Die Kennzeichen der Kirche: Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität [Reprint 2019 ed.] 3110084937, 9783110084931, 9783110837995

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Die Kennzeichen der Kirche: Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität [Reprint 2019 ed.]
 3110084937, 9783110084931, 9783110837995

Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG: DIE ARBEITSHYPOTHESE UND IHRE IMPLIKATIONEN
II. DIE NOTAE ECCLESIAE IN DER GEGENWÄRTIGEN THEOLOGIE
III. DIE KENNZEICHEN DER KIRCHE UND DAS NEUE TESTAMENT
IV. DIE EVANGELISCHE „TRADITION"
V. DIE STRUKTUREN DES GLAUBENS
VI. DIE STRUKTUREN DES GLAUBENS UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DIE NOTAE ECCLESIAE
VII. DIE KENNZEICHEN DER KIRCHE
VIII. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS
ANHANG
LITERATUR
NAMENREGISTER
SACHREGISTER

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PETER STEINACKER

DIE K E N N Z E I C H E N DER KIRCHE

w DE

G

DIE KENNZEICHEN DER KIRCHE E I N E STUDIE ZU I H R E R E I N H E I T , HEILIGKEIT, KATHOLIZITÄT UND APOSTO LI ZITAT VON PETER STEINACKER

WALTER DE GRUYTER • B E R L I N • NEW YORK 1982

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK HERAUSGEGEBEN K. A L A N D ,

C. H . R A T S C H O W

TÖPELMANN

VON UND

E. S C H L I N K

38. B A N D

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnabme

der Deutschen

Bibliothek

Steinacker, Peter: Die Kennzeichen der Kirche : e. Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität u. Apostolizität / Peter Steinacker. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1981. (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 38) ISBN 3-11-008493-7 N E : GT

© 1981 by Walter de Gruyter & C o . , Berlin 30 (Printed in Germany). Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30 • Einband: Fuhrmann, Berlin 36

Fiir Else und Fritz Steinacker

VORWORT Die hier vorgelegte Arbeit ist 1980 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Habilitationsschrift angenommen worden. Ich danke dem Verlag und den Herausgebern für die Aufnahme in diese Reihe. Ermöglicht wurde die Veröffentlichung weiterhin durch einen Druckkostenzuschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der dafür an dieser Stelle ebenfalls Dank gesagt sei. An erster Stelle schulde ich Dank Herrn Professor D. Dr. Carl Heinz Ratschow für alle Impulse und Förderung in den vergangenen Jahren. Herrn Professor Dr. Theodor Mahlmanns kritisches Verstehen war mir eine große Hilfe. Ich danke auch ihm herzlich. Die Anregung, dem Thema „Kirche" besondere Aufmerksamkeit zu widmen, geht noch in meine Studienzeit zurück. In Professor Küngs Seminar in Tübingen lernte ich 1968 die Probleme verstehen, die Katholiken mit Luthers Theologie hatten. Die Schwierigkeiten kulminierten in der Ekklesiologie. Dies ist nicht überraschend, denn hier wird das Verhältnis von Natur und Gnade praktisch und damit lebensentscheidend. Seitdem hat mich das Thema nicht losgelassen. Man kann über die Kirche sicher nicht angemessen theoretisieren, wenn man ihr institutionelles Funktionieren nicht kennt. Daher habe ich einige Zeit versucht, Theorie und Praxis in der Einheit von Universität und Gemeinde zu verbinden. Die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, haben meine Ekklesiologie sehr geprägt. Besonderer Dank gebührt schließlich Professor Dr. Martin Schloemann, der meine Arbeit durch Rat und persönliche Ermutigung begleitet hat, sowie allen Vertrauten und Freunden für das gemeinsame Leben, ohne das es dieses Buch nicht gäbe. Wuppertal, im Juli 1981

Peter Steinacker

INHALTSVERZEICHNIS I. Einleitung II. Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie Die Ekklesiologie des ökumenischen Rates III. Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament 1. Die Einheit der Kirche 2. Die Heiligkeit der Kirche 3. Die Katholizitat der Kirche 4. Die Apostolizität der Kirche Zwischenergebnis I 5. Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q IV. Die evangelische „Tradition" 1. Die Confessio Augustana ( C A ) 2. Die Apologie der C A 3. Luther 4. Die Täufer 5. Calvin 6. Die reformierten Bekenntnisschriften

1 26 47 63 64 70 74 77 81 83 102 106 110 111 118 126 140

Zwischenergebnis II

142

V. Die Strukturen des Glaubens 1. H . Küng: Kirche und Rechtfertigung 2. J . Moltmann: Kirche und Trinität 3. W . Pannenberg: Kirche und Eschatologie

151 152 158 164

VI. Die Strukturen des Glaubens und ihre Auswirkungen auf die notae ecclesiae 170 1. Der Aufbau des Konstellationskomplexes „Rechtfertigung" . . . 170 a) Die erste Ebene 175

X

Inhaltsverzeichnis

b) Die zweite Ebene c) Die dritte Ebene 2. Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

176 177 194

3. Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens . . . .

209

VII. Die Kennzeichen der Kirche Die Einheit der Kirche 1. Erläuterung zum Begriff 2. Rechtfertigung und Einheit a) Erste Ebene b) Zweite Ebene c) Dritte Ebene 3. Trinität und Einheit 4. Eschatologie und Einheit Die Heiligkeit der Kirche 1. Erläuterung zum Begriff 2. Rechtfertigung und Heiligkeit a) Erste Ebene b) Zweite Ebene c) Dritte Ebene 3. Trinität und Heiligkeit 4. Eschatologie und Heiligkeit

219 221 221 222 222 224 227 228 233 243 243 247 247 249 252 254 259

Die Katholizität der Kirche 1. Erläuterung zum Begriff 2. Katholizität und Rechtfertigung a) Erste Ebene b) Zweite Ebene c) Dritte Ebene 3. Katholizität und Trinität 4. Katholizität und Eschatologie

260 260 265 265 271 272 . 273 280

Die Apostolizität der Kirche 1. Erläuterung zum Begriff 2. Rechtfertigung und Apostolizität a) Erste Ebene b) Zweite Ebene c) Dritte Ebene 3. Trinität und Apostolizität 4. Eschatologie und Apostolizität

283 283 287 287 289 291 292 297

Inhalt VIII. Zusammenfassung und Schluß Anhang

XI 298 313

Literatur

313

Namenregister

358

Sachregister

363

I. EINLEITUNG: DIE ARBEITSHYPOTHESE U N D IHRE I M P L I K A T I O N E N Das theologische Nachdenken über die Kirche hat im 20. Jahrhundert eine besondere Intensität bekommen. Zwar ist unser Jahrhundert sicher kein „Jahrhundert der Kirche" geworden, wie O. Dibelius es erhofft hatte. Aber die geschichtlichen Ereignisse haben den Blick immer wieder auf die Kirche in ihren verschiedenen Kirchentümern gelenkt, weil die Kirche als Teil der sich wandelnden Gesellschaft deren Schicksal teilt. Die gegenwärtige Weltsituation befindet sich in einem ungeheuren Vereinheitlichungsprozeß, insofern die Grundprobleme der Welt: die Beseitigung des Hungers, die wirtschaftliche Prosperität, die Herstellung eines globalen Friedens, die Verhinderung einer Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen etc. für alle Menschen gemeinsam sind. Unter dem Problemdruck wird die Menschheit zu einer Einheit der Problemlösung gezwungen. Gemeinsame Problemlösungen setzen aber eine Basis der Argumentation voraus, auf der man sich verstehen kann und ein Konsens erzielt werden kann. Der durch die Probleme notwendige Konsens setzt also eine gewisse Form globaler kultureller Vereinheitlichung voraus. Andererseits macht sich im kulturellen Widerspruch gegen die neuzeitlich-europäischen Weltanschauungs- und Weltbewältigungsimporte ein Selbstbewußtsein geltend, das gerade einer kulturellen Vereinheitlichung, aber auch einer ökonomischen und politischen Uniformierung widersteht. So stehen wir heute am Ende der Kolonialzeit vor der Tatsache, daß sich die Welt nicht mehr zentral an europäischen Wertvorstellungen und kulturellen Einrichtungen orientiert. Zwar beherrscht die neuzeitlich-europäische „Ideologie" in ihrer nordamerikanischen und sowjetrussischen Variante noch ökonomisch und militärisch die Welt, sucht sie unter sich aufzuteilen, und daran sind die europäischen Völker beteiligt. Aber die Völker der Dritten und der Vierten Welt sind auf dem Weg, sich ihrer Schlüsselpositionen in wirtschaftlichen Fragen bewußt zu werden. Denn sie bergen in ihren Ländern die für den industrialisierten Norden so unentbehrlichen Rohstoffe. Aus dem Potential der

2

Einleitung

Ressourcen ergibt sich eine mögliche politische Macht und kulturell neu gefestigte Eigenständigkeit 1 . Kulturell wirkt sich das in einem Umdenkungsprozeß aus. Die westlichen Kulturen und Lebensordnungen sind nicht mehr so anziehend für die anderen Völker. Durch Ausbeutung, Mord, zivilisationszerstörende Exklusivität, Zerfall der Familien und hemmungslose Weltkriege haben sie sich gründlich diskreditiert. Mit wachsendem Selbstbewußtsein wendet man die eigene Kultur gegen eine als Bedrohung empfundene Überfremdung. Die gegenwärtige Renaissance des Islam ist für beides aufschlußreich. Der Rohstoff ö l , den die Industrieländer lebensnotwendig brauchen, ist das Mittel in der politischen Auseinandersetzung. Die Erfahrung der Macht durch Rohstoff beflügelt die neu erwachte Selbstbehauptung der bodenständigen Kultur. In diese gegenläufige globale Entwicklung sind die christlichen Kirchen in allen Teilen der Welt einbezogen, und das hat ihre gesellschaftliche Lage wie ihre theologische Theorie zum Teil radikal verändert. Zum einen sind die europäisch geprägten Kirchen in ihren eigenen Heimatländern in den Ablösungsprozeß der kollektiven und individuellen Handlungen und Weltorientierungen von der Bindung an eine Religion hineingezogen. Solche Säkularisierung hat sich teils ohne bürokratischen Druck aus den Verhältnissen der industriellen Gesellschaft ergeben (so im „Westen"), teils ist er mit Gewalt erzwungen worden (so im Herrschaftsbereich des real existierenden Sozialismus). Unsere Staaten sind säkular verfaßt. Die christliche Religion in ihren verschiedenen Konfessionen ist zu einem Sonderfall neben anderen Weltanschauungen und Weltbewältigungssystemen geworden. Es gibt „quasireligiöse" und nichtreligiöse Integration in den gesellschaftlichen Verband. Andere Religionen haben Europa als Missionsfeld entdeckt und haben große Erfolge. Diese veränderte Lage und die industrielle Gesellschaft als solche haben die Kirchen und ihre Theologie in eine tiefgreifende Krise gestürzt. Ihre Angeböte an religiöser Deutung des Lebens und an religiöser Erfahrung entfernen sich — wenn man den Religionssoziologen glauben darf — immer weiter aus dem Lebenshorizont der Menschen. Dies muß nicht damit zusammenhängen, daß die Säkularisierung das unausweichliche, historische Schicksal aller Religion ist. Max Webers These und die darauf bezogene

Vgl. U . Scheuner, Christliche Kirche und internationale O r d n u n g , in: Einheit der Kirche - Einheit der Menschheit, hrsg. von O . H . Pesch, 1978, S. 100ff.

Die Arbeitshypothese und ihre Implikationen

3

„Theorie des Christentums" 2 sind religionshistorisch und religionssoziologisch nicht unumstritten, weil sie sich an der Wirklichkeit der gelebten Religion nur in Xusnahmefällen verifizieren lassen 3 . Zwar trifft die Säkularisierungsthese auf die europäisch-amerikanisch-sowjetische Entwicklung zu, aber sie irrt sich, wenn sie daraus ein Notwendigkeitsgesetz herleitet. Es kann beobachtet werden, daß in einer immer rationaler verfaßten Gesellschaft religiöse Motivationen in ungeheurem Umfang freigesetzt werden, die von den Kirchen und ihren Angeboten zur Lebensdeutung nicht mehr integriert werden. So findet ein lebhafter Transfer religiöser Motivationen in Politik, Ökonomie, Psychologie, Medizin und andere Wissenschaften statt, die an der Lösung von Lebensproblemen beteiligt sind. Damit kehrt die Religion in einer verhängnisvollen Verkleidung wieder, nämlich in dem „Bereich von Institutionen, die zur Behandlung religiöser Fragen denkbar ungeeignet sind. Falsch institutionalisierte Religion kann zu einem Risiko für die humanitäre Entwicklung der Gesellschaft werden. Auf diesem Gebiet könnten uns eines Tages die größten Fortschrittskosten erwachsen" 4 . Erinnert sei hier auch an die immer stärker auftretenden Suchtkrankheiten, deren Zusammenhang mit religiöser Problematik nicht zuletzt durch Aldous Huxley herausgestellt worden ist 5 . Für die europäischen Kirchen spitzt sich diese Entwicklung am nicht endenwollenden Problem der „Volkskirche" zu, deren Agonie fortschreitet, für die aber noch kein Ersatz in Sicht ist. An dem sich vollziehenden christlichen Traditionsbruch, für den die „Jugendreligionen" ebenso wie der alarmierende Rückgang der fundamentalen Kenntnisse christlicher Glaubensinhalte ein Indiz ist, und an der so wenig kollektivierbaren und so gering stattfindenden lebendigen Traditionserneuerung offenbart sich die Krise. Wir

2

Vgl. T . Rendtorff, Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu

3

Vgl. z . B . C . H . Ratschow, Die Rede von der Religion. Die Soziologie und die

seiner neuzeitlichen Erfassung, 1972. Entwicklungstendenzen der Religion in Europa, in: Chancen der Religion, hrsg. von R. Volp, G T B 103, 1975, S. 129 ff. 4

G . Schmidtchen. Die Kosten des Fortschritts, Ratlosigkeit der rationalen Gesellschaft, in: Ev. Komm. 12, N r . 8, 1979, S. 449; vgl. auch von demselben Verf. Was den Deutschen heilig ist. Religiöse und politische Strömungen in der B R D , 1979, in der Max Webers These vom notwendigen Untergang der Religion in der industriellen Kultur widersprochen wird.

5

Vgl. The Doors of Perception, 1954, deutsch 1970.

4

Einleitung

sind auch als Kirche auf dem Weg zur „allgemeinen Religiosität" eines diffusen Gottesglaubens 6 . Wir folgern daraus die existentielle Notwendigkeit für die Kirchen, sich intensiv um ihr Glaubensverständnis zu bemühen. Mit größter Anstrengung müssen wir uns als Glieder der Kirchen darum bemühen, eine gegenwärtige Gestalt des Christentums zu finden, die unserem Glauben in der gegenwärtigen Weltsituation entspricht. D e r Beitrag der Theologie zu dieser Anstrengung ist die Denkanstrengung zur Theorie des Glaubens. A b e r der christliche Glaube, auf den die Theologie reflektiert, ist auch institutionalisierte Religion. In diesem Zusammenhang heißt das: wenn er auf die veränderten Verhältnisse der Welt nur in theoretischer R e flexion reagierte, wäre damit alles verdorben. Die Theologie verkäme zu einer Kompendiumswissenschaft. Sie ist nach einer alten Definition „scientia eminens practica" 7 . Deshalb muß die theologische Konzentration auf den Glauben und seine denkerische Erfassung besonders in Zeiten seiner Krise die O r t e thematisch machen, an denen der Glaube leibhaft existiert. V o n daher leuchtet ein, daß gegenwärtig neben der Ethik auch die Ekklesiologie im Mittelpunkt des theologischen Interesses steht. D e n n die Krise scheint nur überwindbar, wenn religiöse Erfahrungen gemacht werden können und als solche verstanden werden können. Glaube ist ein Lebens Vollzug und nicht allein ein theoretisches Gebäude zwecks Ordnung und Bestandsaufnahme der Welt. Dazu aber scheint es unausweichlich zu sein, die Institution, die in unseren Gesellschaften mit solchen Erfahrungen bisher elementar befaßt war, wesentlich zu verändern. Für zuviele Menschen ist die Kirche mit ihrem religiösen (liturgischen) Angebot kein Raum mehr zur Befriedigung ihrer R e ligiosität. Es ist nur zu verständlich, wenn Menschen aller Altersgruppen einen religiösen O r t fliehen, an dem einem immer wieder und ausschließlich das W o r t Gottes „auf den Kopf zugesagt" werden soll. Religion muß ja nicht so gewalttätig sein und betrifft vor allem nicht nur den Kopf. Die Entwicklung der Evangelischen Kirchentage zeigt eine tatsächlich vorhandene Phantasie-in religiöser Hinsicht, die leider in unseren Kirchen bürokratisch verkommt. Wenn in der Kirche nicht mehr die Erfahrung der Rechtfertigung gemacht werden kann und dieses Ereignis nicht mehr sprachlich angemessen ausgedrückt und als Lebenswirklichkeit Existenz werden kann, nützt uns

6

U . Boos-Nünning, Dimensionen der Religiösistät, 1972.

7

Hollaz, Examen theologicum acroamaticum,

1707, pro c I q 1, zit. n. C .

H.

Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung Bd I, 1964, S. 42.

D i e Arbeitshypothese und ihre Implikationen

5

keine noch so gut erhaltene Rechtfertigungslehre. Ekklesiologie unter dem Aspekt des Glaubens als lebendige Aneignung der Tradition von Jesus als dem Christus will daher immer auch ein wenn auch noch so kleiner Beitrag zur neuen Wirklichkeit der Kirche sein. Die Kirchen haben nach zäher und geduldiger Vorarbeit weniger charismatischer Christen aus der europäisch-amerikanischen Welt durch die Vision einer zukünftigen, noch ganz und gar unbekannten institutionellen Einheit versucht, die Kirche in den voranschreitenden Prozeß der Vereinheitlichung der Welt einzubeziehen. Ganz anders als noch zur Zeit der Reformation, der es um die Einheit der ecclesia romana ging, wurde hier der Grund gelegt für eine organisatorische Einheit der ganzen Kirche, auf die wohl alle Kirchen, die eine langsamer, die andere schneller zugehen 8 . In der ö k u m e n i schen Bewegung dokumentiert sich die christliche Reaktion auf die Vereinheitlichung der Welt. Man sucht nach Ubereinstimmungen in der Vielfalt und stellt dabei nach und nach eigene Traditionen zur Disposition, um die kirchentrennende Spaltung zu mildern und zu überwinden. Die Kirchen der nicht-westlich geprägten Völker haben dagegen in derselben Institution, dem ö k u m e n i s c h e n Rat, mit den anderen verbunden, mehr und mehr damit begonnen, das Christentum aus der ihnen überkommenden westlichen Einkleidung zu lösen. Im Programm der „Indigenisation" wollen sie die christliche Botschaft in den Denkformen der eigenen Kultur lebendig machen. So können sie sich vom Vorwurf, ein Relikt aus der Kolonialzeit zu sein, befreien, und entsprechen dem allgemeinen Trend ihrer nationalen Umwelt. Zugleich erleben sie eine programmatisch geförderte Vielheit und Spezialisierung, die im Zuge des erwachenden Selbstbewußtseins gegenüber der einst übermächtigen importierten Kultur den Kirchen neue Möglichkeiten der Verkündigung und Theologie einräumt, die uns zerschlagen sind, aber wegen ihrer Fremdheit auf uns anziehend wirken. Es setzt ein „ r o l l - b a c k " nach Europa und Amerika ein. Uns ist beispielsweise die Möglichkeit abhanden gekommen, uns von einer Einheit der Kirche über alle Zeiten hinweg eine realistische Vorstellung zu machen. Der Gedanke, liturgisch noch präsent, zerfließt in eine christliche Walhalla und hat jede Symbolkraft, wie Tillich das nennen würde, verloren. Wir haben kein Ausdrucksmittel für die Verbindung der gegenwärtigen Kirche mit der Kirche der bereits gestor-

8

Vgl. C . H . R a t s c h o w , V o n der Einheit der Kirche. Erwägungen zum Marburger Religionsgespräch 1529, Ö R 2 8 , 1979, S. 3 9 9 f f .

2

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

6

Einleitung

benen Christen. Für afrikanische Christen ist das aufgrund der bei ihnen lebendigen Familienvorstellungen überhaupt kein Problem. Die Spiritualität des Ostens kritisiert die distanzierte Rationalität westlicher Theologie, weil sie über der Reflexion auf den Glauben die Tiefe des gelebten Glaubens vergesse. Gott zu denken sei zwar typisch westlich, aber zu wenig: es komme darauf an, Gott zu leben. Kann aus dieser Kritik des Ostens am Westen vielleicht eine neue Form der Theologie werden, die „mehr Verdeutlichung als nur distanzierte Reflexion" ist und daher eher als „ T h e o p r a x i s " zu verstehen ist? 9 So sehen die Kirchen der Dritten und Vierten Welt in der „Indigenisation" eine Stärkung der Katholizität der Kirche und keine Gefahr für die Einheit. Die Vielheit und die Ausbildung von Besonderheiten werden als unumgänglicher Weg zu einer Lösung der Probleme der Gesamtkirche und damit auch der Weltprobleme gesehen. Die Lösung des Problems der Einheit der Kirche im Rahmen der notwendigen Einheit der Menschen wird also von den Kirchen des europäischamerikanischen Christentums ganz anders gesehen als von den Kirchen der Dritten und Vierten Welt. Aber vielleicht sind beide Wege gar keine Gegensätze? Vielleicht kann eine Besinnung auf die Kennzeichen der Kirche einen Beitrag zu diesem Grundproblem leisten. In diesen knapp skizzierten grundlegenden Veränderungen der Welt steht die Kirche, und deshalb ist es dringend, die damit verbundenen schwierigen Probleme in Angriff zu nehmen. Die Studie überschätzt sich nicht und will an einem relativ kleinen Ausschnitt des ekklesiologischen Problems einen kleinen Beitrag zu der notwendigen Besinnung auf den Glauben in einer sich radikal wandelnden Welt leisten. Es ist ja seltsam, daß bei aller theologischen Bemühung die Kirche an den entscheidenden Nahtstellen zwischen handelnder Kirche und akademischer Theologie, wie sie beispielsweise die Bekenntnisse darstellen, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vor allem die Kennzeichen der Kirche, weder die traditionellen evangelischen noch die sogenannten „katholischen" kommen, mit wenigen Ausnahmen, vor 1 0 . N u r der Gesichtspunkt der Einheit ist noch 9

Vgl. Aloysius Pieris, S. J . , Das Christentum des Westens und die Religionen des Ostens, in: Weltmission heute. Zum Thema Theologie in der Dritten Welt, Evangelisches Missionswerk H a m b u r g , 1979, S. 4 f f .

10

Vgl. A . Peters: Moderne evangelische Glaubensbekenntnisse und katholische Kurzformeln des Glaubens, K u D 19, 1973, S. 231 ff.

Die Arbeitshypothese und ihre Implikationen

7

da — aber nicht unter dem Aspekt eines Zeichens. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das rechte Bekenntnis zur rechten Zeit, gibt eine Kirchendefinition und nennt die Kirche „die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der H e r r gegenwärtig h a n d e l t . " 1 1 Aber was sind nach Barmen die Kennzeichen der Kirche? Die traditionellen evangelischen (Wort und Sakrament) sind als Gestalten des Handelns des erhöhten Christus durch den Geist verstanden. Aber sie sind keine Zeichen der Kirche. In ihrem Glauben, Gehorsam, ihrer Botschaft und O r d nung bezeugt die Kirche das exklusive Eigentumsrecht ihres Herrn an ihr. Aber das sind alles keine Zeichen. Daher ist, soweit ich sehe, die Ekklesiologie und die Christologie sowie der Charakter der Erklärung als Bekenntnis auch umstritten gewesen und bis heute umstritten, nicht aber die Frage, ob die Barmer Auffassung von den Zeichen der Kirche richtig ist 1 2 . Weiter herrscht innerhalb der Theologie, nicht nur der evangelischen des deutschen Sprachraums, sondern auch der römisch-katholischen, eine ziemliche Konfusion in der Frage der Kennzeichen der Kirche. W i r wollen dies im Anschluß an die einleitenden Bemerkungen ausführlich zeigen. Es scheint so, daß man die Kennzeichen der Kirche aus dem Schatz der Tradition mehr nach Geschmack oder aus unreflektierter Treue zur Überlieferung als aufgrund theologischer Überlegung in die Ekklesiologien einbezieht. Die konfessionellen Gegensätze sind jedenfalls beinahe versunken und verwischt. Weil die Kennzeichen der Kirche an der Nahtstelle zwischen dem gesellschaftlichen O r t und dem Handlungsfeld der Kirche und der theologischen Theorie, die nach dem Kirchesein von Kirche zu fragen hat, stehen, könnte eine Studie zu den Kennzeichen der Kirche eine kleine Hilfe sein in der Konzentration der Theologie auf die Erfassung und Gestaltung des christlichen Glaubens in der gegenwärtigen Welt. Dabei tragen die Analysen und Lösungsvorschläge die Spuren ihrer Herkunft an sich. Sie sind geprägt von der Situation der evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Aber in dieser Situation kom-

11

W . Niesei, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes W o r t

12

Vgl. zu Barmen demnächst R . W e t h , Theologische Ekklesiologie nach 1945 im

reformierten Kirche, o . J g . , S. 335 f. kritischen H o r i z o n t des Barmer Bekenntnisses (Barmen I I I ) in einer Veröffentlichung des T h e o l . Ausschusses zu Barmen I I I der E K U . Freundlicherweise hat R . Weth die Druckfahnen zur Verfügung gestellt. 2::'

8

Einleitung

men die ökumenische Verflechtung und der existenzielle Bezug zur römischkatholischen Kirche entscheidend zur Geltung. „ D i e Kirche ist die Ö k u mene."13 Deshalb sollen die Ergebnisse der Dokumente des ökumenischen Rates der Kirchen ausgewertet werden, und deshalb befindet sich die Studie in einem intensiven Gespräch mit der römisch-katholischen Kirche. Zur Zeit der Abfassung des Manuskriptes galt Hans Küngs Theorie noch als römischkatholische Lehre. Das ist nun nicht mehr der Fall. Die Gesprächslage hat sich daher sehr verschlechtert. Die personellen Veränderungen in der Zusammensetzung der Deutschen Bischofskonferenz lassen keine besonderen Hoffnungen auf eine baldige weitergehende Annäherung der Kirchen in Deutschland. Solange ein evangelischer Gottesdienst nicht als gültiger Gottesdienst für die katholische Kirche gilt und deswegen ein so nötig gebrauchtes seelsorgerliches Wort für die N ö t e konfessionsverschiedener Ehepaare verhindert wird, solange bleibt die institutionelle Verbindung der Kirchen, die uns unausweichlich scheint, eine Vision. Die bisherigen Äußerungen des ersten nicht-italienischen Papstes seit Jahrhunderten lassen auch eher eine gesamtkirchliche dogmatische Erstarrung der römischen Kirche erwarten. Dennoch ist kein Ausstieg aus der Diskussion möglich, denn das hieße aus dem Lebenskreis unserer Gesellschaft und unserer Kirchen aussteigen. Die Praxis der Christen ist weiter — oder soll man vorsichtiger sagen — vorurteilsfreier als die theologische Theorie. Auf der Folie absterbender Grundverständnisse des Glaubens und der lebensbedrohenden Auswanderung der gelebten Religiosität aus den Kirchen in nicht-religiöse Bezirke wollen uns dogmatische und institutionelle Abgrenzungsmanöver als Ausdruck von Angst erscheinen. Dogmatische Erstarrung ist eine spezifische Form der Angst vor Veränderung. Solche Angst setzt Kräfte frei, die allerdings falsch kanalisiert werden, wenn sie zur Restauration überholter Festungsanlagen benutzt werden. Angst kann aber auch kollektiv im Blick auf den gemeinsamen Christus überwunden werden und — für die römische Kirche wichtiger — die Amtsträger zur gemeinsamen Freude an Gott und seiner Welt freimachen. Sehr gering ist die Beziehung der Studie auf den Teil der deutschen Kirchen, der infolge des Nazi-Krieges in der D D R eine ganz andere Entwick13

A. Schindler, Die geschichtliche Gestalt der europäischen Kirchen und ihrer Theologie und die Kirchengeschichte als theologische Disziplin, in: Theologie — was ist das? Hrsg. v. G . P i c h t / E . Rudolph, 1977, S. 370; zustimmend zitiert von W. Huber, Themen der Theologie, Ergänzungsband, 1979, S. 30.

9

D i e A r b e i t s h y p o t h e s e und ihre I m p l i k a t i o n e n

lung genommen hat als die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik. Wir sind meist besser informiert über die „Theologie der Befreiung" und die südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Verhältnisse als über die Lage der Kirche in der D D R . Das ist bedauerlich, gehört aber zu unserem Lebensgefühl. Leider ändert die Studie nichts daran. Es ist anzunehmen, daß eine dort entstandene Ekklesiologie sich von denen in der Bundesrepublik wesentlich unterscheidet, auch wenn wir viele Probleme teilen 1 3 3 . Wie kann man die angesprochene Unsicherheit bezüglich der Kennzeichen der Kirche überwinden? Genügt vielleicht ein Blick darauf, was die Väter als „notae ecclesiae" verstanden haben, und genügt vielleicht einfach die Wiederholung der Inhalte ihrer Verständnisse? Wie entstehen in einem evangelischen Rahmen theologische Urteile über die Kirche? Wir wollen mit dieser Studie einen Vorschlag machen, wie eine evangelische Theologie die Kennzeichen der Kirche begründen und inhaltlich entwickeln kann, um darin die allgemeine theoretische und praktische (liturgische) Unsicherheit zu überwinden und einen Beitrag zur notwendigen Besinnung auf den Glauben zu leisten. Zu diesem Zweck legen wir die Studie um folgende Arbeitshypothese an: Die Kennzeichen der Kirche, ihre Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität sind evangelisch aus dem prozeßhaften Glauben in jeweils neuer historischer Situation zu begründen 1 4 . Die Arbeitshypothese nimmt die aus den geschichtlichen Gegebenheiten geforderte Konzentration auf den Glauben versuchsweise in ihre Mitte auf. Vielleicht ist es sinnvoll, von hier aus ekklesiologische Urteile zu fällen. Sie legt sich aus einer theologiegeschichtlichen und einer philosophiegeschichtlichen Beobachtung nahe. Beide zeigen, obwohl historisch weit voneinander 13a

L e i d e r war es nicht m ö g l i c h , die b e d e u t e n d e Arbeit v o n U . K ü h n z u r Kirche, H a n d b u c h Systematischer Theologie Bd

10, 1980 im M a n u s k r i p t noch

auszu-

werten. S o w e i t ich sehe, decken sich die historischen A n a l y s e n K ü h n s mit den hier vorgelegten. D a s gilt auch f ü r J . D a n t i n e s M o n o g r a p h i e : D i e K i r c h e v o r der F r a g e nach ihrer W a h r h e i t , K i K o n f 23, 1980, die aus der „ G r u n d - N o t a " ,

des

H ö r e n s auf G o t t e s W o r t , mehrere andere entfaltet u n d sich dabei b e s o n d e r s mit den R e f o r m a t o r e n befaßt. 14

D i e f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n sollen den w i s s e n s c h a f t s t h e o r e t i s c h e n G a n g

des

V e r i f i k a t i o n s v e r f a h r e n s darlegen. Sie wollen und k ö n n e n keinen Eingriff in die D e b a t t e u m die T h e o l o g i e als ( E r f a h r u n g s - ) W i s s e n s c h a f t sein. D a z u w ä r e n u m fangreichere Studien n o t w e n d i g als sie im R a h m e n dieser S t u d i e m ö g l i c h sind. W i r wollen damit nur unser V e r f a h r e n o f f e n l e g e n und a b g r e n z e n , w a s die S t u d i e leisten k a n n u n d was nicht.

Einleitung

10

entfernt u n d inhaltlich u n t e r s c h i e d e n , einen a n a l o g e n Sachverhalt. D i e erste s t a m m t aus der Zeit, in der die in der A r b e i t s h y p o t h e s e z u r D i s k u s s i o n gestellten A t t r i b u t e e n t s t a n d e n . D i e Inhalte des S y m b o l s der ö k u m e n i s c h e n S y n o d e v o n K o n s t a n t i n o p e l (381 n . C h r . ) , des s o g e n a n n t e n N i c a e n o - C o n s t a n t i n o p o l i t a n u m s , sind n ä m lich o f f e n b a r s o e n t s t a n d e n , w i e es u n s e r e A r b e i t s h y p o t h e s e f ü r eine evangelische E k k l e s i o l o g i e v o r s c h l ä g t . D a s S y m b o l w a r u r s p r ü n g l i c h v o n den K o n z i l s v ä t e r n gar nicht als die h e r a u s r a g e n d e L e h r ä u ß e r u n g v e r s t a n d e n w o r den, als die es s p ä t e s t e n s seit d e m K o n z i l v o n C h a l c e d o n in der g a n z e n Ö k u m e n e a n g e s e h e n w o r d e n ist. Z u n ä c h s t diente der T e x t w o h l nur als V e r h a n d l u n g s g r u n d l a g e d e r o r t h o d o x e n Partei, die die G o t t h e i t des H e i l i g e n G e i s t e s b e f ü r w o r t e t e , f ü r die b e v o r s t e h e n d e n D i s p u t e mit den M a k e d o n i a n e r n u n d P n e u m a t o m a c h e n , u n d w u r d e s o offiziell ins K o n z i l e i n g e b r a c h t 1 5 . D i e A b s i c h t des B e k e n n t n i s s e s ist es o f f e n s i c h t l i c h , die in der M i t t e des vierten J a h r h u n d e r t s neu a u f k o m m e n d e L e h r f r a g e nach d e m W e s e n u n d d e r W ü r d e des H e i l i g e n G e i s t e s im Sinn u n d in a b s o l u t e r T r e u e z u m n i k ä i s c h e n G l a u b e n , w i e ihn d a s K o n z i l v o n 325 f o r m u l i e r t hatte, z u b e a n t w o r t e n . E s will nichts a n d e r e s als den w a h r e n überlieferten G l a u b e n in einer neuen his t o r i s c h e n Situation u n d v o r n e u e n F r a g e s t e l l u n g e n bestätigen u n d b e w ä h r e n . D a z u aber m u ß es i m A n e i g n u n g s - u n d A n w e n d u n g s p r o z e ß die Ü b e r l i e f e r u n g e r g ä n z e n . D e n n es w a r e n christliche G r u p p e n a u f g e t r e t e n , die sich in U b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m n i k ä i s c h e n G l a u b e n v e r s t a n d e n , aber v o m G e i s t lehrten, er sei v o m S o h n g e s c h a f f e n u n d nicht w e s e n s g l e i c h mit d e m V a t e r u n d d e m S o h n . D i e s e B e h a u p t u n g k o n n t e m a n mit d e m Wortlaut

von N i -

cäa nicht a b w e h r e n 1 6 . M a n sah sich a l s o g e z w u n g e n , die Identität des G l a u b e n s z u b e w a h r e n , i n d e m m a n auf neue F r a g e n A n t w o r t e n e r s a n n , die z u v o r in d e m den G l a u b e n n o r m i e r e n d e n D o k u m e n t n o c h nicht g e g e b e n w a ren. S o erweitert d a s S y m b o l v o n 3 8 1 d a s j e n i g e v o n 325 v o r allem ( n e b e n geringen Z u s ä t z e n im 2. A r t i k e l ) i m 3. A r t i k e l . In N i c ä a heißt es n o c h g a n z k n a p p : „ U n d an den heiligen G e i s t " , in K o n s t a n t i n o p e l w i r d p r ä z i s i e r t : „ d e r da H e r r ist u n d l e b e n d i g m a c h t , der v o m V a t e r a u s g e h t , der mit d e m V a t e r u n d S o h n z u g l e i c h verehrt u n d verherrlicht w i r d , der geredet hat d u r c h die

15

Vgl. A.-M. Ritter, Das Konzil von Konstantinopel und sein Symbol, F K D G 15, 1962; von J. N . D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse, ab der 3. Aufl. 1972, S. 323ff. übernommen.

16

Vgl. A . - M . Ritter, a . a . O . , S. 188ff.

Die Arbeitshypothese und ihre Implikationen

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Propheten" 1 7 . Und man fügt die in der Arbeitshypothese zur Debatte stehenden vier Attribute der Kirche an. Der Glaube, den die Väter bewahren wollten und den sie auch mit Kompromissen definierten (das Wort homoousios fehlt für den Geist!), muß sich in neuer Situation und angesichts neuer Fragen verändern, um er selbst zu bleiben. Aber es ist für unsere Arbeitshypothese wichtig zu sehen, wie die Väter den Glaubensinhalt verändert haben. Einerseits haben sie sich so eng wie möglich an die Schrift, die gemeinsame Grundlage der streitenden Parteien, gehalten: 2. Kor 3,17f. redet vom Geist als dem Herrn, Rom 8,2 vom „Geist des Lebens", Joh 6,63 und 2. Kor 3,6 sagen vom Geist, er mache lebendig. Joh 15,26 wird vom „Geist der Wahrheit" gesagt, „er gehe vom Vater aus", und Paulus spricht 1. Kor 2,12 vom „Geist aus Gott". Die Beziehung des Geistes zu den Propheten erinnert an 2. Petr 1,21 1 8 . Weiter knüpft die alles entscheidende Formel: „der mit dem Vater und dem Sohn zusammen verehrt und zusammen verherrlicht wird" 1 9 an gewichtige Traditionen, beispielsweise des Athanasius und des Basilius an und wird als „klares Bekenntnis zur Konsubstanzialität des Heiligen Geistes" verstanden 20 . Andererseits hindert die enge Beziehung zur Schrift und zu den Vätern nicht daran, in der entscheidenden Frage eine ganz neue, jedenfalls noch nicht offiziell ins Symbol eingerückte Formulierung als den orthodoxen Glauben anzusehen und festzulegen. Diese Formulierung ist nicht mit derjenigen der Väter identisch, und es gibt zu ihr keinen unmittelbaren biblischen Beleg 21 . Der Glaube wagt es also, seinen Inhalt in neuer historischer Situation in strenger Orientierung an dem Vorgegebenen aus dem Glaubensbewußtsein, seiner gegenwärtigen Erfahrung, Problemstellung und Reflexionsstand zu definieren. Dieses Selbstverständnis begreift sich in der Glaubenstradition der Väter. Die neuen Formeln sind das Ergebnis eines neuen Lebens- und Denkprozesses. Deshalb gehen die Väter in der Beantwortung der neuen Frage schöpferisch über die Tradition hinaus. Wir beobachten eine Verfahrenslogik, in der Tradition aufgenommen, aber konstruktiv erweitert wird.

17

Vgl. H . Lietzmann, Symbole der Alten Kirche, 5. Aufl. 1961, S. 27 und 3 6 f .

18

Vgl. Kelly, a . a . O . , S. 3 9 6 f ;

19

Vgl. H . Lietzmann, a . a . O . , S. 27 und S. 3 6 f .

20

Ritter, a . a . O . , S. 195.

21

Ritter, a . a . O . , S. 296, Anm. 1.

12

Einleitung

Die zweite Beobachtung ist an Kants Schrift „ D i e Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" gemacht 2 2 . Kants Versuch eines philosophischen Glaubens geht von der Voraussetzung aus, die Moral brauche keine religiöse Begründung. Das moralische Gesetz legitimiert sich selbst. Zwar konstatiert er' eine weitgehende Ubereinstimmung von christlicher und vernünftiger Moral, aber sie sind nicht identisch, und ihre Begründungen sind radikal verschieden. Der Glaube, den Kant bestimmen will, ist der moralische Glaube und im Gegensatz zu dem auf Offenbarung sich gründenden Kirchenglauben ein „bloßer Vernunftsglaube", der als der „reine Religionsglaube" 2 3 jedermann mitteilbar und von jedermann forderbar ist: „Wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch k ö n n e n " 2 4 . Zum Glauben kommen, gerechtfertigt sein, wird für Kant zu einer Veränderung der Denkungsart, und daraus folgt eine Reform der Sinnesart. Das ist eine deutliche Verschiebung des christlichen Glaubensbegriffes, aber sie wird von Kant als philosophische Erneuerung der reformatorischen Rechtfertigungslehre verstanden 2 5 . N u n ist aufschlußreich, daß aus dem moralischen Ansatz von Kant eine ethisch verstandene „ K i r c h e " entwickelt wird, nämlich die „Idee eines Volkes Gottes unter ethischen G e s e t z e n " 2 6 : „ E i n ethisches Gemeinwesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine Kirche, welche, sofern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche h e i ß t . . . . Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt" 2 7 . . . . „ D i e wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt" 2 8 . Diese Kirche hat als Kennzeichen: 1. Allgemeinheit (numerische Einheit) als Wichtigstes 2 9 , 2. Lauterkeit (Vereinigung unter keine anderen als morali22

Wir benutzten die A u s g a b e von W . Weischedel 1968, B d . 7, S. 6 4 5 f f .

23

a . a . O . , S. 762.

24

a . a . O . , S. 695.

25

V g l . A . Peters, S y s t e m a t i s c h e B e s i n n u n g zu einer N e u i n t e r p r e t a t i o n der r e f o r m a torischen R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e , in: R e c h t f e r t i g u n g im neuzeitlichen L e b e n s z u s a m m e n h a n g , Studien z u r Interpretation der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e . I m A u f t r a g des T h e o l . A u s s c h u s s e s der V E L K D , h r s g . v o n W . L o h f f und C h r . Walther, 1974, S. 116 f.

26

D i e R e l i g i o n innerhalb der G r e n z e n der bloßen V e r n u n f t , a . a . O . , S. 7 5 7 f f .

27

a . a . O . , S. 760.

28

a . a . O . , S. 761.

29

Vgl. a. a . O . , S. 761 ff.

Die Arbeitshypothese u n d ihre Implikationen

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sehe Triebfedern), 3. das Verhältnis unter dem Prinzip der Freiheit, 4. U n veränderlichkeit der Konstitution, veränderbare Administration. Die Struktur der Kirche vergleicht sich am ehesten einer Hausgenossenschaft unter einem moralischen Vater. Sie ist weder monarchisch (mit einem Papst) noch aristokratisch (mit Bischöfen) noch demokratisch (als sektiererischer Illuminaten). D e r Versuch, einen in der Wirkungsgeschichte des Christentums stehenden philosophischen Glaubensbegriff zu entwerfen, verzichtet nicht auf eine Ekklesiologie mit Kennzeichen der Kirche. Zu diesen Kennzeichen gehört auch die alte nota der Katholizität als wichtigste. Auch hier aber werden die Inhalte in Veränderung der Tradition neu konstruiert. Das Verfahren ist f o r mal analog. Die strukturellen Veränderungen im zentralen Glaubensverständnis wirken sich in der Ekklesiologie bis in die doch am Rande liegenden notae ecclesiae aus: D e r moralische Glaube bedingt die völlig ethisch geprägten Kennzeichen der Kirche. Die christliche Argumentationsstruktur scheint so stark zu sein, daß sie dem philosophischen Nachfolger des Christentums als Erbe zufällt. Die inhaltlichen Urteile werden vom Glaubensbewußtsein einer Zeit von einer Reflexionsstufe aus gefällt, auf der nicht mehr n u r beobachtet wird, was vorher war, sondern konstruktiv normierend im Kontakt mit dem, was vorher war, neue Inhalte gesetzt werden. An Kant ist zudem noch auffällig, daß die Grundorientierung des „ G l a u b e n s " einen Einfluß auf die Ekklesiologie und die notae hat. Die ethische Grundorientierung bedingt eine ethisch orientierte Ekklesiologie. Es scheint auch innerhalb dieser Reflexionsstufe ein hierarchisches Gefälle zu geben. Wir wollen n u n in P r ü f u n g unserer Arbeitshypothese diese theologiegeschichtlichen Beobachtungen auf eine sehr viel breitere Basis stellen. Diese Ausweitung der historischen Beobachtungen wollen wir — weil die Arbeitshypothese sich „evangelisch" versteht — an den traditionellen Bezugsgrößen evangelischer Theologie vornehmen. Damit verlassen wir aber bereits die Ebene der reinen Beobachtung, weil wir die Beobachtungen ganz gezielt auf bestimmte historische Gegebenheiten richten und andere vernachlässigen. U n d mit „evangelisch" geben wir ein O r d n u n g s k r i t e r i u m an, das logisch über den P h ä n o m e n e n selbst steht und sie aufeinander beziehbar macht. Dieser Wechsel der Ebenen ist nötig, u m zunächst isoliert voneinander stehende P h ä n o m e n e miteinander ordnen und vergleichen zu können. Dabei soll der Bezug auf Schrift und Reformation ganz allgemein verstanden sein.

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Einleitung

Die verschiedene normative Funktion von Schrift und Bekenntnis und die Funktion der Reformatoren stehen hier noch nicht zur Debatte. Evangelisch heißt hier nur: Diese Theologie steht in (noch zu klärenden) Beziehungen zur Schrift, den Bekenntnissen und den Theologien der Reformationszeit. Indem wir diese unter traditionell „evangelischem" Gesichtspunkt ausgewählten Glaubenstheorien (Glaubensverständnisse) analysieren, verbreitern wir das Beobachtungsmaterial. Die Analysen werden geleitet von den Fragestellungen, die wir der gegenwärtigen ekklesiologischen Problemstellung entnehmen. Wir müssen dabei aber an die verschiedenen Glaubensverständnisse verschiedene Fragen stellen. Wir können zum Beispiel das N e u e Testament nicht befragen, was es von den notae ecclesiae lehrt, weil es noch gar keine „ n o t a e " ecclesiae kennt, obwohl viele Theologien des N T die späteren „ n o tae" als Sachprobleme bereits vor Augen haben. Wir können fragen, ob das N T notae kennt, ob es die damit erfaßten Sachprobleme kennt und was darüber gedacht wird. Wir können die Frage nach der Verfahrenslogik stellen: Wie entstehen theologische Urteile oder Inhalte am Beispiel der Ekklesiologie? Dafür sind vor allem auch solche Theologien des Neuen Testamentes wichtig, die sich noch im Stadium der Entwicklung befinden, und solche, die bereits eine gewisse Verfestigung anstreben. Exemplarisch für diese steht das Problem des Frühkatholizismus und für jene die Theologie der Spruchquelle Q . Die Bekenntnisschriften und die Reformation können dagegen befragt werden, was sie von den nßtae ecclesiae lehren, weil sie Kennzeichen der Kirche aus der Tradition kennen und selber Kennzeichen schöpferisch neu konstruieren. Wir können aber auch fragen, wie und ob sich Veränderungen im Glaubensverständnis in den Kennzeichen niederschlagen. Am Neuen Testament hätte man nur sehen können, inwiefern ein zentral verändertes Glaubensverständnis ( z . B . die Christologie) die Ekklesiologie verändert. Wir haben aber die Reformation stärker auf diese Frage zugespitzt, weil hier die Veränderung bis in das Verständnis der notae verfolgt werden kann. U n d natürlich können wir hier auch wieder nach der Verfahrenslogik fragen. Am Neuen Testament und an dem reformationsgeschichtlichen Material können wir vielleicht auch hin und wieder die Ursprünge der Fragen erkennen, die sich der gegenwärtigen Ekklesiologie stellen. Die „traditionell evangelischen" Glaubensverständnisse bestätigen die am Konzil von 381 und an Kant gemachten Beobachtungen. Das werden unsere

D i e Arbeitshypothese und ihre Implikationen

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Analysen zeigen. Hier wie dort herrscht die Verfahrenslogik und die Argumentationsstruktur: Aus dem Glauben in jeweils neuer historischer Situation werden Inhalte des Glaubens begründet. Wir könnten dies auch so sagen: Auf allen diesen historischen Stufen des Christentums ist das Glaubensbewußtsein der jeweiligen Zeit das konstruktive Element, das alles, was ihm empirisch zugänglich ist, beschreibt und in der systematischen Reflexion selbst neue Inhalte des Glaubens normativ konstruiert und sie dann theoretisch und auf der Basis der Erfahrung ihrer Bewährung aussetzt. Wenn wir also, wie in der Hypothese vorgeschlagen, diese Verfahrenslogik für unsere systematisch-theologische Untersuchung in Anspruch nehmen wollen, so können wir sagen, daß wir damit wahrscheinlich in der mit „evangelisch" bezeichneten Kontinuität stehen. Diese Feststellung nennen wir, vielleicht etwas mißverständlich, Teilverifikation. Damit ist nur diese formale Analogie der Argumentationsstruktur gemeint, aber noch kein wirklich systematisches Urteil gefällt oder gar die Arbeitshypothese verifiziert. Dafür reicht die theologiegeschichtliche Betrachtung eben nicht aus, weil sie keine normative Kraft hat, sondern nur Phänomene gemäß einer gewissen Ordnung beschreibt. Eine nur theologiegeschichtlich versuchte Verifikation gerät nämlich in Schwierigkeiten, wenn man die Beobachtungen in die G e genwart hinein fortsetzt. Es ergibt sich ein ganz anderes Bild. Schon vorher waren Gegenbeispiele möglich und denkbar. Wir haben sie vielleicht nur nicht gesehen. Jetzt aber zeigt die Analyse der gegenwärtigen Ekklesiologien, die unter das traditionell „evangelische" Ordnungsraster fallen, sich also an Schrift und Reformation irgendwie orientieren, bisweilen eine ganz andere Argumentationsstruktur als wir es bisher beobachtet haben. Beispielsweise wird C A V I I als „ D o g m a " behandelt, mit dem die Kirche stehe oder falle 3 0 . Dieses Urteil über die prinzipielle Unveränderlichkeit eines theologischen Satzes ist in der Gegenwart ein ganz anderes als zur Zeit der Reformation, die noch nicht das ausgeprägte neuzeitliche historische Bewußtsein und den historisch-kritischen Apparat kannte, den wir kennen. In der Ekklesiologie werden traditionelle Theologien wie Versatzstücke aus der Tradition eingesetzt, ohne daß eine Begründung erkennbar wird. Wir haben schon davon gesprochen. 30

W . Eiert, D i e Botschaft des V I I . Artikels der Augsburgischen Konfession, in: A E L K Z 60, 1927, 1013, Zit. nach R . W e t h , a . a . O . , Manuskript S. 97.

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Einleitung

Manche übernehmen die klassischen „evangelischen" Kennzeichen, ohne das man wüßte, warum. Wenn Begründungen gegeben werden, so sind sie wenig überzeugend. Manche kehren zu den klassischen „katholischen" zurück, wiederum ohne daß man wüßte, warum. Manche reduzieren die Zahl der notae auf eine, zum Beispiel den Glauben, andere erweitern sie um eine oder mehrere Kennzeichen oder erklären die Zahl für offen. Wollte man theologiegeschichtlich unsere Hypothese verifizieren, wäre sie durch die gegenwärtig herrschende Konfusion schon falsifiziert. Die Arbeitshypothese hätte sich als nicht brauchbar erwiesen. Die theologiegeschichtliche Beobachtung hat aber gezeigt, daß die systematisch-theologischen Konstruktionen nicht auf der theologiegeschichtlichen Ebene der Beobachtung angesiedelt sind, sondern auf einer Ebene theologischer „Orientierungsprinzipien", die normative Kraft haben und von historischen Gegenbeispielen zunächst nicht betroffen sind. Die theologiegeschichtliche Beobachtung hat neben der Verfahrenslogik viele „Orientierungsprinzipien" gezeigt: zum Beispiel die Aussagen über den Geist von 381, später die Rechtfertigungslehre, die Praedestinationslehre, die „Theologie der Absonderung", die verschiedenen Kirchenverständnisse und — die verschiedenen notae selber. Auf dieser Ebene der Reflexion zeigt sich der in sich prozeßhafte Glaube, der Inhalte seiner selbst in theoretischer Konstruktion im Kontakt mit der Tradition und seiner Zeit entwirft und, wenn nötig, andere Konzepte verwirft. Wir sehen schöpferische Konstruktion des jeweiligen Glaubensbewußtseins der jeweiligen Zeit. Auf dieser Ebene begründet der Glaube seine Inhalte in schöpferischer Selbstauslegung selbst in engem Bezug zu seinen Uberlieferungen und den Fragen seiner Zeit. Solche „Orientierungsprinzipien" sind theologische Vorschläge, die sich theoretisch wie praktisch bewähren müssen. Sie sind für eine theologische Überlegung fruchtbar, indem sie erlauben, gemäß dem hypothetisch geäußerten Vorschlag zu verfahren, indem sie als unterscheidende, d . h . definierende Kriterien brauchbar sind usw. Die praktische Bewährung liegt dann darin, daß der gelebte Glaube mit diesen Orientierungspunkten seine Erfahrungen ordnen kann und damit in dem Bereich, für den die Arbeitshypothese Geltung hat, mit den Phänomenen umgehen kann. Solche „Orientierungspunkte" sind als Sätze wandelbar und können fehlerhaft sein, sie liegen nicht auf der Ebene von unveränderlichen Wahrheiten und von abstrakten logischen Notwendigkeitsaussagen. Gleichwohl sind diese Prinzipien normativ und zum Verständnis der vielfältigen Beobachtungen

Die Arbeitshypothese u n d ihre Implikationen

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notwendig. Erweisen sie sich als unfruchtbar, läßt sich mit ihrer Hilfe nicht das in der Hypothese Gewünschte erreichen, sind sie zu verwerfen oder zu verändern. Auch diesen Fall haben wir am theologiegeschichtlichen Material beobachten können. Die Reformation hat durchgängig von ihren Veränderungen auf dieser Reflexionsebene her die Inhalte des Glaubens und auch die notae verändert. Luther hat das von Paulus entworfene Rechtfertigungssystem durch das „simul iustus et peccator" ergänzt und erweitert. Freilich meinte er, dieses „simul" sei bei Paulus so angelegt. Aber er hat es, gewiß auch von Vorgängern dazu inspiriert, wie wir heute wissen, eben der Lehre hinzugefügt. Manche heutige Theologen, exemplarisch H . Küng, J. Moltmann und W . Pannenberg, kehren mit ausführlichen Begründungen zu den klassischen vier notae zurück, so wie auch wir es vorschlagen. Sie halten die reformatorischen — aus verschiedenen Gründen — gegenwärtig für unfruchtbar zur Lösung der Probleme, die sich mit den notae stellen. W i r werden darauf gleich noch einmal zurückkommen. Wir müssen also nach der breiten Darlegung des historischen Materials den eigentlich systematischen Verifikationsweg der notae einschlagen. Der Wert der theologiegeschichtlichen Analysen für dies Verfahren liegt darin, daß aus ihnen die Problemfelder bezeichnet werden, daß eine Verfahrenslogik vorgestellt worden ist, die weit verbreitet ist und die wir nun auf der neuen Reflexionsebene für uns in Anspruch nehmen, ohne daß über ihre „Wahrheit" damit schon etwas gesagt wäre, und daß wir „Orientierungsprinzipien" kennen, mit deren Hilfe andere Theologen und andere Zeiten die Inhalte und Strukturen des Glaubens konstruierten. Das für die Studie leitende „Orientierungsprinzip" nennen wir nun gemäß der Arbeitshypothese „evangelisch". Im Unterschied zu dem die theologiegeschichtlichen Beobachtungen lenkenden Aspekt wollen wir hier inhaltlich argumentieren und nicht mehr nur formal. Dazu müssen wir, neben der aus der Theologiegeschichte bereits bekannten Verfahrenslogik, die wir jetzt auch für die normative Ebene für uns beanspruchen, die Strukturen des gegenwärtigen Glaubens erstellen. Sie stellen sich uns dar als eine Konstellation von Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie auf den Grundlage des Weltverhaltens. Das ist das Orientierungsprinzip „evangelisch", mit dessen Hilfe wir versuchen wollen, unsere Arbeitshypothese zu verifizieren. Die Hypothese ist verifiziert, wenn sich die Kennzeichen der Einheit, Hei-

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Einleitung

ligkeit, Apostolizität und Katholizität aus ihnen begründen lassen und diese so definierten notae Richtungen zur Lösung der gegenwärtigen Probleme der Ekklesiologie zeigen. Nun sehen wir aber bei Kant, und auf die anderen Analysen vorgreifend können wir sagen auch bei Paulus, der Reformation und Küng, Moltmann und Pannenberg, daß auf dieser normativen Ebene eine unumkehrbare Hierarchie herrscht: Die Ekklesiologie (hier die notae) ist abhängig von anderen, offensichtlich übergeordneten „Orientierungsprinzipien": die Christologie (gleich welchen Inhalts) regiert die Ekklesiologie bei Paulus; die Rechtfertigung veränderte die notae in C A und bei Luther; die Prädestinationslehre veränderte die Ekklesiologie bei Calvin; die „Theologie der Absonderung" veränderte den Inhalt und die Zahl der notae; Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie prägen die Ekklesiologie von heutigen Theologen. Dieses Verhältnis ist, so zeigen die Beobachtungen, nicht umkehrbar. Solche Hierarchie setzten wir auch für unser „Orientierungsprinzip" „evangelisch" an. Die notae ecclesiae — ebenso die Kirche — sind ja auch Inhalt, „Struktur" des Glaubens, denn sie sind theologische Urteile, die auf der gleichen Reflexionsebene, nur abhängig von den übergeordneten, gefällt werden wie die anderen Strukturen. Sie gehören zum Credo von 381, dessen Formulierungen in vielen Kirchen bis heute in liturgischem und konfessionellem Gebrauch sind. Die Strukturen Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie auf der Basis des Weltverhaltens liegen auf einer höheren Stufe der Reflexionsebene, insofern sie normierend für die notae sind. Die vier notae bleiben als Begriffe formaler und deuten von ihrer begrifflichen Entwicklung nur Inhalte an. Die drei anderen Strukturen und deren Konstellation sind ganz und gar inhaltlich. Sie bilden deshalb einen höheren Reflexionsgrad, und das Verhältnis soll nicht umkehrbar sein. Dieser höhere Reflexionsgrad bedeutet auch nicht die Unwandelbarkeit und Unveränderlichkeit dieser Prinzipien. Sie sind auch Vorschläge, mit deren Hilfe Urteile gefällt und Phänomene gedeutet werden sollen. Wir suchen also auf der Ebene der hierarchisch gegliederten Orientierungsprinzipien den fraglichen theologischen Inhalt „notae ecclesiae", der selber normiert ist, aus den übergeordneten Orientierungsprinzipien Rechtfertigung, Trinität, Eschatologie auf der Basis des Weltverhaltens zu entwickeln und damit unsere Arbeitshypothese zu verifizieren. Wir wollen damit einen Vorschlag zur Lösung ekklesiologischer Probleme machen.

Die Arbeitshypothese und ihre Implikationen

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2. Die Arbeitshypothese impliziert die Entwicklung eines Kirchenverständnisses. Denn die Kennzeichen dienen ja dazu, Kirche zu erkennen, so wie ein Gegenstand X an seiner Eigenschaft Y erkannt werden kann, sofern die Erkenntnisbedingungen hinreichend sind. Eine Studie zu den Kennzeichen der Kirche muß also ein Kirchenverständnis vorlegen. Dieses Kirchenverständnis wird sich im Umkreis der Arbeitshypothese von den Strukturen des Glaubens her anbieten, die auf die Kennzeichen angewandt werden. Es wird sich von den Traditionen, aus denen es erwachsen ist, möglicherweise unterscheiden, weil es aus anderer Situation entstanden ist. Das entspricht der Hypothese. Es ist insofern ein „inneres Ziel" der Arbeit, als wir mit der Studie auch einen Beitrag zum Selbstverständnis und Handeln der Kirche leisten wollen. Die Veränderung gegenüber der Tradition ist vielleicht darin zu spüren, daß die Studie nicht mehr so zentral die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde zum Ausgangspunkt ihres Kirchenverständnisses nimmt. So wichtig dieser Ansatz ist, so wenig entspricht er gegenwärtiger Lebenspraxis der evangelischen Christen und so wenig entspricht er gegenwärtig gelebtem Christentum. Ereignet sich nicht „ K i r c h e " überall da, wo im Namen Jesu sich Menschen so verhalten, so denken, wie wir es in den Kennzeichen der Kirche beschreiben wollen? So wollen wir die Verkündigung des Evangeliums, Taufe und Herrenmahl die grundlegenden und zentralen Ereignisse von Kirche nennen. Aus ihnen ist der christliche Gottesdienst erkennbar. Aber die Verkündigung des Evangeliums darf nicht auf bestimmte, traditionell vorgegebene Bahnen religiöser Kommunikation eingeengt werden. Kirche ereignet sich auch da, wo das Evangelium Menschen außerhalb des Gottesdienstes verkündet oder im Umgang mit ihnen auch wortlos gelebt wird. Kirche ereignet sich in der Seelsorge, in Beratungsstellen, Mütterschulen, Arbeitskreisen, Bürgerinitiativen, der Diakonie und vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft, die vom Glauben an Jesus von Nazareth ergriffen sind 3 1 . Diese Formen von Kirche sind mit Wort und Sakrament als notae nicht zu erfassen, wohl aber mit den vier klassischen, in die die beiden anderen integriert sind. Vielleicht kann man auf der Grundlage des an den Kennzeichen demonstrierten Kirchenverständnisses einen Schritt auf dem Weg zur institutionellen Einheit der institutionell verschieden bleibenden Kirchen gehen, weil die hier vorgelegten Kennzeichen die kirchentrennenden Differenzen in der Auffassung von der wahren Kirche beseitigen helfen. 31

Vgl. W . H u b e r , Kirche, Themen der Theologie, Ergänzungsband, 1979, S. 4 8 .

20

Einleitung

In diesem Zusammenhang mag es überraschen, wenn die Studie, die sich ausgesprochen „evangelisch" versteht, nicht die herkömmlichen „evangelischen" Kennzeichen, die Lauterkeit des gepredigten Wortes und die rechte Verwaltung der Sakramente, analysiert, sondern die „katholischen", denen die Reformation ihre Verwertbarkeit als Kennzeichen ja abgesprochen und sie deshalb durch neue ersetzt hatte. Seither gibt es den Konflikt zwischen dem „evangelischen" und dem „katholischen" T y p . Wir halten diesen Konflikt für überholt, weil beide Typen von Kennzeichen für sich genommen an ihre Grenzen gekommen sind. D e r Einwand Bellarmins, die evangelischen notae könnten mehr kundtun, „ubi lateat ecclesia quamquam s i t " 3 2 , ist mit gleichem Recht auf ein Verständnis anzuwenden, das der römisch-katholischen Kirche exklusiv die Attribute zuspricht. Nach dem Zusammenbruch des traditionell fundamentaltheologischen Beweisverfahrens — darauf ist gleich noch zurückzukommen — muß auch die katholische Theologie mit einer aus dem Offenbarungsbegriff gefolgerten wesensmäßigen Verborgenheit der Kirche rechnen. Historisch hat die Bemühung um objektive Aufweisbarkeit der notae zu einer formalistischen Konzentration auf Äußerlichkeiten und das kirchliche A m t (speziell des Papstamtes) geführt. Dadurch wurden die Kennzeichen mehr und mehr von Inhalten entleert und sanken schließlich zu statistischen Merkmalen herab, die dann mit der Ideologie der geoffenbarten hierarchischen Gewalt legitimiert und sanktioniert worden sind. Das Ende dieses Weges ist der ekklesiologische Formalismus und das Schisma. Umgekehrt hat sich die Unbrauchbarkeit im Streit um Kirche oder Sekte als der entscheidende Nachteil der reformatorischen Kennzeichen erwiesen. Die Konflikte — nicht nur mit dem „linken Flügel" —, die einen separatistischen Ausgang hatten, demonstrieren, daß die Lauterkeit des gepredigten Wortes Gottes und die evangeliumsgemäße Sakramentsverwaltung keine wirklich unterscheidenden Kriterien gewesen sind. Jede am Konflikt beteiligte Gruppe trat ja mit dem Selbstverständnis auf, das reine Evangelium zu verkündigen und die Sakramente recht zu gebrauchen. Deshalb ist Pannenberg zuzustimmen, wenn er meint, das reformatorische Kriterium „hat heute angesichts der Pluralität und Realität der Theologien seine Eindeutigkeit und seinen deskriptiven Wert v e r l o r e n " 3 3 . Das Ende dieses Weges ist der ekklesiologische Relativismus.

32

Zit. nach A . Lang, Fundamentaltheologie B d . I I , 2. verm. Aufl. 1958, S. 153.

33

Thesen zur Theologie der Kirche, 1970, These 31, S. 21.

D i e Arbeitshypothese und ihre Implikationen

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W i r halten es deshalb für sinnvoll, in der gegenwärtigen historischen Situation beide Typen zu integrieren und wegen der ökumenischen Brauchbarkeit und der begrifflichen Weite die Attribute des Konzils von 381 als gegenwärtige notae ecclesiae zu problematisieren und zum Gegenstand der Studie zu machen. Hans Küngs Argument ist überzeugend: „ D i e vier Kennzeichen müssen jedenfalls, wenn sie echt sein wollen, auf den beiden anderen aufruhen: Was soll eine Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche, die nicht auf dem reinen Evangelium, der wahren Taufe und dem sinngemäß gefeierten Herrenmahl b e r u h t ? " 3 4 3. Was sind „ n o t a e " ecclesiae? In der römisch-katholischen Theologie unterscheidet man nach einem längeren Prozeß terminologischer Unsicherheit zwischen den „Kennzeichen" (notae) der Kirche und ihren „Wesenseigenschaften" (proprietates) 3 5 . Beide Begriffe haben sich seit dem 16. Jahrhundert zunehmend durchgesetzt, und die Unterscheidung ist seit dem 17. Jahrhundert Gemeingut. Sie wurde notwendig, weil sich die römisch-katholische Theologie nach zwei verschiedenen Seiten verteidigen mußte. Einmal hatte die sich formierende evangelische Theologie in ihren Bekenntnisschriften programmatische Aussagen zu den Kennzeichen der Kirche gemacht, die auf dem Hintergrund der altkirchlichen Symbole die Verkündigung des Evangeliums, Taufe und Herrenmahl, gelegentlich noch Amt oder Kirchenzucht, als neue notae definierten. Zum anderen mußte die römisch-katholische Theologie sich ebenso wie die reformatorische mit dem erwachenden Rationalismus auseinandersetzen, der dem christlichen Glauben seine vernünftige Grundlage nicht mehr nur hypothetisch, wie noch bei Anselm von Canterbury, bestritt und in seinen hervorragenden Vertretern sich selbst als Surrogat der Religion verstand. Hier mußte anders argumentiert werden als gegen die reformatorischen „ H ä r e t i k e r " , die doch immerhin „ C h r i s t e n " sein wollten. „Wesenseigenschaften" der Kirche sind in der Auseinandersetzung mit kritischen Rationalisten unbrauchbar, weil sie „Nichtglaubenden" das Wesen der Kirche nicht aufzeigen können. Sie argumentieren dogmatisch. Mit reinen Vernunftgründen ist nicht erfaßbar, daß die hierarchische Struktur, Sichtbarkeit, Heilsnotwendigkeit, volle Selbständigkeit, Indefektibilität und Infallibi-

34

Die Kirche, ö k u m e n i s c h e Forschungen 1/1, 1967, S. 319.

35

Vgl. dazu Y . Congar, Mysterium salutis I V / 1 , 1972, s. 3 5 7 f . und G . Thils, Les N o t e s de l'Eglise dans l'Apologétique Catholique depuis la R é f o r m e , 1937.

3

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

22

Einleitung

lität zum Wesen der Kirche gehören 36 . Anders verhält es sich mit den vier Attributen der Kirche, die in der Vierzahl seit dem Konzil von 381 von der Kirche geglaubt werden. Auch sie sind „proprietates", aber sie sind — nach damaliger Überzeugung jedenfalls — auch mit den Mitteln der Vernunft zu begreifen. Um sie kann mit der kritischen Vernunft gestritten werden. Im Unterschied zu den „Wesensmerkmalen der Kirche müssen die ,notae' folgende Bedingungen erfüllen: Sie müssen bekannter sein als die Kirche selbst, sie müssen allen Menschen zugänglich, für die wahre Kirche eigentümlich und mit dieser unzertrennlich verbunden sein." Daraus folgt: „Die notae sind somit Proprietäten, welche die Kirche kennzeichnen und sie als Kirche erkenntlich machen." 3 7 Dementsprechend werden traditionell die Kennzeichen in der Fundamentaltheologie erörtert, deren Aufgabe es war, die Wahrheiten des christlichen Glaubens ohne Rückgriff auf die geoffenbarten Wahrheiten und unfehlbaren Glaubensentscheidungen vor dem Forum der allgemein-menschlichen Vernunft darzulegen. Diese Form der Fundamentaltheologie ist aber durch die moderne exegetische Forschung in eine ausweglose Krise geraten. Vor allem war es doch ihr grundlegendes Interesse, in ekklesiologischer Hinsicht die Gründung der Institution der Kirche mitsamt ihrer Hierarchie und ihren vier Merkmalen durch Jesus selbst nachzuweisen 38 . Es ist inzwischen unter den Exegeten nicht mehr umstritten, daß dies nicht möglich ist. Der historische Jesus hat keine Kirche gegründet, und der Jüngerkreis ist der historische, nicht der theologische Vorläufer der nachösterlichen Kirche 39 . 36

Vgl. Y . Congar, a . a . O . , S. 3 5 8 f .

38

A . Längs Fundamentaltheologie will im Obersatz (quaestio iuris) historisch und

37

ders., ebd.

empirisch beweisen, „daß Christus seiner Kirche die vier Merkmale als bleibende Eigenschaften und als Erkennungszeichen mitgegeben und verheißen h a t " , Fundamentaltheologie Bd. II, 2. verm. Aufl. 1958, S. 154, und daß diese sich ausschließlich in der römisch-katholischen Kirche finden (als „quaestio facti"

=

„Untersatz"). 39

Vgl. z . B . K. Kertelge, Gemeinde und Amt im N T , 1972, S. 3 6 : Jesus hat den Begriff ¿KKXr)oia nicht selber auf seine Jüngergemeinde angewandt. Damit ist auch der einzige historische Beleg hinfällig, den Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, S. 324 f. anführt, nachdem er zuvor versichert hat, der Erweis der historischen Wahrscheinlichkeit einer Stiftung der Kirche durch Jesus werde nach den „indirekten" Überlegungen positiv erbracht. Vgl. O . Kuss, Bemerkungen zum Fragenkreis: Jesus und die Kirche im N T , in T h Q 135 (1955), S. 28—55; A . Vögtle: Jesus und die Kirche, in: Begegnung der

D i e A r b e i t s h y p o t h e s e und ihre I m p l i k a t i o n e n

23

Daher arbeitet die katholische Theologie seit geraumer Zeit an der Uberwindung des fundamentaltheologischen Engpasses ebenso wie an einer N e u begründung der traditionellen Dogmatik, die Karl Rahner seinerzeit spöttisch mit „Denzinger-Theologie" bezeichnet hat, weil sie sich im wesentlichen auf lehramtliche Äußerungen stützte. Das mehrbändige und in internationaler Gemeinschaftsarbeit erstellte Werk „Mysterium salutis" ist das Ergebnis des Versuchs, die klassischen Disziplinen durch die von Rahner entwickelte Methode der „transzendentalen Reflexion" zu überholen. Nach Rahner könnte man diese Form der Theologie „Transzendentaltheologie" nennen, also „diejenige systematische Theologie . . . , die sich a) des Instrumentars einer Transzendentalphilosophie bedient und auch b) ausdrücklicher als früher nicht nur ganz im allgemeinen (wie es die traditionelle Fundamentaltheologie tut) und von genuin theologischen Fragestellungen her die apriorischen Bedingungen im glaubenden Subjekt für die Erkenntnis wichtiger Glaubenswahrheiten thematisiert (wenigstens dort, wo eine solche transzendentale Fragestellung nicht von vorneherein wegen der Natur des Gegenstandes einer Erkenntnis unmöglich ist)" 4 0 . Rahner will also die exegetischen Ergebnisse und die dogmatischen Feststellungen in eine Form der Theologie einbinden, die den Nachweis einer transzendentalen Notwendigkeit dogmatischer Aussagen führen will und zugleich die Geschichtlichkeit der Theologie in einer heilsgeschichtlichen Grundlegung aufnimmt. Solcher ontologisch und anthropologisch argumentierenden Theologie geht aber ein Begriff von Offenbarung und Kirche voraus, die die transzendentalen Bedingungen dieser Theologie sind. Daher setzt diese neue Form der Fundamentaltheologie nicht

C h r i s t e n ( F e s t s c h r i f t O . K a r r e r ) , 1959, S. 5 4 - 8 1 , d e r s . : M e s s i a s b e k e n n t n i s u n d Petrusverheißung. Z u r K o m p o s i t i o n v o n M t 1 6 , 1 3 - 2 3 (1957) in: D a s E v a n g e l i u m u n d die E v a n g e l i e n , 1971, S. 1 3 7 - 1 7 0 ; H . K ü n g , D i e Kirche, 1967, S. 9 0 f f . u n d d e r s . , Christsein, 6. A u f l . 1975, s. 2 7 5 f f . Z u m A m t vgl. K e r t e l g e , a . a . O . , S. 4 0 : „ A u c h die katholische T h e o l o g i e der G e g e n w a r t erwartet nicht mehr o h n e weiteres eine unmittelbare R ü c k f ü h r u n g v o n kirchlichen Institutionen, die erst in späterer Zeit ihre b e s t i m m t e geschichtliche Gestalt g e f u n d e n haben, auf den historischen J e s u s . D e n n o c h behält f ü r sie der Satz, daß J e s u s C h r i s t u s die K i r c h e g e g r ü n d e t hat, sein t h e o l o g i s c h e s R e c h t . " 40

A r t . : T r a n s z e n d i n t a l t h e o l o g i e , in: S a c r a m e n t u m M u n d i , B d . I V , 1969, S p . 987. Vgl. a u c h : Ü b e r l e g u n g e n z u r M e t h o d e der T h e o l o g i e , Schriften z u r T h e o l o g i e B d . I X , 1970, S. 7 9 - 1 2 6 ; M y s t e r i u m salutis I, 1965, S. 1 9 f f . , G r u n d k u r s des G l a u b e n s , 1976, S. 320 f f .



Einleitung

24

mehr „voraussetzungslos" an 4 1 . Aber die Methode bedingt eine heilsgeschichtliche Entfaltung der Dogmatik, die dann nicht mehr nur einfach die eigentlichen Dogmen zum Gegenstand hat. Y . Congar zieht aus dieser veränderten Lage die Konsequenz und verzichtet auf die traditionelle fundamentaltheologische Behandlung der notae. E r spricht nur noch von „Weseneigenschaften", weil er jede „Offenbarungsapologetik" 4 2 ablehnt. Freilich ist dieser Verzicht nicht allein aus dem Programm von „Mysterium salutis" zu erklären. E r hängt auch mit der Unsicherheit zusammen, die sich bezüglich der Kennzeichen nach den Dokumenten des Vaticanum II ergibt. Wir werden davon noch ausführlicher sprechen. Die „ n o t a e " sind Kennzeichen der Kirche. In ihnen gibt sich die Kirche zu erkennen. Sie sind Ereignisse der Kirche und als solche Zeichen, die in ihrem notwendig partikularen Ereignis werden auf das Ganze der Kirche verweisen. Insofern sind die Zeichen Verweisungsbegriffe, die Ereignisse in der Dimension des Ganzen verstehen und erkennbar machen wollen. Das macht ihren „schwebenden" Charakter aus. Im Verweis auf das Ganze der Kirche transzendieren sie diese immer wieder auf den das Ereignis tragenden G o t t hin. Sie wollen als menschliches T u n , im Vertrauen auf Verheißung und Erfüllung, die Präsenz des Heiles des Gottes, der in Christus war, anzeigen. Sie sind deshalb als Zeichen der Kirche Zeichen für das Geschehen von „ G e i s t " . Dann sind die Zeichen sichtbar und unsichtbar zugleich. Sie sind sichtbar, insofern menschliches Tun und Denken den Sinnen und der theoretischen Erkenntnis zugänglich sind. Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität sind als Ereignisse und als Begriffe erkennbar, fühlbar und verstehbar. Deshalb kann die Kirche auch von Menschen, die nicht zu ihr gehören, an ihre eigenen Kennzeichen kritisch erinnert werden. Wenn die Kirche beispielsweise ihr Kennzeichen der Einheit immer wieder in exklusiven Partikularitäten verleugnet, dann kann daran jeder, der einen Begriff von Einheit, die aus Vielfalt kommt, besitzt, der Kirche ihren eigenen Anspruch vorhalten. Aber zugleich ist die Wahrheit der Kirche in dem M a ß verborgen, wie der Glaube verborgen ist. Nicht verborgen ist der Anspruch des Glaubens auf „ W a h r h e i t " , auf ein in Jesus geborgenes Leben. Verborgen aber ist, ob es dies alles „wirklich" gibt, ob der Anspruch zu Recht erhoben wird. D e r Glaube partizipiert an der Verborgenheit seines Bezuges: so wie G o t t sub contrario

41

Vgl. H . Fries: A r t . : Fundamentaltheologie, Sacramentum Mundi, B d I I , 1968, Sp.

42

Vgl. a . a . O . , S. 306.

140 ff.

Die Arbeitshypothese und ihre Implikationen

25

handelt und deshalb sein Handeln mißdeutbar ist, so auch der Glaube, der von der Präsenz Gottes im auf Jesus verweisenden Geist lebt. Er unterliegt als Lebensvollzug den „Zweideutigkeiten des Lebens" (Tillich), ist mißdeutbar, mißverstehbar, mißbrauchbar. Auch der Glaube kann sich über sich täuschen — er ist angefochtener Glaube, dem sich sein Glück in Gott immer wieder verstellt. Es gibt für den gelebten Glauben keine grundsätzliche Aufhebung der Abscondität seines Grundes und seines Seins. Die Zeichen der Kirche sind also einerseits für den Glauben erkennbar. Er bezieht im Glauben die Partikularitäten auf das Ganze der Kirche und der Wirklichkeit überhaupt. Aber auch für den Glauben sind die Zeichen verhüllt und nur im Zugleich von Verhüllung und Klarheit wirklich und lebendig existierend. Die Zeichen der Kirche sind öffentliche Geheimnisse.

II. D I E N O T A E E C C L E S I A E IN DER GEGENWÄRTIGEN T H E O L O G I E Die Ekklesiologie der Gegenwart ist evangelischerseits darauf ausgerichtet, die Kirche in ihrer Funktion innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft oder innerhalb der geschichtlichen Bewegung zur Heraufführung des Reiches Gottes zu verstehen 1 . Dabei wird versucht, das Wesen der Kirche nicht mehr ontologisch, sondern funktional zu bestimmen, und die Entontologisierung wird unter dem Stichwort der Eschatologie vorgenommen. Die katholische Theologie arbeitet an dem Versuch, die traditionelle fundamentaltheologische Ekklesiologie ebenso zu überwinden wie die sich im wesentlichen auf lehramtliche Äußerungen stützende Dogmatik. Es wäre hilfreich, wenn man die Lehre von den Kennzeichen der Kirche typologisch gemäß der im Westen entstandenen Konfessionen ordnen könnte. Danach würden lutherische Theologen die Kennzeichen der Kirche gemäß C A VII angeben, Reformierte würden gemäß der reformierten Lehrentwicklung nach Calvin den beiden Kennzeichen Wort und Sakrament noch die Kirchenzucht hinzufügen, und gemeinsam würden beide die klassischen Kennzeichen des Nicaeno-Constantinopolitanums von 381 als Prädikate beibehalten. Katholische Theologen würden dann gemäß der dogmatischen Entwicklung seit Bellarmin und Gregor von Valencia und der Exklusivität des Konzils von Trient die protestantischen notae zurückweisen, weil sie eher verhüllen als deutlich zeigen, wo die wahre Kirche ist, und an deren Stelle weiterhin die Kennzeichen des Symbols exklusiv für die um die römische cathedra versammelte Kirche behaupten. Diese Typologie geht jedoch nicht auf. Die Konfessionsgrenzen, die das 16. Jahrhundert aufgerichtet hat, sind heute besonders im Protestantismus verwischt. Aber sie werden trotzdem noch partiell theologisch markiert. So gibt es die lutherisch orientierte Gruppe, derzufolge die Kirche an Zeichen erkannt werden muß, die in ihrer Dynamik das kircheschaffende Handeln Gottes sowohl zum Ausdruck bringen als auch selber sind 2 . 1

2

Vgl. E. Lessing, Neuere Literatur zur Ekklesiologie, in: V u F 17, 1972, S. 3 8 f . ; C . H . Ratschow, Die Lehre von der Kirche, Festschrift Thimme, 1974, S. 205ff. E . Kinder, Der evangelische Glaube und die Kirche, 1958, S. 50ff.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

27

Die notae verae ecclesiae müssen also etwas an der Kirche kennzeichnen, das der Kirche nicht direkt zu eigen ist, aber in ihr wirkt und ihr aufgegeben ist. Weil sich Gottes kircheschaffendes Handeln aber nicht gegenständlich manifestiert, können die gesuchten Kennzeichen nicht „seinshaft-statischer" Art sein, sondern müssen „bei den Wirkmitteln des kircheschaffenden Handelns Gottes" gesucht werden 3 . Dies sind die lautere Verkündigung des Evangeliums und der stiftungsgemäße Vollzug der Sakramente. Dagegen sind die katholischen Kennzeichen lediglich Eigenschaften, weil sie aus dem erhoben werden, „was die Kirche in sich ist oder hat"*, ohne nach dem wahren Grund des Seins der Kirche zu fragen. Davon ist die reformatorische Grundauffassung der Kirche diametral zu unterscheiden, insofern sie die Kennzeichen bei dem sucht, „was die Kirche zur Kirche macht" 5 . An diesen klassischen evangelischen Kennzeichen hält aber auch der sonst reformiert denkende Otto Weber trotz mancherlei Bedenken fest und lehnt die „disciplina" als selbständige nota ab, weil sie zur Gesetzlichkeit führt, wenn sie nicht als Geschehen zwischen Wort und Sakrament verstanden wird 6 . Die von der Augsburgischen Konfession vorgegebene Zweizahl kann dann bisweilen noch einmal auf ein Kennzeichen konzentriert werden: „Untrügliches und ausreichendes Kennzeichen der Kirche ist die Darbietung des Evangeliums in Verkündigung und Sakrament. Denn in diesem Begriffe ist das Subjektive ebenso beschlossen wie das Objektive, der Glaube ebenso wie das Evangelium" 7 . 3

a . a . O . , S. 51, Hervorhebung von Kinder.

4

a . a . O . , S. 104, Hervorhebung von Kinder.

5

ebd. Vgl. auch W . Eiert, D e r christliche Glaube, 5. ern. durchges. Aufl. 1960. F ü r Eiert sind Predigt des Evangeliums und die Sakramente das „Wesentliche an der Kirche, weil sich darin die fortlaufende Beziehung Christi und seines Geistes auf die Welt vollzieht" (S. 405). Beide Kennzeichen sind auf die sichtbare Kirche bezogen, weil die Kennzeichen zugleich die Verfassung der Kirche sind: „ D a s Verfaßtsein in W o r t und Sakrament ist die absolut obligatorische Dauerordnung der K i r c h e " und ius divinum im strengen Sinne, „eine O r d n u n g , die unbedingt gilt und in Geltung bleibt, auch wenn sie gebrochen wird. Alle andere O r d n u n g in der Kirche ist jus h u m a n u m " (S. 416). Aus dem Vollzug der wesentlichen Funktionen sind dann die „ P r ä d i k a t e " abzuleiten.

6

Vgl. O . W e b e r , Grundlagen der D o g m a t i k , 2. unv. Aufl. 1972, B d . I I , bes. S. 6 0 5 - 6 0 7 .

7

P . Althaus, D i e christliche Wahrheit, 4. durchges. Aufl. 1958, S. 501.

28

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Indem Althaus formal die Angaben von CA VII konzentriert, erweitert er inhaltlich die Kennzeichen der Kirche, die man ja auch rein funktional verstehen kann, durch den Glauben, der quasi die subjektive Seite des verkündigten Evangeliums ist. Der Glaube der Christen gehört für Althaus daher ebenso in den Kirchenbegriff hinein wie das von Kinder so hervorgehobene Geschehen von Wort und Sakrament, das als gleichsam Objektives die Kirche zur Kirche macht, obwohl es der Kirche nicht eigen ist. Die von Althaus betonte Sicherheit des Glaubens der Glieder der Kirche nähert sich sehr den bekannten Syllogismen der calvinistischen Tradition, obwohl Althaus sich hütet anzugeben, worin denn der Glaube sichtbar sei. Allein die formale Versammlung um Wort und Sakrament kann ja doch nicht die Sichtbarkeit sein. Ähnlich wie Althaus konzentriert Hans Graß das eigentliche Kennzeichen der Kirche auf die Verkündigung des Evangeliums 8 . Diese Konzentration bedeutet aber nicht, daß es nicht auch andere notae geben kann, zu denen Taufe und Abendmahl und mit Einschränkung Ethos, Leiden, Gebet und Frömmigkeit gehören. Kirchenzucht ist freilich als pure Gesetzlichkeit entschieden abzulehnen, während die Diakonie zwar untrennbar zur Kirche gehört, aber nicht in den Rang einer nota erhoben werden kann 9 . Eine Zwischenstellung nimmt W. Huber ein 10 . Er unterscheidet die „klassichen Attribute" von den Kennzeichen der Kirche gemäß den lutherischen Bekenntnisschriften: Verkündigung des Evangeliums, Taufe und Abendmahl (S. 60f.). An diesen notae erkennt man die Christlichkeit eines Gottesdienstes: „Das ist die klare, in keinem Sinn überholte Auskunft des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 (Art VII)" (S. 99). Sie sind „äußere Mittel" (S. 39) und Teil der Institution. Die „notae" werden auf die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde bezogen. Demgegenüber beschreiben die Attribute die Verheißung, unter der die Kirche steht: „Sie sind Attribute der geglaubten Kirche" (S. 90) und sie konvergieren darin, daß sie die Universalität der Kirche ausdrücken wollen (vgl. S. 33). „Sie sind zugleich Kriterium dafür, wie die geglaubte Kirche in der erfahrenen Kirche wahrgenommen werden soll. Und sie sind damit Orientierung für die Gestaltung der erfahrenen Kirche: Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität als der Kirche vorgegebene Attribute werden zu Perspektiven kirchlichen Handelns und kirchlicher 8 9 10

Vgl. H . Graß, Christliche Glaubenslehre II, 1974, S. 112. Vgl. a . a . O . , S. 113f. W. Huber, Kirche, Themen der Theologie, Ergänzungsband, 1979; die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

29

Ordnung. Sie müssen dies werden, wenn anders Bekenntnis und Leben, Botschaft und Ordnung der Kirche in einer Entsprechung zueinander stehen sollen" (S. 90). Die Problematik der notae wird also innerhalb der Spannung von erfahrener und geglaubter Kirche behandelt, und die notae werden der „erfahrenen", also der empirischen Kirche zugeordnet, die in ihrem formalen Vollzug auch dem Nichtglaubenden zugänglich sind. Die Attribute gehören in den Bereich des Glaubens und normieren deshalb die empirische Kirche, setzen ihr Ziele für Handeln und Ordnung. Trotz dieser in sich klaren Unterscheidung meint Huber, es gebe noch andere Kennzeichen der Kirche. Er beruft sich hierbei auf Luthers Schriften „Von Konziliis und Kirchen" und „Wider Hans Worst" (Vgl. S. 99f.). Welche dies aber gegenwärtig sind, bleibt freilich offen. Oder will Huber Luther folgen? Vielleicht kann man einiges erschließen: „Initiativgruppen" sind eine „Gestalt vo'n Kirche", „wenn sie sich auf den Namen Jesu berufen, wenn sie in ihrem Zusammenleben und in ihrem Handeln sich vom Wort und Geist Jesu bestimmen lassen" (S. 48). Also gibt es auch Kirche ohne die „notae" von C A VII? Weiter kann eine Kirche, die eine Hierarchie hat, offenbar keine Kirche sein, weil damit gegen das elementare Recht auf Gleichheit verstoßen wird (Vgl. S. 136)? Es bleibt rätselhaft, welchen Sinn der apodiktisch vorgetragene Satz, die Kirche sei heute die Ökumene, noch haben könnte (Vgl. S. 32 u . ö ) . Insgesamt bleibt auch bei Huber unklar, weshalb C A VII die „notae" sind, die anderen aber die „Attribute", also keine Kennzeichen, vielmehr Perspektiven. Lassen sich Wort und Sakrament so veräußerlichen und der empirischen Kirche zuordnen — wenn doch andererseits mit Recht gesagt wird, die Kirche werde durch das Wort Gottes begründet und gebaut (Vgl. S. 61), was an äußeren Merkmalen nicht ablesbar ist (Vgl. S. 113)? Zu den wenigen, die an der reformierten Erweiterung der ursprünglichen reformatorischen Kennzeichen festhalten, gehört J. M. Lochman 1 1 . Insofern die reformierte Tradition den Nachdruck auf die „vitae oboendientia" legte, überschritt sie die Verengung auf den geistlich-liturgischen Bereich, die im lutherischen Raum nahelag, und lenkte den Blick auf die mit dem Christentum zugleich gesetzte Veränderung der Welt. Daher ist die Frage der Kirchenzucht auch heute noch von großer Wichtigkeit, obzwar die kontroverstheologische

11

Vgl. F. Buri, J. M. Lochman, H. Ott, Dogmatik im Dialog, Bd I, 1973, S. 33.

30

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Dimension in der Frage nach der wahren und falschen Kirche mehr und mehr zurückgedrängt worden ist zugunsten des anderen Aspekts der Lehre von den notae ecclesiae, nämlich der Frage nach dem rechten Kirchenverständnis. In diesem bis heute relevanten Ringen kann die reformierte Eigentümlichkeit zeigen, daß wahre Kirche „nicht nur in der Orthodoxie ihrer Lehre (geschieht), sondern in der Orthopraxie ihrer Nachfolge" 1 2 . Zwischen den Theologen, die an der ursprünglichen Formulierung von C A VII festhalten, denjenigen, die die Tendenz von C A VII aufnehmen und die dort genannten beiden Kennzeichen auf eines zuspitzen, und denjenigen Theologen, die an der reformierten Dreizahl festhalten, versucht Hans Joachim Kraus eine Mittelposition einzunehmen und zugleich neue notae zu entwickeln. Neue Kennzeichen sind nötig, weil sich die Kirche an die in C A VII genannten gewöhnt hat und sich durch ihren „formal exakten Vollzug gerechtfertigt sieht" 1 3 . So nennt Kraus schließlich fünf Kennzeichen, deren erste drei ein Spiegelbild der verwischten Konfessionsgrenzen und der bereits beschriebenen theologischen Entwicklung darstellen. Erstes Kennzeichen ist „die unverfälschte Verkündigung des Evangeliums und die Antwort der Gemeinde im Gebet, Lob und Bekenntnis. Zweites Kennzeichen ist der der Einsetzung durch Jesus Christus entsprechende Vollzug der Taufe und Tischgemeinschaft mit dem erhöhten gegenwärtigen Kyrios. Drittes Kennzeichen sind die Lebensfolgen des Evangeliums in den Anfängen eines verlängerten Lebens, das nur in einem neuen Zusammenleben realisiert werden kann . . . . Viertes Kennzeichen ist die bedingungslose Anerkennung und Verwirklichung der Tatsache, daß die Ekklesia dem kommenden Reich Gottes allen Raum und alle Zeit und alles Recht hinzugeben hat . . . . Fünftes Kennzeichen: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist!" (Bezug auf Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 261 und Karl Barth, KD IV/3, S. 884, d. Verf.). „sie ist ,Kirche für die Welt', oder sie ist keine Kirche mehr" 1 4 . Diese fünf Kennzeichen sind Kriterien auch für die institutionelle Kirche. Sie sind aber nicht deren notae. Denn Kraus unterscheidet fundamental zwischen der Ekklesia als der charismatischen Gemeinde, die die „Vorhut des Reiches Gottes" ist 1 5 , und der institutionellen Kirche, die „im Medium der Religion" existiert. Deren Kennzeichen sind „Organisation und Herr-

>2 ebd. Reich Gottes: Reich der Freiheit, 1975, S. 383. 14 ebd. 15 a . a . O . , S. 376. 13

D i e notae ecclesiae in der gegenwärtigen T h e o l o g i e

31

Schaft, Tradition und Ordnungsrecht, unbedingter Kontinuitätswille und unablässige Vorsorge im Blick auf den zukünftigen Bestand" 1 6 . Solche Kennzeichen sind freilich der reine Widerspruch zur charismatischen Ekklesia, noch mehr: sie sind „Widerstand gegen den Creator spiritus" 1 7 . Deshalb bezieht sich der Glaube ausschließlich auf die charismatische Ekklesia. Sie ist der Ort des Glaubens ( „ C r e d o in ecclesia") und Objekt des Glaubens ( „ C r e d o (in) ecclesiam") 1 8 und als solche dazu bestimmt, „Zeuge des kommenden Reiches Gottes zu sein" 1 9 . Diese Ekklesia tritt aus der institutionellen Kirche — die gleichwohl ihr „Ermöglichungsgrund" sein soll 2 0 — heraus und trägt als Kriterium der institutionellen Kirche „die Signatur einer Veränderung wirkenden G r u p p e " und „ i s t . . . einfach mit ihrem Dasein die Negation alles Bestehenden" 2 1 . Neben dieser doch wesentlich auf den reformatorischen Kennzeichen aufbauenden Gruppe gibt es aber auch innerhalb der evangelischen Theologie Theologen wiederum ganz unterschiedlicher konfessioneller Herkunft, die im Gegensatz zur reformatorischen Entwicklung an den traditionellen katholischen notae ecclesiae festhalten. Zu dieser Gruppe gehört Karl Barth, dessen Kirchenbegriff sich mehrfach gewandelt hat 2 2 .

16

ebd.

17

ebd.

18

Vgl. a . a . O . , S. 379.

19

ebd.

20

a . a . O . , S. 376.

21

a . a . O . , S. 383. e b d . ; U n t e r den „ n e u e n " G r u p p e n will K r a u s w e d e r die pietistischen „ E c c l e s i o l a e in e c c l e s i a " , noch die s o g e n a n n t e K e r n g e m e i n d e verstehen (S. 381). E r denkt mehr an „ H a u s g e m e i n d e n " und nicht näher beschriebene „ G r u p p e n " (381, 386, 3 9 0 f f . ) . E s bleibt freilich sein G e h e i m n i s , wie »ich die S t r u k t u r dieser G r u p p e n mit den notae der E k k l e s i a verträgt. D i e s e n G r u p p e n fehlt nämlich neben d e m B e d ü r f n i s , ihre eigene E x i s t e n z zu sichern, die A u s b i l d u n g eines S y s t e m s v o n „ N o r m e n u n d Verhaltensweisen . . . d a s für die G l i e d e r der G r u p p e verpflichtend w ä r e " (S. 391). D i e notae der K i r c h e , b e s o n d e r s aber die N e u f a s s u n g der reformierten disciplina in der K r a u s s c h e n dritten, beruhen ja auf einem normativen D e n k e n , u n d g e r a d e die disciplina k o m m t nicht o h n e G e s e t z aus. K r a u s b e g r ü n d e t sie selber durch V e r w e i s auf das G e b o t (vgl. S. 3 8 3 ! ) .

22

Ich folge hier der ausgezeichneten A n a l y s e M . H o n e c k e r s in: K i r c h e als G e s t a l t und E r e i g n i s , 1963, S. 1 5 7 f f .

32

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

V o m „ R ö m e r b r i e f " , der die Kirche als Institution nur unter dem O b e r thema „ K r i s i s " in den Blick bekommt und in ihr den energischsten Versuch, „das Göttliche zu vermenschlichen, zu verzeitlichen, zu verdinglichen, zu verweltlichen, zu einem praktischen Etwas zu m a c h e n " 2 3 , sieht, wandelt sich der Kirchenbegriff „zwischen den Zeiten" zum „dialektischen Kirchenbegriff". Darin steht die Kirche für Barth als die „Sünderkirche" in der Mitte zwischen G o t t und Mensch und verdankt diesem O r t relative Autorität. Das Kennzeichen dieser Kirche ist das die Offenbarung verhüllende W o r t , und als Wort vom Kreuz wird es in der Verkündigung „das Kennzeichen des Wesens der evangelischen K i r c h e " 2 4 . Die Kirche ist die Kirche unter dem Kreuz, die sich im Akt der Verkündigung und des gehorsamen Hörens des Wortes ereignet. D e r dialektische Kirchenbegriff wird schließlich in der „ K i r c h lichen D o g m a t i k " abgelöst von dem christologischen, der den Ausdruck Kirche zu vermeiden trachtet und ihn meist durch „ G e m e i n d e " ersetzt, weil Barth von der vom lebendigen Christus versammelten Gemeinde als einem Geschehnis einer bestimmten Geschichte ausgehen will: „Kirche ist, indem es geschieht, daß G o t t bestimmte Menschen leben läßt als seine Knechte, Freunde, Kinder, als Zeugen der in Jesus Christus schon geschehenen Versöhnung der ganzen Welt mit ihm . . . .

Kirche ist, indem sie geschieht, und sie

geschieht in Gestalt einer Folge und eines Zusammenhanges bestimmter menschlicher Tätigkeiten" 2 5 . Diese Gemeinde „ist Jesu Christi eigene irdischgeschichtliche E x i s t e n z f o r m " 2 6 . Barth erklärt diese Definition am neutestamentlichen Motiv des Leibes Christi. Dessen Prädikate sind die Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, die das im Glauben sichtbare Sein der Gemeinde erläutern 2 7 . Innerhalb der Prädikationen des Seins der Gemeinde sieht Barth eine Klimax in der Apostolizität der Gemeinde, die über die anderen drei Prädikate hinaus nichts Neues besagt, aber „das konkrete geistliche

23

D e r Römerbrief, 2 . Aufl. 1921, S. 3 1 6 f . D i e Bestimmung der Kirche als dem O r t , an dem der Abgrund zwischen Evangelium und menschlicher Möglichkeit wie nirgends sonst klafft, gipfelt in der T h e s e : „ D a s Evangelium ist die Aufhebung der Kirche, wie die Kirche die Aufhebung des Evangeliums ist" (S. 317).

24

n. H o n e c k e r , a . a . O . , S. 169.

25

K D I V / 1 , S. 727 f.

26

a . a . O . , S. 738.

27

Vgl.

a.a.O.,

Prädikaten

als

S. 7 4 6 f f . A n anderer Stelle spricht Barth aber auch von „Wesenseigenschaften",

gehören. Vgl. K D I V / 2 . S. 608.

die

offenbar

notwendig

zur

den

Kirche

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

33

Kriterium zur Beantwortung der Frage: wo und inwiefern wir es da und dort mit der einen, heiligen, katholischen Kirche zu tun und nicht zu tun haben?" liefert 2 8 . Daher ist das Prädikat des Apostolischen „die einzige nota ecclesiae" 2 9 . Apostolisch aber bedeutet bei Barth nichts anderes als „gebunden an die Schrift", und dies hängt zusammen mit dem christologischen Begründungszusammenhang der Ekklesiogie. Weil die Kirche die irdisch-geschichtliche Existenzform Jesu Christi ist, ist ihre Zeit die „Zeit zwischen der ersten und der zweiten Parusie Jesu Christi" 3 0 , und in dieser Zwischenzeit gibt sich dieser Christus der Kirche „und durch sie der Welt irdisch-geschichtlich zu erkennen" 3 1 . Das Erkenntnismedium ist das Zeugnis der Apostel, wie es im Alten und Neuen Testament zum Kanon geworden ist. Daher ist „Apostolische Kirche . . . die die Schrift in ihrem spezifischen Charakter als unmittelbare Bezeugung des gestern und heute lebenden Jesus Christus erkennende und lesende, als Kanon respektierende, nach ihm sich richtende Kirche" 3 2 . Ebenso wie Karl Barth legt der Lutheraner Peter Brunner alle Betonung auf die Apostolizität innerhalb der vier katholischen Kennzeichen, die er als die „Wesensmerkmale" der Kirche bezeichnet 3 3 . Das Apostolische ist die Basis für die anderen, insofern „die Apostolizität der Kirche . . . der bewirkende Grund für die Einheit, Heiligkeit und Katholizität der Kirche" ist 3 4 .

28

K D IV/1, S. 795.

29

a . a . O . , S. 797.

30

a . a . O . , S. 810.

31

a . a . O . , S. 802.

32

a. a . O . , S. 8 0 6 f . Apostolizität ist sachlich identisch mit dem Schriftprinzip der Prolegomena, Vgl. a . a . O . , S. 805. Vgl. a. M. Honecker, a . a . O . , S. 1 8 5 f f . Zur Problematik des Schriftverständnisses bei Barth vgl. W . Lindemann, Karl Barth und die kritische Schriftauslegung, 1973. Seltsamerweise deklariert Barth das Sein der Gemeinde f ü r die Welt ebenfalls als nota ecclesiae K D IV/3,883. Barth befindet sich hier in der Diskussion mit den traditionell evangelischen notae, die das Mißverständnis begünstigen, die Kirche sei identisch mit dem Reich Gottes, weil die protestantischen notae keine Auskunft über Sinn und Zweck der Existenz der Gemeinde gäben, vgl. a. a. O . , S. 875 ff. V o n daher wird die Terminologie als kritische Entgegensetzung verständlich, obwohl der Widerspruch zur Bezeichnung der Apostolizität als einziger nota nicht aufgeklärt werden kann.

33

Pro Ecclesia I, 1962, S. 229.

34

Pro Ecclesia II, 1966, S. 227.

34

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Weil B r u n n e r unter Apostolizität wesentlich L e h r e vesteht, kann für ihn die Frage einer Gemeinschaft der verschiedenen Kirchen nur dann beantwortet und verantwortet werden, wenn sich eine Ü b e r e i n s t i m m u n g darüber finden läßt, was als apostolisches W o r t zu gelten hat und dieses in einer „ L e h r k o n k o r d i e " zusammengestellt w i r d 3 5 . Zu der theologischen G r u p p e , die nach wie vor die traditionellen notae lehrt, gehört natürlich die römisch-katholische K i r c h e , die im Zweiten Vatikanischen K o n z i l bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber anderen kirchlichen G r u p p e n und Gemeinschaften an der traditionellen Lehre festgehalten und keine neuen Begründungen vorgelegt hat. G e g e n ü b e r der B e t o n u n g der sichtbaren Kirche in der ihm voraufgegangenen Lehrentwicklung hebt das Zweite Vatikanische K o n z i l die Verbindung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche hervor, indem es sie als „ u n a m realitatem c o m p l e x a m " bezeichnet ( L G 8) und in Analogie zum „natura assumpta verbo d i v i n o " ( L G 8) sieht. Deshalb handelt die D o g m a t i s c h e Konstitution v o m M y s t e r i u m der K i r c h e : „ D i e Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und W e r k z e u g für die innigste Vereinigung mit G o t t " 3 6 . Beide Analogien, zur Inkarnation und z u m Sakrament, erläutern die Sichtbarkeit der K i r c h e , indem sie mit dem verborgenen Unsichtbaren in ihr verbunden w e r d e n 3 7 . Diese komplexe Wirklichkeit „ K i r c h e " ist eine, heilig, katholisch und apostolisch. Sie ist verwirklicht in der K i r c h e , die „ v o m N a c h f o l g e r Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet w i r d " 3 8 . Schon vorher waren die hierarchischen O r g a n e der komplexen Wirklichkeit zugeordnet worden, so daß die Konstitution klar hervorhebt, daß die K i r c h e , auf die alle notae zutreffen, nur diejenige ist, die andere L e h r äußerungen die „Sancta (catholica apostolica) R o m a n a E c c l e s i a " genannt

35

Pro Ecclesia I, a . a . O . , S. 231. Ähnlich H. G. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, 1973, S. 237ff. Apostolizität ist primäre nota und bedeutet „die Übereinstimmung ihres (der Kirche) heilsvermittelnden verbum invisibile et visibile mit dem apostolischen Urzeugnis des Neuen Testamentes" (S. 239). Dennoch wird auch diese eigentlich eindeutige Aussage nochmals durchstoßen auf Christus hin, der „ja der Kanon dieses apostolischen Urzeugnisses" ist und daher „die eigentliche Wesenskonstitutive und nota der Kirche" (S. 239, Hervorhebung von Pöhlmann).

36

LG 1, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 123. Vgl. A. Grillmeier, Kommentar zu LG, in LThK, Erg. Bd I, S. 170f. LG 8, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 131.

37 38

D i e notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

35

haben 3 9 . Bedeutsam ist die im Verlauf der Konzilsdebatte vorgenommene Ersetzung des identifizierenden „ e s t " durch „subsistit". Dadurch wird — bei aller bleibenden Exklusivität in der Sache — dennoch Raum gegeben für eine beginnende theologische Erfassung und positivere Wertung der anderen Kirchen. Denn nun können „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit" außerhalb dieser katholischen Kirche gefunden werden, „die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen" 4 0 . J e nach Quantität und Qualität dieser Elemente werden dann die anderen christlichen Gemeinschaften bezeichnet. Bekanntlich unterscheidet das Konzil ja zwischen getrennten „ K i r c h e n " und „kirchlichen Gemeinschaften". Die Konstitution sieht diese ebenso wie das Dekret über den Ökumenismus immer in Relation zu der in der katholischen Kirche gegebenen, besser: ihr anvertrauten Fülle. Zur katholischen Einheit des pilgernden Gottesvolkes gehören die katholischen Gläubigen. Weiter sind ihr die anderen an Christus glaubenden und schließlich alle durch die Gnade Gottes zum Heil berufenen Menschen zugeordnet (ordinatur) 4 1 . Die Taufe ist dabei dasjenige, was die Christen untereinander zu Brüdern werden läßt, auch dann, wenn andere Christen den, von römischer Seite aus geurteilt, „vollen Glauben nicht bekennen oder die Einheit der Gemeinschaft unter dem Nachfolger Petri nicht wahren"42. Dieses unterscheidende und brüderliche Verhältnis zu den anderen Christen beschreibt das Dekret über den Ökumenismus genauer. Die Perspektive aber wird grundsätzlich beibehalten: Die römische Kirche urteilt von einer Position der anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit, der „ihr eigenen Fülle der Katholizität" 4 3 über die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften — durchaus in der Absicht, das Positive dort wahrzunehmen, gleichzeitig aber ohne in der Sache nachzugeben. Die mit den Kennzeichen der Kirche bezeichnete Fülle der Heilsmittel ist nur über die katholische Kirche zu erlangen, und diese katholische Kirche ist eben nur in der Kirche verwirk-

39

Professio fidei Tridentina, D S 1862, 1868 und C o n c . V a t . , Sess. I I I , D S 3 0 0 1 . Darauf weist die Konstitution ausdrücklich in der F u ß n o t e hin, vgl. R a h n e r / V o r grimler, ebd., A n m . 13.

40

L G 8, ebd.

41

L G 13, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 139.

42

L G 15, a . a . O . , S. 140.

43

O e k 3 u. 4, a . a . O . , S. 2 3 2 - 2 3 6 .

36

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

licht, der alle Güter des Neuen Bundes durch den Herrn anvertraut sind, und dies ist die Kirche, die in der Nachfolge des Apostelkollegiums mit Petrus an der Spitze steht 44 . Das heißt: bei aller irenischen Grundtendenz der Konzilsväter sind in der Dogmatischen Konstitution und im Ökumenismusdekret die notae der Kirche ausdrücklich keiner anderen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft zugesprochen worden. Nach wie vor ist das, was in ihnen wirksam ist, von der „der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit" hergeleitet 45 . Die Perspektive ist also immer noch die einer Mutter, deren mißratene Söhne einiges Gute aus dem Mutterhaus mitgenommen haben. Aber von dem, was sie mitgenommen haben, hat die Mutter noch mehr und Besseres. Zwar wird den Kirchen außerhalb der katholischen „Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles" (Oek 3) zuerkannt, zwar „sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert", aber ihre Gemeinschaften sind eben nicht die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, von der die Symbole sprechen, sondern „Kirche" und kirchenähnliche Gebilde, die mit dieser einen Kirche nicht identisch sind, welche allein sich auf die Stiftung Christi selber zurückführbar glaubt. Im Versuch, durch Relationalitäten Einheit und Differenz zu bestimmen, steht vor allem das Dekret über den Ökumenismus in der großen Schwierigkeit, beides, Einheit und Differenz, angeben zu müssen, ohne das Wesen der Kirche wirklich definieren zu können. Das &onzil hat sich ja mit bildhaften Umschreibungen begnügt. Das Bild des Volkes Gottes hat dabei größeres Gewicht als das des mystischen Leibes. Zum Volk Gottes kann man offenbar auch gehören, wenn man noch nicht zum Leib Christi gehört: dem einen Leib Christi müssen „alle völlig eingegliedert werden . . . , die schon auf irgendeine Weise zum Volke Gottes gehören" 4 6 . Der Organismusgedanke trägt nicht die Vorstellungen, die die Konzilväter hatten, als sie mit Hilfe der Relationen das Verhältnis der katholischen zu den anderen Kirchen klären wollten. Einem Leib kann man nur eingegliedert sein oder nicht, tertium non datur. Man kann an seiner Peripherie liegen, ein untergeordnetes Organ sein, aber entweder gehört das Teil zum Ganzen oder nicht. Man kann zu diesem Leib in einem Verhältnis stehen, ohne ihm anzugehören, aber dann ist man kein Teil des Organismus mehr. So bleibt die Frage

44 45 46

Oek, a . a . O . , S. 233. Oek 4, a . a . O . , S. 236. Oek 3, a . a . O . , S. 233.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

37

offen, wie man denn Christus eingegliedert sein kann durch die T a u f e 4 7 , ohne dem Leib Christi „völlig eingegliedert" zu sein 4 8 . Natürlich gibt es entscheidende Unterschiede zwischen den evangelischen Theologen wie Karl Barth und Peter Brunner, die am altkirchlichen Symbol festhalten und dabei die Apostolizität zur Basis aller anderen Kennzeichen der Kirche machen, und den römischen Lehrentscheidungen. Gerade die Apostolizität wird ja in der römischen Kirche weniger inhaltlich auf die Lehre als formal auf apostolische Sukzession und das Amt zielen. Dennoch ist auch in der katholischen Lehre durchaus die Apostolizität als Basis der anderen notae aufzufassen (auch wenn diese sich gegenseitig natürlich durchdringen), weil ohne die apostolische Sukzession weder Einheit noch Heiligkeit noch Katholizität garantiert werden könnten. Diese grundlegende Bestimmung der Apostolizität ist jedoch meines Wissens nicht durchgeführt, sondern die vier Kennzeichen werden als prinzipiell gleichrangig und einander ergänzend angesehen. Manchmal erscheint die Heiligkeit als logisch erste, dann wiederum die Einheit 4 9 . Das Konzil hat auf katholischer Seite aber auch Unsicherheiten bezüglich der Kennzeichen der Kirche hinterlassen, die wir an einer Wendung der Theologie Michael Schmaus' nachzeichnen wollen. Schmaus' große „Katholische D o g m a t i k " war bei allem inhaltlichen Konservatismus doch darin reformierend, daß sie endgültig mit der scholastischen Methode innerhalb der katholischen Theologie zugunsten einer Art Verkündigungstheologie brechen wollte. Diese Veränderung hatte allerdings bezüglich der Kennzeichen der Kirche keine inhaltlichen Folgen.

Nach

Schmaus folgert die Dogmatik aus dem Glauben, der der Zugang zum Verständnis der Kirche ist 5 0 . Es ist die Wesenseigentümlichkeit der Kirche, daß sie „im heiligen Geist lebende Christusgemeinschaft" ist 5 1 . Aus der Wesenseigentümlichkeit ergeben sich die vier Wesenseigenschaften, die exklusiv für die römisch-katholische

Kirche in Anspruch genommen

werden.

Weil

Schmaus dogmatisch und nicht fundamentaltheologisch argumentiert, kann er sich damit begnügen, sein Beweismaterial aus lehramtlichen Verlautbarun-

47

O e k 3, a . a . O . , S. 232.

48

O e k 3 , a . a . O . , S. 233.

49

Vgl. Y . Congar, Mysterium salutis I V / 1 , a . a . O . , S. 3 6 3 , A n m . 29 und S. 3 6 4 .

50

Vgl. Katholische Dogmatik I I I / l , 3 . - 5 . völlig umgearb. Aufl. 1958, S. 6.

51

a . a . O . , S. 542.

4

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

38

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

gen zusammenzustellen 5 2 . Gemäß göttlicher Offenbarung gibt es nur eine einzige, auf die Stiftung Christi zurückgehende, hierarchisch geordnete Kirche, und diese „ist identisch mit der römisch-katholischen" 5 3 . Einem „weltlich politischen Bedürfnis" bis zu einem gewissen Grad folgend, kann man von mehreren Kirchen sprechen, obwohl dies keinesfalls die Folge einer theologischen Notwendigkeit ist. Die Wiedervereinigung der im Glauben Getrennten kann nur die Rückkehr unter den Primat des Papstes bedeuten, so wie verlorene Söhne ins Vaterhaus zurückkehren, von dem sie sich schuldhaft abgesondert haben. Durch die „Absonderung" entstehen nicht Gruppen gleicher oder verschiedener Berechtigung. Die Absonderung von der Familie ist immer Unrecht und Unordnung, selbst wenn diese durch Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit oder Sorglosigkeit den Auszug der Kinder mit zu verantworten hat 5 4 . Die anderen christlichen Gruppen, die also die Trennung der Glaubenden allein zu verantworten haben, sind keine Kirchen, weil sie die aus den Wesenseigentümlichkeiten fließenden Wesenseigenschaften nicht aufweisen. Diese klare, in sich ruhende Position läßt sich nach den Beschlüssen des Vaticanums II nicht mehr durchhalten. Schmaus reagiert darauf in seinem Spätwerk „Der Glaube der Kirche" 5 5 , in dem er die vormals unerschütterliche Identifikation der von Christus gewollten Kirche allein mit der um die römische Cathedra versammelten preisgibt zugunsten diplomatischerer Formulierungen, die die Einzigkeit und Einheit der Kirche mit der konkreten Vielheit in Beziehung setzen will: „Das Konzil betont mit Nachdruck und wiederholt die Verbundenheit der nicht-katholischen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit der katholischen Kirche und die Eingliederung in Christus. Zugleich hebt es aber hervor, daß diese Verbundenheit keine volle Eingliederung in die Kirche ist. Als Maßstab für den Intensitätsgrad der Verbundenheit und der Eingliederung werden jene drei Zeichen

52

Vgl. a . a . O . , S. 5 4 3 f f . Schmaus bezieht sich u.a. auf: Ep. S. Officii ad episcopos Angliae 11. Sept. 1864, DS 2 8 8 5 - 2 8 8 8 und Pius XII, Litt encycl. . „Mortalium animos" 29. Iun. 1943 DS 3 8 0 0 - 3 8 2 2 . Für die Katholizität der Kirche beruft er sich besonders auf die Instructio „ D e motione oecumenica" 20. Dec. 1949, die eindeutig erklärt, daß die Kirche durch andere Konfessionen nichts an Heil gewinnen kann. Diese Instruction fehlt in DS. Vgl. a . a . O . , S. 6 1 9 f f .

53

a . a . O . , S. 549.

54

a . a . O . , S. 548.

55

Handbuch katholischer Dogmatik, Bd I, 1969.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

39

hervorgehoben, welche die volle Zugehörigkeit zur Kirche zum Ausdruck bringen, nämlich der Glaube, das Sakrament und die Gemeinschaft mit dem Nachfolger des Apostels Petrus und den übrigen Bischöfen" 5 6 . Hier ist auf jedes Wort zu achten, weil Schmaus versucht, katholische Exklusivität mit dem protestantischen Problem zu vermitteln. Die Blickrichtung ist scheinbar unverändert, es geht im ökumenischen Dialog um Eingliederung in die Kirche. Die Blickrichtung ist also von innen nach außen. Aber der Blick selber — um im Bild zu bleiben — erblickt draußen eben nicht nur von sich Verschiedenes, sondern Kirche, wenn auch, sogleich einschränkend, „nicht-katholische". Darin spiegelt sich die Problematik des Ökumenismusdekretes, den getrennten Kirchen und Gemeinschaften trotz ihrer angeblichen Mängel bezüglich der katholischen Fülle ihr Kirchesein nicht abzusprechen 57 . Dies führt zu einer erheblichen terminologischen Krise: Eine Organisation kann „ecclesia" genannt werden, ohne wirkliche und wahre „ecclesia" zu sfcin. Weil das Zweite Vaticanum eine Definition des Wesens der Kirche vermeidet, folgt aus der terminologischen eine Unsicherheit bezüglich der notae, die auch der durchgängige und wohl distinguierend gemeinte Gebrauch des Attributes „catholica" für die römisch-katholische Kirche nicht verdecken kann. Schmaus reagiert auf diese Unsicherheit mit dem — gemessen an seiner „Katholischen Dogmatik" — revolutionären Verzicht auf eine strenge Definition der Kirche. Für diese Beschränkung bietet er eine theologische und eine logische Begründung. Theologisch eignet der Kirche „Geheimnischarakter" 5 8 , ihr Wesen ist vorzüglich nur in Bildern perspektivisch beschreibbar. Logisch müßte eine Definition des Wesens auch die Zukunft der Kirche umfassen, also alles, was an Lebensäußerungen in ihrer zukünftigen Geschichte aus ihrer Mitte herausquillt. Der Dogmatiker müßte also das Ende der theologischen Entwicklung kennen, um das Wesen der Kirche definieren zu können 5 9 . Da dies unmöglich ist, habe das Konzil eine Definition der Kirche vermieden und sich auf Bildbegriffe beschränkt, wobei es allerdings eine Ver-

56

a . a . O . , S. 86.

57

Vgl. O e k 3, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 2 3 2 f f .

58

Glaube der Kirche, a . a . O . , S. 9.

59

Vgl. ebd. Vgl. R . Bultmann, Geschichte und Eschatologie, 1958, S. 164: „ D e n n der Sinn der Geschichte als eines Ganzen könnte nur erkannt werden, wenn wir am E n d e oder am Ziel der Geschichte stünden und dann, rückblickend, ihren Sinn entdecken könnten, oder wenn wir außerhalb der Geschichte stehen k ö n n t e n . "



40

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Schiebung des Akzents vorgenommen habe. Anstelle des von Pius X I I . hervorgehobenen Bildes vom Leib Christi habe es die Vorstellung vom Volk Gottes stärker herausgestellt, um die Kontinuität zwischen altem und neuem Bund hervorzuheben. Beide Bilder seien keine Gegensätze, obwohl sie perspektivisch zugeordnet seien und deshalb auch wertmäßig abgestuft: „ D a s neutestamentliche Volk Gottes hat die Eigentümlichkeit, ,Leib Christi' zu sein"60. Damit ist nichts anderes vollzogen als eine theologische Wende. Dogmatisch kann die Kirche nicht mehr aus dem ihr anvertrauten Schatz an O f f e n barungswahrheiten weiter und weiter dogmatische Wahrheiten deduzieren, die aufeinander aufbauend das in der Offenbarung vorgegebene und jetzt schon kryptisch vollkommen anvertraute Ganze weiter und weiter ausdefinieren, sondern die Kirche erwartet nun die Fülle der Wahrheit am Ende der Geschichte der Kirche und Theologie, das ja nach der geläufigen Auffassung mit dem Ende der Welt eintritt. Damit eignet auch der katholischen Dogmatik jene eschatologische Vorläufigkeit, die von ihr bisher anderen als Mangel ausgelegt worden ist. Auch wenn das Zweite Vaticanum die Ekklesiologie darin eschatologisiert hat, daß sie das Bild der pilgernden Kirche in den Vordergrund gerückt hat, geht es nach wie vor davon aus, daß allein der katholischen Kirche die Fülle der Gnade und Wahrheit anvertraut ist, von der sich die Wirksamkeit aller anderen getrennten Kirchen und Gemeinschaften nur herleiten kann 6 1 . Die „katholische Kirche" ist „mit dem ganzen Reichtum der von G o t t geoffenbarten Wahrheit und der Gnadenmittel b e s c h e n k t " 6 2 . Die vom Konzil hervorgehobene Tatsache, daß die Kirche „die Niedrigkeit und das Todesleiden Christi an ihrem Leibe t r ä g t " 6 3 , affiziert nicht das Wesen der Kirche selber, sondern liegt daran, „daß ihre Glieder nicht mit der entsprechenden G l u t " aus diesem Reichtum leben 6 4 . Schmaus dagegen denkt offenbar nicht mehr von dieser in der Offenbarung irgendwie gegebenen Arche her, sondern wendet sich — gestützt durch sein theologisches und sein logisches Argument — in der Ekklesiologie teleologischem Denken zu. Deswegen übt Schmaus weitgehende Abstinenz bezüglich der Kennzeichen der Kirche. Einerseits nimmt er die „ K e n n z e i c h e n " aus dem

60

Schmaus, ebd.

61

Vgl. O e k 3, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 2 3 3 .

62

O e k 4, a . a . O . , S. 2 3 5 .

63

Vgl. ebd. Bezug auf 2. K o r 4 , 1 0 ; Phil 2 , 2 - 8 .

64

Vgl. ebd.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

41

Ökumenismusdekret auf (Glaube, Sakrament, Cathedra Petri), die schon Bellarmins Ekklesiologie zusammenfaßten 65 . Aber diese sind ja kein Ersatz für die klassischen notae. Für diese bleibt aufgrund der eben genannten Voraussetzungen nur der Schluß übrig, daß die Kennzeichen der Kirche, wie sie in den Bekenntnissen aufgeführt worden sind, Ausfluß einer Naivität des Denkens sind. Denn in Bekenntnissen wird „in einer s c h l i c h t e n W e i s e der Glaube der Kirche an sich selbst und ihre grundlegenden Eigenschaften (Katholizität, Apostolizität, Einheit)" ausgesprochen 66 . Schmaus sieht sich offenbar vor der eigentlich evangelischen Schwierigkeit, das Wesen der konkreten Gestalt der Kirche zu definieren. Zwar hat für ihn „die eine Kirche Jesu Christi konkrete Gestalt — in der von den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Papst geleiteten Kirche" 6 7 . Aber das Wesen dieser Kirche ist dogmatisch nicht mehr objektiv und endgültig aussagbar. Alle Versuche sind vorläufig und „schlicht", also der Sache in jedem Fall nicht adäquat und unvollkommen. Man muß daraus schließen, daß für Schmaus auch die klassischen notae keine objektiv meßbaren Tatbestände mehr beschreiben und das Wesen der Kirche nur unvollkommen bezeichnen. In die Gruppe derer, die es ganz vermeiden, Kennzeichen der Kirche zu benennen, gehören jeweils aus ganz anderen Gründen Emil Brunner und Paul Tillich. Brunner spricht zwar ausdrücklich von den „Grundbestimmungen der Kirche" nach dem apostolischen Glaubensbekenntnis 68 und versteht diese als kirchenkritische Begriffe, aber er vermeidet den terminus technicus „notae" ebenso wie seine deutsche Ubersetzung. Zwar spricht er von „Kriterien" der Kirche, die sich immer wieder kritisch gegen ihre Institutionalisierung wenden, aber diese Kriterien sind keine Erkennungszeichen. Man muß ja überhaupt erst fragen, ob eine Gemeinschaft wie die von Brunner konzipierte Ekklesia, die von ihrem Grund her institutionsfeindlich ist, überhaupt Kennzeichen haben kann. Vor ähnlichen Problemen steht Tillich. Er unterscheidet zwischen der Kirche und den Kirchen und versteht unter der Kirche im essentiellen Sinn die Geistgemeinschaft, („Spiritual Community"), die unsichtbar ist, und unter 65

Controv., Lib III: D e Ecclesia militante: Opera II, 23a. Zit. n. Mysterium salutis IV/1," a . a . O . , S. 374, Anm. 26.

66

Der Glaube der Kirche, Handbuch katholischer Dogmatik, Bd 1, 1969, S. 71,

67

a . a . O . , S. 81.

68

Dogmatik III. 2. Aufl. 1964, S. 141 ff.

Hervorh. d. Verf.

42

D i e n o t a e ecclesiae in der g e g e n w ä r t i g e n T h e o l o g i e

den „ K i r c h e n " die geschichtlichen Kirchen 6 9 . Die Kirche als Geistgemeinschaft hat „Charakteristika", die auf die geschichtlichen Kirchen übertragen werden müssen und an denen sich der „paradoxe Charakter der Kirchen" 7 0 zeigt. D a z u zählen dann die Prädikate (predicates) des Apostolikums: Heiligkeit, Einheit und Universalität, die den Kirchen „nur unter Hinzufügung eines ,Trotzdem' zugeschrieben werden" können 7 1 , weil das Paradox der Kirchen eben gerade darin besteht, an den „Zweideutigkeiten des religiösen Lebens" wie an dem „unzweideutigen Leben der Geistgemeinschaft" teilzuhaben 7 2 . Die Kirchen haben also „Prädikate". Die Geistgemeinschaft als die Gemeinschaft des Neuen Seins „wie es zentral im Christus geschehen i s t " 7 3 , hat aber „Kennzeichen" (marks), nämlich neben Glaube und Liebe jene Prädikate des Apostolikums in fragmentarischer und antizipatorischer Unzweideutigkeit 7 4 . Sie sind die Kriterien für die Prädikate der Kirche, wie die Geistgemeinschaft Kriterium für die Kirchen ist. Weil aber die Geistgemeinschaft nicht identisch mit den Kirchen ist, vielmehr in ihrem latenten Stadium in der ganzen Menschheit vorkommt 7 5 , so sind die Kennzeichen auch keine, an denen wahre Kirche von falscher Kirche unterschieden werden kann. Zwar ist die Kirche, die die Prädikate nicht aufzuweisen hat, keine Kirche mehr. Aber dies gilt genauso von anderen Gemeinschaften, die Geistgemeinschaft in ihrer Latenz, aber keine christlichen Kirchen sind. Auch sie

69

Vgl. S y s t e m a t i s c h e T h e o l o g i e III, 1966, S. 192. I m amerikanischen O r i g i n a l lautet der g a n z e A b s c h n i t t a n d e r s : „ F o r the s a k e of semantic clarification, w e have u s e d . . . " V o n einer U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n sichtbarer u n d unsichtbarer K i r c h e ist hier nur in b e z u g auf die R e f o r m a t o r e n die R e d e , u n d daß sie erwähnt w e r d e n , soll nur die M ö g l i c h k e i t s t ü t z e n , daß die S y s t e m a t i s c h e T h e o l o g i e das R e c h t hat „ t o use non-biblical and non-ecclesiastical t e r m s " ( S y s t e m a t i c T h e o l o g y , T h r e e V o l . in o n e , 2. I m p r . 1971, S. 163). E s ist also unsicher, o b Tillich z w i s c h e n sichtbarer u n d unsichtbarer K i r c h e unterscheiden wollte, i n d e m er der G e i s t g e m e i n s c h a f t die U n sichtbarkeit z u s p r a c h , o d e r nicht.

70

S y s t . T h e o l . III, S. 196.

71

ebd.

72

a . a . O . , S. 194.

73

a . a . O . , S. 180. D i e s e B e m e r k u n g fehlt in der O r i g i n a l a u s g a b e .

74

a . a . O . , S. 1 8 2 f f .

75

V g l . S. 181. A u c h der Satz „ G e i s t g e m e i n s c h a f t in ihrer L a t e n z gibt es in der g a n z e n M e n s c h h e i t " fehlt in der a m e r i k . A u s g a b e . D o r t heißt es: „ T h e r e is a latent Spiritual C o m m u n i t y in the a s s e m b l y of the p e o p l e of Israel . . . " (S. 154). D e r Sinn ist hier aber w o h l z u t r e f f e n d .

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

43

verlieren ihre Essenz. Die „Kennzeichen" gelten also weder der sichtbaren Kirche noch der christlichen Kirche exklusiv. Und daher kommt ihre Verwendung für die Geistgemeinschaft und die Prädikation für ihre Kirche einem Verzicht auf „Kennzeichen" der Kirche überhaupt gleich. Es zeigt sich also, daß der gegenwärtige Glaube, wie er sich in den dogmatischen Lehrbüchern niederschlägt, bezüglich der Kennzeichen der Kirche reichlich unsicher ist. Weithin herrscht der Eindruck vor, daß die Urteile über die Kennzeichen der Kirche mehr nach Geschmack oder im Hinblick auf einen bestimmten Zweck gefällt werden, als begründet und in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grundprinzip der jeweiligen Dogmatik. Es ist nicht ersichtlich, weshalb evangelische Theologen von ihrer Tradition abweichen und auf die klassischen katholischen Kennzeichen zurückgreifen. Andererseits wird meist überhaupt nicht klar, warum an den traditionellen evangelischen Bestimmungen festgehalten wird und die klassischen katholischen notae weiterhin als „Prädikate" behandelt werden. Wenn Gründe angegeben werden, wie bei Kinder, so sind sie nicht überzeugend. Denn die Bevorzugung der „Wirkmittel" gegenüber den „Seinsmerkmalen" beruht auf der illegitimen Identifizierung von Seinsmerkmalen mit Statik. Hier fließt unerkannt eine Form antimetaphysischen Denkens in die Theologie ein, der seit dem späten 19. Jahrhundert Friedrich Engels zur größtmöglichen, auch politisch greifbaren Wirkung verholfen hatte 7 6 . Aber Seinsaussagen sind im Neuplatonismus ebenso wie in der klassischen Scholastik immer auch Aussagen über Wirkungen. Selbst wenn das höchste Sein, die prima causa, als vollkommene Ruhe gedacht wird, so ist diese Ruhe paradoxerweise erfüllt von einer ungeheuren Bewegung. A m klarsten wird das im Gottesbegriff der deutschen Mystik, in dem neuplatonische und 76

Vgl. Dialektik der Natur, M E W 20, Berlin 1973, S. 3 0 7 f f . Engels identifiziert durchgängig Metaphysik mit Statik und Dialektik mit Dynamik. E. Bloch hat zwar versucht, diesem Unsinn wenigstens noch einen pädagogischen Sinn abzugewinnen, weil Engels doch die Absicht gehabt hätte, die konkrete Dialektik aus der idealistischen Metaphysik herauszulösen. Er urteilt aber doch: „ A l l e alten Materialisten, von Demokrit bis zu den Männern der Enzyklopädie, wären dann Metaphysiker; denn sie sind nicht dialektisch, nicht einmal entwicklungsgeschichtlich . . . Dagegen Erzmetaphysiker wie Heraklit, Piaton, Proklos, Nikolaus von Cusa, Jakob Böhme, Hegel wären als Dialektiker keine Metaphysiker gewesen", Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Ges. Ausg. Bd. VII, 1972, 4 5 4 f . Ähnlich kritisiert der frühe G. Lukäcs die Ausführungen von Engels im „Antidühring" Vgl. Geschichte und Klassenbewußtsein, SL 11, 1970. S. 6 1 .

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Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

scholastische Elemente zusammenfließen. G o t t ist das „ N i c h t s " 7 7 , die „stille W ü s t e " 7 8 , über den man in apophatischer Theologie nichts sagen kann. Aber dieser G o t t wirkt in seiner Ruhe, weil f ü r ihn Wirken und GewirktH a b e n zusammenfallen und alles Wirken oder T u n Sein ist 7 9 . Diese paradoxe Bestimmung Gottes als vollkommene R u h e und höchste Bewegung gilt in modifizierter F o r m über den Analogieschluß auch f ü r alles Seiende, das, weil es von G o t t als der prima causa in irgendeiner F o r m etwas rezipiert, im Status der Möglichkeit steht. In Möglichkeit seiend ist aber das grundlegende Verhältnis jeder Washeit (quiditas), weil sie ihr Sein von G o t t empfängt 8 0 . Besonders intelligentia und anima sind also ein ständiger Ubergang von potentia in actus. Dies ist jedoch der philosophische A u s d r u c k f ü r Bewegung, nämlich der Ubergang von Möglichkeit in Wirklichkeit. In der Stufenfolge des Seienden finden sich bei Thomas auch unterhalb der Seele noch weitere F o r m e n „plus de potentia habentes et magis propinquae materiae in tantum q u o d esse earum sine materiae non est" 8 1 . Die Materie wird selbst dann, wenn sie von keiner F o r m geprägt ist, in der deutschen Mystik immer so beschrieben, daß sie nach F o r m verlangt. Die Mystiker verwenden dazu den scholastischen Terminus der Privation und erreichen damit, daß der Materie ein aktives Drängen einbeschrieben wird, o b w o h l nach wie vor der F o r m der Vorrang belassen wird: „ N a c h einem W i r k e n d e n dürstet das Erleidende ständig", aber „ d a s Erleidende lobt u n d verkündet immer den Reichtum u n d die Ehre eines solchen W i r k e n den, hingegen seine eigene Bedürftigkeit u n d L e e r e " 8 2 .

Selbst die scheinbar unbewegte Materie ist von Bewegung erfüllt. Ist also bei Kinder die Begründung f ü r das Beibehalten der evangelischen Kennzeichnung wenig überzeugend, so ist bei anderen, wie z . B . bei Kraus,

77

F. Pfeiffer, Meister Eckhart, Predigten und Traktate (Pf) (1857) R e p r . 1962, S. 83,

Z. 1. 78

Pf 183, 14.

79

Lateinische W e r k e I, hrsg. u. übers, v. K. Weiß, 1936ff. S. 299.

80

Vgl. T h o m a s v. A q u i n , D e ente et essentia, Ausg. Wissenschaftl. Buchges., 1976, S. 50.

81

a . a . O . , S. 52.

82

Meister Eckhart, a . a . O . , S. 458f. D e r T e r m i n u s der privatio hat in der aristotelischen Steresislehre sein Vorbild.

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

45

nicht einzusehen, warum er über die traditionell reformierte Dreizahl noch andere notae entwickelt und wieso und mit welchem Recht gerade diese. Auf der anderen Seite liefern aber auch diejenigen evangelischen Theologen, die statt der evangelischen Kennzeichen die klassischen katholischen bevorzugen, keine Begründung dafür. Ebensowenig findet sich in den lehramtlichen Äußerungen der katholischen Theologie eine Begründung für die Verwerfung der evangelischen Kennzeichen. Das Hauptargument innerhalb der klassischen Fundamentaltheologie ist immer noch dasjenige Bellarmins, diese sogenannten notae könnten mehr kundtun „ubi lateat ecclesia quamquam s i t " 8 3 . Aber soviel sollte doch aus der Kirchengeschichte deutlich geworden sein, daß das formale Vorhandensein der vier klassischen Kennzeichen allein noch nichts über die wahre Kirche aussagt, zumal ja gerade die inhaltliche Füllung dieser Begriffe durchaus umstritten sein kann und zwischen den Konfessionen immer umstritten gewesen ist. So scheint es, daß auf Grund der Ergebnisse der exegetischen und kirchengeschichtlichen Forschungen große Teile der klassichen „demonstratio catholica" nicht mehr durchführbar sind. In ihr sollte ja gezeigt werden, daß die um die römische Cathedra versammelte Kirche die vier Kennzeichen tatsächlich und historisch unbezweifelbar besitzt und warum dies so ist. Die Beweisführung, wie sie noch Längs Fundamentaltheologie beherrscht, die im Obersatz („quaestio iuris") historisch und empirisch beweisen will, „daß Christus seiner Kirche die vier Merkmale als bleibende Eigenschaften und als Erkennungszeichen mitgegeben und verheißen h a t " 8 4 und daß diese sich ausschließlich in der römisch-katholischen Kirche finden (als „quaestio facti"-Untersatz) — diese Beweisführung ist fundamentaltheologisch im klassischen Sinn nicht mehr möglich. Wir werden im Verlauf der Untersuchung sehen, daß die vier Kennzeichen der Lehre und dem Bekenntnis der Kirche erst nach und nach zugewachsen sind und daß sie nicht auf direkter Gabe und Verheißung des historischen Jesus beruhen. Dies

83

Vgl. A . Lang, Fundamentaltheologie I I , 2 . verm. Aufl. 1958, S. 153. Lang lehnt die protestantischen notae ab, weil sich wahre Lehre und Sakramentsspendung erst durch die Kirche erkennen lassen. „Sie können also nicht als Kennzeichen d i e n e n " a . a . O . , S. 152.

84

a . a . O . , S. 154. Vgl. das Resümee von G . Thils, Les N o t e s de l'Eglise, 1937, S. 9 5 : „ L ' a r g u m e n t traditionel de la via notarum se résume c o m m e suit: le Christ a donné (a son) Eglise certains traits spécifiques; ces traits, l'Eglise catholique romaine les possède; elle a droit, par conséquent au titre d'Eglise veritable".

46

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

und die Möglichkeit der Stiftung der Kirche und deren Ä m t e r durch Jesus wird auch von katholischen Exegeten zunehmend skeptischer gesehen 8 5 . Damit wird freilich auch die direkte Ableitung des Petrusamtes als des Garanten der vier Kennzeichen auf den historischen Jesus fragwürdig und zweifelhaft. Katholische Theologie gerät mehr und mehr in das protestantische Problem der Differenz zwischen historischer und dogmatischer Theologie. Historische Erkenntnis widerspricht dogmatischer Formulierung. Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß das II. Vaticanum selbstverständlich voraussetzt, daß Jesus selber die Kirche und ihre hierarchische Verfassung ins Leben gerufen hat 8 6 . Dagegen weiß der Exeget, daß „eine Vorstellung, Jesus habe in Voraussicht langer Zukunft seine Kirche mit hierarchischer Verfassung und Regierung, mit Lehramt und sieben Sakramenten in den konkreten Einzelheiten gestiftet — wie etwa ein Ordenstifter seinen O r d e n gründet —, . . . die Geschichte verkennen" w ü r d e 8 7 . Die Lösung des Problems ist bisweilen echt protestantisch/platonisch. Ermuntert von der Formulierung in L G 8, die Kirche sei „unam realitatem complexam", löst Schelkle diese „Spannungseinheit" so auf, daß die W a h r heit der Kirche nicht in ihrer Geschichtlichkeit und Sichtbarkeit, sondern in der Unsichtbarkeit liegt 8 8 . Wirklichkeit und Wahrheit werden weiterhin nicht 85

86 87 88

Vgl. z . B . K. Kertelge, Gemeinde und Amt im NT, 1972, S. 36: Jesus hat den Begriff EKKÄ.T]oCa nicht selber auf seine Jüngergemeinde angewandt. Damit ist auch der einzige historische Beleg hinfällig, den Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, S. 324f. anführt, nachdem er zuvor versichert hat, der Erweis der historischen Wahrscheinlichkeit einer Stiftung der Kirche durch Jesus werde nach dem „indirekten" Überlegungen positiv erbracht. Vgl. O. Kuss, Bemerkungen zum Fragenkreis: Jesus und die Kirche im NT, in ThQ 135 (1955), S. 2 8 - 5 5 ; A. Vögtle: Jesus und die Kirche, in: Begegnung der Christen (Festschrift O. Karrer), 1959, S. 54—81, ders.: Messiasbekenntnis und Petrusverheißung. Zur Komposition von Mt 1 6 , 1 3 - 2 3 (1957) in: Das Evangelium und die Evangelien, 1971, S. 1 3 7 - 1 7 0 ; H. Küng, Die Kirche, 1967, S. 90ff. und ders., Christsein, 6. Aufl. 1975, S. 275ff. Zum Amt vgl. Kertelge, a . a . O . , S. 40: „Auch die katholische Theologie der Gegenwart erwartet nicht mehr ohne weiteres eine unmittelbare Rückführung von kirchlichen Institutionen, die erst in späterer Zeit ihre bestimmte geschichtliche Gestalt gefunden haben, auf den historischen Jesus. Dennoch behält für sie der Satz, daß Jesus Christus die Kirche gegründet hat, sein theologisches Recht." Vgl. LG 5, Rahner/Vorgrimler, a . a . O . , S. 125. K. H. Schelke, Theologie des NT IV/2, 1976, S. 31. „Die Sichtbarkeit ist ihre Geschichtlichkeit, die Unsichtbarkeit ihre pneumatische Wirklichkeit und Wahrheit", a . a . O . , S. 33.

Die Ekklesiologie des ökumenischen Rates

47

von der Zeit berührt, sind ungeschichtlich, und so wird die Intention des K o n zils eben gerade nicht gewahrt, das unbedingt daran festhalten will, daß die aus göttlichen und menschlichen Elementen zusammengesetzte K i r c h e in der Analogie zur Inkarnation und zum Sakrament eine wirkliche und damit wahre Einheit bildet.

D I E E K K L E S I O L O G I E DES Ö K U M E N I S C H E N RATES Wegen ihrer weltweiten Bedeutung wollen wir die Ekklesiologie des ö k u m e n i s c h e n Rates der K i r c h e n besonders ausführlich analysieren 1 . D e r ö k u m e n i s c h e R a t der Kirchen ( Ö R K ) ist eine der A n t w o r t e n der nicht-römischen K i r c h e n auf die eingangs geschilderten T e n d e n z e n unserer Gegenwart. Vielleicht wird hier einmal auch die theoretische Grundlage für einen institutionellen Zusammenschluß aller Kirchen gelegt. D i e Verbindung der konfessionell selbständigen Kirchen im Ö R K entspricht der sich mehr und m e h r vereinheitlichenden und zugleich ihrer Vielfalt wieder bewußt werdenden W e l t , deren H e r k u n f t zwar verschieden, deren Zukunft aber nur eine sein w i r d 2 : „ D a s auffallendste F a k t u m unserer Zeit ist, daß alle großen Fragen . . . ihrem Wesen nach global und wechselseitig miteinander verbunden s i n d " 3 . W i r legen die Besprechung der D o k u m e n t e des Ö R K auch deshalb so breit an, weil an ihnen deutlicher als an anderen T h e o l o g i e n der Gegenwart die T e n d e n z erkannt werden kann, Ekklesiologie immer und grundsätzlich auf der Folie des Weltverhaltens zu verstehen. D i e theoretischen Explikationen stehen immer an der Schwelle z u m W e l t verhalten und zur Gestaltung und dem Erleiden des J e t z t . Diese Grundlage wurde vom ö k u m e n i s c h e n Rat zunehmend deutlicher erfaßt und in den Vordergrund gerückt. Die E i n o r d n u n g und W e r t u n g der theologischen Verlautbarungen sind aber schwierig. Glaubenssätze in irgendeinem verpflichtenden Sinn sind weder die D o k u m e n t e der Vollversammlung noch die der K o m m i s s i o n „ F a i t h

1

Vgl. zum Ganzen jetzt Wegener-Fueter, H., Kirche und Ökumene. Göttinger Theologische Arbeiten 10, 1979.

2

Vgl. ]. Möllmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, S. 172f. Ph. A. Potter, in: Bericht aus Nairobi 75, Hrsg. H. Krüger und W. MüllerRömheld, 2. Aufl. 1976, S. 256.

3

48

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

and O r d e r " . Klugerweise ist man trotz aller grundsätzlichen Überlegungen bisher nicht von dem G r u n d s a t z von T o r o n t o 1950 abgewichen, demzufolge der ö k u m e n i s c h e Rat der Kirchen es sich prinzipiell versagt, sich „auf den Boden einer besonderen Auffassung von der Kirche" zu stellen 4 , und ausdrücklich betont, daß die Mitgliedschaft im Ö R K weder irgendein Präjudiz bedeutet noch eine Konsequenz f ü r die Ekklesiologie der Mitgliedskirchen haben m u ß . Die Kirchen sind an die Beschlüsse selbst dann nicht gebunden, wenn ihre Vertreter dem Sektionsbericht zugestimmt haben 5 . Die Verlautbarungen geben also nicht das wieder, was in den Mitgliedskirchen von der Kirche oder überhaupt geglaubt wird sondern sind eine theologische Spezies eigener A r t . Ihre Besonderheit liegt darin, daß das theologisch in die E k klesiologie gehörige U n t e r n e h m e n sich selber nicht ekklesiologisch definieren darf. Daher werden alle Verständnisse abgewehrt, die im Ö R K eine „ W e l t kirche" oder „die U n a Sancta, von der in den Glaubensbekenntnissen die Rede ist" 6 , sehen wollen. Positiv versteht sich der Rat formal und funktional im wesentlichen als Gesprächsforum, auf dem sich über die ekklesiologische Problematik des Verhältnisses „anderer Kirchen zu der heiligen katholischen Kirche, die in den Glaubensbekenntnissen bekannt w i r d " 7 , verständigt werden kann und soll. Diese Formulierung zeigt die weitere grundlegende Schwierigkeit an. Selbstverständlich sind diese Sätze ekklesiologisch. U n d sie sind P r o d u k t e von Kompromissen, die meist unter Zeitdruck Zustandekommen. Als Kompromisse müssen sie den verschiedenen theologischen Richtungen der Mitgliedskirchen Rechnung tragen, und daher können sich auf diesen Text orthodoxe Theologen, f ü r die das empirische Vorhandensein der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche gar kein Problem ist, ebenso einlassen wie die Kirchen der Reformation, denen das problematische Verhältnis der Konfessionen zur U n a Sancta seit ihrer Entstehung vertraut war, wenn es auch ohne Lösung geblieben ist. Die O r t h o d o x e n haben die Möglichkeit, das Verhältnis der anderen Kirchen zu ihnen — als der Sancta Catholica, die den ökumenischen Symbolen treugeblieben ist — zu besprechen. Die Protestanten können auf der Basis der gleichen Formel die grundsätzliche Frage ihrer eigenen Ekklesiologie debattieren, wie sich die verschiedenen Kirchentümer

4

Die Einheit der Kirche, Material der ö k u m e n i s c h e n Bewegung, H r s g . L. Vischer,

5

Vgl. a . a . O . , S. 254ff.

1965, S. 254 (im folgenden: Einheit der Kirche). 6

a . a . O . , S. 253.

7

a . a . O . , S. 257.

Die Ekklesiologie des ökumenischen Rates

49

zu der „ w e s e n t l i c h e n " Kirche verhalten, von der die Bekenntnisse reden. Das P r o b l e m besteht nun darin, zu erkennen oder festzulegen, welche D e u t u n g des aus einem K o m p r o m i ß zustandegekommenen Textes die richtige ist und was die Verfasser damit gemeint haben. Es fließt also in der Beurteilung der Ekklesiologie ein noch größeres M a ß an Subjektivität ein als sonst. D i e Ekklesiologie des Ö R K und der K o m m i s s i o n für Glauben und K i r chenverfassung haben im Verlauf der letzten 2 0 J a h r e eine grundlegende Wandlung erfahren. D i e erste Vollversammlung des Ö R K in Amsterdam 1948 versuchte n o c h , durch einen christologischen R e k u r s die Einheit der K i r c h e als bereits vorgegeben zu b e s t i m m e n : „ G o t t hat in Jesus Christus seinem V o l k eine Einheit g e g e b e n " 8 . Diese christologisch pulsierende Einheit ist die wesentliche, und da Jesus Christus gemäß der Basisformel von 1948 als G o t t und Heiland im wesentlichen nicht strittig zu sein schien 9 , findet man mit diesem Rückgriff eine ebenso unumstrittene Einheit der K i r c h e , die umsoweniger von den aktuellen Spaltungen und Streitigkeiten tangiert sein kann, als diese Einheit diese Differenzen umgreift. D e n n nicht wir, sondern G o t t hat sie geschaffen. D a h e r erkennt die Vollversammlung, „ d a ß wir t r o t z unserer T r e n n u n g in Jesus Christus eins s i n d " 1 0 . D i e s e r Kunstgriff, ekklesiologische Streitigkeiten durch R ü c k g r i f f auf eine anscheinend unbestrittene Christologie zu umgehen, zeigt deutlich die H a n d schrift Karl B a r t h s 1 1 . J e d o c h zeigen die Verlautbarungen der K o m m i s s i o n für Glauben und Kirchenverfassung von T o r o n t o , daß dieser Kunstgriff vorschnell eine Einheit postulierte. D e n n die im Ö R K zusammengeschlossenen K i r c h e n behalten sich in der Erklärung von T o r o n t o ausdrücklich vor, daß sie anderen Mitgliedskirchen das Kirchesein im Vollsinn des W o r t e s (in der jeweiligen ekklesiologischen T h e o r i e natürlich) absprechen k ö n n e n . Das bedeutet, daß die vorausgesetzte christologisch fundierte Einheit keine Auswirkungen für die Ekklesiologie zu haben braucht und für den Glauben als L e -

8 9

10 11

a . a . O . , S. 83. Vgl. aber auch die immer noch wichtige Kritik R. Bultmanns, Das christologische Bekenntnis des ökumenischen Rates, (1951), G + V II, 4. unv. Aufl. 1965, S. 246—261 und zum ganzen Zusammenhang W. Theurer, Die trinitarische Basis des ökumenischen Rates, 1967. Einheit der Kirche, S. 83. Vgl. Barths berühmte These: „Das Sein der Kirche, d. h. aber Jesus Christus", KD 1/1, S. 2f. Barth zitiert sich selbst mit einer wichtigen Nuance: „das Sein Jesu Christi ist das Sein der Kirche", KD IV/2, S. 741, (Hervorhebungen von Barth).

50

D i e notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

bensgestalt folgenlos bleiben kann. Immerhin erkennen die Kirchen „einander an als solche, die dem einen Herrn dienen, und sie wollen die Unterschiede in gegenseitiger Achtung erforschen, darauf vertrauend, daß sie durch den Heiligen Geist dazu geführt werden, ihre Einheit in Christus sichtbar zu m a c h e n " 1 2 . Weil man erkannt hat, daß die platonisierende Einheit in Christus keine Lösung des Problems der Kircheneinheit ist, hat man den doch aus dieser Christologie notwendigen Schluß, die Einheit in Christus als Kircheneinheit zu definieren, vermieden. Dennoch haben die orthodoxen Vertreter an der Abstimmung in Lund nicht teilgenommen 1 3 , weil für die orthodoxe T h e o logie die Einheit der Kirche nicht aktual in den Vollzug des Wortes Gottes zurückgenommen werden kann. Sie hat sichtbare Kriterien in der apostolischen Sukzession des sakramental-zentrierten Amtes, in der Treue zur kirchlichen Tradition und ihrer Ordnung. Einheit der Kirche ohne Kirchengemeinschaft ist für die orthodoxen Kirchen undenkbar. Beides aber orientiert sich an den obengenannten Kriterien 1 4 . So führt die Frage nach der Verbindlichkeit und richtigen Auslegung der Dokumente mitten hinein in die ekklesiologische Frage, ohne daß sie wirklich beantwortbar wäre. Methodisch ist zu fragen, auf welche Kirche die theologischen Kommissionen reflektieren. U n d theologisch fragt man, welche Autorität die Dokumente haben. Beide Fragen sind nicht zu beantworten. Bezüglich der Autorität der Dokumente hat Visser't H o o f t an den russisch-orthodoxen „ S o b o r n o s t " erinnert 1 5 und analog dazu die Autorität an die Annahme der Dokumente durch die Mitgliedskirchen gebunden. Die Konferenz von Lund 1952 hat einen Ausweg aus der ekklesiologischen Folgenlosigkeit der christologischen Voraussetzungen versucht. D e n Delegierten schien mit der bisherigen Methode der vergleichenden Ekklesiologie kein Fortschritt auf Einheit hin mehr möglich. Deswegen versuchte man, die Methode des theologischen Gsprächs entscheidend zu modifizieren. Dabei konnte man die Vorstellung von der wesentlichen Einheit in Jesus Christus hinter allen konkreten Differenzen nicht mehr unverändert übernehmen. Man erhoffte vielmehr ein tieferes Verständnis der Einheit von der freilich immer noch christologisch zugespitzten Konzentration auf den „ G e -

12

Einheit der Kirche, S. 258.

13

a . a . O . , S. 24.

14

Vgl. R . Slenczka, O s t k i r c h e und Ö k u m e n e , D i e Einheit der Kirche als dogmatisches Problem in der neueren ostkirchlichen Theologie, 1962, S. 16.

15

Vgl. ö k u m e n i s c h e r Aufbruch, Hauptschriften B d 2, 1967, S. 139.

Die Ekklesiologie des ö k u m e n i s c h e n Rates

51

samtzusammenhang des Handelns Gottes mit seinem ganzen Volk" 1 6 . Die Überzeugung, daß die Kirchen einander nur näher kommen, „indem wir Christus näher kommen" 1 7 , setzt eine hermeneutische Rückbesinnung auf den Grund einer dogmatischen und liturgischen Tradition in Gang, nämlich das Christusgeschehen, von dem das Neue Testament berichtet und das die Kirche in Verkündigung und Liturgie als Evangelium weitergibt. Nur so ist es möglich, zu einem „tieferen und reicheren Verständnis des Geheimnisses der von Gott gegebenen Einheit Christi mit seiner Kirche hindurchzudringen" 1 8 . Dabei ist bedeutsam, daß die Besinnung auf das Christusgeschehen einerseits eine methodische Bedeutung hat, insofern dadurch ein Kriterium zur Beurteilung aller Tradition gewonnen werden soll, andererseits als geschichtlicher Vorgang im Gesamtzusammenhang des Handelns Gottes mit seinem Volk eschatologisch verstanden werden soll. Die Christologie wird dabei viel zurückhaltender als in Amsterdam als Bezugsrahmen aller Ekklesiologie gesetzt. Dabei wird die Einheit der Kirchen nicht nur als Funktion der Einheit des erhöhten Christus und seiner Identität, sondern auch seiner Einheit mit dem Volk Gottes gesehen: „Von der Einheit der Person Christi her versuchen wir, die Einheit der Kirche auf Erden zu verstehen. Im Blick auf die Einheit Christi und seines Leibes versuchen wir, diese Einheit im gegenwärtigen Zustand unserer Trennung als eine Wirklichkeit zu erkennen" 1 9 . Die Impulse von Lund beeinflussen die zweite Vollversammlung des Ö R K in Evanston 1954, die die Spaltungen der Christenheit am schärfsten in der Zerrissenheit und dem teilweisen Gegeneinander der Mission beklagte. Dabei entschwindet allerdings die Einheit der Kirche immer stärker in die erst im Eschaton aufgehobene Verborgenheit, die auch nun nicht mehr wie noch 16

Einheit der Kirche, S. 94.

17

ebd.

18

ebd. E. Lange, Die ökumenische U t o p i e oder Was bewegt die ökumenische Bewegung, 1972, S. 45 f. hat auf die Konsequenzen dieser methodischen W e n d e bezüglich der normativen Rolle der Bibel hingewiesen. D e r H e r v o r h e b u n g des hermeneutischen Problems geht parallel zur W e n d u n g des Ö R K von der n u r vergleichenden zur praktischen Ekklesiologie. In dem M a ß e , wie die Situation mit ihren Gegebenheiten u n d offenen P r o b l e m e n das Verhältnis der Christen zur Bibel bestimmt (vgl. zentral L ö w e n 1971, H r s g . K. Raiser, Beiheft zur Ö R 18/19, S. 16), beginnt der „ K o n t e x t " des gesellschaftlichen u n d privaten Lebens der Christen für die Ekklesiologie der Ö R K wichtig zu werden. Vgl. dazu unten.

19

a . a . O . , S. 96.

52

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

1948 christologisch aktual übersprungen werden kann. O b w o h l G o t t den Christen einige Zeichen der Einheit gegeben hat 2 0 , bleibt die Wirklichkeit der Einheit und ihre Wahrheit verborgen, nur der Glaube weiß, daß die Einheit der Kirche „in Christus am Ende ihrer Wanderung völlig und allen sichtbar sein wird. Unsere Einheit in Christus gehört zum eigentlichen Wesen der Wirklichkeit. Dies ist das Ziel, auf das alle Geschichte und die ganze Schöpfung zugeht. Im Vorwärtseilen diesem Ziel entgegen, sind wir e i n s " 2 1 . In diesem Text wird die Einheit der Kirche in Christus zwar noch zum eigentlichen Wesen der Wirklichkeit gerechnet, aber die Einheit der Kirche, sofern sie sich jetzt schon ereignet, ist von dem Ziel der Geschichte bestimmt, eigentlich eine Funktion dieses Ziels. Die Kirche ist eins im „Vorwärtseilen diesem Ziel entgegen". Damit ist die Einheit der Kirche verbunden mit dem eschatologischen Geschehen der Weltgeschichte: der Glaube weiß etwas, was der Welt jetzt noch verborgen ist und erst am Ende der Zeit, wenn die G e schichte der Welt an ihr Ziel gekommen ist, allen sichtbar sein wird. Indem der Glaube dieses Ziel schon kennt, nimmt er die logische Struktur der Antizipation an: er nimmt kognitiv das eigentliche Wesen der Wirklichkeit vorweg. Die Ausrichtung auf dieses Ziel hat als existentielle Folge das mögliche Uberspringen aktueller Spaltungen: schon jetzt sind die Kirchen eins im Vorwärtseilen dem kognitiv bekannten Ziel entgegen. Daher muß die Einheit der Kirche nicht mehr essentiell bestimmt werden, sondern kann funktional sich auf das Ziel hin orientieren. Allerdings muß schon jetzt darauf hingewiesen werden, daß die Einheit im Bezug auf das Ziel der Geschichte auf keinen Fall ein Kennzeichen der Kirche sein kann, denn im Vorwärtseilen, dem Ziel der Geschichte entgegen, ist sich die Kirche mit dem ganzen Weltprozeß, der ja nicht als Geschehen von Kirche definiert werden kann, einig.

20

Die

1.

Im Geschiedensein wird das Wirken des einen Christus bezeugt.

2.

W i r vernehmen die Stimme des guten Hirten auch im Zeugnis anderer Kirchen.

3.

W i r haben die Kraft des N a m e n s Christi in unseren Gebeten erlebt.

4.

W i r haben erkannt, daß auch in anderen Kirchen die Liebe Christi in W o r t und T a t bezeugt wird.

5.

ö k u m e n i s c h e Bewegung zeigt uns, daß die Wirklichkeit Christi umfassender als unsere Konfession ist. Christus verbietet uns, einander wieder fahren zu lassen.

Vgl. Evanston — D o k u m e n t e , Hrsg. F . Lüpsen, 1954, S. 31. 21

ebd.

Die Ekklesiologie des ö k u m e n i s c h e n Rates

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ganze Schöpfung geht diesem Ziel entgegen. Daher kann die eschatologische Qualifizierung nicht das Kennzeichen der Kirche sein. D i e von Lund vorbereitete und in Evanston vollzogene Wende der E k klesiologie des Ö R K wird schließlich in Neu Delhi 1961 daraufhin durchdacht, wie die im Glauben antizipierte Wirklichkeit in der Welt Gestalt gewinnen könnte. Jedoch sollen auch diese Versuche immer noch keine bestimmte Lehre von der Kirche voraussetzen, sondern nur einen Schritt weiterführen auf dem Weg zur vollen Einheit 2 2 . Der von Evanston vorgezeichnete eschatologisch-funktionale Rahmen wird nicht verlassen. So potenziert sich das theologische Grundproblem des Ö R K noch einmal: der Glaube, der kognitiv die Einheit der Kirche und die Wiederherstellung der Schöpfung antizipiert, existenziell bruchstückhaft bereits jetzt erlebt, erfährt und gestaltet, kann und darf um dieser zukünftigen Einheit willen sein antizipatorischekklesiologisches Denken und seine Erfahrungen nicht dogmatisch-kognitiv theoretisieren, denn dies würde eine bestimmte Ekklesiologie bedeuten. Die Vollversammlung versucht einen Ausweg aus diesem Dilemma, indem sie ihre Aussagen als „Zielbeschreibungen" bezeichnet und erklärt: „ W i r glauben, daß die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine G a b e an die Kirche ist, sichtbar gemacht wird, indem alle an jedem O r t , die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den H e i ligen Geist in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine B r o t bricht, sich im gemeinsamen G e b e t vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich in Zeugnis und Dienst an alle wendet. Sie sind zugleich vereint mit der gesamten Christenheit an allen O r t e n und zu allen Zeiten in der Weise, daß A m t und Glieder von allen anerkannt werden und alle gemeinsam so handeln und sprechen können, wie es die gegebene Lage im Hinblick auf die Aufgaben erfordert, zu denen G o t t sein V o l k ruft. Wir glauben, daß wir für solche Einheit beten und arbeiten m ü s s e n " 2 3 .

Diese Formulierungen sind — obgleich „Zielbeschreibungen" — als Glaubensaussagen eingeführt. Der Glaube bekennt einen sichtbaren Vorgang als seinen Inhalt: die getauften und ihren Herrn bekennenden Christen werden durch den Heiligen Geist in eine „völlig verpflichtete Gemeinschaft" geführt, die als ihre Prädikate wiederum Vorgänger hat, die allen gemeinsam sind: ein

22 23

5

Vgl. N e u - D e l h i - D o k u m e n t e , H r s g . F . Lüpsen, 1962, S. 66. a . a . O . , S. 6 5 f . Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

54

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Bekenntnis, ein Evangelium, ein Herrenmahl, gemeinsames Gebet und Leben, Zeugnis und Dienst an allen. Die Einheit der Kirche ist also beschreibbar an ihren sichtbaren Funktionen. Die Einheit wird also hier nicht institutionell gesehen, und sie überspringt de £acto tiefe theologische Differenzen, denn außer über die Taufe ist in dogmatischen Fragen wenig Einigkeit erzielt. Das eine Bekenntnis und das Herrenmahl sind bisher keine sichtbaren Zeichen der Einheit der Kirche, und sie sind es weder funktional noch theoretisch. Die beiden Formeln „alle an jedem O r t " und „völlig verpflichtende Gemeinschaft" haben innerhalb dieser Glaubensdeklaration eine besondere Bedeutung und sind von einer wesentlichen Unausgeglichenheit durchzogen. Einerseits wird die Sichtbarmachung im ersten Satz vom Amt in einer sichtbaren Organisation abgezogen und auf die Lebenspraxis der einzelnen christlichen Gruppen in ihrem gesellschaftlichen, politischen Kontext verlagert. Die Gemeinschaft, in die die Getauften hineingeführt werden, ist mehr als eine Organisation. Gemeinschaft ist das Wesen der Kirche, und zu ihr gehört zunächst nicht das Amt und auch keine bestimmte „Uniformität des Aufbaus, der Organisation oder der Leitung" 2 4 . Die „völlig verpflichtende Gemeinschaft" wird aber charakterisiert durch das Bekenntnis zu dem einen apostolischen Glauben, der in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes bezeugt ist 2 5 , der Verkündigung des Evangeliums, der Feier der Eucharistie — wobei gerade hier die Spaltungen der Kirchen besonders schmerzlich empfunden werden 26 — gemeinsames Gebet und Leben. So ist die durch die Inkarnation Jesu Christi 2 7 notwendige Sichtbarkeit der Einheit der Kirche funktional sichtbar bestimmt durch das Hineinführen in eine Koinonia und nicht durch die traditionellen Merkmale. Zugleich bekommt die so verstandene Einheit durch die Formel „alle an jedem O r t " die notwendige katholische Weite. Katholizität aber wird durch den Kontext bestimmt und nicht durch theologische Begrifflichkeit. Der zweite Satz freilich schließt mit dem „zugleich" nur widerspruchsvoll an: „Alle an jedem O r t " sind jedenfalls von ihrem Selbstverständnis her keineswegs mit der ganzen Christenheit vereint in der Anerkennung von Amt und Gliedern. Könnte man den ersten Satz trotz der Differenzen im Verständnis des Abendmahls beispielsweise durchaus noch als wirkliche Be24

a . a . O . , S. 69.

25

vgl. ebd. Also auch zunächst nicht durch die altkirchlichen Symbole!

26

ebd.

27

Vgl. a . a . O . , S. 67.

Die Ekklesiologie des ökumenischen Rates

55

Schreibung einer wirklich schon jetzt sichtbaren Gemeinschaft verstehen, die die Konfessionen umgreift, so trifft dies auf den zweiten Satz keinesfalls zu. D i e Katholizität, die hier an die Einheit gebunden wird, ist die zeitliche K a tholizität mit der Kirche als theologische Aussage, nicht mehr die Katholizität, die sich aus dem „ K o n t e x t " ergibt. Daher wird es auch notwendig, nun theologisch von der Anerkennung des A m t e s zu sprechen, und damit wird es zugleich unmöglich, von den jetzt vorhandenen Kirchen als realer Einheit zu sprechen. Diese Einheit ist reine Zielbestimmung, jene in der Wirklichkeit der ökumenischen Bewegung wenigstens teilweise schon verwirklicht. Bemerkenswerterweise nimmt N e u Delhi die christologische B e g r ü n d u n g der Einheit der Kirche noch weiter zurück. Zwar wird die Sichtbarkeit der Gemeinschaft mit der Inkarnation begründet, und die Einheit ist die in einem Herren, aber das bedeutet: „ D i e Einheit, die geschenkt ist, ist die Einheit des einen, dreieinigen Gottes, von dem und durch den und zu dem alle D i n g e sind. E s ist die Einheit, die er seinem Volk durch seinen Entschluß gibt, unter ihnen zu wohnen und ihr G o t t zu sein. E s ist die Einheit, die er seinem Volk durch die G a b e seines Sohnes schenkt, der uns durch seinen T o d und seine Auferstehung in seiner Sohnschaft unter dem einen Vater zusammenbindet. E s ist die Einheit, die seinem Volk durch seinen Geist und alle G a b e n des Geistes geschenkt ist, die die neue Menschheit in Christus lebendig machen, erbauen und k r ä f t i g e n " 2 8 . N e u Delhi ersetzt also die christologische durch eine trinitarische Begründung. Dieses geschieht korrespondierend zur Erweiterung der Basisformel des Ö R K um die trinitarische Formel: „ Z u r Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen G e i s t e s " 2 9 . In N e u Delhi wird die seit L u n d und Evanston vorbereitete Verbindung der Ekklesiologie mit der Heilsgeschichte und dem Heilshandeln Gottes konsequent trinitarisch gesichert und damit die theologische Voraussetzung dafür geschaffen, die Kirche unter dem A s p e k t der neuen Schöpfung — zu dem auch eine neue Menschheit gehört — zu sehen. So hat N e u Delhi die Weichen für die grundlegende Besinnung auf die Kennzeichen der Kirche in U p p s a l a 1968 gestellt, um deretwillen wir hier so ausführlich auf die Ekklesiologie des Ö R K eingehen. In den Einleitungssätzen zum Sektionsentwurf zum T h e m a „ D e r Heilige Geist und die Katholizität der K i r c h e " weist der armenische orthodoxe Bischof Sarkissian auf die wechselseitigen Interdependenzen der anderen tradi28 29

5*

ebd. a . a . O . , S. 170. Vgl. dazu W. Theurer, a . a . O .

56

D i e notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

tionellen Kennzeichen der Kirche mit dem der besonders thematisierten Katholizität hin 3 0 . N e u Delhi hatte indirekt das Thema Katholizität bereits angeschlagen, und nun wurde es umso wichtiger, als die jungen Kirchen mit wachsendem Selbstbewußtsein und wachsender Entkolonisierung

darauf

drängten, über die Rolle der Kirche nachzudenken, die sie in einer sich mehr und mehr als einheitlichen Zusammenhang erfahrenden Welt einnehmen könnte. Dabei muß die Kirche sich der Bedrohung durch die „säkularen Katholizitäten" 3 1 bewußt sein, die die immer schon vorhandenen Verfehlungen der Katholizität durch das Verhalten der Kirchen selber zu ihrem Vorteil buchen können und so den universalen Anspruch der Kirche als wirkungslos und entbehrlich erscheinen lassen. D i e Merkmale der Kirche — am Beispiel der Katholizität — können also nicht einfach theologisch deduziert werden, sondern sind mit den kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Ansprüchen der ganzen Welt zu ermitteln. Die Kirche ist in die Welt .gesandt und muß sich daher an der Welt auch definieren können — oder wenigstens ihre mögliche Funktion in der kommenden Weltgemeinschaft erkennen und verwirklichen können, d . h . das theologische Interesse des Ö R K verlagert sich zunehmend von der Frage nach der rechten theologischen Definition zum Problem des richtigen Verhaltens. Diese Tendenz ist eine notwendige Folge der Funktionalisierung der theologischen Begriffe. Sie ist aber auch eine notwendige erkenntnistheoretische Umorientierung des ekklesiologischen Ansatzes. Denn die nebelhaften Spekulationen über die Einheit der Person Christi und die de facto teleologisch orientierte Ausrichtung auf das Ziel der Welt lassen keine Möglichkeit mehr zur Erfassung und Gestaltung des ekklesiologischen und des profanen Jetzt. Daher wird unter dem Einfluß der jungen Kirchen, die weniger in einer falschen D o x a als in einer falschen Lebenspraxis leben müssen, der Häresiebegriff ausgeweitet auf die Praxis des Lebens. Es gibt nicht nur eine falsche D o x a , sondern auch ein falsches Leben, und beides muß Häresie genannt werden. Diese Stimmung hat Vissert't H o o f t aufgenommen, indem er sagte: „ E s muß uns klar werden, daß die Kirchenglieder, die in der Praxis ihre Verantwortung für die Bedürftigen irgendwo in der Welt leugnen, ebenso der Häresie schuldig sind wie die, welche die eine oder andere Glaubenswahrheit verwerfen" 3 2 .

30

Vgl. Bericht aus Uppsala, Hrsg. N . Goddall, 1968, S. 3 f f .

31

a . a . O . , S. 15.

32

In einer Rede zur Erinnerung an Stockholm 1925 in Uppsala, in Bericht aus Uppsala 1968, a . a . O . , S. 337.

Die Ekklesiologie des ö k u m e n i s c h e n Rates

57

U n d die Sektion, die über die wirtschaftliche und soziale Weltentwicklung arbeitete, sah die Aufgabe der Kirche heute darin, „ f ü r eine weltweite verantwortliche Gesellschaft zu arbeiten und Menschen und N a t i o n e n zur Buße aufzurufen. Angesichts der N ö t e der Welt selbstzufrieden zu sein, bedeutet der Häresie schuldig zu w e r d e n " 3 3 . Dabei versucht auch Uppsala die theologische Begrifflichkeit nicht zu vernachlässigen. So werden die vier grundlegenden Eigenschaften der Kirche einerseits als Gottesgabe, andererseits als unsere Aufgabe definiert, die sich aus der Teilnahme der Christen an Gottes neuer Schöpfung ergibt. Diese Eigenschaften haben „in enger wechselseitiger Abhängigkeit das glaubwürdige Leben der Kirche schon immer charakterisiert" 3 4 . Die Eigenschaften werden dann durchaus traditionell beschrieben. Die Einheit „ w i r d sichtbar in der Verkündigung des Evangeliums, in der Taufe und in der Feier des Heiligen A b e n d m a h l s " . Die Heiligkeit „ w i r d von G o t t allein verliehen" und „ d u r c h den Heiligen Geist in der Schaffung einer Gemeinschaft offenbart, die ihre Heiligkeit in einem Leben zu G o t t und f ü r andere zeigt". Die Apostolizität besteht in der „Gesandtschaft der Versöhn u n g " und beruht auf der Sendung der Apostel durch den H e r r n , das Evangelium allen Menschen zu verkündigen" 3 5 . A m Beispiel der Katholizität wird aber n u n eines der vier Merkmale der Kirche in bezug auf die Rolle der Kirche in der Weltgemeinschaft funktional und im Blick auf das Verhalten der Kirche entwickelt. N e b e n den traditionellen KatholizitätsVerständnissen (zeitliche, räumliche, kulturelle, rassische etc.) wird Katholizität bezogen auf die eschatologisch-zukünftige Einheit der Menschheit. Damit wird eine säkular-wahrgenommene Entwicklung theologisch interpretiert. Die Christenheit ist demnach in der Lage, den sich immer weiter ausdehnenden Vereinheitlichungsprozeß der säkularen Welt theoretisch und theologisch zu interpretieren. In Schöpfung und Erlösung in Christus ist die sich säkular erst verwirklichende Einheit des ganzen Menschengeschlechts schon angelegt,

33

a . a . O . , S. 52f. R . Slenczka hat gegen den Begriff der ethischen Häresie eingewandt, er zerstöre den Häresiebegriff, weil es keine isolierte ethische Häresie geben k ö n n e u n d Häresie im wesentlichen dogmatischer N a t u r sei, deren soziales M o m e n t nicht vergessen werden dürfe, in: Die Lehre trennt - aber verbindet das Dienen? Z u m T h e m a : Dogmatische u n d ethische Häresie, K u D 19, 1973, S. 1 2 5 - 1 4 9 .

34

a . a . O . , S. 9.

35

ebd.

58

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

und in der Kirche ist die neue Gemeinschaft, in der die Schöpfung wiederhergestellt ist und die Menschen bereits versöhnt sind, schon Wirklichkeit 36 . Die Katholizität der Kirche ist also ein Zeichen für die zukünftige Einheit der Menschen, in der sich diese Anlagen verwirklichen. Die Funktion der Kirche erfüllt sich darin, daß „die Menschen durch den Dienst Christi in der Kirche Katholizität empfangen" 37 . Die Kirche kann also in ihrer Botschaft den Menschen ein lebbares und von der Offenbarung in Christus her verstehbares Bewußtsein von den sie umgebenden Vereinheitlichungstendenzen der säkularen Welt geben. Das, was sich in der Welt der säkularen Katholizitäten vollzieht, kann dann in den Heilsplan Christi eingeordnet werden, und so gewinnt die Kirche eine zugleich solidarische wie kritische Position zu den durch die Technik in Gang gesetzten Uniformitätsbewegungen. Dazu muß die Kirche allerdings „in allen ihren Teilen und in jeder Hinsicht ihres Lebens und vor allem in ihrem Gottesdienst ,katholisch' sein im Sinne von Gabe und Aufgabe" 38 . Freilich verfehlt sie immer wieder die Katholizität, und so wird deren Vollendung erst dann erreicht, „wenn das, was Gott bereits in der Geschichte begonnen hat, schließlich enthüllt und erfüllt wird" 3 9 . So ist in der fehlerhaften Katholizität der Kirche das Ziel der Geschichte verhüllt bereits anwesend. In den Sakramenten hat die Kirche besonders hervorgehobene Manifestationen dieses Endes. Das Abendmahl ist eng mit der Katholizität verbunden, weil sich in ihm die neue Gemeinschaft der Menschen mit Christus und seiner neuen Schöpfung verbindet. In der sakramentalen Manifestation der Katholizität verbindet diese sich mit der Einheit. Deutlich wird hier der Einfluß des Abendmahlsverständnisses der Ostkirchen. In der Abendmahlsliturgie verbindet sich die ecclesia migrans mit der ecclesia triumphans zur katholischen communio sanctorum, deren 36

Vgl. a . a . O . , S. 15.

37

a . a . O . , S. 9.

38

a . a . O . , S. 10.

39

ebd. Deshalb ist „Katholizität voller E r w a r t u n g " ( a . a . O . , S. 15). Aus dieser schon im Entwurf der Sektion vorgesehenen eschatologischen Ö f f n u n g der Katholizität schloß B i s c h o f Kassian, daß im Entwurf für die Sektion die Katholizität nicht länger als nota ecclesiae im traditionellen Sinn betrachtet werde, vgl. a . a . O . , S. 3. Diese Terminologie ist allerdings nur den Konfessionen des „ k a t h o l i s c h e n " T y p s traditionell, so daß man dies nicht so generell sagen kann. Deshalb ist auch das Urteil, die Theologie des O R K verzichte auf die Katholizität als nota ecclesiae, ganz absurd.

Die Ekklesiologie des ö k u m e n i s c h e n Rates

59

mystisches Abbild auf der Opferschale in der Proskomidie gelegt wird: in ihr versammelt sich die ganze Kirche um das zum Leib Christi verwandelte Kreuzeszeichen des Brotes. So wie in der Liturgie die eine Kirche sich als katholisch darstellt, muß auch die Universalität erfahrbar sein, wenn ihre Einheit sichtbar wird, nämlich dort, wo alle an jedem O r t in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, wie N e u Delhi formuliert hatte. Diese problematische Einheit will Uppsala präzisieren: Die Einheit der Kirche manifestiert sich in ihrer Universalität darin, daß sie die notwendigen — und von der Katholizität geforderten — Bindungen an Nationen und Kultur des Landes, in dem sie sich organisiert, geringer einschätzt als die übergeordnete Einheit der Christen in dem universalen, alle kulturellen, nationalen und rassischen Schranken übergreifenden Leib Christi. Solche Universalität ist erfahrbar, indem die regionalen Kirchen regionale und internationale konfessionelle Gemeinschaften schaffen. Der Ö R K versteht sich selbst als Vorform und „Ubergangslösung bis zu einer schließlich zu verwirklichenden wahrhaft universalen, ökumenischen, konziliaren F o r m des gemeinsamen Lebens und Zeugnisses" 4 0 . In Uppsala vollzog sich die entscheidende Wende innerhalb der Ekklesiologie des Ö R K . Die Einheit der Kirche wird nicht mehr allein dogmatisch-theologisch reflektiert, sondern diese Reflexionen werden auf die Basis des christlichen Weltverhaltens gestellt. Das Mühen um die Einheit der Kirche und damit der Verwirklichung einer nota ecclesiae findet sich nicht mehr nur theoretisch, sondern auch ethisch stets im Kontext säkularer Beziehungen. Diese sind nämlich das Beziehungsfeld, in dem die Kennzeichen der Kirche für den einzelnen Christen und seine K o m munitäten ihre Relevanz zeigen. Die Konferenzen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in Löwen und Accra 1974 haben sich entschlossen der von Uppsala ausgegebenen Orientierung angeschlossen. Im Bericht an die Fünfte Vollversammlung des Ö R K faßte der Vorsitzende des Zentralausschusses die Arbeit dieser beiden Konferenzen im Hinweis darauf zusammen, daß die Kommission „sich inzwischen mit dem Problem der Beziehung und Interaktion zwischen christlicher Identität — übertragen durch die Taufe und ausgedrückt in der Abendmahlsgemeinschaft — und den Identitäten einer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Kaste, Klasse, Nation oder einer Bewegung, die um Befreiung k ä m p f t " , befaßt 4 1 . Die Löwener Tagung wählte als Thema gerade die umstrittene „ E i n 40

Bericht aus Uppsala, a . a . O . , S. 14.

41

Bericht aus N a i r o b i , 75, a . a . O . , S. 238.

60

D i e notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

heit der Kirche — Einheit der M e n s c h h e i t " 4 2 , und die dort erarbeitete Studie führte in Accra zu einer Erklärung an die kommende Vollversammlung des Ö R K , mit dem Titel: „ A u f dem Weg zur Einheit in den Spannungen unserer Z e i t " 4 3 . Besonders die afrikanischen Kirchen sehen die Einheit und die Katholizität der Kirche nur noch in Verbindung mit der „Indigenisation". Die Einheit der katholischen Kirche kann nur eine pluralistische sein, in der sich, die kulturelle Vielfalt der Völker entfalten kann. Davon wird die Einheit der Kirche nicht nur nicht zerstört, sondern gerade erst gewährleistet. So sehen die afrikanischen Kirchen in der Indigenisation eine Stärkung der Katholizität 4 4 . Die Vollversammlung des Ö R K in Nairobi suchte in ausdrücklicher Anknüpfung an die vorhergehenden Konferenzen vor allem dem ekklesiologischen Begriff der „konziliaren Gemeinschaft" schärfere Konturen zu geben und die Hindernisse auf dem Wege zu ihrer Verwirklichung beim Namen zu nennen. Grundsätzlich erkennt man an, daß die Einheit der Kirche eigentlich die Voraussetzung einer solchen Gemeinschaft ist, weil die Konziliarität der Ausdruck der inneren Einheit der Kirche ist, die ihrerseits trinitarisch fundiert und christologisch zugespitzt ist 4 5 . Deshalb liegt die Verwirklichung der konziliaren Gemeinschaft noch in der Zukunft, denn solange kein gemeinsames Verständnis des apostolischen Glaubens erreicht ist, kein allen gemeinsames und allgemein anerkanntes Amt geschaffen und keine gemeinsame Eucharistiefeier möglich ist, solange sind auch die interkonfessionellen Zusammenkünfte noch nicht konziliar, selbst wenn sie im gewissen Sinn Ausdruck der gelebten inneren Einheit sein mögen 4 6 .

42

Löwen 1971, Hrsg. K . Raiser, a . a . O .

43

Accra 1974, H r s g . G . Müller - Fahrenholz, Beiheft zur Ö R 27, 1974, S. 4 1 - 4 5 .

44

Vgl. aus dem Bericht an die 3. Vollversammlung der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz in Lusaka 1973 den Bericht des Vorsitzenden Kanonikus Burgess Carr, bes. die in Accra zitierte Stelle, a . a . O . , S. 80, in der die Indigenisation zur Stärkung der Katholizität gefordert wird. Das Rassismusproblem hat gelegentlich dazu geführt, den überrassischen, übernationalen Charakter der Kirche als 3. nota neben W o r t und Sakrament treten zu lassen, vgl. K . Blaser, W e n n G o t t schwarz wäre . . ., Das Problem des Rassismus in Theologie und christlicher Praxis, 1972, S. 3 0 3 . Diesem Anspruch kann durch die Interpretation der Katholizität der Kirche genügt werden, Antirassismus allein als nota zu erheben, würde den Katholizitätsgedanken unnötig einengen.

45

Vgl. Bericht aus Nairobi, a . a . O . , S. 27.

46

Vgl. ebd.

61

D i e E k k l e s i o l o g i e des ö k u m e n i s c h e n R a t e s

Die Vollversammlung von Nairobi aber kann diese ekklesiologischen Überlegungen nur im Hinblick auf das ethische Feld und die Einheit und Vielfalt der Menschheit als dem hermeneutischen „ K o n t e x t " anstellen 47 . Alle theologischen Versuche sind nur möglich auf dem Hintergrund einer ethisch verstandenen Sichtbarkeit der Kirche, die sich in der Integration der Behinderten, im Kampf für die Menschenrechte, der Frauenemanzipation, der organisatorisch angestrebten Kirchenunion, der emanzipatorischen Erziehung, in der Herstellung der wahren Katholizität der Kirche durch Indigenisation und schließlich im aktiven Kampf gegen Unterdrückung, Rassismus und in der Unterstützung des Kampfs der Befreiungsbewegungen vollzieht. Deshalb wird die Arbeit in den verschiedenen Kommissionen und Arbeitsgruppen begleitet von einem wachsenden politischen Anspruch des Ö R K 4 8 , und es ist dann auch nicht überraschend, wenn nun neben der Theologie auch die Ethik in ihrem materialen Gehalt umstritten wird, so daß manchmal die frühe Formel der Stockholmer Weltkonferenz von 1925 „ L e h r e trennt — Dienst eint" ironisch vertauscht werden kann: „Lehre eint — Dienst trennt" 4 9 . Damit können wir abschließend die Fragen zusammenstellen, von denen gegenwärtig die Ekklesiologie bewegt wird. Die Begründungen der Kennzeichen sind unsicher. Manchmal wird Tradition einfach übernommen, bisweilen ausgetauscht. Es werden hin und wieder neue Kennzeichen entwickelt, ohne daß klar würde, warum gerade diese hinzukommen. So ist neben der Begründung auch die Zahl der Kennzeichen ein Problem. Müssen die Kennzeichen auf die zwei, drei oder vier der verschiedenen Konfessionen beschränkt bleiben?

47

Vgl. a . a . O . , S. 28.

48

V g l . d a z u H . J . B e n e d i c t , Internationalismus und Ö k u m e n e , 1975, S. 81 f f .

49

Ökumene

im

Kampf

gegen

Rassismus,

epd-Dokumentation,

Bd

14,

Hrsg.

W . H e ß l e r , 1975, S. 65. Sehr z u r ü c k h a l t e n d P . A l b r e c h t in: G e s c h i c h t e der ö k u m e n i s c h e n

Bewegung,

1 9 4 8 - 1 9 6 8 , H r s g . H . E . F e y , 1974, S. 3 4 3 : „ I n d e m M a ß e , wie sich i m m e r lauter die F o r d e r u n g nach s o z i a l e m W a n d e l in der G e s e l l s c h a f t erhebt, wird in u n s e r e n K i r c h e n die Polarisation der G e i s t e r hinsichtlich der sozialen G r u n d f r a g e n nicht schwächer,

sondern

stärker

werden",

und

„bisher

war

der

ökumenische

K o n s e n s u s über die gesellschaftliche V e r a n t w o r t u n g der C h r i s t e n b e g r e n z t , experimentell u n d p r o v i s o r i s c h , u n d hat einen vergleichsweise nur geringen E i n f l u ß auf d a s gesellschaftliche H a n d e l n der K i r c h e a u s g e ü b t " .

62

Die notae ecclesiae in der gegenwärtigen Theologie

Dies hängt damit zusammen, daß das Kirchenverständnis überhaupt fraglich geworden ist. Genügt eine funktionale Sicht der Kirche, oder muß das Kirchesein von Kirche auch abgesehen von ihren Funktionen irgendwie gedacht werden, um sachgemäß ekklesiologisch zu denken? So ist das Problem der Kennzeichen mit der Frage nach dem Kirchenverständnis verknüpft. Sodann ist fraglich, von welchen übergeordneten Theologumena die Ekklesiologie regiert wird. Ist es die Christologie oder die Pneumatologie? Unbestritten ist die abgeleitete Position der Ekklesiologie in der Hierarchie der Glaubensinhalte. Sodann sind die Fragen wichtig, die von Gegensätzen ausgehen: Wie verhalten sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Kirche zueinander, wie ist angesichts der Vielheit der Kirchen und Konfessionen die Einheit der Kirche denkbar, wie ist angesichts der gegensätzlichen Bestrebungen der europäisch-amerikanischen und der Kirchen der Dritten und Vierten Welt die Einheit und die Katholizität zu denken und zu leben? Und schließlich: Welche Rolle spielen die Kirchen (oder die Kirche) bei der Lösung der die Welt in ihrem Bestand bedrohenden Probleme? Theoretisch formuliert ist das die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie, die die gegenwärtige Debatte bestimmt. Sind die notae auch Verhaltensnormen und nicht nur Unterscheidungskriterien? Wir wollen versuchen, diese Fragen im Verlauf unserer Analysen zu beantworten.

III. D I E K E N N Z E I C H E N D E R K I R C H E U N D DAS NEUE TESTAMENT Wir gehen hierbei von den Ergebnissen einer problematisierten Theologie des Neuen Testaments aus: Die Autoren des Neuen Testaments vertreten keine einheitliche, sondern eine vielfältige Theologie. Es gibt keine Theologie des Neuen Testamentes. Es gibt nur im Neuen Testament gesammelte Theologien, die sich alle auf ein jeweils unterschiedlich interpretiertes eschatologisches Handeln Gottes in Jesus von Nazareth beziehen. Daher gibt es viele verschiedene frühchristliche Glaubensverständnisse, die sich voneinander erheblich unterscheiden. O b „der Einheitspunkt der verschiedenen Ausprägungen des Glaubensverständnisses im Neuen Testament in der Glaubensfrage liegt, wie sie vom Alten Testament her durch das Judentum hindurch immer dringender wurde als Frage nach der Vermittlung zwischen dem Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer der Welt und der konkreten Erfahrung dieser Welt, die diesem Bekenntnis zu widersprechen scheint" 1 , ist noch keineswegs sicher. Deshalb wählen wir als methodischen Weg des neutestamentlichen Teils der Studie die Zusammenstellung der Aussagen der verschiedenen Theologen des Neuen Testamentes über die Eigenschaften der Kirche, die später als ihre notae verstanden worden sind. Dabei wird sich zeigen, wie einheitlich trotz gravierender Unterschiede in zentralen theologischen Fragen die Aussagen über die Kirche sind. Der Gesichtspunkt ist also zunächst die bei der vorausgesetzten Verschiedenheit überraschende Einheitlichkeit. Dies läßt genauer nach dem prozeßhaften, auf seine jeweilige Zeit bezogenen Glauben fragen. Deshalb werden wir am Beispiel der Theologie der Spruchquelle Q den in sich prozeßhaften Glauben zeigen, dem seine Inhalte mit wachsender geschichtlicher Differenzierung aus der Auseinandersetzung mit Tradition und neuen Problemen zuwachsen. Der sprachliche Befund ergibt, daß nur eines der vier Attribute an einer einzigen Stelle mit der Kirche verbunden wird: Eph 5,27 nennt die Ekklesia áyía. Sonst wird von der Ekklesia nur gesagt, daß sie Gemeinde Gottes ist 1

D . Lührmann, Glaube im frühen Christentum, 1976, S. 86.

64

Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

(Apg 2 0 , 2 8 ; 1. K o r 1,2; 10,32; 11,16 u . ö . ) . Eine Ausnahme bildet noch M t 16,18. D o r t wird — ebenfalls singulär im N T — die Kirche als die Ekklesia Jesu bezeichnet: „ A u f diesen Felsen will ich meine Kirche b a u e n . " Weiterhin ist der Ausdruck ev näaaiqx.

eicicXriaiaig t . ayiwv (1. K o r 14,33) sprach-

lich singulär, obwohl die Gemeindeglieder sowohl bei Paulus wie in der Apostelgeschichte häufig die „Heiligen" genannt werden ( z . B . 1. K o r 1,2; Apg20,32 u.ö.). Außer der genannten Epheserstelle finden sich die vier Attribute nirgends in direktem Zusammenhang mit der Kirche oder Gemeinde als Organisation oder theologischem T o p o s . Wenn man als Maßstab für die begründete Zuordnung von Attributen als Lehraussagen über die Kirche deren formales Erwähntsein in der Schrift anlegen will, so ist das Urteil eindeutig: der Kirche kommen die Attribute nicht zu, weil sie nicht im Neuen Testament stehen. Jedoch ist dieser Schluß ebenso eindeutig wie kurzsichtig. Denn er übersieht, daß im Verlauf der Entwicklungslinien durch das frühe Christentum die von den heutigen notae bezeichneten Inhalte zwar nicht sprachlich, aber durchaus sachlich angesprochen werden.

1. D I E E I N H E I T D E R

KIRCHE

Die Einheit der Kirche ist für Paulus ein zentrales Motiv seiner Theologie, weil er die Einheit der Kirche an seine Christologie bindet. Sie ist das Motiv für die ekklesiologischen wie pastoralen Anstrengungen und Abgrenzungen und zeigt sich dominierend bis in die Bildqualitäten der ekklesiologischen Begriffe. „Volk G o t t e s " und „Tempel G o t t e s " und speziell „ L e i b Christi" tragen schon als Begriffe, speziell im Umfeld von Taufe und Herrenmahl (1. K o r 10,17; 12,13 f.), den Charakter der Einheit des damit Bezeichneten. Diese wird gefährdet, wenn die Verkündigung des Evangeliums von Gottes Rettungstat am Kreuz Jesu durch Entleerung dieses Kreuzes gefährdet wird (1. K o r 1,10—4,8). So wie es nur einen Christus für alle, Juden wie Heiden, gibt, so gibt es auch nur ein Evangelium der Rechtfertigung des Sünders (Gal 1,6 — 9), und „die Einheit der Kirche geht verloren, wenn nicht das W o r t vom Kreuz, das den Sünder gerechtspricht, als der alleinige Grund unseres Heils festgehalten w i r d " 2

2

E . Lohse, D i e Einheit der Kirche nach dem N T , in: Die Einheit des N T 1973, S. 343. Vgl. auch F . H a h n : Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft in neutesta-

Die Einheit der Kirche

65

Im Streit mit Gnostikern wie Judaisten verteidigt Paulus mit der Christologie und der Soteriologie auch die Einheit der Kirche. Aber dasselbe gilt auch umgekehrt: wo die Einheit der Kirche gefährdet wird, etwa durch die Gruppenbildung in Korinth oder das Verhalten des Petrus in Antiochien, ist zugleich auch die Christologie und Soteriologie gefährdet (Gal 2,11 —21). Nach allem, was wir vom Nebeneinander der paulinischen und der anderen Gemeinden wissen, hat Paulus in verschiedenen Organisationsformen der Gemeinden, die beispielsweise auf Autoritäten hingeordnet waren wie in Jerusalem, oder aber charismatisch verfaßt waren wie bei ihm selber, keine Verletzung der Einheit gesehen. Selbst die doch in vielen Einzelheiten sicher abweichende Christologie der Jerusalemer, die Paulus bekannt gewesen sein muß, wenn er sich mit den „Säulen" der Jerusalemer Gemeinde besprochen und ihnen gegenüber seine Theologie verteidigt hat (Gal 2,1 — 10), hat für ihn die Einheit nicht belastet. Er muß gewußt haben, daß die Hoheitstitel „ M e s sias", „Menschensohn", „ D a v i d s o h n " , „Knecht G o t t e s " in der judenchristlichen Urgemeinde vertreten waren und dort die zentralen christologischen Aussagen beinhalteten 3 , und dennoch hat er wie die hellenistischen Gemeinden die Titel „ K y r i o s " und „ G o t t e s s o h n " bevorzugt, um mit ihrer Hilfe seine Christologie zu entwerfen 4 . So zeigt sich schon beim ersten Zusehen, daß das Motiv der Einheit der Kirche für Paulus nicht nur ein zentrales ekklesiologisches Anliegen gewesen ist, sondern unmittelbar mit den Zentren seiner gesamten Theologie korrespondiert. Es ist freilich eine andere Frage, ob die Einheit der Kirche ein Kennzeichen im Sinne einer nota für Paulus gewesen ist; darüber hat Paulus direkt nicht reflektiert. Aber aus seinem Engagement für die Einheit läßt sich zweifellos folgern, daß für ihn die Kirche notwendig eine sein mußte, wollte sie nicht ihre Qualifikation als Kirche Gottes verlieren. Nicht zuletzt ist die Sorge um die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde ein deutliches Beispiel dafür, daß es Paulus um mentlicher Sicht, in: F . Hahn u.a., Einheit der Kirche, Qaestiones Disputatae 84, 1979, S. 3 5 f f . 3

Vgl. R . Bultmann, Theologie N T , a . a . O . , S. 51 ff.

4

ders., a. a. O . , S. 127ff. Bultmann schließt allerdings nicht aus, daß der Titel „ S o h n G o t t e s " auch in der judenchristlichen Gemeinde gebräuchlich gewesen ist. T r o t z erheblicher Differenzen bezüglich der H e r k u n f t und des Sinns dieses Hoheitstitels stimmen auch andere darin überein, vgl. F . H a h n , Christologische Hoheitstitel. 1963, 2. durchges. Aufl. S. 1 3 f f ; Ph. Vielhauer, Ein Weg zur neutestamentlichen Christologie?, in: Aufsätze zum Neuen Testament, T h e o l . Bücherei 31, 1965 S. 1 8 7 f ; M . Hengel, D e r Sohn Gottes, 1975.

66

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

die Einheit der gesamten Christenheit und nicht nur der Gemeinden geht, die er selber gegründet hat (1. Kor 16; Gal 2,10). Auch in den Evangelien ist das Einheitsmotiv im Zusammenhang mit ihrer Ekklesiologie implizit durchaus angesprochen, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht. Recht verhalten warnt Markus, der das Wort ekklesia nicht ein einziges Mal verwendet, vor dem Auftritt falscher Christusse und Propheten in der Endzeit (Mk 13,22). Ekklesiologisch bedeutet dies, daß eine Zeit kommen wird, in der die wahre Gemeinde der Auserwählten nicht mehr sicher und eindeutig erkennbar sein wird. Wäre sie dies, so könnte kein Pseudochristus die Christen verführen. Die durch die Verkündigung des Gottesohnes Jesus, der gelitten hat, gestorben und auferweckt ist, weltweit wachsende Großkirche ist in eschatologischer Hinsicht gefährdet. Für eine Kirche, die „sich im Nachfolgegeschehen realisiert" 43 , ist es von entscheidender Bedeutung, daß ihre Nachfolge unverwechselbar sich auf Jesus von Nazareth bezieht. Auch bei Matthäus taucht das Einheitsmotiv nur in verschlüsselter Form auf: die Gründung der Kirche auf Petrus und die Übergabe der Schlüsselgewalt an ihn und die Jünger (Mt 16,18f.; 18,18) impliziert eine gefährdete Einheit der Kirche, die im Verständnis des Matthäus als das wahre Gottesvolk an die Stelle Israels getreten ist 5 . Ebenso spiegelt die redaktionelle Ergänzung zum Gleichnis vom großen Abendmahl: „denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt" (Mt 22,14) die matthäische Ekklesiologie, die die Kirche als ein corpus permixtum ansieht, in dem die Einheit latent ständig bedroht ist. Die lukanische Ekklesiologie ist so stark vom Einheitsgedanken geprägt, daß man sie bisweilen in den Worten des Apostolikums zusammengefaßt

41

5

W. Bracht, Jüngerschaft und Nachfolge. Zur Gemeindesituation im Markusevangelium, in: J. Hainz (Hrsg.), Kirche im Werden, 1976, S. 152.. Vgl. W. Trilling, Das wahre Israel, 3. Aufl., 1964. Vgl. auch G. Künzel, Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-Evangeliums, Calwer Theologische Monographien Bd 10, 1978 und F. Hahn: Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft in neutestamentlicher Sicht, in: F. Hahn u.a., Einheit der Kirche, Quaestiones Disputatae 84, 1979, S. 22ff. Daß diese Lösegewalt schon jetzt gilt, muß neben der eschatologischen Beziehung unbedingt festgehalten werden. Diese Kirchenzucht hat allerdings eschatologischen Rang (Vgl. S. Schulz, Die Stunde der Botschaft 1967, S. 225). Schulz lehnt allerdings Trillings These von Kirche als dem wahren Israel ab, a . a . O . , S. 231, findet dieses Verständnis aber bei Lukas ausgeprägt, Die Mitte der Schrift, 1976, S. 141.

Die Einheit der Kirche

67

hat: für Lukas ist die Kirche die „ U n a sancta catholica" 6 , obwohl, wie gesagt, diese Attribute der Kirche explizit nicht beigelegt werden. Das sogenannte Apostelkonzil ( A p g l 5 ) befaßt sich in der Auseinandersetzung um das Verhältnis von jüdischem Gesetz und heidenchristlicher Gemeinde auch mit der Einheit der Kirche aus Juden und Heiden. Das Einheitsmotiv durchzieht die Argumentation des Petrus (V. 9—11) und steht ebenso hinter der universalen Schriftauslegung des Jakobus, insofern in dem Bildmotiv der „ H ü t t e Davids" eben die Einheitsqualität angesprochen ist, die der Gemeinde Gottes als dem neuen Gottesvolk aus Juden und Heiden angemessen ist. Diese Einheit wird von Lukas so stark stilisiert, daß erst am Ende der organisierten Missionstätigkeit des Paulus in der Apostelgeschichte bei der „Abschiedsrede" des Paulus an die Gemeindevorsteher aus Ephesus geweissagt wird, die Epoche des Friedens in der ersten Gemeinde gehe nun bald zu Ende. In die Idylle des rechten Glaubens, des gemeinsamen Besitzes, der Einheit von Herz und Seele, der unangefochtenen Autorität der Apostel und der an allen Orten gleichen Ältestenverfassung der Kirche (Vgl. 2 , 4 2 f f . ; 4,32 ff. 5,12 ff.; 9 , 3 1 ; 15; 20,17) werden nach dem Weggang des Paulus reißende Wölfe, Männer aus den eigenen Reihen, einbrechen, um die Jünger in ihre Gefolgschaft zu ziehen (Apg 2 0 , 2 9 f . ) . Paulus ermahnt seine Zuhörer daher zur Wachsamkeit, und das heißt auch: zur Wahrung der Einheit der Kirche, die durch das Ende der ursprünglichen Friedensepoche der Mitte bedroht ist. Lukas schreibt also bereits in einer Krisenzeit, in der die von Paulus gegründeten asiatischen Gemeinden bereits von gnostischen Irrlehrern weitgehend zerstört worden sind, und die Absicht des Lukas ist es, Paulus selber von jeder Schuld an der Katastrophe freizusprechen. D e r Klerus, an den sich Paulus wendet, wird von Lukas aufgefordert, mit gleichem Eifer wie Paulus selber an der Abwehr der Irrlehrer zu arbeiten und die Einheit der apostolischen Kirche, deren legitimer Vertreter Paulus gewesen ist, wiederherzustellen 7 .

6

S. Schulz, Stunde der Botschaft, a . a . O . , S. 2 5 5 f f . ; E . Käsemann, Die Johannesjünger in Ephesus, E V B I, S. 166.

7

Vgl. E . Haenchen, Die Apostelgeschichte, MeyerK, 13. Aufl. 1961, S. 528ff. Lk nimmt auch für die paulinischen Gemeinden Ältestenverfassung an, Vgl.

H.

Conzelmann, Apostelgeschichte, H N T 7, 1963, S. 117. Neuerdings ist es fraglich geworden, ob Lukas gnostische Irrlehre vor Augen hat, vgl. H . J. Michel, Die A b schiedsrede des Paulus an die Kirche, Apg 20, 17—38, Motivgeschichte und theologische Bedeutung, München 1973, S. 82 ff.

68

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

Das Johannesevangelium, das an ekklesiologischen Fragen keineswegs so desinteressiert ist wie Bultmann noch annahm, kennt im Abschiedsgebet Jesu die Bitte um die Einheit der Gemeinde (Joh 17,11; 2 0 - 2 3 ) . Der Verfasser des Evangeliums spricht sogar als einziger der Evangelisten direkt und unverschlüsselt von Jesu Sorge um die Einheit der Gemeinde, die er mit der Einheit Gottes begründet. Gemäß der johanneischen Theologie kann diese Einheit nicht durch Institutionen oder Dogmen hergestellt und sichtbar gemacht werden, sondern nur durch das Wort der Verkündigung, „in der der Offenbarer — in seiner Einheit mit dem Vater — jeweils gegenwärtig ist" 8 . Dies ist kein Nachteil, weil damit hervorgehoben wird, wie sehr die Einheit der Glaubenden vom „Glauben an Jesus" abhängig ist. Darunter versteht Johannes die „Nachfolge". Das Eins-Sein mit Christus führt zu einem EinsSein der Glaubenden, und an der Einheit der Jünger zeichnet sich die Einheit der Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn ab 8 a . Grundsätzlich können w i r sagen, daß das Motiv der Einheit der Gemeinde als Aussage über ein Faktum oder als Anspruch immer dann vorliegt, wenn sich aus dem neutestamentlichen Zeugnis eine Frontstellung zu christlichen Irrlehrern entnehmen läßt. Allerdings wird man noch nicht allzu stark die Einheit als Orthodoxie verstehen dürfen. Dieses Verständnis von Einheit als Lehreinheit findet sich ausgeprägt erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts, z . B . bei Irenäus 9 . Bis dahin war die Pluralität der Lehren, wie wir bei Paulus gesehen haben, nicht als Verletzung der Einheit gesehen worden. Aber man wird auch nicht sagen können, daß die Einheit der Kirche ganz unabhängig von der Lehre und dem „Bekenntnisstand" gesehen worden ist 8

R. Bultmann, Evangelium des Johannes, M e y e r - K . , 18. A u f l . unv. Nachd. der 10. A u f l . 1964, S. 393. Vgl. auch E. Lohse, a . a . O . , S. 344. Auch wenn w i r mit Schnackenburg und anderen (schon Wellhausen) V. 2 0 f . „als eine frühe Hinzufügung von zweiter Hand ansehen" (HThK IV/3, 1975, S. 216), so können sie doch im Rahmen der Theologie des Joh erörtert werden, da sie der theologischen Intention sonst entsprechen. Bemerkenswert auch Schnackenburgs Ubereinstimmung mit Bultmann: „Für die heutigen ökumenischen Bestrebungen ist der joh. Gedanke der Einheit darin wegweisend, daß die Einigung sicher nicht im Vordergründigen und Institutionellen, sondern zutiefst im gemeinsamen Christusglauben und in der Gemeinschaft mit Gott gesucht und als gnadenhaft geschenkte Einheit in Gebet und Liebe erstrebt werden muß" ( a . a . O . , S. 221).

sa 9

Vgl. F. Hahn, a . a . O . , S. 3 4 f . Vgl. M. Elze, Häresie und Einheit der Kirche im 2. Jahrhundert, ZThK 71, 1974 S. 389ff.

Die Einheit der Kirche

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und sich nur auf den Leib Christi als den Ort der Einheit in eschatologischer Qualifikation bezogen hat 1 0 . Die Spaltungen in der Gemeinde von Korinth sind nicht nur ein „Verstoß gegen die Feier der Eucharistie . . . gegen den im Mahl vergegenwärtigten Leib C h r i s t i " 1 1 , das auch, aber die Spaltungen sind ebenso hervorgerufen durch eine falsche Verkündigung, die das Kreuz Christi entleert, also eine falsche Lehre z . B . im Sinne einer Weisheit vertritt 1 2 . A b e r Elzes Beobachtung trifft zu, daß im Neuen Testament Pluralität von Lehrauffassungen per se durchaus nicht als Einwand gegen die Einheit der Kirche zu verstehen ist, weil der Ort der Einheit die „aller Lehre vorausliegende Lebensbeziehung zu der Person J e s u " 1 3 ist, deren W o r t und W e r k das Heil für die Welt bedeutet. Jedoch ist der gegenüber Paulus völlig veränderte Stil der Auseinandersetzung mit Irrlehrern in den Pastoralbriefen und im 2. Petrusbrief bezeichnend. An die Stelle der argumentativen W i d e r legung tritt die appellative Aufforderung, sich von den Irrlehrern fernzuhalten ( z . B . 1. T i m 6,20) oder die Desavouierung der Gegner durch Verdächtigung der Unmoralität (2. P e t r 2 ) . Die Einheit der Kirche w i r d also dadurch erhalten, daß man mit den Irrlehrern nicht mehr in einer Gemeinschaft leben will und sich zu ihnen in Lehrdifferenz empfindet. W e n n Lehrverschiedenheiten kirchentrennend wirken, dann setzt dies bereits ein autoritatives Verständnis von Lehre voraus. Selbstverständlich setzt sich das Motiv der Einheit mit verschiedenen Begründungszusammenhängen sowohl im deutero-

10

Vgl. M. Elze, a . a . O . , S. 394. Allerdings ist es bemerkenswert, daß Paulus f ü r

11

Vgl. Elze, a . a . O . , S. 393.

12

Vgl. z . B . 1. K o r . 1 , 1 8 - 2 , 5 .

Lehrabweichler niemals den Ausdruck aigeaic; oder atoETiKÖ^ verwendet, ebd.

13

D. Lange, Das sogenannte Schriftprinzip und die Identität der Kirche in ihrer Geschichte, in: Festschrift Trillhaas, Hrsg. H. W . Schütte, F. Wintzer, 1974, S. 84. Zu den Einheitsvorstellungen in den deuteropaulinischen Briefen und im Hebräerbrief vgl. E. Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im NT, 2. A u f l . 1962, S. 8 0 f f . H. Schlier, Die Einheit der Kirche nach dem NT, in: Besinnung auf das NT, Exeget. Aufs. u. Vorträge, Bd II, 1964, S. 1 7 6 f f . , K. M. Fischer, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes, 1973, S. 4 0 f f . , R. Schnackenburg, Die Kirche nach dem NT, R. E. B r o w n , The Unity and Diversity in New Testament Ecclesiology, N o T 6, 1963, S. 2 9 8 f f . , P. V. Dias, Die Vielfalt der Kirche in der Vielfalt der Jünger, Zeugen und Diener, 1968, S. 1 4 9 f f . ; A . M. Ritter, Die frühchristliche Gemeinde und ihre Bedeutung für die heutige Struktur der Kirche in Festschrift Trillhaas, Hrsg. H. W . Schütte, F. Wintzer, 1974, S. 1 2 3 f f .

6

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

70

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

paulinischen Schrifttum wie in den katholischen Briefen und dem Hebräerbrief fort. Wir brauchen aber nicht darauf näher einzugehen. Es genügt zu sehen, daß im Neuen Testament das Verständnis der einen Kirche einen weiten Raum einnimmt, selbst wenn nicht ausdrücklich davon gesprochen wird. Weiter müssen wir festhalten, daß dieses Verständnis in verschiedenen Begründungszusammenhängen vorgetragen wird und die lehrhafte Verschiedenheit zur Zeit des Neuen Testamentes die Einheit selber nicht in Gefahr bringt, wenn nur die Christologie und Soteriologie in ihrem Kern nicht verkehrt werden.

2. DIE HEILIGKEIT DER K I R C H E

Die Heiligkeit der Kirche ergibt sich bereits aus der formalhaften Zuordnung der EKicXriaia zu Gott oder zu Christus. Gott heiligt die Seinen. Heiligkeit ist in diesem Zusammenhang ein synthetischer Begriff. Gott heiligt die Glieder seiner Gemeinde, ihre Heiligkeit ist stets empfangene, nicht verfügbare Gabe, sie kommt ihr nicht aus ihr selber zu. Zunächst ist es aber wichtig zu sehen, daß im Neuen Testament, speziell in den echten Paulusbriefen nicht die 6KKX.r|oia als solche, als Organisation, sondern die Menschen, die sich im Namen Jesu versammeln, die „Heiligen" genannt werden (Rö 1,7; 1. Kor 1,2 u . ö . ) , und deshalb sind die einzelnen EKKXr]aiai als Versammlungen der Heiligen auch heilig 1 4 . Dieses Verständnis hält sich sogar noch im Kolosserbrief durch, insofern die Gläubigen durch den Tod Christi geheiligt werden (1,22). Deshalb kennt auch Kol noch nicht das Attribut „heilig" im Zusammenhang mit der kirchlichen Organisation, obwohl sich hier der Kirchenbegriff am weitesten zum Epheserbrief hin entwickelt hat, auf den wir jetzt ausführlich eingehen müssen. Denn im Epheserbrief wird singulär im N T der Kirche das Attribut der Heiligkeit zugesprochen (5,27). Wir können davon ausgehen, daß der Epheserbrief nicht von Paulus selbst, sondern von einem unbekannten Verfasser geschrieben worden ist, dem die paulinische Theologie allerdings sehr gut vertraut gewesen ist 1 5 . Vermutlich ist er wie der Kolosserbrief, in dessen literarischer Abhängigkeit er steht, aus einer schulhaften Weiterbildung der paulinischen Theologie entstanden 1 6 . Unsere Stelle steht im Zusammenhang 14 15

Vgl. O. Proksch, T h W N T , I, S. 108. Vgl. W . G. Kümmel, Einleitung in das N T , a . a . O . , S. 3 0 8 - 3 2 3 .

Die Heiligkeit der Kirche

71

einer Haustafel, die das Verhältnis zwischen Mann und Frau regeln will und dabei Christus zum vorbildlichen Vergleichspunkt wählt. Nach der Ermahnung der Frauen, ihren Männern Untertan zu sein, wie die Kirche Christus Untertan ist (5,23 f.), werden die Männer ermahnt, ihre Frauen zu lieben, wie auch Christus die Kirche geliebt hat, indem er sich für sie in den Tod begeben hat (5,25). Zwei Finalsätze geben das Ziel der liebenden Hingabe Christi in den Tod an: „daß er sie (die Kirche) heilige, da er sie gereinigt hat durch das Wasserbad im Wort (5,26), und daß er sich die Kirche herrlich bereite, ohne Flecken oder Runzeln oder dergleichen, daß sie vielmehr heilig und makellos sei" (5,27). In diesem Vergleich der Verhältnisbestimmung zwischen Mann und Frau und Christus und der Kirche hat die Beschreibung der Verhältnisses Christus — Kirche durchaus einen eigenen Wert, was daran erkennbar ist, daß die Bildhälfte des Vergleichs von einer Eheschließung zu dem Zustand einer Ehe wechselt und Wendungen des Credo und der Tauflehre aufgenommen werden 17 . Dabei ist der Tod Christi mit der Taufe in Zusammenhang gedacht, wie schon bei Paulus (Rö 6,1 ff.; 1. Kor 1,13), nur wird hier die Taufe in bezug auf die Gesamtkirche gedacht, was sich bei Paulus so nur Gal3,26 findet. Dabei wird offenbar die Vorstellung vertreten, daß im einzelnen Taufakt sich ein Geschehen konkretisiert, das mit der Kirche bereits geschehen ist, sich aber in jeder einzelnen Taufe wiederholt. Ein Ergebnis von kosmischem Ausmaß konkretisiert sich an jedem einzelnen Menschen, der Christ wird und sich taufen läßt 18 . Die Taufe der Kirche wird also unmittelbar mit dem Tod Christi verbunden und ist der Vorgang, in dem Heiligung gewährt wird 19 . Heiligung bedeutet hier dasselbe wie Reinigung und hat für den Verfasser des Eph bereits traditionelle Verbindung und Bedeutung. Schon im AT kann Heiligung und Reinigung ein Synonym sein (Jes 66,17) und wird unter anderem durch Waschung vollzogen 20 , ebenso in Qumran 2 1 . Bei Paulus wird beides in Verbindung mit der 16

Vgl. J . Gnilka, Epheserbrief, H T h K X , 2 , 1971, S. 21.

17

Vgl. H . C o n z e l m a n n , N T D , 8, 9. A u f l . , 1962, S. 87. H . K ü n g , D i e Kirche, 1967, S. 385, entschärft diese Stelle des Eph unzulässig, wenn er meint, hier sei „heilig und untadelig" als „ A u f g a b e " der Kirche gemeint, und also werde die Kirche an keiner Stelle des N T heilig genannt.

18 19

Vgl. J . Gnilka, a . a . O . , S. 280. D e r religionsgeschichtliche Hintergrund ist wohl der Ritus des Brautbades, den sowohl das Judentum wie das Griechentum kannte (Vgl. Gnilka, a . a . O . , S. 280).

20

T h . C . Vriezen, R G G 3 , I I I , Sp. 1 7 7 f .

21

Vgl. 1 Q S 3 , 4 ; 1 Q S 3 , 9 f . ; 1 Q H 1 1 , 1 0 - 1 2 ; Belege bei Gnilka, a . a . O . , S. 281.

6"'

72

D i e Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

Taufe gesehen 2 2 . Heiligung bedeutet an dieser Stelle also: die Kirche ist in die göttliche Sphäre hineingezogen, eine Vorstellung, die gut zu der Sicht der Kirche im Epheserbrief paßt. Denn nach 3,10ff. ist die Kirche der Raum, der vom Pleroma Christi erfüllt ist und kosmische Dimensionen hat. Einzigartig ist in Kap. 5 nur, daß die Heiligkeit von der Gesamtkirche ausgesagt wird, deren Heiligkeit der Heiligkeit ihrer Glieder immer schon voraus ist und die die Aufgabe hat, den Gewalten und Mächten des Kosmos die Weisheit Gottes kundzutun. Wir haben also im Epheserbrief eine explizite Bezeichnung der Kirche als heilig, und diese Kennzeichnung ist noch zudem eingebettet in einen kerygmatisch durchgeformten Text. Aber das entscheidende für unsere Uberlegungen ist, daß trotz dieser kerygmatischen Umgebung die Kirche selber nicht in den kerygmatischen Zusammenhang hineingezogen wird, obwohl dazu kein weiter Schritt mehr ist. Auch wenn innerhalb des paränetischen Vergleichs des Verhältnisses Mann — Frau mit Christus — Kirche das zweite Begriffspaar eine eigene Gewichtung hat und nicht nur zu Vergleichszwecken gebildet ist, so ist der Schluß doch weit überzogen, daß hier die „Gemeinde selbst zum wichtigen Gegenstand des Glaubens geworden" sei und Christus aus dem Zentrum der theologischen Erwägungen verdrängt habe 2 3 . Wenn auch dieser Schluß überzogen ist, so zeigt er deutlich, daß das Neue Testament durchaus vor der Situation stand, Glauben als Credo zusammenzufassen. Solch kerygmatische Formeln der Urchristenheit und der auf sie folgenden Generationen, die ja auch im N T zu Wort kommen, unterscheiden sich natürlich von den späteren Symbolen, die an einem Gesamtzusammenhang von „Glaubensgegenständen" interessiert sind. Aber die Frage nach „Glaubensgegenständen" ist bereits akut. Sie kommt unweigerlich auf, wenn „Lebensbewegungen" wie der Glaube lernbar und tradierbar gemacht werden sollen. Mit der 2. Generation ist die Frage nach einem Credo da. Deshalb spricht die neutestamentliche Wissenschaft ganz unbefangen beispielsweise von der Berufung des Paulus „auf das tradierte C r e d o " 2 4 . Paulus

22

Schon traditionell bei Paulus, Vgl. H . C o n z e l m a n n , D e r erste Korintherbrief, M e y e r K 5, 11. Aufl. 1969, S. 129: „ D i e Verknüpfung des Empfangs der Heiligkeit mit der Taufe ist durchschnittliche Gemeindeanschauung."

23

So E . Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im N T , 2. Aufl. 1962, S. 96 Hervorhebung von mir. Ähnlich E . Käsemann, Das Interpretationsproblem des Epheserbriefes. E V B I I , 2. Aufl. 1965, S. 2 5 4 .

24

So zuletzt F . H a h n , a . a . O . , S. 42.

D i e Heiligkeit der Kirche

73

beruft sich ausdrücklich auf „Credoformulierungen" (Vgl. 1. K o r 15,3—5; Gal 1,4; R ö l , 3 b . 4 a ; 3 , 2 4 - 2 6 a ; 4 , 2 5 ; P h i l 2 , 5 - 1 1 ) , die er - so Hahn - als Zusammenfassung des Evangeliums versteht 2 5 . Freilich muß differenziert werden: „Das christliche Bekenntnis ist ursprünglich keine Aufzählung der dem Glauben wesentlichen Uberlieferungsstücke und Lehrwahrheiten (die vielmehr ihre eigenen Wege gegangen sind), sondern die ebenso kurze wie unmißverständliche Bezeichnung des einen göttlichen Gegenübers, dessen Bejahung den einzelnen Christen zum Christen macht und von jedem Nichtchristen unterscheidet, also der Person Jesu. In einem zweiten Stadium wird es gegen christliche Irrlehren gewandt, gleichzeitig zu einem Panier, um das sich die Gläubigen scharen und so von den Irr- und Ungläubigen getrennt halten können. Endlich kann das sich ausweitende Bekenntnis auch zu einem Leitfaden der Lehre werden und allgemein-katechetische, unter U m ständen auch liturgisch-doxologische Bedeutung gewinnen. D o c h wird diese letzte Stufe innerhalb der urchristlichen Entwicklung nicht mehr erreicht" 2 6 . Im Urchristentum fehlen natürlich „Bekenntnisse im Stil des Apostolik u m s " 2 7 , aber doch nicht die Auseinandersetzung mit Irrlehrern, die ein „ B e k e n n t n i s " mit der Angabe von seinen „Gegenständen" notwendig werden läßt 2 8 . Gewiß hat die Kirche eine wichtige Funktion und ist zentrales Thema des Briefes, hinter dem vieles, was uns aus den echten Paulusbriefen bekannt ist, zurücktritt, sogar die „antijudaistisch zugespitzte Lehre von Gesetz und Rechtfertigung" 2 9 . Aber indem Christus als das Haupt unangetastet die Herrscherposition über die Kirche behält, die er nährt und hegt, wird das notwendige Subordinationsverhältnis von Christologie und Ekklesiologie noch nicht verletzt, obwohl zugegeben werden kann, daß die Grenze hauchdünn geworden ist. Sowohl der Begriff des Pleroma wie der des Sorna drücken die Abhängigkeit des Leibes von Christus aus, auch wenn sie zugleich die

25

ebd.

26

Vgl. H . v. Campenhausen, Das Bekenntnis im Urchristentum, Z N W 6 3 , 1972, S.

27

ders., a . a . O . , S. 235.

28

Z u m Ganzen vgl. auch H . Köster, Grundtypen und Kriterien frühchristlicher

211 f.

Glaubensbekenntnisse, in: H . Köster, J . M . R o b i n s o n , Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 1971, S. 1 9 1 - 2 1 5 . U n d E . Lohse, Entstehung des N e u e n Testaments, Theologische Wissenschaft 4, 1972, S. 1 9 f f . 29

E . Käsemann, a . a . O . , S. 2 5 5 .

74

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

Vermittlerfunktion der Kirche h e r v o r h e b e n 3 0 . A b e r es bleibt doch Christus, der durch die K i r c h e wirkt und der ihr unverfügbar bleibt, weil er sie heiligt und nicht sie sich selbst. So k ö n n e n wir sagen, daß im Epheserbrief einzigartig im N e u e n Testament von der K i r c h e gelehrt wird, daß sie heilig sei, daß diese Lehre aber noch nicht als „ B e k e n n t n i s " formuliert ist. A b e r die Heiligkeit der K i r c h e ist hier doch schon fast im Sinn einer nota formuliert: zur K i r c h e gehört ihre Heiligkeit, und dies wird christologisch und soteriologisch begründet. D e r G r u n d dafür ist die gegenüber 1. K o r und R ö veränderte Perspektive: E p h betrachtet die K i r c h e von außen, nicht von innen, und deshalb werden K e n n z e i c h e n interessant 3 0 3 . A b e r die Heiligkeit ist deduziert: Zentrale M o t i v e des Glaubens regieren insofern die E k k l e s i o logie und darin speziell die Attribute, die der K i r c h e beigelegt werden k ö n n e n . I h r e Heiligkeit hängt also noch nicht an den Amtsträgern und einem ihnen als den Vertretern der Gesamtkirche anvertrauten Schatz der G n a d e , o b w o h l die Amtsträger im Besitz der göttlichen Geheimnisse sind ( 3 , 6 ) und mit der Verwaltung ( Ö k o n o m i e ) der G n a d e beauftragt 3 1 , was aber nur als D u r c h führung des göttlichen Heilsplan zu verstehen i s t 3 2 .

3. D I E K A T H O L I Z I T Ä T D E R

KIRCHE

Das aus dem Adverb Ka0öÄ.ou gebildete Adjektiv KotÖo/aKÖ; k o m m t im N e u e n Testament nicht vor. Das A d v e r b wird einmal in A p g 4 , 1 8 gebraucht und bedeutet dort „ g ä n z l i c h " , „ ü b e r h a u p t " 3 3 . D e n n o c h werden wir sagen müssen, daß im Selbstverständnis der neutestamentlichen G e m e i n d e n eine Katholizität im unpolemischen Sinn der Ganzheit durchaus der Sache nach bereits vorhanden ist. D i e B o t s c h a f t von der R e t t u n g in Christus gilt der ganzen Erde und nicht einem einzelnen 30

Vgl. Gnilka, a . a . O . , S. 11, der hier manche Uberziehungen H . Schliers zurechtrückt, vgl. z. B . D e r Brief an die Epheser, 3. durchges. Aufl. 1962, S. 174ff. Wenn hier von der notwendigen Subordination von Christologie und Ekklesiologie gesprochen wird, soll schon damit der These K. L. Schmidts, Ekklesiologie sei Christologie, T h W N T I I I , S. 513, widersprochen werden.

301

Vgl. J . Ernst, Von der Ortsgemeinde zur Großkirche, in: Kirche im Werden,

31

H . Conzelmann, N T D , a . a . O . , S. 71.

32

J . Gnilka, a . a . O . , S. 163, Vgl. a. Conzelmann, ebd.

33

Vgl. W . Bauer, Wörterbuch zum N T , 3. Aufl. 1963, Sp. 772.

a . a . O . , S. 127.

Die Katholizität der Kirche

75

Volk, einer Rasse oder einer Landschaft, auch wenn Jesus seinen Auftrag möglicherweise auf Israel begrenzt gesehen haben sollte 3 4 . Die Universalität der Kirche ist für alle Schriften des Neuen Testaments, die auf die Zeit der Apostel bereits zurückblicken, selbstverständliche Voraussetzung. Die Kirche besteht aus Juden und Heiden und ist prinzipiell auf den ganzen Erdkreis gerichtet. D e r Epheserbrief weitet ethnische und räumliche Katholizität sogar in eine kosmische aus (Kap. 3,10). Von einer heilsgeschichtlichen Priorität Israels, von der Paulus ja noch sehr bestimmt sprechen konnte (vgl. R ö 9—11), kann gar keine Rede mehr sein — im Gegenteil: wie schon Paulus bemüht ist, der römischen Gemeinde klarzumachen, daß sich ihr Kirchesein am Verhältnis zu Israel und dessen bleibender Erwählung entscheidet 3 5 , so scheint der Abschnitt in E p h , der sich mit dem Verhältnis von Juden und Heiden befaßt (2,11—22), der aus Heidenchristen bestehenden Gemeinde deutlich machen zu wollen, daß die Kirche eine Einheit aus einstigen Juden und einstigen Heiden ist 3 6 . Die Evangelien setzen selbstverständlich die Kirche aus Juden und Heiden voraus; eher ist auch hier die Gefahr einer Exklusivität gegenüber den Judenchristen latent vorhanden, der zu begegnen Matthäus beispielsweise immer wieder an die jüdische Tradition der Kirche erinnert. Ganz deutlich wird dies, wenn Matthäus das Verhältnis der Glaubenden untereinander und zu Jesus als „Bruderschaft" bezeichnet (Vgl. 5 , 2 2 . 2 3 . 2 4 . 4 7 ; 1 8 , 1 5 . 2 1 . 3 5 ; 2 3 , 8 ; 1 2 , 4 8 - 5 0 ; 25,40 u . ö . ) . Mt nimmt hier traditionell jüdische Motive auf und interpretiert sie von seinem christlichen Verständnis her, das heißt, er weitet den Brüderschaftsbegriff von seiner nationalen Basis aus auf die Universalität der Menschen, die der Gemeinde angehören und aus allen Völkern und Rassen stammen. Diese Transformation zeigt einerseits, daß Matthäus von heidenchristlichen Voraussetzungen her denkt 3 7 , andererseits, daß er nicht gewillt ist, jüdische und speziell judenchristliche Thematik und Begrifflichkeit zu opfern. Im Gegenteil, gerade der Begriff der Bruderschaft zeigt die eminent tiefe Verknüpfung matthäischer Theologie mit dem A T und dem Judentum, weil hier analoges Denken bis zum Deutoronomium und seiner Bundestheologie verfolgt werden kann 3 8 .

34

Vgl. R . Bultmann, Jesus, Siebenstern Taschenbuch, 17, 2. Aufl. 1965, S. 33 f.

35

Vgl. G . Eichholz, D i e Theologie des Paulus im U m r i ß , 1972, S. 292.

36

Vgl. H . C o n z e l m a n n , N T D , a . a . O . , S. 6 7 f .

37

Vgl. H . Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi, 1974, S. 182ff.

38

Vgl. ders., a . a . O . , S. 184f.

76

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

Für Lukas zeigt die Bemühung um einen modus vivendi zwischen Judenchristen und Heidenchristen in Apg 15, daß die Kirche für ihn selbstverständlich aus Juden und Heiden besteht — allerdings zeigt der lukanische Text und die so disparat dazu erscheinende Stellungnahme des Paulus zum gleichen Problem in Gal 2 noch die Spuren der — für Lk — inzwischen bewältigten Spannungen. Jedoch ist schon in Apg 15 der Konflikt nicht mehr darüber entstanden, ob Heiden überhaupt in die christliche Gemeinde aufgenommen werden dürfen, sondern nur noch über die Bedingungen dieser Aufnahme. Denn die Heidenmission ist ja schon längst von Petrus als dem ausführenden Organ von Gottes Willen begonnen worden und wurde nicht mehr als legitimationsbedürftig angesehen (Apg 10). Dennoch ist der Streit um die Bedingungen nicht ohne Bedeutung für die Universalität der Gemeinde. Denn die Forderung der Beschneidung, die die pharisäischen Christen aus Jerusalem in Antiochien erhoben — entweder trotz der vorhergehenden Offenbarung des Petrus oder weil sie davon nichts wußten — bedeutet, daß die Gemeinde nur aus Menschen bestehen sollte, die „religiös" Juden sind, auch wenn sie „rassisch" durchaus aus anderen Gruppen stammen können. Das neue Gottesvolk wäre dann keine Gemeinschaft aus Heiden und Juden. Aus diesem Grund ist die Entscheidung des „Apostelkonzils", auch wenn sie historisch nicht so geschehen sein wird wie Lukas berichtet 3 9 , von großer ekklesiologischer Tragweite. Nach Lukas ist es eindeutig und von Aposteln und Ältesten legitimiert, daß die Gemeinde Christi alle Nationen umfaßt. Bei Johannes ist der Gegensatz zwischen Juden und Heiden völlig verschwunden. Die ethnische und nationale Zugehörigkeit ist für ihn kein Problem mehr. Die im Evangelium auftretenden Juden sind die Repräsentanten des gefallenen, weil Jesus ablehnenden Kosmos 4 0 . Jede heilsgeschichtliche Sicht einer Kontinuität der Kirche mit Israel ist ebenso abgeblendet wie eine Ekklesiologie, die die Kirche als Gottesvolk der Endzeit begreift 4 1 . Vielmehr zeichnen sich die Christen nur dadurch aus, daß sie vom Geist geleitet sind, und dieses Verhältnis des einzelnen zum Geist Gottes ist so

39 40

Vgl. dazu E. Haenchen, a . a . O . , S. 4 0 4 f f . Aus der umfangreichen Literatur vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, a . a . O . , passim; E. Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im NT, 2. A u f l . 1962, S. 107 u. E. Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, 1974, S. 133.

41

R. Bultmann, Theologie des NT, a . a . O . , S. 443.

Die Apostolizität der Kirche

77

beherrschend, daß für Ämter und Ordnungen kein Raum bleibt 4 2 . Die vom Geist geleitete Gemeinde ist universal, weil sie als universales Gegenüber ja die „ W e l t " hat, also in die universale Auseinandersetzung zwischen Gott und der von im geschaffenen, aber gefallenen Welt hineingezogen ist. Das heißt, die Gemeinde ist letztlich universal, weil Gott universal ist. Allerdings muß noch erwähnt werden, daß die Universalität der Gemeinde in der Theologie des Johannes nicht wie bei Paulus und den Synoptikern missionarische Konsequenzen hat. Schweizer hat mit Recht hervorgehoben, daß Johannes anders als Paulus die Gemeinde nicht „in der Kampfsituation der Mission" stehend beschreibt 4 3 . Die Gemeinde wächst zwar auch, aber dieses Wachsen wird naturhaft als Entfaltung eines gelegten Ursprungs gedacht, der prädestinatorisch die Welt von jeher dualistisch teilte 4 4 . Jedoch schließt dies die Universalität der Gemeinde als Zeugung aus Gott (Joh 1,13), die dem Kosmos gegenübersteht, nicht aus. Diese Beispiele aus dem Neuen Testament zeigen deutlich, wie stark die Gemeinde als universale gedacht worden ist — selbst wenn in attributiven Bezeichnungen diese Universalität der Kirche im Neuen Testament nicht ausgesprochen ist.

4. DIE A P O S T O L I Z I T Ä T DER K I R C H E

Auch dieses Attribut kommt im Neuen Testament nicht im Zusammenhang mit der £KKXr|aia vor, ja es findet sich überhaupt nicht im Neuen Testament 4 5 . Sogar der Begriff des Apostels findet sich nicht durchgängig. So hat das Johannesevangelium — bis auf die singuläre Stelle Joh 13,16 — darauf verzichtet, was im Zusammenhang des johanneischen Glaubensbegriffs einleuchtend ist. Der Mensch, der zum Glauben gekommen ist, benötigt keinen

42

Vgl. E. Schweizer, a . a . O . , S. l l l f .

43

Schweizer, a . a . O . , S. 108 und R. Schnackenburg, Die Kirche im NT, a . a . O . , S. 101 f. Gegen Schlier, Mysterium salutis IV/1, S. 143 f. und R. Schnackenburg, J o hannesevangelium, H T h K IV, 3, 1975, S. 2 4 3 f . Wie Schweizer urteilen auch: A . M. Ritter, Die frühchristliche Gemeinde, a. a. O . , S. 127 und F. Hahn, Das Verständnis der Mission im NT, 2. durchges. A u f l . 1965, S. 135 ff. D o r t auch die kontroverse Lit.

44

Schweizer, a . a . O . , S. 108.

45

W . Bauer, Wörterbuch z. NT, a . a . O . , Sp. 197.

78

D i e Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

Erstzeugen, weil das Zeugnis des Geistes allein entscheidet 4 6 . In J o h 4,41 — im Rahmen der Schilderung von Jesu Wirken in Samarien — behandelt Johannes das Problem des Verhältnisses von „Jüngern erster H a n d " und „Jüngern zweiter H a n d " in einer Erzählung. Viele Menschen in der samaritischen Stadt Sychar sind zum Glauben an Jesus gekommen (4, 5. 39), und zwar wegen des Zeugnisses der Frau, der Jesus zuvor ihre Sünden auf wunderbare Weise aufgedeckt hatte. Als Jesus nun auf Einladung der Samariter noch zwei Tage in der Stadt bleibt, glauben ihm noch viel mehr Menschen um seines Wortes willen (4, 41). Nun erklären die Gläubigen der Frau, daß sie ihr Zeugnis nicht mehr benötigen, weil sie selbst gehört haben (4, 42). D e r Glaube wird also zu einem Glauben biet T. "Köyov ooitoi), „demgegenüber das menschliche Zeugnis zur XaXia, zu bloßen Worten, die die Sache nicht mit sich führen, herabsinkt. Damit ist gesagt: der Glaube darf nicht auf die Autorität anderer hin glauben, sondern muß selbst seinen Gegenstand finden; er muß durch das verkündigte Wort hindurch das W o r t des Offenbarers selbst vernehmen. Es entsteht also die eigentümliche Paradoxie, daß die unentbehrliche Verkündigung, die den H ö r e r zu Jesus führt, doch gleichgültig wird, indem der H ö r e r im glaubenden Wissen selbständig und damit auch zum Kritiker an der Verkündigung wird, die ihn selbst zum Glauben f ü h r t e " 4 7 . Für ein solches Glaubensverständnis, das das Geistzeugnis als das für die jetzige Kirche allein Entscheidende ansieht 4 8 , ist der Apostelbegriff in der Tat überflüssig. Das Johannesevangelium steht damit in deutlicher Spannung zum Frühkatholizismus anderer Schriften des N T 4 9 . Diese Auffassung ist allerdings fast einzigartig im Neuen Testament. Denn die meisten Schriften kennen den Apostelbegriff, wenn auch mit mannigfaltigen Varianten, denen wir hier nicht nachzugehen brauchen. V o n Bedeutung für unser Problem ist allerdings, wie und ob überhaupt die Apostel im Zusammenhang mit der Kirche gesehen werden, genauer: ob Kirche im Neuen Testament abgesehen von Aposteln gedacht werden kann. Auch hier müssen wir uns mit wenigen charakteristischen Zügen begnügen. 46

Vgl. E . Schweizer, a . a . O . , S. 108.

47

R . Bultmann, Das Evangelium des J o h a n n e s , M e y e r K 2, 18. Aufl. 1964, S. 1 4 8 f .

48

E . Schweizer, a . a . O . , S. 108.

49

Vgl. S. Schulz, Das Evangelium nach J o h a n n e s , N T D 4, 13. durchges. A u f l . , 2. Aufl. der Neuaufl. 1975, S. 181. Eine völlig andere Auffassung über die Ekklesiologie des J o h vertritt z . B . R .

Schnackenburg, D i e Kirche im N e u e n Testament,

a . a . O . , S. 93 ff. und ders. Das Johannesevangelium, H T h K I V , 1 - 3 , 1965 ff. B e zeichnenderweise läßt J . R o l o f f in seinem Artikel „ A p o s t e l " in T R E , B d I I I , S. 4 3 0 f f . das Johannesevangelium aus.

Die Apostolizität der Kirche

79

A m sinnfälligsten gerade im Gegensatz zur johanneischen Theologie und der dort vertretenen paradoxen Freiheit des Gläubigen von der den Glauben vermittelnden Kirche ist die lukanische Auffassung der Apostolizität der Kirche. Schon Conzelmann hatte darauf hingewiesen, daß für die lukanische Geschichtstheologie die Anfangszeit der Kirche besonders qualifiziert ist. Sie wird programmatisch als „Friedenszeit" geschildert 50 , die unwiederholbar nicht zuletzt deshalb ist, weil die Augenzeugen des Christusereignisses sich in ihrer Mitte befinden. Dabei wird deutlich, daß für Lukas die Apostel und die Zeugen keine Modelle für eine spätere Gemeindeverfassung sind, „sondern . . . die geschichtliche Grundlage der .jetzigen Kirche'" 5 1 . Insgesamt ist Lukas an einer genauen Definition der kirchlichen Ämter wenig interessiert 5 2 , weil es ihm mehr darum geht, das Vorhandensein der Kirche, in der er lebt und die durch die Verfolgung geprägt ist, „von der arche her (zu) begründen" 5 3 . Mit dieser theologisch motivierten Hervorhebung der Ursprungszeit bekommen die Apostel und Zeugen einen hervorragenden theologischen Rang, der von Lukas durch Augenzeugenschaft des Lebens Jesu qualifiziert (Apg 1,21 f.) und so hoch eingeschätzt wird, daß er Paulus diesen besonderen Rang nicht zuerkennt. Dies impliziert, daß die zeitliche Nähe zu Jesus für Lukas eine sachliche Bedeutung erhält: „Jedes zeitlich frühere Glied (ist) dem zeitlich nachfolgenden Glied übergeordnet" 5 4 . In krassem Gegensatz zu Johannes wird bei Lukas also der Glaube an das apostolisch legitimierte Wort und die apostolisch vollzogene Geistübergabe gebunden. Dies zeigt mit aller Deutlichkeit Apg 8,14—17. Die Apostel in Jerusalem hören, daß man in Samarien das Wort Gottes angenommen hat. Man sendet Petrus und Johannes zu den Samaritern, damit sie den Heiligen Geist empfangen — und dies, obwohl ausdrücklich gesagt wird, daß diese Menschen bereits auf den Namen Jesu getauft worden sind (8, 16). Dadurch wird nicht nur die Missionstätigkeit des Philippus desavouiert, weil seiner Taufe ja doch das Wich-

50

H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 2. A u f l . 1957, S. 184.

51

ders., a . a . O . , S. 189; Vgl. auch H. Schürmann, Das Lukasevangelium, Bd. I, HThK III, 1969, S. 3 1 4 ; E. Schweizer, a . a . O . , S. 62. Etwas anders J. R o l o f f , a . a . O . , S. 442: „Für ihn (Lk) sind die Apostel nämlich zugleich Garanten der die Kirche begründenden Tradition und Prototypen kirchlicher Amtsträger".

52

H. Conzelmann, a . a . O . , S. 191, Vgl. R. Schnackenburg, Die Kirche im NT, S. 64.

53

H. Conzelmann a . a . O . , S. 191.

54

S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, a. a. O . , S. 268.

80

Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

tigste fehlt 5 5 , und Taufe und Geistempfang auseinandergerissen, sondern zugleich wird der Geist so stark an die „legitimen" Apostel gebunden, daß der Eindruck entsteht, „als eigne den Händen der Apostel eine größere Kraft als dem Namen J e s u " 5 6 . Diese Bindung des Geistes an apostolische Autorität hat erhebliche Konsequenzen: „ O h n e die Apostolizität der kirchlichen Tradition und der sie stützenden apostolischen Nachfolge ordinierter Amtsträger gibt es keinen legitimen Zugang zu den grundlegenden Anfängen der JesusEreignisse und deshalb auch kein H e i l ! " 5 7 D e r „Jünger erster H a n d " wird also bei Lukas zur unüberholbaren und unverzichtbaren Bedingung für alle N a c h geborenen. Kirche ist nicht Kirche, wenn sie nicht auf dem Fundament der Apostel ruht, und die Glaubenden sind nicht ablösbar von dieser Kirche, weil nur in ihr der Geist weht. U n d diese Kirche ist apostolisch dadurch, daß sie an der apostolischen Tradition festhält und keinen Weg sucht, diese zu umgehen. Apostolizität aber wird verbürgt durch legitime Beauftragung durch die Apostel selbst, also zur Zeit des Lukas durch eine historisch zu verstehende apostolische Sukzession 5 8 . Lukas kennt folglich gar keine andere Kirche als die apostolisch legitimierte, und Apostolizität ist für ihn Unterscheidungsmerkmal gegenüber den wildwachsenden „christlichen" Gruppen. Dieses Bild, das die Kirche als apostolische zu zeichnen sucht, könnte noch durch paulinische und spätere Nuancen abgerundet werden. Paulus legt allergrößten Wert auf sein Apostelsein, das er nicht von Menschen, sondern von Jesus Christus und Gott dem Vater, der diesen auferweckt hat, herleitet (Gal 1,1). O b w o h l er den Begriff des Apostels im Unterschied zu Lukas

55

Vgl. E . Haenchen, a . a . O . , S. 2 5 8 .

56

G . Stählin, a . a . O . , S. 123.

57

S. Schulz, Die Mitte der Schrift, 1976, S. 138. H . Steichele, Geist und A m t als kirchenbildende Elemente in der A p g , in: Kirche im Werden, a . a . O . , S. 1 8 5 f f . versucht „ G e i s t " und „ A m t " vorsichtiger aufeinander zu beziehen; L k kennt auch die Freiheit des Geistes gegenüber dem A m t . Sie will damit den lukanischen „ F r ü h k a t h o l i z i s m u s " in Frage stellen. A b e r auch für sie sind besonders die Apostel die „ G a r a n t e n " der christlichen Verkündigung (S. 198).

58

Vgl. S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, a . a . O . , S. 2 5 5 f f ; ders. D i e Mitte der Schrift, a . a . O . , S. 137 ff.; E . Käsemann, D i e Johannesjünger in Ephesus, a . a . O . , S. 1 5 8 f f . ; zurückhaltender H . C o n z e l m a n n , a . a . O . , S. 191. C o n z e l m a n n , D i e Apostelgeschichte, H N T , a . a . O . , S. 1 1 8 f . weist darauf hin, daß selbst bei starker Hervorhebung des Amtsgedankens — und damit auch der apostolischen Sukzession! (der Verf.) — noch der Gedanke eines durch das A m t verliehenen character indelebilis fehlt.

81

Zwischenergebnis I

dadurch definiert, daß dieser durch den Auferstandenen selbst zur Mission berufen sein muß (1. K o r 9 , 1 ; 15,9f., Gal 1,16f.) und die Schau des Auferstandenen allein nicht genügt S 9 , bindet er die rechte christliche Verkündigung durchaus an Uberlieferung. In 1. K o r 3 —7 wird deutlich, daß die Urgemeinde das Bewußtsein hatte, alleiniger Träger der Auferstehungsüberlieferung zu sein 6 0 . Im Umfeld dieser Traditionsvermittlung sind die Apostel ein wichtiger, wenn auch nicht allein entscheidender Faktor. Das Bewußtsein, alleiniger Träger der Auferstehungsüberlieferung zu sein, prägt denn auch das Selbstbewußtsein des Paulus, daß sein apostolisches Evangelium das unüberbietbar richtige sei (Gal 1,8). Diese Bindung der Kirche an die Apostel, die nun in einer erneuten Drehung des Begriffs als die Garanten der rechten Tradition angesehen werden 6 1 , ist schließlich in der wohl spätesten Schrift des N T , dem 2. Petrusbrief, unlösbar.

ZWISCHENERGEBNIS I

Unsere neutestamentliche Untersuchung hat bisher ergeben, daß die späteren kirchlichen notae expressis verbis im Neuen Testament nicht vorkommen. Einzige Ausnahme darin ist Eph 1,20 ff. Hier wird die Kirche heilig genannt, noch dazu in einem Credosatz, der die theologischen Züge des Verfassers trägt 6 2 . Die christologischen Aussagen — Auferweckung, Erhöhung und Herrschaft über die Mächte — sind weithin traditionelles Gut, das schon bei Paulus verstreut vorhanden ist und in der späteren kirchlichen Literatur zum selbstverständlichen Glaubensgut gehört. „ D i e Gestaltung durch den Verfasser zeigt sich darin, daß er kontextgemäß den T o d Jesu nicht erwähnt, daß er dessen herrschende Stellung über den Mächten ausbaut und daß er vor allem die ekklesiologische Bedeutung dieses Herr-Seins

59

verdeutlicht" 6 3 .

W . G. Kümmel, Theologie des N T , N T D , Ergänzungsreihe 3, 1969, S. 119. Vgl. auch R. Schnackenburg, Apostolizität, Stand der Forschung K u D , Beiheft 2, 1971, S. 53 f.

60

W . G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein, 2. Aufl. 1968., S. 8 f.

61

Vgl. E . Käsemann, Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, E V B I, 4. Aufl.

62

Vgl. J . Gnilka, Epheserbrief, a. a. O . , S. 8 8 ; H . Conzelmann, N T D 8, a. a. O . , S.

1965, S. 141. 6 3 : „dichterisch gehobene Meditation über das Glaubensbekenntnis". 63

Gnilka, a . a . O . , S. 94.

82

Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

Dann aber ist deutlich, daß die Erwähnung der Kirche im Zusammenhang des Credo nicht eigentlich ekklesiologischen Charakter hat. Das Herr-Sein Christi ist der Glaubensinhalt, der nun nach der kosmischen Perspektive (1,21) auch in der ekklesiologischen Perspektive betrachtet wird 6 4 . Daraus folgt zweierlei. Erstens ist die Kirche im Neuen Testament von Anfang an ein Problemfeld, dem sich die theologischen wie organisatorischen Kräfte in wachsendem Abstand zu den Anfängen steigernd und mit durchaus wechselnden Inhalten und Schwerpunkten zuwenden. Dabei erreicht die Ekklesiologie mit dem Epheserbrief die unmittelbare N ä h e zu Credoformulierungen, ohne selber in diese Credoformulierungen einzurücken. Ekklesiologische Aussagen bleiben auch hier abhängige Aussagen. Das zweite: Es ergibt sich eine auffallende Einmütigkeit in der Sache. Setzen wir dabei die Ergebnisse der neueren Theologien des Neuen Testaments voraus, daß nämlich jeder Schriftsteller des Neuen Testaments eine spezifische, ihn von anderen Autoren unterscheidende Theologie vertritt, so hätte man eine größere Differenz erwarten können. Obwohl sich Christologien und Ekklesiologien unterscheiden, sind die von uns untersuchten Zeugen des Neuen Testaments doch sachlich überraschend einmütig: die Kirche ist eine, heilige, katholische und apostolische — auch wenn diese Attribute überhaupt nicht im Zusammenhang der Kirche (Ausnahme Eph 1,20) erwähnt werden. Allerdings werden diese Attribute (im grammatischen Sinn) noch nicht in irgendeiner Form dogmatisiert. Aber ihr Bezug auf den jeweiligen Glauben wird daran deutlich, daß sie sich in einem Entwicklungsprozeß befinden. Lehrhafte Differenzen müssen die Einheit nicht gefährden. In einer Theologie kann der Apostelbegriff bereits weit reflektiert sein und in eine kirchliche „Hierarchie" eingeordnet werden, eine andere kann ganz auf ihn verzichten — dennoch wird die Einheit der Christen so nicht verletzt. So zeigt sich an wichtigen Zeugen des N T , daß der Glaube ein prozeßhafter Vorgang ist, aus dem heraus Inhalte verantwortet werden müssen, die aus der Tradition zuwachsen und in der Anwendung verändert werden. Es zeigt sich weiter, daß im Neuen Testament bezüglich der späteren Attribute der Kirche eine große sachliche Einheitlichkeit bewahrt wird. Im Wandel nur wird Identität bewahrt. U m dieses Ergebnis noch etwas deutlicher zu machen, wollen wir nun auf eine Stufe des von Jesus von Nazareth beeinflußten Glaubens zurückgehen, in der eine andere Christologie vertreten wird als von den anderen Autoren des 64

ders., a . a . O . , S. 96f.

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

83

Neuen Testaments. Hier können wir das Problem einer Theologie des Neuen Testaments an einer kleinen Stelle zeigen: in einer neutestamentlichen Tradition, die man als , Jesus-Kerygma" bezeichnet hat und die im Unterschied zum „Christus-Kerygma" 6 5 eine „soteriologisch begründete Christologie" 6 6 aus sich heraussetzte, während umgekehrt ein Entwicklungsgang von der Christologie zur Soteriologie vorliegt. Daher fragen wir, ob die Logienquelle Q die Sache der zu untersuchenden notae auch schon kennt, wie die späteren Texte des Neuen Testaments.

5. D I E E K K L E S I O L O G I E D E R S P R U C H Q U E L L E Q

Dabei ist natürlich impliziert, daß die Gemeinde der Logienquelle den Tod Jesu anders verstanden hat als die Christen, die das sogenannte „Christus-Kerygma" entwickelt haben. Für die Q-Gemeinde stellt der Tod Jesu das zwar beklagenswerte, aber sozusagen „übliche" Geschick „aller Boten der Weisheit, der Propheten vor ihm und der (von ihm ausgesandten) Jünger nach ihm" 6 7 dar. Die Logienquelle „kannte" in diesem Sinn das Kerygma von Kreuz und Auferstehung noch nicht, obwohl sie vom Tod Jesu als historischem Ereignis natürlich wußte 6 8 . Nur hat sie seinen Untergang anders interpretiert als das übrige Neue Testament 69 . Auch wenn bis heute die exegetischen Probleme der Erforschung der Spruchquelle noch keineswegs befriedigend gelöst scheinen, hat die Forschung in den letzten Jahren doch ein genaueres Bild der Theologie zeigen können. Noch Bultmann hatte gemeint, hinter der Zusammenstellung von Q stehe keine theologisch geprägte Redaktion, und hatte deshalb für Q die Kategorie der „Sammlung" in den exegetischen Sprachgebrauch eingeführt 70 . Die neueren Untersuchungen belegen aber, daß auch die literarische Ent-

65

W . Marxsen, Die urchristlichen Kerygmata und Jesus von Nazareth, Z T h K , 73,

66

W . Marxsen, a . a . O . , S. 61.

67

P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, 1972, S. 189.

1976, S. 4 2 - 6 4 .

68

Vgl. G . Bornkamm, R G G 3 , Bd II, Sp. 759. Anders W . Kümmel, Einleitung in das N T , 18. Aufl. 1973, S. 4 6 f . , und H . Kasting, Die Anfänge der urchristlichen Mission, 1969, S. 97.

69

Darauf hat Marxsen, a . a . O . , S. 62 Anm. 49, mit Recht hingewiesen.

70

R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 6. Aufl., 1964, S. 354.

84

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

wicklung von Q durch theologische Gesichtspunkte geformt worden ist. Gattungsmäßig gehört die Spruchquelle zu den „Sprüchen der Weisen" 7 1 , aber es ist christologisch auffallend, daß die Spruchquelle — anders als die korinthischen Weisen — keinen Weisheitsmythus auf Jesus anwenden möchte. Jesus ist in Q Kriterium des Glaubens, weil er mit seiner Verkündigung die Nähe der Gottesherrschaft ausruft und in seinen Taten anzeigt, daß das Ende nahe herbeigekommen ist. Auf die Frage des Täufers antwortet Jesus mit dem Hinweis auf seine Verkündigung und sein Tun ( M t l l , 2 —6/Lk 7,18-23). Noch ist das Ende nicht da, es wird plötzlich und unvermutet kommen (Mt 24,43 f./Lk 12,39 f.), aber diejenigen, die auf Jesus hören, haben ihr Haus „auf Felsengrund gebaut" (Mt 7,24/Lk 6,48) und können das Ende überstehen. Jesus ist der Anfänger der eschatologischen Endzeit. Diese JesusChristologie bildet ekklesiologisch keine „Schulen" wie die Gnosis, sondern eine Gemeinde ohne hierarchische Ordnung, in der die Jesus Nachfolgenden Gottes Willen gehorsam sind und dabei die Nachfolge durchaus als „Kreuz" verstehen (Mt 10,38/Lk 5,27). Aus dem eschatologisch bestimmten Glauben an den eschatologischen Lehrer Jesus folgt das eschatologisch bestimmte Selbstbewußtsein der Gemeinde, die die Aufgabe vollzieht, die mit der jesuanischen Verkündigung begonnene Endzeit in ihrer eigenen Verkündigung fortzusetzen, bis das Gericht kommt. Ihrem Auftreten kommt deshalb „eschatologische Bedeutung zu (Lk 10,16)" 7 2 , weil sich am Verhalten der Menschen zu den Boten der herangekommenen Gottesherrschaft ihre Zukunft im kommenden Gericht entscheidet. So weiß sich die Gemeinde von Q ohne Kerygma von Kreuz und Auferstehung im Dienst der nahe bevorstehenden Gottesherrschaft. Wir wollen sehen, ob es in Hinsicht darauf gilt, daß der „Glaube", wie er sich in der Theologie von Q darstellt, schon in einer Gemeinde ohne spezifisch christliches Kerygma von Kreuz und Auferweckung Jesu so dargestellt ist, daß er aus sich heraus Inhalte und Verhaltensweisen setzt, die wir später in den vier klassischen notae ecclesiae präzisiert finden. Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum hilft, diese Frage zu lösen (Mt 8,5—13/Lk 7,1 —10). Formgeschichtlich handelt es sich um eine 71

J. M. Robinson, Logoi Sophon, in: H. Köster/J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Entwicklungslinien), 1971, S. 67-106.

72

P. V. Dias, Handbuch der Dogmengeschichte III/3a, S. 54.

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

85

Wundergeschichte, die in ein biographisches A p o p h t h e g m a aufgelöst worden i s t 7 3 . Beide Evangelisten haben an der Vorlage redaktionell gearbeitet, dennoch stammt sie eindeutig aus Q , und es ist ganz abwegig, andere Quellen und Q u e l l e n k o m b i n a t i o n e n a n z u n e h m e n 7 4 . O b w o h l M t die G e s c h i c h t e durch das ursprünglich freie H e r r e n w o r t (Vers 11 f.) erweitert hat, finden wir bei ihm die im Vergleich zu L k ältere Schicht, denn L k hat stärker in seine Vorlage eingegriffen 7 5 . Ziel der G e s c h i c h t e ist die H e r v o r h e b u n g des Glaubens an J e s u W o r t . Solcher Glaube läßt sich bei diesem heidnischen O f f i z i e r , nicht aber in Israel finden. Inhaltlich glaubt dieser unbeirrbare G l a u b e an die M a c h t des W o r t e s Jesu, das selbst dann wirksam ist, wenn Jesus das H a u s des heidnischen C e n t u r i o als f r o m m e r J u d e nicht betreten w i r d 7 6 . D i e s e m Ziel der Geschichte scheint zunächst die Anwesenheit und die Existenz der J ü n g e r zu widersprechen, die ja Juden sind und deren G l a u b e sicher nicht geringer eingeschätzt werden darf als derjenige des C e n t u r i o . M a n hat versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, indem man der Perikope die theologische Verbindung zur Problematik der Stellung Israels zu den Heiden absprach und den von Jesus so hervorgehobenen Glauben individualisierte 7 7 oder im L e b e n Jesu „eine unbetonte A u s n a h m e " 7 8 sein ließ. Beide Versuche laufen aber der doch ziemlich klaren „ k e r y g m a t i s c h e n " A b s i c h t der P e r i k o p e zuwider. F ü r jüdische Verhältnisse ist die Begegnung mit einem Heiden in der häuslichen, privaten Sphäre i m m e r mit einer besonderen P r o b l e m a t i k verbunden, und daher ist es keinesfalls unbedeutend, wenn das M o t i v J u d e H e i d e in einer Erzählung von Jesus, noch dazu in einer Wundergeschichte, die auf ein W o r t Jesu zielt, thematisch wird. D i e Aussage J e s u über den Glauben des C e n t u r i o und sein Vergleich mit dem Glauben, den er in Israel gefunden hat, ist dann keine Brüskierung seiner eigenen Anhängerschar, wenn die Perik o p e als generalisierende Gemeindebildung verstanden wird, die auf eine

73

Vgl. Bultmann, Geschichte, S. 39 u. 70; S. Schulz, Die Spruchquelle der Evangelisten, 1972, S. 47; W. Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, T h H K I, 2. Aufl. 1971, S. 250.

74

Gegen K. H. Rengstorf, N T D 3, 1962, S. 94. Vgl. S. Schulz, a. a. O . , S. 236. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, in Q seien nur die Verse Mt 8,8—10 überliefert gewesen, gegen E. Schweizer, N T D 1, 137.

75

76 77 78

7

Vgl. J. Jeremias, Theologie des N T , Bd I, 1971, S. 162. Vgl. W. Trilling, Das wahre Israel, 3. Aufl. 1964, S. 104f. G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1966, S. 101. Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

86

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

bestimmte, neu aufgetretene Situation der Gemeinde antwortet und kein „echtes" Jesuswort ist 79 . Dann war also der christliche Glaube der Gemeinde von Q auch ohne Kerygma von Kreuz und Auferstehung produktiv, sich durch Bildungen neuer Jesusworte auf veränderte Situationen einzustellen. Hier wird offensichtlich die Situation vorausgesetzt, in der die Gegenüberstellung und das Zusammenleben von Juden und Heiden im gleichen christlichen Glauben ein Problem geworden ist. Wenn der heidnische Centurio als Paradigma des Glauben dargestellt wird, der zudem noch so behutsam mit den jüdischen Reinheitsvorschriften umzugehen versteht, so doch sicher deshalb, weil es in der Gemeinde von Q mittlerweile auch Heiden gegeben hat und die Aufnahme von weiteren Nichtjuden zum Problem geworden ist. Ein interessierender Einzelfall hätte nicht solches Gewicht bekommen — zudem spricht die Form des Apophthegmas schon dagegen. Es ist undenkbar, daß eine Gemeinde, die keine Heiden in ihrer Mitte duldete, diese Geschichte tradiert hätte. Weiter liegt der Schluß nahe, daß die Gemeinde, die Jesu Wirken mit eschatologischem Selbstverständnis fortsetzt, ihm auch darin nachfolgt, daß sie sich den Heiden zuwendet. Das heißt, wir können annehmen, daß die jüngere Q-Gemeinde im Gegensatz zur älteren in noch ungeklärtem Umfang und unbekannter Intensität eine Art Heidenmission betrieben hat. So wird die Perikope erzählt als Legitimation der Aufnahme von Heiden in die christliche Gemeinde. Der Maßstab für die Aufnahme ist bereits nur ihr Glaube, nicht ihre Gesetzestreue und nicht ihre Feindesliebe, die doch insgesamt so charakteristisch für die Theologie der Logienquelle sind, daß in ihnen der einzige Weg zur Rettung aus dem Gericht gesehen worden ist 80 . Zwar ist unbestreitbar Israel das primäre Missionsfeld, und die Spruchquelle ist eine „für die Mission bestimmte Sammlung" 81 , aber die theologische Redaktion dieser Sammlung hat das historische Problem Juden — Heiden bereits theologisch in den Blick bekommen. So wie Jesus sich auch den Heiden zuwandte, wenn sie ihn darum baten, so hat sich die Gemeinde von Q zu einem relativ späten Zeitpunkt ihrer Traditionsbildung auch den Heiden zugewandt. So finden wir hier an einer ganz anderen Stelle der frühen Christenheit als wir sie aus der Apostelgeschichte und von Paulus kennen, einen Übergang zur Heidenmission, der sich allerdings viel vorsichtiger und zurückhaltender 75

So auch H . Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi, 1974, S. 113f.

80

Vgl. P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle 1972, S. 333.

81

ders., a . a . O . , S. 3 3 2 f . ; Vgl. auch H. Kasting, a . a . O . , S. 97 u. 102.

87

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

gestaltet haben dürfte als in den Kreisen um Paulus und der hellenistischen Gemeinde. Zwar finden wir in Q keine Belege dafür, daß die Heidenmission programmatisch verfolgt worden ist, aber sie war, wie diese und andere Stellen zeigen, ebenso vollzogen wie in der Gemeinde von Q Heiden in geachteter Position lebten 8 2 . Wir sehen also, daß es innerhalb der Entwicklung des christlichen Glaubens eine Entwicklung dieses Glaubens selber gegeben hat, in deren Verlauf der Glaube als Lebensvollzug (fides qua) seine theoretischen Inhalte (fides quae) produktiv fortentwickelt hat und dabei in Konfrontation seiner Uberlieferungen mit den neu entstehenden Problemen eben diese Inhalte auch verändert hat. Die jüngere Q-Gemeinde, der ich mit Schulz die Perikope des Hauptmanns von Kapernaum zuschreibe 8 3 , sah in der beginnenden Aufnahme von Heiden in die Gemeinde das unaufhaltsame Fortschreiten der Endzeit. Trotz nachlassendem prophetischem Enthusiasmus und Parusieverzögerung hielt sie dem aufkommenden Zweifel die Zeichen der Zeit entgegen. Ekklesiologisch ist von Bedeutung, daß sich die Christo'logie der jüngeren Q-Gemeinde von der älteren kaum unterscheiden läßt, wenn auch die jüngeren Schichten ein stärkeres Interesse an der Person Jesu zeigen. Trotz fast gleichbleibender Christologie hat sich die Ekklesiologie doch verschieben können, ohne den Glauben zu gefährden. Wenn wir nun aus dem vorgelegten Material die Schlüsse für die ekklesiologische Fragestellung ziehen, so sehen wir, daß innerhalb der Theologie der Q-Gemeinde das Problem der 82

Für die bereits vollzogene Heidenmission spricht auch die Aussendungsrede Mt 9,37—10,16/Lk

10,2-12

und

das

Gleichnis

vom

großen

Abendmahl

Mt

22,1 — 10/Lk 14,15—24. Allerdings ist diese These in der Literatur sehr umstritten. Für vollzogene Heidenmission sprechen sich aus: G. Bornkamm, Enderwartung und Kirche im Mt-Evangelium, in: Bornkamm, Barth, Held: Überlieferung und Auslegung im Mt-Evangelium, 4. A u f l . 1965, S. 16; D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, 1969, S. 5 9 f . u. 8 6 f f . ; H. Frankemölle, a . a . O . , S. 1 0 8 - 1 1 4 ; H. Schürmann,

Traditionsgeschichtliche

Untersuchungen

zu

den

synoptischen

Evangelien, 1968, S. 1 4 4 f . ; ders., Das Lukasevangelium, 1. Teil, H T h K Bd III, 1969, z.B. S. 396, vermutet allerdings, daß das Heil, wenn schon nicht den Heiden, so doch den Gottesfürchtigen unter ihnen nicht vorzuenthalten sei. Für vollzogene Heidenmission bei Mt spricht sich auch H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, F R L A N T 120, 1978, S. 191, aus. Er läßt aber offen, ob dies schon in den vormatthäischen Traditionsschichten so gesehen worden ist. Dagegen u.a. S. Schulz, a . a . O . , S. 244 u.ö.; P. Hoffmann, a . a . O . , S. 293. 83 7"

S. Schulz, a . a . O . , S. 2 3 6 f f .

88

D i e Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

Einheit der Gemeinde noch nicht in den Vordergrund getreten ist. Vor allem in der jüngeren Q-Gemeinde ist der Hauptgegner die Synagoge (Mt 10,19f./Lk 12,11 f.), dennoch gibt es auch christlich geprägte Auseinandersetzungen, sowohl mit anderen Christlogien wie mit solchen Menschen, die die Gemeinde verlassen oder verraten haben. Auffällig ist ja die durchgängige Kritik an der öeiog ävr|Q-Christologie und die akzentuierte Kugle-Anrede des irdischen Jesus 84 . Aber im Vergleich zu den aus dem Kreis um Paulus überlieferten heftigen Kämpfen um die Einheit der Gemeinde sind die in Q vorkommenden Belege für innerchristliche Auseinandersetzungen fast ohne Bedeutung. Zu sehr ist man noch geprägt vom sich ständig weiterentwickelnden Gegensatz zur eigenen Volksgruppe, den Juden, die der Botschaft vom nahe bevorstehenden Gericht und von Jesus, dem gekommenen und wiederkommenden Menschensohn, keinen Glauben schenkten. Zweifellos durchzieht das Motiv des Gegensatzes zwischen Christen (als den Geretteten) und allen anderen Menschen (als den Verlorenen) die Theologie der Logienquelle. Analog zur Sintflut ergeht das Gericht über alle Menschen, gleich welcher Rasse und Religion, und nur die an Jesus Glaubenden werden aus dem Gericht gerettet werden (Mt24,27f. 3 7 - 4 1 / L k 17,24.26-30.34f. 37). Dennoch läßt sich ein wirklicher christlicher Gegner zur Q-Gemeinde nicht feststellen, wenn man nicht das Fehlen des „orthodoxen" Kerygmas von Kreuz und Auferstehung als stillschweigende Auseinandersetzung mit den christlichen Gruppen betrachten will, die dieses Kerygma von Anfang an hatten. Natürlich kommt das Attribut der Heiligkeit in Q der Kirche nicht zu. Aber mit der eschatologischen Qualifizierung der Jesus nachfolgenden Menschen klingt etwas davon an. Insofern die Jüngergemeinde das Werk Jesu in der Endzeit fortsetzt, gehört sie auf die Seite des zum Gericht kommenden Menschensohns und hat Teil an seiner Glorie. Daher sind die Gläubigen in ihrer Niedrigkeit und Verfolgungsqual doch die Vollkommenen, die an der Vollkommenheit des Vaters partizipieren (Mt 5,48/Lk 6,36). Die Frage nach der Katholizität ist durch unsere'ausführliche Diskussion über der Frage der Heidenmission schon angeklungen. Eine Gemeinde, die auch theoretisch bereits reflektiert, ihr vorher ethnisch und geographisch begrenztes Misionsfeld erweitert und Heiden in die Gemeinschaft aufnimmt, weitet ihr Selbstverständnis prinzipiell auf alle Glaubenden ohne Einschränkung ihrer rassischen oder volksmäßigen Unterschiede aus. So wie es schon 84

Vgl. S. Schulz, a . a . O . , S. 4 7 f . u. 2 3 6 - 2 4 6 ; D . Lührmann, a . a . O . , S. 97.

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

89

bezüglich des Gerichts keine Unterschiede zwischen Juden und Heiden gibt, so überspringt nun der Glaube an den gemeinsamen Herrn die sonstigen Trennungsgründe zwischen Menschen. Natürlich finden wir in Q noch keinen Gedanken an eine weltweite Mission 85 , aber der Glaube an den gekommenen und kommenden Menschensohn zeigt auf einer inhaltlich fortgeschrittenen Stufe die grundsätzliche Schrankenlosigkit der Heilszuwendung Gottes, nach der sich die Gemeinde zu richten hat, da sie das Werk Jesu fortsetzt. Der Begriff des Apostels und das Verbum djtooTeX^Eiv sind in Q zu finden (z.B. Mt 23,34—36/Lk 11,49—51), aber damit sind keine christlichen Apostel gemeint, sondern die Gesandten der alttestamentlichen Zeit 86 , oder das Verbum meint einfach „senden" ohne ausgeführte theologische Qualifizierung (z. B. Mt 10,40/Lk 10,16). Die Gemeinde selber wird auch nicht in Mitglieder von verschiedenem theologischem Rang gegliedert, selbst die Jünger werden niemals als Einzelperson vorgestellt, sie sind einfach die „Nachfolgenden". Dieser Tatbestand mag ein Hinweis darauf sein, daß für Q die Gemeinde in unmittelbarer Kontinuität, nicht vermittelt durch die Autorität von Jüngern, die Verkündigung Jesu fortsetzt" 8 7 . Das heißt, für Q haben die Begleiter Jesu ebensowenig einen besonderen Rang wie ihre ursprüngliche Verkündigung ein besonders qualifiziertes Gewicht hat. Die herausragenden Gestalten der frühen christlichen Gemeinden, wie sie beispielweise von Paulus und der Apg angesprochen werden, spielen hier überhaupt keine Rolle. Apostolizität als Sendung ist natürlich hier ebenso zu finden wie in anderen christlichen Gemeinden, aber es fehlt die Berufung auf bestimmte herausragende Autoritäten, deren Lehre und Verhalten für die Gemeinden eine besondere Bedeutung haben. Aber in der Entwicklung der Gemeinde und ihrer Theologie selber ist absehbar, wann die Berufung auf vergangene Autorität einsetzen muß. Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum deutet diese Entwicklung ebenso an wie alle Jesusworte, von denen wir sagen müssen, daß sie vermutlich Gemeindebildungen sein werden. Denn hier wird die Gegenwart aus der Autorität Jesu heraus beurteilt und von dort her eine Einstellung zu ihr gewonnen. Verhalten wird durch Jesu Wort und Wille legitimiert. Aber der Unterschied zur späteren Lehrentwicklung ist eben doch noch gravierend: die Legitimation wird nicht an die Autorität

85 86 67

Vgl. G. Bornkamm, RGG 3 , Bd II, Sp. 758. Vgl. S. Schulz, a . a . O . , S. 336f. u.a., s.a. Anm. 81.). D. Lührmann, a . a . O . , S. 97.

90

Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

menschlichen Zeugnisses gebunden, sondern an die des gekommenen Menschensohns. Wir sehen also, daß in einer Gemeinde, die das Kerygma von Kreuz und Auferstehung noch nicht kannte, der Glaube als Lebensvollzug und inhaltliches, theoretisches „ S y s t e m " produktiv veränderlich und veränderbar ist. Die noch kaum scharf konturierbare Ekklesiologie der Logienquelle tendiert auf Kennzeichnung der Kirche durch solche Verhaltensweisen und Qualitäten, wie sie später in den vier notae ecclesiae formuliert worden sind. Darin entspricht diese Ekklesiologie der des übrigen Neuen Testaments. Mit der Analyse der Theologie der Spruchquelle und dem Aufweis des in sich produktiven Glaubens, der sich in seiner jeweiligen Zeit zu verantworten hat, ist nun der Boden bereitet für eine weitergehende Reflexion. Das neutestamentliche Material zeigte uns an den ekklesiologischen Aussagen den in sich produktiven christlichen Glauben, der im Verlauf seiner eigenen Geschichte in kritischer Aufnahme von traditionellem G u t seine Inhalte und die Gestalt seiner Inhalte selbstverantwortlich aus sich heraussetzt. Dabei hat sich bei aller Differenz, sogar in der entscheidenden Dimension der Christologie, eine auffallende Ubereinstimmung gezeigt: wenn über die Gemeinde nachgedacht wird, die in durchaus kontroversem Sinn auf Jesus von Nazareth bezogen wird, dann besteht eine starke Tendenz dazu, dieser Gemeinde sachlich die Attribute zuzuordnen oder um ihr Vorkommen zu kämpfen, die im späteren Symbol unter wiederum ganz anderen Bedingungen als Aussage dieses Glaubens selbst festgehalten worden sind und bis heute in den meisten Kirchen gegenwärtig gehalten werden. So finden wir im Neuen Testament einen theologischen Argumentationsaufbau, wie wir ihn in der Arbeitshypothese vorschlagen, insofern die jeweilige Ekklesiologie vom damals geschehenden jeweiligen Glauben abhängt. U n d wenn wir weiter sagen können, daß durch die Beziehung auf den Ursprung eine überraschende Einheitlichkeit in der Aussage sich findet, so ist zu fragen, inwiefern dann das N e u e Testament in eine systematisch-theologische Überlegung einbezogen werden kann und darf. Wir wollen diese Frage am Problem des Frühkatholizismus erörtern. Denn damit können wir in die Auseinandersetzung um zwei kontroverstheologische Legitimationsverfahren eintreten, die unserer Hypothese zu widersprechen scheinen. Evangelische Theologie ist immer in der Versuchung, das Legitimationsverfahren für systematisch-theologische Aussagen positivistisch an der „ S c h r i f t " zu messen, wobei der Schrift eine unbedingte N o r m zugeschrieben worden ist: „bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur,

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

91

nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder böse, recht oder unrecht seien. Die anderen Symbola aber und angezogene Schriften sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigen Artikuln in der Kirchen Gottes von den damals Lebenden vorstanden und ausgelegt, und derselben widerwärtige Lehr vorworfen und vordambt w o r d e n " 8 8 . „Tradition" wird dann als selber auf die Schrift bezogen, nur norma normata oder noch unverbindlicher, vorübergehende Lehrmeinung. Umgekehrt sucht sich die römischkatholische Theologie die Wahrheit ihrer Sätze durch den Verweis auf das Lehramt der Kirche und damit die Tradition zu sichern. Die Kirche wacht über die ihr anvertraute Offenbarung und kann als Kollegium der Bischöfe oder auch durch den Papst alleine „durch sich selbst, mit völliger Sicherheit und frei von jedem I r r t u m " 8 9 darüber entscheiden, ob eine Lehre eine von G o t t geoffenbarte Wahrheit ist oder nicht. O b w o h l auch hier der Unterschied zwischen Schrift und Tradition beibehalten wird, ist hier nicht die Schrift das kritische Gegenüber zum Lehramt, sondern das Lehramt steht beiden insofern gegenüber, als es über die verbindliche Auslegung der Schrift ebenso wacht wie über die Wahrheit der aus dem depositum fidei gefolgerten Lehre. Daher ist das Lehramt der Kirche „Erkenntnisprinzip der echten Tradit i o n " 9 0 , wobei Tradition sowohl der umfassende Begriff für Schrift und die apostolischen Zeugnisse ist, die diese explizieren: „Uberlieferung im engeren Sinn ist apostolische Uberlieferung, weil ihr Inhalt von den Aposteln stammt. Sie ist zugleich kirchliche Uberlieferung, weil sie durch die Kirche vollzogen wird. Insofern sie über den in der Schrift bezeugten Inhalt hinausgeht, ist sie traditio constitutiva: insofern sie die in der Heiligen Schrift gegebenen Inhalte erläutert und entfaltet, ist sie traditio explicativa, declarativa und continuiti-

88 89

F C E p i t o m e , V o m summarischen Begriff § 7, B S L K , S. 769, Z. 2 2 - 3 5 . Diese Sätze stammen aus der Apostolischen Konstitution

„Munificentissimus

D e u s " von 1950, in der das D o g m a von der leiblichen Aufnahme Mariens in den H i m m e l definiert worden ist, A A S 42, 1950, S. 753 - 773, zit. und übers, bei H . G r a ß , a. a. O . , S. 55. M a n hätte auch als Gegensatz die von manchen ev. T h e o l o g e n gelehrte „ B e k e n n t n i s k i r c h e " angeben können. Die durch die Bekenntnisse sich gebunden wissende Theologie und Kirche begründen im Extrem ihre Lehre durch Verweis auf die Bekenntnisschriften. Formal ist dieser Kirchentyp dem römischkatholischen in vielem ähnlich. Wegen der ö k u m e n i z i t ä t ziehen wir allerdings die römisch-katholische Auffassung vor. 90

M . Schmaus, D o g m a t i k I, 6. erw. Aufl. 1960, S. 122.

92

D i e Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

v a " 9 1 . M e t h o d i s c h folgt d a r a u s , d a ß d e r K i r c h e z u R e c h t die g e f r a g t e n P r ä d i k a t e z u k o m m e n u n d sie a n i h n e n e r k a n n t w e r d e n k a n n , w e i l die K i r c h e in A u s ü b u n g ihres u n f e h l b a r e n L e h r a m t e s dies als c h r i s t l i c h e W a h r h e i t f ü r alle Z e i t e n f e s t g e s c h r i e b e n h a t . W e i l die heilige T r a d i t i o n dies l e h r t , ist es G l a u bensinhalt. Diese L e h r e kann m a n z w a r fundamentaltheologisch zu unterm a u e r n v e r s u c h e n , a b e r alle h i s t o r i s c h e n E i n w ä n d e v e r m ö g e n n i c h t s w i d e r d e n g e i s t l i c h e n Sinn u n d seine W a h r h e i t . D a s d u r c h die E x e g e s e gestellte P r o b l e m des F r ü h k a t h o l i z i s m u s i m N e u e n T e s t a m e n t ist s y s t e m a t i s c h f ü r die F r a g e n a c h e i n e r a n d e r e n M ö g l i c h k e i t , e k k l e s i o l o g i s c h e A u s s a g e n z u b e g r ü n d e n , a u s w e r t b a r . D e n n das N e u e T e s t a m e n t ist ja p o l e m i s c h m i t d e r R e f o r m a t i o n g e g e n die W u c h e r u n g e n

der

„ T r a d i t i o n " ins F e l d g e f ü h r t w o r d e n . M i t d e r f o r t s c h r e i t e n d e n E n t d e c k u n g d e r E n t w i c k l u n g s l i n i e n i m N e u e n T e s t a m e n t u n d d e n sich w a n d e l n d e n T h e o l o g i e n ist d e r in d e r K o n k o r d i e n f o r m e l k l a r e S t a n d p u n k t e i n e r

Entgegen-

setzung v o n Schrift und Tradition so nicht m e h r uninterpretiert vertretbar.

91

a . a . O . , S. 1 4 3 f . Z u m Problem vgl. P.

Lengsfeld,

Katholische Sicht von Schrift, K a n o n

und

Tradition (1960), in: Das N e u e Testament als K a n o n , Hrsg. E . Käsemann, 1970, S. 205-218

und Y . Congar, Mysterium salutis I V / 1 , S. 3 7 8 : „ A u f G r u n d der

Inspiration, welche die Bibel zu einem W o r t Gottes (zu dem G o t t den A n s t o ß gegeben und für das er die Verantwortung übernommen hat) macht, k o m m t der Heiligen Schrift absoluter normativer Wert zu. D o c h die Schrift spielt diese Rolle nur, wenn sie in dem und durch das, was geschrieben steht, ihren wahren Sinn enthüllt. N a c h dem einmütigen Zeugnis aller Zeiten ist dieser Sinn nur in der lebendigen Uberlieferung und Verkündigung der Kirche greifbar". C o n g a r meint, es existiere auf G r u n d der „Offenbarungsinitiative G o t t e s " eine „einzige B e zeugungs- und Lehrkörperschaft", nämlich das kirchliche Lehramt, das der Papst oder die Gemeinschaft der Bischöfe mit ihm ausüben. Vgl. auch Congars Diskussionsbeitrag zu Küngs B u c h Die Kirche, in: Diskussion um H . Küng, Die Kirche, H r s g . H . Häring und J . N o l t e , 1971, bes. S. 1 6 0 f f . , w o C o n g a r Küng vorwirft, er habe eine Art „scriptura s o l a " - P r i n z i p praktiziert. Evangelischerseits m u ß bei aller Betonung eines kirchlichen Lehramtes unverzichtbar festgehalten werden, daß es in der Kirche kein irrtumsloses A m t geben kann, es sei denn, man will G o t t aus seiner Abscondität lösen. Unfehlbarkeit ist kein christliches Prinzip. Bei aller H i n w e n dung zur Schrift hat auch das Vaticanum II an der Aussage des Vaticanum I festgehalten: „Alles, was die Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das W o r t Gottes zu bewahren und auszulegen", Dei V e r b u m

12, Rahner/Vorgrimler,

kompendium, 1966, S. 375, Bezug auf D S 3 0 0 7 .

Kleines

Konzils-

93

D i e E k k l e s i o l o g i e der S p r u c h q u e l l e Q

Denn die Entdeckung, daß weite Teile des Neuen Testaments bereits vom sogenannten „Frühkatholizismus" geprägt sind, zeigte noch deutlicher und nun mit Hilfe historisch-kritischer Forschung, was Luther in den Vorreden zur Deutschen Bibel klar ausgesprochen hat: innerhalb der Schrift selber gibt es ein Gefälle der wahren Hauptschriften 9 2 , so daß die Schrift in ihrer Gesamtheit nicht mehr der Tradition gegenübergestellt werden kann. Die Schrift selber ist Ergebnis eines Traditionsprozesses, der, wie wir heute wissen, schon mit dem Anfang der Kirche überhaupt begonnen hat, ja die Kirche ist, wie wir gesehen haben, wesentlich definiert dadurch, daß sie sich als alleiniger „Träger der Tradition von der Auferstehung als dem die Gegenwart absolut bestimmenden eschatologischen Handeln G o t t e s " weiß 9 3 . So muß heute noch konzentrierter als Luther dies ahnen konnte, eine „Mitte der Schrift" der Tradition gegenübergestellt werden, die sich bereits im Neuen Testament findet, wenn man diesen Gegensatz überhaupt noch aufrechterhalten will. U n d diese „Mitte der Schrift", am radikalsten wohl von E. Käsemann und in seiner Nachfolge von S. Schulz vertreten 9 4 , wendet sich ausdrücklich gegen die katholische Auffassung von der „Mitte des Evangeliums", wie sie beispielsweise von H . Küng durchaus in Aufnahme protestantischer Kontroverstheologie gelehrt wird 9 5 . Käsemann will nämlich vermeiden, daß aus dem Prinzip einer Mitte der Schrift eine Hierarchie der Wahrheiten abgeleitet wird, das N e u e Testament als in einem Gefälle von ursprünglichem und abgeleitetem Zeugnis befindlich interpretiert wird, eine Unterscheidung, die für Käsemann nicht möglich ist. „Mitte der Schrift" ist für ihn nicht Maßstab für die „Herauslösung von Teilen", sondern ein hermeneutisches Prinzip zur „Inter-

92

V g l . W A D B 7, 3 8 6 f f .

93

W . G . K ü m m e l , K i r c h e n b e g r i f f und G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n , a . a . O . , S. 25.

94

E . K ä s e m a n n , D a s N e u e T e s t a m e n t als K a n o n , 1970, S. 3 3 6 f f . , S. S c h u l z , D i e M i t t e der Schrift, a . a . O . , S. 4 1 7 f f . E s k a n n im R a h m e n unserer U n t e r s u c h u n g nicht d a r u m gehen, in den Streit u m die historische Z u v e r l ä s s i g k e i t v o n K ä s e m a n n s und S c h u l z ' T h e s e n einzugreifen. B e i d e A u t o r e n sind im s y s t e m a t i s c h e n sammenhang

nur

wichtig

als

die Vertreter

der

radikalsten

Zu-

protestantischen

P o s i t i o n . A n d e r e N e u t e s t a m e n t i e r sind b e z ü g l i c h der F r a g e nach d e m F r ü h k a t h o l i z i s m u s sehr viel z u r ü c k h a l t e n d e r .

V o r allem S c h u l z ' T h e s e n sind d o c h

auch

historisch w e n i g ü b e r z e u g e n d . A b e r das ist nicht unser T h e m a . 95

V g l . H . K ü n g , D e r F r ü h k a t h o l i z i s m u s als k o n t r o v e r s - t h e o l o g i s c h e s P r o b l e m , in: E . K ä s e m a n n , H r s g . , D a s N e u e T e s t a m e n t als K a n o n , a . a . O . , S . 175—205; zuerst in: T h Q

142, 1962, S. 3 8 5 - 4 2 4 . Vgl. auch die Ü b e r s i c h t u n d K r i t i k anderer

katholischer L e h r m e i n u n g e n bei S. S c h u l z , a . a . O . , S. 423—429.

94

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

pretation des Ganzen" 9 6 . Mit diesem hermeneutischen Prinzip wendet sich auch Käsemann dann der ganzen Schrift zu, deren vorliegenden Umfang und deren Gestalt er nicht bestreitet. Aber die Devise „tota scriptura" kann für ihn kein hermeneutisches Prinzip sein, weil eben in der Schrift bereits eine „complexio oppositorum" vorliegt, die der Protestant nicht durch kirchliche Tradition, Ursprünglichkeit, Apostolizität oder andere Schlagworte von vornherein abdecken kann. Denn das Verlangen, präzis zu wissen, „was er glauben soll, kann und darf" 9 7 , kann der Protestant nicht durch die Autorität einer kirchlichen Entscheidung befriedigen, weil das Neue Testament wie die Kirchengeschichte zeigen, daß Christus, Gottes Wort und die Schrift die Kirche stets auch zum „Gegenstand, Raum und vornehmsten Empfänger ihres Gerichtes machen" 9 8 . Christus, Gottes Wort und die Schrift müssen also ein Gegenüber zur Kirche bleiben, was nicht möglich ist, wenn die A u torität der Kirche die Autorität der Schrift erst legitimiert. Solche Freiheit der Schrift der Kirche gegenüber halten die bekannten protestantischen Formeln „sola scriptura, solo verbo, sola fide, solus Christus" fest 9 9 . Diese Argumentation kann noch verschärft werden durch den Hinweis, daß auch die katholische Kirche — vor allem in ihren lehramtlichen Äußerungen — de facto nach einer Mitte der Schrift sucht und sie konträr zum Protestantismus im Frühkatholizismus des Neuen Testamentes findet: „Der Frühkatholizismus ist also für den römischen Katholizismus die geheime oder offene, bewußte oder unbewußte Mitte der Schrift! Deshalb hat der Frühkatholizismus des Neuen Testaments alle anderen Theologien im Neuen Testament kritisch gewertet und sie faktisch verworfen, er aber ließ sich von niemandem richten" 1 0 0 . Protestantisch ist dagegen, auf dem paulinischen Evangelium von der Rettung des Gottlosen und nicht auf der frühkatholischen Rechtfertigung des Frommen zu insistieren. Denn dieses Evangelium ist allein „sachkritisch die Mitte der Schrift, der Kanon im Kanon" 1 0 1 . Das bedeutet

96

E. Käsemann, a . a . O . , S. 376.

97

ebd.

98

ebd.

99

a . a . O . , S. 377.

100

S. Schulz, a . a . O . , S. 428.

101

a. a. O . , S. 429. Immerhin beginnen katholische Exegeten und Dogmengeschichtler von einem „Kanon im Kanon" zu sprechen und sehen das Johannesevangelium, speziell seine Sohneschristologie, als maßgebende N o r m für die Auslegung des N T und f ü r jede Christologie an. Vgl. I. Frank, Der Sinn der Kanonbildung, 1971, und

95

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

aber nicht weniger, als daß der tiefe Riß zwischen den beiden großen westlichen Konfessionen nach wie vor der Dissens in der Rechtfertigungslehre ist, was sich an der kontroversen Bestimmung der Mitte der Schrift bloß äußerlich zeigt 1 0 2 . Tatsächlich sind Argumente konservativer katholischer Theologen gegen diese zugespitzte protestantische Position nicht überzeugend. V o r allem der Vorwurf, die Kirche verschaffe sich selbst unfehlbare Sicherheit, indem sie sich zum Legitimator der Schrift erhebt und damit sich des kritischen Gegenübers der Schrift zur Kirche entledige, kann nicht entkräftet werden, wie das Beispiel M . Schmaus zeigen kann. Zwar weist Schmaus den Vorwurf zurück, in der dogmatischen Festlegung der Unfehlbarkeit der Kirche bezüglich ihrer Schriftauslegung befriedige die Christenheit

ein

menschliches Sicherheitsbedürfnis 1 0 3 , aber dann muß er, so als o b nichts geschehen sei, postulieren, daß die Kirche die Schrift zuverlässig interpretiere: „Ihre (der Kirche) Unfehlbarkeit gibt uns die Gewähr (sie!), daß dem Text keine Gewalt angetan, sondern seine Wahrheit zur Geltung gebracht w i r d " 1 0 4 . Dabei gerät die von Käsemann und Schulz pointiert vorgetragene Position in allergrößte Schwierigkeiten, wenn sie befragt wird, wieso denn das paulinische Evangelium den anderen „Evangelien" vorzuziehen sei. Historische Gründe sind ja nicht ausschlaggebend, sondern sachliche. Aber es fehlt jede Begründung, weshalb das paulinische Verständnis des Evangeliums allein das richtige sein muß. Nach Käsemann und Schulz kann diese Begründung auch gar nicht gegeben werden, weil darüber nur der vom Geist überführte Glaubende entscheidet 1 0 5 . D e r Glaube aber ist das Werk des Heiligen Geistes und so auch die Erkenntnis des Evangeliums. „Genauso ist alle in diesem Sinn F . M u ß n e r , Ursprünge und Entfaltung der neutestamentlichen Sohneschristologie, in: Grundfragen der Theologie heute, 1975, S. 112. 102

O b dies tatsächlich so ist, ist ebenfalls kontrovers. H . G . Pöhlmann, Rechtfertigung,

1971,

meint,

die Lehre von der Rechtfertigung

sei im

Grunde'kein

kontrovers-theologisches Problem mehr, da sich viele katholische Theologen dem reformatorischen Prinzip des „sola f i d e " so genähert hätten, daß eine Einigkeit faktisch erzielt sei, wenn sich auch die protestantischen Mißverständnisse des sola fide als Befreiung von Ethik überhaupt abstellen ließen. V o r allem ökumenisch orientierte Theologen vertreten auch diese These, sie werden von

Pöhlmann

genannt, vgl. H . G . Pöhlmann, A b r i ß der D o g m a t i k , 1973, S. 202 ff. 103

M . Schmaus, D e r Glaube der Kirche, B d I , 1969, S. 174.

104

ders., a . a . O . , S. 175.

105 Yg|

g

Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit

Kirche? E V B , I, a . a . O . , S. 2 2 3 .

der

96

Die Kennzeichen der Kirche und das Neue Testament

sachgemäße und sachkritische Auslegung des N e u e n Testaments nichts anderes als das Sich-Einlassen des Exegeten auf den Vollzug der Schrift, in dem der Ausleger selbst durch den Geist des Evangeliums überwunden w i r d " 1 0 6 . Dies aber ist die N a c h t , in der dann alle Katzen grau sind. D e n n die B e r u f u n g auf den Geist ist eben, wie schon der 2. Petrusbrief hinreichend zeigt (2. P e t r 1, 2 0 f . ) , kein Unterscheidungskriterium mehr, wenn sich die K o n t r a h e n t e n beide auf den Geist berufen, noch dazu beide auf den G e i s t , der v o m Vater und dem S o h n ausgeht, also bezüglich des „ f i l i o q u e " und anderer dogmatischer Definitionen kein Unterschied besteht. D i e katholische Christenheit beruft sich für ihre Auffassung ebenfalls ausdrücklich auf den Heiligen G e i s t , insofern die Unfehlbarkeit als Charisma bezeichnet wird, das es ermöglicht, das W o r t G o t t e s im vom Heiligen Geist intendierten Sinn zu verstehen. D a her ist die Unfehlbarkeit die „ G a r a n t i e " 1 0 7 der Möglichkeit, das W o r t G o t t e s in jeder Generation in seinem ursprünglichen Sinn zu hören. U n d zudem kann die protestantische Position in der W e i s e , wie sie von Schulz und Käsemann vorgetragen wird, überhaupt nicht m e h r begründen, weshalb sie eigentlich an der Gestalt des Kanons noch festhält. W e s h a l b sind die anderen Schriften des N e u e n Testaments überhaupt n o c h wichtig, wenn sie sowieso vom paulinischen Evangelium her zu interpretieren sind, also prinzipiell und radikal zu kritisieren sind? G e w i ß , die Evangelien sind w o h l wichtig, weil sie die B o t s c h a f t des historischen Jesus enthalten, aber schon die Redaktion der Evangelien ist vom paulinischen Evangelium her radikal zu beanstanden, weil schon bei M a r k u s der Frühkatholizismus virulent e i n s e t z t 1 0 8 . U n d die andere Briefliteratur ist dann nur noch quasi historisch-pädagogisch wichtig als D o k u m e n t a t i o n der schon in frühester Zeit einsetzenden Verfälschung des Evangeliums und W a r n u n g davor, es den frühkatholischen C h r i sten gleichzutun. E s überzeugt nicht, wenn am K a n o n deshalb festgehalten wird — bei aller grundsätzlichen O f f e n h e i t —, weil das Evangelium nicht länger Evangelium bliebe, „ w e n n es radikal von seinen judenchristlich-nomistischen, gnostisch-enthusiastischen und frühkatholischen Verfremdungen geschieden wird. D e n n nur auf dem H i n t e r g r u n d seiner Mißverständnisse, V e r fremdungen und Verfälschungen bleibt das Evangelium die vera vox evangel i i " 1 0 9 ! A b e r für Verfälschungen des Evangeliums gibt es doch mit Sicherheit

106 107 108 109

S. Schulz, a . a . O . , S. 430. M. Schmaus, a . a . O . , S. 176. Vgl. S. Schulz, a . a . O . , S. 199ff. ders., a . a . O . , S. 431.

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

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schlagende Beispiele aus der jüngeren und jüngsten Kirchengeschichte und Theologie und Dogmengeschichte, für deren Formulierung und Darstellung es nicht diesen gewaltigen historisch-kritischen wissenschaftlichen Apparat braucht, um die Verfälschung überhaupt zu erkennen. Wenn das Evangelium seine Perversion als Folie für sein Verständnis braucht, was ja wohl nur erkenntnistheoretisch und praktisch, nicht aber grundsätzlich stimmen kann, ist ja nicht einzusehen, weshalb ausgerechnet jene alten Verfälschungen die Folie bilden sollen, die ja, wie die Praxis der Gemeinde zeigt, als Fälschungen gar nicht wahrgenommen werden. Es sei denn, man postuliere, die im Neuen Testament begegnenden Verfälschungen bezeichneten idealtypisch die Palette der möglichen Verfälschungen des Evangeliums überhaupt, so daß alle nur denkbaren Perversionen als judenchristlich-nomistisch, gnostisch-enthusiastisch oder frühkatholisch einzuordnen seien und es darüberhinaus keine anderen gäbe. Dann überlieferte das N e u e Testament mit dem Evangelium auch alle nur denkbaren Perversionen, sozusagen als Warnung des Heiligen Geistes vor Nachahmung. Dabei fehlen aber die schrecklichen Perversionen des Evangeliums : die Ermordung und Folterung Andersgläubiger, die Kreuzzüge, die Inquisition, Religionskriege, Identifikation von Christentum und bürgerlicher Moral und deren grausamer Borniertheit, die Sexualfeindlichkeit ebenso wie die christlich sanktionierte Ehe von Kirche und kapitalistischem Staat. Die von Schulz aufgeführten Perversionen sind nur noch für den Historiker als Folie zum Verständnis zugänglich und damit für den Christen ohne altphilologische Vorbildung stumm, wie sie auch für die kirchliche Verkündigung nur noch e negativo reden. Wieso muß eigentlich über frühkatholische Texte gepredigt werden, wie Schulz so selbstverständlich annimmt? Denn es muß ja immer gegen den Text gepredigt werden, und dessen Verkündigungsanspruch muß zurückgewiesen werden 1 1 0 . Ist Markion dann nicht doch ehrlicher gewesen, wenn er Kanon und Evangelium offen identifizierte und sich die Folien für Verständnisse des Evangeliums in zeitgenössischen Mißverständnissen suchte? Denn faktisch identifiziert Schulz das Evangelium durchaus mit dem „ K a n o n " als der Mitte der Schrift, der dann freilich Kanon im Kanon ist und gegen seine Perversionen und Verfremdungen ausgespielt werden muß. Statt sich in müßige Spekulationen darüber zu verlieren, was wohl aus der Kirche geworden wäre, wenn die Mehrzahl der Schriften des Neuen Testaments frühprotestantische gewesen wären und es eine direkte Kontinuität von 110 Vgl. ders., a.a.O., S. 432.

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Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

einer frühprotestantischen Kirche bis heute gäbe 1 1 1 , muß die Funktion des Frühkatholizismus neu bedacht werden. Denn das seltsame Phänomen muß ja reflektiert werden, daß es offenbar trotz des herrschenden Frühkatholizismus und des frühkatholisch ausgelegten paulinischen Evangeliums immer in der Geschichte der Kirche auch das wirkliche Evangelium wohl gegeben haben wird, nicht zuletzt deshalb, weil eben dieser Frühkatholizismus die paulinischen Briefe bewahrt hat. So ist der Frühkatholizismus nicht nur durch das wirksam geworden, was er wirklich gewesen ist oder in Gestalt mancher Richtungen der römisch-katholischen Kirche immer noch ist, sondern auch durch das, was er bewahrt hat 1 1 2 . Wenn man schon spekulieren will, ist zu fragen, was aus der Kirche geworden wäre, wenn der Frühkatholizismus in der Auseinandersetzung mit der Gnosis unterlegen wäre. Denn gnostisch wird Tradition nur als geheime Offenbarung wichtig, wenn nicht der Enthusiasmus jeden Traditionsgedanken überhaupt wegfegt. Dagegen verdanken wir dem Frühkatholizismus durch seine Hinwendung zur apostolischen Tradition die Bewahrung auch der Paulusbriefe und dadurch nichts weniger als die Möglichkeit der protestantischen Reformation. Das muß allerdings nicht heißen, daß der Frühkatholizismus die einzig mögliche Form war, in der das Christentum überleben konnte, selbst wenn es faktisch so gewesen ist. U n d es muß nicht heißen, daß der Frühkatholizismus seiner Intention, nämlich dem Apostolischen treu zu bleiben, gerecht geworden ist. Diese Frage kann man ruhig verneinen, wenn man sich vor Augen hält, daß auch die Aussage, die paulinischen Briefe seien oder enthielten das wahre Evangelium, gerade die reformatorische Einsicht von der viva vox evangelii wieder preisgibt, indem man sie retten will. Evangelium werden auch die paulinischen Briefe erst, wenn sie als lebendige Predigt, das heißt verändert und neu geworden sind. Die Aussage des Römerbriefes, daß nur der Glaube gerecht mache und nicht die Erfüllung des Gesetzes, ist noch kein Evangelium, sondern ein theologischer Satz — Evangelium wird erst dann daraus, wenn der theologische Satz auf jetzt lebende Menschen und ihre historische Situation appliziert wird. U n d damit steht jede kirchliche Verkündigung wie erbauliche Bibellese vor dem Risiko, das falsche Evangelium zu verkündigen oder zu hören, und muß sich in die Reihe der Sünder stellen und wird sich so dem Frühkatholizismus auf anderer Ebene gleichgestellt finden. Die List der Vernunft, von

111

Vgl. ders., a . a . O . , S. 431.

112

Darauf hat U . L u z eindringlich aufmerksam gemacht, Erwägungen zur Entstehung des „Frühkatholizismus". Eine Skizze, Z N W , 65, 1974, 8 8 - 1 1 1 , bes. 109.

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

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der Hegel sagt, „daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt" 1 1 3 , ist durchaus ein Interpretament für Gottes Handeln sub contrario, und diese Einsicht kann der notwendigen Auseinandersetzung ihre exklusive Borniertheit nehmen und den Blick öffnen für eine neue Sicht des Problems. Das Problem wird nämlich kompliziert, weil offenbar in der paulinischen Theologie die beiden nachpaulinischen Entwicklungen selber schon angelegt waren. Deshalb konnte sich die Paulusschule sowohl in Richtung auf ein gnostisierendes wie auf ein frühkatholisches Christentum hin entwickeln 1 1 4 . Nur in Gestalt dieser beiden Fortentwicklungen und, wie wir sagen müssen, Fehlentwicklungen konnte offenbar das originäre paulinische Christentum überleben. Jedenfalls wissen wir nichts darüber, wo sich das ursprüngliche paulinische Christentum in reiner Form bewahrt hätte oder w o es eine ihm angemessene Weiterentwicklung durchgemacht hätte. Die Unterscheidungskriterien, die Paulus selbst seinen Gemeinden zur Abwehr von Irrlehre und Verfälschung des Evangeliums mitgegeben hatte, waren nicht zur Lösung der nach Paulus auftretenden Probleme in der Lage. Deshalb sind die paulinischen Gemeinden auch bald nach dem Tod des Apostels — jedenfalls theologisch — nicht mehr vorhanden und sind bis heute selbst im Protestantismus nicht mehr erstanden 1 1 5 . Das heißt aber, daß man selbst dort, w o man sich der Wiederentdeckung und der Bewahrung des reinen Evangeliums rühmt, die ekklesiologische Konsequenz der paulinischen Rechtfertigungslehre als der doktrinären Erfassung des Evangeliums katexochen auch dort nicht mehr zu ziehen vermochte. Vielleicht ist dies doch darin begründet, daß der Ort der paulinischen Charismenlehre, „das . . . Verständnis des Geistes als Kraft und Norm des neuen Lebens" 1 1 6 , nun in neuer historischer Situation eine andere Gestalt der Lebensäußerung suchen mußte, um sie selber bleiben zu können. Der gerechtfertigte Glaube muß in veränderter Situation eine neue doktrinäre wie existentielle Gestaltung finden, um seine Identität zu bewahren, und dieser Prozeß unterliegt — wie Paulus selber — den „Zweideutigkeiten des Lebens" (Tillich), ist also in Idee wie Gestaltung immer mißverständlich.

113

Die Vernunft in der Geschichte, Philos. Bibliothek 1 7 1 a , S. 105.

114

Vgl. U . Luz, a . a . O . , S. 9 9 f f .

115

Vgl. E. Käsemann, A m t und Gemeinde im Neuen Testament, EVB I, a . a . O . , S.

116

U . Brockhaus, Charisma und Amt, 1972, S. 239.

133 f.

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Die Kennzeichen der Kirche und das N e u e Testament

So ist der Frühkatholizismus sicher eine Fehlentwicklung der paulinischen Theologie gewesen, und auf seiner negativen Folie fällt es dem Theologen wie dem Historiker leichter, die paulinische Theologie zu beschreiben. Aber wäre es nicht Hybris zu behaupten, die paulinische Theologie und die aus ihrem Zentrum fließende Charismenlehre seien den „Zweideutigkeiten des Lebens" nicht unterworfen gewesen? Ist der Gedanke nicht auch protestantisch mindestens denkbar, daß auch die paulinische Theologie eine negative Folie für das zentrale Christusgeschehen sein könnte? Und ist eine dogmatisch geformte Rechtfertigungslehre, mag sie noch so gut paulinisch sein, nicht dann eine Verfremdung, wenn sie sich nur noch theoretisch zu äußern vermag? Daher wollen wir den Frühkatholizismus als Etappe auf dem Weg des Christentums verstehen, der es gelungen ist, meist sogar durch Mißverstehen, die Botschaft vom Heil in und durch Gottes Handeln in Jesus von Nazareth so zu bewahren, daß wir auch heute noch davon und damit leben können. Eine frühkatholische Lehre über den Glauben oder über Jesus oder ethische Anweisungen müssen zwar mit größtem Mißtrauen untersucht werden, unterliegen aber noch keinem prinzipiellen Verdikt, nur weil sie eben „frühkatholisch" sind. Denn sie enthalten, eben oft nur via negationis oder besser dialektisch, dasjenige Gut, das relativ am treuesten das Entscheidende christlicher Theologie ausmacht: Im Wirken und Kommen Jesu ereignet sich die Gottesherrschaft, die dem Glaubenden neues Leben bringt, weil Gottes Gerechtigkeit ihm als Sünder zugesprochen wird. Zur Bewahrung dieses innersten Kerns hat der Frühkatholizismus apostolische Evangelien hervorgebracht und die Paulusbriefe bewahrt, selbst wenn er im Traditionsvorgang und in eigener theologischer Produktion diese Mitte begrifflich verfehlte. Es gilt daher, in den Frühkatholizismus hineinzufragen, und dies ist dann allerdings unter gänzlich anderen Voraussetzungen das Recht des von Käsemann so betonten hermeneutischen Prinzips. Auf unsere Fragestellung bezogen bedeutet dies: uns ist der Weg verschlossen, eine Entwicklung als Fehlentwicklung zu bezeichnen, nur weil sie über das im Neuen Testament Gesagte hinausgeht. Noch schärfer: nur weil sich im Neuen Testament selber schon eine Entwicklung zu offensichtlichen Fehlentwicklungen nachzeichnen läßt, sind diese Fehlentwicklungen nicht einfach nur negative Folien zum Verständnis des Richtigen. Wir haben gesehen, daß sowohl Paulus wie frühkatholische Schriften sachlich von der Kirche sehr ähnliche Aussagen machten, obwohl ihre Christologie wie Soteriologie und Ekklesiologie bisweilen völlig unvergleichbar gestaltet worden

Die Ekklesiologie der Spruchquelle Q

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sind. Übereinstimmend kennen die wichtigsten Schriften des Neuen Testaments die Kirche und ihre von späterer Tradition geformten notae nicht als Inhalt ihrer „kerygmatischen Formeln", obwohl sie sie sachlich kennen. Es ist nicht möglich, die Begründung für den Glauben an die Kirche und ihre Kennzeichen aus dem Neuen Testament direkt zu entnehmen. Es ist aber auch nicht möglich, die Aufnahme der Kirche in die Bekenntnisse als Fehlentwicklung zu brandmarken, mit der Begründung, davon stehe nichts im Neuen Testament. Damit können wir im Abschluß unserer neutestamentlichen Untersuchungen sagen, daß sich uns im Neuen Testament der Glaube — auch in seinen ekklesiologischen Formulierungen — als ein Prozeß darstellt, der in jeweils neuer historischer Situation sich und seine Inhalte und Verhaltensweisen neu gestalten muß, um er selber zu bleiben. Das Beispiel des Frühkatholizismus zeigte uns, daß der Glaube dies faktisch auch dann getan hat, wenn er tendenziell nichts Neues, sondern die genuine apostolische Tradition und nur diese weitergeben wollte. In den dabei auftretenden Fehlentwicklungen bewahrte er sich, ob bewußt oder unbewußt ist gleichgültig, neben dem Irrtum auch die genuine Wahrheit. Der Irrtum des Frühkatholizismus ist, daß er exklusiv die Wahrheit des Christentums an die unfehlbare apostolische Kirche und das Amt als Garant für die Gegenwart des Geistes band. Die Wahrheit des Frühkatholizismus aber ist, daß er in der gegebenen historischen Situation die wohl einzige Möglichkeit gewesen ist, das paulinische Evangelium von der Rechtfertigung des gottlosen Sünders nicht untergehen zu lassen — auch wenn aktuell daraus die Rechtfertigung des Frommen geworden sein sollte, was man historisch mit guten Gründen bestreiten kann. Somit können wir die Beobachtungen, die wir am Konzil von 381 und an Kant machen konnten, durch das N e u e Testament erweitern. Hier zeigt sich der Glaube als derjenige Prozeß, aus dem die Inhalte in jeweils neuer historischer Situation begründet werden. Aber nun hat das N e u e Testament die notae der Kirche zwar sachlich weitgehend gekannt, hat sie aber nicht in seine knappen kerygmatischen Formeln übernommen. Insofern unterscheidet sich das N e u e Testament von der gegenwärtigen Situation des christlichen Glaubens, die die notae als traditionell vorgegebenen Glaubensinhalt kennt und sich fragt, wie denn systematisch-theologisch die Kennzeichen der Kirche begründet werden können. Deshalb wollen wir uns nun der Reformation zuwenden. Hier finden wir bei allem historischen Abstand doch die analoge Situation vor, daß die Attribute der Kirche bereits durch die altkirchlichen Zusammenfassungen des Glaubens vorgegeben sind und im polemischen Streit zwischen den sich festigenden Konfessionen umstritten sind in ihrer dogmatischen Dignität. 8

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

IV. D I E E V A N G E L I S C H E

„TRADITION"

Nach den Theologien des Neuen Testamentes soll nun der Strang christlichen Denkens beachtet werden, der sich unter Berufung auf die Schrift von der mächtigen westlichen Objektivation des christlichen Glaubens in dem Bewußtsein trennte, den wahren Glauben theologisch wiederentdeckt zu haben. Das Evangelium wird bezüglich der Gerechtigkeit des Menschen vom Gesetz unterschieden und damit der Grundstein für ein Glaubensverständnis gelegt, das ein paulinisches zentrales Anliegen radikalisiert: der Glaube allein macht gerecht 1 . Die Werke sollen aus dem Rechtfertigungsgeschehen herausgenommen werden, obwohl es im Glaubensvollzug ganz „unmöglich ist Werk vom Glauben scheiden, also unmöglich, als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden w e r d e n " 2 . Dieses Glaubensverständnis und die sich daraus ergebenden Theologien bedeuteten den Bruch mit dem damaligen römischkatholischen Glaubens Verständnis. Weil kein Platz für das erwachende evangelische Kirchenverständnis in der Sancta catholica romana blieb, gaben die Reformatoren zögernd dem evangelischen Glauben gelebte Gestalt. Es entstanden die evangelischen Kirchentümer. In dieser Theologie und diesen Kirchen findet die aus geschichtlicher Entwicklung hervorgegangene neuzeitliche Subjektivität einen neuen Rahmen in neuen Konfessionen. Sie sagte sich von jeder anderen unbezweifelbaren Autorität als dem W o r t Gottes los. Daher konnte sie in einer Kirche keinen Raum mehr finden, die die Autorität dieses Wortes an die Interpretation durch eine andere Autorität, die römische Cathedra, binden wollte. Die damaligen Verhältnisse in der mit solcher Autorität ausgestatteten Spitze der Kirche boten wenig Anlaß, ihren Anspruch nicht als Anmaßung zu verstehen.

1 2

Vgl. Luther, W A 39 I, 44. W A D B 7 , 1 1 ; M A 6 , 9 0 . Vgl. auch Calvin: „ W i r gestehen wohl mit Paulus zu, daß kein anderer Glaube rechtfertige, als jener durch Liebe wirksame. Aber von jener Wirksamkeit der Liebe nimmt er die Kraft zu rechtfertigen nicht. Vielmehr rechtfertigt er in keiner anderen Hinsicht, außer weil er uns in das Teilhaben an der Gerechtigkeit Christi einführt", Inst. III, 1 1 , 2 0 ; OS IV, S. 204.

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

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Dagegen revoltierte das neuzeitliche Subjekt, das in der lebendigen Anwendung des Heilszuspruchs aus der äußeren Gestalt des Wortes Gottes auf sich selbst und der durch die viva vox evangelii vermittelten Beziehung zu Christus die einzige notwendige Bedingung des durch Christus erworbenen Heils sah. Weil der allein rechtfertigende Glaube eingebunden ist in Beziehungen auf das Wort Gottes und zum Handeln Gottes 3 , ist aber die glaubende Subjektivität nicht ohne Objektivitäten und also ohne Vermittlungen des Glaubens. Auch wenn mit der Reformation das glaubende Ich hervortritt, so wird durch ihren Glaubensbegriff die Ekklesiologie erst zu einem eigenen dogmatischen locus. Weder Thomas noch Petrus Lombardus kennen einen locus „ D e Ecclesia". Wenn wir also fragen wollen, wie innerhalb des evangelischen Grundverständnisses von christlichem Glauben sinnvoll über die Kennzeichen der Kirche nachgedacht werden kann, dann ist es wichtig zu sehen, was in der Ursprungszeit dieses inzwischen weit gefächerten Rahmens von der Kirche und ihren Kennzeichen gedacht worden ist. Wenn, gemäß unserer Hypothese, der Glaube auf jeweils neuer historischer Stufe seine Inhalte selbst begründet, müßte sich dies an jener so hervorragenden Zeitstelle des evangelisch geformten Glaubensverständnisses auch zeigen. N u n ist ein Unterschied zwischen der Reformation und dem Neuen Testament bemerkenswert: Die Reformation steht nicht nur in einer steten, normativ verstandenen Beziehung zur Schrift, sondern sie steht in dogmaticis auf dem Boden zusammenfassender Glaubensbekenntnisse, in denen die Kirche als Glaubensinhalt genannt wird. Solche Formeln kennt das Neue Testament noch nicht, obwohl es, wie wir gesehen haben, in sich den Trend zu normativen Versprachlichungen des Glaubens enthält und im Epheserbrief die Kirche in auffällige N ä h e zu Credoformulierungen gerückt worden ist. Deshalb wird es für die Verifikation unserer Hypothese von großem Interesse sein, wie die Reformation auf ihrer historisch neuen Stufe mit den sie konstituierenden Glaubenstraditionen umgeht. Die Schrift selbst kommt als direkte unvermittelte Prüfungsinstanz nicht in Frage — sie kennt zwar die Sache, nicht aber die Formel des späteren Symbols. Aber die Adjektive der von der Reformation ohne Einschränkung übernommenen Glaubensformeln von 381 werden in der römisch-katholischen 3

Vgl. dazu O . H . Pesch, Die Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin, Walberberger Studien 4, 1967, S. 198 ff.

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Die evangelische „ T r a d i t i o n "

Umgebung als Kennzeichen der Kirche verstanden. Zwar ist die Zahl der Kennzeichen noch nicht exklusiv auf die vier Attribute beschränkt, doch sind sie dominierend 4 . Die Reformation hätte sie einfach auch übernehmen können, was sie, wie bekannt, nicht getan hat. Wir wollen deshalb an herausragenden Theologen und Bekenntnissen darlegen, wie in der Reformationszeit im evangelischen Raum bezüglich der Kennzeichen der Kirche gedacht worden ist. Dabei kann es im Rahmen dieser Studie nicht darum gehen, die Glaubensverständnisse der Autoren und der Bekenntnisschriften im einzelnen darzulegen. Das dafür Nötige ist in die Einzeldarstellungen eingearbeitet worden; im übrigen müssen wir auf die einschlägige Literatur verweisen. Aber man wird an den Darstellungen bemerken, wie die Verschiebungen innerhalb des reformatorischen Glaubensrahmens (fides, non opus iustificat) die Lehre von den Kennzeichen der Kirche, ihre theologische Begründung und den Kirchenbegriff selbst verändert haben. N u r auf weniges wollen wir speziell hinweisen. Die Augsburgische K o n fession akzentuiert in ihrem Glaubensverständnis die Rechtfertigung und bindet daran die Kennzeichen der Kirche. Sie verbindet die klassischen Attribute mit der Rechtfertigung als Ereignis. Deshalb kann sie neue notae bilden und sie in irenischer Absicht als für die wahre Kirche ausreichend definieren. Luther kann vom Glauben als dem unbedingten Vertrauen auf den gnädigen G o t t in einer Radikalität predigen, die manchen ( z . B . P . Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, 1966) dazu verleitet, über die Anfechtung als Grundbestimmung des gelebten Glaubens bei Luther einfach hinwegzusehen: „So jemand daran zweifelt und nicht fest dafür hält, er habe einen gnädigen Gott, der hat ihn auch nicht. Wie er glaubt, so hat er. Darum so mag niemand wissen, daß er in Gnaden sei und G o t t ihm günstig sei, denn durch den Glauben. Glaubt er es, so ist er selig; glaubt er es nicht, so ist er verd a m m t " 5 . Daraus folgt für das glaubende Subjekt die feste Gewißheit, als Christ ein Heiliger zu sein: „Sollen wir aber den Glauben recht bekennen: Eine heilige Kirche usw., so müssen wir nicht zweifeln, daß wir heilig seien, wie du nicht zweifeln darfst, daß du getauft seiest und Christi Blut für dich vergossen sei. Glaubst du das, so mußt du auch dich für heilig b e k e n n e n " 6 . Der rechte Glaube als die um Christi willen fröhliche Heilsgewißheit macht die Heiligkeit aller und des einzelnen zum ekklesiologischen Thema. 4

Vgl. G . Thils, a . a . O .

5

W A 2,249,5; M A 6,252.

6

W A 45,618,4.

Die evangelische „Tradition"

105

Daher verbindet Luther im „schönen Confitemi . . .", nachdem er die sündigen Päpste und Bischöfe nicht vom Leib Christi trennt, sondern sie wie Krankheiten und Seuchen dazurechnet, des einzelnen Christen Heiligkeit mit derjenigen der Kirche: „Ich hoffe aber, es wisse nun fast jedermann, daß, wer sich einen Christen will rühmen, daß derselbige auch soll sich für einen Heiligen und Gerechten rühmen. Denn ein Christ muß gerecht und heilig sein oder ist nicht ein Christ, sintemal die Christenheit heilig ist. Und die ganze Schrift die Christen heilig und gerecht nennt . . . daß solches keine Hoffart ist, sondern ein nötiges Bekenntnis und ein Artikel des Glaubens" 7 . Der Glaube, der allein rechtfertigt, bekommt die Heiligkeit der Kirche und des einzelnen als Gabe und Aufgabe in den Blick. Die Täufer nehmen ebenfalls die Heiligkeit, die mit der Wiederentdeckung des rechtfertigenden Glaubens neu problematisiert worden ist, unter ekklesiologischem Aspekt auf. Ihnen fehlt an Luthers Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie die Radikalität, mit der der Gerechtfertigte nun seines Glaubens gemäß leben sollte. Nach täuferischer Ansicht muß ein Leben aus der Rechtfertigung von der „ W e l t " absondern, die ja nicht gerechtfertigt ist. Der Glaube führt aus der Welt hinaus statt wie bei Luther in die Welt hinein. Zum Christsein und zum Glauben gehört die „Absonderung" als ihr Charakteristikum hinzu. Gott schenkt den Glauben und ruft sich seine Gemeinde aus der sündigen Welt heraus und heilt so in Anwendung des Verdienstes Christi den Riß, der sich infolge der Sünde durch die Welt zieht. Wer glaubt, ist nicht mehr „ W e l t " . So wird vom täuferischen Glaubensverständnis her die sittliche Heiligkeit ganz ins Zentrum der ekklesiologischen Gedanken treten. Auch für Calvin ist die Rechtfertigung sola fide „der Hauptartikel des christlichen Glaubens" 8 , auch wenn er Wiedergeburt, Buße und das Leben des Christen in der Institutio dem Abschnitt von der Rechtfertigung voranstellt. In der Glaubensstruktur schiebt sich aber die „cognitio" vor die „fiducia" 9 , und die Erörterungen des rechtfertigenden Glaubens stehen unter dem Leitgedanken einer verborgenen Wirkung des Geistes. Damit wird nicht nur das Problem der Sichtbarkeit des Glaubens verstärkt zum dogmatischen Problem, sondern die Erkenntnis von Gottes Erwählung wird zum theologischen Schlüsselmotiv des Glaubensverständnisses. Sie soll dem von der Erkenntnis des verborgenen Heilswillens Gottes bestimmten Glauben die radi7 8 9

W A 31, 1,166; M A 6,171. Vgl. Inst. 111,11,1. Vgl. Inst. 111,2,14; OS IV, S. 24f..

106

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

kal vertrauende Heilsgewißheit gewähren. Dies hat für die Ekklesiologie und speziell für die notae zur Folge, daß Calvin wegen dieses Glaubensverständnisses sehr viel strenger zwischen einer unsichtbaren und einer sichtbaren Kirche unterscheiden muß und daß die Prädestinationslehre eine zentrale Funktion für die Ekklesiologie bekommt. Es stellt sich die Frage, wie denn die Kirche als coetus electorum überhaupt erkannt werden kann, wenn Gott allein seine Auserwählten kennt. Diese Verschiebungen des Glaubensbegriffes werden von den Bekenntnisschriften auf je eigene Weise verarbeitet, und wir wollen an den Bekenntnisschriften vor allem die ekklesiologischen Auswirkungen beachten, die je nach historischer Frontstellung verschieden sein werden. Wir wollen also sehen, was in der Reformation von gewichtigen Vertretern ekklesiologisch gedacht worden ist und dann in einem Zwischenergebnis das historische Material für unsere Fragestellung auswerten.

1. D I E C O N F E S S I O A U G U S T A N A

(CA)

Bezeichnenderweise ordnet die C A das kirchliche Amt dem Artikel über die Rechtfertigung zu und reflektiert erst über das Wesen der Kirche, nachdem im Artikel VI vom neuen Gehorsam als der Folge des Glaubens gehandelt worden ist. Zunächst führt C A VII aus, „daß alle Zeit müsse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen (congregatio sanctorum), bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden" 1 . Die refomatorischen Kirchen verstehen sich nicht als „ n e u e " Kirchen, sondern als wahre Kirche, weil sie die Bedingungen für die eine wahre Kirche erfüllen. Diese Kirche ist als Versammlung sichtbar, ihr Ort ist in der Welt und nur in dieser Welt. Sie wird zwar bis zum Ende der Tage bestehen, aber mit der Welt vergehen. Im Eschaton gibt es keine Kirche mehr 2 .

1

B S L K , S. 61.

2

Die Auffassung von der Dauer der Kirche durch alle Zeiten bis zum Ende der Welt findet sich schon in Luthers Bekenntnis von 1528, W A 26, 506, 30—40 und ist aufgrund von Mt 16, 18; Mt 28,20 christliches Gemeingut. Allerdings ist dort der räumliche Aspekt noch stärker hervorgehoben. Auf den zeitlichen Aspekt legen die Schwabacher Artikel besonderen Wert, vgl. B S L K , S. 61. Die Kirche ist nach den Schwab. Art. grundsätzlich Kirche unter dem Kreuz, weil der Christ wegen seines

107

D i e Confessio Augustana ( C A )

Mit der Betonung der zeitlichen Universalität der Kirche nimmt die CA ganz selbstverständlich zwei notae der altkirchlichen Symbole auf, die in der deutschen Fassung noch um das Adjektiv „christlich" erweitert werden. Jedoch definieren diese Worte die Kirche nicht mehr, noch geben sie an, was in ihr geschieht. Sie sind anscheinend rein attributiv gebraucht und füllen sich erst durch die Seinsaussagen, die bezeichnenderweise immer als Funktionsbegriffe aufgereiht werden: Versammlung aller Gläubigen, reine Predigt des Evangeliums und Darreichung der heiligen Sakramente „lauts des Evangelii". Dabei nimmt die lateinische Fassung der CA eine Umdeutung des traditionellen Begriffs „communio sanctorum" vor, insofern sie die Formulierung des Apostolicums mit „congregatio sanctorum" wiedergibt. Überdies lautet die Übersetzung „Versammlung aller Gläubigen". Obwohl communio eigentlich „Gemeinschaft mit", „Anteil an" bedeutet und congregatio mit „Gemeinde" zu übersetzen wäre, parallelisiert Melanchthon die beiden Begriffe 3 . Mit der Voranstellung von congregatio in CA VII wird außerdem deutlich, daß die Kirche von der Versammlung, also der Gemeinde, und nicht von der Institution oder der Hierarchie her gedacht wird. Auch die Übersetzung des Genitivs „sanctorum" mit „der Gläubigen" ist ungewöhnlich gegenüber der Tradition. In der Ostkirche, die das Apostolicum ja nicht hat, soll dieser Genitiv die Gemeinschaft am Heiligen, dem Sakrament oder heiligen Gegenständen usw. bezeichnen. Oder mit seiner Hilfe soll die Gemeinschaft der Heiligen als der verstorbenen Menschen, die einen besonderen Platz in der ecclesia triumphans innehaben, im Glaubensbekenntnis hervorgehoben werden. In der CA sind jedoch damit die Gläubigen als die Heiligen gemeint, und der „Ausdruck soll sowohl den Inhalt der Worte communio sanctorum im apostolischen Glaubensbekenntnis als auch der bibliGlaubens Verfolgungen und Marter erleidet. Die Betonung des Leidens, dessen Ursache ja vor allem die römisch-katholische Kirche war, ist in der C A wohl aus diplomatischen

Erwägungen

weggefallen.

Zum

ganzen

W.

Maurer,

Ecclesia

perpetuo mansura im Verständnis Luthers (1966) in: Luther und das evangelische Bekenntnis, Ges. Aufs. Bd. I , 1970, S. 6 2 - 7 5 . Dabei ist für die C A ebenso wie für Luther völlig eindeutig, daß sie sich bei allen Überlegungen zur Kirche auf die Kirche beziehen, von der im altkirchlichen B e kenntnis gesprochen wird. Eine andere Kirche kennen sie nicht. Vgl. W . Eiert, Morphologie des Luthertums B d . I, verbesserter N a c h d r u c k der 1. A u f l . , 1952, S. 2 4 0 - 2 5 5 und E . Kinder, Evangelische Katholizität, in: K u D 6, 1960, S. 6 9 f f . 3

Vgl. H . Fagerberg, Theologie der luth. Bekenntnisschriften von 1 5 2 9 - 1 5 3 7 , 1965, S. 2 6 6 f f . Vgl. a. Apol V I I , 8, B S L K S. 2 3 5 , 2 9 . 3 2 .

108

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

sehen Bilder von der Kirche als dem Leib Christi (Apol. 7, 5), als der Braut Christi (Apol. 7, 10) und als dem wahren Gottesvolk (Apol. 7, 14) wiedergeben" 4 . Die C A nimmt also den Heiligkeitsbegriff weg von den Dingen oder innerhalb der Christengemeinschaft besonders ausgezeichneten Menschenr gruppen und versteht sie individuell-personal. Alle Christen sind heilig. Diese Heiligkeit ist jedoch kein Erkennungsmerkmal der Kirche mehr, denn die Kirche der Heiligen wird daran erkannt, daß in ihr das Evangelium „rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden". So wird die prädikative Aussage funktionalisiert. Der lateinische Text macht das Verständnis dieser Aussagen schwierig. Das „pure docetur" könnte nahelegen, die C A wolle als nota die reine Lehre (pura doctrina) angeben, und die Reinheit der Lehre würde sich dann an der Ubereinstimmung mit dem Bekenntnis erweisen 5 . Jedoch zeigt die deutsche Ubersetzung hinreichend deutlich, daß docetur hier predigen meint, und zwar selbstverständlich nicht den formalen Akt des Predigens, sondern eben des Evangeliums. Was unter der Predigt des Evangeliums zu verstehen ist, haben die Artikel C A IV und CA V bereits klar und deutlich gesagt, und CA VII meint ebenso, es gehe um die Predigt des Evangeliums, wenn die Kirche erkannt werden soll. C A VII meint also den aktualen Vollzug des in CA IV und CA V lehrhaft-abstrakt Gemeinten, weil hier nun gottesdienstliche Vollzüge und ein Geschehen angesprochen sind 6 . Ebenso meint die rechte Sakraments Verwaltung nicht den rituell korrekten Vollzug, sondern die unauflösliche Verbindung von Sakrament und Evangeliumsverkündigung. Die Darreichung der Sakramente 4

H . Fagerberg, a . a . O . , S. 269. Vgl. F . Brunstäd, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, 1951, S. 118, der die Bezeichnung „saneti" für austauschbar mit „ b a p t i z a t i " erklärt. Dies gibt allerdings einige Schwierigkeiten. Denn in einer Kirche, die Kindertaufe als übliche Praxis hat, kann das Getauftsein nicht darüber entscheiden, wer die saneti und wer die mali innerhalb des corpus permixtum sind. Mit Recht könnte sich nach Brunstäds Interpretation ein Getaufter, der kein Christ geworden ist, zur Kirche im strikten Sinn rechnen. Freilich gilt umgekehrt: nur der baptizatus kann sanetus sein. Aber ein Getaufter ist deshalb noch kein Heiliger. Die Heiligkeit ist mit der Taufe wohl in G a n g gesetzt, wie der Glaube, und ist nicht deckungsgleich mit dem Glauben, weil Heiligkeit als D o n u m Gottes auch durch die Anfechtung des Glaubenden zunächst nicht tangiert wird. Der G r u n d dafür ist die Treue Gottes.

5

So. F . Brunstäd, a . a . O . , S. 130f. und H . Fagerberg, a . a . O . , S. 283ff.

6

Vgl. L . Grane, Die Confessio Augustana; 1970, S. 68 f.

Die Confessio Augustana (CA)

109

„lauts des Evangelii" vollzieht sich so, daß die Einsetzungsworte als Z u spruch an die Gläubigen Evangeliumscharakter haben und daher laut und deutlich gesagt werden sollen. Es geht in C A V I I nicht darum, eine G r e n z e zwischen echten und falschen Sakramenten zu ziehen, sondern nur u m die rechte Verwaltung der wirklichen Sakramente 7 . Aus diesem G r u n d hat L . G r a n e die C A mit R e c h t „vorkonfessionalistisch" genannt 8 . Auch von „Stiftungsgemäßheit" ist hier in C A V I I keine R e d e . Diese» G e schehen von Rechtfertigung als Ankündigung oder als Zueignung ist genug zur wahren Einheit der K i r c h e . Darin verwirklicht sie sich, und so ist der Begriff der Einheit eine begriffliche Hülle für das Ereignis der Zusprechung der Gerechtigkeit G o t t e s dem G o t t l o s e n . Diese Aussage hat zweifellos eine polemische Spitze gegen die römisch-katholische Vorstellung, weil sie eben meint, damit sei es genug. Sie hat aber auch eine insgesamt kirchenkritische Spitze, weil sie die Einheit der K i r c h e an das Geschehen von Rechtfertigung und nur daran bindet. W o dies nicht geschieht, ist keine Kirche. D i e C A interpretiert also wenigstens zwei der klassischen notae durch das G e s c h e h e n der Rechtfertigung. Sie interpretiert also das, was ihr aus der kirchlichen Tradition vorgegeben ist, mit dem den R e f o r m a t o r e n an einem bestimmten P u n k t ihrer theologischen Entwicklung zentral gewordenen M o tiv. Einheit und Heiligkeit der K i r c h e beginnen für sie nur zu sprechen, wenn sie als Geschehen von Rechtfertigung in der Versammlung von Christen interpretiert werden. Möglicherweise wollte man die anscheinend seinshaft statischen Begriffe der klassischen notae ersetzen durch dynamische Vorgänge, „Wirkmittel"9. Jedenfalls genügt der C A die uninterpretierte Aufzählung der klassischen notae nicht mehr als Unterscheidungskriterium und E r k e n n u n g s m e r k m a l für wahre und falsche Kirche.

7 8 9

Gegen Fagerberg, a . a . O . , S. 286. L. Grane, a . a . O . , S. 68. E. Kinder, Der Evangelische Glaube und die Kirche, 1958, S. 51 und 104, Anm. 1. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, ob man die klassischen notae als statisch von den reformatorischen als dynamisch scheiden kann. Denn das „Sein" ist in der klassischen Scholastik gerade kein statischer Begriff. Der Zusammenfall von Essenz und Existenz im Gottesbegriff als dem höchsten Sein ist ja auch actus purus. Das Sein ist der Zusammenfall von Ruhe und höchster Bewegung.

110

Die evangelische „ T r a d i t i o n " 2. D I E A P O L O G I E D E R C A

Die Apologie der Konfession hat unseres Erachtens weniger die C A bezüglich ihrer Lehre von der Kirche interpretiert als die theologische Entwicklung weitergetrieben. Sie nennt die Kirche ganz selbstverständlich „sancta et catholica", setzt ihre Einheit stillschweigend voraus und beruft sich sogar auf die Symbole, die uns sagen, daß wir diese Kirche zu glauben haben 1 0 . Diese Kirche ist zu glauben, weil sie „principaliter est societas fidei et Spiritus sancti in cordibus" 1 1 . Dennoch ist die Kirche keine „civitas platonica" 1 2 , sondern eine Congregation, die über den ganzen Erdkreis verbreitet ist und „habet externas notas, ut agnosci possit, videlicet puram evangelii doctrinam et administrationem sacramentorum consentaneam evangelio Christi" 1 3 . O b wohl die Kirche also keine platonische Idee ist, die über der Welt schwebt, unterscheidet die Apologie doch zwischen einer Kirche „large dicta" und einer „stricte dicta". Die notae und die Attribute beziehen sich nur auf die Kirche stricte dicta, und diese wird von den mali und den impii ebensowenig angetastet wie die Verkündigung und die Sakramente von einem unwürdigen Prediger oder Spender in ihrer Wirksamkeit behindert werden können 1 4 .

10

„ q u i iubet nos credere, q u o d sit sancta catholica ecclesia" BSLK, S. 2 3 5 , 2 6 - 2 8 .

11

Apol. VII, 5; BSLK S. 2 3 4 , 2 8 - 3 0 .

12

Apol V I I , 2 0 ; BSLK S. 238, 18f. Vgl. auch Examen o r d i n a n d o r u m 1559, C R 23, 37.

"

A p o l V I I , 5 ; BSLK S. 2 3 4 , 3 0 - 3 4 .

Vgl. a . a . O . ,

S. 2 3 8 , 1 7 f f .

Melanchthon

gebraucht „ n o t a " und „ s i g n a " promiscue. Z . B . : nota: BSLK 234,31 u. 238,222; signa: BSLK 238,15, E x . O r d . , C R 23, 37. Im E x . O r d . ist M e l a n c h t h o n zu d o k t r i nären Formeln gelangt, die in der C A noch fehlen, weil sie stark auf das Geschehen von Evangelium als Rechtfertigung abzielt. D o r t ist der G e h o r s a m gegenüber dem kirchlichen A m t die dritte nota: „Signa non fallica simul haec tria sunt: I. C o n sensus in doctrina Evangelii incorrupta scilicet in f u n d a m e n t o . II. Legitimus usus sacramentorum. III. O b o e d i e n t i a Ministerio debita iuxta Evangelium" C R 2 3 , 3 7 Diese drei notae sind auch notwendig zur Einheit der Kirche C R 23, 38 u. C R 23, LXXV. 14

Apol. VII, 8, BSLK, S. 2 3 5 , 2 8 f . : „Impii vero non sunt sancta ecclesia". A p o l VII, 17f., BSLK S. 237,34—39: „ I t a q u e ecclesia, quae vere est regnum Christi, est proprie congregatio sanctorum. N a m impii reguntur a diabolo et sunt captivi diaboli n o n reguntur spiritu C h r i s t i " , b z w . BSLK 237,41 — 52: „ . . necesse est, impios, cum sint in regno diaboli, n o n esse ecclesiam" Vgl. a. C A VII Var., BSLK S. 62, A n m . 6 v. S. é l .

Luther

111

Es ergibt sich also jenes folgenschwere „protestantische" Problem der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche als qualitative Differenz. Die unsichtbare Kirche (als stricte dicta) kann eben nicht ihrer Prädikate beraubt werden. Damit werden die Prädikate selber den „Zweideutigkeiten des L e b e n s " (Tillich) entzogen und geraten gegen Melanchthons Willen in die Nähe der von ihm für die Kirche abgelehnten platonischen Ideen. Wenn die „ i m p i i " nicht zur Kirche gehören — obwohl sie de facto dazugehören — wird die Kirche im erstgenannten Zusammenhang aus der Welt der Christen emporgehoben in die nicht mehr von der Sünde affizierte Sphäre der ecclesia triumphans und so dem Leben entzogen. Melanchthon kann diesem Schluß auch nicht mit der Betonung der Erkennbarkeit der Kirche in der Verkündigung des Evangeliums und der rechten Sakramentsverwaltung und gar dem Gehorsam gegenüber dem Amt entgehen. Ihm fehlt ein Begriff, der die U n sichtbarkeit und die Sichtbarkeit der Kirche in sich aufnimmt und beides bewahrt. Die klassischen notae jedenfalls sind für ihn nur noch selbstverständliche Attribute und keine Kennzeichen der Kirche mehr. Möglicherweise hat die C A ihre neuen notae als Interpretationen der alten aufgefaßt. Darüber haben wir keine Klarheit gewonnen.

3.

LUTHER

Luther hat keine einheitliche Lehre von den Kennzeichen der Kirche entwickelt; sowohl ihre Zahl

wie die Begründungszusammenhänge wechseln.

Im Bekenntnis von 1528 setzt er die Einheit und die Heiligkeit der Kirche ebenso selbstverständlich voraus, wie die Katholizität: „ynn aller weit . . ., das also unter Bapst, Türcken, Persern, Tattern und allenthalben die Christenheit zurstrawet ist leiblich, aber versamlet geistlich ynn einem Euangelio und glauben unter ein heubt, das Jhesus Christus i s t " 1 5 . Die Apostolizität der Kirche wird in dieser Schrift nicht ausdrücklich angesprochen, ist aber darin verborgen, daß Luther sich für die Orthodoxie seines Bekenntnisses auf die Autorität der Lehre der Heiligen Schrift beruft 1 6 . Zudem gibt es an anderer

Das Reich des Teufels ragt also bis in die ecclesia large dicta hinein, die ja auch aus Getauften besteht. Von hier aus erscheint die Gleichung Brunstäds sancti = baptizati noch einmal äußerst unwahrscheinlich. 15

W A 2 6 , 5 0 6 , 3 6 ff.

16

WA 26,509,20.

112

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

Stelle eindeutige Belege, daß Luther selbstverständlich von der Kirche annimmt, daß sie auf dem Fundament der Apostel ruht und damit in wahrer apostolischer Sukzession lebt 17 . Obwohl für-Luther also die herkömmlichen notae selbstverständlich zur Kirche gehören, sind sie aber auch für ihn nicht mehr solche, an denen die wahre Kirche erkannt werden kann. Ganz deutlich wird dies in seiner späten Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" (1539), in der er seine Hoffnung auf ein allgemeines Konzil endgültig zu Grabe trägt und die Konsequenzen aus dem verweigerten Konzil theoretisch aufzuarbeiten beginnt. Luther stellt die Frage, wo und was denn die Kirche sei, und antwortet darauf unter Zurückstellung seiner Bedenken gegen das Wort Kirche mit dem „Kinderglauben" 1 8 des Apostolikums. In diesem Zusammenhang versieht er die Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, noch einmal ausdrücklich mit den Attributen „sancta Catholica Christiana" 19 . Die Kirche ist ein heiliges Volk, das seine Heiligkeit seinem Glauben an Christus und der Heiligung durch den Heiligen Geist verdankt, die nicht nur in der Vergebung der Sünden durch das Verdienst Christi besteht, sondern auch im Abtun der Sünden 20 . Diese Kirche ist katholisch im zeitlichen und räumlichen Sinn. Sie erstreckt sich nicht nur über die ganze Erde — und die christliche Heiligkeit gilt für alle Kirchen und Christen in der Welt 21 — sondern die Kirche wird es bis zum Ende der Welt geben: „Aber Ecclesia sol heissen das heilig Christlich Volck, nicht allein zur Apostel zeit, die nu lengest Tod sind, sondern bis an der weit ende, das also jmerdar auff erden im leben sey ein Christlich heilig Volck, in welchem Christus lebet, wirckt und regirt per redemptionem" 22 . Aber die Frage, woran denn die Kirche nun zu erkennen sei, beantwortet Luther nicht mit den klassischen Attributen der altkirchlichen Symbole. Der Kinderglaube lehrt, daß „ein Christlich heilig Volck auff erden sein und bleiben müsse bis an der Welt ende, denn es ist ein Artickel des glaubens, der nicht kan auffhören, bis da körnet, das gleubet, wie Christus verheisst: ,Ich

17

Vgl. z . B . WA 39 I, 191,28; W A 39 II, 176,5. Zu Luthers Lehre von den notae ecclesiae vor 1539 vgl. F. W. Kantzenbach, Strukturen in der Ekklesiologie des älteren Luther, L u J 35, 1968, S. 4 8 - 6 0 .

18

WA 50,624,14.

"

W A 50,624,28f.

20

WA 5 0 , 6 2 4 , 2 8 - 3 3 .

21

W A 50,626,9ff.

22

W A 50,625,21 ff.

Luther

113

bin bey euch bis zur weit ende' " 2 3 . Der Glaube erkennt und weiß, daß es bis zum Ende der Welt eine Kirche geben wird, die sich über die ganze Erde erstreckt. Jedoch zeigt diese Glaubenserkenntnis nicht, wo und wer denn diese Kirche ist. Weil sie aber in diesem Leben und auf Erden sein soll, muß sie sowohl für die Glaubenden wie für solche, die nicht glauben, erkennbar und wahrnehmbar sein. Der Glaube bezieht sich auf das himmlische Wesen und das ewige Leben. Dennoch muß er noch hier in der Welt leben. Die Kirche ist daher nicht daran erkennbar, was sie einmal sein wird, auch wenn dies dem Glauben noch so gewiß sein sollte. Es muß anderes geben, an dem ein „armer jrriger Mensche mercken" kann, „ w o solch Christlich heilig Volck in der weit i s t " 2 4 . Das Problem dieser Stelle der Schrift Luthers entsteht durch die U n klarheit, ob dieser „irrige, arme M e n s c h " ein Christ ist oder mit diesem Ausdruck jeder Mensch, gleichgültig ob er glaubt oder nicht, gemeint ist. Wir beziehen die Aussage auf jeden Menschen, der wissen will, wo denn diese von den Christen behauptete Kirche zu finden sein soll, und begründen es damit, daß für Luther der Glaube sowohl unanschaulich wie sichtbar ist. Von seinem Ziel her ist er allerdings unanschaulich. Das, was der Glaube erhofft und woraus er schon jetzt lebt, ist für den „natürlichen Menschen" nicht sichtbar. Daher sind die Wesensbestimmungen der Kirche, ihre attributive Heiligkeit, Einheit etc. und die Wirkung von Wort und Sakrament zum Heil im einzelnen für Nichtglaubende eben auch nicht sichtbar. Sie gehören ja auch zum Glauben und sind von ihm nicht zu lösen, solange Christus noch nicht wiedergekommen ist und die Welt noch Bestand hat. Daher ist die Kirche dem natürlichen Menschen ebenso verborgen wie das vom Glauben erhoffte Heil. U n d dennoch ist der Glaube sichtbar im Vorgang des Glaubens selber, der nicht nur eine Bewegung des Herzens ist, uneinsehbar für Menschen, und nur dem Urteil Gottes unterworfen. Sondern er äußert sich in durchaus nachvollziehbaren, wenn auch nicht ganz verstehbaren Sachverhalten: dem Bekenntnis: „Propter confessionem coetus Ecclesiae est visibilis . . etsi inter nos intus, id est fidem cernere non possumus, tarnen videmus fidentes . . Ex confessione cognoscitur Ecclesia" 2 5 . Insofern sich der Glaube also im Bekenntnis äußert, ist er an seiner quasi auswendigen Seite wahrnehmbar, obwohl diese Wahrnehmung keinerlei Urteil über Wahrheit bzw. Unwahrheit dieses Glaubens fällen kann. Sie kann eben nur feststellen, daß sich da etwas, das 23

WA 50,628,16-19.

24

WA 50,628,20f.

25

W A 39 II, 161,8.

114

D i e evangelische 1 „ T r a d i t i o n "

sich selber als christlicher Glaube versteht, in einem sichtbaren, lesbaren Bekenntnis äußert. Ebenso verhält es sich mit den Kennzeichen der Kirche. Sie müssen so sein, daß eben der irrende natürliche Mensch sie erkennen kann, auch wenn er die Wirkungen, die in dieser Gemeinschaft geschehen, und die Attribute, die der Glaube ihr gibt, in ihrem inneren Gehalt überhaupt nicht beurteilen kann. Deshalb redet Luther auch in der Schrift „Von den Konziliis und Kirchen" von den „eusserlich zeichen" und „öffentlich zeichen", an denen man sicher die Kirche Christi erkennen kann 2 6 . Insgesamt nennt Luther bekanntlich sieben Kennzeichen der Kirche: „das heilige Gotteswort", das heilige „Sacrament der Tauffe", das heilige „Sacrament des Altars", die „Schlüssel", die Berufung in das kirchliche Amt „das sie Kirchen diener weihet oder berufft oder empter hat", „gebet, Gott loben und danken öffentlich" und siebtens das „Heilthum des Heiligen Creutzes, da es (die Kirche) mus alles Unglück und Verfolgung, allerley anfechtung und ubel (wie das Vater unser bete) vom Teufel, weit und fleisch, jnwendig trauren, blöde sein, er-

26

W A 50,629,19; W A 50,630,23; WA 50,631,8. D i e Bemerkung von P. Althaus: „ D a ß die Kirche an Merkmalen erkennbar ist, macht ihre Sichtbarkeit aus. A b e r wahrnehmbar ist sie nur für den G l a u b e n " , Die Theologie M . Luthers, 3. Aufl., 1972, S. 2 5 2 , ist mißverständlich. Zweifellos ist für Luther die Kirche auch an ihren äußeren Zeichen „ w a h r n e h m b a r " . Vielleicht meint Althaus mit diesem V e r b u m , die Kirche ist nicht erfahrbar an diesen äußeren Zeichen. Denn die Wirkung von W o r t und Sakrament ist nur dem einzelnen Gläubigen zugänglich, dem im W o r t vom Kreuz sein Heil widerfährt, obwohl sich ja auch der Christ selber verborgen ist, worauf Althaus zu Recht hinweist (a. a. O . , S. 2 5 3 , Belege dort, A n m . 32). Diese

äußerlichen

Zeichen

stehen

nicht

unter

einem

quasi

dialektischen

Vorzeichen, daß sie dem Menschen ohne Glauben im Erkenntnisvorgang zur „Verhüllung der K i r c h e " werden (so Kantzenbach, a . a . O . , S. 6 3 ) . Die Zeichen haben eben für den Nichtglaubenden keine volle Signalkraft: er erkennt an ihnen zwar die Kirche, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Deshalb kann man die Zeichen „ b l o ß signifikativ" nennen ( E . W o l f , D i e Einheit der Kirche im Zeugnis der Reformation (1938) in: Peregrinatio, 2. durchges. mit R e g . , erw. Aufl. 1962, S. 161 und auch Kantzenbach, a . a . O . ) . Jedoch ist Wolfs Unterscheidung dieser Zeichen vom „ W o r t " als dem „konstitutiv-signifikativen" in bezug auf den natürlichen Menschen nicht stichhaltig, weil diesem auch der Sinn und die Kraft des Wortes verborgen und sozusagen nur sekundär aus dem Leben des Christen zugänglich sind.

Luther

115

schrecken, auswendig arm, veracht, kranck, schwach sein, leiden, damit es seinem Heubt Christo gleich werde" 2 7 . Alle sieben Zeichen haben den Charakter der Öffentlichkeit als ihr entscheidendes Merkmal. Sie alle sind in ihrer Öffentlichkeit Wirkungen des Heiligen Geistes, also nicht attributiv im Sinne einer wenn auch unscharfen und mißverstandenen Seinsbeschreibung, die vom Geschehen absieht. Das Sein der Kirche ist ein Geschehen des Heiligen Geistes, deshalb sind Luther nur Aussagen über die Kirche möglich, die einen Vorgang ausdrücken. Alle Kennzeichen der Kirche sind nämlich Mittel des Heiligen Geistes, die Kirche zu heiligen: „Dis sind nu die rechten sieben heuptstück des hohen heilthumbs, da durch der Heilige geist in uns eine tegliche heiligung und vivification übet in Christo, und das nach der ersten tafeln Mosi" 2 8 . Solche Heiligkeit ist nach zwei Dimensionen aufzufächern. Primär besteht die Heiligkeit der Christen darin, daß ihnen vom Heiligen Geist der Glaube an Christus gegeben wird, also in der Rechtfertigung. Aber aus der Rechtfertigung folgt das ethische Verhalten, das der Sünde widersteht, sich in Liebe und Gehorsam der Welt annimmt und auch um seines Glaubens willen Leiden erträgt. Auch „davon sie heissen ein heilig Volck" 2 9 . Die Kennzeichen der Kirche sind also alle Beschreibungen des Prozesses der Heiligung der Kirche durch den Heiligen Geist, das heißt, in diesem Vorgang der Heiligung faßt sich das Wesen der Kirche zusammen. Daher liegt der Akzent auch auf der Heiligkeit der Kirche, die freilich stets abgeleitete Heiligkeit ist. Sie ist heilig, weil Gott in ihr zur Heiligung der Menschen wirkt. Luther interpretiert also das alte, traditionelle Attribut der Heiligkeit der Kirche, das für ihn selbstverständliche Geltung hat, als das Geschehen dieser sieben Kennzeichen der Kirche mit deutlicher Konzentration auf das Geschehen von Wort und Sakrament. Damit liefert er eine Neuinterpretation dessen,

27

W A 50, 628, 30; 630, 22; 631, 7; 631, 37; 632, 3 5 f . ; 641, 21; 642, 1 - 4 . E. Kinder, a . a . O . , S. 110 hat versucht, die Vielzahl der Kennzeichen in „ W i d e r H a n s W o r s t " und „ V o n den Konziliis . . . " aufzugliedern in 1.) f ü r uns nicht m e h r ableitbare „ L e t z t k e n n z e i c h e n " der Kirche (abnormae normantes), nämlich W o r t und Sakrament u n d 2.) von diesen beiden abgeleitete (normae normatae). Jedoch schlägt hierbei die B e m ü h u n g zu stark d u r c h , Luther mit den Bekenntnisschriften zu harmonisieren. Keines der von Luther genannten Zeichen ist f ü r sich lebensfähig.

28

W A 50, 642, 3 2 - 3 5 .

29

W A 50, 624, 33.

116

Die evangelische „Tradition"

was für ihn unter Heiligkeit der Kirche zu verstehen ist, verwendet dabei den traditionellen Begriff und greift in seiner Neuinterpretation auf die 1539 auch fast schon traditionellen „protestantischen" notae zurück. Diese werden noch einmal erweitert, indem er sie im umfassenden Zusammenhang der Tat Gottes an seiner Kirche und der darauf folgenden Lebensstrukturierung der Christen versteht. Diese Neuinterpretation der traditionellen nota der Heiligkeit hat als Versuch, die eigene Kirche als wahre und katholische zu erweisen, apologetisch-polemischen Charakter gegenüber der römischen Kirche, sofern sie sich im hierarchischen System der Papstkirche als die allein wahre versteht 30 . Denn nach Luthers Meinung haben der Papst und seine Anhänger diese Heiligkeit als durch Gott bewegten Prozeß pervertiert, insofern sie die Heiligkeit auf Dinge verlagerten, die nichts mit dem Willen Gottes zu tun haben, wie er in der Schrift ausgesprochen wird. Luther vermag darin nur ein Werk des Teufels zu sehen: „Also hat er (der Teufel) durch die Bepste und Papisten lassen weyhen oder heiligen Wasser, salz, kreuter, kertzen, glocken, bilder, agnus Dei, pallia, altar, caseln, platten, finger, hende, Wer wils alles erzelen?" 31 .

Natürlich kann durch solche pervertierte Heiligkeitsvorstellung auch keine Hierarchie der Ämter als Kennzeichen der Kirche begründet werden. Die kirchlichen Amtsträger haben keinen character indelebilis, sie sind wegen des göttlichen Auftrags und aus pragmatischen Gründen von der Gemeinde dazu bestellt, „öffentlich und sonderlich die obengenannten vier stück oder heilthum geben, reichen und üben, von wegen und im namen der Kirchen, viel mehr aber aus einsetzung Christi . . . . Denn der hauffe gantz kan solchs nicht thun 3 2 . Es gibt allerdings Hierarchien als Ordnungen innerhalb der Kirche, die an dieser Stelle als corpus christianum vorgestellt ist: Haushalten, Obrigkeit, Kirche, aber Gott wirkt in allen gleichermaßen und alle sind miteinander pragmatisch verbunden: die Kirche erlangt ihre Glieder aus den Familien und bekommt Schutz von der Obrigkeit — Gott aber muß alles erhalten. Darüber hinaus braucht man keine Hierarchie, schon gar nicht als Kennzeichen der Kirche.

30 31 32

Vgl. WA WA vom

E. Wolf, a . a . O . , S. 155. 50, 644, 2 0 - 2 2 . 50, 633, 1—6. Luther schließt Frauen und Kinder und „untüchtige" Leute kirchlichen Amt aus. Begründung: 1. Tim. 3, 2; 1. Kor. 14.

Luther

117

Aber Luther setzt seine Theorie der Kennzeichen der Kirche auch ab gegen protestantische Kritik. Gegen die Antinomer hebt er immer wieder die zweite Seite der Heiligkeit hervor: der Glaube als der Ausgang der Heiligkeit ist ethisch produktiv 3 3 , die Rechtfertigung hat leibhafte Konsequenzen, die zwar nicht gesetzlich, aber im Sinne der Gebote kreativ sind: „Solchen thut der heilige Geist, der heiliget und erwecket auch den Leib zu solchem neuen Leben, bis es volbracht werde in jenem leben" 3 4 . Gegen Müntzer und gegen „Schwärmer" muß er immer wieder die Äußerlichkeit dieser Kennzeichen betonen. Das Bemerkenswerte ist, daß er in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der äußeren Kennzeichen mit der Heiligkeit Gottes begründet, was unsere Annahme, Luther interpretiere mit den sieben Kennzeichen in „ V o n Konziliis und Kirchen" die Heiligkeit der Kirche, bestätigt. Weil kein Mensch Gottes Heiligkeit unmittelbar ertragen könnte, gibt er uns mittelbare, äußere Zeichen, durch die er wirken will. Dies tut Gott wie ein liebender Vater, denn wer möchte sich vor solchen eigentlich alltäglichen Dingen, durch die er uns heiligen will, noch ängstigen? 3 5 . Gott verbirgt sein Wirken in den äußeren Dingen, die er sich erwählt hat, um die Menschen zu heiligen, damit die Menschen nicht an seiner unverhüllten „hellen" Majestät vergehen müssen. Das verborgene Wirken Gottes hat aber auch Folgen für die Sichtbarkeit der Kirche. Zwar betont Luther gegenüber allen Gegnern, die Kennzeichen der Kirche seien natürlich sichtbare, „äußere" und „öffentliche" Zeichen, und wenn man diese Zeichen sehe, könne man sicher sein, die wahre Kirche Christi zu sehen. Jedoch ist die Sichtbarkeit der Kennzeichen oft getrübt durch die Verborgenheit des Wirkens Gottes: „ A b e r Christus Sacrament wircken auffs künfftige und unsichtbarliche wesen, im geist, das man seine Kirchen und Bisschove kaume von ferne ein wenig riechen kan, und der Heilige Geist sich so stellet, als sey er nicht d a " 3 6 . Aber diese Trübung der Erkenntnis ist noch kein Grund, im enthusiastischen Sinn alles Sichtbare abzulehnen. Im Gegenteil, auch und gerade hier kann man sicher sein, die Kirche Christi zu finden, weil sogar das formale Vorhandensein der sieben Zeichen sicher zeigen kann, daß Gott am Werk ist. Es ist sicher, daß Gottes Wort nicht leer zu ihm zurückkommt. Daher kann 33

Vgl. W A 50, 624, 32.

34

WA 50, 627, 10 f.

35

Vgl. WA 50, 647, 6 f f .

36

W A 50, 646, 1 9 - 2 1 .

9

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

118

D i e evangelische

„Tradition"

„ G o t t e s wort . . nicht on Gottes Volck sein, widerumb Gottes Volck kan nicht on Gottes wort sein" 3 7 .

4. D I E

TAUFER

Wir müssen wegen der weitreichenden Konsequenzen für die ökumenische Kirchengeschichte noch eine Veränderung des Kirchenbegriffs in der Reformationszeit untersuchen, die aus einer dreifachen Frontstellung entstanden ist. Das Täufertum hat sich ja im wesentlichen aus der Theologie Zwingiis heraus entwickelt und hat in Radikalisierung dieser Theologie eine offene Front nicht nur wie selbstverständlich gegen die römisch-katholische, sondern auch gegen die reformatorischen Kirchen eröffnet. Bekanntlich haben die lutherischen Kirchenführer, mit Ausnahme Philipps von Hessen, keine besseren Mittel gegen die Täufer gefunden als die katholische Inquisition. Deshalb zieht sich durch die gesamte Theologie der Täufer und, zugespitzt, auch die Ekklesiologie, das Motiv des Leidens. Das Leiden wird jedoch anders als in den lutherischen Schwabacher Artikeln nicht direkt mit dem Kirchenbegriff verbunden, obwohl die Täufer wesentlich mehr Anlaß dazu gehabt hätten als die doch im Vergleich zu ihnen relativ sicheren lutherischen Kirchentümer. Die täuferischen Gruppen haben sehr bald einen Kirchenbegriff entwickelt, der nicht nur selbstverständlich mit dem römischkatholischen Kirchenverständnis brach, sondern auch gegenüber allem reformatorischen Verständnis von Kirche von erheblicher Brisanz war, weil er sich zentral an einer der neuen evangelischen notae ecclesiae rieb: der Taufe. Wenn Sinn und Praxis der Taufe umstritten war, so war in der Folge der reformatorischen Lehrausbildung zugleich der Kirchenbegriff umstritten und die Frage nach der wahren Kirche gestellt. Wir orientieren uns zunächst an dem Schleitheimer Bekenntnis Michael Sattlers aus dem Jahre 1527, das während des ganzen 16. Jahrhunderts eine allgemein anerkannte Darstellung des reinen täuferischen Glaubens gewesen ist 3 8 . Nach täuferischer Auffassung hat die Gemeinde Christi sich in einem

37 38

W A 50, 629, 34 f. V g l . D e r linke Flügel der R e f o r m a t i o n , H r s g . v. H . F a s t , 1962, S. 59. W i r beziehen uns auf den d o r t w i e d e r g e g e b e n e n T e x t des B e k e n n t n i s s e s . A u c h die anderen B e l e g e u n d V e r w e i s e auf täuferisches Schriftgut beziehen sich auf die v o n F a s t v o r z ü g l i c h edierte Q u e l l e n s a m m l u n g , w e n n nicht anders v e r m e r k t .

Die Täufer

119

radikalen Gegensatz zur „ W e l t " zu begreifen. Zwar lebt sie in der Welt, anerkennt auch deren Ordnungen und sieht in ihnen Gottes Ordnungswille, aber sie hat sich doch von der Welt wegen der Einheit des Leibes Christi abzusondern. Weil der Christ in allen Dingen Christus nachzufolgen hat, kann er keine weltlichen Obrigkeitsämter ausüben: Wie überall in seinem Weltverhalten hat sich der Christ auch in Fragen der Obrigkeit an Christus selber zu orientieren: „ C h r i s t u s sollte z u m K ö n i g g e m a c h t w e r d e n , ist aber geflohen u n d hat die O r d n u n g seines Vaters nicht berücksichtigt. S o sollen wir es auch tun u n d ihm nachlaufen!"39.

So ist die „ W e l t " der summarische Begriff für alles, was dem Reich Christi entgegensteht, und dazu gehören die weltlichen Ordnungen ebenso wie die widergöttlichen Kräfte, die teuflischen Mächte und die nichttäuferisch gesinnten Menschen. Dies wird alles in der jetzt heraufkommenden Endzeit vergehen. Die Sammlung der täuferischen Gemeinden ist das letzte große missionarische Unternehmen vor dem Ende. „ S o stehen die Täufer nach ihrem Selbstverständnis am Scheitelpunkt der Weltgeschichte, sie leben in der entscheidenden Stunde vor Christi Wiederkunft . . . Dieses eschatologische Geschichtsbewußtsein verleiht der Bewegung ihren Schwung und ihre Durchschlagskraft" 4 0 . Gegenüber diesem Riß, der sich seit Anbeginn der Welt durch die Welt zieht, muß die wahre Gemeinde ihre Einheit bewahren, indem sie sich absondert. In ihrem theologischen System und ihren sozialen Gestaltungen reagieren die Täufer auf diesen Riß, der sich nun — am Ende der Tage — zur Endgültigkeit vertiefen wird. Radikal und ohne wirklich bindende „Verbindungen" zur Welt schlagen sie sich auf die Seite Christi. Damit wird der Riß der Welt aus der Gemeinde ferngehalten, aber er wird als solcher genau markiert. Er ist nicht heilbar durch Versöhnung, sondern durch Vernichtung des einen Teils des von ihm durchzogenen Universums. So gehören die Ordnungen der Welt zwar in gewisser Weise zur göttlichen Ordnung, aber sie sind nur auf dem Hintergrund der zerstörten, vom Anti39

M . Sattler, a . a . O . , S. 67. In der A b l e h n u n g des E i d e s stellten sich die T ä u f e r abseits der politischen u n d sozialen G e m e i n s c h a f t . V g l . M . H a a s , D e r W e g der T ä u f e r in die A b s o n d e r u n g , in: U m s t r i t t e n e s T ä u f e r t u m , H r s g . v. H . J . G o e r t z , 1975, S. 52.

40

9'

W . Schaufele, D a s m i s s i o n a r i s c h e B e w u ß t s e i n u n d W i r k e n der T ä u f e r , 1966, S. 90.

120

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

christ verheerten Welt sinnvoll — für die Bösen. Sie machen sich selbst überflüssig, wenn wirklich Gemeinde Christi existiert. Dort wird nämlich auf Verfehlungen gemäß dem Neuen Bund und kraft eigenen Rechts geordnet. Für den Neuen Bund gilt eine neue Ordnung, die alte ist ihm nur noch äußerlich und wird mit der Welt vergehen. Daher sind die alten Ordnungen ebenso ein „ G r e u e l " wie die „ K i r c h e n " , die die Scheidung von der Welt nicht radikal vollziehen: „ D a m i t sind gemeint alle päpstlichen und widerpäpstlichen W e r k e und G o t t e s dienste, Versammlungen, Kirchenbesuche, Weinhäuser, Bündnisse und Verträge des Unglaubens und anderes dergleichen mehr, was die W e l t hoch hält und was doch stracks wider den Befehl Gottes durchgeführt w i r d " 4 1 .

Die Einheit der Kirche wird heilsgeschichtlich und christologisch begründet. Das, was den Christen und die christliche Gemeinde von der „ W e l t " absondert, ist ihr Glaube als Wirkung der rettenden Tat Gottes. Durch diesen Glauben werden die Christen aus der Welt herausgerufen und in den Leib Christi als den radikalen Gegensatz zur alten, vergehenden Welt eingefügt. Die Voraussetzung dafür ist die gläubige Annahme der christlichen Predigt des Evangeliums. Glaube ist sichtbares Zeichen des Gegensatzes zur „ W e l t " . Daher kann eine wirklich gläubige Gemeinde, die ihren Glauben bewußt in der Taufe dokumentiert, natürlich nur aus solchen Menschen bestehen, die diesen Glauben auch nach der Taufe bewußt leben. Die Gemeinde der Heiligen verliert ihre Würde und ihre Verbindung mit Christus, wenn sie in ihrer Mitte gleichberechtigt unmündige Kinder und U n gläubige oder gar öffentliche und unverbesserliche Sünder duldet. Denn diese alle stehen nicht im Glauben. Die einen nicht, weil sie sich noch nicht bewußt absondern können, die anderen nicht, weil sie heimlich oder öffentlich und gar fortgesetzt die Grenzlinie zur „ W e l t " wieder überschritten haben. Daher läßt sich die wahre Kirche an der Erwachsenentaufe als Glaubenstaufe erkennen. D i e Taufe muß von dem über Buße und christliche Lebenszucht belehrten Menschen, der wirklich glaubt, daß seine Sünden durch Jesus Christus hinweggenommen sind, von selbst gefordert werden. „ D a m i t wird jede Kindertaufe ausgeschlossen" 4 2 .

41

M . Sattler, a . a . O . , S. 6 4 f .

42

D e r s . , a . a . O . , S. 62. Vgl. auch P . Walpots „ G r o ß e s Artikelbuch oder Ein schön lustig Büchlein etlicher Hauptartikel unseres christlichen Glaubens e t c . " (ca. 1577), Quellen zur Geschichte der Täufer, B d X I I , Glaubenszeugnisse

oberdeutscher

Die Täufer

121

Die streng geübte Kirchenzucht wacht über die Beachtung der „ G r e n z linie" zwischen „ W e l t " und Gemeinde. Sie soll nach neutestamentlichem Vorbild (Mt 18, 15ff.) geübt werden. Wenn zwei heimliche Ermahnungen nicht fruchten, folgt der öffentliche Bann und Ausschluß des unbelehrbaren Sünders vom Abendmahl, das als Gemeinschafts- und Gedächtnismahl die Gemeinde als Leib Christi in der Einheit bewahrt. Zu diesem Mahl sind natürlich nur Gläubige zugelassen, denn hier findet die Einheit der Gemeinschaft der Heiligen ihren höchsten Ausdruck. Die theologische Differenz der Täufer in der Abendmahlsfrage zur katholischen und den reformatorischen Kirchen und die Kritik an deren Abendmahlspraxis wird an der Frage der Reinerhaltung der Gemeinde ganz besonders deutlich. Deswegen hatte sich die täuferische Bewegung ab 1523 auch von Zwingli entfernt, dessen Theologie sie in der Abendmahlsfrage ganz besonders nahestand. Die katholische Messe ist für die Täufer ganz indiskutabel. Sie ist pure Abgötterei. Aber auch die reformatorische Abendmahlpraxis vernachlässigt nach ihrer Meinung den Gesichtspunkt der reinen Gemeinde, weil sie es zuläßt, daß sich eine vor Gott äußerst zweifelhafte Gemeinschaft von Unreinen und unbußfertigen Sündern versammelt. Entweder ist die Versammlung nicht gemäß Christi Anordnung getauft, oder sie übt keine Kirchenzucht oder folgt in der Abendmahlsfrage noch immer katholisierenden Tendenzen. Dies alles zeigt aber, daß das Abendmahl noch Kennzeichen der Kirche ist, jedoch hinter der Taufe und der Absonderung zurücktritt. Taufgesinnter II, 1967, S. 62: „ W e r aber die wiegenkindlein mag leeren, der mag sie tauffen. Kanstus nit leeren, so kanst dus auch nit tauffen". Möglicherweise geht die Ablehnung der Kindertaufe neben den wichtigen theologischen Argumentationen auch auf die Vorstellung zurück, daß Kinder noch nicht „sündenfähig" sind. Wer nicht sündigen kann, kann auch nicht glauben. Man beachte Konrad Grebels Argument gegen die Kindertaufe in seinem berühmten Brief an Th. Müntzer von 1524: „Sie (die Kinder) sind noch nicht herangewachsen zur Gebrechlichkeit unserer gebrochenen N a t u r " ( a . a . O . , S. 21). Daher nehmen Grebel und seine Brüder an, daß Kinder durch das meritum Christi ohne

Glauben

selig werden. Vgl. auch Dtn 1, 33: Die Kinder wissen noch nicht, was gut und böse ist. Anscheinend war dieser Gedanke Diskussionsgegenstand der damaligen Zeit, denn er taucht einige Jahrzehnte später bei dem Antitrinitarier M . Servet in dem allerdings unsinnigen Extrem auf, der Mensch könne vor dem 20. Lebensjahr nicht ernsthaft sündigen. Vgl. W. F. Dankbaar, Calvin, 1959, S. 126.

122

D i e evangelische

„Tradition"

Gelegentlich kann das theologische Motiv der Absonderung die soziologische Konsequenzen eines Lebens in Gütergemeinschaft haben. Diese Gruppen gründeten dann Gemeinschaftshäuser, ja ganze Gemeinschaftssiedlungen, die vor allem in Zeiten der Verfolgung und später dann in Nordamerika (aber auch anderswo) eine besondere Sozialform täuferischer Lebensgestaltung geworden ist. Bisweilen wird diese Lebensform, besonders im osteuropäischen Raum, in der Reformationszeit zur nota ecclesiae: „ W o . . . E i g e n t u m ist, w o m a n es hat u n d anstrebt und nicht mit C h r i s t u s u n d den Seinigen g e m e i n s a m hier im L e b e n u n d Sterben ist, d a steht m a n außerhalb C h r i s t i u n d seiner G e m e i n d e , hat auch keinen ,Vater im H i m m e l ' ; redet m a n es, s o lügt m a n ! " 4 3 .

Der täuferische Kirchenbegriff stellt eine erstaunliche Synthese der klassischen und der reformatorischen notae ecclesiae dar, die freilich die Inhalte von beiden charakteristisch verändert. Von den klassischen, katholischen sind im wesentlichen nur noch die Einheit und die Heiligkeit der Gemeinde Gegenstand theologischer Überlegungen. Die Katholizität und die Apostolizität werden ganz fraglos und unproblematisiert vorausgesetzt, aber streng an die Heiligkeit der Gemeinde gebunden. Davon hängt alles andere ab. Katholizität der Gemeinden als Universalität ist eine Selbverständlichkeit gerade für die Täufer, die durch Verfolgungen und Leiden selten lange an einem O r t seßhaft bleiben konnten und deswegen auch enge Verbindungen mit Gemeinden an anderen Orten pflegten. Aber man denkt bei der Katholizität nicht mehr an ein Kennzeichen der Kirche, denn die Gegner argumentieren nicht mit einer irgendwie verfaßten Partikularkirche, dergegenüber die Täufer nun die Universalität besonders herauszustellen hätten. An der Verbreitung über den Erdkreis erkennt kein Täufer die wahre Kirche, denn „die babylonische H u r e " , „die römische Kirche, eine Synagoge des lebendigen T e u f e l s " 4 4 ist als Gegenbild der wahren Kirche über alle Welt verbreitet. Die Apostolizität der Gemeinde ergibt sich aus der strengen Bindung an die Schrift. Sie ist alleinige N o r m und Richtschnur des Glaubens und Lebens. Immer wieder verlangen die Täufer Belege aus der Schrift, die ihnen zeigen 43

U . Stadler, E i n e liebe U n t e r r i c h t u n g (ca. 1539), a . a . O . , S. 1 3 9 f . Z u r G e s c h i c h t e der G e m e i n s c h a f t s s i e d l u n g e n

vgl.

H.

Schempp,

religiöser u n d weltanschaulicher G r u n d l a g e , 1969. 44

U . Stadler, a . a . O . , S. 145.

Gemeinschaftssiedlungen

auf

Die Täufer

123

sollen, daß sie irren. N u r davon wollen sie sich überzeugen lassen: „ W a s uns nicht gelehrt wird mit klaren Bibelstellen und Beispielen, das soll uns so gut wie verboten sein, als stünde geschrieben: Das tue ich nicht" 4 5 . Jedoch wird die Apostolizität nicht speziell interpretiert. Sehr lebendig sind die Reflexionen der Täufer über Einheit und Heiligkeit der Gemeinde. Beide sind unlösbar miteinander verbunden. N u r die einige Gemeinde kann wegen des Glaubens die heilige sein. N u r die heilige kann wegen der Abgrenzung die eine sein. Die Einheit der Gemeinde wird heilsgeschichtlich und christologisch begründet. Sie umfaßt sowohl die Ortsgemeinde wie die täuferische Gemeinschaft überhaupt — aber exklusiv nur diese. Der Gedanke der Reformation, daß auch in anderen Kirchentümern, sogar im Katholizismus, wahre Kirche sein könnte, der Leib Christi also durch viele Kirchentümer nicht geteilt werde, ist im Kreis der täuferischen Theologie unmöglich. Die herrschenden Kirchentümer, gleichgültig, ob katholisch oder reformatorisch, sind allesamt abgefallen, weil sie eine verhängnisvolle Synthese mit der Welt eingegangen sind. Sie haben damit die Einheit der Gemeinde, die sich in der Abgrenzung gegen alle „ W e l t " radikalisierte, verletzt. Sie sind nicht mehr der Leib Christi, weil dieser nicht als corpus permixtum gedacht werden kann. Die Scheidelinie zwischen Göttlichem und Widergöttlichem darf für die Täufer nicht durch die Kirche gehen. So hat die heilsgeschichtlich und christologisch begründete Ekklesiologie unmittelbar ethische Folgen. Denn diese Scheidelinie dürfen Christen auch dann nicht überschreiten, wenn es sich um weltliche Ordnungen handelt. Zwar ist der Christ der Obrigkeit Gehorsam schuldig, kann sich selber aber nicht am obrigkeitlichen System beteiligen. Tut er dies, verletzt er die Einheit und Reinheit der Kirche: „ D a s Regiment der Obrigkeit ist nach dem Fleisch, das der Christen nach dem Geist. Ihre Häuser und Wohnung ist mit dieser Welt verwachsen; die der Christen sind im Himmel. Ihre Bürgerschaft ist in dieser Welt; die Bürgerschaft der Christen ist im Himmel. Die Waffen ihres Streits und Krieges sind fleischlich und allein wider das Fleisch; die Waffen der Christen aber sind geistlich wider die Befestigung des Teufels" 4 6 . Diese Auffassung der Täufer enthielt natürlich eminente Sprengkraft, und ihre politische Bedeutung haben die herrschenden Ratsherren, Fürsten und Theologen sofort erkannt. Denn die Täufer forderten ja nicht nur die Freiheit der Kirche vom Staat und damit Religionsfreiheit — also etwas, zu dem sich die römisch-katholische Kirche mehr als vierhun-

45

K. Grebel an Th. Müntzer, a . a . O . , S. 15.

46

M. Sattler, a . a . O . , S. 67; Vgl. Walpot, a . a . O . , S. 291.

124

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

dert Jahre später erst verstehen konnte 4 7 — sondern sie bestreiten die totale Verfügungsgewalt der Obrigkeit über die Bürger. Das bedeutet, daß die schon von Augustin und durch das ganze Mittelalter hindurch bekannte Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Macht zur Auflösung des corpus christianum radikalisiert wird. Sie gehen damit weit über Luthers Zwei-Reiche-Lehre hinaus, die dem weltlichen Bereich zwar seine Eigenständigkeit verschaffen wollte, aber die Einheit der Welt im Begriff des Gesetzes doch wahrte 4 8 . Indem die Täufer sich radikal aus dem Reich der Welt als Herrschaft zurückziehen, brechen sie mit der Sozialidee, die die abendländische Welt seit Konstantin dem Großen getragen hat. Augustinische, franziskanische und reformatorische Motive schießen in der kleinen, bescheidenen Gruppe der Täufer zu theologisch kaum ausgeführten Theorien zusammen, die den Zerfall des Mittelalters nur noch konstatieren. Sie haben eine Grundvoraussetzung moderner Staatsideen vorweggenommen, und es wäre zu fragen, ob ihr Einfluß beispielsweise auf die Gestaltung der Vereinigten Staaten von Amerika nicht ebenso bedeutend war wie der des Calvinismus 4 9 . Die Einheit der Gemeinde ist prinzipiell sichtbar gedacht und wird besonders in Verfolgungszeiten bisweilen zum Extrem der Aufgabe von Privateigentum und privatem „bürgerlichem" Leben gesteigert. Die Unsichtbarkeit ist nur eine Folge des menschlichen Unvermögens, die über die Erde ver-

47

Vgl. die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae" des Vaticanum II, in: Rahner/Vorgrimler,

Kleines Konzilskompendium,

4. Aufl.

1968,

S.

661 ff., bes. Art. 4, S. 665. 48 49

Vgl. M . Schloemann, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, 1961. Die mittelalterliche Sozialidee der Herrschaft des Königs Christus über Kirche und Staat war allerdings schon vor Luther dreifach erschüttert worden. In Sizilien hatte Friedrich II (1194—1250) den ersten rein weltlichen Beamtenstaat geschaffen und 1231 als Kaiser auf dem Wormser Reichstag die Landeshoheit der deutschen Fürsten durchgesetzt. Auf der anderen Seite hatte das Papsttum unter Innozenz III. und Innozenz IV. durch die Schaffung des Kirchenstaates und die Juridifizierung der Kirche die zweigipfelige mittelalterliche Reichsidee eigentlich zerstört. Die Kirche verlangte die Subordination der weltlichen Macht und beanspruchte O b e r lehenshoheit über alle weltliche Gewalt. Drittens hatte Franz von Assisi (1182— 1226) mit seiner Idee der in der strikten Nachfolge Christi stehenden armen Liebeskirche den Boden einer von religiösen Interessen freien Staatsverfassung bereitet. Vgl. K . Schilling, Geschichte der sozialen Ideen, 2. erw. Aufl., 1966, S. 2 2 6 f f .

Die Täufer

125

streuten Gemeinden als Einheit zu sehen. Die Gemeinden sollen einander ebenso dienen wie die einzelnen Glieder der Ortsgemeinde. D e r Einheit der Kirche dient das Verhalten der Gläubigen. Die Täufer nannten sich bisweilen wie die neutestamentlichen Christen „ d i e H e i l i g e n " . Heiligkeit ist durch die Taufe als Besiegelung des Glaubens und Versiegelung des Gläubigen verliehen und bewährt sich in einem sittlichen Leben. D i e Heiligkeit der Gemeinde ist von der Heiligkeit der Glieder abgeleitet. Wenn ein Gemeindeglied also nicht seines Glaubens lebt, ist damit die Heiligkeit der gesamten Sozietät in Frage gestellt. Die Kirchenzucht wacht darum nicht nur über das sittliche, moralische Verhalten und die Frömmigkeit des einzelnen Gemeindegliedes, sondern über die Integrität des Leibes Christi. Deshalb darf sie in der wahren Kirche nicht fehlen. Eine Gemeinde, die nicht über ihre Heiligkeit wacht und den Sünder nicht zur U m k e h r ermahnt und schließlich zwingt, kann niemals wirklich die heilige Versammlung der Kinder Gottes sein. Wir sehen also, daß die täuferische Theologie die Einheit und Heiligkeit der Kirche immer in bestimmte Funktionalität übersetzt, an der sie sich konkretisieren. U n d diese Konkretion ist es dann, woran die Kirche erkannt werden kann. Einheit und Heiligkeit bilden also gleichsam die abstracta, die über die verschiedenen Sichtbarkeiten der konkreten Kirche erkannt werden können. D a m i t verschiebt sich der Charakter der notae von der Einheit und der Heiligkeit auf diese konkreten Funktionen der Gemeinde. Erkannt wird also die Kirche nicht daran, daß sie einig oder heilig ist, sondern die Einheit und Heiligkeit der Kirche erkennt man an Funktionen, nämlich: 1. der Schriftbezogenheit, 2. der Erwachsenentaufe, 3. dem Herrenmahl der Gemeinschaft ohne öffentliche Sünder, 4. der Kirchenzucht und 5. der Scheidung von der „ W e l t " , Trennung von Staat und Kirche, bisweilen Gemeineigentum 5 0 . Diese Kennzeichen der Kirche sind prinzipiell sichtbar und von jedem, auch dem Nichtgläubigen, erkennbar. D i e Synthese aus reformatorischen und katholischen theologumena besteht darin, daß die Einheit und Heiligkeit reformatorisch im Zusammenhang mit dem Glauben gesehen wird, dieser aber katholisierend ein für jeden objektiv einsehbarer Habitus wird. So ist die Einheit der Kirche sichtbar, so wie zuvor in der katholischen Kirche der Papst und die kirchliche Hierarchie nur ist jetzt der G l a u b e das 50

F. H. Litteil, Das Selbstverständnis der Täufer, 1966, nennt als Kennzeichen der rechten Kirche: „Taufe der Gläubigen"; „Gütergemeinschaft"; „Das Mahl des Herrn"; „Die Autorität der Obrigkeit/passiver Gehorsam", S. 126ff.

D i e evangelische „ T r a d i t i o n "

126

Sichtbare. Die Heiligkeit der Kirche ist sichtbar, so wie zuvor die „guten W e r k e " sichtbar waren. Allerdings sind diese reformatorisch aus dem Rechtfertigungszusammenhang gelöst und der Heiligung zugeordnet sowie von Zeremonien, Wallfahrten etc. in die christliche Lebenspraxis übertragen. Heiligkeit ist auch wegen der jedermann einsehbaren „Absonderung" von der „ W e l t " sichtbar. Aus dieser theologischen Synthese folgt dann eine neue soziologische Gestalt des Christentums: die vom Staat unabhängigen religiösen Gruppen, deren Gesamtheit die eine heilige katholische und apostolische Kirche ist.

5.

CALVIN

Calvins Gedanken über die Kennzeichen der Kirche zeigen sowohl die Wirkungen der reformatorischen Lehrentwicklung wie — freilich als Kontroverse — die des linken Flügels der Reformation. Sie nehmen die Definitionen der C A auf und betonen gegen die sich von den reformatorischen Kirchen separierenden Gruppen die notwendige Einheit mit der Großkirche, die trotz aller Versuche, sie rein zu halten, immer mit Heuchlern durchsetzt sein wird. Wir wollen uns Calvins Auffassung von den notae ecclesiae über seinen ekklesiologischen Grundsatz deutlich machen, der von drei charakteristischen Unterscheidungen durchzogen ist. Calvin unterscheidet zwischen der Kirche als coetus electorum und der für alle sichtbaren Kirche. In den coetus werden nur diejenigen „aufgenommen, die durch die Gnade der Adoption Söhne Gottes und die durch die Heiligung des Geistes wahre Glieder Christi sind. U n d zwar umfaßt die Kirche dann nicht allein die Heiligen, die auf Erden wohnen, sondern alle Auserwählten (electos), die seit Anbeginn der Welt gewesen s i n d " 5 1 . Unter 51

Inst. I V , 1, 7; O S V , S. 12. In der Ubersetzung der lateinischen T e x t e orientieren wir uns sehr stark an O . Webers Übertragung der Ausgabe der Institutio von 1559, 1955. Allerdings sind alle als Zitat verwandten T e x t e am lateinischen Text geprüft und gegebenenfalls ist danach Webers Übertragung korrigiert worden. Das Motiv der von Anbeginn der Welt bestehenden Kirche ist allgemeine

Uberzeugung

sowohl der vorreformatorischen wie auch der reformatorischen Kirche. Es findet sich im „ H i r t des H e r m a s " , bei Augustin, Petrus Lombardus, T h o m a s , B o n a ventura, in den Texten des Laterankonzils von 1215 und anderswo, vgl. Y . Congar, Handbuch der Dogmengeschichte, a. a. O . , S. 139, A n m . 1; W . H u b e r , a. a. O . , S. 3 4 f f . Vgl. auch die Frage 54 des Heidelberger Katechismus, bei Niesei,

Be-

Calvin

127

die Kirche, „quae respectu hominem ecclesia digitur", sind viele Heuchler gemischt, „die von Christus nichts haben als den Titel und den Anschein" 5 2 . Diese Unterscheidung meint Calvin der Heiligen Schrift entnehmen zu können. Weiter muß auf dieser Grundlage zwischen der Unsichtbarkeit und der Sichtbarkeit der Kirche unterschieden werden. Der coetus electorum ist nur für Gottes Augen wahrnehmbar, weil sein „Fundament ja seine (Gottes) verborgene Erwählung i s t " 5 3 . Die sichtbare Kirche ist die empirische Kirche, in der trotz vieler Heuchler und Unwürdiger Gottes Wort gepredigt wird, Gott und Christus verehrt werden, die Taufe geübt und in der Teilnahme am Abendmahl die Einheit im Glauben und der Liebe bekannt werden. Sie ist einhellig im Wort des Herrn und beachtet das zur Wortverkündigung von Christus eingesetzte A m t 5 4 . Diese sichtbare Seite der Kirche geschieht auf drei Ebenen gleicher Legitimation. Kirche ist erstens die universale Kirche, die aus allen Völkern versammelt ist, zweitens die Ortsgemeinde und drittens die einzelnen Menschen, „die aufgrund des Bekenntnisses der Frömmigkeit zu solchen Kirchen gerechnet werden" 5 5 . Diese sichtbare Kirche ist also überall dort, „ w o wir wahrnehmen, daß Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden" 5 6 . Dieser Dienst am

kenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, o. Jahrg., S. 161 f. D a s Motiv beherrscht auch noch das II. Vaticanum, obwohl mit Einschränkungen. Hier ( L G 2) ist die Kirche „ a b origine mundi praefigurata" in der Geschichte des Volkes Israel und im Alten Bund „mirabiliter praeparata". Sie ist in den letzten Zeiten „constituta" und durch die Ausgießung des Geistes „manifesta". Am Jüngsten T a g wird die Kirche „gloriose consummabitur" und ist erst dann „Ecclesia universalis". Vgl.

Rahner/Vorgrimler,

a . a . O . , S. 124. Calvins Ekklesiologie hat sich erst allmählich gebildet und seine Intentionen schwanken stark. Dies braucht uns aber nur am Rand zu interessieren. Wir verweisen auf A . G a n o s z y , Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, ö k u m e n i s c h e Forschungen, I. Ekkles. Abteilung Bd. III, 1968, S. 140ff. 52

Inst. IV, 1, 7; O S V, S. 12.

53

Inst. IV, 1, 2; C R 32, 564: élection éternelle, txt lat: arcana O S V, S. 4. Vgl. a. Inst.

54

Vgl. Inst. IV, 1, 7; O S V, S. 12. Vgl. Melanchthon Ex O r d . , C R 23, 37. Bei Calvin

IV, 1, 7. ist das A m t bei aller Hochschätzung keine nota geworden. 55

Inst. IV, 1, 9; O S V, S. 14.

56

Inst. IV, 1, 9; O S V, S. 13.

128

D i e evangelische „ T r a d i t i o n "

Wort in der sichtbaren Kirche ist wichtig für die dritte Unterscheidung, die zwischen wahrer und falscher Kirche. „Überall nämlich, wo dieser Dienst unversehrt und unverkürzt zutage tritt, da wird solche Kirche durch keinerlei Gebrechen oder Krankheiten des Lebenswandels daran gehindert, den N a m e n ,Kirche' zu tragen" 5 7 . Innerhalb der Ekklesiologie will Calvin also Kriterien erarbeiten, mit Hilfe derer man die wahre und die falsche Kirche voneinander unterscheiden kann, was besonders in der Auseinandersetzung mit der römischen Kirche wichtig ist. Denn gegenüber dem Anspruch der römischen Kirche, der sich auf dem Konzil von Trient in aller Schärfe gegen die reformatörischen Kirchen formulierte, muß Calvin nun darlegen, warum nach Meinung der Reformation die römisch-katholische Kirche die falsche Kirche ist, auch wenn sich in ihr durchaus noch Spuren der wahren Kirchen finden, und er muß deutlich machen, weshalb sich die reformatorischen Kirchen nicht als Abspaltung, sondern als Wiederherstellung der vera ecclesia verstehen 5 8 . Die Argumentationskette verläuft nun nicht so, daß der coetus electorum als die unsichtbare Kirche mit der wahren Kirche identifiziert und der sichtbaren Kirche gegenübergestellt wird, sondern auch die sichtbare Kirche ist dann die wahre, wenn in ihr die genannten Kennzeichen vorhanden sind. Dies gilt auch dann, wenn Wort und Sakrament von Unwürdigen gehört bzw. genossen werden, und selbst dann, wenn in der Verwaltung der Lehre und der Sakramente sich Fehler einschleichen 59 . Solange diese Fehler und Irrtümer nicht „die wesentlichste Lehre der Religion" verletzen und die „ H a u p t stücke der Gottesverehrung, über die unter allen Gläubigen Einstimmigkeit herrschen muß, nicht unterdrückt werden" 6 0 , so lange ist die sichtbare Kirche wahre Kirche. Calvin hält also unbedingt daran fest, daß es keine zwei Kirchen gibt. Diese Kirche ist in ihrer Unsichtbarkeit und in ihrer Sichtbarkeit zu glauben. N u n ergibt sich freilich aus diesem doppelten Bezug des Glaubens eine eminente Schwierigkeit. Glaube ist für Calvin primär Erkenntnis (cognitio) 6 1 .

57

Inst. I V , 2, 1; O S V , S. 30.

58

Vgl. O . W e b e r , D i e Einheit der K i r c h e bei C a l v i n , in: C a l v i n - S t u d i e n , h r s g . v. J . M o l t m a n n , 1959, S. 131.

59

Vgl. Inst. I V , 1, 12; O S V , S. 16.

60

Inst. I V , 2, 1; O S V , S. 31.

61

Inst. I I I , 2, 14; O S I V , S. 2 4 f . I m G e n f e r K a t e c h i s m u s v o n 1542 lautet die F r a g e 1 : „ Q u e l l e est la principale fin de la vie h u m a i n e ? L ' e n f a n t : C ' e s t de c o n g n o i s t r e D i e u " . W . N i e s e i , B e k e n n t n i s -

129

Calvin

U n d zwar erkennt der Glaubende den Willen Gottes, den dieser seinen Heiligen offenbaren wollte. Diese Erkenntnis übersteigt alles sonst übliche Begreifen und ist dennoch ein Wissen. Sein Spezifikum ist allerdings nicht so sehr das Begreifen, sondern die im Erkenntnisvorgang des Glaubens erlangte Gewißheit 5 2 . Wenn nun der Glaube als Erkenntnis den coetus electorum glaubt, so müßte er ihn eigentlich mit Gewißheit erkennen können. Dies lehnt Calvin jedoch ausdrücklich ab. D a nur Gott allein weiß, wer seine Auserwählten sind, können wir diese Versammlung der Auserwählten nicht erkennen: „ E r allein weiß, wer die Seinigen sind", und weil der coetus electorum unter der empirischen Kirche verborgen liegt, muß man Gott allein die Erkenntnis seiner Kirche überlassen 6 3 . Der coetus electorum hat also keine für Menschen erkennbaren notae. Wort und Sakrament werden daher von Calvin auch ausdrücklich auf die sichtbare Kirche bezogen 6 4 . Daraus folgt jedoch nicht, daß über den coetus electorum gar keine Aussagen zu machen sind. Denn Gottes Wort hat ja deutlich und ausdrücklich von ihm gesprochen. Wir müssen daher den Erkenntnischarakter des Glaubens noch einmal genauer bedenken. Der glaubende Erkenntnisvorgang wächst ja, wie wir gesehen haben, dadurch über das übliche Begreifen eines Sachverhalts hinaus, daß er im Vorgang seiner selbst zur intellektuellen wie existentiellen Gewißheit geführt wird. Die cognitio ist zutreffend also nur beschrieben als subjektive Aneignung des in der Offenbarung mitgeteilten „objektiven" Willens Gottes. Der Vorgang des zum Glauben Kommens vollzieht also eine Einheit von objektiver Feststellung — aufgrund von Aussagen der Schrift — und subjektiver Applikation dieser Aussagen auf den Glaubenden. Vermittlung von beiden geschieht in der Predigt. Daher hebt Calvin hervor, daß die Einsicht des Glaubens in der quasi „objektiven" Anerkenntnis, daß ein Gott ist, sich nicht erschöpft, sondern es sich bei ihr vornehmlich darum handelt, „daß wir begreifen, wie sein Wille S c h r i f t e n , 3. A u f l . o . J . S . 3. V g l . d i e F ü l l e a n d e r e r B e l e g s t e l l e n bei H . S c h ü t z e i c h e l , D i e G l a u b e n s t h e o l o g i e C a l v i n s , 1 9 7 2 , S . 130, A n m . 62

1+2.

Vgl. Inst. III, 2, 14; O S IV, S. 25.

63

I n s t . I V , 1, 2 ; O S V , S. 3 f .

64

V g l . I n s t . I V , 1, 7 ; 1, 8 ; 1, 9 ; O S V , S . 1 2 f f . F . W e n d e l , C a l v i n , 1 9 6 8 , S . 2 6 2 , m e i n t , W o r t u n d S a k r a m e n t seien d i e M e r k m a l e der

unsichtbaren

Kirche.

Dies

gilt a b e r

nur

im

mittelbaren

Sinn:

wo

diese

M e r k m a l e d e r s i c h t b a r e n K i r c h e s i n d , k ö n n e n w i r s i c h e r sein, d a ß d o r t a u c h d e r c o e t u s e l e c t o r u m v e r b o r g e n v e r s a m m e l t ist. M e h r ist a b e r nicht z u s a g e n u n d z u erkennen.

130

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

uns gegenüber beschaffen ist. Denn es liegt für uns nicht nur daran zu wissen, wer er in sich selber ist, sondern wie er sich uns gegenüber verhalten will" 6 5 . Daher umreißt Calvin vor der eigentlichen Definition den Glauben als „die aus dem Worte Gottes geschöpfte Erkenntnis des Willens Gottes uns gegenüber" 66 . Aber nicht jedes Wort Gottes weckt Glauben. Es gibt sogar Worte, die Flucht vor Gott bewirken. Man kann daher nicht einfach sagen, daß der Glaube den Willen Gottes in irgendwelcher Gestalt kennt. Der Glaube in der oben beschriebenen Form bezieht sich auf Christus und erkennt wesentlich die Barmherzigkeit und das Wohlwollen Gottes. Sein Wesen ist daher „die feste und gewisse Erkenntnis göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt w i r d " 6 7 .

Der Glaube, der die Kirche als den coetus electorum glaubt, richtet sich zwar nicht auf Gott und ist deshalb kein „Glaube an", hat aber die gleiche Struktur. Ihm genügt die bloße Erkenntnis, daß es eine solche Gruppe gibt, nicht, auch wenn Gottes Wort daran überhaupt keinen Zweifel läßt. Er hat so über die Kirche zu „sinnen", „daß wir wahrhaftig überzeugt sind, selbst in sie eingefügt zu sein" 6 8 . Indem der Glaubende von der Erkenntnis, daß es eine Schar der Auserwählten gibt, zur gewissen Erkenntnis, ein Glied dieser Gruppe zu sein, geführt wird, entdeckt er die Einheit und Katholizität dieser unsichtbaren Kirche. Indem der Gläubige in der zuversichtlichen Applikation des durch Gottes Offenbarung Erkannten auf sich Anteil an dem Erkannten erhält, stellt sich die Anteilgabe und Anteilnahme des Gläubigen an der vorgegebenen Einheit des Leibes Christi darin her, daß er über die Gewißheit der eigenen Zugehörigkeit zu diesem Leib zur Einheit der Kirche durchstößt. Alles vollzieht sich als Erkenntnis durch Einwirkung des Heiligen Geistes. Dieser Durchbruch des Glaubens von einer allgemeinen metaphysischen Wahrheit zur festen und unverlierbaren Gewißheit des Wohlwollens Gottes in Christus ist zugleich verbunden mit der Erkenntnis der Teilhabe am Leib Christi und damit ein Hineingenommensein in das Versöhnungswerk Gottes

65

Inst. I I I , 2, 6 ; O S V , S. 15; verhalten = esse.

66

ebd., Erkenntnis = notitia.

67

Inst. I I I , 2, 7; O S I V , S. 16, Erkenntnis = cognitio.

68

Inst. I V , 1, 2 vgl. a. 1, 3 ; O S V , S. 4.

Calvin

131

und Christi. Im glaubenden Erkennen erfaßt der Gläubige die Einheit und Katholizität der Versammlung der Erwählten Gottes. Daraus folgt jedoch, daß der Mensch sich nur dann als Glied dieser Gemeinschaft der Erwählten begreifen darf, wenn er untrüglich gewiß ist, daß er zur Schar der Erwählten Gottes gehört. Die ekklesiologischen Erwägungen Calvins ruhen auf dem Fundament der Prädestinationslehre. Die ewige Erwählung und Verwerfung durch Gottes Ratschluß und die Erkenntnis der Erwählung bilden den „Realgrund" der ganzen Überlegungen 69 .

69

Vgl. Inst. III, 2 1 , 1 ; O S IV, S. 370: „auf diesem G r u n d e (der den Gläubigen gewiß machenden Erwählungslehre) erhebt sich die Kirche", u n d Inst. IV, 1 , 2 : „ D a s F u n d a m e n t der Kirche ist Gottes verborgene E r w ä h l u n g " ( O S V, S. 4). Dies ist schon in der Institutio von 1543 ausdrücklich der Fall, gilt aber sachlich auch f ü r die erste Ausgabe von 1536 (Vgl. A. G a n o s z y , a . a . O . , S. 159f. u n d 355f.). Wir orientieren uns an der Institutio von 1559. In der Ausgabe von 1536 fehlte die Prädestinationslehre noch als spezielles Lehrstück, doch finden sich schon zahlreiche Motive. Freilich fehlt die doppelte Prädestination. Im G e n f e r Katechismus 1537 steht der Abschnitt über E r w ä h l u n g und Prädestination auffallend vor den Artikeln Glaube, Rechtfertigung, Buße etc. D e r ganze Abschnitt fehlt allerdings in der Ausgabe von 1542. In den folgenden Ausgaben der Institutio von 1 5 3 9 - 5 4 hat die Prädestinationslehre nicht m e h r einen so herausragenden Platz wie im ersten G e n f e r Katechismus, sondern sie wird z u s a m m e n mit der Providenz am E n d e der Heilslehre erörtert (zunächst im 8., seit 1543 im 14. Kapitel). In der Ausgabe von 1559 steht die Prädestinationslehre im III. Buch ( 2 1 - 2 4 ) u n d ist wieder von der Providenz gesondert. Die T r e n n u n g von Providenz u n d Prädestination

beruht auf dem Verständnis vom

unterschiedlichen

Wirken

des

Heiligen Geistes, der in verschiedener Relation zu Christus gedacht werden m u ß . „Weil es der G o t t der ewigen Sermo ist, der das H a n d e l n der

göttlichen

V o r s e h u n g zur W i r k u n g bringt, kann die Providenzlehre im Anschluß an die Trinitätslehre entwickelt w e r d e n ; weil es der Geist des Mittlers Jesus Christus ist, der G o t t e s Erwählungshandeln wirksam macht, m u ß die Prädestinationslehre den Abschluß der Christologie u n d Pneumatologie bilden" (W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 1957, S. 14). A u ß e r an dieser Stelle hat Calvin in mehreren Streitschriften gegen Bolsec, Pigge u n d vermutlich Castellio zur Lehre von der Prädestination Stellung g e n o m m e n . Z u m ganzen vgl. die immer noch ausgezeichnete Arbeit von H . O t t e n , Prädestination in Calvins theologischer Lehre, (1938), 2. Aufl. 1968, S. 16ff. Wir sehen in Calvins Prädestinationslehre eine wichtige G r u n d l a g e von Calvins Theologie. Speziell die Ekklesiologie ist o h n e sie nicht verständlich. O h n e Zweifel ist die Prädestinationslehre aber nicht das

132

Die evangelische „ T r a d i t i o n " D i e klassische Definition lautet: „ U n t e r V o r h e r b e s t i m m u n g verstehen wir G o t t e s ewige A n o r d n u n g , vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen M e n schen werden sollte. D e n n die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis v o r h e r z u g e o r d n e t " 7 0 .

Weil n u r diejenigen im Vollsinn des W o r t e s g l a u b e n k ö n n e n , die z u r Seligkeit prädestiniert sind71, k ö n n e n auch n u r diejenigen im strengen Sinn des W o r t e s die Kirche glauben, die selber erwählt sind. I n d e r E r k e n n t n i s d e r E r w ä h l u n g e r k e n n t s i c h d e r G l a u b e n d e als G l i e d d e r w a h r e n u n d e i n i g e n K i r c h e , w e i l G o t t s e i n e E r w ä h l t e n in C h r i s t u s

unter

sich v e r e i n t 7 2 . A u s dieser E i n h e i t m i t C h r i s t u s k a n n der w i r k l i c h E r w ä h l t e nicht m e h r h e r a u s f a l l e n , selbst w e n n er bisweilen v o n Z w e i f e l b e r ü h r t w i r d 7 3 . D i e E i n h e i t d e r K i r c h e ist a l s o n i c h t n u r in d e r E r w ä h l u n g b e r e i t s v o r g e g e b e n , s o n d e r n ist a u c h u n z e r s t ö r b a r . D i e E r w ä h l u n g w i r d in d e r

Weise

g e s t a l t h a f t , d a ß sie s i c h als e i n i g e G r u p p e u n t e r d e m H a u p t C h r i s t u s e r e i g n e t . E s w ä r e ja a u c h d e n k b a r g e w e s e n , d a ß d i e e r w ä h l t e n E i n z e l n e n

einzelne

Materialprinzip der Theologie Calvins. Dies ist sie erst bei Beza g e w o r d e n . Aber sie ist auch nicht so nebensächlich, wie W . Niesei, Die Theologie Calvins, 2. Überarb. A u f l . , 1957 nachzuweisen versucht. Wir gehen im Verständnis der Prädestinationslehre davon aus, daß sie keine Ableitung aus einer Idee ist, sondern n u r auf dem Boden von Calvins Frömmigkeit zu verstehen ist (vgl. H . O t t e n , a . a . O . , S. 2 8 f f . E b e n s o : W . van't Spijker, Prädestination bei Bucer u n d Calvin, in: Calvinus Theologus, hrsg. v. W . H . N e u s e r , 1976, S. 104ff.). A u s dieser Perspektive wäre eine U n t e r s u c h u n g hilfreich, die die Prädestinationslehre mit den Lebensumständen u n d Lebenserfahrungen Calvins in Beziehung setzt. Bei der A u s d e u t u n g seiner Frömmigkeit hat sich Calvin in jedem Fall nicht n u r auf die Schrift, s o n d e r n auch auf Spekulationen verlassen (So auch O . W e b e r , R G G 3 , I. Sp. 1596; gegen W . Niesei, a . a . O . , S. 162ff.). Z w a r warnt er vor Spekulationen, die sich unkontrolliert mit der Materie beschäftigen wollen, denn man rühre in dieser Frage an göttliche Geheimnisse. Menschen sollten nicht in die göttlichen Geheimnisse

eindringen

wollen,

wenn

sie

verborgen

bleiben

sollen.

Die

Geheimnisse, von denen G o t t wollte, daß wir sie erfahren sollten, „die hat er uns durch sein W o r t vor Augen gestellt" (Inst. II, 21, 1). Daraus schließt Niesei, hiermit sei jede Spekulation abgewehrt. Es ist jedoch ein unerlaubter Barthianismus, vorauszusetzen, die Schrift k ö n n e nicht spekulieren. A u ß e r d e m wird vergessen, daß eine jahrhundertelange Auslegungstradition unwiderlegbar beweist, wie hervorragend mit der Schrift u n d über sie spekuliert w e r d e n k a n n .

Calvin

133

bleiben. So ist die glaubende Erkenntnis des einigen Leibes Christi gebunden an die Erwählung und umgekehrt. Jedoch ist die Erkenntnis der Zugehörigkeit zu diesem Leib stets a posteriori. In ihr wird dem Glauben nur bewußt, w a s schon längst bei Gott beschlossen ist. N u n lehrt freilich die Erfahrung Calvins, die er an der Heiligen Schrift verifizieren kann, daß es auch falsche Gewißheit des Glaubens gibt, deren Empfindungen und Selbsteinschätzungen dem wahren Glauben zum Verwechseln ähnlich sind. Solche nur scheinbar Glaubenden finden sich natürlich auch zum großen Teil in der sichtbaren Kirche. Die sichtbare Kirche ist also nicht nur deshalb ein corpus permixtum, weil die Erwählten auch noch Sünder sind, sondern weil die A u s w i r k u n g e n der ewigen Prädestination Gottes quer durch die Kirche gehen. Die sichtbare Kirche ist nicht nur der R a u m der Erwählung, sondern auch der R a u m der Verwerfung. W e n n es sich aber so verhält, „daß die Verworfenen zuweilen fast von der gleichen inneren Regung erfaßt werden wie die Erwählten, so, daß sie sich auch nach ihrem eigenen Urteil in nichts von den Erwählten unterscheiden" 7 4 , dann m u ß der Glaubende trotz aller „ G e w i ß h e i t " ständig sich seiner Erwählung neu vergewissern. Es könnte ja sein, daß er sich getäuscht hat. Daher „ w e r d e n die Gläubigen gemahnt, sich gründlich und demütig selbst zu prüfen, damit nicht etwa anstelle der Gewißheit des Glaubens die fleischliche Sicherheit in ihnen a u f k o m m e . " 7 5 Der sich über seine Vollkommenheit prüfende Glaube kann sich an verschiedenen „signa posteriora" ein Höchstmaß an Gewißheit seiner Erwählung verschaffen. Solche Merkzeichen sind Berufung und Rechtfertigung 7 6 und bis zu einem gewissen Grade die Früchte der Berufung und die guten W e r k e 7 7 . Freilich ist der Gewißheitsgrad dieses ordo salutis 70 71 72 73 74 75 76 77

10

Inst. III, 21, 5; OS IV, S. 374. CR 32, 23: „prédestinez à salut". Vgl. Inst. III, 22, 7; OS IV, S. 387f. Vgl. Inst. III, 21, 7; OS IV, S. 377. Inst. III, 2,11; OS IV, S. 20. ebd.; OS IV, S. 21. Vgl. Inst. III, 21, 7; OS IV, S. 379. Vgl. Inst. III, 14, 19 bzw. 20; OS IV, S. 237f. Die Früchte des Glaubens sind natürlich nicht der Grund der Erwählung. Dann hätte Calvin die reformatorische Rechtfertigungslehre gesprengt. So aber hat er dies auch damit vermieden, daß er Prädestination nicht im Zusammenhang mit Gottes Vorherwissen aufgefaßt hat. Sieht man auf die Früchte des Glaubens im Hinblick auf die noch zu geschehende Rechtfertigung, pervertiert man auch nach Calvin den Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

134

Die evangelische „Tradition"

durch das schon angesprochene Ereignis des Abfalls und des unechten Glaubens eingeschränkt, denn diese Signa können zeitweise auch dem N i c h t erwählten zugesprochen werden. Volle Gewißheit über die Erwählung ist nur dort zu gewinnen, w o G o t t seinen geheimen Ratschluß in seiner Offenbarung kundgetan hat: in seinem ewigen W o r t 7 8 . Dieses ewige W o r t v o m Versöhnungswillen Gottes ist in Christus Fleisch geworden, und dieser will Glauben und raubt Gott die Ehre. Das heißt freilich nicht, daß die Werke der zum Glauben gekommenen Erwählten dem Erwählten noch einmal — neben dem Glauben als glaubende Erkenntnis von Gottes unverdientem Wohlwollen und der Perseveranz — seine Erwählung bestätigen. In diesem Sinn ist dann auch sinnvoll von einem Syllogismus practicus zu sprechen. Der Schluß von den Werken auf die Erwählung bedeutet ja nicht, daß durch die Werke die Erwählung verdient werden könnte. Er bedeutet auch nicht, daß ein nicht Glaubender mit Blick auf seine Werke sagen könnte, er sei trotz allem erwählt. Sondern der bereits Glaubende findet die Gewißheit daß er wirklich glaubt — das heißt zugleich ja auch: erwählt ist, sonst könnte er das ja gar nicht — daran, daß sein Glaube Früchte bringt. Diese Unterscheidung hat W. Niesei konsequent nicht sehen wollen, a. a. O . , S. 174ff. Freilich gehören die Früchte des Glaubens bei Calvin zu den ,,signa posteriora", die ziemlich unsicher sind. Außerdem ist Max Webers These noch nicht dadurch erledigt, daß man nachweist, bei Calvin gebe es keinen Syllogismus practicus. M. Weber spricht ja ausdrücklich vom Calvinismus und das ist ja durchaus etwas anderes. Eine umfassende Kritik der Weberschen These findet sich bei G. Schmidtchen, Protestanten und Katholiken 1973, der versucht, „die Motivstruktur des Protestanten unabhängig von den Kategorien Zweck und Mittel zu analysieren", S. 506. Denn diesem utilitaristischen Axiom ist Webers Analyse verhaftet. Schmidtchen erledigt endgültig auch die von Weber und Troeltsch vertretene Behauptung, das Luthertum habe infolge seiner Gnadenlehre keine methodische Lebensführung hervorgebracht (M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Ges. Aufs, zur Religionssoziologie Bd I, 5. photomech. gedr. Aufl., 1963, S. 17—206, bzw. E. Troeltsch, Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, S. 512—605). Schmidtchen beschreibt auch treffend die Folgen einer calvinistischen Gnadenlehre, die Calvin gerade nicht wollte: „Eine nach heutigem Empfinden geradezu zwangsneurotische Gnadenlehre des Calvinismus, die schicksalhafte Erwählung durch Gottes unerforschlichen Ratschluß und die Vorstellung, das Leben in der Gesellschaft könnte die Chiffre für den Gnadenstand enthalten, macht aus jedem Gläubigen einen Sisyphus des richtigen Lebens, kontrolliert, methodisch arbeitend, asketische Regeln befolgend, als technische Mittel, nicht: die Seligkeit zu erkaufen, sondern: die Angst um die Seligkeit loszuwerden", a . a . O . , S. 510. 78

Inst. III, 24, 3 + 4; OS IV, S. 4 1 3 - 4 1 5 .

135

Calvin

uns der Erwählung und des Heils gewiß machen. Daher „ist das rechte Fragen nach dem Erwähltsein identisch mit der Frage nach der Zugehörigkeit zu Christus 7 9 " und ist damit auch eine ekklesiologische Frage. Die Frage nach der Heilsgewißheit ist daher sicher nur im Blick auf Christus zu beantworten. Christus aber begegnet uns in Wort und Sakrament, also nur darin, was als Kennzeichen der sichtbaren Kirche gilt. Somit ist die Frage nach der Heilsgewißheit nicht nur identisch mit der Frage nach der Erwählungsgewißheit, sondern auch eine Frage nach dem Ort dieser Gewißheit. Dieser ist die unsichtbare wie die sichtbare Kirche. Deshalb sind beide wahre Kirche. Sie sind sozusagen zwei Perspektiven der einen, wahren Kirche. Weil der Glaubende in der Frage nach der Gewißheit des Heils an Christus und damit an die Kirche verwiesen ist, erscheint im Raum der Kirche die von Christi Wirksamkeit und der Treue Gottes zu seinen Verheißungen abgeleitete Wirksamkeit der Perseveranz. Sie ist der Höhepunkt der Prädestinationslehre 80 . In der Bewahrung des Glaubens bis ans Ende erfährt der Glaubende das letzte und unüberbietbare „Kennzeichen" seiner Erwählung. Diese Erfahrung ist freilich Glaubenserfahrung und kommt dem Glaubenden nicht auf Grund seiner menschlichen Bedingungen und Erkenntnisfähigkeiten zu. Sie und ihre Begründung liegt ganz außerhalb menschlicher Möglichkeiten 81 . Die Verheißung zielt aber bis ans Ende der Welt. Damit übersteigt sie auch empirisch alles, was der Mensch hier und jetzt je erfahren kann. Sie ereignet sich und gewinnt vorläufige Gestalt im Raum der Kirche, in der Wort und Sakrament dem Gläubigen die Ständigkeit im Glauben ermöglichen. Sie sind die Mittel, mit denen Gott seine Schar bewahrt 82 . Die Kennzeichen der sichtbaren Kirche sind unter dem Aspekt der Perseveranz Wirkungen der Treue Gottes und zugleich des dreifachen Amtes Christi. In ihnen wird dem Glaubenden die Verheißung der Treue bis ans Ende immer wieder appliziert und verheißen. Damit beginnt das Ende schon jetzt in der Geschichte der gnä-

79

H . O t t e n , a . a . O . , S. 57.

80

J. Moltmann,

E r w ä h l u n g u n d B e h a r r u n g der G l ä u b i g e n ,

In:

Calvin-Studien,

a . a . O . , S. 50. 81

H . O t t e n , a . a . O . , S. 6 3 f f . : ] . M o l t m a n n , Prädestination u n d P e r s e v e r a n z , 1961, S. 4 9 : D i e Verheißung der P e r s e v e r a n z ist für den G l a u b e n kein „ E r f a h r u n g s s a t z , aus d e m der G l a u b e n d e G e w i ß h e i t s c h ö p f t , s o n d e r n ein G l a u b e n s s a t z , mit d e m er Erfahrungen macht und Anfechtungen überwindet".

82

10*

V g l . Inst. I V , 1 , 1 und die Ü b e r s c h r i f t des ganzen B u c h s I V ; O S V , S. 1.

136

Die evangelische „ T r a d i t i o n "

digen Bewahrung des Glaubenden. Zugleich wird in der Verheißung der Kontinuität dieser Bewahrung über die irdische Geschichte des Menschen hinaus alles Empirische transzendiert. Insofern die Kirche als Mittel der Perseveranz erkannt wird, wird sie Inhalt des Glaubens. Der Glaube, der die sichtbare Kirche glaubt, hat im wesentlichen den Charakter des Glaubens an die Verheißungen Gottes. Calvin unterscheidet den unsichtbaren numerus electorum und die Kirche ,,quae respectu hominem ecclesia digitur". Beide sind wahre Kirche. Die Einheit, Katholizität und Heiligkeit der Kirche ordnet er nach unseren Ergebnissen der unsichtbaren Kirche zu. Allerdings sind diese Bestimmungen rein attributiv. Aus christologischen und heilsökonomischen Gründen gehören diese Attribute zur Kirche. Dieser numerus electorum kann vom Menschen überhaupt nicht erkannt werden, das steht Gott allein zu. Dem Glaubenden wird allerdings das Vorhandensein dieser Versammlung der Erwählten zur unbezweifelbaren Gewißheit, wenn er im Vorgang des Zum-GlaubenKommens sich selber als Erwählten erkennt und den in Gottes Wort offenbarten Willen gläubig erkennt und auf sich appliziert. Dieses Zum-GlaubenKommen ist Werk des Heiligen Geistes und vollzieht sich im Blick auf Christus. Da Christus nur in Wort und Sakrament wirkt und nur darin der Geist offenbart wird und die Gläubigen geführt werden, vollzieht sich das Zum-Glauben-Kommen im Raum der sichtbaren Gemeinde. Diese ist unsere Mutter, und außerhalb ihrer gibt es kein Heil 8 3 . In ihr vollzieht sich die allgemeine Berufung, und sie kann an Wort und Sakrament sicher erkannt werden. Sie ist aber, weil die Scheidelinie zwischen denen, die zum Heil, und denen, die zum Verderben erwählt worden sind, durch ihre Mitte verläuft, corpus permixtum. Nicht alle ihre Glieder sind zum Heil erwählt und werden es erlangen. Dennoch ist auch die sichtbare Kirche für Calvin die wahre Kirche. Die Unterscheidung der beiden Perspektiven von Kirche wird im Begriff der wahren Kirche auf eine vorgängige Einheit zurückgenommen. Diese Einheit ist theologisch der Erlösungswille Gottes, der in Christus als reine Gnade verheißen worden ist und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart wird. Erkenntnistheoretisch ist die Einheit der beiden Perspektiven von Kirche im Begriff der wahren Kirche die Wirkung des Glaubens. Er glaubt sowohl die sichtbare wie die unsichtbare Kirche. Und er trifft die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Kirche nicht so, daß die 83

Vgl. Inst. IV, 1, 4; O S V, S. 7.

Calvin

137

u n s i c h t b a r e die w a h r e u n d die sichtbare die falsche sei. A l l e r d i n g s k a n n die u n s i c h t b a r e nie die falsche s e i n 8 4 . A n s c h e i n e n d m u ß also der Begriff des G l a u b e n s b e z ü g l i c h der K i r c h e differenziert w e r d e n , u m e r k e n n e n z u k ö n n e n , weshalb C a l v i n die L e h r e v o n den n o t a e ecclesiae so charakteristisch v e r ä n d e r t hat. Z u n ä c h s t ist der G l a u b e ,

w i e w i r gesehen h a b e n ,

nur dann

wirklich

G l a u b e , w e n n v o n ihm gesagt w e r d e n k a n n : „ E r ist die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotene Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt w i r d " 8 5 . D e r G l a u b e w i r d also trinitarisch gefaßt, w o b e i in C h r i s t u s die E r w ä h l u n g , die ewige E r w ä h l u n g des V a t e r s , aufleuchtet, die uns z u m H e i l g e s c h e h e n

84

Hier beginnen allerdings große Verstehensprobleme. W . Niesei ( a . a . O . , S. 192) hat die unsichtbare wahre Kirche noch einmal kritisch gegen die sichtbare wahre Kirche abgesetzt. Er verschweigt allerdings, worin denn die Kritik der unsichtbaren an der wahren bestehen könnte. Sie kann ja nicht die Wahrheit der sichtbaren Kirche bestreiten, denn die ist ja immer dann wahre Kirche, wenn Wort und Sakrament sich in ihrer Mitte ereignen. Dann aber ist die unsichtbare Kirche auch anwesend. Die wahre Kirche kann auch nicht kritisieren, daß in der sichtbaren Kirche Heuchler sind oder Nichterwählte. Das wäre blanker Hohn über das Schicksal der Verworfenen. W . Krusche, a. a. O . , S. 315 f., hat versucht, das Problem durch einen Wechsel der Perspektive zu klären. Wenn Calvin die „wahre" = sichtbare Kirche beschreibe, dann gehe er immer von den notae aus. Er könne allerdings die sichtbare Kirche auch aus der Perspektive der Menschen beschreiben, die sich in ihr um Wort und Sakrament versammeln. Für diese Perspektive vermeide Calvin, von der „ w a h r e n " Kirche zu sprechen. Wir meinen, das Problem ließe sich mit Hilfe des von Krusche entwickelten Schemas der konzentrischen Kreise lösen. Die wahre = sichtbare Kirche verdankt ihre Wahrheit der wahren unsichtbaren Kirche, die sie in ihrer Mitte umschließt. So enthält die wahre = sichtbare Kirche auch Heuchler, die nicht zur wahren = unsichtbaren Kirche gehören. Aber davon wird ihre Wahrheit nicht tangiert, weil sie geglaubte Kirche ist. Die sichtbare Kirche kann pervertieren, beispielsweise durch den Verfall von Wort und Sakrament. Sie ist dann aber nicht mehr die wahre Kirche. Die wahre = unsichtbare Kirche kennt dagegen keine Perversionen ihrer selbst.

85

Inst. I I I , 2, 7; O S IV, S. 16, vgl. Anm. 17.

138

D i e evangelische „ T r a d i t i o n "

ist. Das Wesen des Glaubens ist Erkenntnis. In ihr erfaßt er die ewige Erwählung nicht nur als Glaubenssatz (das ist er auch, insofern der gerettete Glaube auch die Erwählung zum Verderben „glaubt"), sondern er erfaßt die ewige Erwählung, indem er sich selbst in die Wirkungen des göttlichen Gnadenwillens hineingenommen weiß. Das heißt, so wie der Begriff nur auf dem Hintergrund der Prädestination erörtert werden kann, so kann die Ekklesiologie nur auf der Grundlage der Prädestination erörtert werden, wenn es um die Kirche als Glaubensinhalt geht. Der Glaube ist geschenkter Glaube und erkennt sich im Vollzug seiner selbst als Glied einer Versammlung von Gläubigen, insofern er im Vorgang des Gläubigwerdens in den Leib Christi hineingeordnet wird. Damit bezieht er sich allerdings auf etwas, was nur für Gottes Augen erkennbar ist. Der Glaube, der wesentlich cognitio, Erkenntnis, ist, stößt also dann, wenn es um das Die-Kirche-Glauben geht, an eine Grenze. Erstens weiß auch der Erwählte, der sich selbst als Glied am Leibe Christi weiß, damit noch nicht, wer außer ihm noch erwählt ist. Er weiß wohl, daß es eine Schar der Erwählten gibt, in die er hineingekommen ist, er weiß aber nicht, wer dazugehört. Dies weiß nur Gott allein. Deshalb ist die Versammlung der Erwählten prinzipiell unerkennbar. Sie ist nur in der Weise glaubbar, daß dem Gläubigen Gott in seiner gnädigen Offenbarung versichert, daß er sein Erlösungswerk nicht für einzelne, sondern für eine Gemeinschaft vollbringt. Immerhin ist der Glaube, der die Kirche glaubt, noch Erkenntnis, denn ihm wird von Gottes Wort und Gottes Geist die Erkenntnis geschenkt, daß es eine solche Gemeinschaft gibt und er Glied dieser ihm allerdings verborgen bleibenden Gemeinschaft ist. Solcher erkennende Glaube gilt allerdings nur noch bedingt bezüglich der sichtbaren Kirche. Auch hier erkennt der Glaube nicht, wer erwählt ist oder nicht. Calvin sagt, daß hier auch das Urteil des Glaubens, der Erwählung erkennen will, nicht gilt, sondern das Urteil der Liebe: „ D a n a c h sollen wir die Menschen als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten den gleichen G o t t und Christus bekennen"86.

Die sichtbare Kiche ist also nicht in der Weise zu glauben, daß wir in ihr eine Scheidung zwischen Erwählten und Nichterwählten erkennen. Vielmehr erscheint in theologischem Gewand der alte Rechtsgrundsatz „in dubio

86

Inst. I V , 1, 8 ; O S V , S. 13.

Calvin

139

pro r e o " . Die Liebe tritt ein, wo dem Glauben seine Erkenntnisfähigkeit verwehrt ist. Ist das Urteil über andere dem Glauben nicht möglich, muß er es dem Urteil der Liebe überlassen, wo er Glieder der Kirche erkennt, so fragt es sich, in welcher Weise die sichtbare Kirche zu glauben ist. An sie ist ja nicht mehr in dem Sinne zu glauben, daß ich ihr Glied bin, denn sie ist ein corpus permixtum, und die Gliedschaft allein sagt noch nichts aus über mein Erwähltsein. Umgekehrt gibt es im Neuen Bund keine Erwählung außerhalb der Kirche. Der Glaube, der sich auf die sichtbare Kirche richtet, muß sich also vom Glauben, der sich auf die unsichtbare Kirche richtet, unterscheiden. Die Frage löst sich dann, wenn man die Prädestination, die ja der „Realg r u n d " der Ekklesiologie war, zusammensieht mit der Perseveranz. Auch der Prädestinierte fragt sich, ob es Kriterien für seine Erwählung gibt, weil die Schrift und die Erfahrung lehren, daß es auch falsche Sicherheit geben kann, die alle inneren Anzeichen eines wahren Glaubens annehmen kann. Die signa posteriora, Berufung, Rechtfertigung und Heiligung sind aus sich heraus nicht kräftig genug, die Erwählung unbezweifelbar zu machen. Jedoch verweisen sie auf den Ort, in dem nach Gottes Willen Gewißheit zu erlangen ist: auf die Kirche als den Leib Christi. Nach Gottes unerforschlichem Willen hat er uns die Kirche als Hilfsmittel zu unserem Heil gegeben, in der der Heilige Geist in Wort und Sakrament wirkt, um Glauben zu erwecken und ihn zu erhalten. Die Kirche ist also in ihrer Predigt der Vollzug der Manifestation der göttlichen Gnadenwahl, insofern die Predigt die Menschen zum Glauben führt und in der Perseveranz erhält 8 7 . In der Perseveranz jedoch findet der Gläubige die höchste und unüberbietbare Stütze seiner Gewißheit, und erst von hier aus gewinnen dann die signa posteriora wirkliche theologische Bedeutung. Die sichtbare Kirche ist also nicht nur notwendig, um zum Glauben zu kommen, sondern sie ist ebenso nötig zur Stütze der Gewißheit des Glaubenden. Sie ist der Ort, in der die signa posteriora erfahren werden und die Perseveranz ihre gültigste Wirkung hat. Deshalb erkennt man sie an Wort und Sakrament und dem rechten Hören 8 8 . Wenn aber Wort und Sakrament Glauben wecken und Glauben erhalten, so sind sie

87

Vgl. H . O t t e n , a . a . O . , S. 63 unter V e r w e i s auf C R 30, 709 = O S IV 407, 2 4 : „ C u r s u m igitur s a n u m habeat praedicatio, q u a e a d d u c a t h o m i n e s ad f i n e m , et c o n t i n u o p r o f e c t u r in perseverantia c o n t i n e a t " ; vgl. a. Inst. III, 2, 11 u n d Inst. II, 24, 6.

88

D a s „ r e c h t e H ö r e n " unterscheidet C a l v i n s notae v o n der C A .

140

Die evangelische „Tradition"

nur Mittel, die ursprüngliche Erwählung aktuell werden zu lassen. Ihre Wirkung ist die Erkenntnis eines bereits vergangenen Vorgangs, nämlich der Erwählung, und. nur von dort her haben sie ihre Kraft. In ihrem Vollzug wiederholt sich die Erkenntnis von diesem ewigen Ereignis des verborgenen Ratschlusses Gottes. Nun eignet der Perseveranz Verheißungscharakter, weil Gott den Seinen die Bewahrung bis ans Ende verheißt. Damit wird jedoch alle Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit transzendiert, und der Glaube wie der Glaubende werden eschatologisch qualifiziert. So wird die sichtbare Kirche als Mittel und Ort von Prädestination und Perseveranz Teil des Glaubensbekenntnisses und also ein Glaubenssatz, mit dem der Glaubende Erfahrungen macht und Anfechtungen überwindet, wie Prädestination und Perseveranz selber 8 9 . Das aber heißt, daß der Glaube, der sich auf die sichtbare Kirche richtet, wesentlich Fiducialglaube ist. Was er „erkennt", hat er nur als Verheißung. Einer Verheißung kann man trauen oder nicht. Ihr glauben ist dann: „auf keinerlei Weise daran zweifeln" 9 0 . Jetzt aber nicht mehr im Modus des Wissens, sondern im Modus der Hoffnung, die dann freilich auch eine gewisse Zuversicht ist. Der Glaube, der die sichtbare Kirche glaubt, ist wesentlich und primär Vertrauen. Bei Calvin sind die Überlegungen zu den notae ecclesiae nicht nur eindeutig in den Bereich der sichtbaren Kirche verlagert, sondern sie ersetzen geradezu als für jedermann sichtbare Zeichen die klassischen katholischen notae, die ja eindeutig auf die sichtbare Kirche bezogen waren. Der Zusammenhang zwischen den klassischen und den reformatorischen notae ist nicht mehr so wie noch bei Luther, daß man die neuen notae als Interpretationen der alten oder einer alten nota verstehen konnte. Die klassischen Kennzeichen werden im Gegenteil in den Bereich und den Zusammenhang der unsichtbaren, unerkennbaren Kirche verschoben und legen so jede Signifikanz ab.

6. DIE R E F O R M I E R T E N B E K E N N T N I S S C H R I F T E N

Die reformierte Theologie nahm bezüglich der Kennzeichen der Kirche einen ähnlichen Fortgang wie die lutherische. Die klassischen Attribute wer69 90

So sagt dies J . Moltmann, a. a. O . , S. 49, freilich nur von der Perseveranz. Inst. IV, 1. 9; OS V, S. 13.

D i e reformierten Bekenntnisschriften

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den ebenso selbstverständlich betont wie ihres Charakters als Kennzeichen entkleidet. Uneingeschränkt wird die Einheit der Kirche verteidigt und gegen alle feindlichen Lager an ihr festgehalten. Gott hat die Christen zu einer Gnade berufen, und ihr Glaube bezieht sich auf ihn als den einen Gott und Vater. Die äußere Einheit tritt so notwendig hinter der Einheit des Glaubens zurück, mit der die Einheit der Kirche gegeben ist: „Sita est illa (unitas, d. Verf.) non in caeremoniis et ritibus externis, sed magis in veritate et unitate fidei catholicae" 9 1 . Der katholische Glaube „non est nobis tradita humanis legibus, sed scriptura divina, cuius compendium est symbolum apostolicum" 9 2 . Das apostolische Symbol ist als knappe Zusammenfassung der göttlichen Heiligen Schrift zu verstehen und verdankt diesem Umstand seine Autorität. Deshalb ist es eine zutreffende theoretische Beschreibung des christlichen Glaubens und in dieser Funktion gleichsam eine „Basisformel" für die lehrhafte Einheit der Kirche. Der darin zusammengefaßte katholische Glaube gibt sich aber nicht nur lehrhafte Gestalt, er lebt auch vom gepredigten Wort und den Sakramenten. Daher muß die Einheit der Kirche, die nur an diesem Glauben hängt, unterfangen sein von der Einmütigkeit (concordia) „in dogmatibus . . . et in vera concordique praedicatione evangelii Christi, et in ritibus a Domino diserte traditis" 9 3 . Diesem Glauben gemäß ist die Kirche heilig und infallibel, allgemein und unvergänglich 94 . Jedoch sind diese Bestimmungen keine notae oder signa der Kirche mehr, so wichtig sie auch sein mögen. Sie beziehen sich nämlich auf die Kirche im strikten Sinn und daher auch nur indirekt auf die sichtbare Kirche. Mit ihrer Hilfe kann nicht mehr zwischen wahrer und falscher sichtbarer Kirche unterschieden werden, weil Einheit ein theologisch qualifizierter Begriff sein muß und sich eben nicht zureichend als äußere Einheit beschreiben läßt. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Aussagen, deren Sinn erst von einer anderen theologischen Qualifikation der Kirche her erschlossen werden kann. Kirche ist sicher nur da, wo innerhalb der sichtbaren Kirche das Wort Gottes lauter

91

C o n f . Helv. I I , 1566, in: W . Niesei, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes W o r t reformierten Kirche, 3. Aufl. o. J . , S. 2 5 2 f . Vgl. a. Jean B o s c , Die Katholizität der Kirche, in: Katholizität und Apostolizität, Beiheft zu K u D 2, 1971, S. 2 2 f f .

92

a . a . O . , S. 253.

93

a . a . O . , S. 253.

94

H e p p e / B i z e r , Die D o g m a t i k der evangelisch-reformierten Kirche, S. 5 2 6 f f . , Belegstellen S. 5 3 4 f f .

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Die evangelische „Tradition"

verkündet wird, die Sakramente stiftungsgemäß gebraucht werden und — nicht in allen reformierten Kirchen — die christliche L e b e n s z u c h t geübt w i r d 9 5 . D a wir also keine neuen Entwicklungen gegenüber den anderen reformatorischen vor uns haben, k ö n n e n wir uns mit diesen wenigen W o r t e n begnügen.

Z W I S C H E N E R G E B N I S II N a c h A b s c h l u ß der neutestamentlichen und reformationsgeschichtlichen Studien wollen wir zusammentragen, was sich für unsere Fragestellung ergeben hat, und setzen dabei das Zwischenergebnis I voraus. Insgesamt zeigte sich der christliche G l a u b e in seinem Bestand nicht von Anfang an fest, sondern durch die Zeiten hindurch verändernd und veränderbar. D e m G l a u ben sind die Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der K i r c h e als zu glaubende, nähere Bestimmungen der Kirche und endlich als ihre notae erst nach und nach zugewachsen. A u c h auf derjenigen Stufe seiner E n t w i c k lung, auf der der G l a u b e sich nocht nicht zu großen, bindenden Summarien seiner Inhalte gezwungen sah, ist er offenbar sachlich mit den T h e m e n befaßt, die sich später zu den Bestimmungen von 381 verdichten. W a s wir im Zwischenergebnis I und im A n s c h l u ß an die E r ö r t e r u n g e n z u m Frühkatholizismus als Teilverifikation der H y p o t h e s e festgestellt haben, gilt nun ähnlich für die Analyse des reformationsgeschichtlichen Materials. D e r prozeßhafte G l a u b e verfährt im polemischen Streit mit anderen G r u n d verständnissen des Glaubens u m die rechte Aneignung des Glaubens und seiner Traditionen nach dem gleichen M u s t e r : aus dem jeweils gelebten und begriffenen Glauben werden die Glaubensstücke begründet. Natürlich sieht

95

Vgl. Heppe/Bizer, a . a . O . , S. 528. Zur Kirchenzucht vgl. P. Jacobs, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, 1959, S. 104: „ D a s nur gelegentlich an dritter Stelle genannte Kennzeichen der Kirchenordnung und -zucht gehört zur Tatsache der Sichtbarkeit der Kirche und ist als solches von grundsätzlicher Bedeutung, wird aber nicht als ein selbständiges Kennzeichen neben anderen vertreten". Calvin hat die Kirchenzucht nicht als nota bezeichnet. Andere Kirchenordnungen nennen sie allerdings ausdrücklich, z . B . Confession of faith, 1560, Niesei, a . a . O . , S. 102; Ecclesiarum Belgicarum Confessio 1561, a . a . O . , S. 131. Weitere Belege Heppe/ Bizer, a . a . O . , S. 541 f. Sie fehlt in Conf. Helv. II, a . a . O . , S. 251. Zum Gesamtzusammenhang vergleiche B . Gassmann, Ecclesia reformata, Die Kirche in den reformierten Bekenntnisschriften, 1968.

Zwischenergebnis II

143

sich der Glaube der Reformatoren in exklusiver Weise auf die Schrift bezogen. Aber Schriftgemäßheit ist keine positivistische Beziehung auf den „Buchstaben", sondern das lebendige Wort Gottes. Daher verändert die Reformation den dogmatischen Stellenwert der überlieferten notae. Sie werden zu Attributen. Der Glaube sieht sich in veränderter Situation und Problemlage in bezug auf das Wort Gottes zur Ausbildung neuer Kennzeichen gezwungen, ohne die durch die vier Attribute gekennzeichneten Problemfelder und näheren Bestimmungen der Kirche vernachlässigen zu können. Dabei ist vor allem Luther ein schönes Beispiel für die Art und Weise, wie der Glaube verfahren ist. Durch das neue Glaubensverständnis der radikalisierten Rechtfertigung tritt die Heiligkeit in der kontroverstheologischen Diskussion in den Vordergrund des ekklesiologischen Disputes. Auf der nota der Überlieferungen als thematischem Rahmen bildet er neue Kennzeichen, zu denen auch die beiden gehören, die von der noch „vorkonfessionellen" C A (Grane) als Kennzeichen für die evangelische Partei vorgeschlagen worden sind. Aber auch die Täufer bilden ihre notae im kritischen Anschluß an ihre historische Wurzeln. Sie verändern sie gegenüber ihrer reformatorischen Herkunft inhaltlich, insofern sie Taufe ausschließlich als Erwachsenentaufe verstehen und von der Theologie der Absonderung her das Motiv der Heiligkeit zur strengen Kirchenzucht radikalisieren. So übersetzen sie die Attribute der Einheit und Heiligkeit in Funktionalitäten, von denen sich die Attribute der Gemeinde ableiten lassen. Ihr Glaubensverständnis betont noch stärker als Luther das einzelne glaubende Subjekt. Von dessen Heiligkeit ist die Heiligkeit der Gemeinde abzuleiten. Die Gemeinde tritt gegenüber dem einzelnen und seiner methodischen Lebensführung zurück. Gegenüber Luther, der die Heiligkeit aus dem forensischen Rechtfertigungsverständnis als Urteil Gottes verstand (der Mensch ist heilig, weil Gott ihn für heilig erachtet), funktionalisieren die Täufer den Begriff und geraten so — wenigstens für Luther — trotz gemeinsamer Entontologisierung theologischen Denkens in die Nähe zum bekämpften Verständnis des Gesetzes als Heilsweg. Für sie sind die Kennzeichen und die alten Attribute prinzipiell sichtbar, weil der Glaube sichtbar ist. Calvin schließlich geht auf die Problematik von sichtbarer und unsichtbarer Kirche so intensiv ein, weil er wegen seines Glaubensverständnisses und der zentralen Funktion der Prädestination dazu gezwungen ist. Die sichtbare Kirche nur kann Kennzeichen haben. Der verborgene coetus electorum ist schlechthin nur für Gott erkennbar, aber mit Sicherheit im Raum

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Die evangelische „Tradition"

der sichtbaren Kirche vermutbar, die da ist, w o W o r t und Sakrament in der rechten Weise sich ereignen. Sowohl die sichtbare wie die unsichtbare Kirche sind zu glauben. Calvins Glaubensverständnis verlangt aber einen radikalen Bruch mit der katholischen Tradition. D e n n bei ihnen konkurrieren die konfessionellen notae miteinander, weil sie sich auf die sichtbare Kirche beziehen. So zeigt sich am reformationsgeschichtlichen Material, das anders als das N e u e Testament die 4 klassischen Kennzeichen zu seiner Voraussetzung hat, dennoch das wahrscheinliche Recht unserer Arbeitshypothese. Auch auf dieser historischen Stufe des evangelisch verstandenen christlichen Glaubens begründet der in sich prozeßhafte Glaube die Kennzeichen der Kirche aus sich in seiner neuen historischen Situation. Aber das theologiegeschichtliche Material kann n u r die Breite der Beobachtungen erweitern. Sie kann vermutbar machen: Ein Verfahren, das denjenigen des N e u e n Testaments und der Reformation analog ist, wird in evangelischer Tradition stehen. Aber die systematisch-theologische Verifikation ist damit noch nicht erreicht. Deshalb nennen wir das Ergebnis der verbreiterten Beobachtungen „Teilverifikation". Diese Teilverifikation geht insofern über das Zwischenergebnis I hinaus, als wir jetzt noch genauer die Verfahrenslogik analogisieren k ö n n e n . Das N e u e Testament war ja nicht darauf zu befragen, wie es die Kennzeichen der Kirche entwickelt, weil dies weder sachlich noch historisch im Blick seiner Zeit lag. Wir k o n n t e n n u r sehen, daß der Glaube auch hier ein Entwicklungsprozeß ist, wie wir ihn in der Arbeitshypothese vorgeschlagen haben, und daß ihm die Problemfelder der späteren notae gestellt werden, wenn er über Kirche nachdenkt. An der Reformation konnten wir aber ganz exakt sehen, daß mit wechselnden Zentralmotiven des Glaubens sich auch davon abgeleitete Inhalte, also Ekklesiologie mit notae, verschoben haben. Auch hier kann freilich die Beobachtung nicht den Beleg dafür liefern, daß im evangelischen Rahmen gegenwärtig die Attribute von 381 sich als evangelische notae ecclesiae nahelegen. Dies kann sie aus zwei G r ü n d e n nicht. Erstens ist es historisch unmöglich, weil die Reformation eben andere notae gewählt hat. U n d zweitens wäre es gemäß der Arbeitshypothese gerade ein systematischer Fehler, darauf die Richtigkeit der Aussagen zu bauen. D e n n damit hätten wir die notae nicht aus dem gegenwärtigen Glauben, sondern aus einem unvermittelten Rückgriff auf eine Tradition begründet, deren normative Funktion nicht aus der theologiegeschichtlichen Beobachtung, sondern von einer höheren Reflexionsstufe gefolgert werden kann. So kann der historische Rückblick das formale Verfahren nahelegen, aber nicht die Verant-

Zwischenergebnis II

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wortung des gegenwärtigen Glaubens für seine Inhalte übernehmen. Soviel läßt sich sagen: Unser Vorschlag, die Kennzeichen der Kirche in der gegenwärtigen Situation evangelisch aus dem gegenwärtigen Glauben zu entwickeln und so die Unsicherheit bezüglich der Ekklesiologie zu überwinden, kann sich wirkungsgeschichtlich ausweisen: Er bewegt sich im Rahmen evangelischer Gründverständnisse des Glaubens. Aber das historische Material gibt nicht nur eine formale Teilbestätigung der Richtigkeit der Hypothese. Es gibt auch wichtige inhaltliche Hinweise. Aus der Tatsache, daß immer dann, wenn im Rahmen christlichen Glaubens über Kirche nachgedacht wird, die mit den 4 Attributen bezeichneten Problemfelder wichtig werden und nicht weggelassen werden dürfen, auch wenn es Zeiten geben kann, in denen sie nicht mehr als notae taugen, kann gefolgert werden, daß erstens die 4 Attribute als mögliche Kennzeichen dem gegenwärtigen Glauben zur Verfügung stehen, daß zweitens ihre Inhalte aber nur in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen historischen Situation des christlichen Glaubens gebildet werden können und dürfen. Wenn wir, wie einleitend dargelegt, davon ausgehen, daß in der Gegenwart die kontroverstheologische Entgegensetzung der „katholischen" zu den „evangelischen" Kennzeichen historisch an ihr Ende gekommen ist, dann ergeben sich aus der Analyse des historischen Materials drei inhaltliche Hinweise: Erstens: Die Anzahl der Kennzeichen der Kirche ist grundsätzlich offen. Es ist auch nicht endgültig zu sagen, was der Inhalt der Kennzeichen ist. Anzahl und Inhalt sind an die geschichtlichen Bewegungen des Glaubens und seine zentralen Inhalte und deren Explikation gebunden. Ebenso ist keine Definition der Kirche für alle Zeiten hinreichend und unveränderbar. Wenn man von CA VII sagt, dieser Artikel sei „unser Dogma von der Kirche. Und mit diesem Satz steht und fällt sie selbst" 1 , so verfehlt man das evangelische Glaubensverständnis grundsätzlich. Die neuen notae müssen aber im kritischen'Aneignungsprozeß der Tradition mit dem zentralen Motiv des gegenwärtigen

W . Eiert, Die Botschaft des VII. Artikels der Augsburgischen Konfession, in: A E L K Z 60, 1927, S. 1013, zit. n. R. W e t h , Theologische Ekklesiologie nach 1945 im kritischen H o r i z o n t des Barmer Bekenntnisses ( „ B a r m e n " III), M a n u s k r i p t , S. 97.

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Die evangelische „Tradition"

Glaubens vermittelt werden. Dieser selber ist Produkt eines kritischen Aneignungs- und Anwendungsprozesses. Zweitens: Das historische Material ergibt Aufschlüsse über eine grobe Struktur des Glaubens, die jede Entfaltung der Kennzeichen der Kirche tangiert, weil darin eine Identität des Glaubens durch die Zeiten erscheint, die sich aber nur als Besonderheit konkretisieren läßt: Glaube ist zu allen historischen Zeiten rezeptiv und produktiv zugleich. Und er ist dies, ob er will oder nicht. Er verändert sich selbst dann, wenn er nur Vorgegebenes bewahren will. Vielleicht sieht er seine eigene Veränderung nicht. Oder er sieht nicht, wie er dadurch verändert wird, daß sich seine Umgebung verändert. Historisch konnte dies am Frühkatholizismus gezeigt werden, der im strengsten Gehorsam gegen seine Tradition keinesfalls produktiv werden wollte. In dieser ganz äußerlichen Struktur gleicht der Glaube der anthropologischen Grundverfassung des Daseins. Menschliches Leben gründet sich auf Überlieferung, die es zur Weltdeutung und Weltbewältigung braucht b z w . neu hervorbringt. Indem der in der jeweiligen Gegenwart lebende Mensch sich die Erfahrungen, Sinngebungen und das technische Wissen der vor ihm Lebenden aneignet, erreicht er „jene Kumulation von technischem Wissen und jene Vertiefung und Bereicherung seines Wissens um mögliche SinnMotivationen, die ihm seine Überlegenheit über die Tiere verleihen" 2 . Jedes erkennende Bewußtsein findet sich in einer Traditionsgestalt vor. Und wenn sie ihre sinngebenden Funktionen nicht mehr erfüllt, kann das Bewußtsein sie nur dann kritisch überwinden, wenn es sich selbst als Teil eines Traditionsvorgangs begreift 3 . Uberlieferung ist selbst für diejenigen Individuen und Klassen konstitutiv, die die Identifikation mit den soziokulturellen Lebensformen ihrer Überlieferungszusammenhänge nihilierend verweigern oder produktiv negieren. Traditionen werden dabei selektiert und neu gebildet und Lebensformen projektiert, in denen sich „die kommunikativen Verschiebungen der Werte und N o r m e n " niederschlagen 4 . Überlieferung gehört zu den Leistungen der Menschengattung. Der verstehende Umgang mit ihr zeigt das erkennende Subjekt stets schon vorgängig von einem komplexen

2

K. O . Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hrsg. v. J. Habermas u.a., 1971, S. 27.

3 4

Vgl- J- Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1968, S. 8 4 f f . J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 118.

Zwischenergebnis II

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Geflecht von Erkenntnissen, Erfahrungen und Meinungen anderer geprägt. Im Verstehen selber aber wird durch den Faktor der sich wandelnden Zeit das Überlieferte im Medium der Sprache 5 und in der Aktion als Anwendung 6 verändert. Dies alles gilt auch für den Glauben. Uberlieferungen ist so verstanden nicht allein ein kognitiver, auf Sprache und Bewußtsein beschränkter Vorgang. Zwei so gegensätzliche Forschungsrichtungen wie Verhaltensforschung und Psychoanalyse stimmen darin überein, daß auch unbewußt Symbole, Objekte von Angst, Lust und Aggression tradiert werden. Gleiches geschieht mit Verhaltensweisen und Konfliktlösungsstrategien. Die Reflexion ist bei solchem Uberlieferungsprozeß gar nicht beteiligt, dieser vollzieht sich emotional, in verschlüsselten Zeichen, mimetisch und idolhaft. Beide Forschungsrichtungen bemühen sich aber darum, diese Vorgänge dem Bewußtsein nachträglich zugänglich zu machen, sei es im „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten" 7 oder in den analogisierenden Tierexperimenten und Verhaltensanalysen 8 . Überlieferung ist also ein anthropologischer Sachverhalt, an den die Theologie anknüpfen kann, um im Sinn einer erneuerten Apologetik mit anderen Wissenschaften um Wahrheit und wissenschaftliche Explikation des Glaubens zu streiten und sich selbst zu explizieren. Drittens: Weil der Glaube diese äußere Struktur mit allen Menschen teilt, muß theologisch seine innere Struktur erarbeitet werden, die ihn von anderen Strukturen unterscheidet. So wird er als Besonderheit klassifizierbar. Der Unterschied liegt in der existenzbindenden Beziehung des Glaubens auf Jesus von Nazareth als dem Ausgangs- und Bezugspunkt aller christlichen Überlieferung. Weil der Glaube die Wahrheit seines Zeugnisses und seiner

5 6

7

8

Vgl. H. G . Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 2 8 4 f f . J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, 1968, S. 58: „Der Verstehende stellt eine Kommunikation zwischen Welten (der Welt des tradierten Sinns und der Welt des Verstehenden, P. St.) her; er erfaßt den sachlichen Gehalt des Tradierten, indem er Tradition auf sich und seine Situation anwendet" (Hervorh. von Habermas). S. Freud, Gesammelte Werke X., S. 125 — 136, C. G. Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, Gesammelte Werke IX/1, 1976. Vgl. K. Lorenz, Das sogenannte Böse; I. Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß, Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, 1970.

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Die evangelische „ T r a d i t i o n "

Voraussetzungen (nicht seines systematisch-theologischen Verfahrens) an keine Idee, sondern an eine Person bindet, muß diese Person überliefert werden. Dies geschieht, in neutestamentlicher Terminologie, im Geist, der in das Sorna Christou führt, das an die Stelle des historischen Jesus getreten ist und das in Taufe und Herrenmahl und der Lebenspraxis der Christen Gestalt gewinnt 9 . D e r Geist ist die Weise, in der G o t t nun, nach Jesu T o d , hervortritt; in ihm ist Christus als der Erhöhte wirksam (2. K o r 3, 17). In der Erfahrung des Pneuma wird G o t t erfahren. Indem der Geist aber nicht sich selbst, sondern Jesus verkündigt, und zwar als den Gekreuzigten (1. K o r 1, 18ff.), führt er den Menschen an der historischen Gestalt Jesu vor das eschatologische Handeln des Gottes Israels, der das Heil der Welt will. D e r kommende G o t t wird also in der pneumatischen Zurückführung auf Jesus prädiziert. D e r Bezug auf Jesus unterscheidet den Glauben von anderen Weltdeutungen und Weltaneignungen. Dabei hat die Beziehung auf Jesus zwei Aspekte. Erstens versteht sich die Tradition, die dem Subjekt — oder der Gruppe — das Heil in Jesus verkündet, selber als Auslegung ihres Rückbezuges auf Jesus. Die Tradition, in der der jetzt Glaubende sich befindet, ist die Gestalt, in der er sich dem Christus gegenübersieht und an der er selber teilhat. Die Gemeinde kann sich als Leib Christi verstehen, sie ist in diesem Sinn und mit aller Selbstbescheidung und kritischer Auslieferung an das Urteil ihres Herrn „Christus als Gemeinde existierend" 1 0 . Aber die Kirche identifiziert sich nicht mit dem Sein und der Funktion des Christus, der als Heiliger Geist gegenwärtig ist — sie verkündigt nicht sich, sondern Jesus als das Heil und richtet so eine notwendige Differenz zwischen sich und ihrem Auftrag auf. Das jetzt zu ergreifende Heil wird ausgelegt an Jesus von Nazareth, und von dort her wird Gegenwart als Weltverständnis und Weltbewältigung eröffnet und lebensfähig gemacht und so das jetzt zu lebende Leben als Glauben für

9

Vgl. E . Käsemann, Das theologische Motiv vom Leibe Christi, in: Paulinische Perspektiven, 1969, S. 178—210. B e s . : „ D i e Kirche ist der O r t seiner Gegenwart nur insofern, als der Geist das Mittel seines Gegenwärtigwerdens b l e i b t " (S. 196). U n d : „ N u r so, daß unsere Leiber Glieder seiner Herrschaft werden, kann er, der Erhöhte, irdisch zu allen k o m m e n . D e n n diese Glieder hat er überall, weil er in jedem Stand und Lager Glaubende schafft. E r will die Welt, und das ist nur möglich, wenn er unsere Leiber will. W o wir ihm weniger oder mehr als den Leib geben zu müssen meinen, verweigern wir ihm die W e l t " (S. 199).

10

D . B o n h o e f f e r , Sanctorum communio, 3. erw. Aufl. 1965, S. 155.

Zwischenergebnis II

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den kommenden Gott geöffnet. So wird die Kontingenz des Heilsgeschehens in Jesus von Nazareth festgehalten und zugleich die Kontingenz des sich gegenwärtig unter anderen Bedingungen als zur Zeit Jesu ereignenden Heils immer wieder erinnert. Ohne dies verlöre man die Geschichtlichkeit aus dem Blick. Zweitens wird der Bezug auf Jesus von Nazareth ermöglicht durch das N e u e Testament und die darin gesammelten Texte. Wir finden dort die (jedenfalls für uns) frühesten Zeugnisse darüber, was Jesus den Menschen bedeutete, die mehr und mehr dazu übergingen, so an ihn zu glauben, wie man an Gott glaubt. Im Rückbezug darauf findet das Christentum formal seine Einheit (Ebeling). In diesem Bezugspunkt liegt aber auch für jede neue Generation die Möglichkeit zur Freiheit, das sie umgebende und prägende Traditionsfeld kritisch zu überschreiten. Zwar gibt die Tradition das Verständnis Jesu für die Gegenwart vor, insofern christliche Verkündigung und Tat immer von theoretischen Inhalten begleitet sind, aber diese vielfältigen Vermittlungsinstanzen sind durch das in neuer Zeit neue Verständnis der Texte des Neuen Testaments produktiv zu transzendieren. D a z u ist die sich stets verfeinernde historische Kenntnis darüber wichtig, was die Texte zu ihrer Zeit wirklich meinten, was die Ausleger zu ihrer Situation in den Texten gelesen haben und was sie geglaubt haben. Denn das zu erhebende Kontinuum ist nicht greifbar ohne die jeweils wechselnde geschichtliche Konkretion. So ist die Beziehung auf Jesus durch das N e u e Testament historisch, insofern sich der Christ im Bereich der Wirkungsgeschichte Christi vorfindet. Dies teilt er, wenn er in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft lebt, mit vielen anderen Menschen und Organisationen, die — oft ohne sich dessen bewußt zu sein — in irgendeiner Form in der Wirkungsgeschichte Jesu von Nazareth und des von ihm ausgegangenen Glaubens stehen. Die Beziehung auf Jesus ist aber zweitens den Glauben betreffend, insofern ein Mensch dem Zeugnis von Jesus Glauben schenkt und darin eine existenzbindende Erfahrung macht. Solches Vertrauen auf Gott als Jesus setzt dann die theoretische Reflexion auf die mit diesem Glauben gesetzten Implikationen in Gang. Glaube als Lebensvorgang hat also einen Erfahrungs- und einen Reflexionshorizont, die, obwohl sich ständig miteinander vermittelnd, auch voneinander getrennt gesehen werden können. Die theologische Tradition hat dafür das Begriffspaar „fides qua creditur" und „fides quae creditur" gebildet. U n s scheint dieses Begriffspaar die ständige Bewegung zwischen den beiden Aspekten des einen Glaubens zuwenig auszudrücken, und deshalb haben wir zur Kennzeichnung der Differenz und des Zusammenhangs 11

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

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Die evangelische „ T r a d i t i o n "

die Begriffe „implizit" und „explizit" verwandt. Die theologiegeschichtliche Entwicklung der notae ecclesiae zeigte uns, wie das Vertrauen auf Gott als Jesus immer komplexere theoretische Inhalte aus sich selber und aus dem Konflikt mit der Umwelt expliziert hat. Diese Inhalte waren nicht zu allen Zeiten ausgedrückt, auch wenn sie sachlich erschlossen werden können. Schon auf ihrer frühesten Stufe hat die christliche Theologie die sachlichen Grundlagen für die späteren notae im Blick gehabt, sie aber weder theoretisch erfaßt noch gar zum Glaubensartikel erhoben. Dies blieb späteren Generationen vorbehalten. Die Explikation ging dabei über das wenige hinaus, was das N e u e Testament als normativ in seinen Credoformeln zusammengefaßt enthält. Die Explikation kann aber auch aus der Fülle des Implizierten anderes hervorheben. Deshalb hat die Reformation neue notae ecclesiae gebildet. So ergibt sich die geschichtliche Bindung des gegenwärtigen lebendigen Glaubens an die Kette der vor ihm Glaubenden. Sie ist eine diese Vielzahl zugleich voraussetzende und überschreitende Bindung an das Christusereignis, das die Kette der Vermittlungen erst in Gang setzte. Daraus folgt der theologische Rang der Kirche. In ihr vermittelt der „ G e i s t " — mit dem Christusereignis. Damit geht eine grundlegende Bestimmung des Christusereignisses auf die Kirche über: Sie wird zum kontingenten, welthaften in Raum und Zeit sich ereignenden Gottesgeschehen. Der Gott, der in Christus war und der jetzt in der Kirche geglaubt werden will, bleibt in der pneumatischen Bindung an die Kirche und an menschliches Tun und Wort in der Verhülltheit, aus der er als der Gott Israels und als Jesus nicht herausgetreten ist. Die aus der Abscondität Gottes folgende Weltlichkeit der Kirche ist also nicht Defekt und Mangel, sondern als die theologische Würde zu interpretieren, die sich die Vorstellungen von der ecclesia triumphans und allen sogenannten Wesensaussagen der Kirche gerne beilegen möchten. Das Zwischenergebnis II liefert für die nun vorzunehmende systematische Verifikation der Hypothese durch die Erhebung der Strukturen des Glaubens den Hinweis: Die gesuchte innere Struktur des Glaubens wird einen Erfahrungs- und einen Reflexionshorizont haben. Weiter wird sie durchzogen sein von einer prinzipiellen Verborgenheit. In beide Bestimmungen gehen die von der gegenwärtigen Ekklesiologie vorgegebenen Fragenkreise ein.

V. D I E S T R U K T U R E N DES G L A U B E N S Nunmehr müssen wir versuchen, die Strukturen des gegenwärtigen lebendigen Glaubens zu bestimmen, um die Verifikation der Hypothese zu vollenden. Bisher konnten wir ja nur belegen, daß formal unser Vorschlag durch das methodische Verfahren wichtiger Glieder der Kette evangelischen Glaubensverständnisses gedeckt ist. Denn auch hier hat der Glaube die Kennzeichen der Kirche aus dem prozeßhaften Glauben in jeweils neuer historischer Situation begründet. Aber er ist im ekklesiologischen Bereich zu anderen Ergebnissen gekommen als wir in der Hypothese angenommen haben. Nicht die Attribute des Credo von 381, sondern Wort und Sakrament, bisweilen die Kirchenzucht, hat der evangelische Glaube der Reformationszeit als notae der Kirche definiert. Des Neue Testament hatte noch keine Zeichen entwickelt. Deshalb steht es noch aus, das formal sich in evangelischer Tradition wissende Verfahren nun im Sinne unserer Hypothese inhaltlich anzuwenden. Lassen sich also diese vier Kennzeichen aus dem gegenwärtigen Glauben begründen? Dazu müssen wir bestimmen, was der gegenwärtige Glaube ist. Das historische Material hat grobe Strukturen vorgegeben. Weiter hat es die Beziehung auf Jesus von Nazareth als zentrales Spezifikum des Glaubens angegeben. Aber es fehlt noch die genaue Strukturierung, die jetzt vorgenommen werden muß. Der Glaube der Gegenwart ist eine Chimäre. Es gibt nur eine Vielheit der Glaubensverständnisse. Der Glaube ist nur als Vielheit von Besonderheiten und daher nur als Partikularität wirklich beschreibbar. Dies aber ist kein Mangel, sondern hat seinen Grund in der Eigenart des Gottes und seinem kontingenten Ereigniswerden, das ein inkorporatives Geschehen ist. So ist der Glaube nur bestimmbar in der Konkretion des Glaubenden, seiner konfessionellen Erfahrungssituation, seinem Reflexionsstand und seiner sozialen, politischen und ökonomischen Umwelt. Theologisch aber ist die Glaubensstruktur vorgeprägt durch die Theologien andere Theologen. Nun haben bezüglich der Kennzeichen der Kirche drei Theologen den Mangel nicht aufzuweisen, den wir in der ersten Bestandsaufnahme als Unli»

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Die Strukturen des Glaubens

Sicherheit der gegenwärtigen Ekklesiologie auslegten: in ihrer Lehre von den notae lassen sich die Grundmotive ihrer Theologie bis in den von den Zentren so entfernten „ Z w e i g " der notae ecclesiae verfolgen. Es sind H . Küng, J. Moltmann und W . Pannenberg. Wir wollen deren Ekklesiologien vorstellen und ihre Grundmotive aufzeigen. Denn uns will scheinen, daß die drei verschiedenen Grundmotive zusammengenommen die Strukturen des Glaubens ergeben, aus denen wir die Ableitung der Kennzeichen der Kirche versuchen sollten, um damit unsere These ganz belegen zu können.

1. H . K Ü N G : K I R C H E U N D R E C H T F E R T I G U N G

H . Küng sammelt seine Überlegungen zu den Kennzeichen der Kirche unter dem Oberbegriff „Dimension" 1 , um jede Apologetik zu vermeiden, und beginnt dann vorsichtig mit der Sondierung des Problems. Die Frage nach der wahren Kirche ist auch dann eine legitime Frage, wenn sie nur im Glauben zu lösen ist und die Erkenntnis der wahren Kirche nur im Glauben möglich ist. Denn das, was die Kirche zur Kirche macht, ist anders als im Glauben nicht zu erkennen 2 . Dennoch ist damit der Kirche ihre Sichtbarkeit weder genommen noch in einer platonisierenden Vorentscheidung von ihrer Wahrheit unterschieden. Denn als Volk Gottes, als Bau im Geist und als Leib Christi ist sie wesentlich Volk und Bau und Leib und darum sichtbar (vgl. ebd.). Die Frage nach der wahren Kirche kann also weder durch einseitige Betonung der Unsichtbarkeit noch durch Demonstration der Sichtbarkeit beantwortet werden, sondern nur, indem beide Aspekte derselben Kirche in gleicher Wahrheit festgehalten werden. Die Frage gilt nicht einem Individuum, sondern einer Gemeinschaft. „Anders als das Herz des Individuums, das Gott allein kennt, ist Zustand und Verfassung einer Gemeinschaft erkennbar. Es gibt Wahrzeichen der Kirche, die erkennbar sind: wahrnehmbar für jedermann" (S. 315). Klingt hierbei noch die Forderung der klassischen Fundamentaltheologie an, die Wahrzeichen der Kirche müßten erkennbar sein für alle Menschen, so wird der Akzent auf die unein-

1 2

Die Kirche, a . a . O . , S. 313ff. Die Kirche, a . a . O . , S. 314. Die Zitate im Text beziehen sich auf dieses Buch.

H. Küng: Kirche und Rechtfertigung

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geschränkte Sichtbarkeit mit einem bezeichnenden „letztlich" sofort wieder z u r ü c k g e n o m m e n : „ A u c h der Nichtglaubende wird sie (die Wahrzeichen, P. St.) wahrnehmen, aber sie als Nichtglaubender letztlich mißdeuten; er wird sie erkennen und sie doch in ihrer eigentlichen Bedeutung verkennen. F ü r ihn sind sie in ihrer tieferen Wirklichkeit verhüllt und nicht o f f e n b a r " (S. 315f.). Das heißt, „die Kirche als Ekklesia der G l a u b e n d e n " (S. 314) ist bezüglich ihrer Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit nur in einem Paradox zu beschreiben: sie ist „Sichtbar-unsichtbar" (S. 314). D a n n aber ist mit Recht zu fragen, ob die vier klassischen notae Wahrzeichen der wahren Kirche sein können, die ja offenbar nur als paradoxer Sachverhalt bezeichnet werden kann. Im Lauf ihrer eigenen historischen Genese haben ja gerade diese vier notae einen immer stärkeren Zug zur Auflösung des Paradoxes angenommen, insofern sie immer m e h r die eine Seite, nämlich die Sichtbarkeit, betonen sollten. Dies hängt mit der dogmengeschichtlichen Entwicklung und den auch soziologisch bedeutsam werdenden Streitigkeiten um den wahren Kirchenbegriff zusammen. So sind aus den Eigenschaften des Symbols von 381 erst im späten Mittelalter apologetische Unterscheidungsmerkmale (aus „proprietates" werden „signa", „criteria") geworden. Juan de Torquemada entwickelte 1486 den Gedanken, die Eigenschaften hätten auch unterscheidende Kraft und seien so Kennzeichen f ü r die wahre Kirche. Schließlich nennt Gregor von Valencia (1549—1603) die Eigenschaften „ n o t a e " . Die Vierzahl war jedoch lange nicht verbindlich, man hat später bis zu 100 (T. Bozi) finden wollen, bis man sich schließlich im 17. Jht. wieder konstant auf die Vierzahl zu besinnen beginnt, (vgl. S. 317) 3 . Dieser polemischen Auflösung des eigentlichen paradoxen Zusammenhangs setzen die Reformatoren ebenso theologisch wie polemisch die Aussagen von C A VII entgegen, die ihrerseits das Paradox eher zur Unsichtbarkeit hin aufzulösen scheinen. Da die Problematik beider Wahrzeichen offenkundig geworden ist, hält Küng die „exklusive Problemstellung" (S. 318) f ü r überholt. Die evangelischen notae verloren gegenüber Schwärmern und Katholiken mehr und mehr ihre unterscheidende Kraft, da beide am Evangelium ebenso festhielten wie an den Sakramenten. U m g e k e h r t ist die Wahrheit der klassichen notae dann nicht mehr einfach durch Hinweis

Zur dogmatischen Entwicklung im römisch-katholischen Bereich vgl. G. Thils, a. a. O. und Y. Congar, Handbuch der Dogmengeschichte III/3 c, a. a. O. Erst im 17. Jht. beginnt man zwischen notae und propietates genauer zu differenzieren, vgl. G. Thils, a.a.O., S. 8ff.

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Die Strukturen des Glaubens

auf die Legalität des einen kanonischen Amtes zu erweisen, wenn gerade die Legalität dieser kirchlichen Strukturen theologisch selber umstritten ist. Daher können die 4 Kennzeichen nicht ohne die beiden protestantischen gesehen werden, ja sie müssen auf ihnen „aufruhen" (S. 319). Die Einheit der Kirche ist „Einheit in der Vielheit" (S. 320). Dieses Verständnis findet Kiing im Neuen Testament vorgezeichnet, das in seiner Gesamtheit eine Vielfalt verschiedener Erscheinungsformen der einen Kirche enthält. Weiter unterscheidet das N e u e Testament theologisch nicht zwischen Ortsgemeinde und Gesamtkirche, sondern sieht die Vielheit der Ortsgemeinden geradezu als Voraussetzung der Gesamtkirche an (vgl. S. 326). So ist die Einheit der Kirche in der Vielheit ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen, die alle legitim sein können, vom Neuen Testament als „geistliche G r ö ß e " (S. 325) verstanden. Diese „ist nicht in erster Linie eine Einheit der Glieder untereinander, sie ruht letztlich nicht in sich selbst, sondern in der Einheit Gottes selbst, die wirksam ist durch Jesus Christus im G e i s t " (S. 325). Die Kirche ist eine, weil Gott einer ist. Die Bindung an die Einheit Gottes kulminiert in dem Satz: „ D i e Kirche ist eine und soll deshalb auch eine sein" (ebd., Hervorhebung von Küng). Der Kulminationspunkt bereitet zunächst einige Verständnisschwierigkeiten. Küng will wohl damit hervorheben, daß die vom Neuen Testament her legitimierte Vielfalt der Kirche empirisch keineswegs eine idealtypische irenische Einheit nach sich zieht, sondern meist Spaltungen und Exkommunikation. Spaltungen aber sind theologisch ebensowenig zu rechtfertigen, wie die Sünde nicht gerechtfertigt werden kann und soll. Spaltung der Kirche ist Skandal und Sünde (S. 338). Andererseits soll mit der Kohärenz der „IstA u s s a g e " und der „Soll-Anweisung" keinesfalls eine Verdoppelung des Kirchenbegriffs vorgenommen werden. Dies verbietet sich Küng ausdrücklich (vgl. S. 334). Wie ist dann die Kohärenz möglich? Der Imperativ soll ja nicht etwas verwirklichen, was eigentlich schon ist. Das Prinzip „werde, was du bist" kann hier nicht gelten, vor allem nicht in dem Sinne, daß die Kirche ihr essentielles Wesen in die Existenz umzusetzen habe, die der Essenz immer erst nachfolgt. Dann wäre die Schärfe des eingangs gestellten paradoxen Zusammenhangs durch ontologische Transformation entspannt. Auch die Beschreibung des Wesens der Kirche kann von Küng nur als Gegensatzpaar beschrieben werden: Das Wesen der Kirche ist gezeichnet durch den Einbruch der Sünde (vgl. S. 389) und ist immer schattenhaft begleitet von ihrem U n wesen: „ D e r Kirche wirkliches Wesen ereignet sich im U n w e s e n " (S. 41, vgl. S. 379, 289). Daher ist die ontologische Relation von Essenz und Existenz auf

H . K ü n g : Kirche und Rechtfertigung

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die Kohärenz von „ I s t " und „ S o l l " nicht anwendbar — die Sünde verletzte dann die Kirche nicht essentiell 4 . Die gleiche Schwierigkeit tritt bei den anderen notae auf. Nach Küng ist eine Kirche nicht allein deshalb katholisch, weil sie über den ganzen Erdkreis verbreitet ist, die höchste Mitgliederzahl hat, kulturell-sozial in möglichst viele Verschiedenheiten eingegangen ist oder die längste zeitliche Kontinuität nachweisen kann (vgl. S. 357ff.). All dies macht aus sich noch keine universale Kirche, obwohl alle diese Aspekte von der Katholizität nicht abzutrennen sind. Voraussetzung der Katholizität ist die Identität: „daß sie (die Kirche, P. St.) ihrem ursprünglichen Wesen treu geblieben" (S. 362) ist. Die Treue zu ihrem Wesen ist keine narzistische Fixiertheit auf sich selbst, sondern besteht in der Treue zu ihrem Ursprung, die Botschaft Jesu, die selber „sachlich universal w a r " (S. 359). Diese Treue zu ihrem Ursprung hat natürlich keine empirische Kirche immer und überall bewahrt. Neben dem „peccatum per defectum", der protestantischen häretischen Auswahl aus dem Ganzen, gibt es ein „peccatum per excessum" als die „synkretistische Anhäufung heterogener, . . . unter Umständen unchristlicher Elemente" (S. 370). Daher gilt auch hier die gleiche Kohärenz des „ I s t " und des „ S o l l " , die wir schon bei der Einheit bemerkt haben: „Wenn die Kirche von ihrem Ursprung her, von der Botschaft, die sie trägt, und der Botschaft, die sie predigt, univesal ist, dann ist sie eben auch faktisch aufgerufen, alle Grenzen der Völker und Kulturen, der Rassen und Klassen, der Zeiten und des Zeitgeistes zwar nicht zu verleugnen und zu verkennen, wohl aber zu übersteigen: durch die Tat zu zeigen, daß diese Grenzen und Unterschiede — im Sinne von Gal 3, 28 — nicht letztlich relevant sind" (S. 361, Hervorhebung P. St.). N u r ist die Kohärenz bezüglich der Katholizität nicht auf der Universalität Gottes, sondern der Botschaft Jesu und dem Kerygma der Kirche gegründet. Auch die Überlegungen zur Heiligkeit der Kirche stellt Küng auf der Voraussetzung an, daß die Kirche ihr Wesen immer auch im Unwesen habe, stellt ihnen deshalb den programmatischen Satz voran: „ D i e wirkliche Kirche

ist die sündige

Kirche"

(S. 379, Hervorhebung von Küng). Diese wirkliche

Kirche ist dennoch heilig, weil sie von Gott ausgesondert ist und „insofern sie von Gott in Christus als die Gemeinschaft der Glaubenden berufen wurde und sich in seinen Dienst gestellt hat, ausgegrenzt aus der Welt und zugleich umfangen und getragen von seiner G n a d e " (S. 386). Gott heiligt die Kirche 4

Dies ist in der Tat die für evangelische Theologie völlig unannehmbare Meinung der katholischen Theologie, die Küng offenbar nicht mehr teilt.

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Die Strukturen des G l a u b e n s

als die Gemeinschaft der Glaubenden, das heißt: heilig ist eine „ d u r c h und durch personale" Kategorie (vgl. ebd.), es gibt keine heiligen Bezirke, Gegenstände oder Sakramente (vgl. S. 385). Weil die Heiligkeit der Kirche ganz von Gottes Tat abhängt, k o m m t sie ihr nicht wie ein Besitz zu, sondern als H o f f n u n g . Deshalb m u ß sie darum bitten. Aber die Kirche verletzt die ihr zugesprochene und verheißene Heiligkeit ständig, und daraus ergibt sich „das ekklesiologische simul iustus et peccator: eine c o m m u n i o peccatorum, die durch Gottes vergebende G n a d e wirklich und echt comunio sanctorum ist" (S. 389). Dieses „ d u n k l e Paradox" (ebd.) gibt den Schlüssel z u m Verständnis der Kohärenz von „ I s t " - und „Soll"-Aussagen: so wie die Rechtfertigung ist auch die Heiligung allein Gottes Tat (vgl. S. 384). Die Dimensionen der Kirche Einheit, Heiligkeit und Katholizität sind gemäß der logischen Struktur der Rechtfertigung gebildet, die sich nach dem Tridentinum auf zwei wesentliche Artikel konzentrieren läßt: „ 1. D e r gerechtfertigte Mensch ist zur Sünde nach wie vor fähig: er bleibt in der G e f a h r e n z o n e der Sünde (wobei die tatsächlich voll und ganz erfolgte Vernichtung der Schuldhaftigkeit der Sünde unanschaulich, die k o n k r e t e Sündhaftigkeit des Menschen jedoch sehr anschaulich ist) u n d ist t r o t z d e m verpflichtet z u m dauernden N a c h j a g e n nach der Vollendung, weg vom Vergangenen hinein ins Künftige (Phil 3, 12—14). 2. Die dem Gerechtfertigten eigene Gerechtigkeit ist u n d bleibt ihm letztlich „ f r e m d " , „ ä u ß e r l i c h " (obwohl sie ihm w a h r h a f t i n n e w o h n t , m u ß er sie je neu von Christus als die nie aus ihm selber s t a m m e n d e Gnade empfangen"5.

Küngs Ekklesiologie ist also auf der logischen Folie der Rechtfertigungslehre konstruiert und sucht damit die zentrale E r f a h r u n g der Christen theoretisch widerzuspiegeln. Die logische Struktur der Rechtfertigung ergibt sich wie immer in der katholischen Theologie aus ihrem Verhältnis zur Heiligung. N a c h Küng ist der Ausdruck „ H e i l i g u n g " doppeldeutig: er bezeichnet in der Schrift und im evangelischen Bereich vor allem „die vom Menschen bewirkte, ,subjektiv'ethische Heiligung" 6 . Im Sinn der katholischen Theologie u n d des Tridentinums bezeichnet er „ m e h r die von G o t t bewirkte, ,objektiv'-ontische Heiligmachung (Heiligkeit)" 7 . Dann aber m u ß das Verhältnis Rechtfertigung 5

H . Küng, Rechtfertigung, 1957, S. 236. Die ungeschlossene K l a m m e r ist w o h l Druckfehler.

6

a . a . O . , S. 260.

7

ebd.

H . K ü n g : Kirche und Rechtfertigung

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— Heiligung so differenziert werden: Insofern sie allein Gottes Tat ist und sola fide geschieht, „ist sie nicht gleich Heiligung (im streng ,subjektiv'ethischen S i n n ) . . . In diesem Sinne folgt die Heiligung der Rechtfertigung" 8 . „Insofern aber Rechtfertigung als wirksamer göttlicher Richterspruch den Menschen seinsmäßig gerecht oder heilig macht, ist sie gleich Heiligung (im Sinne der von Gott gewirkten ,objektiv'-ontischen Heiligmachung); sonst wäre die göttliche Rechtfertigung ein leeres, rein verbales Reden" 9 . Das Verhältnis beider Aspekte kann dann so bestimmt werden: „ D i e durch die Rechtfertigung Gottes dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit ist die notwendige Grundlage für jede sittliche Heiligung des Menschen, und umgekehrt ist die Heiligung das Wirksamwerden und die Erfüllung der durch die Rechtfertigung grundgelegten H e i l i g k e i t " 1 0 .

Die logische Struktur der Rechtfertigung ist dann diejenige des Paradoxes, wenn sie mit der Heiligung im Sinne Küngs zusammengedacht werden muß. Zwar scheidet die Heiligung aus dem Rechtfertigungsgeschehen aus, bzw. wird sie ihm nachgeordnet, wenn man Heiligung im „subjektiv-ethischen" Sinn versteht. Aber wenn man sich mit diesem Aspekt begnügt, reduziert man die Rechtfertigung auf ein „leeres, rein verbales Reden", d. h. man versteht sie nicht als Ereignis im Leben eines Christen. Zwar ist der theologische Topos „Rechtfertigung" in die genannten zwei Aspekte logisch zerlegbar, aber in seiner Wirklichkeit erfaßt ist er nur im Zusammenhang beider Aspekte. Der Zusammenhang bedeutet aber, daß Rechtfertigung immer im Zusammenhang mit Heiligung verstanden werden muß, wenn sie eine Erfahrungskategorie ist. Als Spiegel der Erfahrung des gläubigen Menschen wird sie im Paradox des „simul iustus et peccator" festgehalten. Diese Struktur der Rechtfertigung erlaubt die paradoxen Aussagen der Ekklesiologie und die Verbindung von „Ist"- mit „Soll"-Aussagen. In dem von Gott gesetzten „Ist" erscheint ein „Soll" im Drang nach sittlicher Vervollkommnung, der aber nur durch das „Ist" überhaupt auftritt. Das „Soll" tritt aber auf, weil auch der gerechtfertigte Mensch zur Sünde fähig bleibt und er die Sündhaftigkeit des Daseins in der Differenz des „Soll" vom „Ist" erfährt. So ist die Wirklichkeit des Menschen wie der Kirche nach Küng nur adäquat im Paradox abbildbar, das die Realität der Erlösung aus der Sünde durch

8

ebd.

9

a . a . O . , S. 261.

10

ebd.

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Die Strukturen des Glaubens

Gottes Tat mit der Realität der Sünde als Erfahrung des Menschen zusammendenken will. Auf dieser Grundlage ist dann auch verständlich, weshalb die Apostolizität der Kirche „eine geschichtliche Dimension (ist) . ., die in der Geschichte immer wieder zu realisieren ist" (S. 424). Sie ist nämlich kein unangefochtener „Besitz, worüber die Kirche verfügen könnte" (S. 423), sondern indem der Kirche dieses Prädikat gegeben wird, wird ihr zugleich die Aufgabe mitgegeben, sich stets daran zu erinnern, daß sie „an das Wort, an Zeugnis und Dienst der ersten ,apostolischen' Generation gebunden ist" (S. 420). Zwar ist das einmalige und unwiederholbare Apostelamt mit dem Tod der Apostel erloschen (vgl. ebd.), aber es bleibt der apostolische Auftrag und die apostolische Sendung. Diese gilt nicht für einzelne Personen in der Kirche, sondern für die ganze Kirche. Küng vermeidet es absichtlich, von „apostolischer Sukzession" zu reden, damit „die theologische Problematik . . nicht durch sekundäre juristische und soziologische Vorstellungen verdunkelt" wird (S. 421). Nachfolge meint nämlich nicht nur einen historischen, sondern einen sachlichen Zusammenhang. Dieser sachliche Zusammenhang wird hergestellt durch die Bindung an die Heilige Schrift, die der Kirche zeigt, daß Nachfolge nichts anderes heißt als Dienst in der Sendung in die Welt (vgl. S. 422 f.). So ist die Kirche apostolisch, insofern ihr die apostolische Überlieferung im Neuen Testament objektiv gegeben ist. Nur durch sie hört die Kirche ihren Herrn und seine Botschaft (S. 422), aber dieses „Sein" geschieht in der lebendigen „Konfrontation" der Kirche mit dem grundlegenden Zeugnis der Schrift (vgl. S. 423).

2. J. M O L T M A N N : K I R C H E U N D T R I N I T Ä T

In der Ekklesiologie Jürgen Moltmanns ergänzen sich die evangelischen und katholischen notae. Dennoch werden nur die katholischen Kennzeichen als notae ecclesiae behandelt, denn die Kirche, „in der das Evangelium rein verkündet und die Sakramente recht gebraucht werden, ist die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Die zwei reformatorischen Zeichen der Kirche bezeichnen in Wahrheit nur von innen her, was die traditionellen Prädikate der Kirche sozusagen von außen her beschreiben" 1 1 . Moltmann kommt 11

J. Moltmann, Kirche in der K r a f t des Geistes, 1975, S. 367. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

J. M o l t m a n n : Kirche und Trinität

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es in der theologischen Interpretation der Kennzeichen weniger darauf an, das Verhältnis der Kirchen zueinander zu beschreiben b z w . zu definieren, woran sie einander in ihrer Wahrheit erkennen können. Wichtiger ist ihm die erkennbare „Gestalt in der Welt und deren Zeugnischarakter" (S. 363). Daher vernachlässigt er an dieser Stelle die reformatorischen Kennzeichen. D e n n die Frage nach der wahren Kirche, wenn sie innerkirchlich gestellt wird, kann nicht mit Hilfe der sichtbaren Eigenschaften gelöst werden. Deshalb löst M o l t m a n n die Frage nach der Wahrheit der Kirche aus dem Zusammenhang der notae, um sie mit dem Hinweis auf das Geschehen zu beantworten, „das die Kirche zur Kirche macht und in ihre Wahrheit bringt" (S. 141). Dies ist das „Geschehen der Gegenwart Christi" und kann thetisch in das ignatianische „ U b i Christus — ibi Ecclesia" (ebd.) gefaßt werden. Die katholischen Kennzeichen sind dann freilich notwendige Prädikate der Kirche, sofern die Kirche Christi und des Reiches Gottes ist (vgl. S. 365). D a n n gewinnt sie „ihre Existenz im Handeln Christi" (S. 364) und aus seiner „messianischen Sendung . . . und der eschatologischen Gabe des Geistes" (S. 365). Die Prädikate k o m m e n ihr also nicht als Kirche „an sich" zu, sondern sie empfängt sie „ d u r c h eine Geschichte von anderem h e r " (S. 364). Die Kennzeichen der Kirche sind also direkt gegründet auf das Geschehen, das den Zusammenhang aller Geschichte überhaupt und der Heilsgeschichte speziell ausmacht. Dies ist der Gesamtzusammenhang der „trinitarischen Geschichte Gottes mit der W e l t " (S. 18, 33, 68, 81 u . ä . ) . In diese Geschichte verleiht des messianische Handeln Jesu, aus dem die Prädikate der Kirche zufließen, Einblick. Die Sendung des Sohnes läßt den Rückschluß auf eine doppelte Geschichte zu, die auf eine noch zu klärende Weise miteinander verflochten ist: 1. Die Sendung des Sohnes erlaubt den Schluß auf innertrinitarische Verhältnisse, ja eine innertrinitarische Geschichte. Von der „missio ad extra" kann auf die „missio ad intra" geschlossen werden (vgl. S. 70). 2. Die Sendung des Sohnes f ü h r t in die Geschichte der Gemeinde, die durch T o d und Auferstehung an der Sendung Christi teilnimmt und zur messianischen Gemeinde des k o m m e n d e n Reiches wird (vgl. S. 101). 3. Die Gemeinde ist das „ F e r m e n t des Heils" (S. 65), das heißt, sie bestimmt die Richtung und die Geschwindigkeit des Heils — freilich nur, weil Christus durch seinen Geist in ihr wirkt. Dieses Heil bezieht sich aber nicht nur auf die Kirche, sondern auf die gesamte Geschichte der Welt. Diese spiegelt zwar „als solche kein messianisches Licht" wider (S. 248), aber durch das Christusgeschehen ist in ihr eine eschatologische Spannung eröffnet (vgl. S. 40). Insofern Christus der Repräsentant jener Geschichte ist, in der G o t t G o t t ist und der

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Die Strukturen des Glaubens

Mensch zu seiner Herrlichkeit kommt, repräsentiert der gekreuzigte und auferstandene Christus „in Person und in seinem ganzen Leiden und W i r k e n diese Zukunft der Geschichte" (S. 92). Die Kirche, die in dieser Geschichte diesen Christus verkündigt, bezeugt damit, daß das Ziel der Geschichte das Reich Gottes ist (vgl. S. 221). Auch die Geschichte der Welt läuft auf das Reich Gottes zu, und das Kommende ist — neben seiner Präsenz in der Kirche — in einem speziellen Bereich der Welt „vorlaufend schon in der Geschichte" vorhanden, nämlich bei den „Elenden und O h n m ä c h t i g e n " (S. 151). Alle drei Konklusionen erlauben — weil über die Sendung, den Messianismus Jesu, miteinander vermittelt — den Rückschluß in die Gottheit Gottes hinein und sind Denkfiguren eines dialektischen Prozesses, die auf dem „realdialektischen Prozeß der ankommenden Gottesgerechtigkeit gegen die vergehende S ü n d e " (S. 37) auf ruhen. Hier berühren sich Rechtfertigungslehre und Ekklesiologie (vgl. S. 36). Beide müssen als spannungsvolles Geschehen interpretiert werden, das auf Lösung dieser Spannung drängt und endlich sich in der Erlösung z u m „Gott alles in allem" entspannt. Das theologische Materialprinzip der Ekklesiologie ist nicht in der Rechtfertigungslehre, mit der sie sich wohl berührt, sondern in der christologisch zentrierten Trinitätslehre zu finden. So gibt die trinitarische Geschichte Gottes mit der Welt, nicht zuletzt ablesbar an den theologischen Finalsätzen des N e u e n Testamentes, die die Geschichte Christi teleologisch deuten (vgl. S. 44 ff.), den noetischen und realen Grund dafür, der Geschichte Christi und damit der Geschichte der Kirche und der Welt ihren Sinn zu geben. Durch sie w i r d die Partikularität Christi (als Prolepse) als auch diejenige der Kirche und der geschehenden Welt als N a t u r und Geschichte transponiert in den universalen H o r i z o n t des Prozesses von Gott und Welt, ohne freilich in Universalgeschichte überzugehen. Jedoch erlaubt die messianische Sendung des Sohnes neben dem Blick in die Zukunft von Kirche und Welt auch den Schluß in die Gottheit hinein. Gott selbst durchläuft den Prozeß seiner Veränderung und damit doch auch Selbstwerdung in den Geschehnissen dieser Welt, die Schnittpunkte von Eschatologie und Geschichte sind: in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, im Evangelium, Taufe und Herrenmahl (vgl. S. 98, 261, 282) oder global in allen Vermittlungen zwischen dem Reich Gottes und der Geschichte, die mit der Kategorie des Messianischen bezeichnet werden, die Antizipation, W i derstand, Stellvertretung und Hingabe umfassen (vgl. S. 216ff.). Daher offenbart die Trinität in der Sendung des Sohnes und des Geistes nicht nur, „ w a s sie in sich selbst ist, sondern öffnet sich zugleich auch für

J . M o l t m a n n : Kirche u n d Trinität

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Geschichte und Erfahrung der Geschichte" (S. 72, Hervorhebung von Moltmann). Das bedeutet, daß diese Geschichte des Sohnes und des Geistes „innertrinitarisch für Gott selbst eine Erfahrung und etwas . N e u e s ' " (S. 79) bewirkt. Die „Selbstwerdung" Gottes — davon muß ja dann wohl gesprochen werden — ist durch Gottes Willen an einen geschichtlichen Prozeß gebunden, der nicht Gott selber ist. Aber das, was Gott wird, entspricht dem, was er schon immer war: „von Ewigkeit her offene Trinität" (S. 72). Ontologisch ausgedrückt: Die Gottheit definiert sich, indem ihre von Ewigkeit her seiende Essentialität sich in Existenz begibt und durch den Prozeß der Existentialisierung ihre Essenz wieder erst gewinnt, die dann erst als „Alles in allem" bezeichnet werden kann, wenn auch der T o d , der bisher die Grenze des Möglichen im Bereich des Messianismus gewesen ist, abgetan ist (vgl. S. 219f.). Der Prozeß der Selbstwerdung Gottes ist sowohl noetisch wie real: Die vom Ursprung her offene Trinität öffnet sich in der Sendung des Sohnes für Menschen, Welt und damit Zeit und R a u m 1 2 . Das aber bedeutet, daß Gott selber als eine ewige Vermittlung von Eschatologie und Geschichte bezeichnet werden muß — eine Konsequenz, die Moltmann freilich nur christologisch zieht. Gott ist eine essentielle Vermittlung von Eschatologie und Geschichte, deshalb kann Moltmann den Blochschen Begriff von Gott mit „Futurum als Seinsbeschaffenheit" übernehmen, den man immer nur vorsieh haben kann 1 3 . Dies Futurum ist möglich durch die von Ewigkeit her offene Trinität. Die Trinität tritt mit dem Kreuzestod des Sohnes in eine neue Qualität ihrer Geschichte. N u n wird „die trinitarische Geschichte in Gott zwischen dem Vater und dem Sohn im Geist als eschatologische Geschichte . . . erst eröffnet" 1 4 . Die Seinsbeschaffenheit Gottes aktualisiert sich im Kreuz des Sohnes. Dies erklärt die unüberbietbare Bedeutung des Kreuzes für das innere Verhältnis der Trinität. Die Christologie ist daher die Beschreibung des ei-

12

M o l t m a n n vermeidet freilich diese o n t o l o g i s c h e n K a t e g o r i e n .

13

T h e o l o g i e der H o f f n u n g , 3. e r w . A u f l . 1965, S. 12. Eigentlich zeigt M o l t m a n n s C h r i s t o l o g i e , daß der C h r i s t den G o t t e b e n s o v o r sich wie hinter sich hat, nämlich in d e m Ereignis der S e n d u n g des S o h n e s , dessen K r e u z u n d A u f e r s t e h u n g ja E r e i g n i s s e dieses G o t t e s sind, gewesen sind u n d noch i m m e r sind u n d — in M o l t m a n n s P e r s p e k t i v e — sein w e r d e n bis ans E n d e der T a g e , an d e m G o t t wirklich da ist.

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D e r g e k r e u z i g t e G o t t , 2. A u f l . 1973, S. 254, vgl. auch a. a. O . , S. 2 6 6 : „ D a s K r e u z ist ja der A n f a n g der trinitarischen G e s c h i c h t e G o t t e s " .

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D i e S t r u k t u r e n des G l a u b e n s

gentlichen „Weltknotens", um einen Ausdruck Blochs zu gebrauchen, denn in ihr werden die neuen Erfahrungen, die der Vater im Mitleiden mit dem Sohn macht, ebenso definierbar wie das proleptische und partielle Erfülltwerden der vergehenden Welt mit der Kraft der neuen Schöpfung. Mit dem Kreuz Christi wird die mit Geschichte verkettete Trinität ebenso in ein neues Stadium versetzt wie die unerlöste Welt, die — obwohl in ihre Notwendigkeiten verstrickt — in Christus den Ubergang vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit 1 5 in ihrem Schoß birgt. Im Kreuz Christi stehen Welt und Gott vor ihrem eschatologischen Ziel: Der mit den Q u a l e n des Sohnes mitleidende Vater vor seiner „Vereinigung" (S. 77) als der zukünftigen Einheit der Trinität in der „Vollendung der Vaterschaft des V a t e r s " 1 6 und der Vollendung der Sohnschaft des Sohnes, die sich in der Ubergabe des Reiches an den Vater erfüllt 1 7 . Die Welt aber hat im Kreuz den Grund der Vollendung des Heils in der neuen Schöpfung, die in der Auferstehung der Toten als in ewige Freude verwandelter Schmerz Gottes sich vollendet 1 8 . In die trinitarische Geschichte Gottes ist die Kirche hineingenommen. Ihr ganzes Sein ist „durch Teilnahme an der Geschichte Gottes mit der Welt gekennzeichnet" (S. 82). In diesem Zusammenhang soll sie sich verstehen (S. 68), und in den Bewegungen dieser Geschichte findet sie sich selbst (S. 81). Sie hat einen bestimmten Auftrag: „Sie soll die befreiende Herrschaft Christi bis ans Ende der Erde und bis zum Ende der Zeit durch Wort, Tat und Gemeinschaft bezeugen" (S. 386). Sie ist wesentlich nachösterliches Geschehen (S. 127: „ M i t der Auferweckung des Gekreuzigten wird die Kirche offenbar") und ereignet sich in der Kraft des Heiligen Geistes, dessen Geschichte mit der 15

D e r g e k r e u z i g t e G o t t , 2. A u f l . 1973, S. 255.

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ebd.

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a . a . O . , S. 253.

18

Vgl. a . a . O . , S. 2 6 6 f . M o l t m a n n verwischt freilich den theologischen E i n s a t z dieser S e l b s t a u f l a d u n g der Trinität mit G e s c h i c h t e , i n d e m er den B e g i n n der V e r m i t t l u n g v o n E s c h a t o l o g i e u n d G e s c h i c h t e einmal mit der S e n d u n g des S o h n e s , also d o c h v o m vorösterlichen J e s u s , seiner P a s s i o n , K r e u z e s t o d u n d H ö l l e n f a h r t (!) beginnen läßt (vgl. K i r c h e , S. 80), andererseits aber a u s d r ü c k l i c h an den o b e n g e n a n n t e n Stellen den B e g i n n auf das K r e u z festlegt. D a m i t ü b e r n i m m t er die T h e o l o g i e der E v a n g e l i s t e n , die, wie die F o r m g e s c h i c h t e zeigte, den vorösterlichen J e s u s bereits unter d e m B l i c k w i n k e l des G e k r e u z i g t e n u n d A u f e r s t a n d e n e n darstellen. E r f ä h r t G o t t nicht auch s c h o n G e s c h i c h t e — w e n n m a n trinitarisch d e n k t , scheint mir das n o t w e n d i g — in der G e s c h i c h t e J e s u , die noch v o r K r e u z u n d A u f e r s t e h u n g liegt?

J. M o l t m a n n : Kirche und Trinität

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Geschichte Christi verbindet und die Geschichte der Neuschöpfung ist (vgl. S. 42). Gegründet von den Aposteln Christi im Geist (vgl. S. 365) ist sie dennoch „fundamental aus dem Kreuz Christi geboren" (S. 115). Die Kirche hat zwei Vorläufer: Die Gemeinschaft der Kranken, die geheilt, der Blinden, die sehend werden, der Armen, die das Evangelium gehört haben, und die Jüngergemeinschaft. Das sind die beiden vorläufigen Gestalten der Kirche des Messias (vgl. S. 99). Beide Gestalten werden von der nachösterlichen Kirche nicht überholt, sondern „explizit" (S. 103). So steht von da an bis zum Reich Gottes die Gemeinde des Messias in einer doppelten Bruderschaft: Die eine ist „die manifeste Bruderschaft der Glaubenden, die andere die verborgene Bruderschaft der Armen. Läßt sich die erste den Erscheinungen des Auferstandenen zuordnen, so bezeichnet die zweite die Bruderschaft des Gekreuzigten. Die christliche Kirche ist demnach so lange nicht in ihrer Wahrheit als Kirche Christi, wie es ihr nicht gelingt, diese doppelte Bruderschaft zu realisieren" 19 . Wenn die Kirche dort ist, wo Jesus ist, und Christus auch in den Armen gegenwärtig ist 20 , dann werden die Grenzen der Kirche fließend und Kirche außerhalb der Kirche zum Normalfall. Die in die trinitarische Geschichte eingeordnete Kirche ist „in der weiterreichenden Geschichte des Geistes . . . ein Weg und ein Ubergang zum Reich Gottes" (S. 51), obwohl „die dvaKeqja/.aiüJOLg nur von der Parusie Christi erhofft, nicht aber als Resultat eines kirchlichen Wachstumsprozesses oder kosmischen Reifevorgangs zustandegebracht werden" kann (S. 90). Aber das Ende in Herrlichkeit kann antizipiert werden „in der Hoffnung, die sich an der Erinnerung Christi entzündet, und im Leiden an dieser Welt nach der neuen Schöpfung in Gerechtigkeit schreit" (S. 151). Christus ist zwar in Wort und Sakrament gegenwärtig, aber diese Gegenwart wird als verborgene „ ,auf dem Wege' zu seiner unmittelbaren Gegenwart geglaubt" (S. 151). Die Vermittlung von Geschichte und Eschatologie nennt Moltmann auch die Gegenwart des Heiligen Geistes (vgl. S. 222). Die Öffnung der Trinität für Geschichte ist also ein pneumatisches Geschehen. Die Kirche steht dann in der Kraft des Geistes, wenn sie das „Gott in Christus" wahrnimmt und so in die Christusgemeinschaft hineingeführt wird (vgl. S. 49). Damit ist das Geschehen des Geistes antizipatorisches Vorwegereignen der Herrschaft Gottes, 19

Theologische Kritik der politischen Religion, in: Kirche im P r o z e ß der A u f k l ä -

20

Z u r Stützung dieser These n i m m t M o l t m a n n M t 25, 31—46 aus der Gotteslehre in

rung, hrsg. v. W . Oelmüller u . a . , 1970, S. 48. die Ekklesiologie hinein. Kirche, S. 147.

164

Die Strukturen des Glaubens

denn „das Reich Gottes ist in Glauben und neuem Gehorsam, in neuer Gemeinschaft und den Kräften des Geistes präsent. Die Gegenwart des Heiligen Geistes ist als Angeld und Anfang der neuen Schöpfung aller Dinge im Reich Gottes zu verstehen. Gott herrscht durch Wort und Glauben, Verheißung und Hoffnung, Gebot und Gehorsam, Kraft und Geist" (S. 215). Nun wäre zu erwarten gewesen, daß Moltmann die Kennzeichen der Kirche in dieses trinitarische Geschehen einbindet oder sie an das Geschehen von Kirche als pneumatisches Ereignis anknüpft. Statt dessen aber begründet er die Strukturen der notae christologisch: Sie sind 1) „Glaubenssätze", weil sie Eigenschaften des Handelns Christi sind, 2) „Hoffnungssätze", insofern sie messianische Prädikate sind. Beides führt 3) zu „Handlungssätzen": „Ihr Wesen ist der Kirche in den genannten Eigenschaften gegeben, verheißen und aufgegeben" (S. 366). Freilich sind die Kennzeichen der Bekenntnisse immer nur ein „Verweis auf das Wesentliche", sie lassen die Freiheit, weitere Zeichen zu finden, was die Theologen auch immer getan haben. Andere Kennzeichen können in veränderter Weltsituation in den Vordergrund gerückt werden und mit den traditionellen verbunden werden. Daher definiert Moltmann: „Die Einheit der Kirche ist ihre Einheit in Freiheit. Die Heiligkeit der Kirche ist ihre Heiligkeit in Armut. Die Apostolizität der Kirche trägt die Zeichen des Kreuzes, und ihre Katholizität ist mit ihrer Parteinahme für die Unterdrückten verbunden" (S. 367).

3. W . P A N N E N B E R G : KIRCHE U N D E S C H A T O L O G I E

Pannenberg hält die traditionellen evangelischen Kennzeichen der Kirche für untauglich zur Kenntlichmachung der Kirche. Sie sind als. Kriterien, die die wahre Kirche von der Sekte abgrenzen sollten, nicht mehr eindeutig bestimmbar und haben heute „angesichts der Pluralität und Relativität der Theologien . . . Eindeutigkeit und . . . deskriptiven Wert verloren" 2 1 . Dagegen hält er an den traditionellen Prädikaten der altkirchlichen Bekenntnisse als Kriterien für die Kirche fest. Sie charakterisieren und normieren „die Sendung und Bestimmung der Kirche und insofern auch ihre gegenwärtige Realität, soweit sie jener Sendung und Bestimmung lebt" 2 2 , und haben zu ihrer

21 22

Thesen zur Theologie der Kirche, (im folgenden „Thesen"), 1970, These 31, S. 21. a . a . O . , These 115, S. 44.

W . Pannenberg: Kirche und Eschatologie

165

Voraussetzung die „ C o m m u n i o sanctorum", verstanden als „Teilhabe an den göttlichen Mysterien" 2 3 . Dies und die 4 Kennzeichen beschreiben in noch zu bestimmender Weise das Wesen der Kirche. Im einzelnen hat Pannenberg vor allem der Apostolizität und der Katholizität seine Aufmerksamkeit gewidmet. Wie die anderen Kennzeichen können diese weder durch Orientierung an der apostolischen Vergangenheit, wie sie in der Schrift erscheint, noch durch ein autoritatives kirchliches Lehramt als apostolische Instanz begründet werden. Die Schrift kann in ihren theologischen Explikationen unmittelbar nicht mehr der Begründungszusammenhang der dogmatischen Fragestellung und A n t w o r t e n sein, weil durch die historisch-kritische Methode der Abstand zwischen der Schrift und der Gegenwart deutlich gemacht worden ist. Die heutige Theologie steht vor ganz anderen Fragen als die Verfasser der biblischen Schriften. Deshalb dürfen die biblischen A n t w o r t e n nicht einfach als A n t w o r t e n auf unsere Fragen ausgegeben werden. Die Texte müssen vielmehr als Explikationen einer hinter ihnen liegenden Sache verstanden werden, und die Theologie m u ß eben darum konsequent hinter die Texte zurückfragen „nach den Ereignissen, von denen da berichtet wird und nach der ihnen z u k o m m e n d e n B e d e u t u n g " 2 4 . Das historische Bewußtsein, von dem der neuzeitliche Theologe nicht abstrahieren darf, findet daher — ähnlich wie schon Luther — die „Sache" der Schrift „nicht mehr in den Texten selbst", sondern erschließt sie hinter ihnen 2 5 . Das kirchliche Lehramt reicht deshalb nicht zur Begründung des dogmatischen Sachverhalts, weil die theologische Begründung des autoritativen, an eine kirchliche Behörde gebundenen Lehramtes als normative apostolische Instanz selber fraglich erscheint. Pannenberg erläutert dies am Verhältnis des Lehramtes zur Schrift und dem Problemkreis des Amtscharismas. W e n n die letztinstanzliche Entscheidung über den Sinn der Schrift dem Lehramt obliegt, dann kann die nun nicht mehr selbständige Schrift kein unabhängiges Kriterium „ f ü r den apostolischen Charakter der kirchlichen Lehrtradition"

23

Das Glaubensbekenntnis, Siebenstern TB 165, 1972, S. 158. In den „ T h e s e n " konzentriert Pannenberg sich auf den Z u s a m m e n h a n g des kirchlichen A m t s mit den 4 Kennzeichen.

24

Die Krise des Schriftprinzips, 1962, in: G r u n d f r a g e n systematischer Theologie,

25

a . a . O . , S. 15.

12

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

1965, S. 20.

166

Die Strukturen des Glaubens

sein 2 6 . Ebenso kann eine nur historisch und formal-juristisch und nicht sachlich argumentierende Auffassung der apostolischen Sukzession aus sich heraus kein Kriterium erstellen, mit dessen Hilfe gesichert werden kann, „daß der Nachfolger den Auftrag des Vorgängers sachgemäß fortsetzt" 2 7 . Die Träger des Amtscharismas können sich ihre Lehre und ihr rechtes Verhalten nicht exklusiv selbst bestätigen. In der apostolischen Sukzession steht die ganze Gemeinde, und also kann derjenige, der kein Amt innehat, darüber urteilen, was in der jeweiligen Situation für apostolisch zu gelten hat und was nicht. Weil die oben angesprochene „ S a c h e " , die Wahrheit und Endgültigkeit des Geschicks Jesu, zwar von der Kirche vermittelt wird, selbst aber von dieser Vermittlung noch einmal unterschieden werden kann, gibt es für den einzelnen Christen eine „Unmittelbarkeit zur Sache der Uberlieferung" 2 8 und damit eine urteilsfähige Freiheit. So ist auch hier der Rückgang auf die hinter der kirchlichen Vermittlung liegende Sache selbst, zu der der Christ U n mittelbarkeit gewinnen kann, als die Weise angezeigt, wie eine dogmatische Aussage begründet werden kann. Daher kann die Begründung für die Kennzeichen der Kirche — exemplarisch für die Apostolizität — nicht durch Verweis auf Schrift oder Lehramt oder Sukzession gegeben werden, sondern ein sachliches Kriterium muß dargelegt werden können, das dem neuzeitlichen Bewußtsein mit seinem historischen Denken gerecht wird und dennoch Kontinuität zum Vergangenen, dem im historischen Sinn Apostolischen, zu wahren in der Lage ist. Pannenberg sieht die Kontinuität des Apostolischen „ i m eschatologischen Motiv des urchristlichen Apostolates" 2 9 . Dieses eschatologische Motiv ist nicht nur zur Zeit der Apostel existent, sondern drängt über diese Zeit hinaus, insofern es die Apostel einbindet in das universal-geschichtliche Geschehen, das im Geschehen der Auferstehung Jesu Christi proleptisch das Ziel der Geschichte vorwegereignete. Zum Apostolat gehört die Erscheinung und Beauftragung durch den Auferstandenen. Der Apostel ist der vom Auferstandenen Gesandte und tritt auf „als Fortsetzer der eschatologischen Botschaft Jesu selbst" 3 0 . U m den eschatologischen Sinn der

26

Die Bedeutung der Eschatologie für das Verständnis der Apostolizität

und

Katholizität der Kirche, in: Katholizität und Apostolizität, K u D , Beiheft 2, 1971, S. 93 (Im folgenden „Katholizität"). 27

a . a . O . , S. 102.

28

Thesen, These 38, S. 22.

29

Katholizität, S. 94 .

30

a . a . O . , S. 97.

W. Pannenberg: Kirche und Eschatologie

167

Botschaft Jesu zu erhalten, mußten die Apostel allerdings eine entscheidende Veränderung des Inhalts der Botschaft selber vornehmen. Im Gegensatz zum historischen Jesus wird der apostolischen Botschaft „Jesus selbst zum Ausgangspunkt und Inhalt" 3 1 . Identität war also hur möglich durch Veränderung. Daher „läßt sich auch erwarten, daß die eschatologische Sendung der Apostel von der durch sie begründeten Kirche nur durch Veränderung fortgeführt werden konnte, nämlich durch das Einbringen ihrer eigenen historischen Differenz zu den Aposteln und zum apostolischen Zeitalter im ganzen in ihr Selbstverständnis und in ihr Verständnis der Christusbotschaft als Botschaft an die jeweilige Gegenwart" 32 . Das Kriterium der Apostolizität ist also das Ergebnis einer durch Hinterfragung der Texte gewonnenen Abstraktion, die die Sache selber ist. Hier liegen die Hegeischen Wurzeln des Pannenbergschen Denkansatzes. Theologien und Bekenntnisse oder auch Lebensformen sind dann apostolisch, wenn sie „die unüberbietbare, endgültige Wahrheit der Erscheinung Jesu Christi zu klarem und in der Sprache ihrer Zeit gültigen Ausdruck" bringen 33 . Apostolizität gewinnt also zu jeder Zeit eine neue Gestalt. Diese muß nicht identisch sein mit früheren. Besonders in ethischem Feld, der vita apostolica, ist besonders naheliegend, solche Identität durch Wandel anzunehmen: „Was zu jener Zeit apostolisch war, könnte heute irrelevant sein oder gar den apostolischen Aufgaben entgegenstehen" 34 . Aus gleichen Gründen sind die altkirchlichen Dogmen der Trinitätslehre und der Christologie durchaus apostolisch, obwohl sie nicht explizit dem Neuen Testament entnommen werden können und noch nicht im Blick der Apostel selbst lagen. Kriterium apostolischer Lehre ist deshalb nur die Frage, „ob und in welchem Maße es gelingt, die endgültige und komprehensive Universalität der Geschichte und Person Christi darzutun durch ihre im Sinne der Auferstehung Jesu verwandelnde und heilschaffende Bedeutsamkeit, durch ihre die Welt erleuchtende Kraft" 3 5 . Apostolizität ist also ein Sachkriterium, das mit der Sache, um die es im christlichen Glauben geht, direkt korrespondiert und unmittelbar den Ge-

31

ebd.

32

ebd.

33

a . a . O . , S. 98.

34

a . a . O . , S. 101.

35 12'>

a.a.O., S. lOOf.

168

Die Strukturen des Glaubens

danken der Katholizität impliziert 3 6 . Das eschatologische Motiv im Gedanken des Apostolats äußert sich in dessen Universalität. Die Mission ist die Folge der Beauftragung durch den Auferstandenen und sie darf, weil es um das Heil des Ganzen geht, nicht hinter diese Zielvorstellung zurückfallen. Sie ist daher nur dann apostolisch, wenn sie universal ist und umgekehrt: nur die universale Mission ist wahrhaft apostolisch. Aus dieser Verflechtung ergibt sich das eschatologische Motiv der Katholizität. Sie erlangt erst im Eschaton ihre volle Realität. Weil die Geschichte noch nicht vollendet ist, ist Katholizität als Fülle gegenwärtig nur in Partikularität erfahrbar. Freilich gehört zu dieser Partikularität ebenso notwendig die Offenheit für die „Vielfalt der gegenwärtigen Wirklichkeit christlichen Geistes und der Fülle und Neuartigkeit künftiger Möglichkeiten und Aufgaben der Christenheit im ganzen" 3 7 . In dieser Offenheit repräsentiert eine Einzelkirche „die katholische Fülle inmitten der Geschichte" 3 8 . Ist die Kirche im Zeichen des noch nicht erreichten Eschatons notwendig partikular, stellt sich die Frage nach ihrer Einheit. Im Unterschied zur Katholizität, die immer auch wegen ihres universalen Bezuges das „Verhältnis zu der noch nicht vom christlichen Glauben durchdrungenen W e l t " 3 9 umfaßt, ist die Einheit ein „innerkirchliches T h e m a " und betrifft die Gemeinschaft der Partikularkirchen untereinander 4 0 . Pannenberg sagt es nicht ausdrücklich, aber es ist wahrscheinlich, daß die Einheit der Kirche nur in ihrem Bezug auf die allen Deutungen vorausliegende Bedeutsamkeit der Geschichte Jesu Christi liegen kann und nicht in der Gleichförmigkeit der Riten, des Amtes oder der Lehre. Die Kirche ist als eine, heilige, katholische und apostolische wegen der eschatologischen Motive in ihren Kennzeichen zu glauben. Die Kennzeichen kommen der Kirche also nicht als „natürliche Q u a l i t ä t " 4 1 zu, sondern sind von ihr zu realisieren. Der Glaube antizipiert darin etwas, was erst im Eschaton ganz realisiert sein wird. Damit wird deutlich, wie Pannenberg die notae ecclesiae in den Rahmen seiner universalgeschichtlichen Konzeption einbettet, die in der Sendung und

36

vgl. a . a . O . , S. 103.

37

a . a . O . , S. 105.

38

ebd.

39

a . a . O . , S. 104.

40

ebd.

41

a . a . O . , S. 109, hier allerdings nur von der Apostolizität gesagt.

W. Pannenberg: Kirche und Eschatologie

169

im Geschick Jesu die Prolepse der eschatologischen und dann universalen Vollendung in Herrlichkeit erblickt. In der Auferweckung Christi ist das Ende der Geschichte schon geschehen, und von diesem Ereignis aus wird die vorösterliche Geschichte Jesu als ebenfalls eschatologisch als mit Gott eins bestätigt 4 2 . Indem der Christ sich in Folge eines Erkenntnisvorgangs zum Glauben an Jesus bekennt, hat er Anteil an der Gottesgeschichte 4 3 . Somit ist seine eigene Geschichte und die Geschichte der Gemeinschaft, der er angehört, ebenfalls eschatologisch qualifiziert. So konstituiert sich die Kirche als die „communio sanctorum", die am Heil in Christus teilhaben 4 4 . In der Kirche setzt sich die eschatologische Sendung Jesu fort. Ihr Ziel, das Reich Gottes, enthält in sich die soziologische Idee der Vollendung menschlicher Gesellschaft 4 5 , und insofern die Kirche partikular das Eschaton repräsentiert, ist sie durch das Christusgeschehen ermöglichte und begründete „Vorwegdarstellung der im Reiche Gottes vollendeten Gesellschaft" 4 6 . Dieser antizipierenden Gestaltwerdung der vollendeten Gesellschaft eignen wesensnotwendig die vier Kennzeichen, die allerdings erst zusammen mit dem Begriff der „communio sanctorum" umfassende Wesensbeschreibungen sind. Wie die ganze Kirche, so haben auch ihre notae „ihr sachliches Fundament in der Heilszukunft der Gottesherrschaft, die durch Jesus Christus schon eröffnet ist"47.

42

Grundzüge der Christologie, 2. veränd. Aufl. 1966, S. 134f.

43

Offenbarung als Geschichte, K u D , Beiheft 1, 3. Aufl. mit einem Nachwort 1965, S. 102.

44

Glaubensbekenntnis, S. 158.

45

Thesen, These 2, S. 9.

46

ebd.

47

Glaubensbekenntnis, S. 164.

VI. DIE S T R U K T U R E N DES G L A U B E N S U N D IHRE A U S W I R K U N G E N A U F DIE N O T A E ECCLESIAE Wir meinen, die Grundmotive dieser Ekklesiologien ergeben die inneren Strukturen des Glaubens, die in der gegenwärtigen historischen Situation in der Lage sind, die Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche als Kennzeichen der Kirche zu begründen. A m Konkretum der notae zeigen sich die Strukturen des Glaubens, die der Ekklesiologie vorangehen in der Konstellation von Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie im Horizont des Weltverhaltens. Die notae sind die Anwendung dieser Konstellation auf die Kirche. In dieser Konstellation ist die Basis evangelischen Glaubens, die Rechtfertigung des Gottlosen im Christusgeschehen grundlegend. Darin findet der christliche Glaube sein Spezifikurh, das ihn von anderen Religionen unterscheidet und ihn unanalogisierbar besondert. Sie bildet die Basis des Materialen und Finalen der christlichen Religion 1 . Mit der Rechtfertigung in Erfahrung und Reflexion aber findet sich der Christ auf trinitarische Zusammenhänge verwiesen, und d i r Vorgang des Geistes als Geschehen von Rechtfertigung ist von eschatologischer Qualität.

1. DER A U F B A U DES

KONSTELLATIONSKOMPLEXES

„RECHTFERTIGUNG"

Zunächst aber will es ja überraschen, daß die Kirche als Kommunität und darum die Ekklesiologie so direkt auf die Rechtfertigung bezogen werden müssen. Denn die Rechtfertigung ist das Individuellste des Individuums, nämlich seine — und zunächst nur seine — Versöhnung mit Gott in der glaubenden Annahme der geschenkten Gerechtigkeit Gottes. Man könnte also die Rechtfertigung rein personal-individuell zu verstehen suchen. In

1

Vgl. C. H. Ratschow, Die eine christliche Taufe, 1972, S. 112 f. Der Begriff „Struktur" wird im Sinn von „inhaltlicher Ordnung", also nicht formal gebraucht. Er hat mit dem Begriff der verschiedenen Strukturalismen nichts zu tun.

D e r Aufbau des Konstellationskomplexes „ R e c h t f e r t i g u n g "

171

bezug auf das Reich Gottes gilt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zunächst einmal nichts, „der einzelne ist als einzelner angesprochen und erfährt die Verheißung" 2 . Jesus vergibt dem einzelnen die Sünden. A b e r er weist ihn durch sein W o r t und sein Verhalten der Basileia an, also einer Sozialität, die mehr ist als die Summe der gerechtfertigten einzelnen Menschen und nicht von ihnen — auch nicht durch ihre Passivität im Empfang der Versöhnung — geschaffen wird. Die Glieder der Kirche werden also im Vorgang der Rechtfertigung als Individuen konstituiert und zugleich auf eine Gemeinschaft hin transzendiert, deren utopische Gestalt in der Umkehr aller bisherigen Sozialstruktur in der Bergpredigt und manchen Gleichnissen vorscheint und in der das Individuum sich nicht unter dem Zwang der Totalität auflösen muß, sondern unter der Herrschaft des versöhnten Gottes sich konstituiert und leben kann. Die Kirche ist theologisch auf das Ereignis der Rechtfertigung bezogen, und deshalb kann die Rechtfertigungslehre ein Modell für die ekklesiologische Logik sein (vgl. C A ) . Dieses Verhältnis ist nicht umkehrbar, weil die Kirche der Rechtfertigung als ganzer nicht voraus sein kann, so sehr sie gegenüber dem einzelnen Gläubigen ein „zeitliches P r a e " hat 3 . Denn die Rechtfertigung hat primär einen universalen Aspekt: am „extra n o s " des Heilsgeschehens wird deutlich, daß aus ihm die Kirche folgt und nicht umgekehrt. Das Rechtfertigungsgeschehen ist getragen von dem G o t t Israels, der als Folge des Anfangs dieses Geschehens in Leben, Sterben und Auferweckung Jesu von Nazareth vom theoretisch erfaßten Glauben trinitarisch ausgelegt worden ist. Die Ekklesiologie, die von der Rechtfertigung herkommt, impliziert die trinitarische Auslegung des Gottes, von dessen Ereigniswerden sie provoziert ist. Sie impliziert also eine trinitarisch fundierte Sicht ihres Gottesverhältnisses. Die Kirche ruht auf dem, was Gott an Israel und in Jesus getan hat und auf dem, was er jetzt tut und zu tun verheißen hat. Daher ist E k klesiologie nicht einfach identisch mit Christologie, gerade dann nicht, wenn man daran festhält, daß sie ohne christologische Verankerung sinnlos wird 4 .

2

H . C o n z e l m a n n , Art. „ R e i c h G o t t e s " , in: R G G 3 , Bd V , Sp. 916. Weil erst das Gericht die Zugehörigkeit zum Gottesvolk erweisen wird, ist jeder Anspruch aufgrund der Zugehörigkeit zum jüdischen V o l k aufgehoben, vgl. ebd.

3

Dies wird in der paulinischen „ L e i b - C h r i s t i " - E k k l e s i o l o g i e deutlich. H . C o n z e l mann, Grundriß der Theologie des N T , a . a . O . , S. 2 9 8 .

4

Gegen K . L . Schmidt These: „ G e g e n ü b e r allen soziologischen Versuchen, die Kirchenfrage zu erfassen, muß bei Paulus, den Deuteropaulinen und dann auch beim vierten Evangelisten beachtet werden, daß die Ekklesiologie nichts anderes ist

172

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Das Rechtfertigungsgeschehen nimmt den Glauben und die Kirche, in die trinitarisch interpretierte Beziehung Gottes zur Welt hinein. Damit werden der einzelne und die Kirche eschatologisch ausgerichtet, weil sie im Vorgang des Zum-Glauben-Kommens eine existenzbindende Erfahrung machen und darin im Rückbezug auf Jesus auf den kommenden Gott und die allumfassende Versöhnung und Gerechtigkeit hoffend werden. Darum bricht mitten unter den Glaubenden das Reich Gottes an (Lk 17, 21). Daher kann die Lehre von der Kirche nicht mit der Kirche beginnen, wie Pannenberg gezeigt hat. Sie kann allerdings auch nicht mit dem Reich Gottes beginnen, wie Pannenberg meint, sondern muß zuerst die Relation Gottes zu den Menschen bestimmen, von dessen Ereignis sie herkommt und dessen Reich in ihr anbricht und der ihre Zukunft ist. Diese Beziehung wird im Neuen Testament gelegentlich Agape genannt (Rö 5, 5 - 8 ; 8, 32; Joh 3, 16; 1. Joh 4, 9f.) 5 . Die Bewegung Gottes auf die Welt zu kann auch in der von uns genannten Konstellation erfaßt werden, wenn so deutlich wird, daß der auf die Bewegung der Liebe antwortende Mensch in diese Liebe hineingenommen wird und in ihr über sich hinausgelenkt wird, so daß sich in der Liebe zur Welt die Liebe Gottes erfüllt. In der überschreitenden Hingabe geschieht „eine radikale Selbstentfernung zugunsten einer neuen Nähe zu sich selbst — einer Nähe freilich, in der nun das geliebte Du mir näher ist als ich mir selbst bin. Zugunsten — nicht im Sinne eines ut finale verstanden. Begehrt wird ja nicht das eigene Sein, sondern das geliebte Du und dies allein um seiner selbst willen. Quod non propter se amatur, non amatur (Aristoteles). Aber das geliebte Du gibt mich mir, indem es mich hat, so daß auch ich mich — in freilich ganz neuer Weise — wieder habe" 6 . Die Strukturen des Glaubens müssen demnach als Christologie und umgekehrt" T h W N T ,

Bd III, S. 515. Nicht allein die

exegetische Grundlage ist uns äußerst fraglich, weil nicht nur Paulus trotz der LeibChristi-Vorstellung durchaus zwischen Christus und seiner Gemeinde

unter-

scheiden kann, denn er ist als Erstgeborener trotzdem ihr Herr. Vor allem übersieht jede Identifizierung

von Christologie und Ekklesiologie das durch die

Kontingenz des Heilsgeschehens gestellte historische Problem und verhindert die Ausbildung einer Pneumatologie. 5 6

Vgl. E . Stauffer, T h W N T , Bd I, S. 3 4 - 5 5 . E . Jüngel, G o t t als Geheimnis der Welt, a . a . O . , S. 4 4 0 f . Sehr befreiend ist, daß Jüngel endlich mit der falschen Alternative von Eros und Agape aufräumt, ohne deren Unterschiede zu nivellieren, a . a . O . , S. 4 3 6 f f . Wir meinen, daß es zur Struktur der Liebe Gottes gehört, daß nicht nur seine Beziehung zu den Menschen, sondern auch zum Kosmos daran erläutert werden kann. Dieser Aspekt scheint bei

D e r Aufbau des Konstellationskomplexes „ R e c h t f e r t i g u n g "

173

jenes überschreitende Moment bei sich behalten, das sowohl dem Denken wie dem Handeln zukommt und als Liebe den einzelnen Christen wie die Kirche im Bereich veränderter Erfahrung hält. Hans Küng hat Rechtfertigung und Ekklesiologie durch das „simul iustus et peccator" miteinander verbunden, und gemäß dieses Paradoxes hat er dann die Kennzeichen der Kirche als Paradoxien dargestellt. Das lebendige Zwischenglied zwischen Rechtfertigung und Kirche, an dem die Paradoxie deutlich wurde, ist für Küng die Liturgie, nach katholischem Verständnis das eigentliche Leben der Kirche. In der Römischen Messe und der Wiederholungsbeichte sieht er das Paradox exemplarisch vorgezeichnet 7 . Wir können an dieser Stelle nicht in die Debatte eingreifen, ob es in der gegenwärtigen Lage von Theologie und Kirche keinen nennenswerten Dissens in der Rechtfertigungslehre mehr gibt 8 , noch die Frage nach der reformatorischen Wende in Luthers Theologie beantworten 9 . Dennoch ist es wichtig, zur Rechtfertigungslehre einige Anmerkungen zu machen, damit die Strukturkonstellation des Glaubens material gefüllt wird. Daraus gewinnen wir ein Ordnungsprinzip für die Darstellung der notae, sofern sie auf die Rechtfertigung bezogen werden. Wir meinen nämlich, daß das von Küng ins Zentrum der Rechtfertigung gerückte Paradox nur ein Aspekt der auf die Erfahrung der Rechtfertigung reflektierenden Lehre ist. Zunächst ist ja das Besondere an der Rechtfertigungslehre, daß sie ein Ereignis nicht am Subjekt, sondern am Objekt aussagt. Eine Tat Gottes wird am Menschen ausgelegt. Der sündige Mensch wird von Gott gerecht gesprochen Jüngel sehr vernachlässigt, wie überhaupt „die W e l t " nur als „ G e s e t z " in diesem Buch vorzukommen scheint. 7

Rechtfertigung, a . a . O . , S. 2 3 2 f f .

8

So neben Küng vor allem H . G . Pöhlmann, Rechtfertigung, a . a . O . W i r sind nicht davon überzeugt, daß diese These richtig ist.

9

Vgl. dazu aus der umfangreichen Literatur den von B . Lohse hrsg. Sammelband, D e r D u r c h b r u c h der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Wege der Forschung CXXIII,

1968 und R . Schäfer, Zur Datierung von Luthers

reformatorischer

Erkenntnis, Z T h K 66, 1969, S. 1 5 1 - 1 7 0 ; O . Bayer, Promissio, Geschichte der reformatorischen W e n d e in Luthers Theologie, F K D G 2 4 , 1971; M . Iustitia Christi. Die Entdeckung Martin Luthers, Z T h K 74, 1977, S.

Brecht, 179-223.

Wir meinen allerdings, daß in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 bezüglich der Rechtfertigungslehre das entscheidend Reformatorische schon partiell vorliegt und neigen also zu einer Frühdatierung, ohne sie hier im einzelnen gegen die Befürworter einer Spätdatierung verteidigen zu können.

174

G l a u b e n s s t r u k t u r e n u n d ihre A u s w i r k u n g auf die notae ecclesiae

und so in ein neues Verhältnis zu sich selbst und zu Gott versetzt. Das forensische Urteil wird als Befreiung, Heilung und Veränderung zur Liebes- und Leidensfähigkeit hin erlebt. Rechtfertigung und Heiligung gehören also so zusammen, daß diese jene aus sich heraussetzt. Schon in der paulinischen Rechtfertigungslehre ist der Zusammenhang zwischen iustificatio und Ethik unaufgebbar, obwohl beides scharf voneinander unterschieden wird. Der aus Glauben gerechtfertigte Mensch wird als Befreiter und Versöhnter zur Befolgung des Gesetzes Gottes angewiesen. Aber das Gesetz ist aus dem positiven Rechtfertigungsgeschehen herausgenommen, weil niemand aufgrund von Gesetzeswerken gerechtfertigt wird (Gal 3, 16). An seine Stelle ist Christus gerückt. Damit wird das Gesetz zum Diener Christi (vgl. Gal 6, 2; Rö 8, 2) 10 und bekommt so eine neue Funktion: es deckt die Verlorenheit des Menschen auf und bezeugt Christus als die Gerechtigkeit Gottes 1 1 . So kann es auch für den Christen Gottes heiliger Wille bleiben, dem er zu folgen hat und den er in der Liebe erfüllt (Rö 7, 1; 13, 8 — 10). Aus dem Indikativ folgt der Imperativ 12 . Freilich ist der Imperativ nicht mehr identisch mit der Tora: Die neue Funktion des Gesetzes ist kein tertius usus legis und die Liebe keine christliche Tugend 1 3 . Der ganze Zusammenhang wird von Paulus im Zusammenhang des christlichen Seins im Geist gesehen (Rö 8). Paulus bildet aber kein Paradox, um das Rechtfertigungsgeschehen und den gerechtfertigten Menschen zu beschreiben.

10

Vgl. U . Wilckens, Was heißt bei Paulus: „ A u s den W e r k e n des Gesetzes wird kein Mensch gerecht?", in: Rechtfertigung im neuzeitlichen Z u s a m m e n h a n g ; Studien z u r Interpretation

der Rechtfertigungslehre,

hrsg. von W .

Lohff u n d

Chr.

Walther, 1974, S. 106. 11

Vgl. E. Lohse, G r u n d r i ß der neutestamentlichen Theologie, a . a . O . , S. 9 4 f .

12

Vgl. R. B u l t m a n n , Theologie des N T , a . a . O . , S. 334.

13

Vgl. E. Käsemann, A n die R ö m e r , H N T 8a, a. a. O . , S. 202 ff. Käsemann weist mit Recht darauf hin, daß Paulus noch keinen tertius usus legis im Sinn hat, weil er apokalyptisch denkt u n d das Gesetz des Geistes (Rö 8, 2) nicht als nova lex zu betrachten ist: „ D a s Gesetz des Geistes ist nichts anderes als der Geist nach seiner H e r r s c h a f t s f u n k t i o n im Bereich Christi . . . G o t t e s Wille wird allein durch den Geist erfahren. Es ist ein wesentliches Stück christlicher Freiheit, daß sie nicht u n t e r einer nova lex steht, ihr G e h o r s a m sich nicht an der T o r a , s o n d e r n letztlich allein am Kyrios orientiert", a . a . O . , S. 205.

Die erste Ebene

a. Die erste

175

Ebene

Diesen exegetischen Hinweis nehmen wir auf und verfolgen ihn auf die aller Lehre zugrundeliegende unmittelbare Erfahrung, in der in subjektiver Form ein eindeutiges Geschehen sich ereignet. Auf diese Ebene ist Rechtfertigung das Ereignis selbst und die „sinnliche Gewißheit" 1 4 davon: einem Menschen werden seine Sünden vergeben, und darin erfährt er eindeutiges und nichtwidersprüchliches Heil. Diese unmittelbare und punktuelle Erfahrung artikuliert sich im unmittelbaren Betroffensein; sie spricht aus, was ihr widerfahren ist. Zwar kann die Situation, in der diese Erfahrung gemacht wird, oder dasjenige, was diese Erfahrung auslöst, von distanzierter Reflexion durchzogen sein. Die Situation ist etwa durch Sprache strukturiert. Der Pfarrer beispielsweise, der das Wort Gottes verkündigt und so die Möglichkeit solcher Erfahrung herstellt, wird seine Predigt auch nach Kriterien distanzierter Reflexion gemacht haben. Aber das unmittelbare Geschehen von Rechtfertigung, zum Beispiel durch solche Predigt, und das unmittelbare Reden aus dieser Betroffenheit vertragen kein „simul", weil sich im Geschehen selber dem Glaubenden das Heil unzweifelhaft darbietet. Der Satz Jesu: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren" (Lk 19, 9), die Wunder der Wiederherstellung der verwundeten Schöpfung, die Tischgemeinschaft, die Sündenvergebungen sind als Worte und als Ereignisse eindeutige Erfahrungen iür diejenigen, denen darin das Heil ihres Gottes begegnete. Sicher sind auch in der Versprachlichung dieser Unmittelbarkeit Reflexionsanteile beteiligt. Der Ausspruch der Betroffenheit: „Mein Herr und mein G o t t ! " (Joh 20, 28) weiß, was „ H e r r " und „ G o t t " sagen will. Aber er weiß es nicht aufgrund distanzierender Reflexion. Aber wir machen auch Gegenerfahrungen. Der Christ ist immer angefochten, seine Gewißheit ist umgeben von Verzweiflung an Gott und sich selbst, von Schuld und Lüge, dem Irrsinn der Welt. Wir sind Sünder, „solange wir in diesem Leibe sind" (Luther). Aber mit diesen Gegenerfahrungen verhält es sich anders. Sie sind stets schon distanziert reflektierend vorqualifizierte Erfahrungen: erst der Glaube gibt Einsicht in die vorherige Verfallenheit des Lebens: „sola fide credendum est nos esse peccatores, Quia non est nobis manifestum, immo sepius non videmur nobis conscii" 1 5 . 14 15

G . W . F . Hegel, Phänomenologie des Geistes, Philosoph. Bibliothek 114, S. 397. Luther, W A 56, 2 3 1 , 9 - 1 1 . Vgl. auch E . Käsemann, a . a . O . , S. 190: „ W a s es um die Sünde wirklich ist und wie es sich mit ihrer Herrschaft verhält, entzieht sich der

176

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Es gibt keine „falschen" Erfahrungen. Aber vom Glauben her kann dann gesagt werden, daß eine Erfahrung, ein Ereignis als „Sünde" gedeutet werden kann. Der Glaube sagt, die Verzweiflung ist Ausdruck der Selbstbezogenheit. Er erkennt, daß er seinen Möglichkeiten nicht gemäß gelebt hat, sondern sie verschleuderte. Aber dieses Urteil ist bereits ein Urteil, das aus dem Abstand zum Ereignis gefällt wird und nicht mit dem Ereignis zusammenfällt. Auch die bewußt getane Sünde verdankt ihre Qualifikation einer erkenntnistheoretischen Distanz. Von dieser Distanz her gesehen zeigt sich auf der Ebene der Unmittelbarkeit, daß der gelebte Glaube ein zeitliches Nacheinander der Erfahrungen des Heils und des Unheils, der Gerechtigkeit und der Sünde ist. Hier darf kein „simul" gebildet werden, sonst entzieht man dem lebendigen Erleben seine Wirklichkeit als Vorgang in Raum und Zeit.

b. Die zweite Ebene Die theologische Theorie, die auf den gelebten Glauben reflektiert, löst den Faktor Zeit heraus und bindet das zeitliche Nacheinander in die Paradoxie des „simul". Sie beschreibt den Christen als „simul iustus et peccator". Das ist nicht nur in der über dem Geschehen der Rechtfertigung gebildeten Rechtfertigungslehre so, sondern auch in anderen theologischen Aussagen. Der die Welt regierende Gott wird von Israel in der Partikularität seiner Geschichte erfahren und definiert. Gott tritt kontingent als Mensch Jesus auf und Gott ereignet sich gerade darin, daß er Mensch wird (noch dazu in äußerst zweifelhafter Manier — Kierkegaards Thema). Der Glaube muß zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden (Luthers Thema). Das Leben des Christen ist gezeichnet von totaler Freiheit in allen Dingen und zugleich von totaler Bindung usw. Das Paradox bildet daher — ohne den Faktor Zeit — das gelebte Leben zutreffend ab, indem es das Nacheinander von Erfahrung und Gegenerfahrung in die Zweideutigkeit des Paradoxes logifiziert. Damit erfaßt es in logischer Abstraktion auch die Verborgenheit, in der Gott allein am Werk ist: Gotteserfahrungen sind, wie alle Erfahrungen, nur in den „Zweideutigkeiten des Lebens" (Tillich) gelebte Erfahrungen. Das Kategorie der Erfahrbarkeit selbst im Stande unter dem Gesetz . . ., wird erst vom Evangelium aufgedeckt und nur dem Pneumatiker einsichtig. Die gesamte paulinische Theologie steht und fällt mit dieser Feststellung, weil die Rechtfertigung des Gottlosen ihre Mitte ist."

Die dritte Ebene

177

Paradox drückt das zeitliche Nacheinander des gelebten Lebens als spannungsvolle Kontroverse und als unlösbaren Zusammenhang aus. Es zeigt weiter, daß es ein einziges Subjekt ist, das die gegenteiligen Erfahrungen macht. So erkennt das Paradox die Zeitlichkeit des Daseins, indem es sich von der Zeit distanziert. Aber die Spannung zwischen den beiden kontroversen Polen ist unauflöslich, es gibt keine Auflösung, kein „Nur-noch-Eindeutigsein".

c. Die dritte Ebene Damit aber zeigt sich, daß die Beschreibung des Rechtfertigungskomplexes nicht bei der Paradoxie des „simul" stehenbleiben darf. Denn sie würde dann ein wesentliches Moment am Rechtfertigungsvorgang aus dem Begriff herauslassen: die in der Rechtfertigungserfahrung mit Gewißheit erfahrene Universalität eines erworbenen und kommenden Heils. Der gerechtfertigte Mensch wird ja von Jesus her der eschatologischen Größe „Reich Gottes" angewiesen. Rechtfertigung korrespondiert der umfassenden Erlösung und ist damit bezogen auf das Ende der Welt oder den Gott „alles in allem". Denn wie alle Religion kreist auch der christliche Glaube um Erlösung, also um einen Zustand der Welt, in dem die Kluft zwischen dem Menschen, seinem individuellen und gesellschaftlichen Sein und dem Grund seines Seins und damit seiner Welt nicht mehr schmerzvoll alles Leben ins Sterben bringt; einen Zustand, in dem sich die verzerrende Abscondität zur noch unausdenkbaren Eindeutigkeit und Klarheit, zum „Schauen von Angesicht zu Angesicht" (1. Kor 13, 12), entspannt hat. Darauf zielt die Hoffnung. Das bedeutet: Die notwendige und gerade wegen der Beziehung des Glaubens auf Jesus notwendige Paradoxie kann nicht die letzte Reflexionsstufe der Rechtfertigungslehre und der Theologie überhaupt sein. Der von der Paradoxie abgebildete Lebenszusammenhang des Glaubens wird durch etwas im Gottesereignis selbst Geschehendes noch einmal transzendiert — aber dieser Überschritt rekonstruiert die Eindeutigkeit des Anfangs nicht geschichtslos und vergißt nicht das Paradox als seine Voraussetzung. In den Religionen vollzieht sich die Auflösung des Gegensatzes (nicht des Unterschiedes) zwischen Gott und Mensch so, daß der dem unheiligen, unreinen, sterblichen Sünder begegnende Gott dem eigentlich todverfallenen Menschen den Weg zum Leben zeigt. Dieser Weg differenziert sich dann frei-

178

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

lieh je nach der Eigenart der jeweiligen Religion: Er kann als „ b h a k t i " , als Askese, als Rausch, als Gesetz bezeichnet werden. Das Gemeinsame dieser verschiedenen Wege liegt in der Nötigung des Menschen, auf sich zu verzichten, weil nach der Meinung der Religionen nur im Verlassen des Lebens das wahre Leben erlangt werden kann: „ L e b e n bleibt nur durch das Sterben wach"16. Christlich ist dieser Prozeß nicht mehr gebunden an das Gesetz als Heilsweg, sondern an das Heilsgeschehen in Jesus Christus, also an ein „extra n o s " , das im Glauben angeeignet wird. Mit dem Glauben wird die Rechtfertigung als Beginn und Grund der Erlösung individuell empfangen. Der Glaube ist Werk und Geschenk Gottes. Wie gezeigt, empfängt der Mensch mit der Rechtfertigung auch die nur durch den Glauben vermittelbare Einsicht in die Herrschaft der Sünde und in sein eigenes Sündersein. Deshalb wird das Wesen des gerechtfertigten Menschen im Paradox des „simul iustus et peccator", trotz der eindeutigen Erfahrung der Sündenvergebung, zutreffend erfaßt. Aber das Paradox ist hervorgerufen durch das Ereignis Gottes, das auf eindeutige und nicht mehr paradoxe Zukunft zielt. Das Heil, das dem Sünder zugesagt wird, ist Erfüllung und Verheißung. Im Gottesereignis selbst, in seinem Jetzt-Geschehen-Sein und in seinem Zukunftsaspekt steckt etwas, was zur Auflösung des Paradoxes drängt. Diese in der Rechtfertigungserfahrung mitgesetzte Tendenz zur Totalität des eschatologischen „Nur-noch-Eindeutigsein", zum „Reich G o t t e s " , erkennt das Paradox nicht, weil es die Zeitstruktur des Kreises hat. Es erfaßt nicht, wie die Kontroverse zwischen Gerechtigkeit und Sünde gelöst werden kann und soll. Es gibt keine N o r m , setzt kein Handeln frei. Deshalb wollen wir versuchen, die drei verschiedenen Ebenen des Rechtfertigungskomplexes noch einmal zu erhellen, um vor allem klarer zu sehen, wie man sich die Transzendierung des Paradoxes auf die angedeutete dritte Ebene hin vorzustellen hat. Dazu wollen wir den Ubergang des Paradoxes zur theologisch erfaßten Eindeutigkeit an einer Beobachtung an Luthers Scholien zur Römerbriefvorlesung 1515/1516 erläutern. Luther beschreibt die Situation des Christen, der sich selbst als Sünder erfährt, aber deswegen sein Christsein und seine Rechtfertigung keineswegs verliert, so:

16

Z u m ganzen vgl. C . H . R a t s c h o w , V o n der Religion in der Gegenwart, 1972, S. 11 ff. Das Zitat S. 14.

D i e dritte Ebene

179

„ D e n n wenn das H e r z des an Christus Glaubenden ihn tadelt und anklagt und gegen ihn zeugt, er habe Böses getan, so wendet er sich bald davon ab und wendet sich an Christus und spricht: E r aber hat genug getan (satisfecit) er ist gerecht (Iustus est), er ist meine Verteidigung, er ist für mich gestorben, er hat seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht und meine Sünde zu der seinigen. W e n n er also meine Sünde zu der seinigen gemacht hat, dann habe ich sie nicht mehr und bin frei. W e n n er aber seine Gerechtigkeit zu der meinigen gemacht hat, dann bin ich schon gerecht in derselben Gerechtigkeit wie er (iam Iustus ego sum eadem Iustitia, qua ille). Meine Sünde kann ihn nicht verschlingen, sondern sie wird verschlungen vom unendlichen Abgrund seiner Gerechtigkeit; denn er selbst ist G o t t , hochgelobt in E w i g k e i t " 1 7 .

Derjenige, der an Christus glaubt und darin gerechtfertigt ist, unterliegt also noch der Sünde18, und sein Gewissen verklagt ihn. Auch wenn das paradoxe „simul" hier nicht fällt, ist es doch vorausgesetzt: der Glaubende erfährt sich in der Anklage des Gewissens als Sünder. Die Sünde wird in der Rechtfertigung also nicht weggeschafft, sondern vergeben durch die Gerechtigkeit, die außerhalb des Menschen ist, ihm aber sola gratia geschenkt wird 19 . Weil wir wegen unseres Wesens und nicht wegen sittlicher Defektibilität, die doch immer erst Folge der noch immer wirkenden Sünde ist, bis zum Ende unseres Lebens in Sünden stecken20, sind wir als glaubende Menschen simul iusti et peccatores. Die selbst in guten Werken und sittlichen Leistungen noch wir17

W A 56, 2 0 4 , 1 5 - 2 3 .

18

Vgl. auch W A 39/1, 82 ff.: „ 2 3 . D e n n daß der Mensch gerecht gemacht werde (iustificari), das verstehen wir: der Mensch sei noch nicht gerecht (nondum esse iustum), sondern sei in der Bewegung oder im Laufe zu der Gerechtigkeit. 24. D a r u m ist noch Sünder ein jeglicher, der gerecht gemacht wird, und wird dennoch wie einer, der ganz und vollkommen gerecht ist, gerechnet (reputatur), durch Gottes Verzeihen und E r b a r m e n " .

19

Vgl. R . H e r m a n n , Luthers These „ G e r e c h t und Sünder zugleich", 1930, S. 27: „ F ü r Luther (ist) Vergebung der Sünde (remissio) nicht identisch . . . mit Wegschaffung (ablatio) der S ü n d e " . Auch bezüglich der Sünde gibt es also ein „ s i m u l " : „Simul tollitur eorum peccatum et non tollitur" W A 56, 2 7 0 , 13. D i e Hinwegräumung der Sünde ist eschatologisches Ziel; es gibt sie nur in der H o f f n u n g , und die Hinwegschaffung hat durch das donum gratiae schon jetzt begonnen: „Sed tarnen non sit ablatio peccati nisi in spe i . e . auferenda et data gratia, que auferre incipit, ut non Imputetur ammodo pro peccato" W A 56, 2 7 4 , 9—11. Vgl. auch die Auslegung von R ö 7 im „ L a t o m u s " W A 8, 9 9 f f .

20

W A 56, 3 2 1 , 2. Deshalb gehört das „ s i m u l " zum angefochtenen Glauben, vgl. C . H . R a t s c h o w , D e r angefochtene Glaube, a . a . O . , S. 2 3 3 f f .

180

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

kende S ü n d e zeigt sich in der M ü h e , die solche Werke m a c h e n 2 1 . D i e parad o x e E r f a s s u n g der E r f a h r u n g ist aber provoziert von einem von außen eindeutig in das Leben eintretenden V o r g a n g : wenn das „ s i m u l " den glaubenden Menschen in seiner Lebensmöglichkeit bedroht, flieht er zu C h r i s t u s , der die Sünde zu der seinigen und die eigene Gerechtigkeit zu derjenigen des C h r i sten gemacht hat. Im T a u s c h von S ü n d e und Gerechtigkeit wird C h r i s t u s selber nicht z u m Sünder, die F o l g e der communicatio i d i o m a t u m ist hier kein christologisches P a r a d o x und dies, o b w o h l die Z w e i - N a t u r e n - L e h r e selbstverständliche V o r a u s s e t z u n g der Versöhnungslehre ist 2 2 . D i e Sünde ist nämlich v o m unendlichen A b g r u n d seiner Gerechtigkeit verschlungen

— also

nicht bewahrt — und dieser A k t wird mit Christi Gottheit begründet. D a m i t erweist sich einerseits die Gerechtigkeit, die d e m Menschen zugerechnet wird und in der er dann existiert, als dem sündigen Menschen ganz und gar fremde, eben ganz geschenkte. Andererseits hat die Gerechtigkeit Christi keine p a r a d o x e Gestalt. Wenn sie dem Menschen gegeben wird und er s o in der21

22

Vgl. WA 56, 289, 15ff. Im Römerbrief ist der Gedanke, daß die Sünde besonders in den positiven Möglichkeiten des Menschen liegt, noch nicht so klar wie im „Latomus". Vgl. WA 56, 166 ff. K. O . Nilsson belegt das christologische „simul iustus et peccator" auch nicht mit der Römerbriefvorlesung, vgl.: Simul. Das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie, 1966, S. 192ff. Man muß aber mit Nilsson stets festhalten, daß bei Luther „in der Person Christi . . . alle diese Gegensätze zusammen(strömen), denn Gott wirkt immer sub contrario specie. Wir können nun auch klarer sehen, warum Christus das opus singulariter Dei ist, da nämlich opus alienum und opus proprium in Christus eine Einheit bilden. Hier liegen Zorn und Gnade, Sünde und Heiligkeit ineinander. Im Kreuz ist Heil, im Fluch Segen, im Tod Leben", a . a . O . , S. 205. Dies sub contrario, dessen logische Form das Paradox ist, ist die unverzichtbare Voraussetzung der Theologie, aber es ist nicht ihr letztes Wort — selbst dann nicht, wenn wir nicht vergessen, daß alle theologische Wahrheit als notwendige Abstraktion nicht die Wahrheit ist, sondern auf einer Distanz zu ihr beruht. Es geht auch in der Theologie um die „Entzauberung des Begriffs" (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a . a . O . , S. 22) denn „in Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Momente der Realität sind, die zu ihrer Bildung — primär zu Zwecken der Naturbeherrschung — nötigt Aus der Not der Philosophie, mit Begriffen zu operieren, darf so wenig die Tugend von deren Priorität gemacht werden, wie umgekehrt aus der Kritik dieser Tugend das sumarische Verdikt über Philosophie" (ders., a . a . O . , S. 21).

Die dritte Ebene

181

selben Gerechtigkeit ist wie Christus, dann k o m m t ihm etwas zu, das nicht paradox beschrieben werden darf. Damit ist das Problem gestellt, wie sich das paradoxe „Zugleich" zu dem nicht mehr paradoxen „ N u r - n o c h - G e r e c h t Sein", das ursprünglich das Gerechtsein Christi ist, verhält. Luther versucht das Problem zu lösen, indem er die anthropologische Bestimmung „simul iustus et peccator" einerseits existential, andererseits radikal geschichtlich und also veränderbar versteht und die Kategorie der Verheißung als logische und geschichtliche Vermittlung zwischen dem im „simul" angesprochenen „Total-" und „Partial-Aspekt" einführt 2 3 . Dies zeigt die folgende oft interpretierte Stelle: „Es ist nämlich wie mit einem Kranken, der dem Arzt, der ihm aufs gewisseste die Gesundheit verspricht, glaubt (credit) und in der Hoffnung auf die ver23

Vgl. zu den beiden Aspekten W. Joest, Gesetz und Freiheit; Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, 1951, S. 57 ff. Joest belegt am Spätwerk Luthers folgende Unterscheidung: Der „Total-Aspekt" bezeichnet das „Simul" als „den Kampfplatz zweier sich ausschließender Ganzheiten" in ein und demselben Subjekt, die zwei völlig verschiedene Seinsebenen bezeichnen. Zwischen ihnen gibt es nur den lebenslangen „Transitus". Blickpunkt ist hier: Alles oder nichts. Der „Partial-Aspekt" bezeichnet das „Simul" als einen Prozeß von weniger zu mehr und umgekehrt. Zwischen den beiden Gliedern gibt es den „Progressus" im stetigen „Abnehmen der einen und Anwachsen der anderen Teilgröße". Blickpunkt ist hier: „Mehr oder weniger". Vgl. a. Nilsson, a . a . O . , S. 315ff.; H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei M. Luther und Thomas von Aquin, Walberberger Studien 4, 1967, S. 120f.. Die Formulierung „Total- und Partialaspekt" auch bei Althaus, a . a . O . , S. 212. Zur kontroverstheologischen Problematik des „simul" vgl. M. Bogdan, Die Rechtfertigungslehre Luthers im Urteil der neueren katholischen Theologie, Kirche und Konfession 17, 1971, S. 189ff. und G. Maron, Kirche und Rechtfertigung, Kirche und Konfession 15, 1969, der meint, zwischen den beiden großen westlichen Konfessionen stehe immer noch die unterschiedliche Rechtfertigungslehre und den Disssens an der Ekklesiologie konkretisiert. Weil die katholische Theologie die Kirche nicht als sündige Kirche denkt (Ausnahme H. Küng), sei für die Kirche ein „simul iustus et peccator" ausgeschlossen und deshalb gebe es gerade nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil für die Evangelischen noch eindeutiger als früher die Entscheidung zwischen „Kirche oder Rechtfertigung, Einheit oder Wahrheit" (S. 267). Wir werden auf dieses Problem im Zusammenhang der notae noch eingehen. Das Problem des tertius usus legis bei Luther muß ebenfalls unbeachtet bleiben. Als Gegenposition zu Joest vgl. M. Schloemann, Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther, a . a . O .

13

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

182

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

heißene Gesundheit seinen Vorschriften gehorcht und sich inzwischen dessen enthält, was ihm verboten ist, damit er nicht die verheißene Gesundung gefährde und die Krankheit steigere, bis der Arzt erfüllt, was er versprochen hat. Ist dieser Kranke nun etwa gesund? Nein, er ist zugleich krank und gesund. Krank in Wirklichkeit, gesund aber kraft der gewissen Zusage des Arztes, dem er glaubt, der ihn schon jetzt gleichsam für gesund rechnet (reputat), weil er gewiß ist, daß er ihn heilen wird. Denn er hat schon begonnen, ihn zu heilen und er rechnet ihm (imputauit) die Krankheit nicht zum Tode an. Auf die gleiche Weise hat unser Samariter Christus den halbtoten (semiuiuum) Menschen, seinen Kranken, zur Pflege in die Herberge aufgenommen und begonnen, ihn zu heilen, nachdem er ihm vollkommenste Gesundheit zum ewigen Leben verheißen hat (promissa perfectissima Sanitate in vitam eternam). Und er rechnet ihm die Sünde, d . h . die Begierde, nicht zum Tod an, sondern hindert ihn inzwischen daran — in der Hoffnung auf die verheißene Gesundheit — dies zu tun und zu lassen, wodurch jene Gesundheit gehindert und die Sünde, d. h. die Begierde gesteigert werden würde. Ist er damit vollkommen gerecht? Nein, sondern er ist zugleich Sünder und Gerechter (simul peccator et Iustus); Sünder in Wirklichkeit (re vera), aber gerecht kraft der Ansehung und der gewissen Verheißung Gottes (sed Iustus ex reputatione et promissione Dei certa), daß er ihn von der Sünde befreien wolle, bis er ihn völlig heilt. Und deswegen ist er vollkommen geheilt in Hoffnung, in Wirklichkeit aber ein Sünder (sanus perfecte est in spe, in re autem peccator). Aber er hat den Anfang der Gerechtigkeit, damit er immer weiter suche, sich immer ungerecht wissend" 2 4 .

24

WA 56, 272, 1 - 2 1 . Diese Stelle hat eine große Rolle im Streit darüber gespielt, ob das Rechtfertigungsurteil ein „analytisches" oder ein „synthetisches" ist. K. Holl meinte, die analytische Form sei die in Luthers Sinn genauere; vgl. Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit (1910), in: Ges. Aufs, zur Kirchengeschichte Bd I, 7. Aufl. 1948, S. 111 — 154; Zur Verständigung über Luthers Rechtfertigungslehre (1923), in: Kleine Schriften, hrsg. v. R. Stupperich, 1966, S. 45—59, und: Das Ergebnis der Auseinandersetzung über die Rechtfertigungslehre (1924), a . a . O . , S. 60f. Dagegen haben W. Walther, Neue Konstruktionen der Rechtfertigungslehre Luthers, in: N K Z 34, 1923, S. 5 0 - 6 4 und: Noch ein Wort zu Luthers Rechtfertigungslehre, a . a . O . , S. 6 6 8 - 6 7 5 und P. Althaus, Zum Verständnis der Rechtfertigung (1929), in: Theologische Aufsätze Bd. 2. 1935, S. 31—44 für die synthetische Form votiert. Wir können diese Frage mit W. Härle als erledigt ansehen, weil sie um ein begriffliches Scheinproblem stritt, vgl. Analytische und synthetische Urteile in der Rechtfertigungslehre, NZSysTh 16, 1974, S. 1 7 - 3 4 .

Die dritte Ebene

183

Der Eintrag von Zeit- und Geschichtskategorien in der Rechtfertigung ist durch die paulinische Vorlage gedeckt, die den Kern des Evangeliums von der Gerechtsprechung des Menschen als Tat der reinen Gnade Gottes in der Geschichte Gottes mit Israel schon exemplarisch vorfindet 25 . Am Beispiel Abraham zeigt sich in notwendiger geschichtlicher Konkretion das Wesen des Glaubens überhaupt. Deshalb formuliert Paulus präsentisch 26 . „Total-Aspekt" und „Partialaspekt" werden in der Stelle zusammen genannt. Kraft der Anrechnung (non imputans peccatum) ist der Kranke bzw. der Christ ganz gerecht. In Wirklichkeit (re vera) ist er ganz und gar Sünder. Gerechtigkeit und Sünde koexistieren im Christen, und daraus gibt es kein Entrinnen, solange der Christ auf dieser Erde lebt. Dies „simul" ist die Grundbefindlichkeit des Daseins jedes Christen. Aber der Zustand des auf den Arzt vertrauenden Kranken ist wegen des Bezugs auf das ewige Leben in dieser Zeit auch noch ein Zugleich von Krankheit und Gesundheit. Der Kranke ist Rekonvaleszent; in seinem Leben gelangt er immer näher an das schon geschehene und ihm schon als geschichtlich geschehenes angerechnete Urteil des Arztes heran. Deshalb ist er peccator in re und iustus in spe. Das heißt: ein Vorgang in der Zeit, nämlich das unauflösliche transitive „simul" wird mit einem anders strukturierten Vorgang in der Zeit mit gleichem Namen verbunden, nämlich mit dem progressiven „simul", in dessen Bewegung und Veränderung sich das Paradox immer mehr auflöst und der Christ bezüglich seines Weltverhaltens immer christförmiger wird — auch wenn an jeder aktuellen Sünde sich das Wesen des Menschen als Sünder neu konstituiert und sich dem Christen immer wieder imponiert. Aber weil über die Sünde „extra nos" das Nein Gottes gesprochen ist, hat allein die Gerechtigkeit Zukunft: „Das simul besagt, daß Sünde und Gerechtigkeit gleichzeitige Tatbestände sind, es besagt aber nicht, daß sie sich auf gleicher Ebene mit gleichem Recht gegenüberstehen" 27 . 25

Vgl. O . K u ß , R ö m e r b r i e f B d I, 2. unv. Aufl. 1963, S. 178ff.

26

Vgl. E . Käsemann, a . a . O . ,

S.

104. Käsemann verweist zustimmend auf U .

Wilckens, D i e Rechtfertigung Abrahams nach R ö 4, Studien zur Theologie der alttestamentlichen Uberlieferung, hrsg. v. R . Rendtorff und K . K o c h ,

1961, S.

1 1 1 - 1 2 7 , bes. 113. 27

O . H . Pesch, a . a . O . , S. 119. D i e verschiedenen Begrifflichkeiten, mit denen Luther die Rechtfertigung beschreiben kann, sind nun alle genannt: in der zuletzt zitierten Stelle liegen die sanative und die forensische Rechtfertigungsauffassung vor, beide unter dem physisch-effektiven Bild vom fröhlichen Wechsel, s. o. Vgl. E . - W . Kohls, Luther oder Erasmus, B d . I , T h Z , Sonderband I I , 1972, S. 7 5 f f .

13»

184

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Ausgangspunkt der progressiven Befreiung von der Sünde ist Christus, und der Ort der Verbindung der Gegensätze ist der glaubende Mensch in der Kirche, die die „Herberge" ist, in die der Samariter Christus den halbtoten Menschen gebracht und begonnen hat, ihn zu heilen. Weil es kein Leben ohne die Sünde gibt, ist die Kirche „Stabulum . . . et infirmaria egrotantium et sanandorum" 28 , im Unterschied zum Himmel, der „vero est palatium sanorum et Iustorum" 2 9 . Die beiden Aspekte des „simul" unterscheiden sich erheblich bezüglich ihrer Zeitstruktur. Der „Total-Aspekt" bezeichnet zwar einen Vorgang in der Zeit, aber einen, der sich immer wieder wiederholt, indem sich in ihm ein nur durch den Tod beendeter Transitus von einem Gegensatz zum anderen vollzieht. So ist der Transitus eine „nie fertig vollzogene Tatsache" 3 0 und deshalb voll innerer Bewegung. Aber in ihm verändert sich nichts wirklich. Seine Zeitstruktur ist die „Wiederkehr des Gleichen". Das hier geschehene anthropologische Verhältnis ist zwar durch ein geschichtliches Ereignis im Christusgeschehen angestoßen, vollzieht sich auch immer wieder in der Zeit als Lebensbewegung des Christen, hat auch einen radikal eschatologischen Charakter, insofern sich im „simul" der alte und der neue Äon unversöhnlich gegenüberstehen31, hat aber keine Geschichte, die Vergangenes vergangen sein lassen kann. „Anfang und Ziel (sind) stets gleich ferne und gleich nahe" 3 2 , es gibt kein Wachsen, kein Alt- oder Erfahrenwerden, kein Lernen; im Begriff herrscht die Radikalität des ewig jungen und zugleich ewig alten „Alles oder Nichts". Es gibt darin nichts Neues unter der Sonne, die auch dem christlichen Leben scheint, sondern das „simul" bleibt das ständige Kreisen in sich und seinen Gegensätzen, aus dem erst der Tod erlöst. Aber diese Seinsebene bildet in ihrer partiellen Ausschließlichkeit des „ganz Gerecht" auch den ontologisch bestimmten Zielhorizont der anderen Bewegung: der progressiven Auflösung des in sich kreisenden Paradoxes im aus dem Glauben fließenden Weltverhalten und Sich-Selbst-Erkennen des Christen als Widerstand gegen die Sünde und das falsche Leben. Ganz aufgelöst wird die Sünde darin nicht — völlige Gesundheit wird dem ewigen Leben zugerechnet, aber sie nimmt ab. Im Leben des Christen gibt es einen Fort28

W A 56, 275, 2 7 f .

29

W A 56, 275, 28.

30

W . Joest, a . a . O . , S. 61.

31

Vgl. ders., a . a . O . , S. 59.

32

ders., a . a . O . , S. 62.

Die dritte Ebene s c h r i t t , ein V e r g e s s e n , A n d e r s - G e w o r d e n - S e i n ,

185 u n d diese E r f a h r u n g s t ü t z t

die H o f f n u n g , die in d e m , w a s m i t C h r i s t u s g e s c h e h e n ist, i h r e n G r u n d h a t . Z w i s c h e n b e i d e n A s p e k t e n v e r m i t t e l t die V e r h e i ß u n g 3 3 . I m B e i s p i e l v e r h e i ß t d e r A r z t d e m K r a n k e n die G e s u n d h e i t . F ü r d e n A r z t ist d a m i t d e r K r a n k e s c h o n g e s u n d . D i e s b e g r ü n d e t die s i c h e r e A u s s a g e : „ t o t u s i u s t u s " . D i e B e g r ü n d u n g f ü r das U r t e i l des A r z t e s ist d e s s e n e i g e n e G e w i ß h e i t ü b e r sein V e r m ö g e n , d e n K r a n k e n heilen z u k ö n n e n . E r h a t m i t d e m H e i l u n g s p r o z e ß s c h o n b e g o n n e n , u n d an d i e s e r Stelle ü b e r t r ä g t L u t h e r das z u n ä c h s t allgemeine Schulbeispiel auf den Samariter C h r i s t u s . D i e v o l l k o m m e n e H e i -

33

Dies zeigt auch der berühmte erste Leitsatz der Auslegung von R ö 4, 7 : „Sancti intrensice sunt peccatores Semper, ideo extrinsece Iustificantur Semper" W A 5 6 , 2 6 8 , 2 7 f . Vgl. O . Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, F K D G 24, 1971, S. 137 ff. B a y e r zeigt, daß das doppelte „ S e m p e r " dem „ s i m u l " entspricht und das „intrinsece — extrinsece" identisch ist mit dem „in re — in s p e " unseres Textes. Beide Glieder des Leitsatzes versteht er als sich gegenseitig integrierend, eine Synthese schaffend, und er sieht in der Zweigliedrigkeit „die Zweiseitigkeit des pactum dei" (S. 138) abgebildet. Z u r Wichtigkeit des „pactum dei" für den Nominalismus, vgl. a. a. O . , S. 121 f. Das zweite Glied des Leitsatzes zeigt die Funktion der promissio. Sitz im Leben der hier vorliegenden Logik ist die B u ß e , vgl. K . H . zur Mühlen, N o s extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, B H T h 4 6 , 1972, S. 143. Vgl. auch Bayer, a . a . O . , S . , 3 3 9 f . Gegen die klaren Aussagen der T e x t e ( W A 56, 2 7 3 , l f f . und 274, l f f . ) bezieht E . Bizer, Fides ex auditu, 3. Aufl. 1966, S. 4 8 f . die Nichtanrechnung der Sünde ausschließlich auf die Erbsünde und behauptet in bezug auf 278, 1 8 f f . , daß wir es hier „nicht mit reformatorischer Theologie zu tun haben: die promissio hat nicht den Inhalt

der

Sündenvergebung.

Die

Zurechnung

der

Gerechtigkeit

ist

an

Bedingungen geknüpft, die vorher erfüllt sein müssen; der Mensch darf kein G o t t loser mehr sein, wenn er auf die Imputation hoffen w i l l " (S. 49). Das stellt den Sinn des Textes auf den K o p f : „ N o n satis est, Q u o d nos ipsos pios arbitramur, quia D o m i n i hoc est reputare, et non nisi eos, .quorum remissa sunt et tecta peccata'. Iis enim non Imputabitur Impietas, Sed pietas potius" W A 56, 2 7 8 , 19—21. Gerade dem Gottlosen wird seine Gottlosigkeit nicht zugerechnet. D i e Erkenntnis der Gottlosigkeit ist Folge des Evangeliums, so wie die Erkenntnis der Sünde Folge des Evangeliums ist. Gottlosigkeit und Sünde werden deutlich parallelisiert 56, 2 7 8 , 1 6 f . )

wenn

auch

nach

erfolgter

Rechtfertigung

unterschieden:

(WA der

Gerechtfertigte ist als Gottloser gerechtfertigt und dann — obwohl immer noch Sünder -

kein Gottloser mehr ( W A 5 6 , 2 7 8 , l f . ) . Welchen anderen Inhalt als

Sündenvergebung soll denn die promissio an den von uns zitierten Stellen haben? Vgl. auch H . J . Iwand, Nachgelassene W e r k e , Bd V , 1974, S. 6 9 f f .

186

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

lung gelingt nicht in diesem Leben, es bleibt die Sünde als concupiscentia. Deshalb nimmt der die Sünde nicht anrechnende Gott in seinem Urteil einen für den Menschen zukünftigen, nicht mehr paradoxen Zustand des Gesundseins vorweg. Der Gewißheit Gottes entspricht auf der Seite des Menschen die Hoffnung. Die Wirklichkeit des Menschen ist nicht die ganze Wahrheit. Die Verheißung richtet die Wirklichkeit auf die ganze Wahrheit aus, indem sie die vorläufige und vergehende Wahrheit der Welt, ihre Wirklichkeit, auf die Wahrheit Gottes hin überschreitet. So kann der Mensch die Wahrheit seiner Wirklichkeit, nämlich sein Sündersein nur begreifen, wenn er in der Zusage der Gerechtigkeit Christi diese Wahrheit als vorübergehende und vergehende glaubt. Die imputierte Gerechtigkeit Gottes verändert aber auch die Wirklichkeit der Welt: aus ihrer nur Todverfallenheit wird das paradoxe „simul iustus et peccator". Durch Christus ist in die Wirklichkeit der Menschen die Gerechtigkeit Gottes ohne Werke eingegangen, und die welthafte Wirklichkeit hat dadurch eine Bewegung auf vollendete Gerechtigkeit hin bekommen. So ist der Inhalt der Verheißung das Ende aller menschlichen Wahrheit und Wirklichkeit, denn er ist die Uberwindung sowohl der Sünde wie der Ebene des „simul", der neue Himmel und die neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt (2. Petr. 3, 13) 34 . Dieser Inhalt ist jedoch nicht reine Zukünftigkeit — der Samariter Christus hat ja bereits mit seiner Therapie begonnen, nachdem er dem Kranken vollkommenste Gesundheit zugesagt hat. Die Verheißung richtet also auf die Zukunft aus und verändert die gegenwärtige Wirklichkeit des Menschen, indem sie ihm ein Ereignis der Vergangenheit zu seinem Ziel zurechnet. Genauer: Der vergegenwärtigende Blick auf die Vergangenheit, nämlich auf das Christusereignis verändert die Gegenwart und öffnet sie für die Zukunft der universalen Versöhnung. Die Verheißung vermittelt also die Wirklichkeit des Glaubenden mit der Wahrheit Gottes. Gott setzt sola gratia eine neue Beziehung, und diese Tat verändert die Wirklichkeit der Welt, weil damit ein neues Gottesverhältnis gesetzt ist 35 . Diese Veränderung ist dem

34 35

Vgl. WA 56, 276, 1 f. Man muß dabei beachten, daß Luther in Relationen denkt und nicht in scholastischen Kategorien von Natur und Qualität. Das „simul" ist mit scholastischer Terminologie nicht zu erfassen, vgl. O . H . Pesch, a . a . O . , S. 113. Vgl. auch J. Baur, Salus Christiana Bd I, 1968, S. 59: Luther sieht das Ziel des Glaubens nicht als Qualitätsvermittlung, sondern als „Insein in Christus", also relational. N u n sieht man auch, daß Küng jedenfalls die Rechtfertigungslehre Luthers nicht für sich hat,

D i e dritte E b e n e

187

Glaubenden nicht nur verborgen, sondern Gegenwart, indem er der Verheißung glaubt und daraus die Kraft zieht, den Kampf gegen die Sünde nun frei zu versuchen, weil davon sein Heil nicht mehr abhängt. An den Ereignissen, auf die sich der Glaube bezieht, wird klar, daß Verheißung immer einhergeht mit Erfüllung. Die gute Zukunft hat — paradox — in der Vergangenheit begonnen. Auf sie weist das Evangelium zurück, wenn es jetzt dem Sünder das Heil verkündet und in ihm so die Hoffnung auf ein gutes Ende der Welt schürt. So weitet sich die im Christusereignis erfahrbar gewordene neue Schöpfung zur Hoffnung auf eine — in den Konkretionen des Glaubens vorscheinende — unausdenkbare Eindeutigkeit in der uneingeschränkten Versöhnung einer umfassenden Gerechtigkeit. Weil der Vorschein der Gerechtigkeit Gottes nur in den Konkretionen des Glaubens sichtbar wird, wird deren Zeitqualität verändert. Wegen der partiellen Erfüllung durch die Anwesenheit Gottes wird die Zeit nicht dem sinnlosen Kreisen anheimgegeben (wie im Total-Aspekt), sondern die Zeit beginnt, mit dem Kommen Christi ganz Gottes Zeit zu werden, weil sie die Zeit seiner verschenkten Gerechtigkeit geworden ist: Zeit gibt es auch als Progreß, der von der partiellen Erfüllung ausgelöst wird. Die Vergebung der Sünde, die Heilung des Kranken, ist jetzt schon geschehen (sub specie des „ p o s s e facere", wie Nikolaus von Kues dies nennen würde) 3 6 , wenn auch die Sünde nicht abgetan ist und deshalb die Hoffnung ein Ende des falschen Lebens herbeisehnt. Somit nimmt die Verheißung die beiden verschiedenen Zeitstrukturen der Aspekte des „ s i m u l " in sich auf: sowohl den radikalen Gegensatz zwischen der alten und der neuen Zeit und die Wirklichkeit des Glaubenden, der der Sünde nicht entrinnen kann, solange er lebt — wie auch den dauernden Progreß, der im Vertrauen auf die verheißene Wahrheit alles tut, damit das Verheißene ganz Wirklichkeit werde. In der Verheißung wird dem „TotalA s p e k t " und dem an ihn gebundenen „Semper" der Ewigkeitsanspruch

w e n n er R e c h t f e r t i g u n g u n d H e i l i g u n g (im Sinn der v o n G o t t g e w i r k t e n „ o b j e k t i v o n t i s c h e n " H e i l i g m a c h u n g ) identifiziert mit der B e g r ü n d u n g : „ s o n s t w ä r e die göttliche R e c h t f e r t i g u n g ein leeres, rein verbales R e d e n " (a. a. O . , S. 261). D a s Urteil ist offensichtlich d u r c h die A n w e n d u n g scholastischer T e r m i n o l o g i e im A n s c h l u ß an d a s T r i d e n t i n u m p r o v o z i e r t . F ü r L u t h e r gibt es auf der Seite G o t t e s kein leeres, rein verbales R e d e n . D a s W o r t G o t t e s setzt als W o r t (Urteil) neue Wirklichkeit. 36

p

e

v e n

sa

p

X X X I X , P h i l o s o p h i s c h - t h e o l o g i s c h e Schriften, h r s g . u. eingef. v o n

L . G a b r i e l , ü b e r s , u n d k o m m e n t i e r t v o n D . u n d W . D u p r e . B d I, 1964, S. 176.

188

Glaubensstrukturen und ihre-Auswirkung auf die notae ecclesiae

genommen: Das Paradox ist keine ewige anthropologische Konstante, sondern ein vergehendes Phänomen der geschichtlichen Welt und ist nur dann die letztmögliche theologische Aussage über den Menschen, wenn die T h e o logie ihre Hoffnung und damit ihr Leben fahren läßt 3 7 . Die Verheißung bestätigt einerseits in ihrem Uberschreiten der Gegenwart deren Wirklichkeit als zugleich von Sünder und Gerechtem, und füllt andererseits damit die Wirklichkeit der Welt aus der neuen Gottesbeziehung mit neuer Möglichkeit, die derjenige Teil der Wirklichkeit ist, der noch nicht ihr eigen, aber ihre kommende Wahrheit ist. In der Zusage der Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder zum „simul iustus et peccator" werden läßt, verheißt G o t t dem Menschen ein essentielles N u r Noch-Gerecht-Sein, denn er rechnet ihm Christi eindeutige und nicht paradoxe Gerechtigkeit zu und bringt damit den Menschen in der Zeit in Bezug auf die „letzten D i n g e " . Wären die ontologischen Begriffe noch unversehrt — und da wir noch keine besseren gefunden haben, gebrauchen wir sie trotz ihrer Unzulänglichkeit 3 8 —, könnte man sagen, das Leben der Christen unter der Verheißung sei ein ständiger Umwandlungsprozeß von Essenz in Existenz, also ein ständiges Werden. Des Christen Sein ist im Werden. Die Möglichkeit liegt dann zwischen den beiden voneinander abweichenden Wirklichkeiten (Essenz und Existenz) und ist mit Nikolaus von Kues als „posse f i e r i " 3 9 zu bestimmen, also nicht als bloß formale, „ r e i n e " Modal-

37

J . M o l t m a n n , Kirche in der Kraft des Geistes, a. a. O . , S. 3 4 f f . hat mit der Kritik an Bultmanns Lösung des Problems der Differenz von Glaube und Erfahrung innerhalb der Ekklesiologie den Hoffnungsaspekt im lutherischen „ s i m u l "

hervor-

gehoben und unterlegt dem „ s i m u l " die Formel von der „gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit". „ D e r Widerspruch wird nicht paradoxal verewigt, sondern als eine auf ihre eigene Auflösung in der neuen Schöpfung, in der Gerechtigkeit w o h n t , hindrängende Spannung begriffen" (S. 37). Genau dies wollen wir mit unserer Analyse darstellen. Moltmann nennt die Spannung den „real dialektischen P r o z e ß " , achtet aber m . W . nicht auf die Verheißung als das Mittelglied dieses Prozesses. 38

Zur Problematik

ontologischer Terminologie

vgl.

neben

Adornos

Negativer

Dialektik auch K . H . Haag, Zur Lehre vom Sein in der modernen Philosophie, in: Die Lehre vom Sein in der modernen Philosophie, Hrsg. K . H . Haag, 1963, S. 1 — 11. Vgl. aber auch Blochs Versuch der Neubegründung einer O n t o l o g i e als „ O n t o l o g i e des N o c h - N i c h t " P H , a . a . O . , S. 12 und explizit z . B . in G e s a m t ausgabe B d 7 (Materialismusproblem) a . a . O . , S. 4 5 0 f f . 39

De

ven. sa.

III,

a.a.O.,

S.

16:

„Cum

in

aevum

et

perpetuum

intueor

intellectualiter video ipsum posse fieri et in ipso naturam omnium et singulorum, ut

Die dritte Ebene

189

kategorie, vielmehr als ständig im Begriff stehend, in Wirklichkeit überzugehen. Unter eschatologischem Aspekt setzt sich die Essenz (das Gerechtsein Christi) völlig in Existenz um. Dies logische Modalverhältnis wird im theologischen Begriff der Verheißung gebunden an die Kontingenz der Ereignisse Gottes: in der Gegenwart, wie zur Zeit, als Jesus Gottes Anwesenheit war, wie am Sinai, bei den Vätern und so fort. Die in der Verheißung sich gebende Möglichkeit ist in doppelter Weise an Wirklichkeit gebunden: Einmal an das „extra n o s " geschehene historische Christusereignis und an den bestimmten Menschen mit seinem spezifischen Verhältnissen und seiner spezifischen Geschichte als dem Empfänger der Verheißung. So steht mit der Verheißung zwischen dem verlorenen Sünder, der noch nicht einmal seine Verlorenheit erkennt, und dem Gerechten, dessen Existenz nicht mehr leidvoll von der geschenkten Essenz differiert, das durch Gottes Initiative mögliche, noch verborgene Alles als dem Menschen und der Welt nun geschenkte Potentialität. Zwischen dem homo peccator und dem homo iustus steht dann nicht einfach das Nichts 4 0 , sondern die Verheißung als ein Zugleich von Annihilatio des Gegenwärtigen, Vorfindlichen und Neuwerdung in partieller Erfüllung und Verweis auf das zukünftige Totum. Euthers Satz: „ N a t u r a Dei est, prius destruere et annihilare, quicquid in nobis est, antequam sua d o n e t " 4 1 ist aus der Perspektive des Glaubens gesagt, der seine konkrete Vergangenheit als vergangene Nichtigkeit sich vor Augen führt und das zugleich der Verheißung in ein zeitliches Nebeneinander — allerdings in höchster Abstraktion — übersetzt. In diesem abstrakten Sinn ist die christliche Existenz „Existenz aus dem secundum perfectam explicationem praedestinationis divinae mentis fieri debent" oder: a . a . O . , I X , S. 40: „Imperio verbi creatoris naturaliter facta est lux. Hic motus, quo posse ut actu fiat movetur, naturalis dicitur. Est enim a natura, quae est divini praecepti instrumentum in ipso posse fieri creatum, ut naturaliter et delectabiliter omni labore fatigaque exclusis actu fiat, quod fieri p o t e s t " . Wichtig auch die Stelle, an der der Cusaner die Potentialität dreiteilt und so Schöpfer und Geschöpf trennt und eint: „triplex est posse scilicet posse facere, posse fieri, et posse factum. Ante posse factum posse fieri, ante posse fieri posse facere. Principium et terminus posse fieri est posse facere. Posse factum per posse facere de posse fieri est f a c t u m " a . a . O . , X X X I X , S. 176. 40

Dies sagt E. Jüngel in seinem scharfsinnigen Aufsatz „ D i e Welt als Möglichkeit

41

WA 56, 375, 18.

und Wirklichkeit", a . a . O . , S. 217.

190

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

N i c h t s " 4 2 , weil die Rechtfertigung als Durchgang zum rechten- Leben zu verstehen ist, das in seinem Anfang von der Verheißung ermöglicht worden ist. Daher brauchen die Christen den Beistand des Gottes, um das Wirken Gottes aushalten zu können 4 3 . So führt die Annihilatio - die sich ja am konkreten Menschen vollzieht - nicht in die Verzweiflung und in den existenziellen Tod. Deshalb muß dann auch zwischen dem Sunder und dem Christen als Sunder unterschieden werden. Der Sunder ist unter dem Zorn Gottes und dahingegeben. So vollzieht er „das Gesetz der Sunde und des Todes . . . das göttliche Werk des destruere et in nihilum redigere, indem es den Menschen ,machen l ä ß t ' " 4 4 . Diese Annihilatio ist von der Annihilatio in der Verheißung zu unterscheiden, weil auf das Machen des Menschen nicht das donum Gottes folgt (seine Gerechtigkeit), sondern der Tod. Der Christ aber, der auf das destruere zurückblickt, hat im Vorgang der Rechtfertigung dieses vergangene Dahingegebensein erkannt'und weiß sich selbst wegen Christus aus dem Zornzusammenhang gerettet und hat dann selbst unter dem Zorn Gottes sein Erbarmen erlebt und erkannt 4 S . Das destruere und annihilare ist umfangen von der neuen zukunftigen und gegenwartigen Schöpfung 4 6 .

42

Vgl

z . B : „ D e u s destruit o m m a et ex nihilo facit hominem et deinde lustificat"

W A 39, I, 4 7 0 , 7 f , zit bei Jungel, a . a . O , S. 2 1 7 f 43

W A 56, 376, 2 f f

44

E Jungel, a . a . O . , S

45

W A 56, 380, 3 4 f f : „ C u m suam potentiam non msi sub infirmitate, Sapientiam sub

218

stultitia, B o m t a t e m sub austeritate, lustitiam sub peccatis, misericordiam sub ira absconderit" 46

D e r Inhalt des Zukünftigen ist aber nur in Chiffren, in Anfängen, nicht in Identität da; dies macht die Ungewißheit aus, in deren Zirkel sich H o f f n u n g immer bewegt. Z u m letzten vgl. O

Bayer, a. a. O , S 141 Bayer vertritt - als Grundlage für seine

Spätdatierung der reformatorischen Wende Luthers - die These, in der Romerbriefvorlesung (wie auch in der ersten Psalmvorlesung) sei das mundliche W o r t nur ein W o r t des Gerichts, nicht der Gnade (vgl S. 3 3 9 f f ) Die Gnade begegne „nicht als ,das ander W o r t ' , sondern allein im Gericht, das in sich in G n a d e umschlägt bzw

gleitend in sie ubergeht

Das Geschehen der Gnade eröffnet sich nicht in

mündlichem öffentlichem W o r t ; vielmehr wird es nur als unter seinem Gegensatz verborgen erfahren" (S Luthers

339)

reformatorischer

„ D i e Einheit Gottes spricht sich nicht (wie nach

Auffassung)

in

der

Eindeutigkeit

des

mündlichen

Vergebungswortes zu, um so den Menschen in heilsame Gewißheit zu sammeln, sondern legt sich in der Bewegung standiger exinanitio aus, in der man des Heils

D i e dritte Ebene

191

Damit wird die dritte Ebene des Rechtfertigungskomplexes klarer. In der Rechtfertigungserfahrung ist die Verheißung auf den kommenden Gott mit gerade nicht gewiß ist, ja um ihrer Dauer willen, nicht gewiß sein darf" (S. 340). Daher urteilt Bayer, diese frühe Theologie sei „nicht reformatorisch im Sinne dessen, was Luther darunter verstand" (S. 343), denn wirklich reformatorische Theologie ist begründet in der „ T h e o l o g i e des gewißmachenden W o r t e s " (S. 344). Bayer legt für diese These ein fast nicht zu widerlegendes, umfangreiches Beweismaterial vor. D e n n o c h meine ich, daß von der Stelle, an der wir unsere B e o b a c h tung ansetzen, nämlich dem Bild von der Heilung des Kranken ( W A 56, 272), man dies nicht so ausschließend sagen kann. Das W o r t und die Verheißung des Arztes wie die Zusage des Samariters treten ja nicht als Gericht auf, in dem sich die Gnade verbirgt, sondern als Verheißung der Sanatio und der Imputation der Gerechtigkeit. D i e Gewißheit des Glaubens und die Notwendigkeit, sich auf sich selbst, „in sein Nichts zurückführen zu lassen" (Bayer, a. a. O . , S. 3 4 2 ) , sind solange keine Gegensätze, wie der Glaube sich der Erfahrung des Lebens und der damit verbundenen Einwände

gegen

die

Wahrheit

des

Geglaubten

aussetzt.

Dann

gehört

die

Annihilatio zur Existenz des Christen, so wie die Sünde zu ihm gehört, so lange er lebt. Deshalb hängt das Gesetz auch für den unumstritten reformatorischen Luther der Antinomerdisputationen negativ auch mit der Predigt des Evangeliums zusammen, wie M . Schloemann gezeigt hat. Auch wenn in der christlichen Predigt das Gesetz nicht zur endgültigen Verzweiflung wird, „bezieht sich die Predigt des Evangeliums immer auf eine Erfahrung des Gesetzes G o t t e s , mag diese im H e r z e n des Menschen durch die auch im Zusammenhang des Predigtamtes mit dem Evangelium

ergehende Gesetzesverkündigung

hervorgerufen

sein oder

nicht"

( a . a . O . , S. 126). Weil Luther seinen einheitlichen Gesetzesbegriff („lex Semper accusat") durchhält, steht für ihn „alles Gesetz . . der Gnadenbotschaft des Evangeliums immer grundsätzlich gegenüber. Daher ist das G e s e t z für Luther nicht der eigentliche Gegenstand der evangelischen Predigt von Christus, wenngleich seine Anwesenheit, d.h. mindestens der ausdrückliche Rückbezug des Gnadenwortes auf eine Gesetzeserfahrung wesentlich ist. D i e Kirche muß wegen der Verblendung des natürlichen Menschen und des bleibenden peccator-Seins des Glaubenden die Gesetzespredigt als opus alienum üben, wie auch Christus als interpretator legis sowie auch Paulus sie geübt h a t " ( a . a . O . , S. 129). D a ß die promissio eine E n t sprechung haben

muß (Bayer,

a.a.O.,

S.

138),

ist unter dem Aspekt

des

Indikativ-Imperativ-Schemas verständlich, wenn auch die Entsprechung aus dem Rechtfertigungsgeschehens

selber herausgehalten werden muß.

Zugegeben

ist

allerdings, daß gerade die Formulierung in W A 56, 2 8 1 , 18 f. Bayers These zu stützen scheint: „statuerit Deus nulli velle non imputare nisi gementi et timenti ac assidue misericordiam suam imploranti". H i e r wird scheinbar die menschliche E n t sprechung in das Rechtfertigungsgeschehen als Bedingung hineingezogen.

192

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

der G e w i ß h e i t d e r R e c h t f e r t i g u n g g e s e t z t . D i e V e r h e i ß u n g aus d e r G e w i ß h e i t des G l a u b e n s ist die K a t e g o r i e , die die ewig in sich k r e i s e n d e G e g e n s a t z s p a n n u n g partiell a u f l ö s t . Sie w i r d v o m P a r a d o x n i c h t e r f a ß t . A u f d e r S t u f e des P a r a d o x e s e r s c h e i n t die partielle E r f ü l l u n g . Christliches L e b e n lebt aus d e r E r f ü l l u n g . Dieses a b e r ü b e r s c h r e i t e t sich w e g e n des im g e g e n w ä r t i g e n L e b e n e r f a h r e n e n G l ü c k s v o n G o t t h e r auf das glückliche E n d e d e r G e s c h i c h t e G o t t e s m i t d e n M e n s c h e n u n d d e r W e l t . Dieses L e b e n im „ G e i s t " zeigt die S p u r e n dieses E n d e s in d e r M ö g l i c h k e i t z u r Liebe, d e m

Sich-Weggeben-

K ö n n e n u n d in d e n B i l d e r n , Z e i c h e n , v e r s u c h t e n B e g r i f f e n , die sich auf dies unausdenkbare Ende beziehen. I n d i e s e m W e c h s e l v e r h ä l t n i s w i r d die e i n d e u t i g e u n d w e g e n i h r e r U n m i t telbarkeit i m m e r b e s o n d e r e E r f a h r u n g v o n e i n d e u t i g e m H e i l o h n e d e n G e g e n -

Auch meine ich mit Moltmann, Kirche a . a . O . , S. 44, Anm. 37, daß Bayer in seiner abschließenden Definition von Luthers promissio-Verständnis eine falsche Alternative zum heilsgeschichtlichen Begriff der „Verheißung" stellt ( a . a . O . , S. 347). „Promissio", „als rechtskräftige Zusage mit sofortiger Wirkung" (ebd.) schließt den Zukunftsaspekt des Gottes, der immer mehr ist als in seinem gegenwärtigen Hervortreten, nicht aus. Die eindeutige Zusage enthebt das Verhältnis Gottes zu den Menschen nicht seiner Geschichtlichkeit und der umfassenden Verborgenheit. Vgl. P. Althaus: a . a . O . , S. 207: „Gottes rechtfertigendes Urteil über den Sünder schließt ein göttliches ,als ob' in sich: Gott nimmt den Sünder, als ob er gerecht wäre, als ob er das Gesetz erfüllt hätte. Aber dieses „als o b " ist gesetzt, um aufgehoben zu werden — und die Aufhebung beginnt schon in dem Augenblick, in dem Gottes Barmherzigkeit sich des Sünders vergebend annimmt. So hat Gottes Annehmen des Sünders, die Rechtfertigung allein durch den Glauben eschatologischen Bezug". Althaus belegt dies vor allem mit WA 39, I, 242, 21: „quod non fit, imputat quasi factum sit per misericordiam". Die Zusage hat sofortige Wirkung und setzt etwas in Bewegung. Die Einheit Gottes wird davon nicht berührt. Das Bild von der Sanatio widerspricht auch Bayers Meinung, daß hier gemessen am reformatorischen Wortverständnis bei Luther doch eher das „Staupitzsche Schwanken zwischen Sicherheit und ,vnordentlicher forcht'" (S. 141) vorliegt. Wir stimmen G. Ebelings Urteil zu (von Bayer als Gegenposition zitiert): „ G r u n d sätzlich, wenn auch nicht schon immer hinreichend klar in der Formulierung, ist der Glaube zwischen praesumptio und desperatio nicht, wie in der Scholastik, als Schwebehaltung der Gewißheit, sondern als Heilsgewißheit verstanden. Denn der Glaube, der die Furcht Gottes in sich schließt, hält sich in der ihn begleitenden Anfechtung an der Gewißheit göttlicher Verheißung" (Luther II. Theologie, in: R G G , 3. Aufl. Bd IV, S. 501 f.).

Die dritte Ebene

193

satz kommunikabel. Aus der punktuellen Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Betroffenseins wird die soziale Gestalt des Christen, der im Wechselverhältnis von Erfahrung und Denken zu neuen Erfahrungen und neuem Denken disponiert wird. Auf einer Ebene der Rechtfertigung wird die Erlösung in die Erstreckung der Zeit hin entfaltet, und die verborgene Gegenwart des Zukünftigen macht die Geschichtlichkeit dieses Vorgangs aus, in dem Wissen und Erfahrung keine Gegensätze mehr sind: fiducia und cognitio verbinden sich zum Leben aus Gott auf Gott hin. Deshalb wird das Leben des Christen als „Rekonvaleszenz" beschrieben. Wachsen und Entwicklung gehören zum Glauben hinzu. Sie sind nicht erfaßt in der Punktualität der „sinnlichen Gewißheit" und nicht im „simul", der Ebene der rationalen Gegensatzspannungen. Durch sie aber wird der lebendige Christ, dessen Glaube wegen seines geschichtlichen Bezugspunktes immer „denkender Glaube" (Ratschow) ist, hineingenommen in die Wanderung zur „zukünftigen Stadt" (Hebr 13, 14). Aus dem deskriptiven Denken des „simul" wird das engagierte Denken, das diesem unnennbar Schönen des glücklichen Endes in Bildern, Erzählungen, Gleichnissen, Begriffen und der solidarischen Liebe einen Abglanz geben will. Insofern lenkt die dritte Ebene wieder zurück zur Erfahrung, ohne selber mit der ersten Ebene identisch zu werden. Sie beschreibt das eschatologische, nicht mehr augenblickshafte Moment am Rechtfertigungskomplex: der nach dem Urteil Gottes schon gerechtfertigte Mensch denkt und lebt so, als ob zwischen dem Urteil Gottes und seiner eigenen Wirklichkeit keine Differenz mehr sei, ohne die „Sünde" und „Gegenutopien" zu vergessen. Sie bleiben ihm im Gedächtnis und schärfen dem Glauben ein, sich nicht mit dem Reich Gottes zu verwechseln. Das ist der utopische Funke, der aus der certitudo aufleuchtet und den nicht endenwollenden Gegenerfahrungen ihre Dunkelheit und den lebensfeindlichen Stachel nimmt. Wir wollen daher den Komplex „Rechtfertigung" als Struktur des Glaubens in diesen drei Ebenen beschreiben und werden die notae dementsprechend ableiten. Weil die Rechtfertigung auf Jesus und das Christusgeschehen zurückweist, müssen die notae sich in sachliche Nähe zu Jesus bringen lassen. Sie sind also nicht gemäß eines historischen Nachweises auf Jesus zu beziehen, daß er selbst der Kirche diese oder jene nota verliehen, eingestiftet oder zugesprochen hat. Der Beweisweg der alten katholischen Fundamentaltheologie ist nicht mehr möglich. Sondern die notae müssen in ihrer sachlichen Nähe zum historischen Jesus und seiner Wirkung gesehen werden, also an den

194

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Berichten von ihm orientiert werden. Dabei ergibt sich möglicherweise eine Verbindung zum historischen Jesus, zu seinem Wort und seiner Tat.

2. DIE LEHRE V O N DER TRINITÄT ALS STRUKTUR DES GLAUBENS

Die Rechtfertigung des Sünders verweist auf trinitarische Zusammenhänge. Fragt der Sünder nach seiner Gerechtigkeit vor Gott, so wird er im Evangelium zur Gerechtigkeit Christi geführt, die wiederum auf dessen Gottheit zeigt. Christus verschlingt die Sünde im Abgrund seiner Gerechtigkeit. Durch das meritum seines Todes hat er für uns erworben, „daß uns der Geist gegeben wird und die ,Klugheit des Fleisches' weggenommen w i r d " 4 7 . Das Leben, das als Progreß unter dem unaufhebbaren Vorzeichen der Sünde beschrieben wurde, ist vom Geist gewirkt: „Spiritus enim occidit prudentiam carnis et vivificat hominem interiorem facitque mortem contemni et vitam prodigi ac Deum solum omnia diligi" 4 8 . Die Erfahrung von Rechtfertigung und das Leben aus ihr ist Erfahrung von „Geist". Die trinitarische Einbettung der Ekklesiologie hatten wir an Moltmanns Ekklesiologie dargelegt. Moltmann selber hat die Rechtfertigungslehre als Vorüberlegung zur trinitarischen Entfaltung in die Debatte mit Bultmann eingebracht und auf den Zukunfts- und Hoffnungsaspekt am lutherischen „simul" hingewiesen. Wir meinen, die trinitarische Grundlegung der Ekklesiologie müsse — anders als bei Moltmann — aus den oben angedeuteten Verweisungszusammenhängen hergeleitet werden. Dabei käme stärker als bei Moltmann in den Mittelpunkt, daß sich das trinitarische Schlußverfahren aus der gegenwärtigen Erfahrung des Christen nahelegt und nicht aus der vom Geist mehr oder weniger isolierten Betrachtung des Kreuzesgeschehens. Das Geschehen des Geistes — also, daß ein Mensch zum Glauben kommt und an der Welt nicht verzweifelt, obwohl er dafür allen Grund hätte — zeigt auf Jesus von Nazareth als den Christus Gottes, und von dort her werden der „Vater" und seine Geschichte mit-Israel und mit der Welt in der Schöpfung wichtig. Innerhalb dieses Verweisungszusammenhangs mag dann „die Trini-

47 48

W A 56, 359, 26 f. W A 56, 359, 28 f.

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

195

tätslehre als S u m m e des E v a n g e l i u m s " b e g r i f f e n w e r d e n 4 9 , o b w o h l die T r i nitätslehre der S y m b o l e w e g e n des p r o b l e m a t i s c h e n

griechisch-metaphysi-

schen H i n t e r g r u n d e s u n m o d i f i z i e r t nicht m e h r ü b e r n o m m e n w e r d e n k a n n 5 0 . Sie ist v o n der A l t e n K i r c h e aus d e m B e g r i f f s m a t e r i a l z u s a m m e n g e t r a g e n , d a s ihr die — nicht n u r hellenistische — religionsgeschichtliche u n d religionsp h i l o s o p h i s c h e U m w e l t a n g e b o t e n h a t 5 1 , u n d ist heute nur n o c h kritisch z u ü b e r n e h m e n , weil wir die n e u p l a t o n i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n nicht m e h r teilen. K r i t i s c h e N e u b e g r ü n d u n g e n der Trinitätslehre v e r s u c h e n , die S p a n n u n g z w i s c h e n „ ö k o n o m i s c h e r " u n d „ i m m a n e n t e r " Trinitätslehre z u ü b e r w i n d e n , sei es rein s p e k u l a t i v 5 2 o d e r in einer V e r b i n d u n g v o n S p e k u l a t i o n u n d E x e g e s e 5 3 . B e i d e V e r s u c h e t r e f f e n sich in R a h n e r s , als „ G r u n d a x i o m " , a u f g e stellter T h e s e : „ D i e ö k o n o m i s c h e ' T r i n i t ä t ist die . i m m a n e n t e ' T r i n i t ä t u n d u m g e k e h r t " 5 4 , w e n n sie auch in B e g r ü n d u n g u n d F o l g e r u n g aus

diesem

A x i o m sich erheblich u n t e r s c h e i d e n . A u c h M o l t m a n n setzt in seiner Trinitätslehre i m A n s c h l u ß an R a h n e r v o r a u s , daß die U n t e r s c h e i d u n g e n u n a n g e m e s s e n seien u n d f o l g e r t d a r a u s , 49 50

51 52

53

54

So lautet ein Aufsatz von J. Baur, K u D 22, 1976, S. 122-131. Deshalb versucht J. Moltmann, seine Trinitätslehre „zunächst" ohne metaphysische Voraussetzungen zu entwerfen (Der gekreuzigte Gott, a . a . O . , S. 231). Am radikalsten ist H . Graß mit der Trinitätslehre verfahren — sie kommt überhaupt nicht mehr vor, vgl. Christliche Glaubenslehre, Bd I u. Bd II, a. a. O . Graß ist damit Endstufe eines langen Weges der evangelischen Theologie, der mit Melanchthon und Schleiermacher begonnen hat. Vgl. dazu im einzelnen: K. Rosenthal, Bemerkungen zur gegenwärtigen Behandlung der Trinitätslehre, in: K u D 22, 1976, S. 132 ff. Vgl. A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd I, 1965, S. 115ff. K. Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Mysterium Salutis, Bd II, 1967, S. 3 1 7 - 4 0 1 . E. Jüngel, Das Verhältnis von „ökonomischer" und „immanenter" Trinität. Erwägungen über eine biblische Begründung der Trinitätslehre — im Anschluß an und in Auseinandersetzung mit Karl Rahners Lehre vom dreifaltigen Gott als transzendentem Urgrund der Heilsgeschichte, in: Z T h K 72, 1975, S. 353—364 und ders., Gott als Geheimnis der Welt, a . a . O . , S. 470ff. Vgl. aber schon W. Eiert, Der christliche Glaube, a.a. O . , S. 222ff. und R. Prenter, Schöpfung und Erlösung, 1960, S. 40ff. K. Rahner, a . a . O . , S. 328; E. Jüngel, Das Verhältnis . . ., S. 355 bzw. Gott als Geheimnis . . ., S. 507: „ D e r Satz ist richtig, weil sich in Jesu Gottverlassenheit und T o d (Mk 15, 34—37) Gott selbst ereignet. Was die Passionsgeschichte erzählt, bringt die Trinitätslehre auf den Begriff".

196

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

daß „die Einheit und die Dreieinigkeit Gottes . . . also in einen Traktat zus a m m e n g e h ö r e n ) " 5 5 . Aber Moltmann bestreitet im Gegensatz zu Rahner und Jüngel die monotheistische Voraussetzung des ganzen Lehrstücks und will seine „christologische Trinitätslehre" (S. 222) „jenseits von Theimus und Atheismus" (S. 236) entwerfen. E r sieht also einen Gegensatz zwischen trinitarischem und monotheistischem Denken. Letzteres muß innerhalb der christlichen Kreuzestheologie überwunden werden. Denn das monotheistische Denken hat mit dem atheistischen eine gemeinsame Voraussetzung: „ G o t t und Mensch (sind) im Grunde eines W e s e n s " (S. 236). Im Theismus hypostasiert man G o t t auf Kosten des Menschen, insofern in ihm G o t t „als ein übermächtiges, vollkommenes und unendliches W e s e n " (ebd.) gedacht wird. Deswegen schreibt die theistische Anthropologie dem Menschen die gegensätzlichen Eigenschaften zu: er ist „ohnmächtiges, unvollkommenes und endliches W e s e n " (ebd.). Die Trinitätslehre, deren O r t und Grund ihrer Notwendigkeit das Kreuz Jesu ist (vgl. S. 227), muß die theistische und die metaphysische Voraussetzung fallen lassen, denn sie muß, eine Anregung Schleiermachers aufnehmend 5 6 , „auf ihre ersten Anfänge" zurückgehen. Sie muß auf jeden metaphysischen Gottesbegriff verzichten 5 7 , weil wir die aus ihm deduzierte Theorie nicht mehr nachvollziehen können und die ganze Lehre uns deshalb als Spekulation erscheint (S. 225). Das neuzeitliche Denken, das „nicht mehr anschauendes Denken, sondern operationelles D e n k e n " ist (ebd.), kann ebenfalls die Trinitätslehre nicht nachvollziehen, weil aus dem Verhältnis G o t t zu G o t t nichts für die Praxis zu

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D e r gekreuzigte G o t t , a . a . O . , S. 227 ( D i e im Text eingeklammerten Seitenzahlen beziehen sich auf dieses B u c h ) . Allerdings überzeugt Moltmanns Argument gegen die Aufteilung in zwei Traktate nicht: man habe dann nämlich „ i m G r u n d vier Wesenheiten. Das Wesen G o t t e s wird einem dann zur Gotthypostase, so daß einem die drei Personen verzichtbar werden und man monotheistisch d e n k t " (ebd.). Dabei verkennt M o l t m a n n , daß die Unterscheidung zwischen ousia und hypostase gebildet wurde, um zu zeigen, daß der Monotheismus durch die Trinitätslehre nicht gefährdet ist. D i e dem Athanasius noch fremde Unterscheidung zwischen ousia und hypostase wurde von den Kappadoziern gerade eingeführt, um durch die Trinitätslehre den Monotheismus nicht zu sprengen.

56

Glaubenslehre § 172.

57

Moltmann hält diese Aussage allerdings in einer merkwürdigen Schwebe, wenn er sagt, daß er jeden aus der Metaphysik beschafften Gottesbegriff draußen läßt, vgl. a . a . O . , S. 2 3 1 .

„zunächst"

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

197

entnehmen ist (S. 226). Dies ist erst dann möglich, wenn man die traditionellen Unterscheidungen zwischen „Gott an sich" und „Gott für uns", zwischen der Majestät Gottes und seiner Inkarnation, aufgibt (ebd.). Dann müßte man „das Verhältnis Gottes zu Gott in der Wirklichkeit des Kreuzesgeschehens und also in unserer Wirklichkeit finden und dort bedenken" (ebd.). Moltmann setzt also bei unserer Wirklichkeit an und qualifiziert sie durch das Kreuz und die ontologische Differenz zwischen Gott und Mensch: Gott und Mensch sind nicht eines Wesens. Aber kann man das Kreuzesgeschehen und unsere Wirklichkeit so glatt identifizieren ? Ist das Kreuz Jesu eine Grundbefindlichkeit des Daseins? Wird es dies nicht vielmehr in sehr differenzierter Weise durch den Glauben,'der ins Leiden führt und in den Mühseligen und Beladenen und den Armen seine Brüder erkennt? Moltmann differenziert selbst zwischen dem Kreuz Christi und dem Kreuz seiner Nachfolge: „Das Leiden der Liebe zum vergessenen, verachteten und verratenen Menschen in allen Bereichen seiner Unterdrückung ist konkretes Nachfolgeleiden und heißt praktisch, „sein Kreuz" auf sich zu nehmen. Man darf es aber nicht isolieren, und man sollte bei allem existentiellen Verständnis Jesu, das sich darin tatsächlich einstellt, die qualitative Differenz zwischen Christi eigenem Kreuz und diesem Kreuz seiner Nachfolger nicht außer acht lassen. Christi Kreuz wird zum Grund für das Mitgekreuzigtwerden des Apostels, der Märtyrer und der selbstvergessen Liebenden. Der Grund wird nur vom Begründeten her erkennbar, aber er ist mehr als das Begründete. Im Kreuz der Nachfolge des Glaubens und der Liebe wird Christi Kreuz existentiell erfahren, aber Christi Kreuz geht ihm zeitlich und sachlich und in seiner eschatologischen Bedeutung für die Gottlosen voran" (S. 65f.). Von dem Zusammenhang des Kreuzes der Christen mit dem Kreuz Christi ist die allgemeine Wirklichkeit noch einmal zu unterscheiden, obwohl beider Kreuz nur unter den Bedingungen dieser Wirklichkeit sinnvoll wird. Die Frage ist aber, wie man in das trinitarische Geschehen am Kreuz Christi — als dem Ansatz der Trinitätslehre — hineinkommt. Es scheint zunächst so, als komme man in das Kreuzesgeschehen aufgrund eigener, von der Verkündigung unabhängiger Erfahrung hinein: wie Moltmann selbst zeigt, ist man im Leiden der Liebe auch dann, wenn man nicht „glaubt" (vgl. S. 239f.). Aber die atheistische Liebe liebt auf verzweifelte Weise (vgl. S. 240), denn ihr Existenzproblem ist (darin ist sie sich doch wohl mit der christlichen Liebe einig): „wie man in der Liebe trotz Schmerz, Enttäuschung und Tod bleiben kann" (S. 240). Im Glauben ist die Liebe mit dem Schmerz versöhnt, das ist das „Präsens" der „zukunftsoffenen und Zukunftseröffnenden Gottesgeschichte" (S. 241). Sie 14

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

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Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

ist es deshalb, weil G o t t in dieser Liebe ist. D o r t , „ w o wir leiden, weil wir lieben, leidet Gott in u n s " (S. 242). Im Glauben wird das allgemein menschliche Leiden an der Liebe hineingenommen in G o t t , der dann als „ G e s c h e h e n " interpretiert wird (S. 234). D e r Glaubende wird in dieses Geschehen integriert, das sein inneres Leben im Kreuz Jesu Christi erfahrbar gemacht hat, „sofern die Geschichte Christi das innere Leben Gottes selbst ist" (S. 235). Denn im Kreuz Jesu ist etwas zwischen Vater und Sohn geschehen. Damit dies jedoch keine metaphysisch bedeutungsvolle Aussage wird, qualifiziert Moltmann das Geschehen zunächst nur als Ereignis zwischen demjenigen, „den Jesus , Vater' nannte und in Bezug auf welchen er sich als ,der Sohn' verstand" (S. 231). Als Geschehen zwischen Vater und Sohn ist es lebendiges Geschehen der Liebe, die ins Leiden bringt: „ D e r Sohn erleidet das Sterben, der Vater aber erleidet den T o d des Sohnes" (S. 230) und „der Sohn erleidet an seiner Liebe die Verlassenheit vom Vater in seinem Sterben. D e r Vater aber erleidet an seiner Liebe den Schmerz des Todes des Sohnes" (S. 232). Das Kreuz ist der Punkt der tiefsten Trennung zwischen Vater und Sohn, denn Jesus stirbt den T o d in der Gottverlassenheit und unter dem Fluch des Kreuzes. A b e r diese Trennung ist von einem Paradox gehalten: die Relation zwischen Vater und Sohn zerfällt nicht in der Trennung, sondern die Trennung ist beider Hingabe und darin zeigt sich die „tiefe Willenskonformität" (S. 230) zwischen ihnen, so daß man im Hinblick darauf „auch von einer Wesensgemeinschaft, von einer Homousie, reden" kann (S. 231). Die Trennung ist ihre höchste Konformität. Aus diesem Geschehen zwischen Vater und Sohn geht der Geist hervor (vgl. ebd.), und so bekommt das Geschehen eschatologische Qualität: „ D e r Glaube versteht das historische Geschehen zwischen dem verlassenden Vater und dem verlassenen Sohn am Kreuz eschatologisch als Geschehen zwischen dem liebenden Vater und dem geliebten Sohne im präsenten Geist der lebenschaffenden L i e b e " (S. 232). D . h . : die Trinität konstituiert sich in diesem Geschehen des Kreuzes, das ein „ B e ziehungsgeschehen" ist (vgl. ebd.). Damit ist das Gegenteil Gottes, „der Abgrund der Gottverlassenheit, des absoluten Todes und des N i c h t - G o t t e s " in diese Geschichte Gottes integriert (S. 233). Die Geschichte ist in G o t t hineingekommen (nicht G o t t in die Geschichte!) und das heißt „zuerst, Menschsein in Teilnahme am Leiden und Sterben Christi zu verstehen, und zwar das ganze Menschsein mit allen seinen Aporien und Unheimlichkeiten" (ebd.). Alles Geschehen wird auf die Zukunft Gottes bezogen, der nicht mehr personal, sondern ereignishaft verstanden werden kann. Freilich nicht als das Geschehen von Mitmenschlichkeit — wie bei H . Braun — sondern als „das

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

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Geschehen der Liebe des Sohnes und des Schmerzes des Vaters, aus dem der zukunftseröffnende, lebenschaffende Geist entspringt" (S. 2 3 4 ) . Dies hat für das Gottesbild die K o n s e q u e n z , daß G o t t nicht mehr leidensunfähig gedacht werden darf, nicht mehr allmächtig, vollkommen und unendlich: „ G o t t auf K o s t e n des Menschen gedacht kann nicht der Vater Jesu Christi s e i n " (S. 237). M a n kann zwar nicht „patripassianisch sagen, daß auch der Vater gelitten habe und gestorben sei. Das Leiden und Sterben des Sohnes in der Verlassenheit durch den Vater ist ein anderes Leiden als das Leiden des Vaters am T o d des Sohnes. D e r T o d J e s u ist darum auch nicht einfach theopaschitisch als der , T o d G o t t e s ' zu verstehen. M a n m u ß , um zu begreifen, was zwischen Jesus und seinem G o t t und Vater am K r e u z geschehen ist, trinitarisch reden. D e r Sohn erleidet das Sterben, der Vater erleidet den T o d des Sohnes.

Der

Schmerz des Vaters ist dabei von gleichem G e w i c h t wie der T o d des Sohnes. D e r Vaterlosigkeit des Sohnes entspricht die Sohneslosigkeit des Vaters, und wenn sich G o t t als Vater Jesu Christi konstituiert hat, dann erleidet er im T o d des Sohnes auch den T o d seines Vaterseins. Anders hätte die Trinitätslehre noch einen monotheistischen H i n t e r g r u n d " (S. 2 3 0 ) 5 8 . D i e Gottesprädikate der antiken Metaphysik sind also aus der Gotteslehre zu entfernen, weil mit ihr der „menschliche, gekreuzigte G o t t nicht voll w a h r g e n o m m e n werden k a n n " (S. 2 2 8 ) . D a r a u f k o m m t es aber entscheidend an, wenn die T h e s e stimmt, daß „Kreuzestheologie Trinitätslehre und Trinitätslehre Kreuzestheologie sein m u ß " (ebd.). „ D i e Absage an den unmenschlichen G o t t , an einen G o t t ohne J e s u s , ist für den befreiten Glaubenden um des Kreuzes willen unerläßlich. H i e r liegt das R e c h t des ,christlichen Atheismus' (S. 2 3 7 ) . In das G e s c h e h e n G o t t e s ist „alle menschliche G e s c h i c h t e " integriert, sofern sie in die Zukunft der „ G e s c h i c h t e G o t t e s " integriert ist (S. 2 3 3 ) . So ist natürlich auch die Kirche in G o t t hineingenommen, wie wir oben gesehen haben. Allerdings hat die K i r c h e noch einmal eine spezielle Integration in das trinitarische G e s c h e h e n G o t t e s , weil sie ja „in der Kraft des G e i s t e s " steht und diese Kraft das W a h r n e h m e n G o t t e s in Christus i s t 5 9 . „ D e r Geist führt in die 58

Moltmann redet an dieser entscheidenden Stelle allerdings nicht trinitarisch, sondern binitarisch! Es ist auch unverständlich, weshalb der Monotheismus durch das doch psychologisch und nicht ontologisch gemeinte Leid des Vaters in Frage gestellt sein sollte. Nach Moltmanns Intention geht es in der Abwehr des Monotheismus um den Theismus, nicht um die Einheit Gottes, die nun durch einen Tritheismus ersetzt werden sollte.

59

Vgl. Kirche in der Kraft des Geistes, a . a . O . , S. 49.

14=

200

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Gemeinschaft Christi und vollendet das messianische Reich" 6 0 . In der Kirche ist die Geschichte mit der Eschatologie in spezieller Weise vermittelt. Deshalb ist sie durch und durch messianisches Geschehen, und dieses ist trinitarisch zu interpretieren. Diese faszinierende Neufassung der Trinitätslehre und die Verbindung der Kirche mit der Trinität muß allerdings unserer Meinung nach an einigen Punkten korrigiert werden. Ihre größte Schwierigkeit scheint das aus der dogmatischen Tradition bekannte, von Karl Barth exzessiv neu begründete Schlußverfahren von den Wirkungen Gottes in sein innerstes Wesen zu sein. Denn auch Moltmann verwickelt sich in diesem Schlußverfahren in Aporien. Einerseits begreift Moltmann die Ereignisse am Kreuz Christi als Abbild einer ewig schon vorhandenen Struktur der Trinität, andererseits aber als Geburtsstunde der Trinität, insofern der Geist aus diesem Geschehen hervorgeht und sich der Vater als Vater und der Sohn als Sohn erst konstituieren. Einerseits scheint sich die Trinität erst im Kreuz mit Geschichte zu füllen, andererseits zeigt sich darin das Wesen der Trinität. Wir haben oben interpretierend versucht, diese Aporie in ein zeitliches Nacheinander zu übersetzen, in dessen Verlauf Essenz in Existenz übergeht. Aber Moltmann vermeidet ausdrücklich die ontologisch-metaphysische Begrifflichkeit. Es ist uns auch fraglich, ob der Ansatz der Trinitätslehre die Christologie ist, also die Lehre über Jesu Person und Werk. Geht der Christo/ogi'e nicht die Erfahrung des Geistes voraus, die den dann Glaubenden die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium lehrt und die so an Jesus als dem messianischen Ereignis Gottes den Weg der messianischen Nachfolge in der Befreiung zeigt? Wird nicht durch den Ansatz beim Ereignis des Geistes, also auch bei der Erfahrung des Christen, der mit seinem Leben nicht zurechtkommt, der soteriologische Aspekt überhaupt erst gewonnen, der bei den innertrinitarischen Relationsspekulationen so fehlt? Die Notwendigkeit zur Trinitätslehre ist dann nicht das distanziert reflektierte oder „angeschaute" (Kant) Kreuz Christi (innerhalb einer Christo/og/e), sondern die Erfahrung des Christen in der „Kraft des Geistes", der wegen des Kreuzes Christi nicht an der Welt verzweifelt. Der Ansatz der Trinitätslehre ist dann das allen individuellen und gesellschaftlichen Zwängen unterworfene Leben des zum Reich Gottes jetzt schon befreiten Christen. Moltmann selbst sieht, wie wir gezeigt haben, den Zugang zum Kreuz Christi im Geschehen des Geistes, aber er

60

a . a . O . , S. 17.

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

201

zieht daraus nicht die Konsequenz einer pneumatisch ansetzenden Trinitätslehre. Vielleicht kommt deshalb der Geist in der trinitarischen Erörterung so selten vor und vielleicht sind deshalb so viele trinitarisch gemeinte Aussagen de facto binitarische. Wir haben auf die Aporie der Entstehung der Trinität hingewiesen. Der Geist geht erst aus dem Tod des Sohnes und dem Schmerz des Vaters hervor (vgl. S. 231 u. 239). Wie ist das Hervorgehen gemeint? Ist damit eine „Entstehung" gemeint, dann konstituiert sich die Trinität nicht nur relational, sondern auch essentiell erst im Kreuzesgeschehen. Dies ist aber unter Moltmanns Voraussetzungen nicht möglich, weil die Trinität „von Ewigkeit her offene Trinität" ist 61 und sich also nicht erst im Kreuzesgeschehen als Trinität konstitutiert. Ist mit dem Hervorgehen eine Wirkung ad extra, also ein „Hinausgehen" gemeint, das eine intern schon immer vorhandene Relation nun nach außen hin offenbart? Auch dies geht nach Moltmanns Prämissen nicht, denn durch das Kreuz wird „die trinitarische Geschichte in Gott zwischen dem Vater und dem Sohn im Geist als eschatologische Geschichte nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet" (S. 254). Mit dem Kreuz beginnt also etwas Neues, das die intern vorhandene Relation und das innertrinitarische Geschehen um eine neue Erfahrung bereichert. Die Ereignisse am Kreuz bilden also nicht nur einfach eine in Gott schon immer vorhandene Beziehung in die Geschichte hinein ab. Ist der Gedanke vielleicht so zu verstehen, daß zwischen der Geschichte der Trinität und ihrer eschatologischen Geschichte unterschieden werden muß? Die Geschichte der Trinität wäre dann als die Veränderlichkeit Gottes, seine „Offenheit" definierbar, die im Alten Testament so charakteristisch ist, während die eschatologische Geschichte der Trinität als messianische Vermittlungskategorie auf diejenige Geschichte der Trinität weist, in der Gott die Welt in sein Geschehen hineingenommen hat und sie der Vollendung des gesamten Prozesses (also auch des göttlichen Geschehens!) entgegenführt. . Aber auch diese Unterscheidung läßt sich nach Moltmanns Aussagen nicht halten. Denn der theologisch notwendige Rückschluß aus der „Anschauung der Geschichte Jesu im Licht seiner Sendung auf die ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater und der Rückschluß aus der Erfahrung des Geistes im Licht seiner Sendung" 6 2 erschließt „eine innertrinitarische Ursprungs61 62

a . a . O . , S. 72. Hervorhebung P. St. a . a . O . , S. 71.

202

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Ordnung" 6 3 , die in der Geschichte Jesu „eine geschichtliche Entsprechung" hat 6 4 . Die Ursprungsordnung kann also selber nicht geschichtlich verstanden werden, weil erst in der Sendung des Sohnes und des Geistes die Trinität nicht nur offenbart, was sie in sich selbst ist, „sondern . . . sich zugleich auch für Geschichte und Erfahrung der Geschichte (öffnet)" 6 5 . Die innertrinitarischen Vorgänge vor der Sendung Jesu sind keine geschichtlichen, obwohl G o t t ein „ G e s c h e h e n " ist und also irgendwie zeitliche Struktur hat! Wie ist ein ungeschichtliches Geschehen denkbar ohne Metaphysik? Wird so nicht der metaphysische Gottesbegriff vorausgesetzt, der Gottes Sein als höchste Ruhe und höchste Bewegung bestimmte, weil für Gott alles Wirken und Tun Sein ist und Wirken und Gewirkthaben, also Tun und Ruhen, zusammenfallen 6 6 ? Kann Moltmann die von ihm versuchte Gotteslehre ohne metaphysische Voraussetzung durchhalten? Kann man am Golgathageschehen ohne „metaphysische" Voraussetzung überhaupt etwas in bezug auf „ G o t t " ablesen? Ist es nicht bereits eine metaphysische Voraussetzung, daß dort etwas über G o t t erkennbar wird — also nicht irgendein Sohn irgendeines Vaters stirbt? Metaphysik ist ja noch nicht dadurch beseitigt, daß an die Stelle eines statischen Seins ein Geschehen gesetzt wird. Gewinnt das Kreuzesgeschehen nicht erst durch die metaphysische Voraussetzung einen Sinn, daß an diesem Geschehen derjenige sich zeigt, „der die Enden der Erde in seiner Hand h a t " (Moltmann)? Ist es keine metaphysische Voraussetzung, daß es sich in diesem Geschehen offenbar um den „ G o t t " handelt, den man in Israel kennt? Natürlich ist dies alles von einer speziellen Form der griechischen Metaphysik und den von ihr übernommenen Gottesprädikaten zu unterscheiden. Aber ist es keine metaphysische Voraussetzung, von einem G o t t zu reden, als von „ e t w a s " (auch) essentiell Transzendentem, über das eine Theorie gebil-

63

a . a . O . , S. 70.

64

ebd.

65

a . a . O . , S. 72.

66

Vgl. z . B . Aristoteles, Met. 1 0 7 1 b , 3ff., Meister Eckhart, L W I, S. 2 9 9 . G . Picht stellt eine Beziehung zwischen dem aristotelischen Begriff des voüg und der Hegelschen absoluten Idee her: „Unbewegt ist der Gott, insofern er aus seiner reinen Wirklichkeit nicht heraustreten kann. E r kann weder entstehen noch vergehen. Aber diese Wirklichkeit selbst ist Bewegung. Sie ist in sich kreisendes und deshalb ewiges Leben, ¡¡cor] a i ö i o g oder wie Hegel übersetzt: unvergängliches L e b e n " , Die Dialektik von Theorie und Praxis und der Glaube, Z T h K 70, 1973, S. 114. Vgl. auch S. 52 f. dieser Arbeit.

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

203

det werden kann, die auf Fragen nach dem Woher und dem Wohin theoretisch zu antworten sucht? War Karl Barths Herausnahme des Christentums aus den Religionen nicht ein Irrweg, den Moltmann selbst korrigiert 6 7 ? Und wenn man nicht bereit ist, diese Trennung so zu akzeptieren, kann man dann noch den Theismus als abstrakte Theorie und damit als nicht christlich begreifen? W i r wollen versuchen, die Aporien zu umgehen, indem w i r die Ekklesiologie nicht an einer immanenten, sondern an einer ökonomischen Trinitätslehre orientieren. Zwar drängt der Glaube von der Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Zeit weiter auf die Frage nach dessen Verhältnis zum Sein und damit auf eine Antwort über das innerste Wesen des Gottes, der sich in der Erfahrung des Glaubens in seiner Verborgenheit zeigt und den Glaubenden an Jesus von Nazareth in das Geschehen der Liebe zur Welt hineinbringt und ihn so — wie Moltmann überzeugend darlegt — ins Leiden führt. Die Wesensfrage wird also immer wieder provoziert. Wir wollen versuchen, im pneumatologischen Ansatz und der ökonomischen Orientierung der Trinitätslehre über das Wesen etwas zu sagen, ohne in innertrinitarische Verhältnisse einzudringen. Wir nehmen dabei Luthers Erkenntnis auf, die eine wesentliche Einsicht der Religion in die christliche Gotteslehre zurückbringt, daß nämlich das innerste Wesen der Gottheit undurchdringlich ist und der Glaube deshalb unter dem Eindruck der Erfahrungen des schwierigen Lebens zu dem Gott flieht, der sich in seinem Wort offenbart hat. Deshalb unterscheidet Luther zwischen Wort Gottes und Gott selbst: „Illudit autem sese Diatribe ignorantia sua, dum nihil distinguit inter Deum praedicatum et absconditum, hoc est, inter verbum Dei et Deum ipsum. Multa facit Deus, quae verbo suo non ostendit nobis. Multa quoque vult, quae verbo suo non ostendit sese velle" 6 8 . U n d : „Aliter de Deo vel voluntate Dei nobis praedicata, revelata, oblata, culta, Et aliter de Deo non praedicato, non revelato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos. hic enim vere valet illud: Quae supra nos, nihil ad nos" 6 9 . Wir verzichten auch deshalb auf eine immanente Trinitätslehre, weil ihr der Versuch immanent ist, das Ende aller Geschichte begrifflich vorwegzunehmen. Man muß nicht, wenn man schon immanent denkt, das Wesen 67 68 69

Vgl. a . a . O . , S. 171 ff. W A 18, 685, 2 5 - 2 8 . W A 18, 685, 3 - 7 .

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Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

G o t t e s n o c h i m m e r o f f e n , n o c h nicht h e r a u s p r o z e s s i e r t d e n k e n , u n d v e r b i e tet sich nicht angesichts des B ö s e n eine D e f i n i t i o n des innersten W e s e n s der G o t t h e i t als L i e b e ? Steht die i m m a n e n t e Trinitätslehre nicht n o t w e n d i g v o r d e r T h e o d i z e e als der F r a g e , die sich v o n ihrer K e n n t n i s der innersten W e s e n s z u s a m m e n h ä n g e der G o t t h e i t eigentlich b e a n t w o r t e n m ü ß t e ? E r l a u b t d a g e g e n der V e r z i c h t auf s o l c h e G o t t e s e r k e n n t n i s nicht die A n e r k e n n u n g u n d Ü b e r n a h m e der T h e o d i z e e f r a g e in die T h e o l o g i e , weil sie d a s R ä t s e l h a f t e u n d V e r n i c h t e n d e an G o t t w a h r n i m m t — u n d s o sich z u m „ A t h e i s m u s u m G o t t e s W i l l e n " 7 0 f o r m e n k a n n ? B e k o m m t nicht d a d u r c h d a s a u c h v o n M o l t m a n n in die G o t t h e i t h i n e i n g e n o m m e n e L e i d seine t h e o l o g i s c h e T i e f e , daß der in sich n o c h nicht „ f e r t i g e " G o t t an der U n a b g e s c h l o s s e n h e i t d e s W e l t p r o z e s s e s u n d der n o c h h e r r s c h e n d e n Partikularität der L i e b e leidet u n d so gegen sich s t e h t 7 1 ?

70 71

So interpretiert Moltmann E. Blochs Atheismus. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a . a . O . , S. 472£f. versucht, die mit der Trinitätslehre verbundene Unterscheidung von deus revelatus und deus absconditus nicht als Widerspruch in Gott zu interpretieren, weil er diese Unterscheidung „an der Selbstunterscheidung des dreieinigen Gottes mißt" (S. 474). Dies geschieht unter dem Axiom, daß „Unterscheidung Gottes von Gott niemals als Widerspruch in Gott verstanden werden kann . . . . Gott widerspricht sich nicht selbst. Gott entspricht sich" (ebd.). Aber ist dieses Axiom nicht verwachsen mit den anderen Axiomen der alten griechisch-metaphysischen Gotteslehre, also dem Absolutheitsaxiom, dem Apathieaxiom und dem Unveränderlichkeitsaxiom, die Jüngel mit Recht destruiert? (S. 511). Wieso nimmt er das Axiom der Widerspruchsfreiheit davon aus? Kann man dieses Axiom speziell im Blick auf das A T überhaupt halten? Und muß man nicht zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus anders unterscheiden als zwischen Gesetz und Evangelium, insofern der deus absconditus nicht nur der in seinem Gesetz als zorniger Gott Auftretende ist, sondern der Gott, an dessen für uns sinnlosem und zerstörendem Handeln sich die Q u a l und Revolte Hiobs entzündet? Der Zorn Gottes ist ja demgegenüber eine zwar schreckliche, aber gerade für den Glauben sich notwendig ergebende Seßhaftigkeit. Man muß die Verborgenheit Gottes in seiner „ O f f e n b a r u n g " und seinen Verheißungen von der Abscondität Gottes streng unterscheiden, seine Verborgenheit ist eben nicht nur „eine Bestimmung seiner Offenbarung" (so Jüngel, ebd.) Die Konsequenz des Axioms der Widerspruchsfreiheit ist nichts weniger als die Heraushebung des Glaubens aus der Welt, deren Geschehen immer auch rätselhaft, molochartig und unableitbar sinnlos ist. Auf die Spitze getrieben: Ein Phänomen wie Auschwitz ist kausal nicht zu erklären, weder aus den Faschismustheorien noch aus dem Gesetz und dem Zorn Gottes, obwohl diese wesentliches zu

Die Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

205

Deshalb versagen wir uns den Schluß in Gottes innerstes Wesen: „ I c h waiß wol, das got vater, sund und heyliger geyst sein, aber wie sie ein ding sein, das waiß ich nit und sol es auch nit w i s s e n " 7 2 . Die trinitarische Aussage über G o t t ist deshalb notwendig, weil der Glaube sich als „ L e b e n im Geist" definiert und darin gegenwärtiges Glück.und gegenwärtige Verzweiflung auf den gekreuzigten Gott bezieht, der der Gott Israels und der Schöpfer der Welt ist. „ G e i s t " ist demnach derjenige Vorgang, der das Leben desjenigen Menschen, der von ihm ergriffen wird, im Rückbezug auf den gekreuzigten Jesus von Nazareth angesichts der naheliegenden Verzweiflung in der Hoffnung bekräftigt, es nehme mit der Welt noch ein gutes E n d e in der Liebe. „ G e i s t " ist die unerwartete Erfahrung des Gehaltenseins über dem Abgrund, der Heimat in der Fremde, der anbrechenden Wirklichkeit befreiten Lebens, weil sich im falschen Leben der ökonomischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit durch die Wirkungen des Gekreuzigten eine neue Wirklichkeit gebildet hat, die individuell und kollektiv in der seinem Zustandekommen beitragen können (vgl. E. Bloch, Atheismus im Christentum, S. 319). Das für mich beste Gegengift gegen die Rationalisierung des widersinnig Bösen im Begriff des Gesetzes und des Zornes Gottes ist immer noch Iwan Karamasoffs verzweifeltes und bitteres Ausschlagen des Einheitsbillets für den Himmel wegen des sinnlosen Leidens der Kinder. Vgl. dazu aber auch J . Moltmann, Der gekreuzigte Gott, a. a. O . , S. 267: „Gott in Auschwitz und Auschwitz in dem gekreuzigten Gott — das ist der Grund für eine reale, sowohl weltumspannende wie weltüberwindende Hoffnung und der Grund für eine Liebe, die stärker ist als der Tod und das Tote festhalten kann" und „Leidet die Schekhinah, die mit Israel durch den Staub der Straßen wandert und in Auschwitz am Galgen hängt, an dem Gott selbst, der die Enden der Erde in seiner Hand hat? Dann würde das Leiden Gottes Pathos nicht nur von außen treffen, so daß man sagen könnte, Gott selbst leidet an der menschlichen Geschichte von Unrecht und Gewalt, sondern das Leiden wäre die Geschichte mitten in Gott selbst. Es geht hier nicht darum, Paradoxien aufzustellen, sondern zu fragen, ob nicht die Erfahrungen der Leidenschaft und des Leidens Gottes in das innere Geheimnis Gottes selbst hineinführen, in dem Gott sich selbst gegenübersteht", a . a . O . , S. 263, Hervorhebung P. St. 72

Luther, Trinitatispredigt 1522, WA 12, 588, 5 f. Luther selber hat aber doch Aussagen über die immanente Trinität gemacht, vgl. R. Jansen, Studien zu Luthers Trinitätslehre, Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 26, 1976. Allerdings rückt Jansen Luther in eine zu große Nähe zu Barth. Für Luther sind die immanenten Aussagen nicht die Vordersätze für die ökonomischen, sondern eher umgekehrt.

206

Glaubensstrukturen und ihre A u s w i r k u n g auf die notae ecclesiafc

Möglichkeit des Geschehenkönnens erfahren wird und als ständiger Übergang in Wirklichkeit erlebt wird. Die Erfahrung des Geistes betrifft dann den ganzen Menschen und die Welt, indem der Geist die Erfahrung von Welt als verwundbare und dennoch verläßliche Schöpfung vermittelt mit der Befreiung aus dem eigenen und verordneten Chaos und der im Gekreuzigten vorscheinenden Utopie einer umfassenden Versöhnung der Welt mit ihrem Grund durch die Liebe. Diese Zukunft aus der Vergangenheit ist in der jetzt geschehenden „Vergebung der Sünden" als dem gegenwärtigen Inhalt der Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit und Zukunft (Mt 16, 18 f.) gegenwärtig. Sie ist das Ereignis, durch das ein Mensch die Kraft bekommt, wider alle verallgemeinernde Erfahrung im konkreten Lebensvollzug „die Totalität der Welt nicht sinnlos, leer, zufällig und dem Menschen gegenüber gleichgültig . . . , sondern für ihn" zu glauben 7 3 . Deshalb ist im Neuen Testament der Geist im Rückgriff und in Weiterentwicklung des Alten Testaments als „ K r a f t " und „ W i r k u n g " verstanden, die den Menschen aus dem Bereich der todverfallenen Sarx ins Leben bringt und damit der Gottesherrschaft eingliedert 7 4 . Dies ereignet sich jedoch so, daß im Geschehen des Pneuma der Kyrios anwesend ist, also der Geist von nichts anderem handelt als von Jesus, dem Gekreuzigten, und darin die Gegenwart lebensfähig und die Zukunft hoffnungswürdig gemacht wird 7 5 . Der Prozeß des Geistes ist also der des Lebens, das mit dem Wort von Christus konfrontiert ist und von ihm herkommt. Als solcher ist er immer umgeben von der Aufeinanderfolge von Gewißheit und Zweifel, Eindeutigkeit und Gegensatz, Liebe und Haß, T o d und Leben. Die Verborgenheit hängt an der Lebendigkeit dieses Prozesses und der damit gegebenen totalen Weltförmigkeit, weil „der Begriff des Lebens in seiner Abstraktion . . . gar nicht zu trennen (ist) von dem Unterdrückenden, Rücksichtslosen, eigentlich Tödlichen und Destruktiven. Der Kultus des Lebens an sich läuft stets auf den jener Mächte heraus. Was so Äußerung von Leben heißt von quellender Fruchtbarkeit und dem stoßenden Treiben von Kindern bis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas rechtes zustande bringen, und zum Temperament der Frau, die vergöttert wird, weil in ihr der Appetit

73

D . Solle, Leiden, 1973, S. 192.

74

Vgl. E . Schweizer, A r t . p n e u m a , T h W N T , B d V I , S. 3 9 4 f f .

75

„ F ü r J o h a n n e s wie für die ganze G e m e i n d e konnte p n e u m a nichts anderes sein als die K r a f t , die den Menschen J e s u s als den Erlöser erkennen ließ, in dem G o t t beg e g n e t " , a . a . O . , S. 442.

D i e Lehre von der Trinität als Struktur des Glaubens

207

so unvermischt sich darstellt, all das hat, absolut gefaßt, etwas davon, dem anderen, Möglichen das Licht wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung . . . . Wer das Zerstörende haßt, muß das Leben mithassen: nur das T o t e ist das Gleichnis des nicht entstellten Lebendigen" 7 6 . Daß dieser Vorgang des Geistes G o t t genannt werden kann, hängt daran, daß er den Glauben hervorbringt und am Leben erhält, daran, daß dieses entstellte Lebendige als sein Gegenteil, als ein noch verborgener Sinn und einer im Zwang anhebenden Befreiung verstanden und gelebt werden kann: das richtige Leben hat durch den gekreuzigten Christus im falschen begonnen, obwohl es vom falschen bis zur Unkenntlichkeit verstellt werden k a n n 7 7 . Das Präsentwerden des gekreuzigten Kyrios im Geist, also Gottes Hervortreten jetzt, ist der notwendige Einwand gegen Adornos sonst stimmige Charakterisierung des Lebens, obwohl dieser Einwand sehr subtil die Wahrheit seines Gegenübers behalten muß: in der vom Christen immer gegenwärtigen Nähe des verfehlten Lebens (der Sünde) und der unablässigen Bitte um Befreiung aus dieser Nähe (im Vaterunser) zeigt sich die Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen. D e r Einwand gegen die Wahrheit formuliert sich als am Leben erfahren gewordene Hoffnung auf die Verheißung, daß die jetzt erfahrene Veränderung des trostlosen Zustandes auf ein Ende zugeht, an dem die jetzt unausdenkbare aber in Christus wünschbare Versöhnung im Bild des Gekreuzigten aus Möglichkeit zur endlich qualifizierten Wirklichkeit geworden ist. Daß der Vorgang des Geistes „ G o t t " genannt wird, hängt also an seiner Kraft zum nicht nur affirmativen Trost im falschen Leben: „ D a gibt er die gothait auch dem heyligen geyst, dann ich darff nit trawen oder glauben dann allain got, dann ich muß einen haben der da mechtig ist über todt, hell und teuffei und über alle creaturen, das er inen gebieten kun, das sie mir nit schaden, und mich hyndurch ziehe, also muß ich einen haben, da ich frey auff bawen könde, es köndt mir nit schaden" 7 8 . Nach dem bisher Gesagten mag es scheinen, als sei das Ereignis des Geistes sehr individuell bestimmt worden. Das wäre ein Mißverständnis. Denn der „ G e i s t " ist in doppelter Weise sozial zu bestimmen. Erstens hat er kein anderes Thema als Christus den Gekreuzigten und die an ihn gebundene Wahrheit. Deshalb wirkt der Geist durch Menschen, die vorher von ihm ergriffen wurden. Die Reformatoren haben in der Abwehr der Spiritualisten 76

T h . W . A d o r n o , Minima Moralia, 1969, S. 9 5 f .

77

Vgl. ders., a . a . O . : „ E s gibt kein richtiges Leben im falschen" (S. 42).

78

Luther, W A 12, 5 8 7 , 2 1 - 2 6 .

208

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

das Ereignis des Geistes an das äußere Wort gebunden und dies mit der Freiheit Gottes begründet, dem es eben gefallen hat, das Evangelium an dieses Wort der Schrift zu binden. Deshalb ist der Ort des Geistes die Gemeinde Christi in ihrer Versammlung oder im stillen Bibelstudium, das auf ein öffentliches Wort folgt. Wir werden heute Bindung an die Schrift nicht mehr so problemlos sehen können, weil die Erfahrung zeigt, daß die Schrift durch Menschen, die nicht zur Kirche gehören, oft eindringlicher sprechen kann, als durch die Verkündigung der Kirche in Wort und Sakrament. Aber dennoch ist auch dann deutlich, daß die Schrift prinzipiell aus einem sozialen Kontext redet. Zweitens führt das Geschehen des Geistes deshalb in Sozialität, weil der Geist in der Gerechtsprechung des Sünders in die Utopie einer umfassenden Liebe führt, die deshalb nicht bei sich stehenbleiben kann, weil sie ihre Freude an der Liebe im Geist mit Jesus und dem Grund der Welt in Beziehung gesetzt sieht: „Dieser Jesus will, daß wir Gottes Herrlichkeit, Gottes Freude in Jesu Freude an der Liebe bei uns zu Gesicht bekommen" 7 9 . Dann heißt „Lieben jetzt . . . , wie Jesus das Leben in Gott, nicht in uns, haben, und daß solches Leben-in-Gott-haben nichts anderes als Lieben ist. Das sollen wir glauben, weil uns Jesu Existenz, also Jesu Lieben, Gott als Vater und damit als Grund für unser nunmehr hitbtnkönnen sagbar macht e " 8 0 . Indem der Geist den Menschen aus sich heraustreten läßt und ihn in die Sozialität entläßt und er darin gewißgemacht wird, diese Selbsttranzendierung sei nicht sein Untergang im totalen Allgemeinen, sondern sei der Weg zum Glück, weist er ihn der Gottesherrschaft an und wiederholt darin wiederum nur Jesu eigene Verkündigung — mit dem Unterschied, daß die Basileia nunmehr gezeichnet ist vom Kreuz Christi als dem entscheidenden Glückssymbol der Welt: Deshalb ist den Christen das Wort vom Kreuz eine Kraft Gottes (1. Kor 1, 18). Damit zeigt sich im Kreuz Christi, das der Geist vergegenwärtigt, indem er es auf die Christen anwendet, daß die Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes sich keineswegs mit einer Demonstration seiner Schöpfermacht und Stärke verbindet, sondern daß diese Macht sich durchsetzt im Gegenteil. Seine Gerechtigkeit hängt nicht am Donnern der Erde, sondern an der Liebe, die zum Kreuz führt. Sie läßt die Erde beben und die Felsen erzittern (Mt 27, 51). Der Christ kann sich deshalb von der Liebe Gottes getragen wissen, weil im Geschehen der Rechtfertigung sich ihm die

79

E . Fuchs, Marburger Hermeneutik, 1968, S. 157, H e r v o r h . v. Fuchs.

80

ders., Ergänzungsheft zur Hermeneutik, 3. Aufl. 1963, S. 11. H e r v o r h . v. Fuchs.

Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens

209

Liebe so zeigt, wie reiner sie nicht sein kann: „ G e l i e b t wirst D u einzig, w o du schwach dich zeigen darfst, o h n e Stärke zu p r o v o z i e r e n " 8 1 . So sind die notae der K i r c h e darin in den trinitarischen Zusammenhang der G e s c h i c h t e G o t t e s mit der Welt einzuordnen, daß sie aus dem jetzt gelebten L e b e n der K i r c h e her angesetzt werden, das als Geschehen im Geist aus der Angefochtenheit auf Jesus gelenkt wird, der aus dem Verhältnis G o t t e s zu Israel zu verstehen ist. V o n dort werden sie mit der inhaltlich noch unbekannten Kunft G o t t e s in der Zukunft verwiesen.

3. DIE E S C H A T O L O G I S C H E S T R U K T U R DES G E G E N W Ä R T I G E N GLAUBENS D a m i t eröffnet sich für die Ekklesiologie die eschatologische D i m e n s i o n . D e n n die ö k o n o m i s c h e Trinität ist nach unserem Verständnis nicht so zu verstehen, daß dem Schöpfer im Plan der Heilsgeschichte der Erlöser folgt und diesem wieder der Geist als die gegenwärtige Kraft zum L e b e n und zur H o f f nung. A u c h im Alten Testament ist der G o t t in seinem Hervortreten im E x o dus oder im B u n d wie im L e b e n des Gläubigen sowohl Schöpfer wie E r l ö s e r wie Kraft zum L e b e n . F o r m a l gehören alle drei heilsgeschichtlichen Gliederungen zur Anwesenheit G o t t e s . D e r Schöpfer ist auch der E r l ö s e r und die Kraft zum L e b e n . Als solcher hat er sich bereits im Alten Testament gezeigt: I m G r u n d b e k e n n t n i s des israelitischen Glaubens, daß J a h w e der G o t t von Ägypten her ist ( E x 2 0 , 2 f . ; H o s 1 3 , 4 ) , wird der G o t t verherrlicht, „der sich des G e b u n d e n e n erbarmt. D i e Rede von dem G o t t , der das Schreien der U n t e r d r ü c k t e n hört und ihnen R e t t e r sendet, ist im A T oft zu hören und wird zu einer Verständniskategorie für spätere Erfahrungen in der G e s c h i c h t e Israels ( R i c h t e r , Saul, D a v i d ) " 8 2 . D i e ö k o n o m i s c h e Trinitätslehre zeigt die verschiedenen Weisen des Hervortretens G o t t e s . Sie entgeht dem Modalismus (zugegeben nur knapp) dadurch, daß es der eine G o t t ist, der in der verschiedenen Anwesenheit agiert und sich in seinen Handlungen konkret unterscheiden läßt. In der Begegnung mit G o t t begegnet der Mensch Endgültigem, deshalb ist jede Begegnung mit ihm eschatologisch qualifiziert. D a s Eschatologische ist

81 82

Th. W. Adorno, a . a . O . , S. 255. W. Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie, a . a . O . , S. 17f.

210

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

das Endgültige 8 3 . Dieser Satz gilt nicht nur für das Neue Testament und die „ O f f e n b a r u n g " Christi im Geist, sondern ebenso schon für das Alte Testament, insofern der alttestamentliche Gläubige in Jahwe sein gegenwärtiges Leben und seine Gegenwart als verheißene Nähe des Gottes verstehen konnte, der auch die Zukunft regieren wird, so wie er sich in der Vergangenheit als G o t t erwiesen hat. D i e mißverständlich heilsgeschichtliche Einteilung der Offenbarungsstufen in Schöpfer, Erlöser und gegenwärtige Kraft übersieht die in der existenzbindenden Begegnung mit G o t t sich stets vollziehende Erfüllung. D e facto ist der biblische Schöpfungsglaube ja auch ein Schluß aus der erfüllten Gegenwart auf den guten Anfang 8 4 . D e r jetzt Heil schaffende G o t t wird als Schöpfer prädiziert. So stehen wir in der Erörterung des Eschatologischen bei einer „Strukturanalogie" zwischen dem alttestamentlichen und dem christlichen Glauben, die Israel und die Kirche bis heute verbindet. Nun bekommt mit dem Entstehen der Apokalyptik und deren Eindringen in das Judentum und in das Christentum dieser Eschatologiebegriff eine speziell geschichtliche Wendung. Zwar ist ihm auch vorher schon das Geschichtliche inhärent, weil das Endgültige im A T sich nicht außerhalb der Zeit zeigt und stets in Beziehung mit Geschichte gebracht wird. Die Begegnung mit ihm wird aus der vergangenen Erfahrung her qualifiziert und führt in geschichtliches Handeln. Aber die Apokalyptik fügt dieser Geschichtlichkeit den G e danken des nahe bevorstehenden Endes der Geschichte hinzu, also eine Zielgerichtetheit, die sich nicht mehr mit einem gemäß göttlichem Auftrag gelebten Leben begnügt, aus dem der Mensch dann alt und lebenssatt sterben kann, sondern die an das Ende von Zeit und Geschichte eine Totalität setzt, die den Fluß der Zeit revidiert und die Gottheit selber ist. Eschatologie bei Jesus und im frühen Christentum ist also von der Eschatologie der alttestamentlichen Geschichtsbücher und der klassischen Propheten unterschieden durch diese Zielgerichtetheit, die mit Daniel im Alten Testament vorbereitet ist. Die Verheißungen in dieser eschatologischen Umgebung springen in der

83

Vgl. W . Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirche, These 69, a . a . O . , S. 32. Dort

parallelisiert

Pannenberg

die

Endgültigkeit

und

den

eschatologischen

Charakter der Botschaft Jesu; vgl. H . Fries, Mysterium salutis, I, a. a. O . , S. 229. Zur exegetischen Grundlage vgl. H . P. Müller, Ursprünge und Strukturen alttestamentlicher Eschatologie, B Z A W 109, 1969, und L . Goppelt, Theologie des N T 1976, S. 101 ff. 84

Vgl. G. v. Rad, Theologie des A T Bd I, 4. Aufl. 1966, S. 149ff.

Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens

211

Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde tendenziell, wenn auch nicht immer verbal, aus der Zeit heraus. Sie setzen der Geschichte ein Ende, an dem in einem Gericht die ganze gewesene Geschichte wieder aufgerollt und durch diese Wiederholung beendet wird. Im Bereich des frühen Christentums ist dies Ende mit der Parusie verknüpft, die in allergrößter Nähe erwartet wird 8 5 . Die Theologie W. Pannenbergs ist, wie wir gesehen haben, durch eine spezielle Form theologischen Denkens gekennzeichnet, das die hinter allen Texten liegenden Sachkriterien in einem bestimmten Sinn als eschatologisch bezeichnet. Geschichte und Eschatologie werden nicht mehr, wie noch bei Bultmann, paradox gegenübergestellt, sie werden aber auch nicht wie bei Moltmann, im Begriff des Messianischen miteinander vermittelt, sondern sie werden so ineinander integriert, daß Geschichte nur eschatologisch und Eschatologie nur geschichtlich verstanden werden können. Deshalb kann Pannenberg den Gedanken einer „Universalgeschichte" aufnehmen und neu beleben. N u n ist es aber die Frage, ob die Struktur der Eschatologie, wie sie Pannenberg zeigt, identisch ist mit derjenigen, von der das N e u e Testament spricht. Darin hat die Zeit der Erfüllung in der Sendung des Sohnes begonnen (Gal 4, 4), aber das Ende liegt in der Freiheit Gottes. Deshalb fehlen im N T , speziell bei Paulus, alle Ausmalungen der zukünftigen Herrlichkeit 8 5 3 . Die Struktur des Eschatologieverständnisses bei Pannenberg ist — stark vereinfacht — diese: Im Christusereignis ist das Ende der Geschichte vorwegereignet. Indem der Historiker oder der Theologe hinter den Texten des Neuen Testaments diesem Ende aller Geschichte ansichtig wird, wird er von der „Macht der Zukunft", die allein „Gegenstand der Hoffnung und des Vertrauens sein" 8 6 kann, ergriffen. Deshalb kann er weltoffen dem Ende der 85

Vgl. zum Ganzen E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: E V B II, a . a . O . , S. 82ff. und: Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, a . a . O . , S. 105 ff. Dort konzentriert Käsemann den Begriff der urchristlichen Apokalyptik auf die Naherwartung der Parusie, bes. S. 106, Anm. 1 (von S. 105). Insofern das frühe Christentum aus dem Judentum herkommt, brauchte es allerdings nicht erst die Apokalyptik, um überhaupt historisch denken zu können, wie Käsemann, a. a. O . , S. 95, meint. Historisches Denken war ihm aus dem Alten Testament hinreichend geläufig.

85a

Vgl. E. Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, a . a . O . , S. 110.

86

W. Pannenberg, Der Gott der H o f f n u n g , (1965), in: Grundfragen systematischer Theologie, a . a . O . , S. 393.

212

Glaubensstrukturen u n d ihre A u s w i r k u n g auf die notae ecclesiae

Geschichte entgegengehen, das ihm im Christusgeschehen schon unüberbietbar enthüllt ist. Das erwartete Ende der Geschichte ist also nichts wesentlich Neues, Uberraschendes mehr, weil Gott sich nach Christus „nicht mehr in grundsätzlich neuer Weise" erweist 87 : „Auch das Weltende wird lediglich in kosmischem Maßstab das vollziehen, was an Jesus geschehen ist" 8 8 . Indem das Wort von Christus selber eschatologisch ist, ist es seinem Wesen nach universal, weil es den Selbsterweis Gottes universal kundmacht. Das Wort ist Vorhersage des Endes. Das bedeutet: der strukturelle Ansatz der eschatologischen Theologie ist in der Zukunft, sie hat den „ontologischen Primat" 8 9 . Sie qualifiziert die Gegenwart und auch die Vergangenheit, weil erst das Ende der Geschichte die Gottheit Gottes offenbar macht und sich von daher alle Geschichte rückwirkend „als durch dieselbe Macht der Zukunft geworden und auch wieder verwandelt worden" erweisen wird 9 0 . Die Zukunft ist nun aber in der Geschichte Christi vorwegereignet, das heißt, das Ende der Geschichte ist dem Christen schon bekannt. Die Bedeutung dieser Prolepse liegt nicht in ihr selber, sondern darin, daß sie in der Geschichte das Ende der Geschichte vorwegereignet. Die Bedeutung ergibt sich also nicht daraus, daß dieses Ereignis zu dieser Zeit, in diesem Land und unter dieser bestimmten Personengruppe und Machtkonstellation stattgefunden hat, sondern vom Ende der Geschichte her. Das Ende gibt dem Ereignis seinen Wert. So begegnet der Theologe hinter den Texten des Neuen Testaments nicht dem Jesus von Nazareth, sondern dem proleptisch vorweggenommenen Ende der Geschichte, also der Totalität in nuce. Die Kontingenz scheint der Universalgeschichte zu entgleiten. Dies aber bedeutet, daß die Eschatologie Pannenbergs die Struktur der Teleologie trägt. Deren Akte sind bekanntlich folgendermaßen miteinander verbunden: „1. Akt: Setzung des Zweckes im Bewußtsein mit Überspringung des Zeitflusses, als Antizipation des Künftigen; 2. Akt: Selektion der Mittel vom gesetzten Zweck aus im Bewußtsein (rückläufige Determination); 3. Akt: Realisation durch die Reihe der seligierten Mittel; rechtläufiger Realprozeß außerhalb des Bewußtseins" 91 .

87

ders., O f f e n b a r u n g als Geschichte, a . a . O . , S. 106.

88

a . a . O . , S. 105.

89

D e r G o t t der H o f f n u n g , a . a . O . , S. 392.

90

a . a . O . , S. 393.

91

N . H a r t m a n n , Teleologisches D e n k e n , 2, unv. A u f l . , 1966, S. 69.

Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens

213

Realisation Das proleptisch verstandene Christusereignis überspringt den faktisch noch bevorstehenden Zeitraum bis zum Ende der Geschichte und setzt als Selbsterweis Gottes den Sinn aller Geschichte und gibt von diesem Ende her den ganzen Geschichtsereignissen ihren Zweck bei. Als Prolepse ist das Ereignis aber noch partiell, ihm fehlt die faktische, nicht die sachliche Universalität. In der rückläufigen Determination werden die Mittel selektiert: universale Kundgabe des Christusereignisses und Bildung der Kirche als „Vorwegdarstellung der im Reiche Gottes vollendeten Gesellschaft" 9 2 . Realisation durch die seligierten Mittel, es kommt nichts wesentlich Neues hinzu. Gegen dieses Verständnis des Eschatologischen erheben sich einige Bedenken. A m wichtigsten erscheint uns zweierlei. Erstens scheint uns die allen kontingenten Ereignissen zugewiesene Selbstevidenz in ihrem Bezug auf die Einheit des alles umgreifenden Geschichtsprozesses alles Rätselhafte und Verborgene, ja Widersinnige in der Geschichte, auch in der Geschichte Gottes mit den Menschen, nur gewaltsam in einen Bezug zum Reich Gottes zu bringen. Pannenberg ist dann auch sehr zurückhaltend in der Zuordnung nachchristlicher Geschichte zur eschatologischen Geschichte, obwohl dieser Aufweis doch die Probe aufs Exempel einer Universalgeschichte wäre. Die im Diskurs mit den anderen Wissenschaften wohl nötige Demonstration, daß Welterkenntnis ohne Gottesbegriff nur verkürzt möglich ist 9 3 , führt deshalb nicht weiter als zum abstrakten „Gott der Philosophen" 9 4 , weil die Konzeption der Universalgeschichte die Verborgenheit des Handelns Gottes und 92 93 94

15

W . Pannenberg, Thesen, These 2, a . a . O . , S. 9. Vgl. W . Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 1973. Vgl. H . Deuser, Kritische Notizen zur theologischen Wissenschaftstheorie, EvTh 36, 1976, S. 224. Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

214

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

der Menschen in der Kontingenz der Ereignisse tendenziell ebenso überspringen will wie das widersinnig Böse, Lebensvernichtende, das die Realität des Lebens der Gegenwart ausmacht. Das Eschatologische hat also nicht Anteil an dieser umfassenden Verborgenheit, und das macht sie, mit der Konzeption der Universalgeschichte insgesamt, zu einem abstrakten Geschehen. Dies ist beispielsweise an der Ersetzung der Schuldfrage durch die Sinnfrage in Pannenbergs Theologie zu belegen. Sinnfragen liegen der Abstraktion näher als Schuldfragen. Schuldfragen entstehen auch da, wo die Frage nach dem Sinn sich nicht stellt: An der Schönheit zum Beispiel oder am Gefühl und in der Liebe. Sie sind zwar auch dann Abstraktionen, wenn über sie nachgedacht wird oder sie gelöst werden sollen. Aber sie entstehen nicht nur an der Verletzung eines sinnhaften ordo, sondern am bisweilen irrsinnigen Leben selbst. Zwar liegt es in Zeiten, in denen der metaphysische Überbau zerfällt, besonders nahe, die nun entfallende Sinnmitte neu zu konstituieren, aber wäre die notwendige Neukonstitution nicht dichter am Lebendigen, im vitalen wie im geschichtlichen Bereich, wenn sie über der Schulderfahrung und der Befreiung davon (coram hominibus ein ziemlich sinnloser Akt) die Sinngebung neu formulieren würde, statt umgekehrt? Dann könnte man die breite Basis des Lebendigen mit allen Zufällen, Sprüngen und Überraschungen wieder in das Zentrum der Theologie und auch des Ethischen hineinnehmen und verfiele nicht dem Zwang, durch die Konzentration auf einen Sinn, der noch dazu mit dem Heil irgendwie verbunden ist, das Leben bis in feinste Regungen zu determinieren. Pannenberg ist zuzustimmen, wenn er gegen Ebeling 95 und Logstrup 96 die These von der Selbstevidenz des Ethischen als Folie für die theologische Wahrheit zurückweist 97 . Aber er ersetzt die Selbstevidenz des Ethischen durch die Selbstevidenz der christlichen Wahrheit und eliminiert dadurch den eschatologischen Vorbehalt, der die Verborgenheit des Heils in der Gegenwart aussagen muß, um wahr zu sein. Das bedeutet nicht, aus der Helle der Rationalität in irgendein Dunkel der Existenz oder des Vitalen hinabzusteigen, sondern weist die theologische Reflexion an, diese Verborgenheit be-

95

D i e Evidenz des Ethischen und die Theologie (1960), in: W o r t und Glaube I I , 1969, S. 1 —41 und: D i e Krise des Ethischen und die Theologie, Erwiderung auf W . Pannenbergs Kritik, a . a . O . , S. 42—55.

96

D i e ethische Forderung, 2. unv. Aufl. 1968.

97

W . Pannenberg, Die Krise des Ethischen und die Theologie, (1962), in: E t h i k und Ekklesiologie, 1977, S. 4 1 - 5 4 und: A n t w o r t an G . Ebeling, a . a . O . , S. 5 5 - 6 9 .

Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens

215

grifflich zu reflektieren. Der Begriff der Dialektik scheint uns dazu zu formal 9 8 , deshalb ziehen wir den der Verborgenheit vor, der in der Verheißung sein geschichtliches Korrelat hat und modal als Möglichkeit definiert ist. Die These von der hinter den Texten des N T liegenden Evidenz des Heils und die alle Gegenwart auf siehe ziehende Zukunft als Sinntotalität überfordert sich selbst, weil sie zuviel gelebte Schuld sinnhaft integrieren und alle Rationalität sprengendes Glück überspringen muß. Von beiden ist nicht erkennbar, welchen Bezug sie zur Totalität des Endes haben. Sinn ohne Verbindung zur Schuld reduziert Erkenntnis auf Wissen statt auf Sein. Aber nicht das Wissen, sondern das Sein zwingt zur Reflexion, auch zur theologischen: „ D i e Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann. Das, nichts anderes zwingt zur Philosophie. Diese erfährt dabei den Schock, daß, je tiefer, kräftiger sie eindringt, desto mehr der Argwohn sich anmeldet, sie entferne sich von dem, wie es ist; die oberflächlichsten und trivialsten Anschauungen vermöchten, wäre das Wesen einmal entschleiert, recht zu behalten gegen jene, welche auf das Wesen zielen" 9 9 . Eschatologie ist trotz ihres wesentlichen Charakters, das Endgültige zu ihrem Inhalt zu haben, nicht des Sprunghaften, Uberraschenden, NichtEvidenten, Rätselhaften zu entkleiden. Das Endgültige ist in der Gegenwart nur als das Verborgene wirklich, weil es sich nur raum-zeitlich konkretisiert. Tastend, versuchbar und versuchlich ist es lebbar und denkbar aus der existenzbindenden Erfahrung mit Jesus von Nazareth dem Gekreuzigten, den Gott von den Toten erweckt hat. Daraus folgt das Zweite. Indem Pannenberg das Eschatologische teleologisch strukturiert, überträgt er „die Determinationsform der menschlichen

98

Auf diesen Begriff rekurriert H . Deuser, a . a . O . Mit der Intention Deusers stimmen wir völlig überein: „ D i e theologische Wissenschaft müßte Wissenschaft sein können, ohne den Kontakt

zur gelebten, leidenschaftlichen,

erlittenen

Situation kündigen zu m ü s s e n " (a. a. O . , S. 224). Dabei kann es allerdings nicht um christologische Interpretation unserer Wirklichkeit gehen, sondern um pneumatologisch-anthropologische. 99

15»

Th. W. A d o r n o , Negative Dialektik, a . a . O . , S. 355.

216

Glaubensstrukturen und ihre Auswirkung auf die notae ecclesiae

Handlung auf das G a n z e der W e l t " 1 0 0 . D a s , was Pannenberg in der A n t h r o pologie mit der „ W e l t o f f e n h e i t " des Menschen charakterisierte, die er dann als O f f e n h e i t für G o t t interpretierte 1 0 1 , ist auch in der Eschatologie wirksam: Mensch und Totalität entsprechen sich und unterscheiden sich quantitativ. In umgekehrter F o r m klingt die via eminentiae der altprotestantischen T h e o l o g i e an. D e r Eschatologie entspricht die Struktur des planenden menschlichen D e n k e n s . D a m i t übernimmt die Eschatologie die Struktur des Gesetzes, die gemäß der paulinischen P o l e m i k in R ö 7 ja darin besteht, daß es das Mittel z u m Z w e c k des Heils ist und so, sich i m m e r radikalisierend, Freiheit erstickt. Diese Analogie geschieht gegen Pannenbergs Absicht, ist aber m . E . nicht zu b e s t r e i t e n 1 0 2 . D i e sachlich notwendige Prägung der auf Christus folgenden G e m e i n d e und W e l t durch Jesu W o r t und T a t und G e s c h i c k wird hypostasiert zur Antizipation des noch nicht gekannten, aber verheißenen, im V e r borgenen J e s u und seiner N a c h f o l g e blühenden Endes. So wie der erste und der dritte Finalnexus „ v o m E n d e h e r " bestimmt sind und „die D e t e r m i n a t i o n in ihnen . . . keine vorwärtsstoßende oder schiebende, sondern eine attraktive, vom E n d e her z i e h e n d e " 1 0 3 ist, so ist der G e s c h i c h t s p r o z e ß in der T o t a lität des zukünftigen G o t t e s geschlossen und wird von der Z u k u n f t eingeholt, so wie ein Fischer sein N e t z einzieht. W i r wollen dagegen Eschatologie so verstehen, daß das verborgen Endgültige in der existenzbindenden Begegnung mit Jesus von Nazareth im M e n s c h e n etwas in G a n g setzt, das ihn in die Beziehung auf die „letzten D i n g e " bringt, derart, daß er sich nun selbst überschreiten kann auf den N ä c h s t e n und auf die W e l t und die Erfahrung macht, daß er sich selbst dabei nicht verliert. Dieses Transzendieren wird von der in Begegnung stattfindenden Verheißung möglich, die in der Erinnerung J e s u auf ein E n d e der W e l t zielt, das als umfassendes G l ü c k nur in B i l d e r n , G e schichten und Gleichnissen angezeigt werden kann, für das der M e n s c h von

100

N. Hartmann, a . a . O . , S. 125. Darin sieht Hartmann das „Fiasko des Finaldeterminismus", der dem Menschen jede Freiheit, auch die zum ethischen Handeln raube.

101

Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, 3. erg. Aufl. 1968. Gegen C. H. Ratschow, Der angefochtene Glaube, a. a . O . , S . 116 u. S. 12 muß betont werden, daß Theologie als Gesetz nicht mit dem „dem Menschen eignende(n) Selbstentwurf" gleichgesetzt werden kann. Auch das Gesetz Gottes hat — formal, nicht weltgeschichtlich — teleologische Struktur.

102

103

N . Hartmann, a . a . O . , S. 71.

Die eschatologische Struktur des gegenwärtigen Glaubens

217

sich aus grundsätzlich verschlossen ist. So zieht die Zukunft nicht die Gegenwart auf sich, sondern die Gegenwart ist durch die Vergangenheit (des Christusereignisses) als Wirklichkeit und Möglichkeit begründet, und der in ihr gegenwärtige, verborgene, selbst noch in seinen Prozeß verwickelte Gott eröffnet ihr eine noch unbekannte Zukunft, in der er alles in allem sein will. Diese Zukunft ist durch das Christusereignis als Tendenz erlebbar und erkennbar, insofern schon Jesus selbst „es als seine Aufgabe und die ihm geschenkte Gnade angesehen (hat), den gnädigen Gott als gegenwärtig und in die Welt einbrechend zu bezeugen" 1 0 4 , aber eben als Tendenz und nicht als Prolepse, d. h. nicht ohne Abscondität und nicht in der Struktur des Gesetzes: „Der Christ überschreitet stetig seinen Glaubensbesitz auf Hoffnung hin, und dies geschieht auf dem Boden der Gerechtigkeit in Christo, die uns im Geiste zukommt, auf Gerechtigkeit hin. Dies vollzieht sich nicht am Christen, sondern dieses Uberschreiten tut er als Agape. Der Geist aber ist der Vorgang, der uns Jesum anwesend sein läßt, der uns darin vor Gott heute stellt und also den Boden bereitet, der als Glaube, Leben und Gerechtigkeit Sprungbrett stetigen Sich-Überschreitens wird" 1 0 5 . Für die notae der Kirche folgt aus dieser Fassung ihres eschatologischen Charakters, daß sie weniger final als kausal verstanden werden müssen. Zwar zielen sie alle auf das Reich Gottes, dies aber ist eine verborgene Größe, angestoßen durch das Christusgeschehen, aber jetzt anhebend und nicht anders als in der Konkretion der gegenwärtigen Welt und Kirche erleb- und erlernbar. Die notae können also auch als eschatologische nicht triumphalistisch beschrieben werden, sie sind immer begleitet von Schuld und Versäumnis und ihrem Gegenteil, obwohl sie als Lebens- und Denkvorgänge eine Tendenz angeben, in die die Kirche durch das Christusereignis hineingenommen ist, dessen Ende aber noch ebenso aussteht wie inhaltlich unbekannt und nur in Bildern beschreibbar ist. Die notae sind in dieser Weise „endgültige" Metaphorik. Sie sind aber auch begriffliche Versuche, das stetige Sich-Überschreiten der Christen als Individuen und als Gemeinschaft zu beschreiben, so daß der Kirche klar werden kann, daß sie dann aus der verborgenen Wahrheit Christi fällt und ihr Kirche-Sein verspielt, wenn sie sich nicht mehr selber überschreiten kann. Besonders an Moltmanns Ausführungen wird deutlich, daß Ekklesiologie und darin besonders die Kennzeichen der Kirche nur sinnvoll sind, wenn die 104 105

E. Käsemann, a . a . O . , S. 118. C. H . Ratschow, a . a . O . , S. 116.

218

G l a u b e n s s t r u k t u r e n u n d ihre A u s w i r k u n g auf die notae ecclesiae

theoretischen Begriffe die Kirche nicht nur nach innen, sondern nach außen hin zu beschreiben suchen. Sie stehen daher immer an der Schwelle zum H a n d e l n . Wir haben dies damit ausgedrückt, daß die Kirche sich immer wieder selbst zu überschreiten hat, theoretisch in ihrer Bindung an Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie und praktisch im Überschreiten der Liebe. Die Strukturen des Glaubens sind daher immer auch am gelebten Leben orientiert, weil sie von Erfahrungen h e r k o m m e n und auf neue Erfahrungen zielen.

VII. D I E K E N N Z E I C H E N D E R K I R C H E Wir wollen nun die Kennzeichen aus den entwickelten Strukturen des Glaubens deduzieren. Wenn dieses gelingt, haben wir unsere These verifizieren können. Dabei muß allerdings beachtet werden, daß die Strukturen Rechtfertigung, Trinität, Eschatologie (auf der Grundlage des Weltverhaltens) keine analoge innere Ordnung haben. Die Ebenen des Komplexes „Rechtfertigung" sind dreifach bestimmt: Auf der ersten Stufe versuchen wir, die Erfahrung der Rechtfertigung als Grundlage für alle theoretische Reflexion zu skizzieren. Sie stellte sich dar als eindeutiges Geschehen in der Zeit, umgeben von ihrem Gegenteil. Als Erfahrung in der Zeit ist sie stets schon theoretisch qualitativ vorgeprägt. Tradition von Jesus gibt die Bedingung der Möglichkeit solcher Erfahrung vor. Dies gilt auch für die Erfahrung der Angefochtenheit und Verzweiflung. Die eindeutige Erfahrung und ihr Gegenteil sind zeitlich nacheinander und ergeben erst auf der zweiten (theoretischen) Ebene des ganzen Rechtfertigungskomplexes das „simul iustus et peccator" als logisches Paradox. Dieses Paradox bindet das zeitliche Nacheinander in einen Begriff, dessen Gegensätzlichkeiten nicht entspannt werden dürfen, weil sie nur als spannungsvolle Gegensätze den gemeinten Sachverhalt logifizieren. Auf dritter Ebene wird das Paradox überschritten auf eine begrifflich und existentiell anvisierte Eindeutigkeit. Auf dieser Ebene erscheinen Zeichen, Metaphern, Geschichten, Utopien, Taten der Liebe und Hingabe und konkrete Verheißungen als erfülltes Leben, als Versprechen und Zukunftsanweisungen. Diese dritte Ebene lebt von der Kraft der Erfüllungen und Verheißungen, die sie in Modal- und Handlungskategorien des posse fieri übersetzt. So wird über die Erfahrung der Rechtfertigung als Erfahrung, die sich an der Welt bewähren muß und deshalb in einem „simul" begriffen wird, der theologische Blick für die Möglichkeiten frei, die durch Gottes Handeln in Jesus Christus nun in der Welt sind und die den Grund der Möglichkeit für den Christen geben, sich der Welt in liebender Verantwortung und Freiheit zuzuwenden.

220

Die Kennzeichen der Kirche

Nun wäre es vielleicht möglich gewesen, solchen Dreischritt auch bei Trinität und Eschatologie zu entwickeln. Die Erfahrungsebene innerhalb des trinitarischen Strukturmomentes könnte dann als das staunende Erfahren Gottes in der Schöpfung dargestellt werden. Gott wird mitten im Schrecken der Welt wahrgenommen als derjenige, der die Welt geschaffen hat. Diese numinose Erfahrung des Herrn der Schöpfung würde dann auf zweiter Ebene abstrahiert in Christologie und Pneumatologie als das Wirksamwerden dieses Herrn und Gottes in Christus und jetzt im Geist zum Heil der Welt. D e r Schrecken der Welt fände seinen O r t im Kreuz Christi und im Handeln Gottes sub contrario. G o t t würde dann im neuen „simul" bestimmt werden als derjenige, der seine Welt im Sterben Jesu von Nazareth erlöst und einer neuen Schöpfung entgegenführt. Die dritte Ebene würde dann die Möglichkeiten bedenken, die z . B . nach den Aussagen des Neuen Testamentes durch das Geschehen des Geistes charakterisiert sind, und die Freiheit zum Weltverhalten beschreiben, die aus der Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde folgt. Bei der Eschatologie könnte auf der ersten Ebene der Verweisungscharakter des Glaubens stehen, der als Begegnung mit Jesus auf den kommenden G o t t verweist und so den Menschen in bezug auf „die letzten D i n g e " bringt. Auf der zweiten Ebene wäre dann die sich aus dieser Erfahrung ergebende Spannung zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie zu erheben, die auf dritter Ebene dann in der Einheit der Eschatologie ihren Gegenstand fände, die in der durch geschichtliche Ereignisse unenttäuschbaren Nähe zum Ende gespiegelt wird. Die Propheten des Alten Testamentes oder Paulus oder die vielfältigen charismatischen Bewegungen der Kirchengeschichte wären die Belege dafür. Wir haben allerdings starke Zweifel, ob die Konstellation der Glaubensstruktur damit richtig gegliedert wäre. Innerhalb des trinitarischen Gedankens könnte durch solche Anordnung die Einheit Gottes wieder in verschiedene Funktionen aufgelöst werden. Damit würde mit der eigentlichen T h e o logie auch der Schöpfungsgedanke seiner Tiefe beraubt. Bei der Eschatologie ist vor allem die dritte Ebene dunkel und hätte umfangreiche kirchengeschichtliche Studien zum Beleg erfordert. Deshalb haben wir insgesamt der „Verlockung des ordnenden Geistes" nicht nachgegeben und Schöpfung und Eschatologie nicht am Aufbau des Komplexes „Rechtfertigung" orientiert. Dann muß gefragt werden, ob dann überhaupt aus den unterschiedlichen inneren Ordnungen der drei Strukturmomente gleichmäßig deduziert werden darf. Formal entsprechen sie sich ja nicht. Trinität und Eschatologie kommen

Die Einheit der Kirche

221

zwar von Erfahrung her, sind aber in unserem Schema wesentliche D e n k inhalte des Glaubens. Wir versuchen, diese Schwierigkeit dadurch zu lösen, daß wir erstens die Differenz beachten und unterschiedlich deduzieren. Zweitens sehen wir die Einheit aller drei Strukturmomente in ihrer grundlegenden ethischen Bedeutung: Rechtfertigung, Trinität und Eschatologie sind als Strukturen des Glaubens darin vergleichbar, daß sie auf allen ihren Ebenen und dann auch durchaus unterschiedlich sittliche Phänomene sind, insofern sie auch als Denkprojekte zum leibhaften Glauben gehören. Drittens ergeben sie sich auseinander: die Rechtfertigung verweist auf Trinität und Eschatologie. So finden die drei ihre Mitte in dem gelebten Glauben, der sich mit wachsendem Selbstbewußtsein ergreift und auslegt. Damit wir aber die Ebenen der Deduktion nicht verwischen, versuchen wir, für alle Abteilungen das Schema durchzuhalten, das wir im vorhergehenden Kapitel entworfen haben. Wir leiten die Kennzeichen und ihre Q u a l i täten deshalb aus der Rechtfertigung auf drei verschiedenen Ebenen ab und setzen bei Trinität und Eschatologie jeweils die sich von der Sache anbietenden Untergliederungen an und berücksichtigen damit die von uns im vorhergehenden Kapitel angegebenen Inhalte. Dabei wollen wir vor allem im Gespräch mit den Theologen bleiben, an deren Theologie wir kritisch die Strukturen des Glaubens herausgearbeitet haben. Eine Auseinandersetzung mit den unzähligen ekklesiologischen Meinungen ist nicht möglich und bleibt deshalb auf ein Minimum beschränkt. Wichtiger scheint uns nun zum Schluß der Studie der Versuch einer freien Entwicklung, die sich selbstverständlich in einem Traditionszusammenhang befindet, der das wissenschaftliche Urteil prägt.

DIE E I N H E I T DER KIRCHE 1. Erläuterung

zum

Begriff

Was theologisch unter Einheit verstanden werden soll, ist unter den K o n fessionen strittig. J e d e Konfession hat einen anderen Katalog von Qualitäten, die die Einheit der Kirche begründen. Einheit ist freilich auch, abgesehen von den theologischen Distinktionen, kein eindeutiger Begriff. Auch philosophisch wechselt die Bedeutung und Ausdifferenzierung der möglichen Einheitsverständnisse mit der philosophischen Grundlage: D i e Scholastik versteht unter Einheit etwas anderes als die Aufklärung, der Idealismus hat

222

Die Kennzeichen der Kirche

wiederum andere Einheitsbegriffe hervorgebracht, und die formale Logik verzichtet aus ihr immanenten Gründen auf die Erörterung des Themas überhaupt 1 . Das Problem des Begriffs ergibt sich aus seinem, eben im Begriff problematisierten, Verhältnis zu einer Vielheit: „Einheit soll die Verschiedenheit und Vielfalt des Mannigfaltigen hervortreten lassen, dieses aber zugleich auch in seinem Zusammengehören darstellen. Die Verschiedenheit soll nicht im Gleichen verschwinden, sondern im Selben erscheinen" 2 . Einzelnes und Vieles soll im Begriff der Einheit in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, erhalten bleiben und zugleich aufgehoben sein. Mit dieser allgemeinen Problematik ist aber auch die theologische Schwierigkeit angezeigt. Denn der Begriff der Einheit der Kirche hat sich auf dem Hintergrund einer von Anfang an bestehenden Vielheit der christlichen Grundverständnisse her entwickelt. Deshalb wird die Deduktion aus den Strukturen des Glaubens von diesem grundlegenden Problem von Einheit und Vielheit durchzogen sein. Wenn die Hypothese stimmt, daß sich die Begründung der Kennzeichen der Kirche aus den Strukturen des Glaubens ergibt, so wird sich aus den Strukturen des Glaubens auch die Qualität der EinheitsVorstellung ergeben. Daher wollen wir gemäß dem prospektiven Schema zuerst fragen, ob sich aus dem, was wir über die Rechtfertigung und die Rechtfertigungslehre gesagt haben, etwas über den Modus der Einheit der Kirche ergibt.

2. Rechtfertigung

und

Einheit

a) Erste Ebene Bei Luther haben wir gesehen, daß die Rechtfertigung des gottlosen Menschen von der Erfahrung des einen Gottes und des einen Kyrios in dem einen Geist herkommt. Ähnlich ist es bei Paulus, freilich mit dem Unterschied, daß Paulus in der theoretischen Erfassung dieser Lehre das „simul iustus et peccator" nicht kennt. Der Ausdruck „Rechtfertigung" ist aber im christlichen Umfeld der forensische Ausdruck für eine spezifisch religiöse — allen Religionen geläufige 1

Vgl.

M.

Zahn,

Art.

Einheit,

in: Handbuch

Studienausgabe B d 2, 1973, S. 3 2 0 f f . 2

ders., a . a . O . , S. 325.

philosophischer

Grundbegriffe,

223

Rechtfertigung und Einheit

— Heilserfahrung: nämlich die Erfahrung von der Leben ermöglichenden Präsenz Gottes. Sie hat ihr christliches Spezifikum darin, daß sie die vertrauensvolle Annahme der Befreiung aus der Todverfallenheit vor Gott durch G o t t selber und nicht durch die Befolgung eines von G o t t gewiesenen, das Heil erst konstituierenden, Heilsweges ist. Das Heil ist im Christentum von G o t t selber konstituiert. Deshalb ist Rechtfertigung Erfahrung mit Jesus von Nazareth im Geist 3 . Die Erfahrung kann aber auch anders als forensisch beschrieben werden. Luther hat ja, wie wir gesehen haben, neben dem forensischen auch den sanativen und physisch-effektiven Vorstellungs- und Interpretationsrahmen benutzt. Auch im Neuen Testament wird die Erfahrung, die wir als Rechtfertigung zusammengefaßt haben, als Widerfahrnis des Heils in der Sündenvergebung oder in der Tischgemeinschaft, in der Heilung von Krankheiten und Geburtsfehlern oder in der Forderung, alles zu verlassen, erlebt. Erfahrung des Heils wird in der existenzbindenden Begegnung mit Jesus als dem Wirksamwerden Gottes gemacht. Nach dem T o d e Jesu wird diese existenzbindende Erfahrung mit Jesus im Geist gemacht. Daraus folgt, daß die aus der phänomenologisch beschriebenen Rechtfertigung folgende Qualität der Einheit der Kirche aus der Einheit des in Christus und im Geist rechtfertigenden Gottes gewonnen werden muß und daß die Einheit der Kirche in den verschiedenen Erfahrungen mit diesem G o t t ihr Bild hat. Die Kirche als die Gemeinschaft derer, denen das Heil in Christus zugesprochen ist, ist dann eine wegen ihrer unbedingten Bezogenheit auf den einen G o t t , der in der Begegnung mit Jesus im Geist wirksam wird. Diese nun an den verschiedenen Phänomenen von Rechtfertigung gewonnene Einheit der Erfahrung Gottes ist allerdings schon eine Abstraktion. Sie ist erhoben an den vielen unterschiedlichen Ereignissen Gottes. So wie die Erfahrung des an Jesus ausgelegten Heils im Geist „grundsätzlich ein Pluraletantum" 4 ist, so ist die Einheit der Kirche unter den Bedingungen von Raum und Zeit, also von Welt, grundsätzlich eine Einheit in Vielheit.

3

Vgl. C . H . R a t s c h o w , D i e Religionen und das Christentum, in: D e r christliche Glaube und die Religionen, hrsg. v. C . H . R a t s c h o w , 1967, S. 8 8 f f . ; W . Thüsing, Rechtfertigungsgedanke und Christologie in den Korintherbriefen,

in:

Neues

Testament und Kirche, Festschrift für R . Schnackenburg, 1974, S. 301—324. 4

C . H . R a t s c h o w , D e r angefochtene Glaube, a . a . O . , S. 92.

224

Die Kennzeichen der Kirche

b) Zweite Ebene Die in ihrer Vielheit eine Erfahrung des Heils wird als raum-zeitliche Erfahrung wegen der Kontingenz der Ereignisse in verschiedene „Modelle" der theologischen Reflexion überführt. Von Anfang an ist mit einer Vielheit von Reflexionskomplexen in der Urchristenheit zu rechnen, mit denen die Menschen verschiedener Herkunft auf das Ereignis des Heils an Jesus reagiert haben. Von Anfang an gab es unterschiedliche, nämlich z . B . jüdische und heidenchristliche Interpretationen und Gestaltwerdungen des sich an Jesus formenden Glaubens. Es gab viele Urgemeinden und nicht nur eine 5 . Vermutlich hat es ja sogar eine Reaktion auf das Grundereignis Jesus von Nazareth gegeben, die auch noch nach Ostern sich nur als „Jesus-Kerygma" verfaßte und nicht zum Glauben an Jesus als dem eschatologischen Ereignis gerufen hat 6 . Dieses Jesus-Kerygma ist dann nach dem Untergang Jerusalems versandet und hat nach den ebionitistischen Streitigkeiten mit der Gesamtkirche keinen Anteil an der nun hellenistisch geprägten dogmatischen Entwicklung des Christentums mehr genommen. Dennoch ist die nicht-christliche Betroffenheit von Jesus bis heute lebendig geblieben. Aber auch innherhalb der hellenistischen Gemeinden verlief die theologische Erfassung des Heils aus der Betroffenheit an Jesus nicht einheitlich, und die Frage ist, ob sich die verschiedenen Erfassungen auf eine Mitte hin konvergieren lassen. Wir meinen, daß die im Neuen Testament gesammelten Schriften in aller Unterschiedlichkeit und selbst noch in der theologischen Erstarrung, die wir als Frühkatholizismus kennzeichnen, ihre Mitte darin finden, daß sie versuchen, die spezifische Erfahrung des Heils sola fide et gratia an Jesus zu definieren und weiterzugeben. Selbst der Frühkatholizismus hat ja bei aller Differenz zu Paulus immerhin dessen Briefe und die darin enthaltene Eindeutigkeit des sola fide et gratia bewahrt. Und wenn es stimmt,

5

So mit Recht W. Marxsen, Die Sache Jesu geht weiter, a . a . O . , S. 31. E. Lohse, Grundriß der neutestamentlichen Theologie, a. a. O . , S. 51 spricht davon, daß „die älteste Kirche von Anfang an keine einheitliche G r ö ß e " war, nennt aber die Jerusalemer

Urgemeinde

immer

noch

als

einzige

,,Urgemeinde"

neben

den

„hellenistischen Judenchristen". R. Bultmann und H. Conzelmann sprechen in ihren neutestamentlichen Theologien ganz unbefangen vom Kerygma der Urgemeinde, vgl. a . a . O . , S. 34ff. bzw. a . a . O . , S. 45ff. 6

Vgl. neben Marxsen, a . a . O . , S. 31 ff. auch den Abschnitt über die Spruchquelle „ Q " in unserer Arbeit (S. 90ff).

Zweite Ebene

225

daß die Unterschiedlichkeit der Begriffe, mit denen das Heil bezeichnet wird, in den echten Paulusbriefen und im Epheserbrief zum Beispiel darin übereinkommen, daß die beiden Lexeme öimioi>00cn und ocp^eaÖai ihre semantische Uberschneidung im Begriff des Heils als ihrem Supernym finden 7 , dann folgt daraus, daß die frühen christlichen Schriften, die im Neuen Testament gesammelt sind, das christliche Spezifikum der Heilserlangung trotz ganz unterschiedlicher theoretischer Systeme und soziologischer Verfassung trotz aller Depravation bewahrt haben. Daraus, daß die eine Erfahrung nur als verschiedene und in historischer Partikularität wirklich gewordene erscheint, ergibt sich zunächst negativ für die Einheit der Kirche, daß Einheitsverständnisse, die Einheit speziell als „Einzigkeit" verstehen wollen, in der Gefahr sind, sich aus einer fehlgeleiteten Abstraktion, nicht aber aus dem gelebten Glauben herzuleiten. Weil ihre Reflexion sich nicht an der Grunderfahrung, sondern an einer Abstraktion dieser Grunderfahrung orientiert, zerfallen sie in eine illegitime und bodenlose Exklusivität. Sie halten das sich der Reflexion auf die verschiedenen Grundereignisse gebende Paradox der nur in der Vielheit wirklichen Einheit nicht durch und versuchen gewaltsam, das aus der Erfahrung der Reflexion sich gebende Paradox zu entspannen. Sie versuchen damit letztlich nichts Geringeres als eine Absonderung der Kirche aus der Welt. Einheit als „Einzigkeit" definiert sich in separatistischem Interesse an ihrem Gegenteil, der Mannigfaltigkeit. Neben solchem exklusiv Einzigem darf es nichts Zweites geben. Daher wird dann die Grundlage der Einheit nicht am Grundereignis, sondern theologisch sekundär normiert. In den so entstehenden theologischen Hohlraum strömen juristische, soziologische, geographische und andere Aspekte ein. Solches Verständnis der Einheit als Einzigkeit prägt noch die Enzyklika „Mystici Corporis" Pius XII. aus, indem sie exklusiv den Leib Christi mit der „ecclesia Romana catholica" gleichsetzt 8 . Das Vaticanum II hat diese direkte Identifikation dadurch zu korrigieren versucht, daß es an die Stelle eines identifizierenden „est" ein „substitit" setzte 9 . Damit ist die Möglichkeit des ökumenischen Dialogs offengehalten. Grundsätzlich ist vom Ge-

7

8

9

Vgl. F. Mußner, Petrus und Paulus — Pole der Einheit. Quaestiones Disputatae, 1976, S. 88. Vgl. AAS 35, (1943), S. 199. Vgl. H . Fries, Ökumene statt Konfessionen?, 1977, S. 1—43; W. Kasper, Zur Frage der Anerkennung der Ämter in den lutherischen Kirchen, T h Q 151, 1971, S. 105f. Vgl. LG 8, Rahner/Vorgrimler, a. a. O., S. 131.

226

Die Kennzeichen der Kirche

schehen wie von der theoretischen Erfassung der Rechtfertigung her ein Verständnis

kirchlicher

Wirksamwerden

der

Einheit

als

unendlichen

„Einheitlichkeit" Freundlichkeit

ausgeschlossen. Gottes

geschah

Das und

geschieht eben nicht uniform, sondern in ganz verschiedenen Ereignissen, die in ihrer jeweiligen Konkretion vollgültiges Heilsereignis waren und in der Kraft der Verheißung stehen. Die Einheit der Kirche als dem Raum der Rechtfertigung und der um Jesus versammelten Gemeinschaft kann also auch nicht in der Einheitlichkeit der Riten, Dogmen, Sprache, Jurisdiktion, Bekenntnisse, Bekehrungserlebnisse etc. liegen 1 0 . Die Einheit der Kirche muß also integrativ verstanden werden, insofern sie alle unterschiedlichen Konkretionen der Grunderfahrung, die sich auf die Abstraktion sola gratia et fide hin konvergieren lassen, in sich versammelt und zuläßt. Die unterschiedlichen Konkretionen haben dann jeweils ihre Grenzen, sind aber gegeneinander nicht so exklusiv, daß sie einander ihre Qualität grundsätzlich bestreiten. Die Einheit in Vielheit unter Voraussetzung der Vielheit bekommt dann den Akzent der unterschiedlichen Gleichheit und der Einigkeit. Für solche Einheitsvorstellung, die sich aus dem Zugleich von Einheit und Vielheit ergibt, hat der Verfasser des Epheserbriefes ein Modell entworfen (vgl. Eph 4, 3 — 13). Der Verfasser ermahnt die Kirche, „die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen wurdet in einer Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein G o t t und Vater aller, der über allen und durch alle in allen ist. Einem jeden von uns aber wurde die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi gegeben" (3 — 7). In einer Akkumulation von Einheitsaussagen wird Traditionsgut entsprechend den Intentionen des Verfassers gegliedert. In einer „climax ascendens" beginnt er bei der Beschreibung der Einheit der Kirche mit der Einheit des Geistes und endet bei der Einheit Gottes. „ D i e Trias Leib-Geist-Hoffnung richtet sich auf die Kirche und stellt ihre konstitutiven Faktoren heraus. Die Trias Herr-Glaube-Taufe nennt die Faktoren, die die Einheit gewirkt haben und stets neu wirken. D e r eine G o t t wird dann am Schluß genannt . . . Als der Allgegenwärtige und Allwirksame Eine ist er die letzte Begründung der Einheit der K i r c h e " 1 1 . Die Einheit der Kirche in der Vielfalt der Gaben leitet sich von der Einheit Gottes her, der sich in der Gegenwart nach Jesus von Nazareth im einen Geist

10

Vgl. C A V I I ; H . Küng, a . a . O . , S. 3 2 5 ; J . Möllmann, Kirche in der Kraft des

11

J. Gnilka, Der Epheserbrief, a . a . O . , S. 204.

Geistes, a. a. O . , S. 369.

Dritte Ebene

227

präsent macht und den Frieden gibt. Der Friede ist die Einigkeit in der Gemeinde, der alle miteinander verbindet, die in den verschiedenen Diensten der Gemeinde stehen (V. 11 f.) und die mit verschiedenen Gnadengaben ausgerüstet sind. Vorausgesetzt ist dabei wohl, daß sie auch verschiedene Geisterfahrungen gemacht haben und die auch unterschiedlich benennen. Freilich konvergieren alle in den qualitativen Einheitsformulierungen der Verse 3 — 6. Diese Einheit des Geistes, die es zu bewahren gilt (V. 3 ff.), ist etwas, das die Einheit des explizierten Glaubens noch vor sich hat. Die Einheit ist also in der Einheit des Geistes schon da und zugleich zukünftig, etwas, wozu die Kirche erst noch kommt, wenn sie die Fülle Christi erreicht (V. 13). Das heißt, daß die jetzt vorhandene Einheit in der Beziehung auf den einen G o t t so gestaltet ist, daß sich die Verschiedenheiten der einen Kirche stets überschreiten auf die Fülle Christi hin und also in der jetzt gelebten Einheit des Geistes die Partikularität stets auf das Ganze, die vollkommene Einheit der Kirche hin überschreiten und so leben, als wäre sie schon ganz da.

c) Dritte Ebene Indem sich die Kirchen in ihrer Partikularität als Geschehen des Geistes immer wieder auf die in der Rechtfertigung intendierte Fülle hin überschreiten, nehmen sie eine mit dem Geschehen des Heils gesetzte Verheißung auf. Das Heil in Christus ist ja kein allein auf die Individualität bezogenes Heil, sondern es ist bezogen auf die Basileia Gottes und also auf das Heil der Welt. Im jetzt erfahrenen Heil leuchtet die Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Die Kraft der Verheißung drückt sich theoretisch in immer neuen Utopien aus, die innerhalb des Christentums, auch schon des frühen, gelebt und gedacht werden. Die von Lukas vertretene Ideologie der Einheit der Urkirche als Einheit der Lehre, sakramentaler und existenzieller Gemeinschaft in Gütergemeinschaft (Apg 2, 42—47) enthält ja nicht nur die ideologische Schau einer staatsfrommen Einheitskirche, die aus apologetischem und selbsterhaltendem Interesse das Chaotische ihrer Anfänge verschleiert und durch den Verweis auf die frühere Einheit jetzt drohende Verschiedenheit zu normieren sucht. Diese Ideologie bewahrt ja auch in sich die Sprengkraft des jetzt schon beginnenden Traums vom Ende des Kampfes in der Welt durch Abschaffung des Eigentums, von der N ä h e Gottes und also eines gelungenen Lebens in Gemeinschaft, und von der königlichen Freiheit, andere nicht mehr doktrinär beherrschen zu wollen. Das zugegeben ideolo-

228

Die Kennzeichen der Kirche

gisch gefärbte Bild der einen Urkirche bewahrt auch die Hoffnung auf eine Einheit der Menschheit in einer nur eschatologisch zu nennenden Freude. Lukas tradiert so die Grundskizze einer Sozialutopie, die in den Gastmählern Jesu ihren Ursprung hatte und von der Freude an G o t t zehrt. So verweist die Erfahrung der Rechtfertigung auf die zukünftige Einheit des Kosmos. Paulus variiert in R ö 8, 18—30 „die Rechtfertigung der G o t t losen . . . kosmologisch als Heil für die gefallene und stöhnende W e l t " 1 2 . Das in Jesus dem Individuum in seiner Partikularität geschenkte Heil ist von kosmischer Tragweite. Und die Kirche als der O r t , an dem das Heil jetzt zugesprochen wird, hat deswegen in ihrer letzten Erstreckung

kosmische

Dimensionen. So fern uns diese Gedanken auch heute sein mögen, immerhin beginnen auch Christen inmitten einer total verwalteten und verobjektivierten Welt, die den Kosmos nur als Ausbeutungsobjekt betrachtet, die kosmische Perspektive des in Jesus gegebenen Heils wiederzuentdecken. Hier kann die westliche Theologie von der Ostkirche nur lernen. Die Utopie von einer möglichen Einheit alles Geschaffenen, in der das Unterscheidende nicht mehr das Trennende ist, behält die Aura des endlich begriffenen Glücks. Deshalb geht es in der Rechtfertigung um den neuen Himmel und die neue Erde, die nicht mehr vom Chaos bedroht sind, weil die alte Chaosmacht Yam, das Meer, nicht mehr ist, und in denen schließlich sogar die Vögel zum Festmahl Gottes geladen werden (Apk 19, 17).

3. Trinität und

Einheit

Die Erörterungen zum Verhältnis von Rechtfertigung und Einheit zeigten uns, daß die Einheit der Kirche in ihrer Vielfalt auf die Einheit Gottes bezogen ist. Die Erfahrung der Rechtfertigung ist nämlich gebunden an die Kontinuität des Heilswillens Gottes, der sich stets wandelt, neu gestaltet und über seine Konkretionen hinausweist und für den die ökonomische Trinitätslehre ein theoretisches Modell ist. Die Beziehung Gottes zur Welt kann progressiv verstanden werden, so daß der sich wandelnde G o t t in immer neuen Versuchen der Welt als Liebe und Gericht entgegenkommt. Schließlich ist er als der Mensch Jesus von Nazareth und dann in der bleibenden G e genwart des Geistes wirksam und nimmt so den Glaubenden in seine Be-

12

E . Käsemann, an die R ö m e r , a . a . O . , S. 224.

Trinität und Einheit

229

wegung auf die Welt hinein. In seiner Vergebung befreit er ihn zu seinem Menschsein und gliedert ihn dem Reich Gottes an, dessen umfassende Verwirklichung noch aussteht. Diese Kontinuität des Willens Gottes wurde von Israel in den konkreten Ereignissen des Exodus, am Sinai, in der Landnahme und der Bewahrung von Feinden und schließlich im Gericht erfahren. Es ist derselbe G o t t , der seinem Volk gegenübertritt und sich dabei in seinen Wandlungen als treuer G o t t erweist. Die Kontinuität wird von der christlichen Gemeinde schließlich in den Ereignissen mit Jesus und dem Erlebnis des Geistes wahrgenommen und setzt sich bis heute trotz aller Enttäuschung und Kraftlosigkeit fort. Wenn sich die Kontinuität der Einheit der Kirche an dem G o t t orientiert, der sich in der Verfolgung seines Zieles wandelt, um seine Liebe ins Lieben zu bringen, und dann immer leibhaft erfahren wird, dann wird auch der G e danke möglich, daß auch die verobjektivierte Kontinuität der Einheit der Kirche, also ihre Gestalt, nur in Vielheit denkbar ist. Es gibt dann für die Einheit der Kirche nicht nur eine mögliche Organisationsform, gerade dann nicht, wenn sie am trinitarisch ausgelegten Monotheismus streng festhält. Wenn man die Einheit in der Vielheit nicht bloß idealistisch oder illusionär begreifen will, sondern davon ausgeht, daß Rechtfertigung immer auch G e staltwerdung bedeutet und daß die Treue Gottes ebenfalls immer als Wirksamwerden Gottes beschrieben werden muß, dann folgt aus der Trinitätslehre die nicht nur mögliche, sondern unter den Bedingungen der gegenwärtigen Welt sogar notwendige Vielheit der Institutionen. Gerade die Trinitätslehre als Grundlage für die Einheit der Kirche kann eine institutionelle Verengung des Einheitsverständnisses verhindern, das sich durch eine christologische Begründung der Einheit der Kirche möglicherweise ergibt. Denn so kann sie sich als in der Nachfolge des Gottesvolkes Israel stehend auf die vielen partikularen Präsenzen Gottes einlassen, die doch immer in Christus das Ganze der Welt meinen: So erscheint die ganze Kirche als „das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte V o l k " 1 3 .

13

L G 4, Rahner/Vorgrimler, a. a. O . , S. 125. Vgl. auch H . K ü n g , a. a. O . , S. 3 2 5 : D i e Einheit der Kirche „ruht letztlich nicht in sich selbst, sondern in der Einheit Gottes selbst, die wirksam ist durch Jesus Christus im G e i s t " . W e n n die Einheit der an Christus glaubenden Kirche „ ü b e r alle sichtbaren Spannungen . . als die von G o t t in Christus durch den heiligen Geist geschaffene W i r k l i c h k e i t " zu glauben ist (so E . Schlink, D e r k o m m e n d e Christus und die kirchlichen Traditionen, 1961, S. 95), dann kann man doch nicht mehr die Einheit der Kirche als die Einheit des

16

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

230

Die Kennzeichen der Kirche

Nun könnte aber eingewandt werden, daß gerade die Beziehung der Einheit der Kirche auf den einen G o t t die Toleranz der Kirchen untereinander verhindert. Besonders H . Mühlen sieht den Grund für die Abwehr des Gedankens und die fehlende Praxis der Einheit in der Vielheit durch die konkreten K o n fessionen im Festhalten an dem „traditionellen E i n - G o t t - G l a u b e n " 1 4 . Das Christentum habe in der Trinitätslehre, die den einen Gott nicht mehr monotheistisch denke, die theologische Grundlage für die Einheit in Konvergenz. Denn die Trinitätslehre denke den einen G o t t als „konstitutive Bezogenheit von Unterschiedenem" 1 5 .

Statt weiterhin im „altbundlichen

Monotheis-

m u s " 1 6 die Einzigkeit und Exklusivität Jahwes zu repristinieren, sollte die Theologie endlich dazu kommen, die Einheit der Kirche in Analogie zu dem jeweils unterschiedlich wirkenden Pneuma zu verstehen 1 7 . Im ekklesiologischen Kontext geht es Mühlen daher bei trinitarischen Erwägungen nicht „um eine sogenannte Spekulation' über Trinität, sondern um die Ausräumung konfessionalistischer Ausschließlichkeitsansprüche, insofern diese eben zumeist ganz unreflex in der Vorstellung von dem einen Gott begründet s i n d " 1 8 . Wir können die strikte Beziehung der Ekklesiologie auf die Trinität aufnehmen, müssen aber entschieden die seltsame Auflösung des Monotheismus zurückweisen. Wenn die Trinitätslehre nicht mehr dazu dient, die Einheit Gottes zu sichern, dann ist sie endgültig aus der christlichen Dogmatik zu verbannen. Die Behauptung, daß der „altbundliche Monotheismus" die Vielfalt der Konkretionen verhindere, ist nur an einigen alttestamentlichen T h e o logien, aber nicht am ganzen Alten Testament zu verifizieren. Die unterschiedlichen Meinungen zur Errichtung des Königtums in den Samuelbüchern, die nur locker verbunden nebeneinanderstehen, die Kritik der Propheten an den Verhältnissen in Israel, die aus einem jeweils verschiedenen religiösen Hintergrund gespeist worden sind, das Nebeneinander von ge-

handelnden Christus verstehen und den Einheitsgrund christologisch verengen. D a ß gerade die trinitarisch fundierte Einheit zentral an Christus orientiert ist, versteht sich von selbst. 14

Morgen wird Einheit sein. Das kommende Konzil aller Christen: Ziel der getrennten Kirchen, 1974, S. 117.

15

a . a . O . , S. 123.

16

a . a . O . , S. 121.

17

Vgl. a . a . O . , S. 136.

18

a . a . O . , S. 1 1 7 f .

Trinität und Einheit

231

schichtlicher und weisheitlicher Theologie, die alle danach trachteten, dem ersten Gebot gehorsam zu sein — allein aus dieser lockeren Aufzählung ergibt sich die Unhaltbarkeit der These. Denn trotz des ganz unbestreitbaren Festhaltens an dem einen Gott haben in Israel selber viele Traditionen und Gestaltungen der Frömmigkeit nebeneinander existiert, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Auch ohne Erkundung der innertrinitarischen Relationsvorgänge aus der in der Trinitätslehre sich aussprechenden Erfahrung der Kontinuität des Heilswillens Gottes kann dasjenige für die Einheit der Kirche deduziert werden, was für ihre Begründung nötig ist. Möglicherweise kann das Verhältnis der drei Hypostasen eine „wirkhafte göttliche Einheit" 1 9 genannt werden. Möglich ist auch, daß der Vater zum Sohn in einem „Ich-Du-Verhältnis" steht (gilt das nicht auch umgekehrt? Ist der „Vater" nicht auch ein Du?), daß „Pneuma das Außer-Sich-Sein Gottes, des Vaters, und so jener eine Vorgang (ist), in welchem der Vater seinen Sohn weggibt und der Sohn sich an den Vater weggibt" 2 0 und somit die „duale Wirheit, von der Johannes spricht, sich als Identität in der Selbstweggabe" zeigt 21 . Dennoch ist es ein methodisch unzulässiges Verfahren, den markinischen Verlassenheitsausspruch Jesu am Kreuz (Mk 15, 34; Mt 27, 46) auf dem Hintergrund der johanneischen Abschiedsreden zu interpretieren und so in einer Art trinitarischen Evangelienharmonie zwei grundsätzlich verschiedene Christologien an der falschen Stelle zur Konvergenz zu bringen. Denn Johannes läßt Jesus ja nicht ohne Grund mit einem anderen Wort auf den Lippen sterben. Der Psalm 22, als Schrei aus höchster Gottesferne verstanden, würde im Munde des johanneischen Christus nämlich die in den Abschiedsreden Jesu gezeigte Einheit zwischen Vater und Sohn zerreißen und die Aktivität im Handeln von Jesus nehmen. Darauf aber kommt dem Evangelisten Johannes alles an: „Das Sterben Jesu, wie es Joh darstellt, ist ein Höhepunkt seiner christologischen Sicht, der verborgene Triumph des Sohnes, der zum Vater geht, nachdem er sein irdisches Werk vollbracht hat. Es ist ein Kontrapunkt zur synoptischen Darstellung der Gottesverlassenheit Jesu, die Bestätigung des joh. Wortes: der Vater, der mich gesandt hat, ,hat mich

19 20 21 16"

a.a.O., S. 126. a.a.O., S. 128, Hervorhebung Mühlen. ebd.

232

Die Kennzeichen der Kirche

nicht allein gelassen, weil ich immer das tue, was ihm gefällt' (8, 29 vgl. 16, 3 2 ) " 2 2 . Andererseits hat die christliche Gemeinde Jesu Gebet des Psalm 22 auch „nicht als einen Schrei der Verzweiflung, sondern als die Klage des Frommen (aufgefaßt), der zu seinem G o t t schreit und darum nicht enttäuscht und verzweifelt spricht, sondern in Glauben und Zuversicht" 2 3 . Der Psalm ist vermutlich nicht wegen der Formulierung des ersten Stichos im Neuen Testament zitiert worden, sondern weil in diesem Psalm mit der Errettung aus dem T o d der Einbruch der Basileia Gottes verbunden ist und damit das Golgathageschehen interpretiert werden kann 2 4 . Im Kreuzestod Jesu wird von seinen Gegnern die Unreinheit und Gottesferne des so Gekreuzigten offen zur Schau gestellt. Jesus stirbt also im Bereich der traditionellen Gottesferne — aber mit dem Gebet des Frommen auf den Lippen. Damit reklamiert der Evangelist die vermeintliche Gottesferne als Bereich Gottes, und so ist das Kreuz die höchste Fortsetzung der Nähe Jesu zu den Sündern und damit das höchste Glückszeichen für diejenigen, die verwundet, beleidigt und arm sind und vor G o t t nichts gelten. So und nicht durch trinitarische Spekulationen wird der soteriologische Anspruch der Texte explizit 2 5 . M u ß nicht auch gegen Mühlen der Einwand von Hans Graß gegen E . J ü n gel vorgebracht werden, der daran erinnert, daß „die innertrinitarische Liebe, sofern man darüber etwas sagen will, nicht doch anders akzentuiert" ist „als die Liebe Gottes zu uns, weil es sich bei dieser Liebe um die Liebe zum Sünder, zum Verlorenen, zum Feind Gottes handelt?" 2 6 . Die vom soteriologischen Interesse losgelöste trinitarische Spekulation bringt sich selbst um den ekklesiologischen Effekt, weil die Betrachtung der innertrinitarischen Relation völlig losgelöst von jeder Konkretion im glaubenden Menschen und

22 23

R . Schnackenburg, Das Johannesevangelium I I I , a . a . O . , S. 3 3 3 , vgl. S. 328 ff. E . Haenchen, D e r Weg J e s u , 2. durchges. u. verb. Aufl. 1968, S. 5 3 6 f . Vgl. a. S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, a . a . O . , S. 137.

24

Vgl. H . Gese, Psalm 22 und das N e u e Testament. D e r älteste Bericht vom T o d e J e s u und die Entstehung des Herrenmahles, Z T h K 65, 1968, S. 14. Gese vermutet im Zitat des Psalms das älteste Verständnis des Golgathageschehens, a. a. O . , S. 17.

25

Vgl. E . Käsemann, D i e Heilsbedeutung des Todes Jesu nach Paulus, in: Zur B e deutung des Todes Jesu, Exegetische Beiträge, hrsg. v. F . Viering, 2 . Aufl. 1967, S. 16.

26

H . G r a ß , D i e Gottesfrage in der gegenwärtigen Theologie, T h R , N F 35, 1970, S. 257.

Eschatologie und Einheit

233

der Kirche für sich stehen kann, wie der spekulative Gedanke einer „apriorischen Konvergenz" 2 7 denn auch zeigt. So versuchen wir bei weitgehender Übereinstimmung mit H . Mühlen in der Pneumatologie und Charismenlehre, aber in Differenz zu seiner trinitarischen Begründung, die Einheit in der Vielheit der verschiedenen Kontinuitätszusammenhänge als Reflex auf das trinitarisch beschriebene Wirksamwerden des einen Gottes zu beschreiben.

4. Eschatologie

und Einheit

So wie der Heilswille des einen Gottes trinitarisch als Kontinuität beschrieben werden kann, muß auch die Einheit der Kirche als Kontinuität gedacht werden. Das von Gott geschenkte Heil gewinnt Gestalt im Glaubenden und der Kirche. Mit Gestaltwerdung ist aber auch Dauer verbunden. Daher stellt sich die Beziehung von Eschatologie und Einheit der Kirche zunächst als Problem von Kontinuität und dann als Frage nach der Qualität der Formen, mit Hilfe derer die Kontinuität der Kirche gestaltet wird. Alle menschliche Erfahrung und die Reflexionen darauf werden in einem Traditionsumschluß gemacht. Individuen oder Gruppen wenden diesen U m schluß im Verstehen, im positiven Transzendieren oder negierenden Verlassen auf sich und die sie umgebenden Situationen an (vgl. S. 146f.). Die Erfahrung der Rechtfertigung, die Rechtfertigungslehre und die Trinitätslehre als geglaubtes Kontinuum des Heils hängen mit irgendeiner Form von Kontinuität im Sinn von verobjektivierter Glaubensform eng zusammen. Wie alle Erfahrung ist auch die christliche durch Kontinuitäten vorqualifiziert. Umgekehrt beeinflussen solche Erfahrungen, wenn sie stark genug sind, die aus ihr folgenden Kontinuitäten. Ohne verobjektivierte Glaubensformen gibt es keinen persönlichen Glauben. Selbst die in möglichen geschichtlichen Situationen in äußerster Konsequenz nur gegen die Kirche zu machende Erfahrung der Freiheit durch Jesus ist der Kirche als Traditionskomplex und in soziologisch beschreibbare Form geronnene (oder gepreßte) Erfahrung dialektisch verbunden. Dies bedeutet aber nun keineswegs, daß es dem Glaubenden gleichgültig sein kann, welche Form von Institution seine Kirche hat. Zwar ist ihm die Institution zunächst vorgegeben, dies aber bedeutet nicht, daß er nur konser-

27

H . Mühlen, a . a . O . , S. 129.

234

Die Kennzeichen der Kirche

vativ in ihr wirken kann. D i e G r u n d m o t i v e des Eschatologischen dürften auch in der Frage der Institution der Kirche eine Hilfe sein. D i e K i r c h e ist ja insofern eschatologisch, als in ihrer Mitte in der B o t s c h a f t von der V e r s ö h nung in Christus „ e n d g ü l t i g e " Erfahrungen gemacht werden k ö n n e n . A n dererseits zeigt sich ihre eschatologische Ausrichtung darin, daß sie in ihrer Botschaft auf Jesus von Nazareth verweist und der an Jesus z u m Glauben k o m m e n d e M e n s c h darin auf den k o m m e n d e n G o t t ausgerichtet wird. Darin zeigt sich das Eschatologische als der G r u n d der Möglichkeit von Wandlung ohne Verlust der T r e u e zu sich selbst. Deshalb muß die Institution der Kirche insofern „ e n d g ü l t i g " sein, als sie intentional den R a u m freigeben m u ß für die immer erneut und in anderen F o r m e n zu machende Erfahrung der vergebenden Liebe o h n e Vorbedingungen. Weil alle ohne Ansehen der Person von G o t t die Vergebung der Sünden erleben sollen, sind deshalb alle Glieder der K i r c h e prinzipiell gleichen Rechtes bei v o l l k o m m e n e r W a h r u n g ihrer spezifischen U n t e r s c h i e d e 2 8 . D i e Institution der Kirche aber ist wandelbar, weil G o t t , sofern er uns in der W e l t wirksam begegnet, sich selber wandelbar zeigt und weil die E r f a h rungen mit ihm vielfältig sind, o b w o h l sie in der Vereinzelung des einzelnen Lebens und der einzelnen Kirche stets auch das G a n z e sind. D i e K i r c h e verliert ihre Identität in dem lebendigen G o t t , wenn sie sich selbst als unwandelbar beschreibt. Sie kann wohl die Rechtfertigung als theologische T h e o r i e absolutsetzen, aber niemals deren Gestalt und Erfahrungsqualität, wenn sie sich selbst dem L e b e n aussetzt und lebendig bleiben will. Deshalb ist es wichtig, daß auch die protestantischen Kirchen wieder von den R e f o r m a t o r e n lernen, daß auch das Papsttum für eine bestimmte Zeit der K i r c h e einen Freiraum ermöglicht hat, ihre Botschaft von der Barmherzigkeit G o t t e s frei zu sagen und erfahrbar zu machen. Freilich halten wir das A m t selbst, so wie es sich

28

Es ist deshalb nicht einzusehen, daß Frauen unter gleichen äußeren Bedingungen wie Männer nicht zum Leitungs- und Verkündigungsamt in der Kirche zugelassen werden dürfen. Vgl. auch W. Huber, a . a . O . , S. 122ff. Im Gegensatz zu Huber halten wir eine christologische Begründung der Institution für zu eng. Das inkarnatorische Handeln Gottes in Jesus beschreibt doch das Spezifikum des Handelns des Gottes Israels überhaupt. Wo er handelt, ist dies ein Wirksam werden, also kontingent und inkorporativ. Die Inkarnation ist eine Folge der Struktur des Handelns Gottes, wie er von Israel her bekannt ist. Die Institution der Kirche ist von daher, also theologisch, und nicht von dem Einzelfall „in Christus" her zu interpretieren.

Eschatologie u n d Einheit

235

gegenwärtig trotz innerer Reform noch immer darstellt, also mit der es u m gebenden Theologie und dem kirchenleitenden Apparat f ü r nicht mehr zeitgemäß, o b w o h l pragmatische G r ü n d e durchaus f ü r seine vorläufige Beibehaltung sprechen können. So ist also die F o r m der Institution nicht beliebig und m u ß nun genauer bezeichnet werden. Wolf Dieter Marsch hat wegen des eschatologischen Faktors die Kirche als „Institution im U b e r g a n g " bezeichnet 2 9 , die sowohl Institution als auch Ereignis, sowohl „endgültig" wie vorläufig ist. Als Institution entlastet die Kirche das Individuum vom ständigen Entscheidungsdruck und ermöglicht andererseits den persönlichen Glauben, weil Leben nur durch Institutionen lebendig bleiben kann. Die Kirche transzendiert in ihrer Sendung auf das Reich Gottes hin den einzelnen Menschen, und im Angebot der geschenkten Versöhnung entlastet sie ihn von einer zwanghaft immer wieder neu zu leistenden Selbstverwirklichung. Deshalb kann sich Marsch durchaus der Institutionstheorie Arnold Gehlens anschließen 3 0 . U n d insofern die Kirche durch die Taufe und andere, das Leben begleitende und gegen mögliches Chaos sichernde Riten in sich selbst bzw. in die von ihr geprägte U m welt hineinintegriert, erfüllt sie die Funktion der Integration, in der manche Religionssoziologen verkürzend die Funktion von Religion überhaupt sehen wollen 3 1 . Damit übernimmt die Kirche zweifellos auch die Funktion eines „Sozialisationsagent(en) im gesellschaftlichen Ganzen, um Religion in ihrer gesellschaftlichen Relevanz (was immer man darunter verstehen mag) institutionell zu repräsentieren" 3 2 . Das ist aber nur die eine Seite. D e n n zum C h r i -

29

Institution im Ubergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und R e f o r m ,

30

a . a . O . , S. 123. Vgl. A. Gehlen, U r m e n s c h und Spätkultur, 3. verb. A u f l . , 1975,

1970. S. 43: „ D i e allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation u n d dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse ist eine der großartigsten Kultureigenschaften, denn diese Stabilisierung geht . . . bis in das H e r z unserer geistigen Positionen. Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbröckeln o d e r b e w u ß t zerstört w e r d e n , fällt diese Verhaltenssicherheit dahin, man wird mit E n t s c h e i d u n g s z u m u t u n g e n gerade da überlastet, w o alles selbstverständlich sein sollte". 31

Vgl. J. Matthes, Religion und Gesellschaft, a . a . O . , S. 1 5 - 2 1 .

32

W . D . Marsch, a . a . O . , S. 127.

236

Die Kennzeichen der Kirche

stentum gehört, wie in anderer Weise zu manchen Religionen 3 3 , auch die mögliche und faktisch immer wieder geschehende Desintegration. Auch das Christentum wirkt desintegrierend, wenn die Zwecksetzungen der christlichen Religion nicht mehr mit der sie umgebenden Gesellschaft übereinstimmen oder, nach innen gewendet, wenn die Institution der Kirche selber das Wesen des Christentums eher verleugnet als darstellt. So war in den Anfängen des Christentums das Verhältnis der Christen zum Staat wegen ihrer Christologie so gespannt, daß Lukas den Nachweis glaubte erbringen zu müssen, daß die Christen keine Unruhe in das römische Staatengebilde bringen würden. Noch heute ist dieses Moment nicht nur in verschiedenen Formen von Askese innerhalb einer „christlichen" Gesellschaft da, sondern es wird in Missionsgebieten oder nicht-christlichen Gesellschaften immer wieder aktuell. Gerade die gegenwärtig in Afrika und Asien wachsende Bereitschaft zum Konflikt zwischen Islam und Christentum ruft uns die desintegrierende Funktion auch des Christentums wieder ins Gedächtnis. Der neu erwachende „messianische Lebensstil" 3 4 führt in innerer oder äußerer Emigration aus den Gesellschaften des Westens heraus, die gezeichnet sind vom gesellschaftlichen, sozialen und emotionalen Kahlschlag des Spätkapitalismus — manchmal in die Einsamkeit der Liebe oder in die resignierende Verzweiflung an den Verhältnissen, manchmal gehalten von Gruppen mit gleichem Lebensgefühl. Immer stärker wirken die Kirchen Südamerikas in der Nachfolge Jesu desintegrierend, und ihre zunehmende Subversivität wird den dort herrschenden Kräften immer verdächtiger. So erscheint es möglich, daß die Kirchen Südamerikas sich unter dem Druck der herrschenden Verhältnisse und um ihrem Auftrag treu zu bleiben zu können, völlig von jeder bisher gekannten Form von Kirche emanzipieren. Zur Kirche gehört also auch das kritische Uberschreiten von Institutionen auf eine neue Gestaltwerdung der erfahrenen Güte Gottes hin. Darin wendet sich die Kirche als auf den kommenden Gott bezogene Gemeinschaft der Heiligen gegen jene verdinglichten Formen von Herrschaft, die den Institutionen den Anschein der Unveränderlichkeit geben. Denn die Kirche ist durch eine Sonderform von Tradition geprägt, die als eschatologische Hoffnung auf den kommenden Gott sich selber als zur Institution gewordene Tra33

Zum Beispiel deshalb, weil in Buddhismus, Hinduismus und sogar in einer politischen Religion wie dem Islam die Vollkommenheit nur einzeln erreichbar ist, vgl. C. H. Ratschow, Die Rede von der Religion, a . a . O . , S. 133f.

34

Vgl. J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, a . a . O . , S. 302ff.

237

Eschatologie und Einheit

dition und damit Herrschaftsfaktor aufheben will. Die Institution der Kirche ist also so einzurichten, daß sie weder der verdinglichten Institution noch dem anti-institutionellen Affekt verfällt. Insofern die Kirche leibhaftes G e staltwerden der Vergebung Gottes im Menschen ist, muß sie Institution werden. Sie kann gar nicht anders, es sei denn, sie würde die Lebendigkeit ihres Glaubens und die Geschichtlichkeit ihres theologischen Bezugspunktes verleugnen. Denn wahres Leben verlangt Dauer. Insofern die Kirche aber von Christus herkommt und auf die Einheit Gottes bezogen ist und seinen Verheißungen Glauben schenkt, hält sie in sich ein Unruhemoment wach, das potentiell und aktuell darauf aus ist, alle Herrschaft, alle Sanktionen und Kodifizierungen im Sich-Selbst-Überschreiten der Liebe zu unterlaufen. Insofern die Menschen in der Kirche im Glauben in die Bewegung der Liebe Gottes zur Welt hineinintegriert sind und schließlich auch selber diese Bewegung werden, verlieren alle Institutionen ihre tendenzielle Unwandelbarkeit. Weil die erlebte Gegenwart des Glaubens sowohl Erfüllung wie Verheißung ist und deshalb eschatologisch genannt werden kann, ist darauf ekklesiologisch die Vorläufigkeit und Notwendigkeit der Institution Kirche zu bauen. Deshalb hat speziell die Kirche evangelischen Typs nach außen gesehen die Form einer „imperfekten Institution", weil „in ihr

nicht still-

gestellt werden kann, was sie konstitutionell instabil m a c h t " 3 5 . Diese Unruhe kommt ihr aus „Wissens-, Reflexions- und Handlungsimpulsen" 3 6 zu, die ihr aus der gesellschaftlichen Situation erwachsen und ergibt sich aus „den in ihr schwelenden religiösen Sinnfragen" 3 7 , den

Erfahrungskonstellationen

und den Utopien, die sich im Denken und Handeln im Geist an Jesus entzünden. Die Kirche muß in der Art und Weise ihrer Institutionalisierung

35

W . D . Marsch, a . a . O . , S. 124. F ü r Marschs Begriff der „imperfekten Institution" hat J . B . M e t z den Begriff der „Institution zweiter O r d n u n g " gewählt und meint damit Institutionen, „deren Sinn nicht vor der kritischen Reflexion auf die gesellschaftliche Praxis bereits feststeht, sondern sich in dieser Reflexion selbst zeigt, Institutionen, die kritisches gesellschaftliches Handeln

nicht verdrängen, sondern überhaupt erst

konkret

ermöglichen, da sie dieses Handeln der Beliebigkeit zu entreißen suchen . . . Die genannten I n s t i t u t i o n e n zweiter O r d n u n g ' . . . müssen in sich selbst s e i n " . Z u r Theologie der Welt, 1968, S. 125. 36

W . D . Marsch, a . a . O . , ebd.

37

ebd.

238

Die Kennzeichen der Kirche

zeigen, daß menschliches Leben ohne Institution nicht denkbar ist, ja sogar sich in weitem Maß als Glaube der Institution überhaupt verdankt. Andererseits muß sie stets bei Bewußtsein halten, worüber sie als institutioneller Metakosmos gebildet ist: Über die Bewegung zur Auflösung von „ W e l t " als Sünde und Tod überhaupt, die mit der Versöhnung in Christus begonnen hat, sich in der Kirche fortsetzt und auf den kommenden Gott hofft. Gott als Gegenwart und Zukunft des Glaubens macht die menschliche Institution stabil, insofern er Leben eröffnet. Sein Wirksamwerden ist aber auch der Grund dafür, Institutionen nicht zu verdinglichen und deren Fehler zu beseitigen: „Kirche muß sich verstehen und bewähren als öffentliche Zeugin und Tradentin einer gefährlichen Freiheitserinnerung in den ,Systemen' unserer emanzipatorischen Gesellschaft" 3 8 . Die Funktion ihrer Kontinuität als Traditionszusammenhang ist dann nach innen und außen kritisch, denn „sie reklamiert Geschichte nicht nur als Projektionskulisse gegenwärtiger Interessen. Sie mobilisiert Überlieferung als gefährliche Uberlieferung und damit als kritisch-befreiende Potenz gegenüber der Eindimensionalität herrschenden Bewußtseins" 3 9 . Aus der eschatologischen Struktur des Glaubens folgt also ebenfalls die institutionelle Wandelbarkeit und Vielfalt der Kirche. Damit zeigt sich noch einmal in aller Klarheit, daß die Einheit der Kirche nicht an der Einheit der Institution hängen kann, und dies ist durchaus im Sinne des Neuen Testaments 4 0 . Eine hierarchische Verfassung kann neben einer synodalen, eine episkopale neben einer presbyterialen bestehen, wenn die verschiedenen Institutionsformen die Einheit der Sendung wahren und sich nicht selbst absolutsetzen. Sie werden sich allerdings, eben weil sie auch Institutionen sein müssen, auch ihre konfessionellen Grenzen geben müssen. Diese Grenzen müssen aber die Möglichkeit in sich bergen, daß die Stabilität zur Unruhe, die Affirmation zur Kritik und Herrschaft nur als Dienst geübt werden.

J . B. Metz, Spiritualität und Aufklärung. Zur Präsenz der Kirche in der Gesell. schaft, in: Chancen der Religion, Hrsg. R. Volp, GTB 103, 1975, S. 211. 39 ebd. 40 Vgl. K. H . Schelkle, Theologie des NT, Bd II, 1973, S. 280: „Sie (die Einheit) ist nicht bewirkt durch menschliche Institutionen, auch nicht durch amtlich definierte Dogmen, die ja in der Tat eher die Zersplitterung als die Einheit der Kirche bewirken. Die Einheit ist künftige, doch auch schon jetzige Vollendung". Vgl. auch W . Kasper, a . a . O . , S. 107f.: „Wann und w o wahre Kirche sich versammelt, entzieht sich im letzten äußerer Feststellbarkeit und institutioneller Verfügbarkeit". 38

Eschatologie und Einheit

239

Damit ist zugleich gesagt, daß kein Amt in der Kirche „ein immerwährendes und sichtbares Prinzip Uhd Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft" 4 1 sein kann. „Ewigkeit" irgendeines „ A m t e s " läßt sich weder aus den Strukturen des Glaubens noch rein historisch erweisen. Die Strukturen zeigen, daß weder das papale noch das episkopale noch das synodale oder das spezifisch protestantische Amt der Kirche unüberholbar gegeben ist. Auch historisch kann das Amt nicht der Einheitsfaktor der Kirche sein, weil es das Amt nur in den verschiedenen institutionalisierten Konfessionen gibt. Deshalb ist die Rede von dem Amt in der Kirche eine Fiktion 4 2 . Jede Behauptung, die Kirche finde ihre Einheit im Amt gewahrt, muß zugleich die Einheit der Kirche kirchentrennend zerstören, weil es das Amt nicht gibt. Denn die Auffassungen über das Amt sind zugleich bedingt von der Verschiedenheit der die Konfession prägenden Grundverständnisse. Diese Verschiedenheit ist nicht auf das Amt zu konvergieren, weil jede Konfession das in ihr geltende Amt ontologisch und funktional anders bestimmt. Es scheint uns allerdings möglich, daß die Einheit der Kirche, die darin besteht, daß in ihr die Erfahrung der Rechtfertigung gemacht werden kann, in ihrer notwendigen Vielheit nicht behindert wird, wenn die jeweilige Konfession in einem ihr zentral gewordenen Amt ihre konfessionelle Einheit findet. So ist anzuerkennen, wenn die römisch-katholische Kirche im Papstamt oder die orthodoxen und die anglikanischen Kirchen im Episkopat ihre Einheit finden wollen, wenn dadurch kein Qualitätsurteil über diejenigen Kirchen gefällt wird, die ihre Einheit nicht darin finden können oder wollen. Solcher Anspruch wirkt sich möglicherweise erst dann zerstörerisch aus, wenn er sich absolutsetzt und das Kirche-Sein anderer Konfessionen mit

41

Mit diesen Worten definiert das 2. Vatikanum das Papstamt in der Nachfolge des Petrus, L G 18, Rahner/Vorgrimler, a. a. O . , S. 143. W. Pannenberg zeigt, daß auch das bischöfliche Amt in der Kirche als Bürge für die Einheit der Kirche nicht mehr nötig ist. Diese Funktion hat die Theologie übernommen. Das Bischofsamt könnte allerdings noch zur Repräsentation der Einheit der Kirche nötig sein, Thesen zur Theologie der Kirche, These 120, S. 46. Dem ist zuzustimmen. Die Einheit der Kirche wird auch nicht durch die Einheit des Episkopats gewahrt, wie die orthodoxen Delegierten in Evanston erklärten, vgl. Evanston-Dokumente, a. a. O . , S. 130. Eine Einheit der Kirche bei verfeindetem Volk ist noch lange keine Einheit der Kirche, es sei denn, man konstruierte eine stellvertretende Funktion des Kollegiums.

42

Vgl. C. H. Ratschow, T R E Bd II, S. 595 u. 618.

240

Die Kennzeichen der Kirche

dem Hinweis auf das dort „fehlende" Amt bestreitet. Solange in der ontologischen Begründung des Amtes unübersteigbare Hindernisse zu einer Einigung in der Frage des Amtes bestehen, sollten die Kirchen vorläufig funktional an der Aufhebung der kirchentrennenden Amtsverhältnisse arbeiten. Dies ist ja auch in den verschiedenen interkonfessionellen Kommissionen geschehen, ohne daß man zu einer Einigung vorgestoßen ist 4 3 . Vielleicht kann die theologische Bemühung um das kirchliche Amt vom Verständigungsdruck entlastet werden, wenn man sich gar nicht mehr darum mühen muß, ein einheitliches Amtsverständnis anzuvisieren. Wenn C . H . Ratschows Beobachtung richtig ist, daß die divergierenden Grundverständnisse des christlichen Glaubens absterben und deshalb der falsche Eindruck entsteht, als hätten sich die Grenzen der alten Grundverhältnisse einander angenähert 4 4 , dann liegt in diesem Absterben möglicherweise das Rettende aus der Zersplitterung. Denn vielleicht ist mit der über den Ruinen gegebenen Freiheit zugleich die Freiheit zu neuen Erfahrungen möglich geworden und damit die Ausbildung eines neuen, ebenso vielfältigen, aber nicht mehr exkommunizierend differenzierenden Grundverständnisses des Glaubens. D a ß solche Freiheit sich nur auf dem Hintergrund der Traditionen, auch der sterbenden, als dem Glauben notwendige Vermittlungen ereignet, braucht nach dem Vorangegangenen nicht mehr begründet zu werden. Es ist möglich und denkbar, daß solche Erfahrungen im Blick auf die Universalität in einem allgemeinen Konzil gemacht werden 4 5 oder sich noch allgemeiner als „geregelter D i a l o g " 4 6 kommunikativ gestalten, indem die Kirche durch ihre besondere Form der Institution in der Gesellschaft „Frei-

43

Vgl. z. B . M e m o r a n d u m der Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Institute. R e f o r m und Anerkennung kirchlicher Ämter, a . a . O . ; A m t und Ordination im Verständnis evangelischer Kirchen und ökumenischer Gespräche, hrsg. A . Burgsmüller und R . Frieling, 1974; U m A m t und Herrenmahl, D o k u m e n t e zum evangelisch/römisch-katholischen Gespräch, hrsg. G . Gassmann u . a . , ö k u m e n i s c h e D o k u m e n tation, 2. Aufl. 1974; V o m Dialog zur Gemeinschaft. D o k u m e n t e zum anglikanisch-lutherischen und anglikanisch-katholischen Gespräch, hrsg. G . Gassmann, ö k u m e n . D o k u m e n t a t i o n B d I I , 1975; Eine Taufe, eine Eucharistie, ein A m t , hrsg. G . Müller-Fahrenholz, 1975.

44

Vgl. T R E , a . a . O . , S. 596.

45

Vgl. H . Mühlen, a. a. O . , S. 21 ff. O b w o h l ein Konzil ja doch erst das Ergebnis von Erfahrungen an der Basis sein sollte. R e f o r m e n „von o b e n " sind oft nicht von den Erfahrungen der Christen getragen.

241

Eschatologie und Einheit r ä u m e einer s y m b o l i s c h vermittelten I n t e r a k t i o n ' " 4 7 s c h a f f t u n d

erhält.

D e s h a l b g e h ö r t die „ K o n z i l i a r i t ä t " als A u s d r u c k der u n m i t t e l b a r e n

und

repräsentativen M i t b e s t i m m u n g der K i r c h e n g l i e d e r in allen die K i r c h e betreff e n d e n F r a g e n z u r G r u n d l a g e aller kirchlichen E r f a h r u n g s b e r e i c h e u n d - m ö g lichkeiten48. D i e s e neue E r f a h r u n g w i r d a u c h in gesellschaftlicher Praxis z u m a c h e n sein, in der das d u r c h C h r i s t u s g e w o n n e n e n e u e L e b e n sich s o l i d a r i s c h mit den E r n i e d r i g t e n u n d Beleidigten an der A b s c h a f f u n g des d u r c h M e n s c h e n v e r u r s a c h t e n U n g l ü c k s in der Welt b e t e i l i g t 4 9 . In j e d e m Fall liegt die C h a n c e f ü r einen z u k ü n f t i g e n B e g r i f f d e r E i n h e i t der K i r c h e in d e r Vielfalt d e r g e m e i n s a m e n u n d individuellen E r f a h r u n g der C h r i s t e n im G e i s t . S i n d diese E r f a h r u n g e n i m G e i s t aber E r f a h r u n g e n mit J e s u s , s o ergibt sich v o r w e g s c h o n ein E i n h e i t s f a k t o r , der in allen K i r c h e n s c h o n jetzt da ist. A l l e K i r c h e n u n d kirchlichen G e m e i n s c h a f t e n sind sich darin einig, daß sie als S ü n d e r C h r i s t u s i m m e r w i e d e r k r e u z i g e n . D e s h a l b lebt die K i r c h e ,

gleichgültig

w e l c h e r I n s t i t u t i o n , d a v o n , daß sie sich z u ihrer S ü n d e u n d der S ü n d e r ihrer

46

47 48

49

G . Sauter, Die Kirche in der Krise des Geistes, in: W. K a s p e r / G . Sauter, Kirche — Ort des Geistes, ökumenische Forschungen. Kleine ökumen. Schriften 8, 1976, S. 100. W. D . Marsch, a. a. O . , S. 265. Marsch übernimmt diesen Begriff von J. Habermas. Vgl. E. Lange, Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische Bewegung, a . a . O . , S. 177ff. W. Huber, a . a . O . , S. 24 und 101 ff. Huber legt besonderes Gewicht auf die Konziliarität des Gottesdienstes. J. Moltmann hat solche Solidarität mit den Erniedrigten und Verlassenen christologisch als Einheit der Kirche verstanden, vgl. Kirche, a . a . O . , S. 371. Der Grund dafür ist eine aus dem patristischen Satz ,,ubi Christus — ibi ecclesia" und dessen Anwendung auf Mt 25,31—46 gewonnene Verdopplung des Kirchenbegriffs, a . a . O . , S. 142ff. Weil Christus im Apostolat, in den Sakramenten und in der brüderlichen Gemeinschaft ebenso gegenwärtig ist wie in seinen geringsten Brüdern, deshalb gibt es eine „Bruderschaft der Glaubenden" und eine „Bruderschaft der Geringsten" (S. 148), beides sind „Bruderschaften Christi" (ebd.). In diesem Sinn will Moltmann den Streit zwischen einem „dogmatischen" und einem ethischen Christentum ebenso lösen und die Rede von der latenten und manifesten Kirche verstehen (vgl. ebd.). Wir können Moltmann hier nicht nur aus exegetischen Gründen nicht folgen. Es ist doch nicht nötig, ethisches Gutsein von Nichtchristen gleich für das Christentum zu reklamieren. Das muß man doch nur, wenn man den Satz anerkennt „extra ecclesiam nulla salus". Wir tun das nicht, weil wir Gottes Güte nicht einschränken wollen.

242

Die Kennzeichen der Kirche

Glieder bekennt. In diesem Selbstbewußtsein der Christen, daß sie als in Christus Gerettete gleichwohl ihn immer wieder verleugnen und ihnen dies dennoch vergeben wird, liegt die schon jetzt gegenwärtige, immer wieder sichtbare und sich ereignende Einheit der Kirche. Dieses Selbstbewußtsein begrenzt unser Leben, weil es uns immer wieder vor das T o r der Verzweiflung führt. Das entlastet den Christen aber auch von dem mörderischen Versuch, durch sein Tun die Endlichkeit aufheben zu wollen. Vielleicht könnte aus diesem Bewußtsein heraus in der Hoffnung auf die Gegenwart des Geistes ein Versuch zur Neudefinition der Einheit der Kirche gemacht werden, der sich an einem surrealistischen Spiel, dem „cadavre exquis" orientiert. Dieses Spiel hat seinen Namen von dem ersten Satz, der mit seiner Hilfe geprägt worden ist: „ L e cadavre — exquis — boira-le vin-nouveau" (Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein) 5 0 . Als Vorgabe hatten die Spieler die Struktur eines Satzes, nämlich das Subjekt, das Attribut, das Verb, das O b j e k t , und die fünf Spieler mußten nun nacheinander jeder ein Glied dieses Satzes auf ein Blatt Papier schreiben, das immer so gefaltet wurde, daß derjenige, der an die Reihe kam, nicht sehen konnte, was sein Vorgänger geschrieben hatte. So entstanden nicht nur Sätze, sondern — als Malerei und Graphik — vor allem Collagen von ganz eigenartigem Reiz. Wir halten dieses surrealistische Spiel deshalb für ein mögliches Modell neuer Erfahrungen und neuer Definitionen der Einheit der Kirche, weil hier in eine vorgegebene Struktur die individuellen Erfahrungen und Uberzeugungen ganz unbeschnitten einfließen können, ohne daß sie die anderen Teilnehmer an diesem Spiel in ihrer Individualität auch nur in irgendeiner Weise einschränken. So könnten die Konfessionen ihre eigenen Gestaltungen „spielerisch", im neuen Leben im Geist, in die ökumenische Diskussion einbringen, und vielleicht ergäbe sich daraus ein überraschend vielfältiges, in allen seinen Verschiedenheiten und Brüchen zueinander führendes Neues. Vielleicht könnten so die notwendigen Partikularitäten gewahrt werden und zugleich etwas von dem Sprunghaften, Überraschenden und völlig Neuen sich ereignen, das wir durch Christus vom kommenden Gott erwarten.

s0

Vgl. J o s é Pierre, Lexikon des Surrealismus, 1974, S. 33 ff.

Die Heiligkeit der Kirche

243

DIE H E I L I G K E I T DER K I R C H E 1. Erläuterung

zum

Begriff

So, wie es unmöglich ist, G o t t zu definieren, so scheint es auch unmöglich zu sein, das Heilige zu definieren. W i r sehen uns deshalb nur in der Lage, das U m f e l d anzugeben, das durch den Ausdruck „das H e i l i g e " bezeichnet wird. Das aber bedeutet, daß die Erläuterungen zum Begriff bei der Religion oder besser den Religionen beginnen müssen. „ D a s H e i l i g e " ist der zentrale Begriff der Religionen: „ I t is even m o r e essential than the notion of G o d . Real religion may exist without a definite conception o f divinity, but there is no real religion without

distinction

between h o l y and p r o f a n e " schrieb einst Nathan S ö d e r b l o o m 1 . W i r werden noch sehen, daß dieses Urteil nur mit Abstrichen richtig ist. Wichtig daran ist aber, daß im Begriff des Heiligen das zentrale Geschehen der Religionen erfaßt ist, weil damit das W i r k s a m w e r d e n eines Gottes gemeint ist. U n d dies gilt dann auch für solche Religionen, die keinen Gottesbegriff expliziert haben. Religionswissenschaftlich wird mit dem Begriff des Heiligen das M a c h t phänomen beschrieben, das mit dem Wirksamwerden des G o t t e s (oder seiner Äquivalente) aufbricht, gleichgültig o b eine göttliche „ P e r s o n " im H i n t e r grund steht oder nicht. N a c h dem Selbstverständnis der M e n s c h e n , die von diesem Hervortreten eines G o t t e s betroffen sind, wird ihr und ihrer W e l t Leben als G e w i ß h e i t des Heils sowohl ermöglicht als auch eminent gefährdet. Deshalb hat man zur Charakterisierung dieses M a c h t p h ä n o m e n s die polynesischen L e h n w o r t e „ m a n a " und „ t a b u " benutzt. Das erste bedeutet etwa „außerordentlich w i r k s a m " und das zweite bezeichnet das „ A b g e s o n d e r t e " und für Menschen Gefährliche am Heiligen. Für den h o m o religiosus ist das Heilige „das Reale schlechthin, es ist M a c h t , Wirkungskraft, Q u e l l e des Lebens und der F r u c h t b a r k e i t " 2 . Das Heilige konstituiert und bedroht also das L e b e n des Menschen und seiner W e l t und ist, o b w o h l es in der W e l t wirksam wird, nicht mit der Welt identisch. D e r heilige G o t t begegnet dem M e n s c h e n als das b z w . der „ganz A n d e r e " 3 , als „ S u b j e k t " , als „ A g e n s in der Beziehung zum M e n s c h e n " 4 grundsätzlich ambivalent 5 . In allen Religionen bleibt das

1 2 3 4

Art.: holiness, E R E , Bd IV, (1913), Reprint 1971, S. 731. M. Eliade, Das Heilige und das Profane, rde 31, 1957, S. 17. R. Otto, Das Heilige, Sonderausgabe 1971, S. 28 ff. G. v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, a . a . O . , S. S. 3.

244

Die Kennzeichen der Kirche

„Wesen" trotz aller Definitionsversuche und trotz aller, aus seiner Präsenz fließenden „Konstellationen" von bestimmten Verhaltensweisen, Ordnungen sozialer und ökonomischer Natur unbekannt 6 . Immer wieder wird der hervortretende Heilige nicht nur als Heil, sondern auch als mögliches Unheil erfahren: „In dem Wesen der Götter verbindet sich Schenkendes, Heilendes, Schützendes mit Raubendem, Zürnendem, Tötendem. Der Gott .bezeichnet' den letzten Grund, aber auch die letzte Grenze des Daseins" 7 . Die Ambivalenz des Gottes aber wird in Beziehung gebracht mit der Ambivalenz des Weltgeschehens 8 , und deshalb wird der Zorn Gottes, der die Gefahr bringt, aus den Verletzungen der von Gott selbst gesetzten Ordnungen abgeleitet. Aber solche Versuche, das ambivalente Weltgeschehen wenigstens als Zorn Gottes sinnhaft zu machen, scheitern immer wieder am völlig unmotivierten Widerfahrnis des Unheils und der tödlichen Gefahr, die von dem Gott ausgeht. In den Religionen sucht sich der Mensch gegen solche Gefahr zu schützen durch die Befolgung des Heilsweges, der ihm vom Gott selbst in seinem Präsentwerden gezeigt wird. Solche Heilswege haben dann, wie w i r schon gesehen haben, ganz verschiedene Gestalt. Sie können als Rausch, Askese, Erkenntnis oder Gesetz den Menschen dazu veranlassen, sich selbst zu verlassen, um dem Heil des Gottes ganz inne zu werden. Deshalb beginnt der Mensch, nun des Heils gewiß, unter der Voraussetzung der Präsenz Gottes „ z u dem sich und seine Gegenwart überschreitenden oder transzendierenden Wesen" zu werden 9 . Die Heilswege sind deshalb der Ausdruck für die religiöse Erkentnis, daß der Mensch sich aufs Sterben hin überschreiten muß, um leben zu können: „ N u r durch das Sterben bleibt das Leben wach" 1 0 . Die religiösen Heilswege sind damit alle gekennzeichnet von der Logik des Opfers: als prinzipielles Selbstopfer sind sie Wege durch Sterben zum Leben. Aus diesem Zusammenhang der ambivalenten Epiphanie einer Gottheit als dem Heiligen und der darauf antwortenden Reaktion des Menschen als Gewinn des Heils durch Selbstgabe wird der Zusammenhang des Begriffs

5

6 7 8 9 10

Vgl. C. H . Ratschow, Die Religionen und das Christentum, in: Der christliche Glaube und die Religionen, 1967, S. 108ff. Vgl. a . a . O . , S. 109. a . a . O . , S. 117. Vgl. ebd. Vgl. C. H . Ratschow, Von der Religion in der Gegenwart, a . a . O . , S. 17. a . a . O . , S. 14.

Erläuterung z u m Begriff

245

der Heiligkeit mit dem Weltgeschehen und Weltverhalten deutlich. Die Heiligkeit des sich zeigenden Gottes, der Möglichkeit und zugleich möglicher Untergang von Welt bedeutet, weckt ein Weltverhalten, das in die Erlangung des Heils einbezogen ist. So finden wir auch den Begriff im Alten Testament vor. Die Heiligkeit Gottes, der tötet und lebendig macht (Dtn 32, 39), wird zur Verpflichtung seines Volkes: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, Jahwe euer Gott" (Lev 19, 2 ) u . Deshalb teilt sich die Heiligkeit Jahwes den sozialen und kultischen Konstellationen mit: Der Tempel ist heilig ( P s l l , 4 ) und sein Inventar (Ri 17, 3). Das Land, das Lager, die Gottesstadt Jerusalem, der Tempelberg, die Priester und deren Kleidung werden ebenso heilig genannt wie der Krieg, den Jahwe führt und das Volk, das er sich erwählt hat. Keinen Unterschied zwischen „heilig" und „unheilig" zu machen ist ebenso frevelhaft, wie „unrein" vom „Reinen" nicht scheiden zu können (Hes 22, 26). Im Neuen Testament hat sich dagegen das Verständnis des Heiligen wesentlich verschoben. Der kultische Hintergrund des Begriffs wird zwar nicht abgelehnt, wie der Hebräerbrief zeigt, aber er tritt in den Hintergrund. Schon im Spätjudentum hatte sich die Heiligkeit, die Gott vermittelt, mehr und mehr personalisiert. Gottes Heiligkeit zeigt sich immer mehr daran, daß er Menschen zu einem heiligen Leben befähigt. Jesus übernimmt diese Vorstellung, aber er legt die Heiligkeit Gottes grundsätzlich am Alltag bzw. am profanen unscheinbaren Leben aus und beschränkt sich dabei nicht nur auf Menschen: Die Heiligkeit Gottes zeigt sich an den Lilien auf dem Feld (Mt 6, 28) und daran, daß kein Sperling ohne Wissen des Vaters vom Himmel fällt (Mt 10, 29). Sie ist erkennbar an Sonne und Regen, mit denen er selbst die Bösen und Ungerechten erhält (Mt 5, 45). In Jesu Gleichnissen werden Erfahrungen des alltäglichen Lebens Vergleichsmöglichkeiten für das Ziel der Welt, für Gott selber: Der Säemann (Mk4, 3 — 8); der Same, den man in die Erde wirft und der einfach wächst, niemand weiß warum (Mk 4,

11

Vgl. H . P. Müller, A r t . : qds, T h A T , Bd II, 1976, Sp. 589ff. Ein soziologischer Reflex auf dieses Heiligkeitsverständnis ist möglicherweise die Perspektive der synoptischen Tradition, die auch dann, w e n n in ihr nicht — wie G . Theißen vermutet — die Spuren von „ W a n d e r c h a r i s m a t i k e r n " hinterlassen sind, immer eine „ v o n u n t e n " ist. In ihr k o m m e n „ G r u p p e n zu W o r t , . . . die sonst s t u m m geblieben s i n d " . Vgl. G . Theißen, Wanderradikalismus,

Literatursoziologische

Aspekte von W o r t e n Jesu im U r c h r i s t e n t u m , Z T h K 70, 1973, S. 245 ff. Das Zitat S. 264. 17

Steinacker: Kennzeichen der Kirche. T B T 38

246

Die Kennzeichen der Kirche

26—29); das kleine Senfkorn, das alle Gartengewächse überragt und als Pflanze so große Zweige hat, „daß die Vögel des Himmels unter seinem Schatten nisten können" (Mk 4, 30—32); das unverhoffte Glück, einen Schatz im Acker zu finden und der Kaufmann, der alles darangibt, um eine kostbare Perle zu kaufen (Mt 13, 44—46) — an diesen Profanitäten kann Gottes Heiligkeit erläutert werden. Was es damit auf sich hat, vergleicht sich an Gefährdungen und wunderbaren Rettungen auf einer Reise (Lk 10, 29—37), den familiären Konflikten und ihren Lösungen (Lk 15, 11—32), den Vorfällen bei der Herde und den Mühen der Hirten (Lk 15, 1—7), den Festessen (Lk 14, 16—24) und so fort. Es ist also für Jesu Heiligkeitsverständnis charakteristisch, daß er Gottes Gottheit und seine Heiligkeit an den einfachen, unscheinbaren aber wichtigen Dingen des Lebens zeigen kann und nicht nur an exponierten Menschen oder geschichtlichen Machterweisen oder gar im Kult. Gottes Gottheit und seine Heiligkeit zeigen sich nicht nur an seinem Wachen über der Befolgung des Gesetzes, sondern sie ist zutiefst verankert in der unteren Sphäre, die allen Menschen geläufig ist, zu der gerade auch die Mühseligen und Beladenen, die Niedrigen einen Zugang haben. Dieses Sein Gottes bei dem Niedrigen ist der Anlaß zu überwältigender Zuversicht und Freude: Wenn schon ein normaler Vater seinem bittenden Sohn keinen Stein statt Brot und keine Schlange statt einem Fisch gibt, sollte dann Gott nicht denen Gutes geben, die ihn bitten (Mt 7, 9—11)? Wenn schon ein Schäfer gewöhnlich seine Herde im Pferch zurückläßt, um das verlorene eine Schaf zu suchen — wird nicht Gott erst recht dies tun (Lk 15, 1 - 7 ) ? Jesus hat offenbar „Heiliges" und „Profanes" nicht mehr in ausgrenzender Weise voneinander geschieden und damit die Weltlichkeit des Alten Testaments radikalisiert. Deshalb trägt Jesus die Nähe Gottes in Bezirke, in denen die übrige Antike nur Gottesferne sehen konnte. Indem er die religiös Deklassierten, die Zöllner und öffentlichen Sünder zu Adressaten des Reiches machte, das Heil den Armen versprach und Gottes Heiligkeit überall in der Welt wahrnehmen konnte, überwand er den antik eingegrenzten Raum des Heiligen in „mana"-Gegenständen, in Tempeln, heiligen Bezirken, Königtümern oder Leben unter der Thora. Sein Ende am Kreuz schließlich ist Beglaubigung und letzte Steigerung dieses Lebens: die Nähe Gottes für uns wird proklamiert im ungeweihten Bezirk der Gottesferne des Verbrechertodes, außerhalb des Lagers der Bundesgemeinde (Hebr 13, 12) 12 . 12

Vgl. E. Käsemann, a . a . O . , S. 16f.

Rechtfertigung und Heiligkeit

247

So leuchtet die Heiligkeit Gottes dem antik Unheiligen, werden die Grenzen des bekannt Heiligen und ebenso bekannt Unheiligen verwischt, Gottes Nähe überall erfahrbar gemacht. Im Glauben an den gekreuzigten Messias ist Welt geheiligt und wird Welt gewonnen. Daher kann sich christliche Heiligkeit nicht mehr an einem Gegenüber von vermeintlich „Profanem" definieren, denn die Unterscheidung selbst ist in Christus gefallen, „weil der heilige Gott in der Profanität als in seiner Welt anwest und den Menschen eben in dieser seiner Welt und für sie vor ihm dazusein erlaubt" 1 3 . Dieses an der Ambivalenz des hervortretenden Gottes und der Überwindung der Schranken zwischen Heiligem und Profanem gewonnene Verständnis der Heiligkeit wird sich auf das Verständnis der Heiligkeit der Kirche auswirken. Deshalb wenden wir uns nun den Strukturen des Glaubens zu, um die Heiligkeit der Kirche daraus abzuleiten und genauer bestimmen zu können.

2. Rechtfertigung

und

Heiligkeit

a) Erste Ebene Der den Sünder in Christus rechtfertigende Gott heiligt den sündigen Menschen, indem er ihm seine Sünden vergibt und ihn somit in seine Gemeinschaft aufnimmt. In dem entscheidenden Akt der Versöhnung ist Gott das Subjekt, das Agens, der Mensch passiv (Rö 8, 33; 1. Kor 6, 11). Im Rechtfertigungsgeschehen widerfährt dem Menschen seine Gerechtigkeit ohne sein Zutun deswegen, weil, wie Paulus dieses Geschehen interpretierend gesagt hat, Gott selbst gehandelt und in Christus die Welt mit sich versöhnt hat (2. Kor 5, 19). In der Erfahrung der Rechtfertigung erfährt der Mensch das Heil als schon vorgegeben im Christusgeschehen, und er wird in dieses Geschehen passiv integriert. So bekommt er Anteil an diesem Heil als Bedingung der Möglichkeit, in der Gegenwart zu leben und auf den kommenden Gott zu hoffen. Die Erfahrung der Rechtfertigung wird dort gemacht, wo man von dem gekreuzigten Christus und dem in ihm handelnden Gott alles Heil erwartet, also in der Kirche. Die „Instrumente", mit deren Hilfe die Gerechtsprechung dem Menschen zum Ereignis werden kann, haben alle

13

C . H . R a t s c h o w , D i e Rede von der Religion, a . a . O . , S. 115. Vgl. auch E . B r u n ner, D o g m a t i k , B d I I I , a . a . O . , S. 8 4 f .

17,:"

248

Die Kennzeichen der Kirche

Verweisungscharakter, sie verweisen von sich weg auf den Gott, der ihre Ursache ist. Daraus folgt, daß die Heiligkeit der Kirche in ontologischem und ethischem Sinn stets abgeleitete Heiligkeit und nichts anderes sein kann 1 4 . Die „Heiligen", die Christen, die sich als Sünder erkennenden und von Gott angenommen wissenden Christen, sind eben nicht aus sich heraus befreit, sondern Gott hat sich ihrer erbarmt und deshalb können (posse fieri!) sie sich drangeben und finden darin das neue Leben der Liebe. Weil sie in ihm und durch ihn allein versöhnt sind, deshalb heißen sie die Heiligen. Und deshalb kann zwischen ihnen und Gott ein Kindschaftsverhältnis konstituiert werden. Di« Heiligkeit Gottes, die sich an den Lilien und Spatzen ebenso zeigte wie an der Rettung von Menschen, teilt sich dann der Kirche so mit, daß sie mit Recht als Gemeinschaft der Heiligen 1 5 bezeichnet werden kann, die Gemeinschaft am Heiligen, nämlich an der Präsenz Jesu im Geist, haben 1 6 . Die „Instrumente", mit deren Hilfe die Heiligkeit Gottes in die Erfahrung der Versöhnung mit ihm führt, haben dann alle Verweisungscharakter auf den heiligen Gott. Predigt, Taufe und Herrenmahl (also Gottesdienst), Seelsorge, meditative Konzentration und Diakonie als Liebe zur Welt, sind dann das innere Geschehen von Kirche und als Vorgänge, in denen Gott zur Welt kommen will, tendenziell immer expansiv. Die Heiligkeit Gottes als Heilswille wurde ja in der rechtfertigenden Erfahrung als Anweisung in die universelle Basileia erfahren, und deshalb kann das individuell erfahrene Glück der Versöhnung nicht eingegrenzt auf das Individuum bleiben. Gemeint ist

14

Vgl. 1. Petr 1, 1 5 f ; vgl. a. H. Küng, a . a . O . , S. 3 8 4 f f .

15

C A VII.

16

Vgl. W . Pannenberg, Thesen, a . a . O . , S. 21, These 32: „Das Wesen der Kirche ist besser als Gemeinschaft am Heiligen, d . h . an Jesus Christus, zu beschreiben. Die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander ist vermittelt durch die Gemeinschaft eines jeden mit Jesus Christus". W i r möchten dieses „Heilige" aber nicht nur sakramental auf die „Teilhabe an den göttlichen Heilsmysterien" eingrenzen, wie Pannenberg dies an anderer Stelle tut, vgl. Das Glaubensbekenntnis, a . a . O . , S. 158. Das zwischen Ostkirche und westlicher Kirche umstrittene Verständnis von communio sanctorum kann so, wie wir es verstehen, vielleicht zu einer Einheit gebracht werden. H. Küng, a . a . O . , S. 3 8 5 f f . und J. Moltmann, a . a . O . , S. 3 7 8 f . wollen den Terminus im westlichen Sinn verstanden haben, weil dieser dem Sprachgebrauch des N T entspricht.

Zweite Ebene

249

in der Erfahrung der Rechtfertigung immer und grundsätzlich die Welt als ganze. Weil aus der Erfahrung der Rechtfertigung neue Erfahrung der Rechtfertigung werden soll, darf die Kirche die Gestalten, unter denen Gottes Heil zur Welt kommen will, nicht verkommen lassen. Die Kirche darf deshalb nicht zulassen, daß viele Pfarrer sich für das faktisch ausgeübte Berufsfeld nur mangelhaft ausgebildet finden. Es ist unverantwortlich, wenn viele durch zu große Gemeinden und persönliche Schwierigkeiten, die institutionell vorprogrammiert scheinen 1 7 , nicht mehr ein Geschrei von der Barmherzigkeit Gottes (Luther), sondern eher ein Geschrei nach Barmherzigkeit mit ihnen auf der Kanzel anstimmen. Die Kirche und ihre Leitung müssen für veränderte Ausbildung, für kleinere Gemeinden und Entlastung der Pfarrer von Organisatorischem sorgen. D e r Ritus der Taufe darf nicht noch mehr in ritueller Einfallslosigkeit verkommen. Die agendarisch verordnete Praxis der Abendmahlsfeiern verrät nichts mehr vom eschatologischen Jubel, mit dem frühe Christen das Herrenmahl wohl feierten (vgl. Apg 2, 46). U n d die christliche Liebestätigkeit muß aus dem verhängnisvollen Entweder-Oder von „Nächstenliebe" und „ F e r n e t h i k " herausgeführt werden, damit uns nicht die Welt, die unser G o t t ja liebt, entgleitet. Die Erfahrung der Rechtfertigung in der Kirche zeigt uns, daß die Kirche heilig ist, weil in ihr und durch sie der heilige G o t t sich präsent macht. Zugleich aber haben wir schon an der Erfahrung ablesen können, wie sehr die Erfahrung des Heiligen verstellt wird durch das Denken und Tun der Kirche als Gesamtheit und der einzelnen Christen. Damit stehen wir auch am Ü b e r gang von der Erfahrungsebene auf die Reflexionsstufe, die diese Doppelheit der Erfahrung nun zu reflektieren hat.

b) Zweite Ebene Die durch G o t t geheiligte Kirche erfährt sich in der Rechtfertigung, die ja kein einmaliges Geschehen ist, sondern auch ein Progreß, ständig und unverlierbar auch als sündige Kirche. So wie der Einzelne in seinem individuellen Leben auch als Christ stets Sünder bleibt, so auch die Kirche, deren Sünde am besten darin offenbar wird, wie sie die Mittel, durch die G o t t in ihrer Mitte

17

Vgl. Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter, a . a . O . , S. 29ff. bzw. S. 93ff.

250

D i e K e n n z e i c h e n der K i r c h e

wirken will, verkommen läßt und verschleudert, und wie es ihr immer wieder mißlingt, sich in Liebe der Welt zu überlassen. Deshalb trägt die Heiligkeit der Kirche das im „ s i m u l " der Lutherischen Rechtfertigungslehre erfaßte Dunkle der Welthaftigkeit des christlichen Daseins an sich. Aber gerade darin bewährt sich ihr Glaube, indem sie sich von G o t t in und wegen und trotz ihrer Sünde als geliebt erkennen kann und immer wieder auf die Gemeinschaft seiner Vergebung angewiesen ist. Die Aussonderung aus der Welt hat nur den einen Sinn, Welt zu werden. Deshalb wissen sich die Christen als Sünder und deshalb ist es das Zeichen der Heiligkeit der Kirche, wenn sie sich als ganze immer wieder ihrer Gefährdung und ihres Scheiterns bewußt ist. Wäre sie dies nicht, so wäre sie in der Tat nicht Welt. Dann aber hätte sie nichts mehr zu tun mit dem Gott Jesu. Deshalb halten wir die dogmatische Meinung der römisch-katholischen Kirche, die Kirche habe zwar Sünder in ihrer Mitte, sei aber als solche nicht sündig, für einen theologischen Fehler. Andererseits gehört die unter dem „ s i m u l " nicht mehr eindeutige Heiligkeit der Kirche zur Sache selbst. Denn an ihr wird der Grundzug des Handelns des Gottes Israels erkennbar, die Verborgenheit. So wie man es Jesus nicht ansah, daß in ihm sich Heil für die Welt ereignete, so wie er ohne Legitimation und Garantie die Zeit der Nähe Gottes ansagte, so ist G o t t gegenwärtig präsent in den A r m seligkeiten und organisatorischen Hypertrophien der Kirche 1 8 . Freilich ver-

18

D a ß die K i r c h e als G a n z e sündig ist, ist r e f o r m a t o r i s c h e G r u n d ü b e r z e u g u n g . V g l . L u t h e r in einer Predigt ü b e r M t 2 8 , 1 v o n 1 5 3 1 : „ N o n est tarn magna peccatrix ut christiana e c c l e s i a " ( W A 3 4 , I , 2 7 6 , 7). V g l . G . M a r o n , K i r c h e und R e c h t f e r t i g u n g , a. a. O . , J . M o l t m a n n , a. a. O . , S. 3 7 9 ; H . K ü n g , a . a . O . , S. 3 8 9 . K ü n g bildet auf k a t h o l i s c h e r Seite eine A u s n a h m e . K . R a h n e r hatte vor i h m ganz b e t o n t von einer „ s ü n d i g e n K i r c h e " g e s p r o c h e n , S c h r i f t e n z u r T h e o l o g i e , B d V I , 1 9 6 5 , S. 3 0 4 : „ E s ist eine G l a u b e n s l e h r e , daß die S ü n d e r z u r K i r c h e g e h ö r e n " . D a h e r k a n n m a n nicht b e h a u p t e n , „ d a ß es z w a r , i n ' der K i r c h e als einer äußeren K o n f e s s i o n s o r g a n i s a t i o n S ü n d e r gebe, diese T a t s a c h e aber k e i n e A u s s a g e ü b e r die K i r c h e selbst s e i " (S. 3 0 8 ) . D i e s setzt einen idealistischen B e g r i f f der K i r c h e voraus. W e n n die K i r c h e „ e t w a s Reales ist, dann ist sie . . . eben selbst s ü n d i g " (S. 3 0 9 ) . „ E s ist selbstverständlich, daß die amtlichen V e r t r e t e r der K i r c h e auch . . . S ü n d e r sein k ö n n e n und es tatsächlich auch . . . gewesen sind. D a n n ist es . . . n o c h m a l s . . . deutlicher, daß die k o n k r e t e K i r c h e sündig i s t " ( e b d . ) . A n anderer Stelle fragt er im gleichen S i n n : „ U n d wie soll das B e w u ß t s e i n v o n der ,Ecclesia Semper r e f o r m a n d a ' in dessen w i r k l i c h e r Schärfe und T i e f e ( w o es sich eben um dauernde M e t a n o i a der K i r c h e und nicht n u r u m , z e i t g e m ä ß e ' A d a p t i o n e n der L i t u r g i e , des R e c h t e s , der Pastoral handelt) lebendig

Zweite Ebene

251

kehrt sich diese Grundeinsicht sofort, wenn die Verborgenheit des Handelns Gottes dazu benutzt wird, Fehler und Schuld der Kirche ideologisch zu ver-

sein, wenn man unwillkürlich nur aus dem Bewußtsein lebt, die einzelnen Menschen in der Kirche wären ja eventuell unvollkommen und sogar sündig, aber bei der Kirche sei dennoch immer alles in Ordnung, weil sie selbst ja zweifellos ,heilig' sei und kein Schatten der Unzulänglichkeit ihrer Glieder auf sie selbst fallen könne?" Die Sünde in der Kirche, in: De Ecclesia, Hrsg. G. Baraüna, Bd I, 1966, S. 350. In seiner Interpretation der Konzilstexte meint Rahner: „Tatsächlich weiß der Sache nach die Konstitution, daß die Kirche eine sündige Kirche ist und nicht nur in ihr (der heiligen Heilsanstalt) sich Sünder (als Objekt ihrer Heilssorge) befinden. Die Konstitution vermeidet zwar den Ausdruck ,sündige Kirche'. Aber es kommt die Sache, nämlich ein Betroffensein der Kirche selbst durch die Sünde ihrer Glieder, zum Vorschein", a . a . O . , S. 355, Hervorhebung Rahner. Das Konzil hatte von der Kirche im Zusammenhang mit der Aufwertung des Bildes vom pilgernden Volk Gottes gesagt; sie sei „. . . sancta simul et Semper purificanda" (LG 8). Es wird daran deutlich, daß das Konzil das lutherische „simul iustus et peccator" nicht auf die Kirche anwenden will. Deshalb hat der Satz, die Kirche sei sündig, auch scharfen Widerspruch gefordert, vgl. für viele: J . Stöhr, Heilige Kirche - Sündige Kirche? MüThZ 18, 1967, S. 119ff., dort S. 142: „Die Rede von einer sündigen Kirche ist . . . theologisch falsch". Vgl. auch Y. Congar, Mysterium salutis, IV/1, a . a . O . , S. 468ff., der mit großer Kunst und mit Erinnerung an ein Motiv der Väter, daß die Kirche nur heilig sei, weil sie von Christus der Sünde entrissen worden sei und daher aufgrund ihrer „causa materialis" Sünderin, aber heilig, weil sie stets von Christus gereinigt werde (S. 470f.), an einer klaren Aussage vorbeizukommen hofft. Dennoch scheint deutlich zu sein, daß er der Anschauung, die Kirche sei ohne Sünde, gerade wegen der in ihr wirkenden formalen Prinzipien zustimmt und so die Rede von einer sündigen Kirche ablehnt. Leidenschaftlich verteidigt C. H. Journet den Satz, die Kirche sei zwar nicht ohne Sünder, sie selber aber ohne Sünde, vgl. Der gottmenschliche Charakter der Kirche, Quelle dauernder Spannung, in: De Ecclesia, a . a . O . , S. 276ff., bes. S. 286. K. Rahner hat scharf gesehen, daß die Abwehr der Rede von einer sündigen Kirche zu einer ganz und gar unsinnigen Aufspaltung des Kirchenbegriffs führen muß. Denn man muß nun das „Volk Gottes" von der Kirche unterscheiden: „Die Kirche wird — entgegen der Tendenz bei Augustinus — irgendwie unbemerkt ,hypostasiert', sie ist fast so etwas wie eine selbständig existente ,Größe', die dem Volk Gottes als Lehrerin und Leiterin gegenüber steht; sie scheint nicht dieses (wenn auch hierarchisch verfaßte) Volk Gottes in seiner pilgerschaftlichen Existenz selber zu sein" ( a . a . O . , S. 349). In der Tat wird diese Unterscheidung auch dogmatisch gemacht: Gottesvolk und Kirche sind erst eschatologisch zu identifi-

252

Die Kennzeichen der Kirche

brämen. Diese Gefahr legt sich ja immer wieder nahe. Dennoch spiegelt sich in der Verborgenheit ein wesentlicher Zug der Heiligkeit Gotts. Und wenn die Kirche diese Verborgenheit des Handelns Gottes überspringen will, dann muß sie notwendig zu solchen Ubersteigerungen ihrer Wesensbeschreibung kommen, wie sie in der dogmatisch erhobenen Sündlosigkeit der Kirche und der im Papst und dem Kollegium der Bischöfe gegebenen Unfehlbarkeit der Kirche angelegt sind. Die Heiligkeit der Kirche, die sich an dem G o t t orientiert, wie er im Alten und Neuen Testament beschrieben ist, hat jedenfalls dafür keinen Raum. Die endgültige und eindeutige Erfahrung von der Rechtfertigung des Gottlosen ist eben nur als Erfahrung umgeben von ihrem Gegenteil wirklich. U n d wenn man diesen Sachverhalt auflöst, verliert man die Welthaftigkeit des Glaubens.

c) Dritte Ebene Wenn nun die Eindeutigkeit der Heiligkeit der Kirche betrachtet werden soll, die sich noch einmal über die im Begriff des „ s i m u l " erfaßte Wirklichkeit der Kirche erhebt, so kann damit nicht gemeint sein, daß wir eine „subjektive" Heiligkeit der Kirche von einer „objektiven" unterscheiden können. Diese Unterscheidung wird ja in der römisch-katholischen Theologie gemacht, um die Heiligkeit der Kirche gegen das Sündersein ihrer Glieder abzugrenzen. Die objektive Heiligkeit besteht demnach in dem, was die Kirche von G o t t empfangen hat und empfängt, also in ihren formalen Prinzipien. Diese „sind das anvertraute Glaubensgut, die Glaubenssakramente, die entsprechenden Ämter. Diese Wirklichkeiten sind, da sie von G o t t stammen, heilig in sich selbst und zielen auf Heiligkeit. Sie sind als solche Instrumente, durch die G o t t heiligt" 1 9 . Nach unserer Ansicht verstellt der Gedanke einer objektiven Heiligkeit die Einsicht in die totale und universale Zweideutigkeit der Menschen und aller menschlichen Einrichtungen, also auch der Kirche.

zieren! Vgl. L . B o u y e r , ' D i e Kirche I I , Theologie der Kirche, Theologia R o m a n i c a X , 1977, S. 3 7 7 . B o u y e r spricht denn auch nur von einer „ K i r c h e der S ü n d e r " und lehnt damit die reformatorische Formel für die Kirche ab, vgl. a . a . O . , S. 351 ff. Seltsamerweise hat Rahner das T h e m a der sündigen Kirche in seinem „ G r u n d k u r s des G l a u b e n s " a . a . O . nicht mehr aufgegriffen. 19

Y . C o n g a r , Mysterium salutis I V / 1 , a . a . O . , S. 4 6 5 .

Dritte E b e n e

253

Wir dürfen nun auch nicht in den Fehler verfallen, die Heiligkeit der Kirche nur noch als eschatologische, im Sinne einer nur zukünftig wirklichen Größe zu verstehen. Gleichwie die Gerechtigkeit Gottes dem Sünder jetzt schon zugesprochen wird und ihn zu neuem Leben verändert, obwohl er Sünder bleibt, so ist die Heiligkeit der Kirche gerade dann ein ihr zukommendes Attribut, wenn sie sich vor Gott stets als sündige Kirche begreift und auf den Weg der Umkehr begibt. Vielmehr ist nun zu beachten, daß der Kirche das Prädikat der Heiligkeit ebenso wie dem Christen als Verheißungsbegriff zukommt, d. h. stets auch Erfüllung ist. Weil die Kirche die Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder ist, ist sie jetzt schon heilig im Sinne einer Aktivierung der vergangenen Heilstat in Christus. Weil die gerechtfertigten Sünder aber einer der Kirche nicht deckungsgleichen Größe, nämlich der Basileia angewiesen werden, ist ihre Heiligkeit als Verheißung da, die geglaubt werden soll 2 0 . Indem die Kirche dieser Verheißung glaubt, daß das Leiden an der Welt und an ihr selber und ihrer Sünde einmal ein Ende haben wird, erfährt sie sich und ihre sündige und ohnmächtige Gegenwart voller Möglichkeiten zum Reich Gottes, die nur dann in Wirklichkeit übergehen, wo der Glaube sich als Lebensgestalt zusammenfaßt. Die Kirche lebt darin schon jetzt — trotz (oder gerade wegen?) ihrer Sünde — die in der Verheißung verborgene Wahrheit der Welt. Aus der in ihr möglichen Rechtfertigung glaubt sie, daß der in ihrer Mitte begegnende heilige Gott trotz allem irrsinnigen Weltverhalten zum Heil der Welt und nicht zum Unheil wirkt. Sie ist dann darin heilig, daß sie jetzt, in den Bedingungen ihrer Zeit und dem ganzen auch durch sie verschuldeten Unheil der Welt, das Heilshandeln Gottes glaubt. Damit bemerkt die Kirche nicht nur Gottes Weltheil im Präsentwerden Christi in ihrer Mitte und der daraus folgenden Umkehr der Menschen zur Liebe, sondern sie ist mit allen ihren Funktionen um das Weltheil Gottes besorgt 21 . Deshalb ist sie messianische Gemeinde 22 .

20

Vgl. J . M o l t m a n n , a. a. O . , S. 3 8 1 : „ I m Blick auf die Gemeinschaft der Sünder liegt die Heiligung der Kirche in der Rechtfertigung. Im Blick auf das k o m m e n d e Reich der Herrlichkeit liegt ihre Heiligung in der Berufung zum Dienst, zum Leiden und zur A r m u t " .

21

Vgl. C . H . R a t s c h o w , Das Heilshandeln und das Welthandeln G o t t e s . Gedanken zur Lehrgestaltung des Providentia-Glaubens in der evangelischen

Dogmatik,

N Z S y s t T h 1, 1959, S. 68 ff. Ratschow betont die Wahrnehmung des Weltheils durch die Kirche in drei Komplexen: 1. I m betenden Dasein der Kirche, 2. I m

254

Die Kennzeichen der Kirche

Die Kirche zeigt ihre Wirklichkeit, ihre wirkliche Heiligkeit also dann, wenn sie in der Welt und gegen die Erfahrung der Welt (also auch gegen Gott?) die Hoffnung auf ein gutes Ende wachhält und Menschen verändernd für den kommenden Gott in ein neues Leben führt. Dazu ist sie da, und deswegen kann in ihrer Mitte die Rechtfertigung des Gottlosen geschehen, und infolgedessen kann sie sich in Freiheit der Welt in der Liebe überlassen. Dadurch wirkt sie und hat sie die Welt verändert, und deshalb ist der Begriff der Heiligkeit ein Ausdruck für ihre verändernde und weltgewinnende Kraft (potentia).

3. Trinität

und

Heiligkeit

Die Kirche verdankt ihre Heiligkeit dem Handeln des Gottes, der mit Israel eine ganz bestimmte Geschichte hatte, den Jesus seinen Vater nannte und der nach dem Zeugnis der Christen jetzt im Geist wirksam ist. Die Kirche ist heilig, weil sie auf diesen heiligen Gott bezogen ist. Nun erhebt sich aber die Frage, ob das bei der Klärung des Umfelds des Begriffs der Heiligkeit an den Religionen und am Christentum wahrgenommene ambivalente Handeln Gottes auch für den Gott gilt, der trinitarisch ausgelegt worden ist. Denn so wie wir bisher die Trinitätslehre entwickelt haben, schien sie nur ein theoretischer Reflex auf das Heilswirken des einen Gottes zu sein. Hat der trinitarisch ausgelegte Gott auch noch diesen chaotischen, tötenden und rätselhaften Zug? Es ist ganz ohne Zweifel, daß dem Alten Testament dieser für Menschen lebensgefährliche Aspekt der Wirksamkeit Gottes ganz selbstverständlich ist. Die unmittelbare Nähe Gottes ist für den Menschen tödlich: „Kein Mensch bleibt am Leben, der mich sieht" (Ex 33, 20). Die Begegnung mit Gott macht aus Jakob einen geschlagenen Mann (Gen 32, 22—31). Wie ein Moloch fällt Jahwe den nach Ägypten heimkehrenden Mose an, um ihn zu töten (Ex 4, 24). Sicher ist Jahwe hier im Zuge der religiösen Entwicklung an die Stelle eines lokalen Dämons getreten 2 3 . Jedoch auch die späteste Pentateuchredaktion hat liebenden In-der-Welt-Sein von Kirche, 3. In der Verkündigung des Weltheils, vgl. S. 68 f. 22

Denn ihr Messianismus besteht ja gerade in der Vermittlung von Eschatologie und Geschichte, also von Heilshandeln und Welthandeln, vgl. J . M o l t m a n n , a. a. O . , S. 216 f. N u r darf man das Welthandeln Gottes nicht teleologisch auf das eschatologische Reich beziehen.

23

Vgl. M . N o t h , A T D 5, 3. Aufl. 1965, S. 35.

Trinität und Heiligkeit

255

offensichtlich an solch dämonischer Jahwevorstellung keinen Anstoß genommen. Sonst hätte man diesen menschenfressenden Zug Jahwes leicht getilgt, zumal das Stück ohne Zusammenhang steht und den Ritus der Beschneidung eher verdunkelt als erklärt. Das Problem Hiobs entsteht ja gerade daran, daß der Mensch an seinem G o t t verzweifelt, weil sein Glaube vor seiner Erfahrung der Welt, die für ihn Erfahrung Gottes ist, zu vergehen droht. Denn der G o t t des Glaubens und der G o t t , der H i o b im Lauf des Lebens alles sinnlos nimmt, scheinen zusammenzugehören, und diese Erkenntnis stürzt ihn in tiefe geistliche, seelische und soziale Verzweiflung. Der Gott, der auch das Unglück in der Stadt tut (Arnos 3, 2), der tötet und wieder lebendig macht (1. Sam 2, 6) und der in völliger Freiheit dem gnädig ist, dem er es sein will (Ex 33, 19), bringt den Glauben, der nicht anders als an ihn glauben kann, in tiefstes und auswegloses Leiden 2 4 . O f t konnte solcher Glaube sein Gottesbild nur dadurch rein erhalten, daß er das widersinnig Böse als metaphysischen Widerpart des guten Gottes und seiner Ordnung in metaphysischem Dualismus abspaltete. Dann wird Welt als Kampfplatz zweier Mächte oder Prinzipien zunächst zyklisch, schließlich geschichtlich gedeutet und apokalyptisch auf das Ende zielgerichtet, an dem der Kampf mit der endgültigen Vernichtung der bösen Gegenmacht endet. D e m christlichen Glauben ist solcher Dualismus ebenso wie dem alten Israel verwehrt, auch wenn Jesus vermutlich mit seiner Umwelt den Satansglauben teilte. A b e r an Jesus selber, der vielen Menschen, die ihm begegneten, Gottes Heil präsent machte, scheint keine Ambivalenz in diesem Sinne zu haften. Zwar tritt auch in seinem Wirken G o t t nicht aus seiner grundsätzlichen 24

D a ß dieses unmotivierte Welthandeln Gottes vom Grundgedanken der Erwählung und Liebe umfangen sein soll, scheint uns eine unzulässige Rationalisierung und Motivierung ex eventu zu sein. Deshalb können wir nicht mit R a t s c h o w , D i e Religion und das Christentum, a . a . O . , S. 117 übereinstimmen: „ D i e Heilsbotschaft des Alten und N e u e n Testamentes bestreitet die Ambivalenz für das ,Wesen' des G o t t e s , den sie bezeugt, im Verhältnis zum Weltgeschehen ganz grundsätzlich! Dieser G o t t kann allerdings zürnen und strafen. Das heißt, daß das Wesen Gottes nicht etwa das unveränderliche Wohlwollen ist. A b e r auch dieses , G e r i c h t ' ist umspannt von dem Grundgedanken der Erwählung und L i e b e " . Dies trifft wohl auch zu, insofern der strafende G o t t den Menschen an der N i c h t erfüllung seines Gesetzes behaftet und darin sein Heil unter dem Gegenteil vorantreibt. Dieser Z o r n Gottes ist aber mit dem M o l o c h nicht gemeint.

256

Die Kennzeichen der Kirche

Verborgenheit heraus und ist gerade in der Niedrigkeit dieses M e n s c h e n da, aber das R a u b e n d e und T ö t e n d e scheint der Jesusgestalt d o c h ganz zu fehlen. A b e r indem die christliche T h e o l o g i e als Reflex auf die E i n d r ü c k l i c h keit Jesu ihm den Titel des z u m G e r i c h t wiederkommenden M e n s c h e n s o h n s beilegt, zieht in die so ausschließlich mit Präsenz des Heiles gefüllte Jesusgestalt auch das T ö t e n d e und Vernichtende der G o t t h e i t wieder ein. In der Identifikation J e s u mit dem z u m Gericht k o m m e n d e n M e n s c h e n s o h n deutet sich die spätere ausdrückliche Identifikation Jesu mit G o t t an, freilich mit einem bezeichnenden Unterschied. D e r k o m m e n d e M e n s c h e n s o h n Jesus wird in den Drangsalen der Endzeit z u m G e r i c h t k o m m e n und wird im G e r i c h t denjenigen das vergelten, was sie aus den ihnen anvertrauten Talenten gemacht haben, oder wie sie sich in der W e l t verhalten haben (vgl. M t 24—25, 4 6 ) . D . h . , das R i c h t e n d e und Zornige an Jesus ist nicht das unmotivierte T ö t e n d e , M e n s c h e n m o r d e n d e , sondern vergleicht sich dem zornigen A s p e k t J a h w e s aus dem Alten T e s t a m e n t . Jesus rückt in das Bild vom zornigen G o t t ein. A b e r an ihm wird nicht mehr jenes D u n k l e und U n w ä g b a r e erfahren. Z w a r k o m m t er wie ein D i e b in der N a c h t , aber man weiß, daß er k o m m t und warum er k o m m t . Vollends fehlt den neutestamentlichen Geistvorstellungen das zornige und schreckliche M o m e n t . Einzig jenes dunkle W o r t von der Lästerung des Geistes ( M k 3 , 2 9 p a r . ) rückt die Geistvorstellung in die N ä h e der göttlich tödlichen Sphäre, aber sonst ist der Geist als der V o r g a n g , in dem M e n s c h e n in Jesus von Nazareth z u m Glauben an das Heil G o t t e s k o m m e n , frei von allem Schrecken und die L e b e n ermöglichende M a c h t . D i e Trinitätslehre hat also in immer strengerer Ausschließlichkeit versucht, G o t t als Heilswillen zu verstehen und seine G e g e n w a r t als Heil zu definieren. D e n n o c h hat sie, weil sie eben innerhalb ihrer trinitarischen Auslegung den einen G o t t auslegen wollte, die zornige und deshalb tötende Seite G o t t e s nicht unterschlagen. A b e r wegen der Lebendigkeit des Glaubens m u ß auch im trinitarischen Zusammenhang die Nachtseite des Gottesbildes wieder stärker hervorgehoben werden, weil auch daran eine spezifische Eigenart der Heiligkeit der K i r c h e deutlich werden kann. D e n n wir müssen nun fragen, o b die Heiligkeit der K i r c h e von den drei Aspekten der Heiligkeit G o t t e s affiziert wird, die wir anfangs herausstellten, nämlich der Heiligkeit, die dem M e n s c h e n seine W e l t überhaupt erst ermöglicht und konstituiert und ihm zu seinem Heil verhilft, zweitens der Heiligkeit G o t t e s , der gegenüber der M e n s c h sich nur als todverfallener erkennen kann und der gegenüber es nur einen W e g zum L e b e n über das Sterben gibt,

257

Trinität und Heiligkeit

und drittens der Heiligkeit Gottes, die in der Welt unmotiviert und irrsinnnig handelt und an dessen Handeln der Heilsglaube zu zergehen droht, weil es ihm unmöglich ist, dieses Handeln auf sein eigenes Sündersein zu beziehen. Aus dem zur Rechtfertigung Gesagten ist einleuchtend, daß nun innerhalb der trinitarischen Deduktion die Heiligkeit der Kirche auf das Heilshandeln Gottes bezogen ist. D i e Kirche ist deshalb heilig, weil in ihr und durch sie G o t t zum Heil der Welt handelt. Als heilige Kirche nimmt sie das Heil Gottes stellvertretend für die Welt wahr 2 5 . Deshalb sind ihre Heiligkeit und ihr Glaube stets angefochten und nur als solche wirklich in der Welt. Zweitens hat ihre Heiligkeit aber auch Anteil an dem Handeln Gottes sub contrario, und ihre Heiligkeit ist deshalb verborgene Heiligkeit. Sie ist als Heilsgeschehen nicht eindeutig, und ihre Heiligkeit verbirgt sich unter ihrer Sünde, ihrer Schwachheit und ihrem Versagen. Aber nur als solche ist sie wirklich Kirche, auch wenn es nicht sichtbar ist, daß in ihrem Ereigniswerden und in ihren Institutionen G o t t zum Heil wirkt. Die Unterscheidung zwischen der unsichtbaren und der sichtbaren Kirche ist deshalb so verhängnisvoll, weil damit ein Qualitätsurteil gegeben ist. Nicht das Unsichtbare an der Kirche ist ja die wahre Kirche. Das „unsichtbare", weil eben nicht für jeden (auch für den Christen nicht) erkennbare Heil ist nur da in der Sichtbarkeit des Lebens und Denkens des Einzelnen und der Kirche. Das Sichtbare hat gegenüber dem Unsichtbaren keine mindere Qualität, eher das Gegenteil ist der Fall. Das Sichtbare ist messianisch von größerer Dichte, weil es als Leidenschaft an G o t t und der Welt ein Sehnen über das Vorfindliche hinaus enthält, das die Menschen dazu bringt, Niedriges, Krankes, Schwaches, Negatives zu lieben, weil nur alleine stark sein, nur alleine gesund sein keine Utopie ist, die dem Reich Gottes auch nur irgendwie entspricht. Das Sichtbare als Schwachheit ist deshalb voller Zuversicht des Heils (2. K o r 12, 9 f . ) 2 6 . Die Heiligkeit der Kirche als eine ihr von G o t t verliehene Eigenschaft, die ausdrücken soll, daß G o t t in ihr wirkt, verbirgt sich auch unter ihrer 25

Vgl. C . H . Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes, a . a . O . , S. 66 ff.

26

Deshalb trifft Adornos leuchtender Satz aus ganz anderem Zusammenhang das hier Gemeinte: „Seine (Mahlers) Symphonien spüren besser als er selbst, daß, was solche Sehnsucht meint, nicht als Oberes, Edles, Verklärtes darzustellen ist. Sonst würde es zur Sonntagsreligion, zur dekorativen Rechtfertigung des Weltlaufs. Soll das Andere nicht verschachert werden, so ist es incognito, beim Verlorenen aufzusuchen", Mahler. Eine musikalische Physiognomik, S. 165.

Ges. Schriften 13,

1971,

Die Kennzeichen der Kirche

258

Gesetzespredigt, die sie als ihr „opus alienum" ü b t 2 7 , indem sie auch den Glaubenden und sich selbst die Erfahrung des Gesetzes im Zusammenhang mit der Predigt des Evangelium wachhält. Freilich ist ihr damit ein gefährliches Instrument gegeben, denn wie Luther gesehen hat, ist es eben das geistliche A m t des Gesetzes, „ z u strafen und in den T o d und Verzweiflung zu treib e n " 2 8 . A b e r T o d und Verzweiflung sind ja nicht der Sinn des Evangeliums. Deshalb sieht Luther für den Prediger „die schwierige und wichtige Aufgabe, wohl eine Gesetzeserfahrung zu wecken, aber diese doch nicht zum vollen sensus legis, zur endgültigen Verzweiflung werden zu l a s s e n " 2 9 . So macht sich die Heiligkeit der Kirche darin geltend, daß sie den lebendigen G o t t und die lex universalis zusammendenkt: „ D e r deus absconditus stellt den Menschen als den Gesetzesbrecher. V o n der unheimlichen N ä h e Gottes als der Präsenz des Gesetzes betroffen, wird der Mensch seiner Verlorenheit überführt. Das Grauen vor dem von G o t t gewirkten Ungefähr des Lebens vertieft sich in die Anerkenntnis, dieses als Gesetzesbrecher verschuldet zu haben, das G e s e t z aber auch bei bestem Willen nicht erfüllen zu können. D e r deus in vita und die lex universalis der W e l t als N a t u r und Geschichte gehören

zusammen.

W e n n man beides trennt, so wird aus dem deus in vita unweigerlich die pure Willkür und aus dem Gesetz der legalistische Zwang oder bloße M o r a l , und es besteht keine Möglichkeit der Verbindung zum G o t t der Verkündigung mehr. An dieser Verbindung also hängt die Eigenart, Weltfähigkeit und Lebendigkeit christlichen G l a u b e n s " 3 0 . Weil wir aber „das Ungefähr des L e b e n s " (Ratschow) nicht einfach mit der „Präsenz des G e s e t z e s " identifizieren können, müssen wir nun noch einmal fragen, wie sich die Heiligkeit der Kirche zu dem dritten, bisher noch nicht beachteten Aspekt der Heiligkeit Gottes verhält. F ü r diese F o r m der Heiligkeit Gottes ist noch nicht einmal das Gesetz ein sinnvoller Ausdruck, weil der Glaube — a posteriori — auch das Gesetz und die von ihm ausgehende accusatio und Anfechtung im Bereich des Heilswillens G o t t e s sieht. D i e Anfechtung und ihr Leid sind dann noch immer umgeben von

einem

„ S i n n " , der sich zwar nicht der Erfahrung unmittelbar mitteilt, ihr aber reflexiv zugeschrieben wird, nämlich dann, wenn die Flucht unter das K r e u z Christi wieder einmal gelungen ist. D i e tiefste Verborgenheit Gottes wird

27

Vgl. M . Schloemann, a . a . O . , S. 129.

28

ders., a . a . O . , S. 116.

29

ders., a . a . O . , S. 125f.

30

C . H . Ratschow, Die Religion und das Christentum, a . a . O . , S. 119.

Eschatologie und Heiligkeit

259

aber dann erfahren, wenn sein Welthandeln überhaupt keine Möglichkeit eines Sinnes mehr läßt. Auschwitz als höchster Erfahrungswert hat keinen irgendwie nur abgebbaren Sinn — aus der Perspektive der Opfer gesehen. Zwar begegnet — nun spekulativ — dem Täter der deus absconditus in Form der Forderung des Gesetzes, sei es als lex natura oder (nach den Erfahrungen mit dem Faschismus kaum anzunehmen) als lex praedicata. Gott stellt die Täter und diejenigen, die es geschehen ließen. Auch Christen fragen nach ihrer Schuld an diesem Ganzen. Aber die Opfer! Erinnert sei an den Schock des Erdbebens von Lissabon. Ist menschliche Schuld damit zu verbinden? Könnte es sein, daß dem Glauben, der im tiefen Bewußtsein seines eigenen Sünderseins den Widerspruch zwischen Welterfahrung und Heilserfahrung mit Gott aushält, aufgeht, daß das Wirksamwerden Gottes noch nicht seine endgültige Gestalt gefunden hat? Könnte es sein, daß dem Glauben, dem Gott so radikal wider Gott steht, daß er diesen Gegensatz noch nicht einmal als Gegensatz von offenbarem und verborgenem Heilshandeln Gottes erkennen kann, daß diesem Glauben aus der Präsenz Jesu im Geist die Aufgabe zufällt, mit aller Leidenschaft, einigem Leiden und partieller eschatologischer Freude an Jesus den Gott als universalen Heilswillen aus dem sinnlosen Unheil der Welt hervorzuglaubenl Dann müßte die Kirche die Partizipation an der todbringenden Heiligkeit Gottes verweigern und in allen ihren Funktionen, besonders in der Liebe und der Verkündigung (im weitesten Sinn) gegen dieses Wirksamwerden Gottes arbeiten — und fände darin ihre Heiligkeit? Und wäre dann nicht die Heiligkeit der Kirche die Bezeichnung für ihren „Atheismus" aus der unaufgebbaren und nur unter Verlust von Leben und Welt möglichen Beziehung auf den Gott, der sich als Jesus im Geist präsent macht? Ist also die Heiligkeit Gottes, die auf den trinitarischen Gott bezogen ist, deshalb noch „unfertig", weil Gott in seinem Wirksamsein sich noch nicht zu Ende qualifiziert hat, daß also die Wandlungen Gottes noch nicht beendet sind, weil er noch nicht ganz christförmig geworden ist?

4. Eschatologie

und

Heiligkeit

Diese Gedanken, mehr Fragen als Antworten, zeigen den tiefen Zusammenhang von Heiligkeit der Kirche und Eschatologie. Es kann bei ihm ja nicht nur um den theologischen Topos gehen, daß am Ende der Tage die Heiligkeit der Kirche im vollen Glanz der Herrlichkeit Gottes erstrahlen

260

Die Kennzeichen der Kirche

werde. Vielmehr muß sich die eschatologische Bestimmtheit der Kirche ausdrücken lassen in einer Verbindung dessen, was jetzt in ihr geschieht und dessen, worauf sie hofft. Weil der Glaube eschatologisch ist, insofern sich Gott ihm endgültig, wenn auch verborgen, eindrücklich macht, ist auch die Kirche, in der und durch die mittelbar die Erfahrung des Glaubens gemacht wird, eschatologisch bestimmt. In ihr begegnet Gott dem Menschen und inkorporiert ihn in das noch verborgene Heil, indem er durch sie den Menschen der Vergebung der Sünden gewiß macht und ihn damit befreit. So kann er es in der Welt aushalten und deshalb kann er die Welt sogar lieben. Die Befreiung des Menschen durch Gott hat ihre soziale und psychische Gestalt. Sie ist nicht nur inneres, gar weitabgewandtes Ereignis 302 . Deshalb ist alles, was die Kirche im Zusammenhang mit der Befreiung der Menschen tut, eschatologisch bestimmt. Das, was die eschatologische Qualität dessen ausmacht, das jetzt in und als Kirche geschieht, ist allerdings schon mit dem zur Heiligkeit Ausgeführten gesagt. Die Heiligkeit der Kirche zielt auf das Reich Gottes und ist jetzt in aller Mühe und Angefochtenheit da. Ihre Hoffnung besteht in der Hoffnung auf ein Ende ihrer Zerrbilder. Deshalb versteht sich die Kirche aufgrund ihrer eschatologischen Qualität stets als „pilgernde Kirche" 3 1 , die auf das Gestaltwerden der Vergebung angewiesen ist, damit sie ihrer Aufgabe, das Heil Gottes jetzt schon in aller Partikularität wahrzunehmen, gerecht werden kann.

DIE KATHOLIZITÄT DER KIRCHE

1. Erläuterung

zum

Begriff

Wie schon gezeigt, wird die Kirche im Neuen Testament noch nicht katholisch genannt, obgleich die Sache der Katholizität in Heilserwartung und Sendungsbewußtsein schon der frühesten christlichen Gemeinde nachweisbar ist (s.o., Teil III, S. 73 — 118). Wenn Jesus als der Erlöser der ganzen Welt geglaubt wird und an das Heil keine partikularen Vorbedingungen mehr geknüpft werden, dann kann sich die Gemeinde des Erlösers nicht partikular auf nationale, rassische oder geographische Grenzen und Vorbedingungen

3