenauer war auch da von ungerührter Nüchternheit. Eine Intervention der Alliierten unterblieb aber, und der Prozess in Brüssel wurde fortgesetzt. Rechtlich war nichts anderes möglich, und die Alliierten hätten andernfalls die von ihnen noch betriebenen Prozesse zwangsläufig auch abbrechen müssen. In dem am 25. September 1950 begonnenen Brüsseler Kriegsverbrecherprozess waren außer von Falkenhausen und Reeder auch die Generäle Bertram und von Claer angeklagt. Diese waren nacheinander Leiter der Oberfeldkommandantur Lüttich gewesen. Das Gericht und die Militärstaatsanwaltschaft behandelten die Angeklagten höflich, ja, respektvoll; sie hätten sich „zeitweilig deutlich von den hochkarätigen Verteidigern eingeschüchtert“ gezeigt.97 Zu ihnen gehörten der in den folgenden Jahren am Rechtskurs der nordrhein-­westfälischen FDP beteiligte Ernst Achenbach sowie Friedrich Grimm, der seinerzeit Adenauer in dessen Disziplinarverfahren vertreten hatte.98 Wie sich aus Reeders Nachkriegskorrespondenz ergibt, waren beide auch dessen Verteidiger. Nach 61 Sitzungstagen erging am 9. März 1951 das abschließende Urteil. Es wurde in französischer Sprache in einer belgischen Fachzeitschrift abgedruckt.99 Die Anklagepunkte umfassten die Erschießung von Geiseln, gegenüber von Falkenhausen und Reeder die Deportation von Juden (vgl. S. 863 ff) und wiederum gegen alle Angeklagten die zwangsweise Verbringung von Arbeitern ins Reichsgebiet. Das Gericht benannte dann die angehörten Nebenkläger, die Personen der Militärstaatsanwaltschaft und die Pflichtverteidiger, nicht aber die deutschen Verteidiger und die Richter selbst. Bei den Personalien der Angeklagten fällt der falsche Vorname Reeders auf, „Robert“ statt „Eggert“ (vgl. S. 864 ff). Unter 97 Lagrou, ebd., S. 347 f. 98 Van Nuffel, Belgisch Nürnberg, S. 35. 99 Revue de droit pénal et de criminologie Nr. 29, 1950/51, S. 863 ff. Der Abdruck umfasste 30 Seiten.

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„Allgemeine Grundsätze der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen in Anwendung des Gesetzes vom 20. Juni 1947“ betonte das Gericht nochmals das Prinzip der „doppelten Beschuldigung“. Es müsse ermittelt werden, ob die den Angeklagten zur Last gelegten Taten erstens einen Verstoß gegen das belgische Strafrecht darstellten und ob sie zweitens als Verstoß gegen die Kriegsgesetze und Kriegsgebräuche begangen worden ­seien (vgl. S. 867). Bei dem „Straftatvorwurf I – Erschießungen als kriegerische Vergeltungsmaßnahmen“ wurde von Falkenhausen und Reeder die Tötung von 240 Personen zur Bestrafung von Attentaten auf deutsche Militärpersonen sowie Dienststellen und Sabotageakten angelastet (vgl. S. 867 – 879).100 Hiervon unterschied das Gericht bereits ausdrücklich Anschläge gegen belgische Staatsangehörige, Kollaborateure des Feindes und deren Güter. Nach den Direktiven von Falkenhausens ­seien die Erschießungsopfer aus den politischen Gefangenen ausgewählt worden, w ­ elche als mutmaßliche Angehörige des terroristischen Milieus oder Urheber von Attentaten und Sabotageakten der deutschen Militärgerichtsbarkeit übergeben worden waren. Sie mussten mit der Tode­sstrafe rechnen. Diese Erschießungen ­seien als kriegerische Vergeltungsmaßnahmen einzustufen (vgl. S. 867 f). Das Gericht sah als mögliche Verstöße gegen das Belgische Strafgesetz Zuwiderhandlungen gegen Art. 392 f.und 394 (Totschlag und Mord) an. Als mögliche Verstöße gegen die Kriegsgesetze und Kriegsbräuche wurden Zuwiderhandlungen gegen die durch den belgischen Gesetzgeber übernommene Haager Landkriegsordnung angesehen, insofern deren Art. 46 und 50 implizit Geiselerschießungen verböten (vgl. S. 868). Was den von den Angeklagten vorgebrachten Rechtfertigungsgrund angehe, sei zuzugeben, dass die von ihnen genannten Vorschriften und Anweisungen hinsichtlich der Verpflichtung zur Gefangennahme und Erschießung von Geiseln sowie der Anzahl der zu Exekutierenden ihnen keinen Spielraum gelassen hätten, zumindest, wenn es um die Sicherheit der Armee und ihrer Mitglieder gegangen sei. Sie könnten aber diesen Rechtfertigungsgrund nur vorbringen, wenn es sich nicht um einen besonders schweren Verstoß – violation flagrante – gegen Kriegsgesetze und Kriegsbräuche nach Art. 3 des Gesetzes vom 20. Juni 1947 gehandelt habe (vgl. S. 869). Das Gericht nahm dann den Standpunkt ein, die Anerkennung der Notwendigkeit der Gefangennahme und der Tötung von Geiseln als letztes Mittel zu dem oben bezeichneten Zweck ergebe sich aus der Praxis der Armeen. Diese sei als geltende Regel zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wie auch aktuell bewiesen. Innerhalb der strikten Grenzen militärischer Notwendigkeit ­seien die nach den deutschen Vorschriften und der damaligen Praxis vorgenommenen Erschießungen nicht als besonders schwerer Verstoß gegen die Kriegsgesetze und Kriegsbräuche zu klassifizieren. Das Gericht müsse diese von den Angeklagten angeordneten Erschießungen als gerechtfertigt ansehen (S. 870). Als zweiten Komplex behandelte das Gericht die Erschießungen mit dem Ziel, den Erfolg der Besatzungspolitik zu garantieren, also die zur Ahndung und Verhinderung von Anschlägen auf die Kollaborateure, deren Familien und deren Güter. Dies sollte auch die Bewegungen der „Neuen Ordnung“ (VNV, De Vlag und „Rex“) beruhigen (vgl. S. 870). Es beschrieb im Folgenden das Vorgehen des Besatzungsregimes, was einen empfindlichen Punkt der kollektiven Erinnerung in Belgien berührte. Die Besatzungspolitik habe gezielt bewirkt, dass möglichst viele Belgier ihr Vaterland verrieten, vor allem durch Beteiligung an der Umformung von Rechtseinrichtungen und Rechtsorganisationen (vgl. S. 871). Auf die Rolle des Generalsekretärs Romsée wurde dabei besonders eingegangen. Insgesamt sei die konstitutionelle

100 Die Problematik der Geiselerschießungen wird in Kapitel 4.6.6 im Einzelnen behandelt.

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demokratische Ordnung Belgiens ausgehöhlt und de facto durch ein autoritäres und totalitäres (!) Regime ersetzt worden. Die Politik der Aufforderung zum Verrat und dessen Unterstützung hätten einerseits einen Verstoß gegen die von der Verfassung definierte innere Ordnung Belgiens dargestellt, andererseits ­seien sie eine kriminelle Anstiftung zur Unordnung gewesen, da sie die Kollaborateure, deren Familien und Güter bei ihren Mitbürgern in Verruf brachten. Sie hätten einen besonders schweren (flagranten) Verstoß gegen die Kriegsgesetze und Kriegsbräuche im Sinne des Gesetzes vom 20. Juni 1947 dargestellt. Konzipiert und verfolgt worden ­seien sie unter Verletzung von Art. 43 des Anhangs zur Haager Landkriegsordnung. Dieser verlange vom Besatzer, alle ihm möglichen Maßnahmen zur Wiederherstellung und Sicherung der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Lebens zu ergreifen und dabei die geltenden Gesetze des Landes zu befolgen, außer bei Verhinderung durch höhere Gewalt. Die Angeklagten könnten sich nicht auf eine ­solche Verhinderung berufen. An der Einhaltung des genannten Artikels s­ eien sie, wie das Gericht zugespitzt formulierte, durch den von ihnen bekundeten Willen gehindert worden, in Belgien ein politisches Regime nach dem Vorbild des nationalsozia­listischen (!) Deutschland einzuführen. Dies sollte ihrer Vorstellung nach den deutschen Kriegsanstrengungen und Annexionsabsichten nach einem Sieg dienen. Das habe nichts mit höherer Gewalt zu tun. Einer Besatzungsmacht sei es nicht untersagt, räumte das Gericht ein, unter den Staatsangehörigen des besetzten Landes Freiwillige zu werben, aber nur auf deren eigenes Risiko. Deshalb wies es alle Argumente der beiden Angeklagten zugunsten ihrer Schutzmaßnahmen für Kollaborateure zurück. Die Erschießungen nach Anschlägen auf Kollaborateure, deren Familien oder Güter s­ eien ein besonders schwerer (flagranter) Verstoß gegen Kriegsgesetze und Kriegsbräuche (vgl. S. 872). Einen Rechtfertigungsgrund hierfür gebe es nicht; auf diese Fälle hätten sich die feindlichen Vorgaben zu Geiselerschießungen nicht erstreckt. Dabei wies das Gericht Reeder ein Mehr an Verantwortung zu. Die Politik der Unterstützung des Verrats sei vor allem dessen persönliches Werk gewesen. Als Folgen der von ihm getroffenen Unterscheidung fasste das Gericht nochmals zusammen, diejenigen Erschießungen von Geiseln s­ eien gerechtfertigt, die maßgeblich durch Anschläge auf Soldaten oder ihnen gleichgestellte Personen, nicht gerechtfertigt dagegen jene, die maßgeblich durch Anschläge auf Kollaborateure begründet waren. Dank der Zuordnung von ­Falkenhausens könne jedes Attentat nach den Umständen bestimmt werden; dementsprechend ging das Gericht im Folgenden jedem Fall von Repressalien nach (vgl. S. 873 ff). Danach stellte es die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten fest. Von Falkenhausen, der formal die Verantwortung für die Erschießungen übernommen habe, sei der Urheber aller unberechtigten Verstöße gewesen. In Reeder sah es einen Miturheber der unberechtigten Erschießungen in Form einer Beihilfe, denn ohne seine Mitwirkung hätten diese Verbrechen nicht begangen werden können (vgl. S. 877). Das Gericht hob als besondere Tatumstände die den Angeklagten bekannten unmenschlichen Bedingungen hervor, unter denen Geiseln im Lager Breendonk getötet worden ­seien. Es billigte ihnen aber auch mildernde Umstände zu, weil sie die Zahl der Vergeltungsmaßnahmen und der zu Erschießenden zu begrenzen versucht hätten. Den zweiten Straftatvorwurf bezeichnete das Gericht generell mit „Willkürliche Festnahmen und Haft“. Als Tatbestände wurden konkretisiert, die Angeklagten hätten ohne Befehl der verfassungsmäßigen Autoritäten oder außerhalb der vom Gesetz vorgesehenen Fälle beliebige Personen festnehmen oder inhaftieren lassen. Das waren a) Geiseln, die anschließend

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nach „Deutschland“ verbracht wurden, b) die Juden, die nach „Deutschland“ deportiert wurden – dies betraf nur von Falkenhausen und Reeder, c) die Arbeiter, die zum Arbeitseinsatz im „Reich“ dienstverpflichtet wurden (vgl. S. 880 f). Der Straftatvorwurf IIa sei aber erledigt, weil die in ihm enthaltenen Elemente, nämlich Verhaftung (als Geisel), dies in Belgien, und Verbringung nach Deutschland, in keinem der in den Materialien enthaltenen Fälle zusammenträfen (vgl. S. 883 f). Bei dem Straftatvorwurf IIb ging es um den Komplex der Festnahme und Haft von nach „Deutschland“ deportierten Juden (vgl. S. 884 ff). Das Gericht wies zunächst das infame Argument der Verteidigung zurück, dass nach belgischem Recht niemand mit der Bezeichnung „Jude“ belegt werden könne, da es keine Unterscheidung nach Rasse und Religion kenne (was zutraf). Unmissverständlich stellte es klar, dass die Anklage auf willkürliche Festnahme und Haft von 25.437 Menschen laute.101 Diese s­ eien zunächst in Belgien festgehalten worden und dann in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden, insbesondere nach Auschwitz. Dies alles sei geschehen auf Grund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Zugehörigkeit zur „jüdischen Rasse“ in Vollzug der deutschen antisemitischen Gesetzgebung. Zugleich betonte das Gericht aber auch, dass die Klageschrift von Falkenhausen und Reeder nicht die schädlichen Folgen („les suites dommageables“), insbesondere den Tod fast aller, zur Last lege (vgl. S. 884 f). „Schädliche Folgen“ war die Begriffsbildung einer an die sprachlichen Grenzen gestoßenen Justiz. Anders als in der Literatur wiedergegeben stellte nicht erst das Gericht die beiden Angeklagten von ihrer Verantwortlichkeit hierfür frei.102 Denkbar gewesen wäre aber eine Anklage schon, zumindest wegen Beihilfe. Das Gericht sah in der Gefangennahme und Haft unschuldiger Menschen einzig wegen ihrer Rasse oder Religion einen Verstoß gegen die entsprechenden Art. 434 ff des belgischen Strafgesetzes und zugleich einen offenkundig schwerwiegenden Verstoß gegen Kriegsgesetze und Kriegsbräuche. Danach sei es einer Besatzungsmacht verboten, diskriminierende Maßnahmen gegenüber einem Teil der einheimischen Bevölkerung zu ergreifen, und eine ganze Gruppe daraus, nur weil sie unerwünscht sei, ohne individuellen Tatvorwurf systematisch zu verhaften (vgl. S. 885). Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit der beiden Angeklagten traf das Gericht zunächst einschränkende Feststellungen (vgl. S. 885). Dabei ging es von deren Behauptung aus, die Festnahmen und die Haft ­seien von der Polizei durchgeführt worden, über die sie keine Befehlsgewalt gehabt hätten. Es sei auch nicht nachgewiesen, dass die Verhaftungen von den beiden Angeklagten angeordnet worden ­seien. Gelegentlich habe sich aber die von Falkenhausen unterstehende Feldgendarmerie daran beteiligt. Auch bestehe erheblicher Zweifel an der Tragweite der theoretischen Autorität des ersten Angeklagten gegenüber der Sicherheitspolizei. Schließlich s­ eien die Befehle zur Überstellung der Juden nach Deutschland von Berlin aus, namentlich vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) an die deutschen Polizeidienststellen in Belgien erteilt worden, ohne über den Militärbefehlshaber gelaufen zu sein. Dabei kam das Gericht den Angeklagten auf eine wenig überzeugende Weise weit entgegen. Das Gericht stellte dagegen generell auf die antisemitische Politik des „Dritten Reiches“ in Belgien ab, w ­ elche es verlogen, grausam und bestialisch nannte. Die Verordnungen von Oktober 1940 an hätten die Juden mit einem Netz von Einschränkungen und Verpflichtungen bis

101 Die Zahlen der Opfer schwanken, vgl. Kapitel 4.7.2 und 4.7.3. 102 Z. B. Reitlinger, Endlösung, S. 391.

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hin zum Tragen des „Judensterns“ überzogen. Den beiden Angeklagten sei bekannt gewesen, dass in „Deutschland“ (gemeint ist das Ziel der Deportationen) die Juden (weiter) verfolgt würden, wobei angenommen werde, sie hätten nicht von der massenhaften Ermordung in den Vernichtungslagern gewusst. Diese Annahme war allerdings angreifbar, vor allem was Reeder betraf. Die Verordnungen s­ eien als erstes Stadium (der Verfolgung) ins Werk gesetzt worden mit dem Ziel, leichter Verhaftungen vornehmen zu können. Darüber hätten sich beide Angeklagten völlig im Klaren sein müssen (vgl. S. 886). Die Festnahmen und die Haft von Juden ab Mai 1942 s­ eien erst durch die Verordnungen des Militärbefehlshabers ermöglicht worden. Dies entspreche der Definition in Art. 66 des belgischen Strafgesetzbuches dahingehend, dass ohne seine Beteiligung das Verbrechen nicht hätte begangen werden können. Reeder müsse als Miturheber angesehen werden. Seine Mitwirkung an den gesamten antisemitischen Verordnungen sei bewiesen. Zudem habe er sich persönlich in die Verhaftungsaktionen eingeschaltet, indem er eine rechtzeitige Unterrichtung der Militärverwaltung verlangt habe, um die betreffenden Kommandanturen benachrichtigen zu können. Hierzu gehöre auch der Versand von Dienstanweisungen bezüglich dieser Verhaftungen. Insgesamt verkannte das Gericht aber das ganze Ausmaß der Beteiligung der Militärverwaltung an den Vorgängen, so wie in Kapitel 4.7.3 dargestellt. Erschwerend wertete das Gericht die Verhaftungen und die Bewachung in der Kaserne Dossin sowie bei den Zügen durch bewaffnete Polizeikräfte. Diese hätten vor allem bei Fluchtversuchen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht und dabei Juden getötet oder verletzt. Die Bedrohung mit dem Tode sei daher bewiesen. Mildernd hielt das Gericht den Angeklagten zugute, sie hätten Maßnahmen zugunsten einer gewissen Anzahl von Juden oder kleineren Gruppen von ihnen ergriffen, die so endgültig oder vorübergehend den Verhaftungen entgingen. Diese an sich lobenswerten isolierten Einzelhandlungen ­seien aber recht wenige gewesen in Anbetracht der massenhaften Deportationen (vgl. S. 887). Der Straftatvorwurf IIc, die Verpflichtung von belgischen Staatsangehörigen zum Arbeitseinsatz im „Reich“, enthalte, so das Gericht, drei Elemente: 1) dienstverpflichtete Arbeiter, 2) die nach Deutschland zur Arbeit deportiert wurden, 3) Bedrohung mit dem Tode bei Festnahme und Haft (vgl. S. 888 ff). Es habe sich um mehrere Zehntausend gehandelt. Festnahme und Haft von Zwangsarbeitern stellten einen strafbaren Eingriff in die individuelle Freiheit dar, insbesondere gemäß Art. 434 (illegale Festnahme und Haft) des belgischen Strafgesetz­ buches. Unerheblich sei das Argument der Angeklagten, es habe sich nicht um Haft im Rechtssinne gehandelt, weil die Arbeiter sich in Deutschland in einem größeren Umkreis frei hätten bewegen können. Denn die Opfer ­seien in Belgien festgenommen, in Haft gehalten und in bewachten Konvois, die sie nicht hätten verlassen dürfen, nach Deutschland verbracht worden (vgl. S. 888). Es liege auch ein (besonders schwerer) Verstoß gegen Kriegsgesetze (Anhang zur HLKO ) vor, da die Angeklagten belgische Staatsangehörige gezwungen hätten, sich an Kriegshandlungen gegen das eigene Land zu beteiligen. Diese hätten nämlich in Fabriken arbeiten müssen, w ­ elche alle Arten von Kriegsmaterial für den deutschen Bedarf herstellten. Die Angeklagten führten vergebens an, Deutschland habe keine Kriegshandlungen gegen das Vaterland der Opfer fortgeführt. Denn, so das Gericht, 1940 sei eine Kapitulation erfolgt, aber kein Waffenstillstand geschlossen worden. Der erste Angeklagte sei strafrechtlich verantwortlich, weil die Verordnung vom 6. Oktober 1942 zur Zwangsarbeit von belgischen Arbeitern in Deutschland und damit auch die Grundlage von Verhaftungen und Gefangenhaltungen von ihm ausgegangen sei. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des zweiten Angeklagten hieß es weiter, dieser sei Miturheber der Taten. Es

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war aber ein Irrtum, dass dieser die Verordnung im Auftrag von Falkenhausens unterschrieben habe. Denn die Unterschriftsformel lautete wie üblich „Der Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich“ ohne den andernfalls notwendigen Zusatz „Der Militärverwaltungschef “.103 An dessen Verantwortlichkeit ändert dies nichts, da die Verordnung wie üblich im Militärverwaltungsstab vorbereitet worden war (vgl. S. 889). Als erschwerenden Umstand wertete das Gericht abermals die Beteiligung Bewaffneter und die Todesdrohung. Zugunsten der Angeklagten führte es ins Feld, sie hätten sich niemals für die Politik Berlins ausgesprochen, die auf die Deportation von belgischen Arbeitern gegen deren Willen abzielte. So sei erwiesen, dass sie mit Erlass der Verordnung vom 6. Oktober höheren Befehlen gehorchten. Dies stelle zwar keinen Rechtfertigungsgrund dar, so das Gericht, müsste aber mildernd berücksichtigt werden, wie der geringe Eifer, mit dem sie sich an der Jagd nach Widerständigen beteiligt hätten (vgl. S. 890). Das Gericht billigte den beiden Angeklagten außer den bereits benannten besonderen auch allgemeine Milderungsgründe zu (vgl. S. 890 f). Von Falkenhausen habe gegenüber der Nazi-­Partei und deren Ideologie eine negative Einstellung gezeigt. Das habe zu seiner Verhaftung (nach dem 20. Juli geführt). Weiter habe er eine wohlwollende Haltung in zahlreichen Einzelfällen aus allen sozia­len Schichten eingenommen. Reeders Wohlwollen sei jedoch weniger erheblich gewesen. Darüber hinaus ergäben sich für beide Angeklagten allgemeine Milderungsgründe aus dem absolut zwingenden Charakter der Befehle einer Regierung, ­welche systematisch Menschen, Kriegsgesetzen und Kriegsbräuchen den elementaren Respekt versagte. Selbst wenn man behaupte, sie hätten sich weigern müssen, einem solchen Regime zu dienen, so sei doch die legitime Liebe zu ihrem Vaterland zu berücksichtigen (!), die sie darüber gestellt hätten. Schließlich hätten sie einen ungewöhnlichen Mut unter Beweis stellen müssen, um sich den Befehlen offen zu verweigern. Immerhin hätten sie mehr als einmal die praktische Tragweite dieser Befehle herabgemindert. Patriotismus ist aber eine fragwürdige Legitimierung eines weiteren Dienstes für ein verbrecherisches Regime, wie in Kapitel 4 schon erörtert. Zusammenfassend führte das Gericht an, wessen es die ersten beiden Angeklagten für schuldig befand. Wie dargestellt waren das unter Straftatvorwurf I die nach Kriegsrecht unzulässigen Geiselerschießungen, unter Straftatvorwurf IIb und IIc die Miturheberschaft an der Deportation der Juden und an der zwangsweisen Verbringung belgischer Staatsbürger zum Arbeitseinsatz ins Reich. Wegen der nach Kriegsrecht zulässigen Geiselerschießungen wurden sie freigesprochen. Das Gericht verhängte eine Strafe von jeweils zwölf Jahren Zwangsarbeit (vgl. S. 892). Der Generalauditor hatte zwanzig Jahre gefordert. Der Angeklagte ­Bertram wurde wegen Geiselerschießungen zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, von Claer freigesprochen (vgl. S. 893). Das Urteil fand in Belgien und in der Bundesrepublik ein unterschiedliches Echo. Das war auch nicht verwunderlich, wenn man sich dessen Begründung vergegenwärtigt. Die Taten der Angeklagten wurden mit großer Strenge gesehen und einzelne Aspekte geradezu mit Schärfe herausgestellt. Neben den Umständen der Deportationen von Juden und der Zwangsverpflichtung belgischer Arbeiter zählte dazu auch die Aushöhlung der verfassungsmäßigen Ordnung Belgiens durch die Besatzungsmacht mit Hilfe der Kollaborateure. Das war eine betonte Sicht der Nachkriegszeit. Auf die Anfangszeit der Besatzung, die Phase der

103 VO vom 6. Oktober 1942, vgl. VOBlB, S. 1060, andererseits ebd., S. 1034.

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Akkommodation, ging das Gericht nicht ein. Andererseits offenbarte es bei Darlegung von Milderungsgründen in hohem Maße Verständnis für die Angeklagten. Dabei spielte sicherlich auch die zeitliche Distanz und die Änderung der Weltlage durch den Kalten Krieg eine Rolle. Die verhängten Strafen waren durchaus milde, vor allem in Anbetracht der Judendeportation. Auch wer die Entscheidung nicht als ausgewogen ansehen mochte, musste ihr doch eine diffe­renzierte Argumentation attestieren. Auch wenn das Urteil kein „abgekartetes Spiel [sic!]“ gewesen sein mochte, sei „der Begründung klar der Charakter eines Kompromisses anzumerken gewesen, mit dem beide Seiten leben konnten.“104 Das fiel ihnen aber schwer. In Deutschland sei es, so hieß es weiter, als „ungerecht und hart“ empfunden worden, jedoch habe es ein großer Teil der belgischen Bevölkerung als „unverständlich milde kritisiert“. Festgemacht wurde dies vor allem an der Bewertung der Geiselfrage und der Zwangsarbeit im „Reich“. Für die unterschiedliche Bewertung der Geiselerschießungen gab es aber rechtliche Gründe. Sie wegen Anschlägen auf Wehrmachtsangehörige nicht als besonders schwere Verletzung von Kriegsbräuchen anzusehen, ging auf die Entscheidung eines amerikanischen Militärgerichts zurück. Dieses hatte in einem der Nürnberger „Nachfolgeprozesse“ ­solche Repressalien für prinzipiell mit dem Völkerrecht vereinbar erklärt.105 Eine sehr kritische Position zu dem Prozess insgesamt bezog ein flämischer Historiker, der ihn offensichtlich als vorwiegend politisch motiviert ansah.106 „Enkele weerstandskringen en enkele vaderlandse verenigingen“ (einzelne Widerstandskreise und einzelne patriotische Vereinigungen) hätten Druck ausgeübt, und deshalb habe man gemeint, ein Verfahren müsse stattfinden. Er stellte dann auch die suggestive Frage, ob diese Männer Kriegsverbrecher gewesen ­seien oder nur ihrem Vaterland gedient hätten. Das aber war eine fragwürdige Alternative. In seiner Urteilsbegründung hatte das Gericht ja gerade deutlich gemacht, dass beides sich nicht ausschloss, indem es „die legitime Liebe zu ihrem Vaterland“ als Strafmilderungsgrund berücksichtigte. Aber angeblich neigten „viele“ der Auffassung zu, die Angeklagten hätten nur ihrem Vaterland gedient, nachdem das Gericht die Hinrichtung von Geiseln unter Einhaltung bestimmter Regeln als mit dem Kriegsrecht vereinbar angesehen hatte. Es ist aber schwer nachvollziehbar, dass allein darauf eine günstige Meinung über die Angeklagten in Belgien gegründet haben soll. Dem flämischen Historiker ist scharf widersprochen worden. Sein „Beitrag“ sei „eine hoch tendenziöse Präsentation scheinbar ehrenhafter Deutscher, die das belgische Rechtssystem falsch beurteilt habe.“107 Dahinter verberge sich auch „der Ansatz, das Vorgehen belgischer Gerichte gegen flämische Kollaborateure zu diskreditieren.“ Beide Hauptangeklagte reagierten negativ auf den Schuldspruch. Verbittert verabschiedete sich von Falkenhausen wenig später beim Überschreiten der belgisch-­deutschen Grenze „mit den Worten: ,Ingrata Belgia, non possidebis ossa mea!‘“ – „Undankbares Belgien, du sollst meine Gebeine nicht besitzen!“ Dies soll er in Anlehnung an den römischen Staatsmann Scipio gesagt haben.108 Scipio d. Ä. war im zweiten Jahrhundert v. Chr. in die Verbannung geschickt worden und habe deshalb sein Vaterland (patria) als undankbar bezeichnet. Die Äußerung von Falkenhausens verriet Exzentrik und Bildung, weniger jedoch Wirklichkeitssinn. Er hatte von Anfang an die Untersuchung gegen sich als politisch motiviert aufgefasst und sich von der belgischen 104 Lagrou, ebd., S. 348. 105 Ders., ebd., a. a. O. und S. 338. 106 Vgl. van Nuffel, ebd., S. 34 f. Auch zum Folgenden. 107 Lagrou, ebd., S. 348, FN 31. 108 Weber, Innere Sicherheit, S. 166.

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Justiz missverstanden gefühlt.109 Dass er trotz aller „Mäßigung“ dennoch ­Kriegsverbrechen begangen hatte, konnte er nicht einsehen. Selbst in einer neueren Darstellung wird Belgien als „undankbar“ gegenüber seinem „fairen Gouverneur“ bezeichnet.110 Reeder äußerte sich ebenfalls verbittert über den Prozess, er sei eine Farce gewesen. Das Verfahren sei nur unter dem Druck der öffentlichen Meinung und ohne eine ernsthafte Voruntersuchung zustande gekommen. An seinen früheren Mitarbeiter Thedieck schrieb er 1950 aus dem Gefängnis, man sei die vielen Presseartikel über den Militärbefehlshaber satt, gegen den es immer noch keinen Prozess gegeben habe.111 Einige Jahre später, am 14. Februar 1956, ging er noch ausführlicher in einem Brief an Thedieck auf den politischen Charakter des Verfahrens ein.112 Eigentlich hätten bereits 1949 von Falkenhausen und er freigelassen werden sollen. Aber die sozia­listische Partei habe die Anschuldigung erhoben, dieser Beschluss sei auf Veranlassung von Leopold III. ins Auge gefasst worden. Daraufhin hätten Regierung und katholische Partei doch auf ein Verfahren gedrungen. Die Entscheidung, einen solchen Kriegsverbrecherprozess durchzuführen, hat unvermeidlich ein politisches Element. Kritik daran ging an der Sache vorbei. Die Höhe der Strafe war im Urteil „typisch belgisch“ so bemessen worden, dass es für die Angeklagten möglich war, von der „Loi Lejeune“ zu profitieren. Nach ­diesem Gesetz vom Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Zeit der Untersuchungshaft, und zwar verdoppelt, auf die spätere Haftstrafe angerechnet und zudem ein Drittel dieser Strafe erlassen werden.113 Für die Verurteilten ermöglichte dies eine baldige Freilassung. Bis zur Anwendung des Gesetzes waren aber noch Hindernisse zu beseitigen. Reeder beschrieb dies in dem erwähnten Brief aus dem Jahr 1956 folgendermaßen: Der belgische Gesandte in Bonn habe dem Bundeskanzler in einem persönlichen Gespräch erklärt, seine Regierung sei unter zwei Bedingungen bereit, die beiden Verurteilten sofort zu entlassen, wenn erstens diese auf eine Berufung verzichteten und zweitens die deutsche Presse ihre Kritik gegen das Urteil einschränkte. Darauf habe der damalige deutsche Generalkonsul im Auftrag des Bundeskanzlers von Falkenhausen und ihn im Gefängnis aufgesucht und sie dazu bewegen wollen, auf eine Berufung zu verzichten. Das an und für sich gute deutsch-­belgische Verhältnis sei durch den Prozess erheblich gestört worden. Der Generalkonsul hielt auch eine Lockspeise bereit: Damit sie auch nach außen als rehabilitiert gälten, werde der Bundeskanzler sie nach ihrer Rückkehr empfangen.114 Ob A ­ denauer die Angeklagten wirklich für unschuldig hielt, kann offenbleiben, denn es ging ihm hier um sein zentrales politisches Ziel, die Westintegration der jungen Bundesrepublik. Dafür war ihm kein „vergangenheitspolitischer Preis, den seine rechtsnationalen Koalitionspartner und die Wehrmachtsoffiziere forderten, zu hoch.“115 Es war nun also wieder eine Stunde Konrad Adenauers gekommen. In seinen „Teegesprächen“, Hintergrundgesprächen, die er damals mit ausgewählten Journalisten zu führen pflegte, teilte er am 15. März 1951 den Stand seiner Bemühungen mit.116 Er begann mit dem Hinweis, das Urteil

109 Von Falkenhausen, ebd., S. 277 und S. 288. 110 Schreiber, Stille Rebellen, S. 292. 111 Brief vom 6. April 1950, BA-Koblenz, Archiv Thedieck, N 1174/54. 112 BA-MA, Archiv von Falkenhausen, N 246/106. Das Folgende S. 8 des Briefes. 113 Vgl. van Nuffel, ebd., S. 36, auch Lagrou, ebd., S. 340. 114 Vgl. S. 7 des Briefes an Thedieck. 115 Frei, Vergangenheitspolitik, S. 402. 116 Adenauer, Teegespräche, S. 54 f, von dort die wörtlichen Zitate.

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werde am kommenden Montag (19. März) rechtskräftig, wenn die Angeklagten keine Revision einlegten. „General Falkenhausen und Reeder haben den Bundeskanzler gebeten, zu entscheiden, ob sie Berufung einlegen sollen.“ Der Bundeskanzler habe ihnen geraten, das nicht zu tun, weil sie damit nach der belgischen Gesetzgebung das Recht auf eine sofortige Entlassung verwirken würden. Falkenhausen und Reeder hätten den Rat angenommen und keine Berufung eingelegt. Den dritten Verurteilten, General Bertram, habe der Bundeskanzler dringend bitten lassen, keine Revision einzulegen. Dann lancierte der Kanzler eine Mahnung an die deutsche Öffentlichkeit und Presse. Sie dürften die am Montag zu erwartende Entlassung der „Brüsseler Verurteilten“ nicht dazu benutzen, nochmals Vorwürfe gegen Belgien zu erheben. Unter „allen westeuropä­ ischen Völkern“ nehme es die „gegenüber Deutschland positivste Stellung“ ein. Die belgische Regierung habe darüber hinaus wegen des Urteils große Schwierigkeiten. Es wäre daher falsch, sie durch „deutsche Presseübertreibungen gegenüber ihrer inneren Opposition zu schwächen.“ Doch dauerte es noch ein paar Tage länger bis von Falkenhausen und Reeder in Anwendung der „Loi Lejeune“ endgültig freikamen. Am 28. März wurden sie an die belgisch-­deutsche Grenze an den Übergang Bildchen gebracht und dort in die Bundesrepublik freigelassen. Dort fiel dann auch der oben zitierte Ausspruch des Generals. Die Bundesregierung hatte einen Beauftragten „zur Begrüßung der heimkehrenden [sic!] Generale und Reeders“ entsandt, was im Ausland Aufsehen erregte.117 Am Grenzübergang beginnt auch das Stadtgebiet Aachen. Reeder betrat also zuerst den Boden der Stadt, wo er drei Jahre als Regierungspräsident gewirkt hatte. Der versprochene Empfang beim Bundeskanzler ließ ebenfalls noch auf sich warten. Möglicherweise lassen sich aus einem Brief Adenauers vom 5. April 1951 an den damaligen Kölner Regierungspräsidenten Dr. Warsch Gründe dafür erschließen. Darin schrieb der Kanzler: In der Presse werden Sie gelesen haben, daß ich mich von Herrn von Falkenhausen distanziert habe. Mit Herrn Reeder habe ich nichts zu tun [sic!]; wenn Sie mir aber, da man wahrscheinlich eines Tages an mich herankommen wird, Material über seine Tätigkeit im Dritten Reich geben 118 können, wäre ich ihnen dafür sehr dankbar.

Hier zeigte sich wieder Adenauers Umsicht. Von Falkenhausen hatte die Belgier düpiert, indem er, kaum entlassen, Paul Henri Spaak und andere belgische Politiker öffentlich der Kollaboration bezichtigte.119 Auch zu Reeder wahrte der Kanzler vorsichtige Distanz. Das Ergebnis der Anfrage ist allerdings nicht bekannt. Jedenfalls fand der Empfang für die beiden Generäle und Reeder statt, aber erst am 9. Juli 1951.120 Der Termin wurde wohl bewusst so spät gewählt. Die Aufregung um die Rückkehr der drei Verurteilten sollte sich wohl erst legen. Der Kanzler dankte Reeder und den beiden Generälen „für ihre Haltung während des Prozesses“. Weiteren Dank stattete er ihnen ab, weil sie „im Interesse einer Bereinigung des deutsch-­belgischen Verhältnisses auf jede Berufung gegen das Urteil“ verzichtet hatten. Reeders beamtenrechtlicher Status war zu d ­ iesem Zeitpunkt noch in der Schwebe. Am 30. April, einen Monat nach seiner Entlassung in die Bundesrepublik, hatte er „unter Beifügung des Entlastungszeugnisses des deutschen Entnazifizierungsausschusses […] unter Bezug auf § 3 der E ­ rsten Sparverordnung meine Wiederverwendung“ erbeten; „oder[,] soweit gegen 117 August Klein, Köln Festschrift, S. 115. Dort auch die folgenden Zitate. 118 Adenauer, Briefe, S. 40. 119 Vgl. Frei, ebd., S. 76 f. 120 Zu dem Empfang im Einzelnen vgl. August Klein, ebd., a. a. O.

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diese Hindernisse bestehen, meine Inruhestandversetzung“.121 Reeders Entnazifizierung war also im Vergleich zu der von Diels ungewöhnlich rasch verlaufen. Der Entnazifizierungshauptausschuss hatte am 26. April 1951 Reeder in die Kategorie 5 (entlastet) eingestuft und dies damit begründet, die „Titel“ eines Gauhauptstellenleiters und eines SS-Gruppenführers ­seien „ehrenhalber“ verliehen worden. Der Betroffene habe „sehr eindeutiges und umfangreiches Entlastungsmaterial beigebracht[,] aus dem hervorgeht, dass er anerkannten Widerstandskämpfern [sic!], die heute führend im öffentlichen Leben tätig sind, unterstützt und in Schutz genommen“ habe. Reeder gelte als Spätheimkehrer; die „Heimkehreramnestie“ sei „vollinhaltlich“ angewandt worden.122 Implizit wurde so auf § 1 Abs. 2 der Verordnung zum Abschluß der Entnazifizierung im Lande Nordrhein-­Westfalen verwiesen.123 Danach s­ eien aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrende Personen in Kategorie V einzustufen, „falls nicht ganz erhebliche Belastungen die Auferlegung von Beschäftigungsbeschränkungen erfordern.“ Die Behandlung von Reeders Antrag zog sich in die Länge. Von seinem neuen Wohnsitz Wuppertal-­Elberfeld aus, dem Heimatort seiner Frau, schrieb er von Falkenhausen, er werde „nach Düsseldorf fahren, um dann Druck hinter meine Pensionsregelung zu setzen, denn auch ich habe seit meiner Gefangennahme keinerlei Gehalt, Pension o. ä. erhalten.“124 Eine Wieder­verwendung nach der ­Ersten Sparverordnung vom 19. März 1949 hatte sich entweder als ­rechtlich nicht möglich oder jedenfalls als nicht gewollt herausgestellt. So versetzte der Innenminister, wie es in der Urkunde hieß, den „ehemaligen Regierungspräsidenten Eggert Reeder in den Ruhestand“. Gemäß dem Begleitschreiben vom 30. Juli erfolgte dies mit dem 1. November 1951.125 Er erhielt die vollen Versorgungsbezüge eines Regierungspräsidenten. Dienstbezüge für die Zeit der Kriegsgefangenschaft und die Zeit ­zwischen Entlassung und Ruhestand wurden (nach-)gezahlt. So konnte Reeder an von Falkenhausen melden, dank „Achenbachs sehr geschickter Hand“ sei „mein Entnazifizierungsverfahren erfolgreich [sic!] beendet und mein Pensionierungsantrag ebenfalls ordnungsgemäß erledigt.“ (Brief vom 18. Mai 1951.)

5.4.2 Die Ruhestandsjahre: aktives Leben außerhalb der Verwaltung, Verteidigung Für das Folgende über Reeders letzten Lebensabschnitt ist außer der erwähnten biographischen Skizze eines Mithäftlings aus der Kriegsgefangenschaft (auto-)biographisches Material vorhanden. Hierbei handelt es sich um seine umfangreiche briefliche Korrespondenz. Über sie ist 2013 in einer belgischen historischen Zeitschrift die Abhandlung von Svenja Weers und Marnix Beyen „Een anti-­politieke ‚Homo politicus‘ – De naaorloogse [Nachkriegs-] correspondentie van Militärverwaltungschef Eggert Reeder (1948 – 1959)“ erschienen.126 Sie ist unverzichtbar, um die Korrespondenz ganz zu erschließen.

121 LA NRW, Personalakte Reeder, NW-Pe Nr. 7292. 122 Entnazifizierungsakte LA NRW NW 1000 Nr. 22274. 123 Vom 24. August 1949, GV.NW., S. 253. 124 Brief vom 22. Juli 1951, BA-MA Archiv von Falkenhausen, N 246/106. Diese Briefe werden im Folgenden unter dem Datum in runden Klammern zitiert. 125 Ruhestandsschreiben und Versorgungsregelung ebenfalls in LA NRW, Personalakte Reeder, NW-Pe Nr. 7292. 126 Bezüge auf diesen Aufsatz werden mit Seitenzahlen in eckigen Klammern markiert.

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Nach dem Prozess in Brüssel waren die letzten Lebensjahre Reeders verschattet von der Frage nach einer beruflichen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Kollegen aus der Militärverwaltung konnte er nicht seine eigentliche Ambition realisieren, eine erfolgreiche Karriere fortzusetzen; Grund genug, um frustriert zu sein [vgl. S. 48]. Sein Mitgefangener sieht die Verantwortlichkeit hierfür auf der staatlichen Seite. „Reeder erhielt nach der Heimkehr […] kein Staatsamt mehr – weder in der Bundes- noch in der Landesverwaltung wußte man seine Kraft einzusetzen.“ Aber er habe sich nicht aufgedrängt.127 Aus heutiger Sicht erstaunt diese Feststellung. Einen Regierungspräsidenten der NS -Zeit, noch dazu in Belgien als Kriegsverbrecher verurteilt, in den aktiven Dienst des Landes Nordrhein-­Westfalen zu übernehmen, war schwer vorstellbar. Gleichwohl fühlte Reeder sich unverstanden und benachteiligt. Seine ausführliche Korres­pondenz mit zwei früheren Angehörigen der Militärverwaltung war ein Mittel, sich ­dieses Gefühl von der Seele zu schreiben [vgl. S. 48]. Die meisten der Briefe sind an von Falkenhausen gerichtet, der durchweg mit „Hochverehrter Herr General“ angeredet wird. Dies war Z ­­ eichen einer Wiederannäherung, nachdem es während ihrer Gefangenschaft in Belgien Spannungen gegeben hatte. Von Falkenhausen hatte versucht, ihm die Verantwortung für die Geiselerschießungen in die Schuhe zu schieben, was er aber später widerrief [vgl. S. 57]. Noch am Tage der Verurteilung hatte Reeder gehöhnt, durch Dazutun des Militärbefehlshabers sei er vier Jahre von Frau und Kindern getrennt gewesen. Es gibt Anzeichen, dass ihre Anwälte die Kluft verursacht hatten [vgl. S. 61]. Einen kleineren, doch inhaltlich gewichtigen Teil der Korrespondenz wechselte er mit dem ehemaligen Oberkriegsverwaltungsrat Franz Thedieck, der inzwischen zum Staatssekretär im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen aufgestiegen war. Als weitere Briefpartner sind noch sein Anwalt Achenbach und sein Freund, der Bundestagsabgeordnete Dresbach, zu erwähnen. Der 57-jährige Reeder war nicht der Mann, sich einem beschaulichen Leben als Ruheständler hinzugeben. „Reeders Arbeitskraft war […] noch nicht erlahmt.“128 Er suchte, wenn auch durch Gesundheitsprobleme verzögert, eine neue Beschäftigung. Am Jahresende 1951 ergaben sich Überbrückungstätigkeiten, Mitwirkung bei der Gründung einer Freiherr-­vom-­Stein-­Stiftung und Mitarbeit im Verwaltungsausschuss der FDP. „Ich folge der Aufforderung, obwohl ich kein Mitglied bin“, schrieb er am 20. Dezember von Falkenhausen. Im Jahr darauf hatte dann die Suche nach einer dauerhaften Beschäftigung Erfolg. Er wurde Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-­Westfalen des Bundes der Steuerzahler e. V. (BdSt), eines auch heute sehr aktiven Interessenverbandes. Dieser wurde mit Genehmigung der amerikanischen Militärregierung 1949 von dem Finanzwissenschaftler Karl Bräuer und einem Berliner Steuerberater in Stuttgart gegründet, zunächst als Landesverband für das damalige Württemberg-­Baden. Es folgten weitere Landesverbände und als Dachverband das Präsidium. In seiner Satzung bezeichnet sich der BdSt als überparteilich, unabhängig und gemeinnützig. Die Mitgliedschaft (2003: 420.000) besteht nach eigenen Angaben etwa zu zwei Dritteln aus Unternehmen des gewerblichen Mittelstandes, sonst aus Privatpersonen. Der vom Namen erweckte Eindruck, Vertretung aller Steuerzahler zu sein, ist nicht zutreffend. Er tritt wie Reeder unbeirrt für einen sparsamen Staat ein und steht tendenziell für eine liberale Wirtschaftspolitik. Die ehrenamtliche Tätigkeit an der Spitze eines regionalen Verbandes war offenbar für Reeder eine unter den gegebenen Umständen befriedigende Arbeit. Jedenfalls machte er 1956

127 Rehm, ebd., S. 14. 128 August Klein, ebd., S. 115.

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keinen Gebrauch von einer Möglichkeit, in den Verwaltungsdienst zurückzukehren. So hatte er durch Vermittlung seines Freundes Dresbach das Angebot bekommen, in das Bundesverteidigungsministerium einzutreten, das nach der Gründung der Bundeswehr errichtet wurde. Am 18. Mai schrieb er von Falkenhausen, er habe es nicht angenommen. Wie er Dresbach und dem Staatssekretär mitgeteilt habe, verbiete schon sein „Alter eine Verwendung in einem Ministerium. […] Ich bin auch inzwischen zu selbstständig geworden, um mich in eine neue Beamtenhierarchie einzugliedern.“ Weers/Beyen bezeichnen diese Argumente als Vorwand [vgl. S. 54]. Für das „Alter“ dürfte dies zutreffen. Das andere war plausibel. Seit 1932 hatte ­Reeder immer an der Spitze von Behörden gestanden. Als Landesvorsitzender des BdSt besaß er auch ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Schließlich mag noch eine Rolle gespielt haben, dass ihm kurz zuvor eine Mitarbeit im Präsidium des BdSt angetragen worden war. Er sollte stellvertretender Vorsitzender, eventuell Nachfolger des erkrankten Präsidenten Bräuer werden. Dazu schrieb er am 21. Februar 1956 an von Falkenhausen: „Die Annahme seiner [Breuers] Nachfolgeschaft kann für mich nicht infrage kommen.“ Etwas wehleidig fuhr er fort: Ob ich als Lückenbüsser, was ich so oft war, […] die Stellvertretung übernehme, muss ich mir noch sehr überlegen, denn der Bund kann nur von einem [faktisch] geführt werden, der nicht wegen seiner politischen oder beamtlichen Vergangenheit jederzeit unter Beschuss mit allem möglichen Dreck [!] genommen werden kann.

Stellvertreter wurde er aber dann doch. Ein Jahr später erhielt er die Anfrage aus dem Bundesinnenministerium, Mitglied in einem Sachverständigenausschuss für Verwaltungsreform zu werden. Entgegen dem Rat Dresbachs habe er „zunächst nein gesagt“, wie er am 29. März von Falkenhausen mitteilte. Als Grund gab er persönliche Unverträglichkeit mit anderen Mitgliedern an, insbesondere mit dem Staats­ sekretär des Bundesarbeitsministeriums Busch. Diesen habe er als Oberfeldkommandanten von Lüttich ständig gedeckt, sei aber von ihm „enttäuscht“. Es blieb wohl beim Nein. Weers/ Beyen bieten für Reeders Verhalten eine einleuchtende Erklärung [S. 54]. Wenn er die Chance, sich in das deutsche politische und administrative System wieder einzugliedern, nicht aufgegriffen habe, suggeriere dies, dass er seine Position als Militärverwaltungschef nicht aus seiner Autobiographie habe wegwischen wollen, als sei es ein schlecht abgelaufener Karriere­abschnitt gewesen. Er scheine im Gegenteil seine Umgebung immer wieder eindringlich mit dieser Periode konfrontieren zu wollen und mit den Idealen, die ihn damals als Chef der Militärverwaltung beseelt hätten. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass Reeder bereits Mitte der Fünfzigerjahre überhaupt für die genannten Positionen in Betracht gezogen wurde. Die erwähnte Meinung seines Mitgefangenen, man habe seine Kraft in der Verwaltung nicht einzusetzen gewusst, ist also unzutreffend. Reeder hatte noch ein weiteres Betätigungsfeld. „[…] er bestieg eine Kanzel [!], von der aus er seine aufgestaute Kritik und aufbauenden Reformvorschläge weithin hörbar verkünden […] konnte.“129 Gemeint waren zwei von ihm verfasste Denkschriften, deren erste aus dem Jahr 1954 die Überschrift trug: „Sparen im öffentlichen Dienst tut Not.“ Reeder aktualisierte darin seine bekannten Sparsamkeitsgrundsätze, forderte Stärkung des Bundes, Aufgabenvereinfachung und

129 Rehm, ebd., S. 14 ff, auch zum Folgenden.

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Aufgabenverlagerung. Die traditionelle Organisation der Verwaltung sollte wiederhergestellt werden. Diese ehrenwerte Denkschrift hatte damals schon wenig Aussicht auf Realisierung. Die zweite vom Mai 1955, erstellt im Auftrage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, verstärkte den Ruf nach Verwaltungsreform und beschwor Sparsamkeit, Selbstbescheidung des Staates, Verantwortlichkeit des Staatsbürgers, die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes und die besondere Rolle eines Behördenleiters.130 Auch diese Denkschrift war sehr traditionalistisch, ihre Grundtendenz entsprach den Vorstellungen ihres Auftraggebers wie auch des Bundes der Steuerzahler. Zukunftsweisend war dies alles nicht. Die Tätigkeit im BdSt, die ihm „mehr Arbeit und Feinde als wünschenswert“ einbrachte (Brief vom 26. Oktober 1957), hatte für Reeder bis zuletzt Bedeutung, wie sich aus seiner Korres­pondenz ergibt. In einem Brief an von Falkenhausen vom 19. April 1956 berichtete er von einem Besuch bei dem Reichswirtschaftsminister und Reichsbankpräsidenten Hjalmer Schacht (!), bei dem der BdSt ein Thema war. Schacht habe zu hohe Erwartungen in die Aufgabenstellung des Bundes gesetzt. Dagegen s­ eien wir (BdSt) leider „nicht allmächtig und in der Lage, eine Rundumverteidigung uns leisten zu können. In der Tat müsste eine ­solche sein, da man sich von Unsinnigkeiten ringsum umgeben fühlt.“ Im Sommer 1957 berichtete er (Brief vom 25. Juli), dass Freund Dresbach den nach dem Präsidenten benannten Karl-­Bräuer-­Preis des Bundes erhalten habe, wofür Reeder selbst sich wohl eingesetzt hatte. Etaterhöhungen waren notwendig für den BdSt ein großes Thema. Auf eine entsprechende Ankündigung sandte er ein „Abwehrtelegramm“ an den Bundeskanzler, außerdem beabsichtigte er eine „Versammlungswelle“ (Brief vom 28. Oktober 1956). Zwei Jahre später führte aus demselben Grund die Verbandsspitze mehrere Gespräche „mit Herrn Etzel“, dem Bundes­finanzminister (Brief vom 12. September 1958). Es findet sich dort auch eine kennzeichnende Selbstbeschreibung: Der Bund der Steuerzahler und seine Führung wird naturgemäß umso stärker unter Beschuss genommen, je mehr wir schiessen. Mein politisches Leben [!] hat mich ziemlich schußsicher gegen anständige Angriffe gemacht. Diese sind aber ebenso selten, wie infame unterirdische, lügenhafte Attacken stets zahlreicher werden.

Angriffen war er auch von Seiten der Gewerkschaft ÖTV ausgesetzt (Brief vom 23. Oktober 1958). Gegen die „andauernden Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen usw. [habe er] einige nicht unbeachtet gebliebene Artikel geschrieben“. Reeder konnte im Brief vom 1. März 1959 mit einen gewissen Stolz die Meinung einer „grosse[n] Tageszeitung“ weitergeben, es sei unerfreulich zu sehen, dass die Finanzkontrolle vom Parlament immer mehr auf den Bundesrechnungshof und den BdSt übergehe. Schlusspunkt der Korrespondenz bildete der Brief vom 27. Oktober 1959 an von Falkenhausen mit einem Bericht über die Zehnjahresfeier des BdSt, bei der Reeder für den plötzlich erkrankten Präsidenten einspringen musste. Nach seiner Rückkehr hatte sich Reeder mit Ausnahme seiner erwähnten kurzzeitigen Mitwirkung in einem Verwaltungsausschuss der FDP parteipolitischer Tätigkeit enthalten [S. 69 f]. Möglicherweise war sie durch seinen Anwalt Achenbach vermittelt worden. Dies könnte auch ein Teil der gerade von ­diesem als Landesgeschäftsführer betriebenen Bemühungen um Unterstützung ehemaliger „Mitarbeiter“ des NS-Regimes gewesen sein. Später wandte Reeder, ein Bewunderer Adenauers, seine Sympathien mehr der CDU zu. Nähe zu Staats­sekretär T­h edieck

130 Ders., ebd., S. 20 f. August Klein datiert die Denkschrift wohl zutreffend auf 1959 (Festschrift Köln, S. 115).

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und Freundschaft mit dem Bundestagsabgeordneten Dresbach dürften dabei mitgespielt haben. Insgesamt sah aber Reeder die Parteien äußerst kritisch. Vom politischen „Spitzenpersonal“ der Bundesrepublik hatte er denn auch keine hohe Meinung. Während er Adenauer bezeichnenderweise zugutehielt, er habe als „Verwaltungsbeamter das Lesen und Bearbeiten von Akten“ gelernt, äußerte er sich über dessen möglichen Nachfolger Erhard geradezu verächtlich. Carlo Schmid, welcher unter ihm in Lille Oberkriegsverwaltungsrat gewesen war und der ihn später in seinen Memoiren 131 loben sollte, hielt er für charakterlos (Brief vom 10. Juni 1959). Bundestagspräsident Gerstenmaier, einen der wenigen Widerstandskämpfer in hohen Staatsämtern, kritisierte er als „unerbittlich gegen die früheren Nazis, anscheinend oder scheinbar milde gegenüber der Ultra-­Linken“ (Brief vom 18. Mai 1956). Für Reeder blieb der Kommunismus die eigentliche Bedrohung, während er eine Wiederkehr des Nationalsozia­lismus ausschloss [vgl. S. 66]. Von der kritischen Sicht auf die Parteien und die Spitzenpolitiker war es kein weiter Schritt zu Reeders Auffassung von Staat und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik [vgl. S. 65]. Den Staat sah er als schwach an, die Gesellschaft genösse die Früchte des Wirtschaftswunders. Das tat er selbst allerdings auch, flog er doch bereits 1953 mit seiner Frau nach Mallorca. Das fehlende Verständnis Reeders für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft beruhte nicht allein auf unterschiedlicher Deutung des Krieges. Reeder war 1949 in ein ganz anderes Land zurück­gekommen, als er 1940 verlassen hatte. Die Bundesrepublik entwickelte sich zu einem „westlichen Land“, in dem er sich verloren vorkam. Das Gefühl der Verlorenheit wurde auch mit verursacht durch die Distanz zu ehemaligen Mitarbeitern. Reeders Einstellung zu ihnen gründete sich auf das Maß der „Nachkriegstreue“ ihm gegenüber. Außer dem Briefwechsel mit Thedieck hatte er noch Kontakt mit seinem Vertreter im Militärverwaltungsstab von Craushaar [S. 58]. Über die anderen Mitarbeiter empfand er Bitterkeit wegen der geringen Unterstützung, die er während der Haft von ihnen erhalten hatte [S. 61]. Dies kam auch in einem Bericht zum Ausdruck, den er von Falkenhausen über ein Treffen ehemaliger Kölner und Brüsseler gab. Verächtlich, nicht ohne etwas Neid, schrieb er, die meisten s­ eien „wieder in gesicherten Positionen“ gewesen, „z. T. die Treppe mehrere Stufen heraufgefallen“ (Brief vom 3. November 1951). Reeder beobachtete mit „Argusaugen“ Verweise auf seine Zeit als Militärverwaltungschef, die aus der deutschen „politischen Arena“ kamen. Partner für seine Reflexionen war vor allem der ehemalige Militärbefehlshaber. So wandte sich Reeder auch an den General, als er im Sommer 1952 vom SPD-Abgeordneten Heinz Kühn, dem späteren Ministerpräsidenten, angegriffen worden war und sich in seiner Ehre verletzt fand [vgl. S. 62]. Dieser hatte in der Landtagsdebatte vom 7. Juli 1952 ausgeführt: Wir haben aber […] an anderer Stelle eine andere Persönlichkeit in d ­ iesem Lande, nämlich einen Mann, der unter Adolf Hitler Regierungspräsident geworden ist. Ich denke dabei an Herrn ­Reeder, der eine geradezu abenteuerliche Karriere im Dritten Reich gemacht hat, dem nicht nur eine Pension gezahlt wird – er hat es immerhin nicht nur zum Regierungspräsidenten, sondern bis zum Standartenführer der SS gebracht –, sondern dem auch noch auf Anweisung der Regierung 132 26 000 DM ausgezahlt wurden, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war.

131 Carlo Schmid, Erinnerungen, Scherz 1979, S. 192. 132 Landtag Nordrhein-­Westfalen, 2. Wahlperiode (ab 1950), Stenographische Berichte, Bd. II, S. 2204 und S. 2212. Hier auch die folgenden Zitate. Der genannte Betrag war wohl eine Nachzahlung.

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Die Begründung habe gelautet, er sei Spätheimkehrer. Tatsächlich aber, so warf Kühn ihm vor, sei er ein „Frühheimkehrer“, weil er sich von der kämpfenden Truppe abgesetzt und das Amt des Regierungspräsidenten in Köln wieder übernommen habe. Der Grund für diese heftige Attacke lag möglicherweise darin, dass Kühn einen „Landtagskollegen“, nämlich den Abgeordneten Achenbach, provozieren wollte. Dieser war ja einer der Protagonisten eines Rechtskurses der Landes-­FDP, um Stimmen ehemaliger Nationalsozia­ listen zu gewinnen. Verfehlt war Kühns Aussage, Reeder habe sich von der kämpfenden Truppe abgesetzt. Im September 1944 war er vor den heranrückenden Alliierten mit der gesamten Besatzungsverwaltung ins Reich zurückgewichen und im April 1945 nach der Kapitulation der Heeresgruppe B gefangen genommen worden. Tatsächlich fühlte sich Achenbach veranlasst, in derselben Debatte „den unqualifizierbaren Äußerungen des Abg. Kühn […] entgegenzutreten“. Er wandte sich insbesondere gegen die Bezeichnung „Frühheimkehrer“. Sodann beließ er es, ständig durch Zwischenrufe von SPD -Abgeordneten unterbrochen, bei einer allgemeinen Verteidigung Reeders und nannte ihn einen „untadeligen Mann“. Das belgische Urteil werde in Deutschland nicht anerkannt, und der Bundeskanzler habe von Falkenhausen und seinen Mandanten „dreiviertel Stunden lang“ empfangen. Achenbachs Schlusswort lautete, dass „die Äußerungen des Herrn Kühn national würdelos [!]“ gewesen ­seien. Reeder vermutete dagegen den Ursprung des Angriffs von Kühn in der Umgebung von Diels als Rache für Äußerungen über dessen Karrierismus [S. 62]. Das lässt sich nicht verifizieren. Von Falkenhausen bot Reeder für einen Prozess „gegen die SPDisten […] Sekundantendienste“ an. Dies erwies sich aber als nicht notwendig (Brief vom 7. September 1952). Als weiteren „Schlag“ empfand Reeder eine Buchveröffentlichung einige Jahre später. Er hatte die Angewohnheit, in einer Verbindung von Interesse und Argwohn Bücher über den Zweiten Weltkrieg zu lesen, stets auf der Suche nach Passagen, in denen seine Position in Zweifel gezogen wurde, und stets bereit, sich zur Wehr zu setzen [vgl. S. 64]. 1956 erschien die deutsche Übersetzung von „The Final Solution“ (Die Endlösung), ein Werk des britischen Histo­rikers Gerald Reitlinger. Die Geschichte der Judenverfolgung in Belgien gab es knapp und teilweise lückenhaft wieder. Das Handeln von Falkenhausens und Reeders wurde differenzierend, aber doch letztlich sehr kritisch beschrieben.133 Reeder habe sich [vergeblich] geweigert, den Judenstern einzuführen, und sei von seinem Widerstand nicht abgegangen. Auch habe er auf Intervention von Königin Elisabeth einige Hundert „bodenständige“ Juden, das heißt belgischer Staatsangehörigkeit, freigelassen. Beide Männer ­seien jedoch für die Deportationen von 25.000 Juden schuldig gesprochen worden, nicht aber für „die späteren Torturen und Ermordungen“. Reitlingers zugespitztes Urteil war, „daß diese beiden Männer die Juden aus ihren Heimen rissen, ihr Vermögen beschlagnahmten und keinen ernsten Versuch machten, das Schicksal in Erfahrung zu bringen, das diesen unschuldigen Menschen drohte, die durch ihre Hände gegangen waren.“ Am 14. Februar 1956 schrieb Reeder deshalb einen längeren Brief an Thedieck. Das sei „notwendig“, weil die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe mit Unterstützung der Bundeszentrale für Heimatdienst (später „für politische Bildung“) erfolgt sei, mit der Thediecks Ministerium Beziehungen pflege. Der Brief verband Kritik an dem Buch mit Kritik am Urteil und damit zugleich auch mit der Verteidigung der eigenen Position. Reitlinger habe als Begründung des Urteils nur die Judendeportation benannt, dabei sei die Verurteilung hauptsächlich (?) wegen

133 Vgl. Reitlinger, ebd., S. 388 ff.

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der Geiselerschießungen erfolgt (S. 2). Dem Buchautor sei auch entgangen, dass die Deportationsbefehle vom Reichsführer SS unmittelbar an dessen Beauftragten in Belgien gegangen ­seien. Der Militärbefehlshaber und er selbst hätten sie nur verzögern oder durchlöchern können (S. 3). Das „Schutzrecht [?] der Besatzungsmacht“ habe sich nur auf die belgischen Staatsangehörigen bezogen (also nicht auf Staatenlose). „Der rückwärts betrachtende Kritiker“ übersehe die damalige Zwangslage, die Reeder in einem späteren Abschnitt so umschrieb: Ist man berechtigt oder gar verpflichtet, sich der Duldung bezw. der Durchführung harter, evtl. völkerrechtlich zweifelhafter Maßnahmen durch Abschiednehmen oder Übergabe dieser Aufgaben an Sonderdienststellen zu entziehen, auch wenn es sicher ist, dass die fraglichen Maßnahmen dadurch nicht unterbleiben oder milder durchgeführt, vielmehr weit rücksichtsloser und schärfer vollzogen werden? (S. 5)

Dies war in der Tat das schon in Kapitel 4.7.5 beschriebene Dilemma. „Als sogenannter zweitrangiger Staatsbürger“ stellte er dann die Frage, „ob es sinnvolle Aufgabe der Bundeszentrale für Heimatdienst“ sei, ein Buch mit „vermeidbaren Einseitigkeiten und Unsachlichkeiten“ zu unterstützen (S. 6 f). Reeder meinte, die Bundeszentrale solle „die Darstellung vergangener Geschehnisse Historikern überlassen, die wissenschaftliche Qualitäten mit der Fähigkeit zu höherer [!] Objektivität verbinden, sich dagegen selbst umso stärker für die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Infiltrationsbemühungen des Ostens […] einsetzen. (S. 10)

Zum Schluss beklagte er nochmals, dass die Bundeszentrale für ­dieses Buch öffentliche Mittel hergegeben habe. Nur deshalb (?), nicht wegen des Buches selbst habe er diesen langen Brief geschrieben (S. 11). Dieses Schlüsseldokument ließ ungeachtet seiner Beteuerungen eine tiefe Kränkung Reeders durch Reitlingers Kritik erkennen. Ich habe mich nie als Märtyrer […] gefühlt und bezeichnet, glaube jedoch, dass der richtige Weg in der Mitte [?] liegt. Es sollte 10 Jahre nach Abschluss des Krieges im deutschen Interesse liegen, weder zu beschönigen, was nicht zu entschuldigen ist, aber auch nicht unnötig die Ehre derjenigen immer wieder zu schmälern, die damals ohne und gegen ihren Willen in die Verantwortung berufen wurden, wie es bei Herrn von Falkenhausen und mir der Fall war. (S. 9 f)

Zudem fehlte bei ihm Verständnis für belgische Reaktionen, wenn er die Bestrafung von Kolla­ borateuren beklagte und die Ehrung von Widerstandskämpfern missbilligte (S. 9). Vor allem ist aber keinerlei Fähigkeit zu einer umfassenden und tiefgehenden Selbstkritik zu erkennen. Reeder sandte eine Abschrift seines Briefes an von Falkenhausen und bat ihn zu überlegen, ob er sich „im grossen und ganzen durch einen ­kurzen Brief an Thedieck anschließen“ wolle (Brief vom 15. Februar 1956). Der General schrieb am 23. Februar ­diesem dann ungerührt, die Kritik interessiere ihn nicht, sondern der Vertrieb mit öffentlichen Mitteln eines Buches, das so leichtfertig mit den Fakten und der Ehre anderer umgehe. In Thediecks Antwortbrief an Reeder einen Tag später hieß es, dass die Bundeszentrale das Buch nur insofern unterstütze, als sie „eine Anzahl Exemplare“ übernehmen werde. Das Buch habe im Ausland starke Beachtung gefunden. Grund zur Beunruhigung wegen einer Förderung mit öffentlichen Mitteln bestand also eigentlich nicht mehr.

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Das Buch ließ Reeder keine Ruhe und durchzog seinen Briefwechsel bis in den Sommer. Er bezeichnete die Herausgabe als „Skandal“ (Brief vom 21. Juni 1956). Bereits tags darauf teilte er dem General mit, er habe seinen zweiten Verteidiger vor dem Militärgericht, Professor Grimm, den besten Kenner der Materie, um eine Stellungnahme gebeten. Dieser führte am 27. Juni 1956 dann zur Deportation der Juden aus, das Gericht habe in der Verhandlung seiner Verteidigungsschrift Recht gegeben, von Falkenhausen und Reeder s­ eien daran gar nicht beteiligt gewesen. Die Verurteilung deswegen sei nicht recht verständlich (S. 4). Mochte diese Auffassung auch in der Urteilsbegründung Ansatzpunkte haben, entsprach sie jedoch nicht den in Kapitel 4.7 dargestellten Abläufen und war somit nicht haltbar. Verständlicherweise zeigte sich Reeder mit ihr zufrieden und sah sich bestätigt (Brief an von Falkenhausen vom 4. Juli 1956). Die Vergangenheit erreichte ihn auch durch Todesmeldungen. Aber sie berührten ihn offenbar nicht tief, wie sich aus einem Brief vom 19. Dezember 1957 an von Falkenhausen ergab. „Nach dem angeblichen Jagdunfall des Herrn Diels“ habe er sich an Görings früheren Staatssekretär Körner gewandt, „um endlich Aufschluß über die Gründe zu bekommen, deretwegen Diels Hals über Kopf von Köln weg und ich seine Nachfolge antreten mußte“. Die Anfrage konnte sich eigentlich nur auf Diels’ Weggang beziehen, denn Reeder müsste doch bekannt gewesen sein, dass er nicht zuletzt wegen seines guten Verhältnisses mit Gauleiter Grohé nach Köln versetzt worden war. Nun sei, schrieb er nach der Todesanzeige Körners in der FAZ, der einzige Zeuge dahingegangen. Vor allem der Tod Diels’ wurde bemerkenswert kurz, kühl und distanziert erwähnt. Einen letzten heftigen Schlag wegen seiner Vergangenheit versetzte ihm ein kurzer ­Artikel der FAZ vom 30. September 1958. Es war eine dpa-­Meldung, w ­ elche eine Mitteilung der Gewerkschaft ÖTV wiedergab. Millionenbeträge an Entschädigungen und Pensionen flössen „in die Taschen früherer Nazis“. Nach dem Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof Lautz, dem Reichswirtschaftsminister Schacht und weiteren ehemaligen Funktionsträgern des Regimes wurde schließlich auch „der frühere Regierungspräsident von Köln und SS-Gruppenführer Eckert-­ Reeder[?]“ genannt, der 26000 DM Entschädigung erhalten habe und 1400 DM monatliche Pension beziehe. Möglicherweise war das ein Racheakt der ÖTV . Reeder hatte, wie oben erwähnt, im Sinne des BdSt mehrere Artikel gegen wiederholte Erhöhung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit geschrieben. Am 10. Oktober sandte nun Reeder einen empörten Brief an seinen Freund Dresbach. Die FAZ habe die Meldung „anscheinend ungeprüft“, „kommentarlos“ unter einer „bösartigen Überschrift“ gebracht. Er fühlte sich nun wieder an die Attacke des Landtagsabgeordneten Kühn im Jahre 1952 erinnert. Auch verdross ihn das Erscheinen der dpa-­Meldung in den „Husumer Nachrichten“, der Zeitung seiner Heimat. Wie aufgebracht Reeder war, ließen seine langen Ausführungen zu seiner Verteidigung erkennen. Am Schluss bat er Dresbach „als langjährigen [sic!] Mitarbeiter der ,FAZ‘ um Erwägung, ob bzw. was in dieser Angelegenheit veranlaßt werden kann.“ Wegen des FAZ-Artikels wandte er sich außerdem an seinen Anwalt A ­ chenbach (Brief vom 15. Oktober 1958). Unklar blieb die Intention, warum er ihm als Mitglied des Bundestages schrieb. Er sah eine wohlorganisierte „neue Welle“ (?), die an Ausmaß größer sei als viele bürgerliche Abgeordnete ahnten. Konkret wurde er mit einem warnenden Hinweis auf eine „sogen. zentrale Ermittlungsstelle“, die sich jetzt vorbereite auf „eine Untersuchung aller sogen. Kriegsverbrechen, gleich ob sie bereits abgeurteilt sind oder nicht.“134 Reeder war offensichtlich wieder sehr beunruhigt.

134 Offensichtlich meinte Reeder die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozia­ listischer Verbrechen, die am 1. Dezember 1958 eingerichtet wurde.

Eggert Reeder: verurteilter Kriegsverbrecher und geachteter Ruhestandsbeamter

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Unterdessen hatte Dresbach bereits unter dem Datum des 13. Oktober einen Leserbrief mit der Überschrift „Sind das alles Nazis?“ an die FAZ geschrieben und Reeder eine Abschrift zugesandt. Er rügte, dass die dpa-­Meldung mit der Aufzählung von Namen unredigiert abgedruckt worden sei. Mehr Gewicht hatte der zweite Teil des Leserbriefes, welcher sich mit der Person Reeders selbst befasste. Dieser Reeder ist ein ganz normaler Laufbahnbeamter der preußischen […] Verwaltung gewesen, der bis zum Jahre 1933 keine Tuchfühlung mit dem Nationalsozia­lismus gehabt hatte. […] Reeder war ein ganz bedeutender Beamter und Behördenleiter, dessen Qualifikation bisher von niemandem angezweifelt worden ist. Seine Kenntnisse von der Verwaltung, aber auch von ihrer Deformation, waren überragend. Daß er dem Uniformfimmel etwas erlegen ist […], ist eine äußere menschliche Schwäche. Seine innere Haltung ist dadurch nicht berührt worden. Er war und blieb ein Herr! […] Vor allem aber war er ein Mann, der für sein Tun, auch für das Tun seiner Untergebenen, eintrat. Der Freiherr von Falkenhausen und er […] haben alles auf sich genommen, was in Belgien während der Besatzungszeit geschehen ist, haben keinen hereingelegt […].

Er, Dresbach, habe die deutsche Verwaltung von der Monarchie bis zur Bundesrepublik kennen­ gelernt, habe Hitler und „sein Gescherr“ verachtet und neige „keinem Revisionismus“ zu. „Aber ich wünschte der Verwaltung der Bundesrepublik noch viele Reeders.“ Am eigentlichen Pro­ blem, dessen Handeln als Militärverwaltungschef, ging der Brief vorbei. Reeder verspürte, wie aus einem Brief an von Falkenhausen vom 28. Oktober zu entnehmen ist, auch ein Unbehagen. „Der Leserbrief […] ist an sich gegen meinen Willen erfolgt, schon weil ich eine negative Replik befürchte.“ Dresbach hätte nur darauf hinwirken sollen, dass s­ olche Meldungen nicht mehr ungeprüft von der FAZ übernommen würden. Hoffentlich bedeute der Leserbrief „das Schlußlicht“. Er war es. In ihrer Gesamtwertung der Nachkriegskorrespondenz weisen Weers/Beyen zu Recht ­darauf hin, Reeder habe sich nie der Schuldfrage gestellt.135 Das Leugnen von Schuld an den Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges sei wie eine Blockade gewesen, die verhindert habe, d ­ ieses Problem zu bewältigen. Reeder sei von der Richtigkeit seiner Entscheidungen überzeugt gewesen und habe sich von jedem verraten gefühlt, der diese Zeit in ein anderes Licht stellen wollte. Damit wird auch die Erfahrung angesprochen, w ­ elche Reeder, wie auch viele andere Wehrmachtsangehörige, bei Rückkehr in die Heimat machte, Kritik oder gar Kriminalisierung. Die Diskrepanz ­zwischen den „selbstgesetzten inneren Standards“ der Zurückkehrenden und der „ausbleibenden (äußeren) Anerkennung“ habe zur psychischen Instabilität führen müssen. Dieses Problem sei umso stärker empfunden worden, je länger jemand im System des „Dritten Reiches“ mitgewirkt habe, und je höher seine Position gewesen sei. Gerade das traf ja bei Reeder zu. Er habe nie versucht, diese Spannung zu überwinden. Das spreche dafür, dass er doch nicht der Pragmatiker durch und durch gewesen sei, für den ihn viele hielten. So ambitioniert sein Pragmatismus auch gewesen sei, so habe er doch auch sein politisches Schicksal an ein Ideal gebunden. Allerdings ist nach Auffassung von Weers/Beyen eine auf dem Nationalsozia­lismus basierende Gesellschaft nicht Reeders politisches Ideal gewesen. Der Parteibeitritt sei aus Enthusiasmus für ein Regime erfolgt, welches der Weimarer Republik ein Ende gemacht habe. SS-Mitglied sei er

135 Hierzu und zum Folgenden Weers/Beyen, ebd., S. 72 ff, unter Bezug auf Echternkamp, Arbeit am Mythos, S. 422 f. Hier auch das folgende Zitat.

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ohne eigene Initiative auf Grund von Himmlers Strategie geworden, hochgestellte Amtsträger ehrenhalber seiner Organisation einzugliedern. Deshalb besteht Übereinstimmung mit der in Kapitel 4 vertretenen Auffassung, er sei kein Nationalsozia­list gewesen. Allerdings, so Weers/ Beyen weiter, habe Reeder in seinem Briefwechsel nicht mit nationalsozia­listischem Ideengut abgerechnet, aber auch keine Sympathien dafür erkennen lassen. Sein Ideal sei, älter und noch grundlegender als der Nationalsozia­lismus, der starke und einheitliche Staat gewesen, der die gesellschaftlichen Verhältnisse habe ordnen und rationalisieren können. Ihm habe er, zumal als Beamter, zeit seines Lebens nachgestrebt und entsprechend auch seine Zugehörigkeiten, insbesondere zu politischen Parteien, ausgerichtet: DNVP seit 1921 und NSDAP seit 1933. Von seinem idealistischen Ausgangspunkt her fühlte er sich „nie völlig heimisch im Nationalsozia­lismus, noch weniger konnte er in den parlamentarischen Systemen fußfassen, ­welche dem nationalsozia­listischen Zeitalter vorangingen und folgten.“136 Möglicherweise sei auch deshalb die Zeit als Militärverwaltungschef wohl die am meisten befriedigende seiner Laufbahn gewesen, als Beamter nicht kontrolliert durch eine streitsüchtige und beschlussarme parlamentarische Elite, ebenso wenig dazu da, ein Nazifizierungsprogramm auszuführen. ­Reeder habe, so Weers/Beyen weiter, zur Verteidigung seines Ideals sich gegen alle gestellt, die den einzigartigen und diskontinuierlichen Charakter der NS-Zeit betonen wollten: Während des Krieges gegen die SS, die den Nationalsozia­lismus als totale Revolution ansah, nach dem Krieg gegen seine Richter, die ihn um jeden Preis mit d ­ iesem revolutionären Nationalsozia­ lismus in Verbindung bringen wollten, ferner gegen eine deutsche Nachkriegsgesellschaft, die einen radikalen Bruch herbeizuführen trachtete, schließlich gegen die früheren „Mitstreiter“, ­welche ihre Nazivergangenheit verleugneten, um in der Bundesrepublik hoch aufzusteigen. Dieses Festhalten an seinem Ideal aber verstärkte Reeders Isolation in der Nachkriegszeit. Der bundesrepublikanischen Gesellschaft fühlte er sich nicht wirklich zugehörig, den bundesrepublikanischen Staat hat er nicht wirklich akzeptiert. Er war „aus der Zeit gefallen“. Weers/ Beyen gehen soweit, Reeders Auffassung von Staat in der „deutschen idealistischen Tradition“ anzusiedeln. Allerdings räumen sie selbst ein, er habe sich kaum in philosophischen Betrachtungen gefallen. Aber es scheine durchaus möglich, dass er den Staat als „Verwirklichung einer moralischen Idee“ angesehen hat. Deshalb bezeichnen sie ihn als einen „homo politicus“ und zugleich als einen „anti-­politischen Beamten“. Sein öffentliches Handeln sei auf die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens gerichtet und damit fundamental politisch gewesen, aber er habe gesellschaftliche Gegensätze und politische Diskussionen als Hindernis auf dem Weg zu seinem Ideal (eines Staates) betrachtet. Aus der Korrespondenz Reeders des Jahres 1959 ist noch die Einladung von Dresbach, von Falkenhausen und Thedieck zur Feier seines 65. Geburtstags zu berichten. Er freute sich besonders über das Kommen des Generals (Briefe vom 3. und 10. Juli 1959). In seinem soweit ersichtlich letzten Brief an ihn vom 27. Oktober 1959 erwähnte er mehrere Todesfälle und bemerkte mit makabrem Humor, er „mache jetzt z.Zt. in Beerdigungen“. Im sehr persönlich gehaltenen Schluss des Briefes fällt der Satz auf: „Besonders glücklich bin ich, dass Sie nach unserer Freilassung das Verhältnis zu mir so vertrauensvoll gestaltet haben.“ Wenige Wochen später, am 22. November 1959, starb Reeder in Wuppertal an einer Krankheit aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft.137

136 Weers/Beyen, ebd., S. 75 (aus dem Flämischen übersetzt); dort auch das Folgende. 137 Vgl. August Klein, Festschrift Köln, S. 114. Rehm, ebd., S. 21.

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Thedieck hielt 1960 eine Gedenkrede.138 Im ersten Teil des Nekrologs, der Schilderung von Reeders Lebenslauf, wurde das enge Zusammenwirken in der Brüsseler Zeit betont. „Über das, was wir in diesen Jahren gemeinsam erlebten, ließen sich Bücher füllen […].“ (S. 8) Über die Zeit gleich nach Rückkehr aus belgischer Haft hieß es: „Zu unser aller tiefstem Bedauern ließen es die Zeitumstände [!] nicht zu, dass er in den öffentlichen Dienst zurückkehrte, wo man ihn wahrlich hätte gut gebrauchen können.“ (S. 9 f) Im zweiten Teil entwarf Thedieck ein Persönlichkeitsbild des Verstorbenen, welches geprägt war von Bewunderung für dessen Qualitäten, Verständnis für dessen Verbleiben im Verwaltungsapparat des „Dritten Reiches“ und Dankbarkeit für gewährte Unterstützung. Er erwähnte Reeders Selbstbeschreibung, „Verwaltungsbeamter mit Lust und Leidenschaft“ zu sein. Dann fuhr er fort: „Wir können nicht leugnen, daß sein Aufstieg mit der Zeit des Nationalsozia­lismus zusammenhing, aber wir können mit Sicherheit sagen, daß er auch ohne den Nationalsozia­lismus einen großen, vielleicht einen viel größeren Aufstieg erreicht hätte.“ (S. 11) Thedieck räumte aber ein, die Übernahme des Amtes als Regierungspräsident „verband ihn notgedrungen mit dem gesamten Geschehen des nationalsozia­listischen Staates“ (S. 12). Geprägt durch ­Ersten Weltkrieg und Zugehörigkeit zu einem Freikorps, als Angehöriger der DVP (!) in der Weimarer Zeit, zudem aus „dem kirchlich wenig gebundenen Protestantismus“ Norddeutschlands kommend, sei Reeder zunächst dem Nationalsozia­lismus gegenüber wesentlich aufgeschlossener gewesen „als etwa der durchschnittliche katholische Verwaltungsbeamte [!]“ des Westens. „So geriet [!] er erst später in eine Haltung des inneren Widerstandes […].“ Er betonte, „mit wachsender Einsicht“ habe Reeder versucht, „das Böse zu verhindern und durch Gutes auszugleichen“ (S. 13). In seinem Zuständigkeitsbereich habe er sich mit unerhörter Zivilcourage von 1933 an gegen Übergriffe von Partei und SS gewehrt (S. 13 f). In Erkenntnis des verhängnisvollen Weges, den die Staatsführung nach Kriegsausbruch eingeschlagen hatte, habe er mehrfach versucht, aus seinem Amt (als Militärverwaltungschef) auszuscheiden, aber „seinen Entlassungsgesuchen“ sei nicht entsprochen worden (S. 15). Ein solches Gesuch hatte Reeder jedenfalls einmal, wie in Kapitel 4 dargestellt, in einem Brief vom 20. Februar 1943 an den Reichsführer SS gerichtet. Als Beispiel für den unermüdlichen Einsatz zugunsten gefährdeter Personen nahm Thedieck sich selbst. Obwohl Reeder seine politische Belastung als „Freund und Mitarbeiter Heinrich Brünings“139 und auch seine Gegnerschaft zum Nationalsozia­lismus bekannt gewesen sei, habe er auf das engste mit ihm zusammengearbeitet und ihn auch vor Angriffen geschützt. Zum großen Teil verdanke er es Reeder, der Verhaftung und „Liquidation“ durch die Gestapo entgangen zu sein (S. 15 f). Reeder habe sich die Aufgabe gestellt „mitzuwirken, die allgemeine Verwaltung unberührt durch die Stürme der Zeit zu führen“, aber spätestens 1943/44 die Unlösbarkeit dieser Aufgabe erkannt. Thedieck nahm nun seine Zuflucht zur Ausweglosigkeit und zum Irrationalen: „Vielleicht war es die Tragik vieler anständiger Beamter, daß gerade Männer ihrer Art gegenüber der Dämonie eines Hitler innerlich wehrlos waren.“ (S. 18) Zum Abschluss wies er darauf hin, es sei für Reeder „schmerzlich“ gewesen, keine Verwendung mehr im öffentlichen Dienst zu finden, sondern nur den „Notbehelf “ einer Tätigkeit im Bund der Steuerzahler. Aber er habe das Unvermeidliche mit großer Würde getragen. So habe er bei seinem 65. Geburtstag 138 Ohne die ersten beiden Seiten in: BA-MA, N 246/106. Datum der Rede bei Plum, Staatspolizei, S. 206, FN 55. Im Folgenden sind die Seitenzahlen in runden Klammern angegeben. 139 Thedieck war tatsächlich in der Kampagne für die Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1932 aktiv, vgl. Brüning, Memoiren 1918 – 1934, S. 531 u. 533.

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gesagt: „Über alles das, was ich erlebte, empfinde ich keine Verbitterung[,] sondern nur Dankbarkeit.“ (S. 19) Dies, vielleicht der Festesfreude entsprungen, fällt schwer zu glauben. Im Briefwechsel findet der Satz jedenfalls keine Stütze. Thedieck entwarf kein neues Bild von Reeder, zog aber einige Linien schärfer aus. So ließ er die Verbindung zum Nationalsozia­lismus, jedenfalls in der Anfangszeit des Regimes, deutlich hervortreten. Auch wurde erkennbar, dass Reeder mit der (vermeintlichen) Aufgabe, die Verwaltung „unberührt“ durch die Zeit des Regimes zu bringen, gescheitert war. Das alles war für eine Totenrede doch ein bemerkenswertes Maß an kritischen Tönen. Vielleicht war dies Thedieck möglich, weil doch eine gewisse Distanziertheit in seinem Verhältnis zu Reeder in der Nachkriegszeit spürbar war. Man kann sich fragen, ob Reeder, der sich in seiner Nachkriegskorrespondenz ja sehr empfindlich gezeigt hatte, dies akzeptiert hätte.

6 Fazit: Versagen und Verantwortlichkeit Die Frage nach Versagen und daraus folgender Verantwortlichkeit bezieht sich naheliegender­ weise zunächst auf die drei Regierungspräsidenten. Sie könnte aber ausgeweitet werden, sogar auf alle Regierungspräsidenten in Preußen, die 1933 im Amt waren. Damit würde eine zumindest formal kohärente Gruppe in den Blick genommen, ­welche auf Grund ihrer Stellung im Verwaltungsapparat eine Funktionselite bildete. Eine s­ olche Ausweitung würde aber die Grenzen dieser Darstellung überschreiten. Beschränkte man sich auf den engeren Bereich der Rheinprovinz, würde dies keinen großen Ertrag versprechen. Denn vier von deren fünf Regierungspräsidenten wurden bis Mai 1933 aus politischen Gründen ihres Amtes enthoben. Einen Sonderfall stellte der Regierungspräsident in Trier dar, der bis 1936 im Amt blieb, was mit dem Standort zusammenhing. Den vier Regierungspräsidenten von Aachen, Düsseldorf, Koblenz und Köln, die aus dem Amt entfernt wurden, kann man schwerlich vorhalten, nicht früher von sich aus gegangen zu sein, um nicht den neuen Machthabern dienen zu müssen. Eine ­solche puristische Sichtweise würde verkennen, dass sich das Regime erst im März bzw. April 1933 festigte, nach der Reichstagswahl und dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes im Reich, in Preußen nach der Landtagswahl und Görings Ernennung zum Ministerpräsidenten. Bis dahin konnten sie, die Angehörige republikanischer Parteien waren (Zentrum, SPD, DVP), für sich in Anspruch nehmen, die Stellung halten zu sollen. Auf zwei von ihnen folgten dann ja mit zur Bonsen in Köln und Reeder in Aachen Protagonisten ­dieses Buches. Die Frage nach Versagen und Verantwortlichkeit verweist also letztlich doch wieder auf sie. Ein erster Anteil am Versagen bestand bei ihnen und auch dem dritten Protagonisten darin, sich dem Regime des „Dritten Reiches“ dienstbar gemacht zu haben und dies, wenn auch unterschiedlich lange, zu bleiben. Das begann mit einer Hinwendung zum Nationalsozia­ lismus. Damit war untrennbar ihr Aufstieg in hohe Führungsämter verbunden. Zur Bonsen war zum Zeitpunkt der Machtübernahme Hitlers und seiner „Bewegung“ noch Regierungsrat, im April übernahm er das Amt eines Regierungspräsidenten. Diels war Oberregierungsrat, wurde bald Leiter der preußischen politischen Polizei und im Mai 1933 des Geheimen Staatspolizeiamtes. Reeder war kommissarischer Landrat und übernahm das Amt eines Regierungspräsidenten ebenfalls im Mai. Bei allen dreien vollzog sich also der Aufstieg innerhalb von vier Monaten. Die Hinwendung zum Nationalsozia­lismus vollzogen die drei sehr unterschiedlich. Zur Bonsen war bereits Anfang Mai 1932 in die NSDAP aus Überzeugung eingetreten. Diels hatte im Herbst 1932 Kontakte zu Hermann Göring geknüpft und wurde dessen Protegé, nachdem Göring an die Spitze des preußischen Innenministeriums gelangt war. Himmler verlieh ihm im Herbst 1933 einen SS-Ehrenrang; der Partei trat er allerdings erst 1937 bei. Sein Zugang zum Nationalsozia­lismus war also in Gestalt von Göring personalisiert und dabei stark von Ehrgeiz bestimmt, nicht von Überzeugungen. Er wollte eine möglichst viel beachtete Rolle spielen. Reeder, wegen seines Autoritätsbewusstseins und seiner Geringachtung des Parlamentarismus für den Nationalsozia­lismus aufgeschlossen, trat der Partei in einer Mischung aus Ehrgeiz und Enthusiasmus der Anfangszeit bei. Überzeugter Nationalsozia­list war er nicht. Ohnehin hatten zur Bonsen und Reeder der Republik ferngestanden, wie ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der DNVP unterstrich; Diels dagegen war Mitglied einer dezidiert republikanischen Partei, der DDP gewesen. Bei allen dreien wirkte das Kriegserlebnis nach.

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Die weiteren „Laufbahnen“ der drei im „Dritten Reich“ waren ebenfalls unterschiedlich. Zur Bonsen wurde nach einem Jahr in den einstweiligen Ruhestand versetzt, wenige Tage später jedoch reaktiviert und nach Stettin entsandt. Dort schied er nach einem halben Jahr wieder aus und war dann nur noch von Oktober 1935 bis Dezember 1936 kommissarischer Leiter einer technischen Behörde, der preußischen Bau- und Finanzdirektion. Nach knapp einem Drittel der Dauer des „Dritten Reiches“ wurde er nicht mehr in dessen Verwaltungsdienst verwendet. Diels wurde nach etwa einem Jahr an der Spitze des Geheimen Staatspolizeiamtes auf Grund einer dramatisch veränderten Machtkonstellation abgelöst und in die Provinz versetzt. Dabei erreichte er aber den Rang eines Regierungspräsidenten, den die beiden anderen allerdings schon hatten. Im Sommer 1936 wechselte er in gleicher Eigenschaft nach Hannover und 1942 als „Generaldirektor“ zu den „Reichswerken Hermann Göring“. Nach seiner Verhaftung und Versetzung zu einer Strafkompanie endete seine Zugehörigkeit zum Vorstand im Januar 1945 auch formell. Reeder wurde im Sommer 1936 wiederum als Regierungspräsident nach Köln versetzt, im September 1939 übernahm er zugleich kommissarisch das Amt in Düsseldorf. Im Mai 1940 wurde er Militärverwaltungschef, zuletzt stellvertretender Reichskommissar in ­Brüssel. Dies war während des Krieges seine Haupttätigkeit; nach Ende der deutschen Besatzungsherrschaft war er seit dem September 1944 wieder in Köln und Düsseldorf tätig, bis zu seiner Gefangennahme im April 1945. Zur Bonsens wiederholtes Ausscheiden als Regierungspräsident war beim ersten Mal eine Folge von Differenzen mit Göring und dem Kölner Gauleiter, beim zweiten Mal von Differenzen mit dem pommerschen Oberpräsidenten bzw. Gauleiter. Aus seiner letzten Funktion schied er auf eigenen Antrag aus. Das bedeutete die Abwendung vom „Dritten Reich“. Diels hatte in Köln und Hannover Differenzen jeweils mit dem Gauleiter. Dies und die Schwierigkeiten im letzten Kriegsjahr mit dem Regime überhaupt, die bis zur Verhaftung und Strafkompanie reichten, waren mehr durch sein Auftreten, seine Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit bestimmt. Reeder hatte als Regierungspräsident und Militärverwaltungschef häufig Auseinandersetzungen mit Partei- und SS-Dienststellen, deren Einmischung in seine Kompetenzen er sich verbat. Ernsthafte Probleme mit seinen Vorgesetzten oder dem Kölner Gauleiter hatte er jedoch nicht. Er blieb bis zuletzt im Dienst. Über seine regelmäßige Tätigkeit als preußischer Regierungspräsident im „Dritten Reich“ hinaus belastete sich zur Bonsen vor allem durch seine zeitweise sehr engagierte Beteiligung an dem Versuch eines „Brückenschlages“ z­ wischen katholischer K ­ irche und nationalsozia­ listischem Staat. Dies beruhte auf seiner anfänglichen Überzeugung, Katholizismus und Nationalsozia­lismus ließen sich vereinbaren. Hervorzuheben ist hier seine Rolle in der AKD und amtlich bei den Maßnahmen zur Begrenzung der Arbeit katholischer Jugendverbände. Diels belastete sich ungleich mehr als Leiter der preußischen politischen Polizei und als Organisator des Geheimen Staatspolizeiamtes. Damit untrennbar verbunden war die Beteiligung an Verfolgungsmaßnahmen gegen politische Gegner, die K ­ irchen und auch Menschen jüdischer Herkunft. Insoweit hatte er erheblichen Anteil am Unrecht, welches das Regime in seiner Anfangszeit verübte. Diels und Reeder waren als Regierungspräsidenten an antikirchlichen administrativen Maßnahmen nicht unerheblich beteiligt. Reeder war überdies „zweiter Mann“ einer Besatzungsverwaltung, die nach einem erfolgreichen militärischen Überfall eingerichtet worden war. Weiteres erhebliches Unrecht beging er durch seine Teilnahme an der Verfolgung der in Belgien lebenden Juden. Das schwerwiegende und ausgeprägte Unrecht, dessen sich Diels und Reeder schuldig gemacht haben, beruhte auf anderen Funktionen als der eines Regierungspräsidenten. Allen dreien ist zuzugestehen,

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dass sie in unterschiedlichem Maße „Auswüchsen“ entgegentraten oder sie verhinderten, was aber ihren persönlichen, sehr unterschiedlichen Anteil am Unrecht des „Dritten ­Reiches“ im Übrigen bestehen lässt. In der Nachkriegszeit bestanden ebenfalls Unterschiede in Verhalten und Haltung der drei Regierungspräsidenten, wenn man davon absieht, dass sie alle nicht mehr im aktiven Dienst verwendet wurden. Zur Bonsen, der sich seit 1940 im endgültigen Ruhestand befand, lebte weiter sehr zurückgezogen und trat nicht mehr in der Öffentlichkeit hervor. Mit dem Regime hatte er schon lange vorher gebrochen, war allerdings sicherheitshalber nicht aus der Partei ausgetreten. Er musste sich, wie die beiden anderen, einem Verfahren zur Entnazifizierung unterziehen und wurde als „entlastet“ eingestuft. Sein Anwalt hatte die ­Fakten zumindest geschönt, was zu der milden, aber letztlich nicht völlig unvertretbaren Entscheidung beigetragen hat. Diels führte dagegen nach dem Krieg mehr als die anderen ein bewegtes Leben. Als Zeuge für den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg und auch bei Nachfolgeprozessen hatte er eine wichtige Aufgabe. Publizistisch trat er als Verfasser eines Erinnerungswerkes hervor, das zu einem großen Teil im „SPIEGEL“ vorabgedruckt wurde. Das Buch erschien 1949 zunächst in der Schweiz, im folgenden Jahr auch in der Bundes­ republik. Wie man es auch beurteilen mag, es gehört nach wie vor zur unentbehrlichen Memoirenliteratur über das „Dritte Reich“. Als Zeuge und Buchautor belastete er andere, machte sogar den Deutschen insgesamt moralische Vorwürfe, sah sich selbst und seine Rolle aber nicht wirklich kritisch. Eine gewisse Distanz zum Regime hatte er bereits in den letzten Kriegsjahren entwickelt, ohne zum Widerstandskämpfer zu werden. Ein radikaler und wirklich eindeutiger Bruch war nicht zu erkennen. Ein Spruchgerichtsverfahren wegen seiner SS-Mitgliedschaft wurde eingestellt; in seinem Verfahren zur Entnazifizierung wurde er auf Grund eines Gesetzes formell für „entlastet“ erklärt. 1954 schrieb er eine Streitschrift zum Fall des nach Ostberlin verschwundenen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Deren extreme Polemik schlug sogar bundespolitisch Wellen, blieb aber letztlich für ihn folgenlos. Seine vielfältigen Versuche, bei einer politischen Partei Fuß zu fassen, misslangen ihm. Eine substanzielle öffentliche Rolle außer der eines umstrittenen Publizisten und Polemikers vermochte er nicht zu spielen. An den Anstrengungen gemessen, die er dafür unternommen hatte, wird man an das Wort des englischen Dramatikers Ben Jonson gemahnt: „Many might go to heaven with half the labour they go to hell.“ Diels starb an den Folgen eines Jagdunfalls. Reeder hatte in besonderem Maße an den Folgen seiner Tätigkeit während des „Dritten Reiches“ zu tragen. Nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft befand er sich vier Jahre in belgischer Haft und wurde in einem Kriegsverbrecherprozess zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, allerdings auf Grund der besonderen belgischen Regelungen wenige Wochen nach dem Urteil in die Bundesrepublik entlassen. Trotz eines Empfangs beim Bundeskanzler, zusammen mit dem Militärbefehlshaber, beherrschte ihn das Gefühl ungerechter Behandlung, wie auch das Gefühl, nicht verstanden zu sein. Die Entscheidung des Gerichts betrachtete er als Unrecht, seine Rolle als Militärverwaltungschef als überwiegend positiv, und für die Deportation von Juden aus Belgien fühlte er sich nicht verantwortlich. Er stellte sich also nicht die Schuldfrage und reagierte höchst empfindlich und abwehrend, wenn sie, wie auch immer, an ihn herangetragen wurde. Deshalb kam es auch nicht zu einem erkennbaren Bruch mit dem NS-Regime. Seine Tätigkeit im Bund der Steuerzahler sah er als schwachen Ersatz für eine Tätigkeit in der Verwaltung an, die er später auch nicht mehr übernehmen wollte. In seiner Weltsicht verharrte er unverändert. Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik blieben ihm fremd.

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Es ist schwer auszumachen, ob Faktoren außerhalb der Persönlichkeit die Hinwendung der drei Regierungspräsidenten zum Nationalsozia­lismus begünstigt haben. Sie stammten aus unterschiedlichen sozia­len Schichten; zur Bonsen aus dem Bildungsbürgertum, Diels’ Vater war wohlhabender Landwirt, Reeders Hofeigentümer und ehrenamtlicher Landrat. Die Familienverhältnisse dürften bei allen, vor allem bei Reeder, autoritär geprägt gewesen sein. Die Tätigkeit in der streng geordneten, rationalen preußischen Verwaltung als wirksamen Faktor anzusehen, ist nicht auszuschließen, weil ein Wesensmerkmal der Dienst am Staat, nicht an der Republik war. Zusammenfassend ist zur Bonsen zugutezuhalten, trotz anfänglicher Fehleinschätzung habe er sich als Einziger ganz eindeutig vom Regime abgewendet. Das war charakterlich sehr respektabel. Diels hingegen, in seiner unbestimmten Haltung, mit seinem Rollenehrgeiz und Geltungsbedürfnis, war ein durch und durch zweifelhafter Charakter, von dem zwar auch etwas Faszinierendes ausging, der aber letztlich nicht völlig ernst zu nehmen war. Reeder dagegen, fachlich der am meisten versierte, war von allen dreien ehestens der typische Beamte. Stark autoritätsbewusst und wenig wandlungsfähig, hatte er etwas Starres und Uneinsichtiges. Dies ergibt ein nicht sehr überzeugendes Charakterbild. Trotz der formal gleichen Stellung eines Regierungspräsidenten überwiegen bei den dreien die Unterschiede. Allerdings eint sie die Gemeinsamkeit, dass ihr Engagement als Funktionsträger des „Dritten Reiches“, des schrecklichsten Herrschaftssystems auf deutschem Boden, ihnen für den Rest ihres Lebens kein Glück gebracht hat.

7 Abkürzungen a. a. O. am angegebenen Ort ADAP Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik Abs. Absatz Abt. Abteilung AKD Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher Anm. Anmerkung Art. Artikel Aufl. Auflage BA Bundesarchiv BA -MA Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv Freiburg Bd. Band BDM Bund Deutscher Mädel BdS Beauftragter des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD BGB l. Bundesgesetzblatt Bl. Blatt BVP Bayerische Volkspartei DAF Deutsche Arbeitsfront DDP Deutsche Demokratische Partei ders. derselbe De Vlag Duitsch-­Vlaamsche Arbeidsgemeenschap/ Deutsch-­Flämische Arbeitsgemeinschaft DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei ebd. ebenda FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FN Fußnote Gestapa Geheimes Staatspolizeiamt Gestapo Geheime Staatspolizei GG Grundgesetz für die Bunderepublik Deutschland von 1949 G 131 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen GS Preußische Gesetzessammlung GV. NW. Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-­Westfalen HJ Hitlerjugend HLKO Haager Landkriegsordnung HSSPF Höherer SS- und Polizeiführer i. d. F. in der Fassung IfZ Institut für Zeitgeschichte IG-Farben Interessengemeinschaft Farben, Chemiekonzern IMT International Military Tribunal Jhrg. Jahrgang KPD Kommunistische Partei Deutschlands

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Fazit: Versagen und Verantwortlichkeit

KZ Konzentrationslager MBliV. Ministerial-­Blatt für die preußische innere Verwaltung (bis 1935) Nds. GVBl. Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt NS nationalsozia­listisch NSDAP Nationalsozia­listische Deutsche Arbeiterpartei o. J. ohne Jahr OKH Oberkommando des Heeres OKVR Oberkriegsverwaltungsrat OKW Oberkommando der Wehrmacht OT Organisation Todt ÖTV Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr RdErl. Runderlass RGBl. Reichsgesetzblatt RMBliV. Ministerial-­blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern (ab 1936) RSHA Reichssicherheitshauptamt SA Sturmabteilung SD Sicherheitsdienst (der SS) Sipo/SD Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst Sp. Spalte SS Schutzstaffel Stapo Staatspolizei USPD Unabhängige Sozia­ldemokratische Partei Deutschlands Verdinaso Verbond van Dietsch-­Nationaal-­Socialisten vgl. vergleiche VJB/AJB Vereeniging der Joden in Belgie/Association des Juifs en Belgique VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte VNV Vlaamsch Nationaal Verbond VO Verordnung VOB lB Verordnungsblatt des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich WV Weimarer Verfassung von 1919 z. b. V. zur besonderen Verwendung

8 Quellen- und Literaturverzeichnis 8.1 Quellen 8.1.1 Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin (Die Personalakten zur Bonsens und Elfgens sind bei denen von Reichsministerien verblieben, nachdem die entsprechenden preußischen in der NS-Zeit mit diesen zusammengeführt worden waren.) R 1501/205163 Personalakte zur Bonsen des Reichsministeriums des Innern R 1501/206033 Personalakte Elfgen des Reichsministeriums des Innern R 9361 III 521240 SS-Führerpersonalakte Rudolf Diels R 9361 III 30765 Akte Rasse- und Siedlungshauptamt SS (RuS) R 9361 III/ 549445 SS-Führerpersonalakte Eggert Reeder Bundesarchiv Koblenz ZV 42/IV/1960 Spruchgerichtsakten Rudolf Diels N 1174/54 Archiv Thedieck Bundesarchiv – Abteilung Militärarchiv RW 36 Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich N 246/106 Archiv von Falkenhausen Bayerisches Staatsarchiv München, Spruchkammerakten Karton 4237 Bonsen, Rudolf zur, Spruchkammerakten (Verfahrensakten) Landesarchiv NRW PersA. Nr. 101354 (Versorgungsakte zur Bonsen) NW-Pe Nr. 7292 (Personalakte Reeder) Entnazifizierungsfragebogen/-akte Reeder NW 1000 Nr. 22274 Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Nds. 171 Hannover – IDEA Nr. 28640 Entnazifizierungsakte Rudolf Diels Nds. 731 Hannover Acc. 40/71 Nr. 68 Verwaltungsgerichtsverfahren von Rudolf Diels gegen den Nieder­ sächsischen Minister des Innern Bischöfliches Diözesanarchiv Aachen (Diözesanarchiv, IV 14,17,22) Diözesanarchiv Gvs J 14, I (Acta Generalia – J: Standesverein, katholische Jugendvereine) Gvs L 8, I (Acta Generalia – L: Behörden, Regierungs-­Präsident und Landrat Aachen) Historisches Archiv Des Erzbistums Köln (AEK) Bestand Generalia Gen. 23.6, Vol. 4 und 5: Jungfrauenvereine Gen. 23.11, Vol. 4 – 10: Kath. Jugend- und Jungmännervereine

406 Vereinsauflösungen Gen. 23.23 a, Vol. 7 und 8, Leitzordner: Gen. 23.75: Gen. 26.1, Vol. 1 – 3:

Quellen- und Literaturverzeichnis

Beziehungen ­zwischen ­Kirche und Staat Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher Schulwesen

Universitätsarchiv Köln Zugang 9: Kuratorial- und Unversitätsverwaltung

8.1.2 Gedruckte Quellen Adenauer und die hohen Kommissare 1949 – 1951. – In: Morsey, Rudolf/Schwarz, Hans-­Peter (Hrsg.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. München 1989. Adenauer, Rhöndorfer Ausgabe, Stiftung Bundeskanzler-­Adenauer-­Haus, Morsey, Rudolf/Schwarz, Hans-­Peter (Hrsg.). Darin: Adenauer, Briefe 1945 – 1947. Berlin 1983; Adenauer, Briefe 1951 – 1954. Berlin 1987; Adenauer im Dritten Reich. Berlin 1991. Adenauer, Teegespräche 1950 – 1954. Berlin 1984. Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 – 1945, Bd. I, 1933 – 1934. – In: Katholische Akademie in Bayern in Verbindung mit Repgen, Konrad et al. (Hrsg.): Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen. Bd. 5. Mainz 1968. Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP) Serie E: 1941 – 1945, Bd. II, 1. März bis 15. Juni 1942. Göttingen 1972. Serie E: 1941 – 1945, Bd. III, 16. Juni bis 30. September 1942. Göttingen 1974. Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934 – 1944. – In: Katholische Akademie in Bayern in Verbindung mit Repgen, Konrad et al. (Hrsg.): Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen. Bd. 12. Mainz 1971. Conseil de Guerre de Bruxelles (2°Ch.) [Militärgericht Brüssel, Urteil vom 6. März 1951]. – In: Revue de droit pénal et de criminologie Nr. 29, 1950/51. S. 863 – 893. Das Deutsche Führerlexikon 1934 – 35. Berlin 1934. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof [IMT]. Bd. IX: Verhandlungsniederschriften 8. März 1946 – 23. März 1046. Frechen o. J.; Bd. XII: Verhandlungsniederschriften 18. April 1946 – 2. Mai 1946. Nürnberg 1947.; Bd. XXI : Verhandlungsniederschriften 12. August–26. August. Nürnberg 1948. Die Endlösung der Judenfrage in Belgien. Herausgegeben von Serge Klarsfeld und Maxime Steinberg. New York 1981. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 8: 1955. München 1997. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia-­ listische Deutschland 1933 – 1945. Herausgegeben von Ulrich Herbert. Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren. September 1939–September 1941; Bd. 5: West- und Nordeuropa 1940–Juni 1942. München 2012; Bd. 12: West- und Nordeuropa 1940–Juni 1942. München 2015. Diels, Rudolf: Der Fall Otto John. (2. Auflage). Göttingen 1954. Ders.: Die Organisation der ländlichen Mädchenfortbildungsschule im Kreise Neuruppin. – In: Zeitschrift für das ländliche Fortbildungsschulwesen in Preußen. Berlin 1927. Dokumente der deutschen Politik. Herausgegeben von Paul Meier- Benneckenstein. Bd. 2: Der Aufbau des deutschen Führerstaates – Das Jahr 1934. (2. Auflage). Berlin 1937.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1.3 Memoiren und Tagebücher Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1945 – 1953. Stuttgart 1965. Brüning, Heinrich: Memoiren 1918 – 1934. Stuttgart 1970. Diels, Rudolf: Lucifer ante portas. Zwischen Severing und Heydrich. Zürich 1949. Ders.: Lucifer ante portas. Es spricht der erste Chef der Gestapo. Stuttgart 1950. Dodd, Martha: Meine Jahre in Deutschland 1933 bis 1937. Nice to meet you, Mr. Hitler! London/New York 1939 (Originalausgabe), Frankfurt am Main 2005 (dt. Übersetzung). Falkenhausen, Alexander von: Mémoires d’outre-­guerre. Comment j’ai gouverné la Belgique de 1940 à 1944. Bruxelles 1974. Gisevius, Hans Bernd: Bis zum bitteren Ende. Bd. 1: Vom Reichstagsbrand bis zur Fritsch-­Krise. Hamburg 1947 (Sonderausgabe 1961). Goebbels, Joseph: Die Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Russlands, herausgegeben von Elke Fröhlich. München 1993 – 2008. Hier: Teil I, Aufzeichnungen 1923 – 1941: Bd. 2/III, Oktober 1932–März 1934; Bd. 3/I, April 1934 – Febru­ar 1936; Kapitel 2, Bd. 1, Juli–September 1941; Bd. 2, Oktober–Dezember 1941; Bd. 4, April–Juni 1942; Bd. 11, Januar–März 1944. Hassell, Ulrich von: Die Hassell-Tagebücher 1938 – 1944. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. – In: Aretin, Karl Otmar von et al. (Hrsg.): Deutscher Widerstand. Zeitzeugnisse und Analy­ sen. Berlin 1988. John, Otto: Zweimal kam ich heim. Vom Verschwörer zum Schützer der Verfassung. Düsseldorf/ Wien 1969. Kempner, Robert M. W.: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. Berlin 1986. Papen, Franz von: Der Wahrheit eine Gasse. München 1952. Ders.: Vom Scheitern einer Demokratie 1930 – 1933. Mainz 1968. Schmid, Carlo: Erinnerungen. München 1979. Severing, Carl: Mein Lebensweg. Bd. II: Im Auf und Ab der Republik. Köln 1950. Sommerfeldt, Martin H.: Ich war dabei. Die Verschwörung der Dämonen 1933 – 1939. Ein Augenzeugenbericht. Darmstadt 1949.

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9 Personenregister Auf Einträge zu Rudolf zur Bonsen, Rudolf Diels, Hermann Göring, Adolf Hitler und Eggert Reeder wurde auf Grund der häufigen Nennungen im Text verzichtet.

A

Abegg, Waldemar  109 Abegg, Wilhelm  31, 105 – 112, 116, 117, 119, 126, 360 Achenbach, Ernst  363, 364, 378, 387, 388, 390, 392, 394 Adenauer, Konrad  22, 24, 52, 56 – 61, 63, 67, 83, 90, 93, 124, 125, 195 – 198, 251, 356, 357, 366, 370, 378, 385, 386, 390, 391 Amelunxen, Rudolf  114 Augstein, Josef  353, 360, 368, 369 Augstein, Rudolf  353, 354, 357

B

Badt, Hermann  114 Bargen, Werner von  313, 316, 320, 324 Baudouin, König der Belgier  377 Bauer, Gustav  29 Bauknecht, Otto  45, 47, 114 Benedictus, Maurice  314, 317 Berger, Gottlob  282, 286, 350, 351 Bertram, Georg  64, 69, 71, 76, 77, 378, 383, 386 Best, Werner  363 Beyen, Marnix  387, 389, 395, 396 Bier, Hermann  45, 50, 51, 152 Bissing, Moritz von  41, 42 Blum, Marcel  317 Bodelschwingh, Friedrich von  157, 158, 178 Bormann, Martin  332, 333 Bornewasser, Franz Rudolf  77, 78 Bracht, Franz  47, 110, 112, 114, 118, 119, 121 Brauchitsch, Walther von  263 Bräuer, Karl  388, 389 Braun, Magnus von  28 Braun, Otto  22 – 24, 28, 29, 34 – 37, 45, 104, 106, 107, 112, 118 – 120, 124, 125, 198 Brecht, Arnold  24, 114, 116, 118 Breimer, Elisabeth  371 Brentano, Heinrich von  368 Brugger, Philipp  28 Brüning, Heinrich  17 – 19, 34 – 36, 106, 113, 185 Budding, Karl  44 Busch, Clemens  337, 389

C

Canaris, Constantin  297, 298, 301 Claer, Bernhardt von  378, 383 Clark, Christopher  120 Coelst, Jules  312, 315 Craushaar, Harry von  261, 301 – 303, 314, 330, 391

D

Daluege, Kurt  127, 147, 150, 160, 164 – 167, 169, 170, 175, 179 Dalwigk, Adolf Maximilian von  28, 30 David, Emmerich  190, 248 De Clercq, Staf  281, 282, 329 Degrelle, Léon  255, 282 – 284, 287, 335 De Jonghe, Albert  298, 299 De Man, Hendrik  268 Dietz von Bayer, Friedrich  63, 243 Dimitroff, Georgi  140, 141 Dodd, Martha  141, 169 Dresbach, August  388 – 391, 394 – 396

E

Ebert, Friedrich  11, 13, 16, 21, 23, 26, 107 Ehlers, Ernst  299, 314, 318, 319, 321, 324, 325 Eichmann, Adolf  308, 312, 314, 317 Elfgen, Hans  44, 47, 50 – 54, 57, 114, 222, 341 Elias, Hendrik  282 Erhard, Ludwig  391 Ernst, Karl  350 Etzel, Franz  390

F

Faber-Castell, Nina  349, 353, 357 Falkenhausen, Alexander von  259, 260, 269, 274, 276, 277, 281, 289 – 293, 299, 301, 308, 313, 321, 324 – 328, 330 – 333, 336, 337, 375 – 381, 383 – 396 Florian, Friedrich Karl  253 Freisler, Roland  355 Frick, Wilhelm  20, 49, 83, 94 – 96, 99, 123, 132, 137, 169, 172, 179, 180, 198, 228 – 230, 238 – 240, 253, 254, 347 Fried, Ferdinand  372 Frings, Joseph  343 Froitzheim, Otto  223 Fuchs, Hans  53

418 G

Galopin, Alexandre  270, 271 Ganshof van der Meersch, Walter  375 Gayl, Wilhelm von  107 – 109 Gereke, Günther  164 Gerstenmaier, Eugen  391 Gisevius, Hans Bernd  169, 171, 181, 211, 349 – 351, 353, 355, 358, 359, 371 Goebbels, Joseph  36, 50, 87, 98, 112, 132, 136, 152, 171, 175, 180, 186, 187, 189, 195, 200, 215, 284, 290, 291, 327, 328, 332 Göring, Herbert  202 Göring, Ilse  206, 209 Göring, Karl  209 Graf, Christoph  134, 170, 181, 182, 189, 200, 220 Grase, Martin  333, 334 Grauert, Ludwig  58, 60, 62, 95, 127, 131, 136, 147, 166, 169, 170, 175, 179 Grimm, Friedrich  59 – 62, 357, 378, 394 Gröber, Conrad  70, 76, 77 Grohé, Josef  48, 51, 52, 54, 57, 62, 63, 70, 78, 81, 114, 193, 195, 200, 202, 222, 227, 238 – 241, 243, 245, 255, 287, 327, 328, 331 – 334, 337, 394 Groote, Rudolf von  28 Grzesinski, Albert  24, 31 – 33, 35, 36, 112, 115

H

Haake, Heinrich  237, 252 Hailer, Walter  261, 277, 279 Halfern, Carl von  86 Harbou, Bodo von  260, 298, 331 Hassell, Ulrich von  202, 206, 209, 214, 331 Heilmann, Ernst  24 Heine, Wolfgang  28, 176 Hellwege, Heinrich  369 Henrich, Fred  239, 240 Herwegen, Ildefons  58, 67, 68, 70, 71, 82, 197 Heuss, Theodor  164, 364 Heydebreck, Peter von  85 – 88, 187 Heydrich, Reinhard  87, 89, 101, 129, 166, 167, 180 – 182, 185, 186, 188, 203, 215, 240, 296 – 298, 300, 308, 349, 354, 363 Himmler, Heinrich  82, 87, 129, 165 – 168, 171, 174, 175, 179 – 187, 189, 200, 205, 209, 211 – 213, 215, 228 – 231, 240, 254, 261, 280, 283, 284, 296, 298, 306, 308, 313, 314, 318, 321, 325, 327, 329, 330, 332 – 334, 349, 372, 396, 399 Hindenburg, Paul von  13, 16 – 20, 23, 34 – 36, 41, 49, 50, 82, 87, 107, 109, 114, 123, 124, 138, 145, 156, 168 Hinkler, Paul  170, 171 Hirsch, Paul  28, 29, 104 Hirschfeld, Heinrich  360

Personenregister

Hirtsiefer, Heinrich  111, 112 Hoevel, Walter  200 Höhler, Ali  164, 175 Höpker-Aschoff, Hermann  35 Huisgen, Horst  363

J

Jansen, Nikolaus  232 Jansen, Quirin  227 Jeckeln, Friedrich  351 John, Otto  364 – 370 Jungclaus, Richard  333, 334 Jung, Edgar  87 Jünger, Ernst  33, 213

K

Kaltenbrunner, Ernst  331, 347 Karl/Charles, Prinz von Belgien  375 Karpenstein, Wilhelm  85 – 87, 90, 92 Kasper, Wilhelm  107, 109 – 111, 116 Kaufmann, Karl  208, 363 Keitel, Wilhelm  284, 289, 290, 293, 327, 332, 333, 347 Kempner, Robert Max Wassili  135, 183, 347 – 349, 366 Kerrl, Hans  36, 124, 145, 146 Keudell, Walter von  24 Klausener, Erich  30, 31, 89, 105, 111, 126, 221, 241 Klepper, Otto  111 Klöppel, Gert  239 Körner, Paul  123, 171, 394 Kühn, Heinz  391, 392, 394

L

Lammers, Heinrich  327 – 329, 332, 333 Landfried, Friedrich  110 Lange, Rudolf  90, 92, 93, 95 Lauterbacher, Hartmann  74, 207, 208, 213 Lautz, Ernst  394 Leemans, Victor  267, 275 Lehr, Robert  361 Lemmer, Ernst  164 Lenné, Albert  70, 190, 191, 195 Leopold III., König der Belgier  255, 257, 259, 262, 266, 267, 375, 377, 385 Levetzow, Magnus von  127, 136, 143, 149, 200 Ley, Robert  45 Lingens, Walther  114, 127, 200 Löbe, Paul  164 Lubbe, Marinus van der  131 – 134, 140, 141, 371 Lüninck, Hermann von  53, 55, 58, 68, 70, 71, 75, 81, 185, 189, 191, 215, 223, 233, 234, 342

419

Personenregister

Luther, Martin  320, 321 Lutze, Viktor  189, 204, 205, 207

M

Mannesmann, Hildegard  105, 203, 210, 219 Mann, Golo  142 Marx, Wilhelm  16, 23, 24, 104 McCloy, John  356, 357 Meinen, Insa  297 – 299, 304, 322, 324 Menzel, Walter  360, 367 Middelhauve, Friedrich  364 Molsen, Marius  92 Müller, Hermann  16, 17, 24, 34 Müller, Ludwig  155 Mund, Klaus  232 Mylius, Ulrich von  226, 227

N

Naumann, Werner  364 Niemöller, Martin  155, 156 Nockemann, Hans  227 Noske, Gustav  29

O

Ohlendorf, Otto  351 Ormond, Henry  353

P

Pacelli, Eugenio  65, 77 Packebusch, Herbert  167, 168 Papen, Franz von  18 – 20, 23, 37, 47, 49 – 51, 53, 64 – 66, 68 – 71, 76 – 81, 87, 89, 90, 100, 106 – 109, 111 – 114, 117 – 121, 123 – 125, 132, 138, 144 – 147, 186, 187, 219, 222, 225, 342, 347, 357, 359, 372 Pechel, Rudolf  352 Pehle, Walter H.  223 Petri, Franz  261, 285 – 287, 335 Pierlot, Hubert  257, 259, 267 Planck, Erwin  110 Pleiger, Paul  210, 213, 351 Plum, Günter  230, 231 Popoff, Blagoj  140, 141

R

Rantzau, Graf Otto zu  220 Rathenau, Walther  14, 30, 42, 218 Reeder, Nicolai  217, 220 Rehm, Max  373, 374 Reitlinger, Gerald  392, 393 Ritter, Gerhard  355

Röhm, Ernst  86 – 88, 120, 130, 165, 167, 177, 179, 186, 187, 239, 350 Rombach, Wilhelm  30, 224, 226, 227, 238 Romsée, Gérard  275, 276, 279, 280, 305, 306, 379 Ruspoli, Gräfin Elisabeth  331 Rust, Bernhard  204, 207, 246

S

Sandt, Maximilian von  41, 264 Sauckel, Fritz  210, 272 – 274 Schacht, Hjalmar  350, 390, 394 Schäfer, Werner  350 Schanzleh, Olga  43 Scheidemann, Philipp  104 Schleicher, Kurt von  18 – 20, 108, 118, 119, 121, 177, 185, 187, 372 Schlumprecht, Karl  312 Schlüter, Leonhard  363, 364, 369, 370 Schmid, Carl Christian  252, 253 Schmid, Carlo  391 Schmitt, Carl  118 Schröder, Gerhard  368 Schuind, Gaston  278 – 280, 317 Schulte, Carl Joseph  70, 71, 73, 74, 185, 186, 190, 192 – 195, 247 Schumacher, Kurt  366 Schütze, Erwin  110 Schwede-Coburg, Franz  86, 90, 91, 93 – 96, 343 Severing, Carl  24, 28 – 31, 35, 101, 105 – 109, 111, 112, 114 – 116, 124, 134, 225, 348, 354, 359 Spaak, Paul-Henri  386 Speer, Albert  210, 274, 333 Stegerwald, Adam  104 Stegner, Artur  363 Stieler, Georg  221, 222, 224, 226 Strasser, Gregor  20, 177, 187, 361 Strasser, Otto  361 Straub, Franz  325 Stresemann, Gustav  15 – 17, 23, 219 Stuckart, Wilhelm  328, 329 Surén, Friedrich Karl  62

T

Taneff, Wassil  140, 141 Tejessy, Fritz  359 – 361 Terboven, Josef  187, 192, 195, 200, 202, 243, 253 Thälmann, Ernst  18, 139 Thedieck, Franz  80, 261, 274, 329, 330, 341, 342, 385, 388, 390 – 393, 396 – 398 Thun, Graf Roderich von  89 Tobias, Fritz  133

420 Torgler, Ernst  107, 109 – 111, 116, 134, 136, 137, 140, 141, 359, 371 Trott zu Solz, Adam von  164

U

Ullmann, Salomon  307, 317

V

Van Roey, Jozef-Ernest  268, 274, 317 Veltkamp, Udo  363 Vossen, Jean  303

Personenregister

W

Wagner, Winifred  358 Wallbaum, Klaus  119, 177 Wandersleb, Hermann  238, 244, 245 Warmbrunn, Werner  262, 268, 272, 293, 326, 335, 336 Warsch, Wilhelm  386 Weber, Wolfram  292 – 294, 298, 299 Weers, Svenja  387, 389, 395, 396 Weiß, Bernhard  104, 112 Wilde, Harry  372 Wilhelmina, Königin der Niederlande  259 Wirth, Joseph  14