Die Kantate als Katalysator: Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700 9783110572810, 9783110571356, 2018934807, 9783110569360

The essays in this volume use an interdisciplinary approach to explore the cantata’s rise as a common musical model with

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Die Kantate als Katalysator: Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700
 9783110572810, 9783110571356, 2018934807, 9783110569360

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
I. Kantatenanfänge: Integration Und Abgrenzung
Die Kantate Als Dramatischer Text. Gedanken Über Die Entstehung Der Kantatenform
Die Kantate Im Deutschen Südwesten Zwischen 1700 Und 1760. Zu Johann Georg Christian Störl Und Dem Umfeld Des Frühen Pietismus
Leipziger Inspirationsquellen Für Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten
Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten Von 1702 Und Die Anfänge Einer Kantatendichtung In „Ungezwungenen Teutschen Versen“. Forschungserträge Und Offene Fragen
II. Kantatentransfers: Die Kantate Im Europäischen Kontext
Wechselbeziehungen Zwischen Der Italienischen Kantaten- Und Opernproduktion Um 1700: Zur „Cantata“ In Antonio Vivaldis L’Incoronazione Di Dario (1717)
Liebeskonzeptionen In Der Italienischen Und Deutschen Kantate
Gestalt Und Funktion Der Frühen Französischen Kantate
III. Kantatenaffekte: Poetik, Theologie Und Moral
Moralische Charaktere In Der Kantate – Die Kantate Als Moralische Wochenschrift
Normative Aspekte Der Kantate In Der Deutschsprachigen Dichtungstheorie Vom Spätbarock Bis Zur Spätaufklärung
Die Legitimation Der Kantate Mithilfe Des Hallesch-Pietistischen Affektkonzepts
Zum Metapherngebrauch In Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien Und Johann Friedrich Helbigs Kantatenjahrgang Auffmunterung Zur Andacht (Beide 1720)
IV. Kantatenwelt: Sammlungs- Und Verwendungszusammenhänge
“Am Besten Bleib’ Ich In Der Mitte”: Telemann’S Moral Publishing Project
Die Weltliche Kantate In Hamburg Zwischen 1700 Und 1715
“The Public Would Surely Welcome Such A Work”: Telemann And The Career Of The Cantata As A Consumer Good
Eingestreute Poesien: Arien, Kantaten Und Opern In Romanen Des Frühen 18. Jahrhunderts
Abbildungsnachweise
Personenregister

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Die Kantate als Katalysator Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700

Herausgegeben von Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose

De Gruyter

Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth Décultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Yvonne Kleinmann, Heiner F. Klemme, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens Redaktion: Andrea Thiele Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-156936-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057281-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057135-6 ISSN 0948-6070

Library of Congress Control Number: 2018934807 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Wolfgang H irschmann und D irk Rose Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I.  Kantatenanfänge: Integration und Abgrenzung I rmgard S cheitler Die Kantate als dramatischer Text. Gedanken über die Entstehung der Kantatenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Joachim K remer Die Kantate im deutschen Südwesten zwischen 1700 und 1760. Zu Johann Georg Christian Störl und dem Umfeld des frühen Pietismus . . . . 35 M ichael M aul Leipziger Inspirationsquellen für Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Wolfgang M iersemann Erdmann Neumeisters Geistliche CANTATEN von 1702 und die Anfänge einer Kantatendichtung in „ungezwungenen Teutschen Versen“. Forschungserträge und offene Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

II.  Kantatentransfers: Die Kantate im europäischen Kontext K laus P ietschmann Wechselbeziehungen zwischen der italienischen Kantatenund Opernproduktion um 1700: Zur „cantata“ in Antonio Vivaldis L’incoronazione di Dario (1717). . . . . . . . 99 Berthold O ver Liebeskonzeptionen in der italienischen und deutschen Kantate. . . . . . . . . . . 110 H erbert S chneider Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate. . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

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Inhaltsverzeichnis

III.  Kantatenaffekte: Poetik, Theologie und Moral Bernhard Jahn Moralische Charaktere in der Kantate – Die Kantate als Moralische Wochenschrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Stefanie Stockhorst Normative Aspekte der Kantate in der deutschsprachigen Dichtungstheorie vom Spätbarock bis zur Spätaufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Julian H eigel Die Legitimation der Kantate mithilfe des hallesch-pietistischen Affektkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Gunilla E schenbach Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien und Johann Friedrich Helbigs Kantatenjahrgang Auffmunterung zur Andacht (beide 1720) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

IV.  Kantatenwelt: Sammlungs- und Verwendungszusammenhänge Steven Z ohn “Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project. . . 231 H ansjörg D rauschke Die weltliche Kantate in Hamburg zwischen 1700 und 1715. Thesen zu Produktions- und Rezeptionsmodi eines aristokratischen Modells im urbanen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 A nn L e Bar “The Public would surely welcome such a work”: Telemann and the Career of the Cantata as a Consumer Good . . . . . . . . . . . . 288 O laf Simons Eingestreute Poesien: Arien, Kantaten und Opern in Romanen des frühen 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abbildungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Wolfgang H irschmann

und

D irk Rose

Einführung

Auf den ersten Blick scheint die Kantate italienischen Typs, die sich in den Jahrzehnten vor und nach 1700 auch im deutschen Sprachraum etabliert hat, eine einfache Gattung zu sein. Im Grunde besteht sie aus nur zwei Elementen: Rezitativ und Arie, die mehr oder weniger frei kombiniert werden können.1 Bei geistlichen Kantaten treten zudem noch fallweise Choralstrophen und biblische Dicta hinzu.2 Auch werden die Arien oft dadurch ausgestaltet, dass sie als Da-capo-Arien und/oder mit mehreren Singstimmen konzipiert sind. Allerdings handelt es sich auch hierbei lediglich um eine Variation der vorgegebenen Grundbausteine. In poetologischer Hinsicht fällt die Kantate aufgrund ihrer relativ einfachen Struktur durch eine vergleichsweise geringe Regulierung auf, zumal die Rezitative, welche in der Regel die größere Textmenge bilden, meist in freien madrigalischen Versen gehalten sind. Neben den wenigen strukturellen Vorgaben ist die Kantate vor allem durch ihre Okkasionalität gekennzeichnet.3 Fast immer bezieht sie sich auf konkrete Ereignisse, die oft festlichen Charakter tragen, seien sie weltlicher Natur, wie beispielsweise Hochzeiten oder Krönungsfeierlichkeiten, seien sie geistlicher Natur, vom Festgottesdienst bis zu den liturgischen Feiern des Kirchenjahres. Für ihre Erforschung verdienen daher strukturelle wie performative Aspekte gleichermaßen Aufmerksamkeit. Das hat Klaus Conermann schon 1976 betont: „Die Herausbildung

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Zu dieser ‚neuen‘ Kantatenform am Ende des 17. Jahrhunderts vgl. das betreffende Kapitel bei Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u.  a. 2005, S. 129−159. Dem sehr weiten und anachronistischen Kantatenbegriff der älteren Musikforschung, der jede Form von mehrsätziger Vokalmusik bezeichnen konnte, stehen in jüngerer Zeit Tendenzen zu einer schärferen begrifflichen Eingrenzung gegenüber: So ist mit Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert versucht worden, den Begriff auf die Rezitativ/Arien-Struktur der italienischen Kammerkantate festzulegen und Hybridformen wie die aus Dictum, Lied, Arie und Rezitativ gefügte protestantische Kirchenmusik seit um 1710 mit neutraleren Bezeichnungen (‚Kirchenmusik‘, ‚Kirchenstück‘) zu fassen. Dies lässt sich mit dem terminologischen Gebrauch der Zeitgenossen teilweise begründen, teilweise widerspricht dieser aber auch einer derartigen Eingrenzung. In Johann Jacob Rambachs einflussreichem und häufig vertontem Kirchenmusikjahrgang der Geistlichen Poesien (Halle an der Saale 1720) wird der Ausdruck ‚Cantata‘ mir großer Selbstverständlichkeit für die Hybridform der modernen protestantischen Kirchenmusik verwendet. Vgl. besonders Klaus Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. Über die Entstehung der höfischen Kantatentexte und ihre Entwicklung zum galanten ‚Singgedicht‘. In: Dorette Frost u. Gerhard Knoll (Hg.): Gelegenheitsdichtung. Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur Wolfenbüttel 28. 8.–31. 8. 1976. Bremen 1977, S. 69−109.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-001

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Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose

der Kantatenform […] scheint sich nur dann ausreichend verstehen zu lassen, wenn Gesichtspunkte der Form- und Sozialgeschichte miteinander verknüpft werden“.4 Dieser Forderung soll in den folgenden Beiträgen Rechnung getragen werden. Sie folgen dabei der Grundannahme, dass sowohl die relativ geringe poetologische Regulierung wie auch die Anlassbezogenheit der Kantate dafür verantwortlich gewesen sind, dass sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem der Katalysatoren5 für jenen kulturellen Wandel werden konnte, der mit dem Übergang vom ‚Barock‘ zur ‚Aufklärung‘ assoziiert wird.6 Beide Aspekte verdienen daher noch eine genauere Erläuterung. Am Ende wird sich vielleicht herausstellen, dass es sich mit der Kantate wohl doch nicht so einfach verhält, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Im traditionellen Gattungsschema der aristotelischen beziehungsweise humanistischen Poetik sucht man die Kantate vergeblich.7 Das ist insofern wenig erstaunlich, als sie vergleichsweise jungen Datums ist. Auch hatte schon Martin Opitz der sangbaren Dichtung eine Sonderstellung eingeräumt, als er sie in der Deutschen Poeterey (1624) von der oratorischen Dichtung abgrenzte und ihre Regulierung weitgehend musikalischen Erfordernissen überließ.8 So heißt es beispielsweise über die Ode: „Die reimen der ersten strophe sind auch zue schrencken auff vielerley art/ die folgenden strophen aber mussen wegen der Music/ die sich zue diesen generibus carminum am besten schicken/ auff die erste sehen“.9 Die Kantate etabliert sich im poetologischen Diskurs um und nach 1700 vornehmlich im Gegensatz zu tradierten Gattungen wie der Pindarischen Ode, die in ihrem Licht nun „gar altfressen aussehen“.10 Gerade der Unterschied zur traditionellen Odenform lässt den Innovationscharakter der Kantate deutlich zu Tage treten. Waren Dichter und Komponist bei der Ode, wie das Zitat von Opitz zeigt, noch auf einen einzigen Affekt und damit auf eine weitgehend monologische Sprechhaltung sowie eine einheitliche Melodieführung festgelegt, so werden in der Kantate nun

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Ebd., S. 69. Die metaphorische Verwendung dieser naturwissenschaftlichen Bezeichnung für einen „Stoff, der chemische Reaktionen herbeiführt oder beeinflusst, selbst aber unverändert bleibt“ (Duden), soll andeuten, dass die Kantate gerade durch ihre einfache, in ihren Grundelementen gleichbleibende Struktur bei gleichzeitiger funktionaler Polyvalenz in der ‚Laboratoriumssituation‘ der Frühaufklärung in einem Maße Prozesse in Gang setzen und beschleunigen konnte, wie es andere Formen und Gattungen nicht leisten konnten. Zur vieldiskutierten Problematik dieses Epochenübergangs vgl. unter anderem Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 98 (1995), S. 94−118. Dem poetologischen Status der Kantate widmet sich ausführlich der Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band. Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1991, S. 30. Ebd., S. 56. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg 1707, S. 229.

Einführung

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unterschiedliche Affekte und damit unterschiedliche Textcodierungen und Kompositionsweisen in ein und demselben Stück möglich. Das bedeutet nicht nur einen Differenzierungszuwachs für eine musikpoetische Gattung,11 sondern auch für eine Affekt- und Gefühlskultur, die sich wesentlich über rhetorische und/oder musika­ lische Vorgaben entwickelte bzw. verständigte.12 Damit erweist sich die Kantatenform in besonderem Maße geeignet für die Umsetzung dramatischer Sujets jenseits der Opernbühne, so dass der Kantate offenbar von Beginn an eine Affinität zu theatralen Kunstformen zu eigen war.13 Generell sollte die poesiegeschichtliche Provokation durch die Kantate nicht unterschätzt werden. Im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes, die den kulturpolitischen Diskurs in Europa um 1700 und danach bestimmt, stellt die Kantate zweifellos ein Votum für die Seite der Modernes dar; und zwar schlicht durch die Tatsache, dass es sie gibt.14 Ähnlich wie die Oper bezeugt ihre Existenz die Innovationskraft einer ‚modernen‘ Poesie, welche ohne Rückgriff auf traditionelle Muster und jenseits der Normen einer aristotelischen Poetik neue Gattungen und neue poetische Sprechweisen zu etablieren in der Lage ist. Im Umkehrschluss, der in den agonalen Denk- und Argumentationsweisen dieses ‚alt/neu-Streites‘ stets präsent ist,15 bedeutet das freilich auch, dass die von den Anciens präferierten Gattungen, wie etwa die antike Odenform, als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Die Kantatenpraxis profitiert daher in besonderer Weise von der Frontstellung der Querelle, weil sie deren antagonistische Leitunterscheidung in einem produktiven Sinn für ihre eigene Entfaltung zu nutzen versteht. So konnte sie zu einem performativ wirksamen Medium jener ‚frühaufklärerisch‘ genannten kulturellen Praktiken werden, deren Fokus auf einem Gegenwartsbezug und einer (partiellen) Zukunftsgerichtetheit lag. Nichts verdeutlicht diese Stoßrichtung besser als jene teils wortgewaltige, teils schweigsame Ratlosigkeit, mit der eine normative Regelpoetik, bis hin zu Gottsched, der Kantate gegenüber trat. Ihren Erfolg dürfte die Kantate dabei nicht zuletzt ihrer kombinatorischen Grundstruktur zu danken haben. Zwar lassen sich Phänomene einer ars combinatoria bis in

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Vgl. im Detail den Beitrag von Irmgard Scheitler in diesem Band. Anschaulich gemacht in dem Band von Achim Aurnhammer, Dieter Martin u. Robert Seidel (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Tübingen 2004. Vgl. auch dazu den Beitrag von Irmgard Scheitler im vorliegenden Band. Auf einer solchen Faktizität aktueller Kunst- und Wissenspraktiken gründet der Geltungsanspruch der Modernes in der Auseinandersetzung mit den Anciens; vgl. exemplarisch Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes [1688–92]. In: Marc Fumaroli u. Anne-Marie Lecoq (Hg.): La Querelle des Anciens et des Modernes. XVIIe−XVIIIe siècles. Paris 2001, S. 361−380. − Zur zeitgenössischen französischen Kantatenproduktion vgl. den Beitrag von Herbert Schneider im vorliegenden Band. Vgl. Herbert Jaumann: Der alt/neu-Diskurs (Querelle) als kulturelles Orientierungsschema. Charles Perrault und Christian Thomasius. In: Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger u. Jörg Wesche (Hg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Tübingen 2004, S. 85−99, besonders S. 87–89.

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Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose

die antike Poetik zurückverfolgen.16 In der Kantatendichtung erfüllen sie aber − noch verstärkt durch das Zusammenspiel von Poesie und Musik − den besonderen Zweck, jene ‚Spielräume‘ der Textproduktion, welche die traditionelle Rhetorik immer auch zugestanden hat,17 in einem wortwörtlichen Sinn zu erweitern. Die Kantate war von daher offen für verschiedene Formen der Hybridisierung im Rahmen einer eklektisch-kombinatorischen Herangehensweise. Einher ging das mit dem Zurückdrängen dezidiert gelehrter Versformen. Eben weil das Verfassen von Kantatentexten nicht besonders schwer fiel und weil ein großer Bedarf bestand, nahm es im ersten und zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts teils ubiquitäre Züge an.18 Auf der anderen Seite bot die kombinatorische Struktur der Kantate, in welchem Umfang auch immer, die Möglichkeit zur Improvisation19 – und zwar sowohl auf textlicher wie auf musikalischer Ebene. So konnte der Improvisationscharakter des Textes Ausgangspunkt für die virtuose Improvisationskunst von Komponist und Ausführenden gleichermaßen werden. Gerade das offene, krea­tive Zusammenspiel von Text und Musik – das den beiden Partnern zugleich auch reiche Möglichkeiten zur Profilierung teils autonomer Gestaltungsverfahren bot – stellte die innovative wie dynamisierende Funktion der Kantate für die Weiterentwicklung und Transformation künstlerischer Praktiken unter Beweis. Neumeister und Hunold heben die neuartigen Freiheiten und Spielräume, welche die Kantate Dichtern und Musikern eröffnete, in Abgrenzung zur Ode prägnant hervor: CCXX. Denn in einer Ode muß der Poet/ so zu sagen/ einerley Conceptus haben/ zum wenigsten obligiret ihn die erste Strophe/ daß er die andern just nach dieser elaboriren muß. Hingegen ist er in einer Cantata an nichts gebunden/ sondern läßet seine Grillen aus/ wie er sie am bequemsten eingefangen. CCXXI. Und ein Componist kann in einer Ode ebenfalls nicht mehr/ als den ersten Satz/ componiren/ wornach sich die übrigen accommodiren müssen. Allein wie übel es läst/ wenn unterschiedene Affectus einerley Melodie haben/ oder die musicalische Variation auf widrige und incommode Wörter fällt/ kan jedweder leicht judiciren/ […]. Doch in einer Cantata hat man sich dergleichen Inconvenientz gar nicht zu befahren/ sondern die Kunst-Griffe sind überall nach Gelegenheit anzubringen.20

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Zu kombinatorischen Textverfahren, etwa bei dem spätantiken Dichter Ausonius (um 310−393/394), vgl. Ulrich Ernst (Hg.): Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse. Bd. 1: Von der Antike bis zum Barock. Berlin, Boston 2012, S. 65−85. Vgl. Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Hartmut Laufhütte (Hg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2000, S. 33−67. Die geringe Wertschätzung der Kantate in der vierten Auflage von Gottscheds Critischer Dichtkunst (1751) gründet sich nicht zuletzt auf diesen Sachverhalt. Vgl. auch hierzu den Beitrag von Stefanie Stockhorst. ‚Improvisation‘ ist hier nicht als Gegenbegriff zu ‚Komposition‘, sondern als Gegensatz zu ‚Normierung‘ zu verstehen: als Bezeichnung für eine kreative, öffnende, erprobende, auf Innovation angelegte Herangehensweise an die Text- und Musikproduktion. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 10), S. 284. – Diese neu gewonnene dichterische Freiheit manifestiert sich auch in Neumeisters Geistlichen Cantaten (1702), die ausschließlich aus neu gedichteten Rezitativen und Arien geformt sind. Damit ist zugleich die Scheidegrenze zwischen älterer und neuerer protestantischer Kirchenmusik markiert. – Zu mög-

Einführung

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Darüber hinaus begünstigte die kombinatorische Struktur der Kantate ihre Anpassung an unterschiedliche Anlässe, in denen sie in einer großen Variationsbreite, vom kleinen Gesangsstück bis hin zu opern- und oratorienhaften Werken, Verwendung fand. Die ebenso einfache wie variable Grundstruktur ermöglichte eine funktionale Diversifizierung der Gattung, die so als ein Junktim zwischen verschiedenen Aufführungsorten und -kontexten und damit verschiedenen sozialen Schichten, letztlich auch einer Dynamisierung des Sozialgefüges dienen konnte.21 Diese soziomusikalische und sozioliterarische Katalysatorfunktion der Gattung scheint im deutschsprachigen Raum stärker ausgeprägt gewesen zu sein als im Ursprungsland Italien.22 Ihre „Symbiose-Bereitschaft“, so die glückliche Formulierung von Bernhard Jahn, führte auch dazu, dass die Kantate Funktionen übernehmen konnte, die für literarische Publikationsformen der Frühaufklärung wie etwa die moral weeklies kennzeichnend waren.23 Wenn es also zutrifft, dass die Gattung durch strukturelle Konstanz der Grundelemente bei starker funktionaler Polyvalenz gekennzeichnet ist, dann erscheint eine nähere gattungstheoretische Bestimmung als Strukturtypus sinnvoll,24 da nur im strukturellen Bereich die für eine Gattungsbestimmung erforderlichen Merkmalskonstanten (Rezitativ-Arien-Folge als Strukturgerüst, Dimensionierung unterhalb der ‚großen‘ Gattungen Oratorium und Oper) zu finden sind. Ihre Legitimierung erfuhr die Kantate freilich weniger durch den poetologischen Diskurs als vielmehr durch ihre vielgestaltige Aufführungspraxis. Das zeigt in besonders markanter Weise die Diskussion um die Verwendung von Kantaten im Gottesdienst. Als Erdmann Neumeister 1702 seinen ersten geistlichen Kantatenjahrgang zusammenstellte, der vor allem in der Auflage von 1705 eine weitere Verbreitung

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lichen Vorformen der Neumeister’schen geistlichen Kantaten vgl. den Beitrag von Michael Maul im vorliegenden Band. Vgl. die differenzierten Analysen zu verschiedenen Aufführungs- und Rezeptionsmodi italienischsprachiger und deutschsprachiger Kantaten in Hamburg im Beitrag von Hansjörg Drauschke in diesem Band. Zur Kantate in Italien um 1700, auch im Vergleich zu Erscheinungsformen in Deutschland, vgl. die Beiträge von Klaus Pietschmann und Bertold Over im vorliegenden Band. Vgl. die Beiträge von Bernard Jahn und Steven Zohn im vorliegenden Band, die Formulierung von Bernhard Jahn auf S. 169. Der Begriff geht auf die Schule der Chicago critics in den 1930er-Jahren zurück und bezieht sich auf gattungstypologische Grundeinheiten; vgl. Ralf Klausnitzer: Neoaristotelismus. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart, Weimar 2010, S. 183  f. – Zum Unterschied zwischen Struktur- und Funktionstypus vgl. auch Wolfgang Hirschmann: „Glückwünschendes Freuden=Gedicht“. Die deutschsprachige Serenade im Kontext der barocken Casualpoesie. In: Friedhelm Brusnick (Hg.): Barockes Musiktheater im mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Köln 1994, S. 75−117. Ein Funktionstypus ist durch Kriterien bestimmt, „die auf die Frage: Wozu dient dieser sprachliche/musikalische Text? antworten.“ Die Kriterien eines Strukturtypus hingegen „antworten primär auf die Frage: Wie ist der sprachliche/musikalische Text aufgebaut?“ (ebd., S. 84).

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Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose

fand,25 sah er sich zunächst zu einer Rechtfertigung gezwungen, die Kantatenform auch in liturgischen Zusammenhängen zu verwenden. Rhetorisch fragt er, „ob diese Arth Gedichte/ wenn sie gleich ihr Modell von Theatralischen Versen erborget/ nicht dadurch geheiliget/ indem/ daß sie zur Ehre GOttes gewiedmet wird?“26 Im selben Jahr erklang jedoch bereits eine Kantate Georg Bronners, „[a]lß Anno 1702. am 22. Decemb. das renovirte und verbesserte Orgel=Werck/ Zum Heil. Geist in Hamburg/ Zum ersten mahl wieder gebrauchet wurde“.27 Der überlieferte Einzeldruck des Textes vermerkt ausdrücklich, dass die Kantate „nach der Predigt“28 aufgeführt worden sei. Bei ihr handelt es sich um genau jenen italienischen Kantatentypus aus Da-capo-Arie und Rezitativ, den Neumeister mit seinen Geistlichen Cantaten gerade erst für den Gottesdienstgebrauch im sächsischen Weißenfels zu etablieren versuchte. Nur wenige Jahre später konnte der Domvikar im schleswig-holsteinischen Neumünster, Joachim Beccau, angesichts seiner geistlichen Kantatentexte bereits feststellen: „Ich bekenne/ daß ich bey Ihrem Entwurff manche vergnügte Stunde gehabt/ weil alle andere Vergnügung doch nicht so gegründet ist/ als die/ so in einer himmlischen Betrachtung bestehet/ denn nur das ist eine seelige Stunde/ darin man GOttes gedencket.“29 Die rasche, wenngleich regional unterschiedliche30 Etablierung der Kantate in der geistlichen Aufführungspraxis kann als Indiz für ihr zweites wichtiges Merkmal, ihre Okkasionalität, gelten. Es ist selbst dann noch von Belang, wenn die betreffende Kantate vornehmlich als ‚Lesekantate‘ konzipiert gewesen sein sollte, beziehungsweise die Vertonung eines Kantatentextes nicht nachgewiesen werden kann. Denn potentiell war jeder Kantatentext auf eine Aufführung als vertontes Singgedicht hin angelegt. Das gilt auch für jene religiösen Kantatentexte, die eher auf eine individuelle Erbauung abzielen.31 Anja Wehrend hat in ihrer Untersuchung zu den 25 26 27

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Zur Datierung von Neumeisters Kantatensammlung sowie zum Forschungsstand vgl. den Beitrag von Wolfgang Miersemann in diesem Band. [Erdmann Neumeister:] Geistliche CANTATEN Über alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage/ Zu beförderung Gott geheiligter Hauß= Und Kirchen=Andacht […]. Halle 1705, Vorrede, Bl. [7v]. [Georg Bronner:] Alß Anno 1702. am 22. Decemb. das renovirte und verbesserte Orgel=Werck/ Zum Heil. Geist in Hamburg/ Zum ersten mahl wieder gebrauchet wurde/ Ist dabey GOTT zu Ehren/ Nachfolgends in einer MUSICK auffgeführet worden/ Von GEORG BRONNERN, Org. daselbst. Hamburg 1702. Ebd., Bl. 1v. [Joachim Beccau:] Zulässige Verkürtzung müßiger Stunden/ Bestehend in allerhand Geist­ lichen Gedichten, Nebst dem Leyden Christi und dem Hohen=Liede Salomonis, In: CANTATEN, Denen Liebhabern der teutschen Poësie zu vergönnter Gemüths=Ergötzung ans Licht gestellet. Hamburg 1719, Vorrede, Bl. [7v / 8r]. Zu Defiziten in der Erforschung der regionalen Ausbreitung geistlicher Kantaten im protestantischen Deutschland vgl. den Beitrag von Joachim Kremer im vorliegenden Band. Zum öffentlichkeits- bzw. religionsgeschichtlichen Kontext vgl. Rudolf Schlögl: Öffentliche Gottesverehrung und privater Glaube in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Bedeutung von Kirchenzucht und Frömmigkeit für die Abgrenzung privater Sozialräume. In: Gert Melville u. Peter von Moos (Hg.): Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne. Köln, Wien 1998, S. 165−209.

Einführung

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Herrnhuter Kantaten zeigen können, dass selbst diese nicht primär eine individuelle Andachtsfunktion erfüllten, sondern als Teil der pietistischen Gottesdienstpraxis fungierten.32 In Halle wurde eine derartige Kantatenproduktion durch die pietistische Affekttheorie legitimiert.33 Und auch die meisten ‚moralischen Kantaten‘, die anders als die Festkantaten keinem spezifischen Anlass zu folgen scheinen, sind letztlich dennoch für den Fall konzipiert, in einem engeren Kreis zu einem bestimmten Anlass aufgeführt zu werden.34 Als Reinhard Keiser seine Kompositionen auf vier ‚moralische Kantaten‘ Christian Friedrich Hunolds im Jahr 1714 unter dem Titel Musicalische Landlust veröffentlichte, stellte er ihnen ein Widmungsgedicht an den Hamburger Juristen Johann Lüis voran, in dem es heißt: „Denn jedes Stück wird unvergleichlich klingen/ Wenn deine schöne Braut es würdigt selbst zu singen“.35 Es spricht also manches dafür, Kantaten als eine immanent öffentlichkeitsbezogene Kunstform zu betrachten. Dabei sind sie selbst an der Herstellung jener Öffentlichkeit beteiligt, in deren Namen sie zur Aufführung gebracht werden.36 Dort entfaltet sich dann ihre spezifische Katalysatorfunktion. Denn in ihrer konkreten Aufführungspraxis kann der produktionsästhetische Wandel – weg von institutionell-normativen Vorgaben hin zu einem stärker improvisationsbasierten Begriff von Kunst – zugleich als sozialer Wandel erscheinen, eben weil dem ‚Strukturtypus‘ eine soziale Dimension konstitutiv eingeschrieben ist.37 Kantatendrucke konnten als ‚Consumer good‘ gehandelt werden.38 Offenbar erhofften sich ihre Käufer nicht nur, an herausragenden festlichen Ereignissen teilzuhaben wie etwa dem jährlich stattfindenden Petri-Mahl in Hamburg, bei dem eine eigens für diesen Anlass gedichtete und komponierte Kantate zur Aufführung gebracht und in teilweise aufwendigen Drucken publiziert wurde.39 Sogar der Besitz und die mögliche private Wiederaufführung geistlicher Kantaten aus dem städtischen Gottesdienst konnten, wie Ann Le Bar am Beispiel Hamburgs zeigt, als Ausweis der Zugehörigkeit zu

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Vgl. Anja Wehrend: Musikanschauung, Musikpraxis, Kantatenkompositionen in der Herrnhuter Brüdergemeine. Ihre musikalische und theologische Bedeutung für das Gemeinleben von 1727 bis 1760. Frankfurt a. M. 1995. Vgl. dazu den Beitrag von Julian Heigel im vorliegenden Band. Vgl. den Beitrag von Gunilla Eschenbach in diesem Band. [Reinhard Keiser u. Christian Friedrich Hunold:] REINHARAD [sic!] KEISERS […] Musicalische Land=Lust/ Bestehend: In verschiedenen Moralischen CANTATEN, Aus Der neuesten POESIE Von Menantes. Hamburg 1714, Zuschrift, Bl. [1r]. Vgl. am Beispiel der Nachtmusik/Serenata: Wolfgang Hirschmann: „Glückwünschendes Freuden=Gedicht“ (wie Anm. 24). Breite Darstellung erfährt das in einer Reihe von zeitgenössischen Romanen um 1700; vgl. dazu den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Ann Le Bar in diesem Band. Vgl. die betreffenden Bestände im Staatsarchiv Hamburg. Weitere Kantatentexte zu öffentlichen Ereignissen in Hamburg aus den Jahren 1700 bis 1706 finden sich dort in den Konvoluten mit der Signatur Smbd. 210−213.

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Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose

einer Sozial­gemeinschaft im Wandel dienen.40 Vollends manifestierte sich diese Ausrichtung auf eine aufgeklärte Lese- und Musizierpraxis im Kantatenschaffen Telemanns.41 Kantaten und ihre Aufführungssituationen machten den kulturellen Wandel im sozialen Raum sinnlich erfahrbar als Transformationen einer soziokulturellen Praxis. Dieser Wandel führte bekanntermaßen zu einer weitgehenden Neukonstituierung von Kultur und Gesellschaft. An ihr jedoch war die Kantate nicht mehr an prominenter Stelle beteiligt. Auch hierfür dürften die beiden genannten Hauptaspekte, ihre poetologischen Strukturbedingungen sowie ihr Aufführungs- und Öffentlichkeitsbezug, mitverantwortlich gewesen sein. Denn einer Poesie, die immer stärker unter ein genieästhetisches, selbstschöpferisches Apriori geriet,42 musste eine Kombinationskunst wie diejenige der Kantate bei aller Innovationskraft letztlich fremd erscheinen, zumal sich auch die ausgefeilteste Kombinatorik irgendwann erschöpft. Und einer empfindsamen ‚Innerlichkeitsästhetik‘, die sowohl im Bereich der Poesie wie der Musik auf die subjektive, möglichst nach außen abgeschlossene und damit auf Vermittlung angewiesene Rezeption von Kunstwerken setzte, musste eine Kantatenkunst mit ihrem Anlassbezug zum mindesten suspekt und wenig ‚gehaltvoll‘ erscheinen. So trägt die Kantate als Katalysator, gleich anderen Formen in der ‚Sattelzeit‘ des 18. Jahrhunderts,43 gerade durch ihren Erfolg letztlich zu ihrer eigenen Marginalisierung bei. Das bedeutet freilich nicht, dass sich eine Beschäftigung mit ihr nicht mehr lohne. Im Gegenteil: Am Beispiel der Kantate und ihrer Funktionen lassen sich die soziokulturellen Veränderungen im Jahrhundert der Aufklärung, das zugleich ein Kantatenjahrhundert war, besonders anschaulich beschreiben. Die Beiträge des vorliegenden Bandes mögen als ein erster Zugriff auf ein in vielerlei Hinsicht noch weitgehend unerforschtes Terrain verstanden werden, der auch Forschungsdefizite – zumal im Bereich der Grundlagenforschung, aber auch im inter- wie transdisziplinärem Austausch zwischen Germanistik, Musikwissenschaft, Theologie und den europäischen Philologien – deutlich werden lässt. Die Reihenfolge der Beiträge im Band und dessen Gliederung in vier Abteilungen (Kantatenanfänge: Integration und Abgrenzung; Kantatentransfers: Die Kantate im europäischen Kontext; Kantatenaffekte: Poetik, Theologie und Moral; Kantatenwelt: 40

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Zur spezifisch ‚frühaufklärerischen‘ Öffentlichkeit im Hamburg der Patriotischen Gesellschaft vgl. ausführlicher Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 223−245. Vgl. dazu den Beitrag von Steven Zohn in diesem Band. Zur Semantik des subjektiv Schöpferischen in der Genieästhetik vgl. etwa Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1982, S. 62−68. Dieser von Reinhart Koselleck geprägte Begriff wird kritisch diskutiert in den aktuellen Beiträgen bei Elisabeth Décultot u. Daniel Fulda (Hg.): Sattelzeit. Historiographische Revisionen. Berlin, Boston 2016.

Einführung

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Sammlungs- und Verwendungszusammenhänge) orientiert sich an der Ordnung und Abfolge der Referate, wie sie auf dem Internationalen Wissenschaftlichen Symposium Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700 gehalten wurden, das vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) und dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung (IZP) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Zusammenarbeit mit dem Institut für Germanistik der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf und der Abteilung Musikwissenschaft am Institut für Musik der Universität Halle vom 20. bis 22. November 2014 veranstaltet wurde. Ohne die logistische und ideelle Unterstützung der genannten Institutionen hätte diese Konferenz genauso wenig stattfinden können wie ohne die generöse finanzielle Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, die auch die Drucklegung des Bandes finanziert hat. Unser nachdrücklicher Dank gilt diesen In­stitutionen, aber vor allem auch den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die durch ihre Beiträge das Entstehen des Bandes erst möglich gemacht haben.

I Kantatenanfänge: Integration und Abgrenzung

I rmgard S cheitler

Die Kantate als dramatischer Text. Gedanken über die Entstehung der Kantatenform Für die Entstehung der Gattung Cantata pflegt die Musikwissenschaft auf mehrsätzige vokalmusikalische Werke zu verweisen, wobei die Mehrsätzigkeit wichtig, der Textcharakter der einzelnen Teile aber von ganz untergeordneter Bedeutung ist. Es kann sich um Gedichtstrophen, Psalmverse, Bibeldicta oder auch – etwas später – um Rezitative und Arien handeln. Diese Konzeption ist umso verständlicher, als Philipp Spittas sehr weiter Kantatenbegriff immer noch das Denken und die Terminologie beherrscht. Gleichwohl ist auch eine andere Sichtweise legitim. Die frühesten Verwendungen des Begriffes „Cantata“ wie auch die ersten Definitionen rekurrieren nämlich sehr wohl und sogar ausdrücklich auf die Gestalt des Textes. Die Mehrsätzigkeit erscheint dabei als deren Konsequenz. Als sich Reinhard Keiser als einer der Ersten im Vorwort zu seiner Gemüths=Ergötzung 1698 zu der Entstehungsfrage äußerte, benutzte er schon die später immer wieder angeführte Formulierung, die Cantate sei ein „Stück aus einer Opera“; charakteristisch sei „die vermischete Singart derselben/ nemlich bald Recitativ, bald Arie“.1 Wie schon Keiser, so sollte auch den späteren Dichtern und Theoretikern die „theatralische Schreibart“ als wichtigstes Kriterium gelten.2 Der Terminus dient als Kürzel für jene in der Oper zuerst bekannt gewordene Strukturverbindung von Rezitativ und Arie, wobei die „Arien“ sehr wohl auch Strophenlieder sein können. Rezitative bestehen in der Regel aus freimadrigalischen Versen, wie sie schon Hans Leo Haßler im Deutschen ­etablierte.3 Diese Vers1

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Gemüths=Ergötzung/ Bestehend In einigen Sing=Gedichten/ Mit Einer Stimme und unterschiedlichen Instrumenten. Hamburg 1698: „Es ist aber die Erfindung derselben von den Opern hergekommen. Denn weil man verspühret/ daß die vermischete Sing=Art derselben/ nemlich bald Recitativ, bald Arien, und diese bald lustig/ bald traurig/ bald aus diesem/ bald aus jenem Thon/ sehr angenehm war; allemahl aber ein Stück aus einer Opera zu machen/ wegen Abwechselung der Personen nicht thulich [sic]/ so hat man die alte Art der langen Lieder von vielen Gesätzen oder Strophen/ in ein solches mit Recitativ und Arien vermischtes Gedicht verwandelt.“ Reinhard Keiser: Weltliche Kantaten und Arien. Bd. I: Werke aus gedruckter Überlieferung. Hg. v. Hansjörg Drauschke u. Thomas Ihlenfeldt. Beeskow 2012 (Musik zwischen Elbe und Oder 30), Faksimile der Vorrede, S. XXXIII. Die Cantaten-Sammlung ist Anton Ulrich von Wolfenbüttel gewidmet. Zu der Frage, ob Christian Heinrich Postel tatsächlich Autor nur einiger oder aller Texte ist, vgl. Hansjörg Drauschkes Vorwort, S. VIIIf. Noch Johann George Hamann: Poetisches Lexicon. 2., verm. Aufl. Aurich 1765, S. 53: „Ein Gedichte, welches aus Recitativ und Arien zusammen gesetzet ist“. Hans Leo Haßler: Neue Teutsche gesang nach art der welschen Madrigalien und Canzonetten/ mit 4. 5. 6. und 8. Stimmen. Augsburg 1596. Als Madrigale qualifizieren sich Haßlers Texte meistens durch Jamben mit unterschiedlichen Zeilenlängen. Bisweilen streut er an hervorzuhebenden Stellen trochäische Zeilen ein (Nr. III: „Ich bin dein/ du bist mein“). Einige Male gelingen nach strengem italienischem Vorbild Kombinationen mit nur drei- und fünfhebigen Zeilen (Nr. V; XI; XV; XVI). Meist aber verfällt Haßler in die dem Deutschen so sehr geläufigen Vierheber.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-002

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reihen von beliebiger Länge halten sich überwiegend an den Jambus, mischen bisweilen aber auch – insbesondere an herausragenden Stellen – Verse mit anderem Metrum ein. Die Zeilenlänge umfasst zwei bis sechs oder sogar eine bis sieben Hebungen. Entgegen der idealischen Vorgabe, möglichst zerstreut zu reimen und Waisen mit einzustreuen, neigen die deutschen Dichter seit jeher zu mehr oder weniger regelmäßigen Reimfolgen. Wenige Autoren, allen voran David Elias Heidenreich, schreiben streng madrigalisch, das heißt sie beschränken sich gemäß dem italienischen Vorbild auf eine Zeilenlänge von drei oder fünf Hebungen, reimen unregelmäßig und verzichten ganz auf andersmetrische Zeilen. Reinhard Keiser spezifiziert seine Cantatenbestimmung noch etwas weiter, indem er auf Vorgänger der neuen Gattung verweist. Wäre ihm die Mehrsätzigkeit vor allem wichtig gewesen, so hätte er auf durchkomponierte Arien etwa von Heinrich Albert, Caspar Kittel und Adam Krieger, beispielsweise „Fleug/ fleug/ Psyche fleug“, verweisen können4 oder noch weiter zurück auf Vokalkompositionen des 16. Jahrhunderts mit mehreren Partes. Stattdessen beruft er sich auf Simon Dachs „Es fing ein Schäfer an zu klagen“5 und Martin Opitzens „Coridon der ging betrübet“.6 Beides sind Rollenlieder. Offensichtlich kam es Keiser mithin auf das Redekriterium an: Er betrachtete eine bestimmte Sprechhaltung als Merkmal der Cantata.7 Diese Beispiele und die ihnen eigene Performanz erstaunen, sollte doch in der Folgezeit die reflektierende oder lyrische Solocantata bestimmend sein. Vornehmlich von ihr handelt die von Christian Friedrich Hunold und Erdmann Neumeister verfasste Poetik Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen im poetologisch-theoretischen Teil. Sie beherrscht aber auch die zahlreichen BeispielCantaten in dem genannten Werk, die so gut wie alle einen Ich-Sprecher aufweisen.8

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Eugen Schmitz: Geschichte der Kantate und des geistlichen Konzerts. Geschichte der weltlichen Solokantate. Hildesheim 1966, S. 214, vertritt die These, Kittel habe seine durchkomponierten Stücke als „Cantaten“ begriffen. Caspar Kittel: Arien und Cantaten mit 1.2.3. und 4. Stimmen, sambt beygefügtem Basso continuo. Dresden 1638. Aus den Arien Adam Kriegers wird immer wieder „Fleug/ fleug/ Psyche fleug“ als kantatenhaft bezeichnet, vgl. die Besprechung bei Schmitz, S. 225–227. Adam Krieger: Arien. Hg. v. Alfred Heuss. In Neuaufl. hg. u. kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. Wiesbaden, Graz 1958 (Denkmäler Deutscher Tonkunst. Folge 1, 19), IV, 8. Ziemlich bekannt (vgl. frühe Parodien) war die Vertonung von Heinrich Albert: Arien. Hg. v. Eduard Bernoulli, in Neuaufl. hg. u. kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. 2 Bde. Wiesbaden, Graz 1968 (Denkmäler Deutscher Tonkunst Folge 1, 12; 13), V, 17. Johann Nauwach: Erster Theil teutscher Villanellen mit 1.2. und 3 Stimmen. Dresden 1627, Nr. 10, zweistimmig. Kittel (wie Anm. 4), Nr. 3 einstimmig durchkomponiert. Kittel lässt im Vorwort die Möglichkeit offen, nur die erste „Stantze“ für den Gesang zu wählen. Nicht befriedigen können in dieser Hinsicht die Ausführungen von Hansjörg Drauschke im Vorwort zur Ausgabe von Keisers Gemüths=Ergötzung (wie Anm. 1), S. VIIIf. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemüthern/ Zum Vollkommenen Unterricht/ Mit Uberaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet, Von Menantes. Hamburg 1707, Beschreibung S. 283–285, Cantatenbeispiele S. 285– 337.

Die Kantate als dramatischer Text

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Hunold und Neumeister bevorzugen die lyrische Solocantata, sind aber nicht dogmatisch, sondern kennen auch andere Formate. Ausdrücklich erwähnt die Poetik die dramatische Variante der Cantata, wenn es heißt: „Eine Cantata ist gemeiniglich ein Solo, doch kan man sie auch a doi und mehr Stimmen ins Geschicke richten/ oder sie in die Forme eines Dialogi drücken.“9 Das Textbeispiel dafür weist mehrere in ihrer Typisierung allegorische Rollen auf.10 Dieser Cantata für drei Figuren lässt sich Neumeisters für den 3. Sonntag nach Trinitatis bestimmter Dialog zwischen Jesus und dem Sünder an die Seite stellen.11 Es handelt sich um eine dramatisch gestaltete Wechselrede mit Frage und Antwort, Klage und Trost, mit vom Dialogpartner aufgegriffenen Stichwörtern und Stichomythien. Die abschließende Arie wird von den Figuren im Wechsel gesungen, die letzten beiden Zeilen aber sind als Duett aufgefasst. Neben der lyrischen und dramatischen Einrichtung ist auch das Narrativ möglich. Dramatische Cantaten können eine epische Einleitung haben: Zunächst spricht ein Erzähler, dann aber melden sich ein oder mehrere Rollensprecher, genau wie es in den von Keiser erwähnten Liedern Dachs und Opitzens der Fall ist. In dieser Art ist das früheste belegbare Singgedicht geschrieben, das Keiser schon 1696 für eine Hochzeit vertonte und zwei Jahre später in die Kantatensammlung aufnahm: Der Vergnügte Amyntas. Auf Monsieur Bressands und Mademoiselle Schröderinnen Hochzeit/ Welche den 24. Jun. dieses 1696. Jahrs in Wolffenbüttel gefeyret ward in einem Sing=Gedichte abgebildet Von R. Keiser.12 Der Text hat folgendes Personal: Erzähler (Schlussarie), Amyntas (Arien), eine Schäferin (Arie, Teile des Rezitativs), eine andere Schäferin (Arie). Keiser behandelt das Libretto freilich wie eine Solokantate und lässt – wie in Simon Dachs und Heinrich Alberts „Es fing ein Schäfer an zu klagen“ – alle Personen und auch den Erzähler von einer Stimme singen. Dass auch eine andere Umsetzung möglich ist, zeigen Telemann’sche BrockesCantaten. Bereits vor der Veröffentlichung des Irdischen Vergnügens in Gott von Barthold Heinrich Brockes hatte Georg Philipp Telemann „Das Wasser im Frühlinge. Sing=Gedichte à 2.“ komponiert und 1720 aufgeführt.13 Die Musik zu dieser Cantata ist zwar nicht erhalten, sie lässt sich aber aus einem verwandten Werk, „Die uns zur Andacht reitzende Vergnügung des Gehörs im Frühlinge, in einem Sing=Gedichte“ („Alles redet itzt und singet“, für Sopran und Bass) erahnen. Diese Cantata wurde

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[Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 8), S. 285. Ebd., S. 305–307 mit den Rollen Ducatino, Vinetto, Amando. Geistliche Cantaten Uber alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage/ Zu beförderung Gott geheiligter Hauß= Und Kirchen=Andacht. Halle a.  d.  S. 1705, S. 81–84. Der Vergnügte Amyntas. Wolfenbüttel 1696 (nur Text). Wieder in: Gemüths=Ergötzung (wie Anm. 1), Nr. 2. Das Irdische Vergnügen erschien in 1. Aufl. Hamburg 1721. „Das Wasser im Frühlinge“ („Es ging Lisander und Elpin“ à 2.) TVWV [= Telemann-Vokalwerke-Verzeichnis. Hg. v. Werner Menke. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1982/83] 20:1, Musik verschollen. „Alles redet“ TVWV 20:20.

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1720 in Hamburg und 1721 in Frankfurt musiziert.14 Beide Werke setzen Figuren ein. Bei „Alles redet itzt und singet“ sind dies die Allegorien „die Aufmunterung“ und „die Betrachtung“. Die Namen des Personals stehen sogar nach Dramenart vor dem Beginn des Haupttextes, gleich nach dem Bibelspruch, der sich durch diese Abrückung als nicht zum Libretto gehörig qualifiziert. In der Cantata „Das Wasser im Frühlinge“ spazieren Lisander und Elpin durch den Frühling. Nur das einleitende Rezitativ ist eine Erzählung im Präteritum, das Folgende sind die Reden der Freunde. Beide Singgedichte schließen mit einem Duett. Auch dieser Schlussakzent, der die Personen versammelt, ist eine aus dem theatralischen Genre übernommene Struktur. Rein epische Cantaten sind selten.15 Auf die Möglichkeit eines narrativen Cantatentextes verweist Johann Christoph Gottsched und definiert: „Wenn der Poet selbst darinn redet“, so handele es sich um eine erzählende Cantate. Als Beispiel nennt er dabei sein Werk Orpheus. Christian Gottfried Krause bezieht sich darauf in seinem Standardwerk Von der musikalischen Poesie.16 Die Allerneueste Art beschreibt im Anschluss an die Cantata die Nachbargattung Serenata. Sie ähnelt in der Definition der dramatischen Cantata, ist aber länger. Weil zu ihr immer Rollen gehören, nähert sie sich noch mehr der kleinen Oper an.17 Viele Serenaten sind anlassgebunden und wurden zu festlichen Gelegenheiten aufgeführt. „Doch dürffen sie auch nicht allemahl das Theatrum betreten/ sondern können sich/ welches auch offt geschieht/ als eine Taffel=Music praesentiren.“18 Frühneuhochdeutsch „dürffen“ hat noch die alte Bedeutung von „brauchen“. Die Serenata kann also unter Umständen szenisch dargeboten werden, doch eignet sie sich vorzüglich auch zur nicht-szenischen Aufführung. Das in der Poetik gebotene 14

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Das Werk wurde, „nachdem es erstlich die Hamburgische Musen durch ihre Execution belebet“ (Titel des Textbuches), 1721 in Frankfurt „in einem grossen Collegio Musico aufgeführet“. Vgl. Karl Israel: Frankfurter Concert-Chronik von 1721–1780. Reprographischer Nachdruck der Ausg. v. 1876 mit einem Vorwort, Anhang u. Register hg. v. Peter Cahn. Frankfurt a.M., New York u. London 1986, S. 21. Zu Hamburg vgl. Händel und Hamburg. Ausstellung anläßlich des 300. Geburtstages von G. F. Händel. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Hg. v. Hans Joachim Marx. Hamburg 1985, S. 106. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4., verm. Aufl. Leipzig 1751. Darmstadt 1982, S. 727  f., hier: S. 728. [Christian Gottfried Krause:] Von der musikalischen Poesie. 2., mit einem Register verm. Aufl. Berlin 1753 (1. Aufl. 1752). Nachdruck Leipzig 1973, S. 123. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 8), S. 337: „Nachgehends aber haben diesen Nahmen alle Theatralischen Gedichte überkommen/ welche nicht allzulang sind“. – Der Begriff „Serenata“ wird im Folgenden stets in diesem von Neumeister und Hunold definierten Sinn gebraucht. Genauso, nämlich strukturell bestimmt, verwendete ihn Christian Weise bereits 30 Jahre vor der berühmten Poetik (siehe unten). Wolfgang Hirschmann hat in einem verdienstvollen Artikel die Verbindung zwischen Serenata und Casualpoesie aufgezeigt. Dabei verwendet er den Begriff Serenata allerdings rein funktional als Synonym für Abendmusik, Ständchen, Huldigung und sieht von der Struktur der Texte ab. Wolfgang Hirschmann: Glückwünschendes Freuden=Gedicht – die deutschsprachige Serenata im Kontext der barocken Casualpoesie. In: Barockes Musiktheater im mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. 8. Arolser BarockFestspiele 1993. Tagungsbericht. Hg. v. Friedhelm Brusniak. Köln 1994, S. 75–93. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 8), S. 337.

Die Kantate als dramatischer Text

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Beispiel ist in drei kurze Akte eingeteilt, hat vier Rollen und einen eigenen Chor.19 Letzterer ist in praxi ein Differenzkriterium: Die dramatische Cantata kennt nur das Ensemble. In der Texteinrichtung und Sprechsituation aber lassen sich keine Unterschiede zwischen Serenata und dramatischer Cantata feststellen. Diese Variationsbreite war Johann Mattheson zu anarchisch. Im Vollkommenen Capellmeister (1739) macht er klar: Cantaten vertragen keine Rollen. Vielmehr müssen sie dem „Kammer=Styl“ zugerechnet werden, weil sie nicht wie etwas Dramatisches mimetisch aufgeführt, sondern „vom Papier abgesungen“ werden.20 Dieser eindeutige Standpunkt, der nur mehr die lyrische Solokantate gelten lässt, hat sich, so konsequent und logisch er war, nicht durchgesetzt, wie die Musikgeschichte lehrt. Der Schlussstrich, den der Systematiker Mattheson ziehen wollte, war aber – wie die folgenden Ausführungen zeigen möchten – auch ein Bruch mit der Genese des Singgedichts. Dieses nämlich, verstehen wir es mit den Zeitgenossen als ein Werk aus Rezitativen und Arien, scheint gerade von der dramatischen Gattung und einer rollenhaften Anlage seinen Ausgang genommen zu haben. Dies sei an einer Reihe von frühen Werken näher beleuchtet. Im Jahr 1650 präsentierten die „unterthänigsten und gehorsamsten sämbtlichen Hoff=Capell=Verwandten“ und der Dichter David Schirmer ihrem Kurfürsten Johann Georg von Sachsen zum 65. Geburtstag eine Singende Darstellung.21 Vielleicht deuten die Initialen unter den vorangestellten Alexandrinerversen „An die sämbtlichen Capell=Verwandten/ und den Dichter“ auf Christoph Bernhard hin, der 19 20

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Ebd., S. 338–346: „Die verliebte Nonne“. Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739. Nachdruck hg. v. Margarete Reimann. 3. Aufl. Kassel 1980, S. 214; Ders.: Der Musicalische Patriot, Welcher seine gründliche Betrachtungen, über Geist= und Weltl. Harmonien, samt dem, was durchgehends davon abhänget, In angenehmer Abwechselung zu solchem Ende mittheilet, Daß Gottes Ehre, das gemeine Beste, und eines jeden Lesers besondere Erbauung dadurch befördert werde. Hamburg 1728. Nachdruck Leipzig 1975, S. 220. Bereits in: Das Neu=Eröffnete Orchestre, oder Universelle und gründliche Anleitung/ Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen […] möge. Hamburg 1713, S. 177 über die Cantata: „Ihre Natur soll seyn/ daß sie mit einer Stimme und dem Basso Continuo gesetzet wird/ weil diejenigen Pieçen, so mit mehr Stimmen oder Instrumenten sind/ eigentlich unter die Serenaden gehören“. Für die „Verfertigung der zu einer Cantata nöthigen Poësie“ verweist Mattheson darauf, was „der artige Menantes“ in seiner Poetik schreibt (ebd., S. 178). Dem Durchlauchtigsten […] Herrn Johann Georgen […] Als Ihre Churfürstliche Durchlauchtigkeit/ Glücklichen und gesund dem 5. Mertzens das Fünff und Sechzigste Jahr Ihres Alter hinterleget […] Ward in einer Singenden Darstellung […] beygebracht/ was Ihrer Churfürstl. Durchl. ferner hertzlich gewüntschet und geeignet würd. Dresden 1650. Die Anlassgebundenheit und auch die Formulierung, das Werk werde im Namen der ganzen Kapelle dem Fürsten dargebracht, erinnern sehr stark an den Wortlaut der Serenaten von Hunold-Menantes. Vgl. Irmgard Scheitler: Hunolds Kantatentexte für Johann Sebastian Bach. In: Cöthener Bach-Hefte 13 (2006), S. 33–56 mit Besprechung von Der Himmel dacht auf Anhalts Ruhm und Glück BWV 66a; Die Zeit, die Tag und Jahre macht BWV 134a; Heut ist gewiß ein guter Tag BWV Anh. 7.

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für seine poetische Begabung bekannt war.22 Die Unterschrift lautet „C.B.C.S.B.“, was sich als „Christoph Bernhard, Chursächsischer Bassist“ auflösen ließe. Stimmte diese Interpretation, so fiele dadurch auch Licht in die Stellung, die Bernhard 1650 in Dresden innehatte. Das Libretto der Singenden Darstellung hat einen epochenbedingten Schönheitsfehler: Nur zu Beginn gibt es eine vierstrophige Arie und erst am Ende wieder einen liedhaften Teil mit Soli und Tutti, dazwischen aber singen die allegorischen Figuren lange Rezitative ohne Arien. Dies nimmt nicht Wunder, betrachtet man eine Oper wie Giovanni Andrea Bontempis und Marco Gioseppe Perandas Dafne, die 1672 in Dresden zu hören war. Mit nur elf Arien bzw. Duetten und vier Chören ist das lange Werk ausgesprochen rezitativlastig. Dies fällt insbesondere im I. Akt auf, der trotz seines großen Umfangs nur eine Arie enthält (I,4).23 So lässt sich leicht verstehen, dass auch zwölf Jahre früher eine ganz gesungene Darstellung arm an Arien ist. In Schirmers Singender Darstellung traten sechs Solisten auf, deren Funktion als allegorische Figuren wohl durch entsprechende Kleidung, durch Aufschriften oder emblematische Gemälde erklärt wurde. Sie bildeten auch das abschließende Ensemble. Schirmer war das Werk wichtig, denn er nahm es 13 Jahre später in Poetische Rauten=Gepüsche auf. Dabei teilte er mit, es sei „vor Churfürstl. Taffel Musicalisch vorgestellet“ worden, und zwar „Zu Dreßden in dem Kirch=Saale“.24 Somit haben wir mit der Dresdner Singenden Darstellung eine Frühform von Serenata oder dramatischer Cantata vor uns: einen ganz gesungenen, aus Arien und Rezitativen bestehenden, nicht szenisch vorgetragenen, aber dramatisch eingerichteten Text. Geradezu makellos entspricht Andreas Tschernings Von der Aufferweckung Lazari, veröffentlicht 1655, den genannten Vorgaben der theatralischen Schreibart.25 Die Widmung richtet sich an zwei schlesische Theologen, die beide gekrönte Dichter waren, jedoch ist kein Anlass für die Zueignung oder für die Aufführung angegeben.26 Angesichts von Tschernings hohem Interesse für Musik, seiner Zusammenarbeit mit Komponisten und seiner Freundschaft mit Matthäus Apelles von Löwenstern 22

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Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen. Hamburg 1740. Vollständiger, originalgetreuer Nachdruck mit gelegentlichen bibliographischen Hinweisen u. Matthesons Nachträgen hg. v. Max Schneider. Berlin 1910, Nachdruck Kassel 1969, S. 18: Bernhard sei „auch in der Dichtkunst, vornehmlich in den Madrigalen, sehr glücklich“ gewesen. Giovanni Andrea Bontempi u. Marco Gioseppe Peranda: Drama oder Musicalisches Schauspiel von der Dafne. Hg. v. Susanne Wilsdorf. Leipzig 1998 (Denkmäler Mitteldeutscher Barock­ musik II, 2). David Schirmer: Poetische Rauten-Gepüsche. Dresden 1663, S. 25. Der Kirchsaal ist ein im Nordwesten der ersten Etage des Schlosses gelegener Repräsentationssaal. Andreas Tscherning: Vortrab des Sommers deutscher Gedichte. Rostock 1655. „An Herrn Christoph Freitagen/ Fürstl. Oeßnischen Hoffprediger etc. Und Hn. Sebastian Alischer/ Prediger in der Fürstl. Stadt Liegnitz etc. Beiden fürnehmen Theologen und Poeten.“ John L. Flood: Poets laureate in the Roman Empire. A bio-bibliographical handbook. Berlin 2006, S. 54  f. (Alischer); S. 596 (Freitag), Gedicht von Freitag zu Lobe von Tscherning.

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(gest. 1648) ist es recht wahrscheinlich, dass die Aufferweckung Lazari komponiert wurde.27 Das dreiaktige Werk hat die Rollen Jesus, Maria, Martha, Lazarus; ferner ist ein Chor erforderlich. Somit besteht eine formale Korrespondenz zu der drei­ aktigen Serenata in der Poetik von Neumeister und Hunold. Die Rezitative sind sehr gut gemacht und ziemlich streng madrigalisch. Dazwischen treten Liedarien, die sich durch ihre überwiegend trochäische Einrichtung bewusst von den Rezitativen absetzen. Einige wenige, sicher arienhaft gesungenen Teile sind ein- bzw. unstrophisch. Es spricht für Tschernings sicheren Zugriff auf die affektiven Wirkungen der Metrik, dass er am Höhe- und Wendepunkt, dem Wunder der Auferweckung, Jesus daktylische Zeilen in den Mund legt. Die Aufferweckung Lazari macht den Eindruck, als stehe der Dichter bereits in einer festgefügten Tradition madrigalischer Kantaten- oder Serenatendichtungen, so selbstverständlich handhabt er die Form. Ein 1657, also zwei Jahre später in Leipzig aufgeführtes Werk zeigt jedoch, dass die theatralische Einrichtung noch keineswegs gefestigt war: Unterthänigste Ehren=Port/ Dem Durchleuchtigstem […] Hn. Johann=Georgen dem Andern/ Hertzogen zu Sachsen […] Bey Ihrer Churfl. Durchl. zur Huldigung Glücklichen Einkunfft in Leipzigk/ auffgerichtet Von denen Sämptlichen daselbst Studierenden ist ein Werk für zehn Solisten und einen Chor. Nach einem gesprochenen Alexandrinerprolog eröffnet „Der ganze Parnaß“ die eigentliche Aufführung. Dieser Text ist der einzig madrigalische im ganzen Stück, kommt aber, weil chorisch gesungen, für ein Rezitativ nicht in Frage. Alles andere sind strophische Ritornellarien. Vermutlich handelte es sich um eine szenische Darbietung.28 Was das Werk für die Gattungsentwicklung interessant macht, ist die Aufführungssituation, der Huldigungskontext; dieser sollte typisch für Serenaten werden. Bezeichnend ist ferner die Besetzung mit allegorischem Personal. Für die Entwicklung ganz gesungener theatraler Darbietungen kommt der Residenz Halle durch David Pohle und David Elias Heidenreich eine herausragende Bedeutung zu. Ins Jahr der Ankunft Pohles dort fällt das dramatische Casuale Hirten=Lust Der Durchlauchtigsten […] Frauen Annen Marien/ Hertzogin zu Sachsen […] Als dieselbe Ihren höchsterfreulichen Geburts=Tag/ welcher war der 1. July/ des 1660then Jahres/ glücklich hingebracht […] Zu Ehren in einer Thea­ tralischen Handlung abgesungen und vorgestellet. Das in Halle gedruckte Libretto umfasst nur zehn Seiten. Die sieben Personen, allesamt Hirten und Hirtinnen, spielten mit Kostümen. Der Text, der sogar im Umfang hinter der in Die Allerneueste 27

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Vgl. „Gespräch von der Auferstehung“. In: Deutscher Getichte Früling. Breslau 1642, S. 234– 241, das offensichtlich bereits ein gesungenes Versdrama mit sechs Personen darstellt. Als Komponist für die Werke aus Vortrab des Sommers kommt beispielsweise Nikolaus Hasse in Frage, Marienorganist in Tschernings Wirkungsort Rostock und berühmter Liedkomponist (Heinrich Müller: Geistliche Seelen=Musik. Frankfurt a. M. 1668) oder der Brieger Wenzel Scherffer von Scherffenstein. Hierauf verweist am Ende des Alexandrinerprologs die Aufforderung an Phöbus: „Das theile/ so du wilt/ nu auch den Augen mit“.

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Art abgedruckten Serenata Die verliebte Nonne zurückbleibt, ist nach theatralischer Schreibart eingerichtet. Heidenreich wurde erst vier Jahre später Pohles Mitarbeiter im Theater. Die madrigalischen Verse des Librettos tragen daher noch nicht seine Handschrift. Die wiederkehrenden kurzen Chöre im letzten Teil des Werkes erinnern an Battista Guarinis Il Pastor Fido V,9 mit seinem wiederholten Schäferchor – wahrscheinlich bezog der Dichter auch von dort die Anregung. Der Tanz der Schäfer und Schäferinnen vor dem Schlusschor sprengt die Gattung Serenata. Er deutet vielmehr auf die Pastorelle voraus.29 Für diese Form geben Hunold und Neumeister in ihrer Poetik ein dreiaktiges, mit einem Ballett schließendes Beispiel aus Weißenfels, das allerdings umfangreicher ist.30 Bemerkenswert sind jene in Rezitativen und Arien gehaltenen Prologe, die David Elias Heidenreich seit 1672 für seine Hallenser, später Weißenfelser Schauspiele schrieb.31 Ihre Eigenständigkeit wird durch gesonderten Druck hervorgehoben. Vor 1672 bestanden Heidenreichs Prologe, wie die viele anderer Sprechstücke, hingegen aus einem gesungenen Rezitativ einer einzelnen Figur; Arien kamen erst durch die personelle Ausweitung auf zwei oder mehr Figuren, das heißt durch die dialogischdramatische Einrichtung hinzu. In ihrem Charakter als Kleinstopern wirken diese Prologe wie Serenaten. Auch sollte die bei Heidenreich praktizierte konsequente Besetzung mit allegorischen Figuren für die Serenata charakteristisch werden. Vielleicht nicht von ungefähr widmete Constantin Christian Dedekind seinen durchweg dramatischen sogenannten theatralisch-poetischen Ahn-Hang zur geistlichen TaffelMusic von 1676 Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Der Hallenser Hof war offenbar für Werke in theatralischer Schreibart und dramatischer Kommunikation besonders aufgeschlossen.32 Dedekinds Hinweis auf die Aufführung zur Tafel ordnet sich in die Serenata-Tradition ein. Überraschende Formen moderner Textgestaltung finden wir aber auch in der Lausitz. Christian Weise war 1670–1678 Gymnasiallehrer in Weißenfels gewesen und wird die für den Hof in Halle gespielten Bühnenstücke wenigstens teilweise ken29 30 31

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David Pohle u. David Elias Heidenreich: Liebe kröhnt Eintracht. Halle a.  d.  S. 1669. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 8), S. 355. Das Beispiel lag schon im Druck vor: Rosander und Rosimene. Weißenfels 1692. Die Königliche Schäfferin Aspasia: Trauer=Freuden=Spiel. An dem höchst=erfreulichen Geburths=Tage Des […] Herrn Augusti, Postulirten Administratoris des Primat= und Ertz=Stiffts Magdeburg/ Herzogs zu Sachsen […] Ware der 13te des August=Monats/ 1672. Auf gnädigste Verordnung in Unterthänigkeit Auf dem Schau=Platze fürgestellet. Halle a.  d.  S. 1672. Gedruckter Prolog: Personal: Hoheit und Liebe. An dieser Prologgestaltung hielt Heidenreich bis zu seinem letzten Stück 1684 fest: Herodes 1673, Hersinoe 1679, Adonias 1682 (nun schon in Weißenfels, Komponist Johann Philipp Krieger), Das entsetzte Wien 1683, Treu Herr 1684. An: Constantin Christian Dedekind: Heilige Arbeit […]: Const. Chr. Dedekinds/ K. G. P. thea­ tralisch-poëtischer Ahn-Hang zur geistlichen Taffel-Music. Dresden 1676. Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), S. 60–62, sowie Dies.: Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madrigalischen Kantate. In: Bach-Jahrbuch 89 (2003), S. 197–220.

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nengelernt haben. Wahrscheinlich noch in Weißenfels entstand sein Theaterstück Die beschützte Unschuld.33 Hier bereits finden wir in der als Intermedium eingesetzten Gesangsszene mit zwei Schäfern nach Akt I Ansätze zu einer theatralischen Schreibart. Konsequent aus Rezitativen und Arien aber besteht die „kurtze Serenate Von Der Fatalischen Heyrath“. Weise verwendete sie 1685 in Zittau als Zwischenspiel; möglicherweise lag sie schon vor.34 Weise spricht explizit von einer „Serenate“. Er kann dies in Hinblick auf die Möglichkeit tun, diese Kleinstopern nicht nur vor der fürstlichen Tafel aufzuführen, sondern sie auch auf die Bühne als Zwischenspiel oder, wie am Hof von Sachsen-Weißenfels üblich, als Prolog zu bringen. Der dramatische Charakter der Serenata könnte nicht klarer zum Ausdruck kommen. In seiner Zittauer Rektoratszeit vermied Weise die theatralische Schreibweise für die Schulbühne. Umso erstaunlicher ist es, dass er sich ihrer bei Kirchenmusiken bediente. Seine Gedichtsammlung Reiffe Gedancken (1682) enthält in ihrem 3. Teil (1683) als Nummern 21–28 „etliche Inventiones, welche gewissen vornehmen Componisten zu Beförderung der Kirchen=Music gedienet haben.“35 Die Formulierung zeigt, dass es sich um Texte zur Musik handelt. Wer die Texte, die in Zittau zwischen Mai 1681 bis allenfalls Frühjahr 1682 entstanden sein müssen, zu ihrer Zeit in Musik setzte, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Aus dieser Serie haben sich die Nummern 22–24 mit Kompositionen von Johann Kuhnau erhalten und wurden teilweise in Grimma noch nach der Jahrhundertwende aufgeführt.36 Johann Kuhnau hatte 1680 Dresden verlassen, weil dort die Pest ausgebrochen war. Sein ehemaliger Präfekt an der Kreuzschule, Erhard Titius, der eben Kantor in Zittau geworden war, holte ihn zu sich. Nachdem Titius und der Organist der Zittauer Johanniskirche Moritz Edelmann bald nacheinander verstorben waren, bekam Kuhnau Gelegenheit, als Präfekt mit dem Chor des Gymnasiums aufzutreten. Für Titius’ Begräbnis komponierte er eine sechsstrophige „Aria à 5. Voc.“ mit Generalbass und im gleichen Jahr 1681 für die kirchliche Ratswahlfeier einen Psalm in der für festliche Anlässe in Zittau üblichen Setzart des „doppelten Chorals“. Johann Mattheson berichtet, dass der Stadtrat, der mit diesem Werk zufrieden war, Kuhnau „zum 33 34

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In: Christian Weise: Eine andere Gattung von den Uberflüssigen Gedancken/ In Etlichen Gesprächen vorgestellet. Leipzig 1673, S. 235–396. Zuerst in Christian Weise: Die unbewegliche Fürsten=Liebe/ Als ein Singe=Spiel/ Vorgestellet Auff dem Zittauischen Theatro Den 25. Oktobr. 1685. Zittau [1685], Bl. D3r „NB. Weil noch etwas Platz gelassen worden/ so wird hiebey mit angefüget/ Die kurtze Serenate Von Der Fatalischen Heyrath; Wie solche den 8. Martii 1685. auff eben diesen Theatro ist auffgeführet worden.“ Wieder in Christian Weise: Curiöse Gedancken von deutschen Versen. Leipzig 1692, S. 456–463. Ebd., S. 455: „Von Theatralischen Sachen habe ich zwar unterschiedenes in unsern Comoedien angebracht/ doch hier mag nur eine kleine Serenata zur Probe angeführet werden. Von der fatalischen Heyrath.“ Es handelt sich um eine Kleinoper mit neun Personen. Am Ende steht ein Chor. Christian Weise: Reiffer Gedancken Das ist Allerhand Ehren= Lust= Trauer= und Lehr=Gedichte Dritter Theil. Leipzig 1683 [?]. Die Datierung von Weises Sammlung ist zweifelhaft. Die Angabe 1682 auf dem Titelblatt dürfte eine Vordatierung sein. Nr. 22, S. 382: „Mein Alter kommt“; Nr. 23, S. 384: „Auf das Oster=Fest“: „Es stehe Gott auf“; Nr. 24, S. 385: „Über den dritten Psalm”: „Ach Herr/ wie sind meiner Feinde so viel“.

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Vicario Chori Musici constituirte“.37 Dass Kuhnau für Christian Weises Theaterstücke Kompositionen lieferte, ist nicht beweisbar, er könnte aber in der Epoche seiner Kantoratsvertretung für Kirchenkompositionen zuständig gewesen sein. Jedenfalls nahm er auch in seiner Leipziger Zeit noch regen Anteil an Weises poetischem Schaffen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist der Gedanke, die Kompositionen Kuhnaus stammten, so wie sie heute vorliegen, erst aus späterer Zeit, als der Cantatenstil bereits eingebürgert war und Kuhnau seine kompositorischen Fähigkeiten optimiert hatte. Ein Beweis in dieser oder jener Richtung ist wohl schwierig zu führen, zumal wenn über das Papier keine Gewissheit zu bekommen ist. Auch die belegten Verwendungen geben keine Auskunft über die Entstehung. „Mein Alter kommt“ wurde seit 1696, „Es steh Gott auf“ seit 1703 in der Fürstenschule zu Grimma aufgeführt.38 Der Text von „Ach Herr wie sind meiner Feinde so viel“ zeichnet sich durch eine ganz genaue Angabe der musikalischen Besetzung in Reiffe Gedancken aus. Diese Besetzung (Sopran, Bass, Violine, Fagott, Trompete) stimmt weitgehend mit den Angaben zu der Kuhnau’schen Komposition überein.39 In diesem Fall liegt die Vermutung nahe, dass Kuhnau seine Zittauer Komposition später überarbeitet hat. Weder Nr. 23 noch Nr. 24 sind theatralisch eingerichtet. Nr. 23 „Auf das Oster=Fest“ ist ein Strophenlied mit vorangestelltem Dictum, bei Nr. 24 kommen keine Rezitative vor. Nur für „Mein Alter kommt/ ich kan nicht sterben“ hat die Forschung bislang schon Weise als Textautor erkannt.40 Der Textdruck ist überschrieben: „Eine Reci­ tatio in der Person des alten Simeons an Lichtmesse.“ Er besteht aus einem Wechsel von drei Rezitativen und drei Arien (mit „Aria“ überschrieben). Jeweils eine Verbindung von Rezitativ und Aria hat Weise als Abschnitt gekennzeichnet. Aria I und II stellen zwei zusammengehörige Strophen dar; Arie III ist zweistrophig und metrisch eigenständig. Den Schluss bildet das Dictum Lk 2,29  f., das der Chorus zu singen hat. Der Text zeigt durchaus dramatische Züge. Sprecher ist Simeon. In Abschnitt I wendet er sich an seinen Tod, in Teil II an seine Ungeduld und tröstet sich mit der Gewissheit der baldigen Ankunft des Messias. Nach Art von Shakespeares stereoty-

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Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte (wie Anm. 22), S. 155. Vgl. zu Kuhnaus Werdegang auch den Nekrolog bei Christoph Ernst Sicul: Des Leipziger Jahr=Buchs Zu dessen Dritten Bande Erste Fortsetzung [Annales Lipsienses Bd. III.] Leipzig 1722/1723, besonders S. 60–63. Die bei Mattheson und Sicul undatierte Psalmkomposition darf nicht, wie überall geschehen, ins Jahr 1682 gesetzt werden; richtig muss es 1681 heißen. Répertoire International des Sources Musicales [=RISM] ID no.: 211004728; RISM ID no.: 211004725. RISM ID no.: 455032869. Zu Beginn steht eine Sonata. Bei Weise stellt sich das Werk als ein Wechsel von Psalmtext und Weises Versen dar. RISM macht jedoch keine Angaben über die Weise’schen Verseinlagen in den Psalmtext; auch das Ende des Werkes differiert. Peter Wollny: Neue Forschungen zu Johann Kuhnau. In: „Nun bringt ein polnisch Lied die gantze Welt zum Springen“. Telemann und andere in der Musiklandschaft Sachsens und Polens des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Friedhelm Brusniak. Bensberg 1998, S. 185–195, besonders S. 190–192.

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pem „Behold, who cometh here“ ruft Simeon zu Beginn von Teil III: „Sieh da/ was haben wir im Tempel“, als er Jesus erblickt. „Willkommen, theurer Sohn“, wendet er sich an den Knaben, „ach ruh in meinen Armen!“ Kuhnau vertonte das Libretto als Solokantate für Tenor mit vorgeschaltetem Instrumentalsatz und fünfstimmigem Schlusschor. Sollte das Werk bereits 1681 in Zittau in dieser Stimmlage besetzt gewesen sein, so sang möglicherweise Kuhnau, selbst ein Tenorist, das Solo.41 In Frage kommt aber auch der Tenorist Gottfried Kirchhoff.42 Mit Recht verweist David Erler, der Herausgeber von Kuhnaus Kantate, auf eine Besonderheit im Kantatenschaffen Johann Kuhnaus: das ausdrücklich vorgeschriebene Cembalo als Continuoinstrument. An Stelle der Orgel ein Cembalo zu benützen, verleiht „dem ausdrucksstarken Werk einen fast kammermusikalischen Duktus“.43 Vielleicht stellt gerade dieser Umstand einen Hinweis auf den Charakter der Lichtmess-Musik dar: Sie war keine offizielle Kirchenmusik, sondern eher ein Werk zur persönlichen Erbauung für den Einzelnen oder die Gruppe der Musikliebhaber. Für die bleibende Aktualität des so modern eingerichteten Weise’schen Textes spricht, dass er später sogar noch von Telemann vertont wurde (TVWV 1:1090).44 Sieht man von dem Schlusschor ab, der von der Serenata übernommen ist, so hat Weise mit diesem Text eine moderne Solokantate, und zwar eine dramatische Rollenkantate geschaffen.45 Um einiges früher noch als „Mein Alter kommt“ dürfte ein vergleichbares Werk von Michael Kongehl sein.46 Der Verlorene Sohn aus Lk 15 beklagt sein Leben und wendet sich warnend an die Rezipienten. Der Vorzug der theatralischen Schreibart, Abwechslung in der affektiven Intensität und in der Dynamik bieten zu können, ist in Kongehls Der verlohrne Sohn bereits verwirklicht. Die Rezitative berichten von den vergangenen Fehlern und den gegenwärtigen Leiden. In den Arien aber bricht sich 41

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Kuhnaus Stimmlage ist aus der Rolle zu erschließen, die er im Februar 1682 in Weises Schauspiel Von Jacobs doppelter Heirath zu übernehmen hatte. Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Bd. I: Materialteil. Tutzing 2013 (Würzburger Beiträge zur Musikforschung 2.1), Nr. 1111, II,1. Aus Lauban, 1682–1684 an Christian Weises Schule. Album des Gymnasiums zu Zittau. Zur Erinnerung an die dreihundertjährige Jubelfeier der Begründung des Gymnasiums. Bearb. v. Oskar Friedrich. Zittau 1886, S. 20. Kirchhoff sang beispielsweise in Masaniello (Scheitler: Schauspielmusik [wie Anm. 41], Nr. 1113) einen der beiden Tenöre im Prolog (ebd., Nr. 1110, Personenliste Position 2). Eine Verwandtschaft mit dem 1685 geborenen Hallenser Marienorganisten gleichen Namens ist ungewiss. Mein Alter kömmt, ich kann nicht sterben – Kantate zu Mariä Lichtmess. Hg. v. David Erler. Leipzig 2014, Nachwort, S. XIII. Vermutlich zwischen 1701 und 1704, Werner Menke: Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann. Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch. 2. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1988, S. 100. Provenienz ebenfalls Fürstenschule Grimma. Nr. 23 „Auf das Oster=Fest“ ist ein Strophenlied mit vorangestelltem Dictum. Der verlohrne Sohn. In: Michael Kongehl: Belustigung bey der Unlust, I. Theil. Königsberg 1683, S. 244–248. Auf Kongehl macht bereits aufmerksam Paul Brausch: Die Kantate. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtungsgattungen. 1. Teil: Geschichte der Kantate bis Gottsched. Diss. masch. Heidelberg 1921, S. 34  f.

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der Affekt Bahn. Mit dem Wechsel des Metrums verdichtet sich auch die Sprache: Bei der rückblickenden Klage über sein verworfenes Leben verlässt der reumütige Sprecher die Jamben des Rezitativs und verfällt in – wohl arios gesungene – anapästische Verse. Ach! fällt mir jetzt mein vorgeführtes Leben ein   da Fressen und Saufen/ Betrügen und Lügen/   da Schlemmen und Dämmen mich konte vergnügen/   da Schöne Syrenen bey Tag’ und bey Nacht   mit Herzen und Scherzen und lieblichen Blikken   mich konten bestrikken/   Und halten in acht47

Seine Zerknirschtheit bricht sich in einer zweistrophigen Arie Bahn, deren Beginn, „Eröffnet euch ihr Thränenquellen, beweinet meinen Jammerstandt“, Lamentos späterer Zeit vorwegnimmt.48 Der vom Laster übel Betrogene wendet sich gestisch an die Hörer: „Thut nicht wie ich gethan“.49 Die fünf Arien sind ein- und mehrstrophig. Am längsten ist das fünfstrophige Schlusslied des reuigen Sohnes. Einen Chor braucht Kongehl nicht. Sein Werk ist eine rollenhaft angelegte Solocantata. Auch das nachfolgende Stück, Die bußfertige Sünderin Lucä am 7., hat er konsequent in Arien und Rezitativen eingerichtet.50 Der Anfang „Ach schnöde Lust! ach Schand=verfluchtes Wesen“ zeigt die Emphase des Textes. Wieder setzen sich die fünf Arien auch graphisch ab. Dies ist freilich für das Verständnis notwendig, denn wie schon in Der verlohrne Sohn ist die Aria bisweilen direkt aus dem Text des Rezitativs herausentwickelt. und mir die überhäuffte Schuld   Aus Gnaden vergeben/   So will ich verlassen das sündliche Leben/   Und immerdar streben   Die Güte des gütigen Gottes zu preisen   Auff mancherley Weisen51

Der Texteinzug bei Beginn des anapästischen Teils markiert zugleich den Beginn der Aria. Wieder beschäftigt sich die Sprecherin – wie schon der Verlorene Sohn – zwar überwiegend mit sich selbst, wendet sich aber in den letzten beiden Zeilen an die Rezipienten. Bemerkenswert sind Kongehls metrische Experimente. Die letzte, unstrophische Arie der Sünderin schrieb er in freudigen Anapästen, deren zehn paargereimte Zeilen zwischen vier Hebungen und einer Hebung lang sind.

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Ebd., S. 243. Ebd., S. 244. Ebd., S. 243. Ebd., S. 248–250. Ebd., S. 248  f. Die nächsten Zeilen sind im Druck fälschlich noch eingezogen, obgleich sie das Rezitativ weiterführen.

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Kongehl hat in seinen ersten acht Königsberger Amtsjahren mit Johann Sebastiani zusammengearbeitet;52 nach dessen Tod suchte er sich andere Musiker. Die Vertonung seiner Texte war ihm jedenfalls ein Anliegen. Nun können wir nicht wissen, wann die beiden Rollenkantaten entstanden. Interessant ist aber, dass Johann Sebastiani am Ende der Vorrede zum Druck seiner Matthäus-Passion 1672 einen Jahrgang Kirchenmusiken zu den Evangelien in „recitirende[r] […] Manier“ anbot. Die Stücke seien auf eine „mit Kirchen Liedern außgezierte[n] Concert Art“ geschrieben. Mit dem Hinweis auf Sebastianis Kirchenstücke soll nicht suggeriert werden, dass Kongehls Texte gemeint sind, denen ja auch die Choräle fehlen. 1672 weilte Kongehl vermutlich noch in Nürnberg und wird schwerlich die erst 1683 veröffentlichten Cantatentexte schon in der Heimat zurückgelassen haben. Interessant ist aber Sebastianis schon damals bezeugte Aufgeschlossenheit für madrigalische Dichtungen, denn genau diese meint er mit der „recitierenden Manier“. Nicht die Arien, sondern vielmehr die Rezitative waren das Neue. Darum betitelt Weise seine Simeon-Cantata „eine Recitatio“ und überschreibt noch Barthold Heinrich Brockes im Irdischen Vergnügen die Personenliste bei „Alles redet itzt und singet“ mit „Recitirende“. Um die rezitativischen Verse als „ungewöhnliche Genera“ ging es Christian Weise, wenn er in seinen Curiösen Gedancken von Teutschen Versen Texte mitteilt, die er „unsern Hrn. Krieger zu gefallen/ bey der Raths=Wahl/ nach der Music eingerichtet“ hat.53 Den Begriff Cantata verwendet Weise nicht; hingegen war ihm der Terminus Serenata bereits geläufig, wie bereits am Beispiel der Fatalischen Heyrath gezeigt wurde. „Wol dir du hast es gut“ für die kirchliche Ratswahlfeier im Jahr 1684 schiebt vierzeilige Einzelstrophen zwischen freimadrigalische Zeilen. Diese Vierzeiler sind – schon wie in zeitgenössischen Opernlibretti – durch Fettdruck abgehoben. Sie wenden sich adhortativ an die Stadt Zittau, während der madrigalische Text reflektierenden Charakter hat. Die weiteren Kirchenmusiken, die Weise folgen lässt, sind nicht so eindeutig theatralisch eingerichtet.54 „Wol dir du hast es gut“ entspricht hingegen den Anforderungen an eine Cantata, ja wir scheinen hier sogar eine Solocantate im Sinne Neumeisters vor uns zu haben. Allerdings muss stark bezweifelt werden, dass das Werk in dieser Art ausgeführt wurde. Im Unterschied zu der nicht in einen rituellen Aufführungszusammenhang eingebundenen Lichtmess-Musik liegt hier nämlich ein Anlass mit klarer musikalischer Tradition 52

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Im 2. Teil von Kongehls Belustigung (wie Anm. 46), Tl. II, Königsberg 1685, fällt eine längere Casualkomposition des 1683 verstorbenen Sebastiani auf: S. 155–165: „Schönes Volk/ man streicht die Saiten“. Siebenstrophiges Gedicht als Brauttanz mit Nachtanz für eine Königsberger Hochzeit 1678 für Singstimme (Sopran), drei Violen und bezifferten Bass. Weise: Curiöse Gedancken (wie Anm. 34), Tl. II, S. 449, Abschnitt X. „Ihr Väter freuet euch“, das Werk für 1685, setzt vier Zeilen Alexandriner an den Anfang und schließt mit sechs anapästischen Zeilen. Insbesondere der Schluss war sicher chorisch gesungen. Der Hauptteil besteht aus freimadrigalischen Versen, die von einem fast gleichbleibenden Vierzeiler unterbrochen werden. Dieses rondoartige Verfahren weist auch der Text für 1686 auf („Der Herr ist groß“). Im Libretto für 1688 („Preise Jerusalem den Herrn“) hat Weise keine madrigalischen Verse mehr verwendet.

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vor. Die Zittauer Musik für die kirchliche Ratswahlfeier pflegte doppelchörig zu sein: Man flocht einen Cantus firmus, z.  B. eine Choralmelodie, in die konzertante Musik ein. Alle anderen Texte Weises zur kirchlichen Ratswahlmusik weisen auf die Verwendung von Chören hin. Dass 1684 eine chorlose Solokantate in der Kirche aufgeführt wurde, ist nicht recht vorstellbar. Vielmehr darf wohl der zweimalige Großdruck der einrahmenden Zeile „Wol dir du hast es gut“ (Ps 128,2) als Hinweis auf einen vom Chor gesungenen Cantus firmus angesehen werden. Weise wagte mit dieser Ratswahlmusik offensichtlich einen Spagat: Seinem Freund Johann Krieger zu Gefallen richtete er den Text theatralisch ein. Dies führte, wie Weise sich ausdrückt, „zu viel Aenderungen“.55 Um aber die Tradition nicht vollständig umzuwerfen, galt es den chorischen Cantus firmus unterzubringen. In anderem Zusammenhang konnte Weise Kriegers Wunsch nach avantgardistischer Textgestalt mit größerer Freiheit nachkommen. Der I. Teil der Curiösen Gedancken beschert uns eine Tafelmusik für eine Hochzeit im Jahr 1688.56 Komponist war Johann Krieger. Weil das Werk in der Abteilung „Von den Reimen“ als Beispiel für madrigalische Verse und ihren zerstreuten Reimstand angeführt wird, sind aus poetologischen Demonstrationsgründen im Druck die Anfangs- und Schlussrezitative als Exempel abgesetzt und die einzelnen Elemente erklärt. Fügt man die Teile wieder zusammen, so ergibt sich folgender Ablauf: Vier allegorische Figuren treten mit je einer Arie und einem Rezitativ auf. Zwei der Arien sind Strophenlieder. Das Werk ist von je einem rollenlosen Rezitativ gerahmt. Damit haben wir eine dramatische Cantata oder Serenata vor uns, wie wir sie aus der Zeit nach 1700, insbesondere aus der Feder des Menantes, gut kennen. Weise begleitet seine Beispieltexte mit theoretischen Überlegungen, die natürlich seinem Bewusstseinsstand zur Veröffentlichungszeit entsprechen. Obwohl wir uns damit schon im Jahr 1692 befinden, war der Zittauer doch – soweit ich sehe – der Erste, der eine rudimentäre Cantaten-Poetik formulierte. „Man mag viel oder wenig Zeilen/ kurtze oder lange/ jambische oder trochaeische untereinander setzen/ der Reim mag drey/ viermahl/ auch wol keinmahl wieder kommen. In Summa/ es ist alles frey.“ Bemerkenswert ist aber der Nachsatz: „Doch weil dergleichen Dinge auff eine Madrigalische Manier hinaus lauffen: so muß die licentia poetica durch curieuse Gedancken ersetzet werden […]“.57 Die rezitativischen Verse begreift Weise als freimadrigalisch und benennt als ihre ‚klassischen‘ Kennzeichen die unterschiedliche Zeilenlänge, die Möglichkeit, in gewissem Umfang auch polymetrisch zu verfahren, sowie den zerstreuten Reimstand. Um die Prosanähe der Verse zu beschreiben, benützt er das gleiche Vokabular 55 56

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Weise: Curiöse Gedancken (wie Anm. 34), Tl. II, S. 449: „In Kirchen=Musicken giebt es viel Aenderungen/ wenn dergleichen Verse zu gewisser Zeit/ angebracht werden.“ Ebd., Tl. I, S. 51–58. Genauere Angaben macht der ursprünglichen Separatdruck: Der Amandus Tag […] Bey der Hartig=Butschkischen Vermählung […] den 26. Octobr. 1688. In einer […] Taffel=Music/ Erfreulich besungen von Johann Kriegern. Zittau [ohne Noten]. Ebd, Tl. II, S. 422.

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wie später Neumeister, indem er sie bequem und ungezwungen nennt.58 Von der Freiheit der Rezitative setzt sich die Regelmäßigkeit der Arien ab: „Doch merckt man allemahl/ daß die Componisten […] gern etwas von kurtzen Arien darzwischen hören lassen/ damit das halbunangenehme Wesen durch eine gewisse Lieblichkeit gleichsam verbessert wird.“59 Weises Leistung liegt in der erstmaligen gedanklichen Durchdringung der thea­ tralischen Schreibart. Zu seiner Hochzeitsmusik aber lassen sich nun mehr und mehr Parallelen finden. Auch diese gern zu festlichen Gelegenheiten verfassten Werke sind dramatisch. 1683, im Veröffentlichungsjahr von Kongehls Rollencantaten, ehrten die Leipziger Studenten ihren Landesherrn wieder einmal mit einer Nachtmusik: Als der Durchlauchtigste […] Herr Johann Georg der Dritte/ Hertzog zu Sachsen […] Nach herrlich=erhaltener Victoire wider den Erb=Feind Christl. Namens […] Leipzig mit Seiner […] Gegenwart Gnädigst erfreuete/ Wollten […] mit einer Theatralischen Nach=Music […] auffwarten die sämtlich alda Studierende.60 Die heute verlorene Musik schrieb Kuhnau, den Text der Thomasschullehrer Paul Thiemich.61 Die Einrichtung war, wie es sich für Serenaten nun einbürgerte, allegorisch-mythologisch, denn es taten Merkur (Tenor), Fama (Alt), Apoll (Cantus) und Mars (Bass) auf. Die Solisten ergaben ein Quartett, das auch im Ensemble sang („Chorus“). Das Werk ist mit wenigstens sechs Arien und langen Rezitativen ziemlich umfangreich. In Weißenfels führte man Werke gleicher Einrichtung bei der Tafel auf, etwa 1692 Mars und Irene von Philipp Christian Heustreu und Johann Philipp Krieger,62 1696 Unterthänigstes Freuden=Opffer von August Bohse und Johann Philipp Krieger.63 Diese rein theatral eingerichteten Werke beschäftigten wenige allegorisch-mythologische Figuren und schlossen mit einem Ensemble. Aufführungsanlass war jeweils ein dynastisches Ereignis. Alle formalen Merkmale teilen diese Serenaten mit den Schauspielprologen der Heidenreich-Zeit, mit dem Unterschied, dass sie statt auf 58

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Ebd., Tl. I, S. 49. Vgl. Erdmann Neumeister: I. N. I. Geistliche Cantaten Über alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage/ Zu einer/ denen Herren Musicis sehr bequemen Kirchen=Music In ungezwungenen Teutschen Versen ausgefertiget. Anno 1702. Ebd., Tl. I, S. 53. Leipzig 1683. Paul Thiemichs Autorschaft geht aus dem Tagebuch des Thomasrektors Thomasius hervor. Acta Nicolaitana et Thomana. Aufzeichnungen von Jakob Thomasius während seines Rektorates an der Nikolai- und Thomasschule zu Leipzig (1670–1684). Hg. v. Richard Sachse. Leipzig 1912, S. 631, Eintrag vom 8. Oktober 1683. Mars und Irene Wurden/ Bey Begehung des […] Geburth-Festes Des […] Hn. Johann Adolphs/ Hertzogs zu Sachsen […] Mittelst Einer Taffel=Music […] auffgeführet. Weißenfels 1692. Pa­rallele Werke sind Philipp Christian Heustreu: Jupiter/ Venus/ Danae und Hymenäus Wolten Die Triumphirende Tugend/ Bey Begehung des […] Geburths-Festes Der […] Frauen Christianen Wilhelminen/ Hertzogin zu Sachsen […] aufführen. Weißenfels 1692; Ders.: Chronius, Apollo, Fortuna, Constantia […] mittelst einer Tafel-Music aus unterthänigster devotion vorstellen wollen […]. Weißenfels 1695. Unterthänigstes Freuden=Opffer/ als des […] Hn. Johann Adolphs/ Hertzogs zu Sachsen […] Geburths=Liecht […] celebriret wurde/ in einer Tafel=Music. Weißenfels 1696.

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der Bühne vor der fürstlichen Tafel gezeigt wurden. Doch konnte nun ein Schauspielprolog auch wie eine Solocantata eingerichtet sein, wie es an dem anonymen Weißenfelser Lustspiel Sieg der Freundschafft 1694 zu ersehen ist.64 Libretti dieser allegorischen Art wurden mit den Jahren sehr häufig. Auch im geistlichen Bereich tritt die allegorisch-dramatische Struktur auf. Zwischen 1681 und 1683 wütete in Halle die Pest. Albrecht Christian Rotth verfasste für die Bittandachten während der Pestzeit in der Marktkirche eine „Aria“ oder vielmehr ein Strophenlied, das an bestimmter Stelle der liturgischen Handlung abgesungen wurde. Keine kirchliche Verwendung ist hingegen für ein „Gespräch auff Madrigal=Art“ denkbar, das Rotth „einem Componisten zu Gefallen auffgesetzt“ hat.65 Zwei allegorische Gestalten, Philophyge und Christanira, reflektieren in dem Werklein, ob es besser sei zu fliehen oder am Ort zu bleiben. Sie tun das in Rezitativen. Jede der beiden beschließt ihre Überlegungen mit einer fünfstrophigen Aria. Die Arientexte sind in ihrer Affekt-Rhetorik vorbildlich: Philophyge drückt ihre Erregung in anapästischen Kurzzeilen aus, Christanira ist gefasst und singt in einem neugeschaffenen jambischen Strophenmuster. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Kontrahenten mit unterschiedlichen Ansichten; letztlich aber wird die Debatte nicht durch verbalen Schlagabtausch entschieden, vielmehr behält die vorbildliche Ansicht von Christanira das letzte Wort. Als Dialog gehört der Text ungeachtet seiner reflektierenden Haltung eindeutig in die dramatische Kategorie. Serenaten-Aufführungen sind, ihrem – freilich verschieden interpretierbaren – Namen zum Trotz, nicht an eine Tageszeit gebunden. In Jena führten die Studenten 1688 eine allegorische Nachtmusik mit Chören zum Einzug des jungen Johann Wilhelm von Sachsen-Jena als Rektor der Universität auf.66 Am Hof von SachsenEisenberg waren hingegen zu Geburtstagen Frühmusiken üblich.67 Eine davor wirkt wie eine Solokantate. 1684 ließ der zärtliche Herzog für seine Gattin diese Auf64

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Sieg der Freundschafft über die Liebe bey […] Christianen Wilhelminen/ Hertzogin zu Sachsen […] Höchst=erfreulichen Geburths=Tags=Solennitäten MDCXCIV. in einem Freuden=Spiele auf den Hochfürstl. Schau=Platz geführet. Weißenfels 1694. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie in drey Theilen. (Tl. II unter dem Titel: Kunstmäßige und deutliche Anleitung zu Allerhand Materien; Tl. III unter demTitel: Kürtzliche/ Doch deutliche und richtige Einleitung zu den Eigentlich so benahmten Poetischen Gedichten) Leipzig 1688. Neuausg. durch Rosmarie Zeller. 2 Bde. Tübingen 2000, Tl. II, S. 576–582, Bd. I der Neuausgabe S. 716–722. Das Pestlied ebd., S. 583  f. (723  f.). Jenisches Wunsch= und Freuden=Erschallen/ wordurch Dem […] Hn. Johann Wilhelm/ Herz­ tzogen zu Sachsen/ Jülich/ Cleve und Berg […] Als Seine Hoch-Fürstl. Durchlauchtigkeit den 23. Hornungs=Tag des 1688. Heil=Jahres […] hiesiger […] Universität Rector Magnificentissimus […] vorgestellet worden/ in einer geringen Nacht=Music Ihre unterthänigste Devotion gehorsamst beweisen sollen Sämtlich allhier Studirende. Jena 1688. Die Komposition stammt von Johann Beer. Vermutlich leitete Johann Christoph Wentzel die Aufführung. Manfred Lischka: Der Komponist Johann Beer. Ein Verzeichnis der Kompositionen, sowie Anmerkungen zu seinem Leben und zum schriftstellerischen Werk. In: Daphnis 9 (1980), S. 557–596, hier S. 584  f. Erdmann Werner Böhme: Musik und Oper am Hofe Herzog Christians von Sachsen-Eisenberg (1677–1707). Ein musik- und theatergeschichtlicher Beitrag. Stadtroda 1930, S. 112 und 130 mit mehreren Beispielen aus verschiedenen Jahren.

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merksamkeit musizieren. Das Werk hat nur einen Ich-Sprecher, dieser aber ist eine Rolle: der Fürst selbst.68 Er wendet sich an seine geliebte Frau und wechselt erst im fürbittenden Schlussgebet den Adressaten. Der Dichter, vielleicht der Organist Michael Telonius, schrieb den Text mithin, wie wir das bei Menantes’ Serenaten immer wieder antreffen, im Namen eines Anderen. Eine Serenata zur Früh=Music erklang 1696 für die Herzogin von Sachsen-Eisenach. Komponist war Bachs Lehrer, Kantor Andreas Christian Dedekind.69 Der Text ist geistlich-allegorisch eingerichtet. Neben Gottesfurcht, Weisheit und Gütigkeit sang auch der Chorus. Unsicher ist, ob der Schüler Johann Sebastian, der just in diesem Jahr ins Gymnasium eintreten sollte, schon mit dabei war. Die bisher vorgestellten frühen und rein theatralischen Werke sind sämtlich dramatischer Art. Ob mit oder ohne Bühnenbild, Requisiten oder Kostümen, ob als Festmusik dargeboten, ob im fürstlichen Zimmer gespielt, ob dialogisch oder monologisch: immer melden sich Rollensprecher zu Wort. In aller Regel tragen die Sprecher Namen, was alleine sie schon als dramatische Figuren qualifiziert. Diese Figuren sind situativ gebunden und konstituieren sich durch referenzielle, expressive oder appellative Sprechhaltungen, wobei sie sich außer an einen Dialogpartner auch an den Hörer wenden können. In ihrer dramatischen Fassung, die mit der RezitativAria-Form Hand in Hand geht, passen diese Werke auf die Definition der Serenata oder der dramatischen Cantata in der Poetik von Neumeister und Hunold von 1707. Es hat den Anschein, dass sie die frühesten ‚Cantaten‘ waren. Der berühmte Satz, eine Cantate sei nichts anderes als ein Stück aus einer Oper, bekommt dadurch eine konkrete Bedeutung. Der Terminus Serenata ist schon 1685 bei Christian Weise als dramatische Kleinform ausdrücklich mit der theatralischen Schreibweise verbunden, während „Cantata“ noch unbestimmt für ein Gesangswerk verwendet wurde. Auch der bedeutende Barthold Heinrich Brockes verfasste Jahre vor seinen Cantaten aus dem Irdischen Vergnügen bereits Serenaten für die Hamburger Ratswahl, etwa die episch-dramatische Dichtung Der vergnügte Elbe-Strohm, vertont von Reinhard Keiser 1709.70 Wie nahe Reinhard Keisers Singgedichte in Gemüths=Ergötzung

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Vgl. Brünstige Flamme […] Der Durchlauchtigen Fürstin und Frauen/ Fr. Sophie Marien […] unter einer Früh=Music. Eisenach 1684. Der Dichter und Komponist sind nicht genannt. Böhme (wie Anm. 67), S. 129, vermutet Michael Telonius (1652–1714). Er war 1676 Organist in Eisenberg, 1687 Hofkapellmeister ebd., Böhme, S. 39–44. Als die Durchlauchtigste Fürstin und Frau/ Sophie Charlotta […] Ihr Gebuhrts=Fest […] celebrirte, Wollten ihre unterthänigste Schuldigkeit in einer Serenata zur Früh=Music gehorsambst abstatten. Eisenach 1696. Barthold Heinrich Brockes: Der vergnügte Elbe=Strohm. Als Ein Hoch=Edler/ Hoch=Weiser Raht Der Stadt Hamburg/ Das Jährliche Petri=Mahl Am 21. und 24. Febr. im Jahre 1709. feier­lich beging/ musicalisch vorgestellet. Jürgen Rathje: Musikalische Gedichte zu öffentlichen Anlässen – Brockes, seine reichsstädtischen und höfischen Adressaten. In: Komponisten im Spannungsfeld von höfischer und städtischer Musikkultur. Hg. v. Carsten Lange u. Brit Reipsch. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 18. bis 19. März 2010,

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1698 der Serenata stehen, auch wenn sie sich nun Cantaten nennen, wurde oben schon gezeigt. Indem sie freilich die Verschiedenheit der musikalischen Stimmen ablegen, verschleiern sie ihren Dialogcharakter. Die in Neumeisters Geistlichen Cantaten (1702) ebenso wie in der Poetik Die Allerneueste Art (1707) vorherrschende lyrisch-reflektierende Solocantata, die schließlich von Mattheson zur allein gültigen erhoben wurde, scheint hingegen eine spätere Ausbildung zu sein. Oder liegt sie schon in Johann Magnus Knüpfers „Wie seh ich dich, mein Jesu, bluten“ vor, einem Werk, das glücklich mit Text und Melodie überliefert ist?71 Freilich ist dieses knappe Vokalmusik in jeder Beziehung verwunderlich und steht allein. Solitär ist schon die Bezeichnung „Cantata“, die wohl aus der Zeit vor 1690 stammen muss, denn das Titelblatt verzeichnet eine Aufführung in Grimma bereits aus diesem Jahr. Damit ist „Wie seh ich dich“ wohl das erste Werk, das die Gattungsbezeichnung führt und die Anforderungen erfüllt. Erstaunlich ist sodann die extrem reduktionistische musikalische Faktur. Mit Canto Solo und Orgel-Continuo ohne alle Instrumente entspricht Knüpfer den noch längst nicht niedergeschriebenen Maßgaben Matthesons. Auch der Umfang dieses meditativen Textes ist – verglichen mit allem bisher Gesehenen – auffallend beschränkt. Für die Komposition genügen zwei Blätter, sie besteht nur aus einem kurzen Rezitativ, einer sehr knappen Aria, einem weiteren kleinen Rezitativ und einer abschließenden zweistrophigen Aria. Der Text wartet mit einer Überraschung auf: Er basiert auf einem Strophenlied des Hamburgers Hinrich Elmenhorst aus dem Jahr 1681.72 Knüpfer mag ihn mit der Vertonung von Johann Wolfgang Franck kennengelernt haben. Eine gläubige Seele spricht zu dem geschundenen Jesus. Elmenhorsts Texte sind emphatisch. Der Cantatentext lebt sich ganz in die sogenannte Blut- und Wundenmystik hinein, formt den Liedtext aber nach seinen Bedürfnissen um. Die beiden Rezitative folgen teils wörtlich der 1. und 6. Strophe von Elmenhorst.

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anlässlich der 20. Magdeburger Telemann-Festtage. Hildesheim 2014 (Telemann-Konferenzberichte 18), S. 154–159, hier: S. 155. Cantata Wie seh ich dich/ mein Jesu/ bluten â 2. Canto solo e Continuo di Giovanni Magno Knüpffer. Als Aufführungsdaten werden verzeichnet: Dom. Reminiscere 1690. Dom. Palmar. 1669. Dom. Judica 1715. RISM ID no.: 211004671. Hinrich Elmenhorst: Geistliche Lieder/ Theils auff die Hohen-Feste/ Theils auff die Paßion oder Leiden Christi/ Theils auff unterschiedliche Vorfallungen im Christenthum gerichtet […] mit J. W. Francken/ C. M. anmuhtigen Melodeyen. Hamburg 1681. Hinrich Elmenhorst: Geistliche Lieder. Komponiert von Johann Wolfgang Franck, Georg Böhm und Peter Laurentius Wockenfuss. Hg. v. Joseph Kromolicki u. Wilhelm Krabbe. In Neuaufl. hg. v. Hans Joachim Moser. Wiesbaden, Graz 1961 (Denkmäler Deutscher Tonkunst. Folge 1, 45), Nr. 16, S. 30  f. Das Lied ging mit der Franck’schen Melodie in Gesangbücher ein, beispielsweise in: Lüneburgisches Gesangbuch. Darinnen über 2000. so wol alte als neue Geistreiche Lieder, Auß den besten Autoren gesam[m]let, und mit vielen neuen anmuhtigen Melodeyen vermehret: Nebenst angefügtem nützlichen Gebet-Büchlein. Lüneburg 1695, Nr. 523 (S. 422).

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Knüpfer, Rezitativ Satz 1

Elmenhorst, 1. Strophe

Wie seh ich dich mein Jesu bluten wie elend bist du zugericht, durch dornen, Geißel, Peitsch und Ruthen, ich Sünder muß mein sündlich angesicht ietzt billich schwarz verhüllen, dieweil umb meiner Sünde willen du alles leydest ohn verdruß, ohn verdruß.

Wie seh ich dich mein Jesu bluten wie elend bist du zugericht, durch Dornen, Geißel, Peitsch und Ruthen, ich muß mein sündig angesicht Ich Sünder, billig schwarz verhüllen, dieweil umb meiner Sünde willen Du werther heiland mir zu gut vergiessest dein hoch=theures Blut.

Knüpfer, Rezitativ Satz 3

Elmenhorst, 6. Strophe

Dein Haupt, das triefft, die Seite quillet, aus deinen Händen läuft ein Blutes Fluss, der Füße Strohm fließt ungestillet, die Glieder, die du hast getragen sind alle durchgeschlagen, dein ganzer Leib giebt einen blutgen Guß.

Dein haupt das triefft, die Seele quillet Aus Händen läufft ein blutes=fluß Der füsse strom fließt ungestillet. Die glieder die du hast getragen Sind auch mit schmertzen durchgeschlagen: Wie meynst dus doch so trefflich gut Ich koste dir dein heilig blut.

Der Ich-Sprecher meditiert, indem er die Gegenwart des leidenden Jesus imaginiert. Seine Sprechhaltung wendet sich nach außen, adressiert ein Du. Die Arien sind mäßig begabte Neudichtungen. Ihre Wiederholungen wirken eher linkisch als intensivierend. Erstaunlich ist die Verwendung des Rosenmotivs in der 2. Aria (Satz 4). Die sogenannten Rosenarien, die Jesu Wunden mit Rosen vergleichen, kommen sonst erst nach 1700 auf.73 Auch diese Verse wenden sich einem in der Vorstellungskraft Vorhandenen zu, das um der rhetorischen Verdichtung willen sogar personalisiert wird. 1. Seyd gegrüßt, ihr Rosenwunden, ihr Rosenwunden seyd gegrüßt, darinnen ich mein Heyl gefunden. LiebesRizen, seyd gegrüßt Und viel tausendmal geküßt. Seyd gegrüßt, ihr Rosenwunden, ihr Rosenwunden seyd gegrüßt. 2. Ihr verleiht ErquickungsWaßer ErquickungsWaßer ihr verleiht, wenn der allgemeine Haßer Mit Verzweifflung an mich dringt, Tod und Sünde mit mir ringt, Seyd gegrüßt, ihr Rosenwunden, ihr Rosenwunden seyd gegrüßt.

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Scheitler: Oratorienlibretti (wie Anm. 32), S. 102  f. (Text von Postel); S. 156 (Text von Salomon Franck); 185 (Text von Menantes); S. 215 (Text von Brockes).

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Den Notizen auf dem Deckblatt zufolge wurde das Werk in Grimma an Sonntagen der Fastenzeit aufgeführt, offensichtlich als Andachtsmusik. Wie aber könnte es entstanden sein? Die Pose des Textes erinnert stark an Soliloquien, wie sie in Passionsoratorien zu finden sind. Allerdings handelt es sich bei den Dichtungen, mit denen die Passionen Mittel- oder Norddeutschlands angereichert sind, um (Kirchen-)Lieder.74 Um 1690 waren in Passionen Einheiten von Rezitativen und Arien noch gar nicht üblich – außer am Wirkungsort des Komponisten von „Wie seh ich dich mein Jesu bluten“. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die Jenaer Kollegienkirche Schauplatz bemerkenswerter, ganz gesungener geistlicher Aufführungen der Leidensgeschichte Jesu.75 Aus den Jahren 169376 und 169477 haben sich Drucke erhalten. Das Passionslibretto von 1693 hat Johann Christoph Wentzel zum Autor. Er war damals Adjunkt an der Medizinischen Fakultät und hatte bis 1690 dem Prinzen Johann Wilhelm von Sachsen-Jena als Kapellmeister gedient. Auf dem Druck von 1694 zeichnet Johann Georg Lippold, damals Theologiestudent. Nur Wentzels Fassung gibt eine Aufführung, nämlich 1693, an. Beide Werke sind konsequent theatralisch eingerichtet und in sieben Akte eingeteilt. Ebenso wie eine Weihnachtsaufführung von 169378 nennen sie sich „Geistliche Singespiele“, wobei in der Terminologie der Zeit unter „Singespiel“ ein ganz gesungenes dramatisches Werk zu verstehen ist. Von einer szenischen Darbietung im eigentlichen Sinn ist gleichwohl nicht auszugehen. Sie ist nicht nur bühnentechnisch ganz unwahrscheinlich, sondern wird sogar in der

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Vgl. Scheitler: Oratorienlibretti (wie Anm. 32), Kapitel 2. Ebd., S. 226–237; Dies.: Geistliche Musikzensur in Hamburg 1710. Ein verhindertes PassionsOratorium und sein problematisches Libretto. In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 88 (2004), S. 55–71. Der Gott=liebenden Seelen Wallfahrt zum Creutz und Grab Christi/ in einem geistl. SingeSpiel zur heiligen Ehre und danckbarestem Gedächniß unsers leidenden Erlösers eilfertigst verfaßet von Johann Christoph Wentzeln/ Med. Dd. Fac. Phil. Jen. Adj. Jena o.  J.; Der Gott=liebenden Seelen Wallfahrt zum Creutz und Grab Christi/ in einem geistl. SingeSpiel zu Vermehrung Christl. Andacht bey dem in der Collegien=Kirche zu Jena/ auf den Char=Freytag dieses lauffenden 1693sten ErlösungJahres angestellten Gottes=Dienstes eilfertigst verfaßet von Joh. Christoph Wentzeln. Jena 1693. Die Bethränte Unschuld Des Leidenden Jesu. In einem Geistlichen Singe=Spiel Andächtig erwogen/ Und Auf Veranlassung Gottseeliger Hertzen Heraus gegeben Von M. Johann Georg Lippolden/ K. G. P. und D.  H. S. B. Jena 1694. Wieder: Bethränte Unschuld Des Leidenden JESU. Wolte zu Erweckung geistl. Andacht verlegen und zum Druck befördern Eine Person/ die ihren grösten Trost Aus Gottes Wunden Schöpffet. Jena 1699. P. Thiemichs Geistliches Hirten=Gespräche von der heilsam= und Gnadenreichen Geburt unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi […] Bey der in der Collegien=Kirche zu Jena auf den III. Christ=Feyertag dieses zu Ende lauffenden 1693sten Jahres angestellen Gottes=Dienstes In ein Musicalisches Singe=Spiel gebracht durch Joh. Magnum Knüpfern/ Lips. Not. Publ. Caesar. Jena. Der Text ist übernommen von: Geistliche Hirten=Freude/ In einem Musicalischen Gespräche/ Nach geendigten heiligen Weihnacht Feyer=tagen/ des 1685. Jahres/ auffgeführet von dem Collegio Musico in Leipzig. Leipzig 1685. Markus Rathey: Die Geistliche Hirten-Freude. Eine Leipziger Weihnachtsmusik im Jahre 1685 und die Transformation weihnachtlicher Bukolik im späten 17. Jahrhundert. In: Daphnis 40 (2011), S. 567–606.

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Vorrede jeweils ausdrücklich abgelehnt.79 In einer der beiden gedruckten Passionen, der Lippold’schen von 1694, finden sich bereits die Andachts-Allegorien „Gerechtigkeit“ und „Gottseligkeit“, wie wir sie aus Hamburger Passionen seit Hunolds bahnbrechendem Werk von 1704 kennen.80 So tritt beispielsweise die Gottseligkeit in der letzten, der VII. Abtheilung (Akt) in der Rolle der Braut des Hohenliedes auf und beweint Jesus. Aber auch den biblischen Figuren sind in beiden Libretti cantatenhafte Gesangseinheiten zugewiesen. Wentzels Werk enthält einen „Chor der Gottliebenden Seelen“. Die Texte sind pathetisch und erfüllt von Blut- und Wunden-Emphase. Sie fallen ferner durch mangelnde Originalität und eine Neigung zur Wiederverwendung von Texten oder Textteilen auf. Für die Weihnachtsaufführung von 1693 ist Johann Magnus Knüpfer als Komponist verbürgt, der damals freilich schon in Naumburg wirkte.81 Hat er auch die Passionen komponiert? Die überlieferten Passionsdrucke weisen untereinander erstaunliche Ähnlichkeiten auf.82 Zweifellos besteht eine direkte Abhängigkeit; die merkwürdige Übereinstimmung etwa in der ‚regelwidrigen‘ Einteilung in sieben Akte könnte aber auch durch eine Lokaltradition begründet sein. Für das Jahr 1693 ist eine Aufführung „bey dem in der Collegien=Kirche zu Jena/ auf den Char=Freytag dieses lauffenden 1693sten ErlösungJahres angestellten Gottes=Dienstes [sic]“ bezeugt. Der Druck von 1694 jedoch ist offensichtlich nachgeschoben und darf dem Wentzel’schen gegenüber Priorität beanspruchen. Lippold, der am 1. Mai 1690 die Universität Jena bezogen hatte,83 war 1693 zum Magister promoviert worden und bezog 1694 ein

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Wentzel: „Gegenwärtiges geringe Sing=Spiel erkühnet sich nicht/ unter dem Nahmen einer Opera vorzutreten/ alß zu welcher freylich ein beßrer Vorraht von Erfindungen und Poetischer Wohl­ redenheit erfordet wird; ja es verlanget solches mehr/ bey Christlicher Passions=Andacht als auf weltlichen Schau=Bühnen abgehandelt zu werden.“ Bl. a2r. Lippold: „Es verlanget auch gar nicht/ (wie sonst eine Opera) auf weltlichen Schau=Bühnen/ sondern entweder bey öffentlicher Paßions=Andacht/ oder doch zum wenigsten in ein und anderer Hertzen/ abgehandelt zu werden.“ Bl. A3r  f. Allerdings war auch bei Oratorienaufführungen Auf- und Abtreten der Figuren durchaus möglich. So sieht es auch Arcangelo Spagna vor. Vgl. Arnold Schering: Neue Beiträge zur Geschichte des italienischen Oratoriums im 17. Jahrhundert. In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 8 (1906–1907), S. 43–70. Hier Nachdruck der einschlägigen Essays von Spagna. Christian Friedrich Hunold: Der Blutige Und Sterbende Jesus Wie selbiger In einem Oratorio Musicalisch gesetzt/ Und In der stillen Woche/ Montags und Mittewochs zur Vesper=Zeit aufgeführet worden/ Durch Reinhard Keisern, Hoch=Fürstl. Mecklenburgischen Capell=Meistern. Hamburg [1704]. Michael Maul: Knüpffer, Sebastian. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher. Personenteil 10. Kassel u.  a. 2003, Sp. 356 (zu J. M. Knüpfer): „1683 bis 1691 Organist an der Jenaer Kollegienkirche, danach […] in Naumburg“. Diese Angabe wird anderen vorzuziehen sein. Nach Engel war Knüpfer ca. von 1686 bis 1695 Stadtorganist. Hans Engel: Musik in Thüringen. Köln, Graz 1966, S. 163  f. Nach Rathey: Hirten-Freude (wie Anm. 78), S. 575  f., war Knüpfer 1690–1694 Organist an der Kollegienkirche. Textvergleiche bei Scheitler: Geistliche Musikzensur (wie Anm. 75), S. 62–64. Der Artikel unternimmt den Nachweis einer Abhängigkeit Wentzels von Lippold. Reinhold Jauernig, weitergeführt von Marga Steiger: Die Matrikel der Universität Jena. Bd. 2: 1652 bis 1723. Weimar 1977, S. 479 links.

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Pfarrsubstitut in seinem Geburtsort Buttstätt.84 Vielleicht haben wir es also mit einer Aufführungstradition zu tun, die in frühere Jahre, nämlich die Epoche von Knüpfers Tätigkeit in Jena (bis 1691), zurückreicht. Offenbar wissen wir auch zu wenig über frühere Aufführungen.85 Nicht von ungefähr sollte Wentzels Libretto in Hamburg mit einer Komposition von Georg Bronner als Passionsoratorium aufgeführt werden. Vergleicht man nämlich die Hamburger Passionsoratorien des frühen 18. Jahrhunderts mit ihren Cantaten für die Soliloquenten, so ergeben sich genaue Parallelen zu den Jenaer Texten. In der mit „Cantata“ überschriebenen Einlage der Tochter Zion in Hunolds Passion von 1704, „Aus dem Hohen Liede Salomonis Cap. 6“, werden die Wunden Jesu als Blumen und Morgenrot der Erlösung gepriesen.86 Gut vorstellbar wäre es, dass es sich bei Knüpfers „Cantata“ auf den gegeißelten und blutenden Heiland um einen meditativen Ausschnitt, etwa die Betrachtung einer allegorischen Figur, aus einer Jenaer Passionsaufführung handelt. Selbst wenn man nicht so weit gehen will, so dürfte doch die Verbindung zu Jena nicht von der Hand zu weisen sein. Ebenso ergibt sich auch für Knüpfers Werk eine Nähe zur dramatischen Gattung, dem ursprünglichen Terrain der Cantata.

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Vgl. seine Dissertation De Remediis adversus Locustas […]. Jena 1693. Für die Information zu seiner Anstellung danke ich Ute Lampe vom Landeskirchlichen Archiv Eisenach. Musikalisch wenig ergiebig ist Martin Schmeizel: Jenaische Stadt- u. Univ.-Chronik (1726). Hg. v. Ernst Devrient. Jena 1908. Die dort S. 137  f. erwähnte Aufführung einer „Comoedie von der Auferstehung Christi; der Titel war: Drama et poema paschale in ovo poetico“ 1677 bezeugt weder eine musikalische Darbietung, noch steht sie zu den Aufführungen in der Kollegienkirche in Bezug. Die Stelle ist fehlinterpretiert bei Fritz Stein: Jena. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Blume. Bd. 6. Kassel u.  a. 1957, Sp. 1856. Hunold: Der Blutige Und Sterbende Jesus (wie Anm. 80), S. 25  f.

Joachim K remer

Die Kantate im deutschen Südwesten zwischen 1700 und 1760. Zu Johann Georg Christian Störl und dem Umfeld des frühen Pietismus 1 Vorbemerkung Die nachfolgenden Ausführungen stellen erste Annäherungen an ein Forschungsfeld dar, das weit umfangreicher zu sein scheint, als es die bisherige Forschungslage vermuten lässt. Der vorliegende Beitrag ist deshalb eher eine Art Projektskizze als das Resultat abgeschlossener Forschungen. Bevor also momentan detaillierte und zweifelsfrei gültige Aussagen zur Geschichte der Kantate im deutschen Südwesten getroffen werden können, die in einem weiteren Schritt vernetzt und in eine überregionale Gattungsgeschichte einfließen müssten, soll der vorliegende Beitrag Fragen aufwerfen, die auch der weiteren Forschung Perspektiven eröffnen können. Der Beitrag basiert damit auf einer bereits 2012 publizierten Studie des Verfassers.1

2 Forschungsstand und Quellenlage zur Geschichte der Kantate im Südwesten Die südwestdeutsche Kirchenmusik vor 1700 hat bereits mehrfach Beachtung in der musikwissenschaftlichen Forschung gefunden, so etwa im Rahmen der Untersuchungen zur Choralkantate durch Friedhelm Krummacher. Ein schon 1911 (allerdings für Musikwissenschaftler an abseitiger Stelle) publiziertes Inventar aus dem späten 17. Jahrhundert,2 das das damals vorhandene Repertoire der Stuttgarter Stiftskirche verzeichnet, wurde dabei ausgewertet, und trotz der weitgehenden Verluste dieser Musikalien kann festgestellt werden, dass das Stuttgarter Repertoire gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Eigenschaft aufwies: Den Catalogus der Stuttgarter Stiftsmusikalien von 1695 bestimmt mit großer Deutlichkeit, nämlich mit den Komponisten Samuel Capricornus, Johann Albrecht Kress, Johann Michael Nicolai, Philipp Friedrich Böddecker, Johann Friedrich Magg, Johann Kusser, aber 1

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Joachim Kremer: Neue Quellen zur Geschichte der Kantate in Südwestdeutschland im frühen 18. Jahrhundert. Johann Georg Christian Störls verschollener Kantatenjahrgang im gattungsgeschichtlichen Kontext. In: Musik in Baden-Württemberg 19 (2012), S. 151–178. „Catalogus deren jenigen Musikalischen Stücken, welche teils aus dem erkaufften Kirchnerischen corpore, teils aus der Hofcapell ausgeschossen vnd kraft ergangenen gnädgst. Befehls zur StifftsMusic geliefert worden.“ Wiedergabe in: A.[ugust] Bopp: Beiträge zur Geschichte der Stuttgarter Stiftsmusik. In: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde. Jg. 1910 (1911), S. 211–250, hier: S. 238–243.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-003

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auch Johann Jacob Kessler und Daniel Speer, ein ausgeprägtes württembergisches Profil. Weit weniger Beachtung als die Choralbearbeitung fand bis heute demgegenüber die südwestdeutsche lutherische Kirchenmusik der Jahrzehnte nach 1700 und damit auch die Geschichte der Kantate. Das lag wohl nicht nur an der Tatsache, dass mit Erdmann Neumeister und den Komponisten, die im thüringisch-sächsischen Raum (oder von diesem Raum ausgehend) seine Texte vertonten, der Fokus oft auf Mitteldeutschland lag; auch die Darmstädter Bestände Christoph Graupners (ca. 1400 Kantaten) und die Frankfurter Telemannbestände sind eher spät in den Fokus und in die Argumentationslinie der Historiographie geraten.3 Im Falle des Nördlinger Organisten Johann Caspar Simon stand einer stärkeren Beachtung wohl auch das Kleinmeister-Verdikt im Wege, die 322 Kantaten des Wertheimer Kantors Johann Wendelin Glaser rutschten nach ihrer spektakulären Entdeckung beim Abbruch der Orgel in der Wertheimer Stiftskirche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst wieder in die Vergessenheit. Richard Treibers 1939 in Heidelberg verfasste Dissertation konnte eine gattungsgeschichtliche Perspektive kaum entwerfen, und auch ein in Wertheim 2013 veranstaltetes Symposium hat das Œuvre des Wertheimer Kantors, das doch im südwestdeutschen Kontext schon aufgrund seines Umfangs einen beachtenswerten Bestand darstellt, noch nicht angemessen würdigen können. Bis dieses Werk gemeinsam mit den anderen, teils versprengt überlieferten musikalischen und literarischen Quellen in eine gattungsgeschichtlich solide Darstellung der Kantatengeschichte im Südwesten einfließen kann, wird es wohl noch dauern.4 Betrachtet man Überlieferung und Quellenlage zur Geschichte der Kantate im Südwesten, dann scheint hier eine engmaschige Tradierung textlicher und musikalischer Quellen nicht gegeben zu sein. Der in dichter Folge dokumentierte Erhalt von Musikalienlieferungen in Ronneburg durch die dortigen Kantoren Friedrich Wilhelm Voigt (1674–1731) und Johann Wilhelm Koch (1704–1745), den Michael Maul in einem jüngst erschienenen Beitrag über das Kantorat im 18. Jahrhundert dokumentiert,5 aber auch die Strategie der kontinuierlichen Produktion von Kanta3

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Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel des Artikels von Friedhelm Krummacher: Kantate. IV. Deutschland. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher [= MGG2]. Sachteil 4. Kassel u.  a. 1996, Sp. 1731–1755. Die von Neumeister und Bach ausgehenden Kapitelüberschriften lauten: „Kennzeichen der madrigalischen Kantate“ (Sp. 1744), „Die Kirchenkantate der Bachzeit“ (Sp. 1746) und „Die Kirchenkantate nach Bach“ (Sp. 1748). Störl und der im nachfolgenden angeführte Johann Kaspar Simon werden in MGG nicht genannt, allerdings kurz Johann Wendelin Glaser (ebd., Sp. 1740). Richard Treiber: Johann Wendelin Glaser und die Wertheimer Kirchenmusik im 18. Jahrhundert. Wertheim 1939. − Die musikwissenschaftlichen Beiträge des im Oktober 2013 in Wertheim/Main veranstalteten Symposiums „Johann Wendelin Glaser (1713–1783). Der Kantor und Praeceptor im Kontext seiner Zeit“ wurden jüngst veröffentlicht in: Musik in Baden-Württemberg. Jahrbuch (2015). Michael Maul: ‚Director musices‘, ‚Solmisations-Ritter‘ oder eifriger ‚Korrespondent‘. Zur ‚Cantor-Materie‘ im 18. Jahrhundert. In: Franz Körndle u. Joachim Kremer (Hg.): Der Kirchenmusiker. Berufe – Institutionen – Wirkungsfelder. Laaber 2015 (Enzyklopädie der Kirchenmusik 3), S. 239–257, hier vor allem: S. 253–257.

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tenjahrgängen, wie sie Telemann in Hamburg verfolgte, ist im deutschen Südwesten bislang nirgends oder höchstens im Ansatz nachgewiesen. Aus dieser Feststellung folgert jedoch nicht zwingend, dass in Stuttgart, dem Herzogtum Württemberg, dem Südwesten und den dort gelegenen Reichsstädten Kantaten inexistent waren. Es gab vielmehr sowohl den Transfer von Musikalien aus anderen Regionen wie auch die Eigenproduktion. Die denkbare These einer verspäteten Rezeption der mitteldeutschen Kantate steht damit auf dem Prüfstand – zumindest so lange, bis die etwa 2500 aus den genannten Orten und Regionen Südwestdeutschlands stammenden Kompositionen und Textdrucke aus der Zeit von 1708 bis 1760 näher untersucht worden sind. Auffallend ist nämlich, dass mit dem Wirken Johann Georg Christian Störls und Johann Philipp Käfers gerade in den ‚Hauptstädten‘ der beiden großen Territorien Württemberg und Baden die Anfänge der Kantatenproduktion schon früh im 18. Jahrhundert, etwa um 1710, nachgewiesen werden können. Dennoch scheint es, als seien bestimmte Konstellationen und biographische Situationen notwendig gewesen, dass es zumindest zeitweise zu einer Kantatenproduktion oder -rezeption gekommen ist.6

3 Südwestdeutsche Eigenproduktion: Johann Georg Christian Störl als Kantatenkomponist Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand war Johann Georg Christian Störl eine der zentralen Figuren für die Kantatenproduktion in Württemberg in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Der 1675 geborene, später bei Johann Pachelbel zuerst in Stuttgart, dann ab 1697 in Nürnberg studierende und nach einer Italienreise 1701–1703 als Kapellmeister und Organist der Stiftskirche in Stuttgart wirkende Musiker hat nur ein kleines Vokalwerk hinterlassen. Das Répertoire International des Sources Musicales [RISM] verzeichnet insgesamt 22 Kantaten, die heute noch erhalten sind. In Matthesons Ehren-Pforte war Störl aufgenommen worden, und dabei ist eine Bemerkung höchst aufschlussreich, die nicht nur die Existenz einer „Passion Christ“, dazu „Leich-, Abendmahl= und andere Stücke“ aus der Feder Störls dokumentiert, sondern auch einen vollständigen Kantatenjahrgang. Dieser Jahrgang ist infolge des frühen Todes des Komponisten auf vor 1719 zu datieren. Mattheson erwähnt ihn in den autographen Angaben seines Ehrenpforten-Beitrags wie folgt: „Noch ist vorhanden ein vollständiger Jahrgang so wohl der Evangelien, als Episteln, als Fest= und Apostel=Tage“.7 Der Jahrgang muss einstweilen als verschollen gelten, indes konnte vor wenigen Jahren im Archiv des Tübinger Stifts (AEvST) ein Inventar eines aus 81 Kantaten bestehenden Jahrgangs aufgefunden werden. Dieser 6 7

Die in diesem Beitrag genannten Kantatenbelege (z.  B. aus Aalen, Herrenberg oder Tübingen) zu kontextualisieren, bleibt detaillierteren Forschungen vorbehalten. Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte […]. Hamburg 1740, S. 352.

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Jahrgang ist nicht mit den erhaltenen und in RISM verzeichneten musikalischen Quellen identisch, dokumentiert also 81 Werke, die bislang als verschollen gelten müssen. Mattheson listet aber noch weitere Werke Störls auf, nämlich „Arien und Cantaten a Canto e Basso“. Vermutlich meint er damit die in Fridrich Cunrad Hillers Denck=Mahl der Erkentniß/ Liebe und Lob Gottes/ In neuen Geistlichen Lidern/ Auch Arien und Cantaten […] Ingleichem Sonn=, Fest= und Feyer=Täglicher Kirchen=Texte. Mit Musicalischer Composition […] (Stuttgart 1711) gedruckten Kompositionen. In dieser Arien- und Kantatensammlung befinden sich neben zahlreichen Kantatentexten auch die vier Kantaten „Omnia vanitas! Alles gantz eitel!“ (S. 51–86), „Der beständige Glaub an GOTT“ (S. 211–236), „Jesus im Garten“ (S. 426–470) und „Thut Busse“ (S. 609–631), dazu die Strophenarien „O wie läßt es sich so schön“ (S. 96–100), „Ich bin mit meinem Gott zufrieden“ (S. 104–110), „O Jesu, Du seeligste Ruh!“ (S. 136–139), „Seelig ist der reine Geist“ (S. 169–172), „Gerechter GOtt dem nichts verhaßter“ (S. 175–180), „Ach erkennet liebste Seelen“ (S. 239–243), „Ach mein Hertze weint vor Freuden“ (S. 324–328), „Mein JEsus weint“ (S. 369–373), „Welt! ich achte deiner nicht“ (S. 410–414), „Nun wird es ans Gerichte gehen“ (S. 476–481), „Ich lobe dich von gantzer Seelen“ (S. 520– 525), „Ruhet wol ihr Todten Beine“ (S. 528–531), „O Jerusalem, du Schöne!“ (S. 535–538), „Auff Seele! nun ists an der Zeit“ (S. 592–597), „Meine Seele JEsum preiset“ (S. 598–603) und „Nun bin ich frey von meinen Sünden“ (S. 655–660). Es handelt sich ausnahmslos um generalbassbegleitete Solokompositionen. Weiterhin nennt Mattheson eine „Cantate […] a Canto overo Tenore solo, mit Violinen und Flöten“ nach „Wolfgang Friedr. Wallisters [recte: Walliser]“. Diese letztgenannte Weihnachtskantate8 stellt wegen ihres Umfangs, ihrer abwechslungsreichen Faktur und der darin zu findenden Arienformen ein aufschlussreiches Dokument für die Gattungsgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts dar, repräsentiert aber gerade wegen ihres Umfangs nicht den Typus einer sonntäglichen Kirchenmusik.9 Der im Verlag Stoy in Augsburg erschienene Einzeldruck ist ebenfalls als Indiz dafür anzusehen. Das Entstehen von Störls Kantatenjahrgang ist unter Umständen im Zusammenhang mit seiner kurz zuvor geäußerten Kritik am Zustand der Stuttgarter Stiftsmusik zu sehen, die er 1708, also im Jahr nach seinem Amtsantritt an der Stiftskirche, 8

9

Die beim Verlag Georg Christoph Stoy in Augsburg gedruckte Cantata, welche die Freund- und Leutseligkeit Gottes in Jesu Christo durch dessen heylsame Geburt und Menschwerdung betrachtet vorstellet ist in der Universitätsbibliothek Rostock überliefert. Eine Beschreibung der Kantate findet sich bei Ekkehard Krüger: Die Musikaliensammlung des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg-Stuttgart und der Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin in der Universitätsbibliothek Rostock. Bd. I/II. Beeskow 2006, hier: Bd. II,2: Katalog. Komponisten Q–Z, Anonymi, Sammelwerke, Register, S. 904  f. Eine vermutlich 1958 von G. Niggemann erstellte Aufführungspartitur des Werkes ist unter der Signatur 234 Gml im Archiv des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR) erhalten. Ich danke Frau Gabriele Ganter (Notenarchiv SWR) vielmals für die Bereitstellung dieser Partitur. Eine Aufnahme des Werkes befindet sich im Schallarchiv des SWR.

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in einem Schreiben an seine vorgesetzte Behörde mit folgenden Worten vorgetragen hatte: Er habe nämlich „gleich anfangs [also bei seinem Dienstantritt im Jahre 1707; J. K.] gefunden, wie die Music in so großer Decadence gestanden, dass sich darüber zu verwundern, in Ansehung nicht allein gar wenige, oder fast gar keine Kirchen Stuck, so zu jetziger Zeit wohl zu gebrauchen weren, vorhanden“.10 Diese Klage belegt ungeachtet der Frage, wie berechtigt sie gewesen sein mag, dass Störls Interesse in Übereinstimmung mit Matthesons Blickrichtung seines Biographienkonzepts11 in starkem Maße auf die Musik „jetziger Zeit“ gerichtet war und dass er das reichhaltige Repertoire der Stuttgarter Stiftskirche, das am 4. November 1695 in dem bereits genannten Catalogus verzeichnet worden war, als überholt verstand.12 Als Störls musikalischer Referenzpunkt können also nicht die frühen NeumeisterVertonungen Georg Philipp Telemanns aus Neumeisters drittem und vierten Jahrgang gelten (die aus dem Jahr 1711 und 1714 stammen), sondern eher – von Hillers Druck ausgehend − das 1702 von Johann Philipp Krieger vertonte Modell des ersten Kantatenjahrgangs.13 Vielleicht auch diente ihm jene Form der Kantatenmusik als Vorbild, die er möglicherweise in den Jahren 1701–1703 in Italien gehört und kennengelernt hatte. Im Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen ist nicht nur ein von Störl komponiertes „Hochzeits=Stück“ archivalisch belegt,14 sondern auch der verschollene Kantatenjahrgang.15 In vier Inventaren, die stets bei Amtsübergabe der dortigen Repetenten verfasst wurden, kann dieser Jahrgang nachgewiesen werden. Sie stammen aus den Jahren 1722 und 1724, dazu kommt eine undatierte Aufstellung und eine vermutlich aus dem Jahre 1737 stammende.16 In den wenigen Jahren seines Wirkens an der Stuttgarter Stiftskirche dürfte Störl also eine ansehnliche Menge an

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16

Zitiert nach: K. Eberhard Oehler: Johann Georg Christian Störl. In: Gerhard Tadday (Hg.): Lebensbilder aus Baden-Württemberg. Bd. 21. Stuttgart 2005, S. 26–36, hier: S. 31. Vgl. dazu Joachim Kremer: „Von dem Geschlecht deren Bachen“ – Kommentierte Quellen zur Musikerbiographik des frühen 18. Jahrhunderts. Neumünster 2014, insbesondere S. 123–138. Catalogus deren jenigen Musikalischen Stücken (wie Anm. 2), S. 238–243. Eine Krieger-Überlieferung ist in Württemberg bislang nicht nachgewiesen. Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen (AEvST), W 1, Sch. 224/4, Musik, II: 1654–1748, ohne Fol.-Nr.: „Musicalisch[e] Sache[n]“, ca. 1737, unterzeichnet von „Joh. Frid. Schmidlin“. Frau Dipl. Bibl. Beate Martin sei für ihre entgegenkommende Hilfestellung bei der Nutzung der Archivbestände auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Vgl. zum Kantatenjahrgang die Angaben bei Eberhard Stiefel: Störl (Sterle, Stöhrle, Störlin), Johann Georg Christian. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v Friedrich Blume. Bd. 12. Kassel u.  a. 1965, Sp. 1388–1390, hier: Sp. 1389; auch Günter Thomas: Störl, Johann Georg Christian. In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Hg. v. Stanley Sadie. Bd. 24. London 2001, S. 446  f., hier: S. 446. K. Eberhard Oehler: Johann Georg Christian Störl (wie Anm. 10), z.  B. S. 32  f., erwähnt den Jahrgang nicht. Unter Bezug auf Gerber hatte aber schon Bopp den Jahrgang erwähnt; vgl. A.[ugust] Bopp: Beiträge zur Geschichte der Stuttgarter Stiftsmusik (wie Anm. 2), S. 231. AEvST, W 1(wie Anm. 14), alle Inventare ohne Fol.-Nr. – Hermann Ullrichs Artikel in der Neuen MGG listet die Kantaten nicht auf und bezeichnet Störl als bedeutend für das „Kirchenliedschaffen“. Vgl. Hermann Ullrich: Störl, Johann Georg. In: MGG2. Personenteil 15. Kassel 2006, Sp. 1566.

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Werken und insbesondere Kantaten komponiert haben: Etwas mehr als 100 Werke sind mit einiger Sicherheit in diese elf Jahre seines Wirkens zu datieren. Es gibt aber weitere südwestdeutsche Eigenproduktionen aus der Markgrafschaft Baden-Durlach, und spontan wäre an eine mit Blick auf Cunrad Hillers Textdruck als Parallelproduktion zu betrachtende Publikation des fast gleichaltrigen, von 1715–1722 als baden-durlachischer Kapellmeister tätigen Johann Philipp Käfer (1672−1728) zu denken, allerdings weniger an seine ca. 50 handschriftlich überlieferten und bei RISM verzeichneten Kantaten, die wohl eher in der Zeit vor seinem Wirken in Baden-Durlach entstanden. Der betreffende MGG-Artikel datiert diese auf „um 1704/05 oder später“,17 also in den Lebensabschnitt bei Herzog Heinrich in Römhild. Eher wäre an die folgenden aus der Durlacher Zeit stammenden Textdrucke zu denken: 1) Sabbaths=Freude; Das ist: Musicalische Andachten Uber Alle Sonn= und Feyertags=Evangelia durch das gantze Jahr/ So in der Hochfürstl. Hof=Capelle zu Carols=Ruhe Jedesmal durch Johann Philipp Käfer aufgeführet werden (Durlach 1718) 2) Das Lob=schallende Hertzens=Zion in erbaulichen Sonn= und Fest=Täglichen Cantaten Zum Gebrauch Der Pfortzheimischen Kirchen=Music/ Aus berühmter Dichter Geistreichen Schriften colligirt, Und in eigene Composition gebracht (Tübingen 1726)

Wie auch das Lob=schallende Hertzens=Zion spiegelt die Sabbaths=Freude der auf den 5. Juli 1718 datierten und vom Kirchenrat und Hofprediger Johann Laurentius Hölzlein verfassten Vorrede zufolge eine gottesdienstliche Praxis wider, weil der Druck auf das Beispiel des Markgrafen rekurriert, der „alle H. Sonntage bey vier besonderen Predigten“ anwesend war und „zu mehrerer Verherrlichung deß Göttlichen Namens/ auch bey jeder Predigt eine stattliche Music aufführen“ ließ. Der Druck wird deshalb nur als eine „Prob davon“ bezeichnet,18 und der Titel spricht ausdrücklich von der Aufführung durch Käfer. Zu dieser Praxis hatte es Vorläufer gegeben, etwa Käfers Gott geheiligte Seelen=Lust über alle Son[n]- und Fest-Tags Evangelia Vom 1. Advent biß dahin 1705. Oder Neu-gesetzte Geistreiche Arien/ Nach Anleitung außerlesener Biblischen Texte, so dass Käfer offenbar in Baden-Durlach eine ihm aus Hildburghausen und Römhild bekannte Praxis fortführte.19 Nimmt man zu diesen frühen Beispielen der Kantatenproduktion im Südwesten noch die Kantate „Du Friedensfürst, Herr Jesu Christ“ des Ulmer Münsterorganisten Conrad Michael Schneider (1673–1752) in den Blick, auch die vor 1720 entstande17 18

19

SL [= Schriftleitung] (Günther Kraft): Käfer, Johann Philipp. In: MGG2. Personenteil 9. Kassel 2003, Sp. 1344–1346, hier Sp. 1345. Johann Philipp Käfer: Sabbaths=Freude; Das ist: Musicalische Andachten Uber Alle Sonn= und Feyertags=Evangelia durch das gantze Jahr/ So in der Hochfürstl. Hof=Capelle zu Carols=Ruhe Jedesmal durch Johann Philipp Käfer aufgeführet werden. Durlach 1718, Vorrede S. 4. Der hier entworfene gattungsgeschichtliche Kontext weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer stärkeren Beachtung Johann Philipp Käfers durch die musikwissenschaftliche Forschung hin, allemal im Blick auf einen möglichen thüringisch-badischen Kulturtransfer.

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nen Kantaten des Haller Stadtmusikanten August Samuel Welter (1650–1720) und die ab 1713 nachweisbaren Kantaten des Straßburger Kapellmeisters Johann Christoph Frauenholtz (1684–1754), dann ist der Bestand an Kompositionen südwestdeutscher Komponisten bzw. der in den Südwesten übergesiedelten Komponisten in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nicht zu vernachlässigen, zumal auch früh im 18. Jahrhundert die Praxis der Jahrgänge dokumentiert ist. Einen Austausch nicht nur zwischen geographischen Räumen, sondern auch innerhalb des Südwestens kann man annehmen, weil in Straßburg auch Werke Welters, Störls und Käfers überliefert sind und Störl in Augsburg publizierte. Die Dynamik des Transfers externen (wohl mitteldeutschen) Repertoires und der Schaffung eines eigenen literarischen und musikalischen Repertoires (Käfer und Störl) lässt sich gegenwärtig aber nur unzureichend beschreiben und eher erahnen.

4  Störls Kantate „Omnia vanitas! Alles gantz eitel!“ (1711) Die meisten der bisher genannten Kantaten Störls fallen in eine Zeit des Übergangs von der sogenannten älteren zur madrigalischen Kantate, so dass die Frage, wo sie musikalisch ansetzen, besonders interessant ist. Große dreiteilige Da-capo-Arien mit obligaten konzertierenden Instrumentalpartien können zu dieser Zeit noch kaum erwartet werden und Störls Weihnachtskantate ist dafür ein treffliches Beispiel, weil die dort zu findenden Arien kurze liedartige Gebilde sind, die statt mit obligaten Instrumentalpartien eher mit Ritornellbildungen arbeiten und auch bezüglich ihrer thematischen Profilierung noch hinter den Kantaten bleiben, die dem jungen Händel zugeschrieben werden, etwa hinter „Triumph, ihr Christen seid erfreut“ (HWV Anh. B 208). Für musikalische Vergleiche aus dem regionalen süddeutschen Kontext böte sich weniger die der Stadt Ulm gewidmete Ariensammlung des Schwäbisch-Haller Director musices Johann David Mayer an, seine Geistliche Seelen=Freud: Oder Davidische Hauß-Capell: Bestehend In Theils gantz Neu= und Andern mehr schönen/ auch Lehr= und Trost=reichen Arien und Gesängen (Ulm 1692).20 Diese Kompositionen werden zwar in der Vorrede des Autors als „Arien-Wercklein“ bezeichnet, stellen aber – in der heutigen Terminologie gesprochen − reine Generalbasslieder dar, die auf obligate Instrumente, instrumentale Einwürfe und Einschübe verzichten. Auf diese Eigenschaft weist ausdrücklich der Titel des Drucks hin: „In einer Discant- und Bass-stimm/ cum Basso Generali verfertiget“. Allerdings könnten sie mit Blick auf die Frage der Melodiebildung vergleichend herangezogen werden, denn auch Störls

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Ein Exemplar dieser Sammlung befindet sich unter der Signatur Sch. K. M. oct, Musik-M.: May 285/70 in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Weitere Exemplare – allerdings mit dem Druckjahr 1692 – liegen laut VD 17 in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Bayerischen Staatsbibliothek München, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek und der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel.

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Kompositionen aus dem Denck-Mahl der Erkenntnis (1711) stellen zum großen Teil Arien dar, die liedhafte Züge aufweisen. Schon die Zusammensetzung der Musikdrucke in dieser Sammlung ist aufschlussreich, denn neben vier Kantaten sind dort 16 Strophenarien veröffentlicht. Secco-Rezitative sind seltener vertreten, ausschließlich in den vier Kantaten. Eine interessante Verortung im Gattungsspektrum nimmt Störl selbst vor, indem er seine Kompositionen in der Vorrede zu Hillers Denck=Mahl als „schlechte einfältige Catechismus=Lieder“ bezeichnet. Und umso mehr drängt sich also ein Vergleich zu jenen Kompositionen auf, die nachdrücklich Liedhaftes und nicht Arioses verwirklichen wollen. Hiller selbst ging zudem bewusst auf Distanz zur modernen galanten Dichtung: Seynd die Verse schon nicht nach der heutigen Galanten Manier; So wird mich hoffentlich dieses entschuldigen/ daß ich von Jugend an/ niemahls weder Zeit noch Gelegenheit gehabt/ mich auf die Poesie zulegen/ und deßhalben mich nie unter die Poeten/ wohl aber unter die Liebhaber eines reinen natürlichen Teutschen Verses gezehlet: Jedoch was denenselben an Zierlichkeit abgehet/ das hat der Hochfürstl. Würtembergische Capellmeister Herr Johann Georg Christian Störl mit seiner fürtrefflichen Composition in allem reichlich ersetzet.21

Hillers Verzicht auf aktuelle Galanterie und Störls liedhafte statt arios-virtuose Faktur bilden einen Befund, der auf den spannungsreichen Beginn des 18. Jahrhunderts in Württemberg bezogen werden kann: Störls Arien und Kantaten befinden sich damit im Spannungsfeld zwischen Theatralik und Pietismus, das in Württemberg in jenen Jahren extrem geladen war. Der im Jahre 1702 vollzogene Selbstmord des Stuttgarter Hofmusikers Philipp Gottfried Weydner, der den Zwiespalt zwischen theatralischopernhafter und gottesdienstlicher Musik nicht aushalten konnte, ist vielleicht das anschaulichste Beispiel für die damalige im Zeichen des frühen Pietismus stehende Polarisierung, die auch ihr musikalisch-stilistisches Pendant hatte.22 Johann Henrich Reitz berichtet nämlich in seiner Historie Der Wiedergebohrnen (Idstein 1717) von „Einem frommen Jüngling der sich in der hypochondrischen Kranckheit theils vom Gnadenzug Gottes, theils von feindlicher Beängstigung, überworffen sahe, daß er in äussersten Zweifel an seiner Seligkeit gerieht, weil er vormittags mit Singen Gott gedient, und nachmittag mit seiner Musik in der Opera dem Teuffel ein Opffer gebracht, und einmal in der Angst in Verstands-Verwirrung kam, dass er sich in [den] Hals stach, davon er eine hitzige Kranckheit bekommen, und in hertzlicher Buß gestorben“ ist.23 Die Modernisierung der Instrumentalmusik, der Bühnenmusik, die nachfolgende Theatralisierung der Kirchenmusik und die pietistische Frömmigkeitspflege bewirkten, dass musikalische Sphären unversöhnlich nebeneinander standen, und an der 21

22 23

Fridrich Cunrad Hiller: Denck-Mahl der Erkentniß, Liebe und Lob Gottes in neuen geistlichen Lidern, auch Arien und Cantaten […] ingleichem sonn-, fest- und feyer-täglicher Kirchen-Texte. Stuttgart 1711, Vorrede deß Autoris S. 1. Zu Weydner vgl. Joachim Kremer: „Von dem Geschlecht deren Bachen“ (wie Anm. 11), S. 139– 174, und zu den liedgeschichtlichen Quellen in Württemberg die Auflistung ebd. S. 157  ff. Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. 3. Bd., Teil VI. Idstein 1717, S. 367.

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Oper als einer von den verwerflichen und niederen Affekten und Instinkten bestimmten Gattung entzündete sich der Disput. Die Vorgänge und Weydners Freitod waren sicher im Jahre 1711 noch nicht vergessen, und auch wenn sich das Klima nach dem Tod des Stiftspredigers Reinhard Hedinger 1704 beruhigt haben dürfte,24 ist die Dichte liedgeschichtlicher Quellen in Württemberg wie auch der liedhafte, kaum ariose oder virtuose Tonfall der Kompositionen Störls auffallend. Beides kann auf­ einander bezogen werden, und die These ist statthaft, dass sich diese frühen württembergischen Kantaten im Unterschied zu Neumeisters 1704 publiziertem Verständnis, dass die Kantate eben aus der Oper stammt, am pietistischen Liedideal orientieren.25 Dieser Befund deckt sich mit einer sozial-funktionalen Nähe von Kirche und Haus als Orte der Musikpflege. Johann David Mayer benannte sie 1692 in seiner „Vorrede des Autoris“: Welche dann nicht nur zu Hauß von Gottseelig-Music-liebenden Kindern und Eltern: oder auch andern Music-geneigten guten Freunden/ bey Ehrlichen Zusammenkunfften und ergötzlichen Frölichkeiten: Sondern auch gar in den Kirchen/ wo man ein Orgelwerck/ und nur ein paar Music-verständige Subjecta hat/ nutz- und erbaulich gebraucht werden können […].26

Auch Hillers Denck=Mahl, zu dem Störl seine vier Kantaten und 16 Arien lieferte, steht in Nähe zu diesem Typus der Erbauungsliteratur. Der württembergische Kanzleiadvokat Hiller hatte der Vorrede des Stuttgarter Stiftspredigers Ehrenreich Weißmann zufolge auf dem „Krancken=Beth“ begonnen, „seine betrübte Seele mit himmlischen Gedancken [zu] ergötzen“.27 Der Produktionsprozess zeigt also eine in der pietistischen Vitenliteratur ausgeprägte Haltung, sich auf dem Krankenbett mit Beten und Singen Gott zuzuwenden. Wie aber Gottesdienst und häusliche Erbauung in diesem Buch ineinanderfließen, so vermischen sich auch Poesie und musikalische Aufführung der Texte, indem „ein Christlicher Leser daraus alle Sonn= Fest= und Feyertäge Hertzbewegliche Gesang=Andachten nehmen kan[n]“.28 Näher zu erläutern bleibt also die Bestimmung dieser Sammlung und dieser Kantaten für Liturgie, häusliche Musikandacht oder privates Musizieren. Die Generalbassbegleitung dieser Kantaten und Arien rückt sie in die Nähe der Generalbasslieder Johann Rists und macht eine häusliche Verwendung wahrscheinlich, zumindest ist eine solche 24

25

26 27 28

Zu Hedinger vgl. ausführlich Wolfgang Schöllkopf: Johann Reinhard Hedinger (1664–1704). Württembergischer Pietist und kirchlicher Praktiker zwischen Spener und den Separatisten. Göttingen 1999 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 37). Neumeisters inzwischen viel zitiertes Wort, dass die Kantate „nicht anders aus[siehet] als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt“, wäre hier in analytische Fragestellungen zu überführen; vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage der Geistlichen Cantaten, zitiert in: Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u.  a. 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), S. 139. S. Anm. 20. Fridrich Cunrad Hiller: Denck-Mahl der Erkentniß (wie Anm. 21), Christlich andächtiger Leser./ Vorrede, 5v. Ebd.

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im häuslichen Umfeld und sogar am „Krankenbett“ vorstellbar.29 Wenn diese vom sozialen Umfeld ausgehende Blickrichtung wirklich einen belastbaren Zugang zum Beginn der süddeutsch-württembergischen Kantatenproduktion darstellte, dann wäre hier gerade nicht die Theatralisierung der Kantatentexte das ausschlaggebende Kriterium, sondern eine aus frühpietistischen Anliegen heraus verfolgte Musikpraxis.30 Zumindest kann diese typisch württembergische Gemengelage, die maßgeblich vom frühen Pietismus geprägt war, auch für die Etablierung der Kantate im Südwesten nicht ignoriert werden. Der literarische und kompositorische Umgang mit Theatralik als einem Bestandteil der Kategorie der „Üppigkeit“ wäre dann höchst erläuterungsbedürftig.31

5  Import von Repertoire und interregionaler Austausch Mit Störl ist die württembergische Eigenproduktion von Kantaten bis 1719 verbunden, doch gibt es auch zahlreiche Belege eines Imports von musikalischem Repertoire. Aufschlussreich ist ein Inventar aus Herrenberg aus dem Jahre 1729, das den damals dort vorhandenen Bestand von 118 Kantaten auflistet (allerdings ohne Nennung der Autoren) und darüber hinaus weitere Musikalien verzeichnet.32 Gemeinsam mit den Tübinger Inventaren und weiteren Nachweisen, etwa der Bibliothek der 1712 verstorbenen Herzogswitwe Magdalena Sibylla, sind bis ca. 1736 im Südwesten folgende musikalische Importe aus dem Umfeld der Kantatenkomposition nachweisbar (Tabelle 1).

29

30

31

32

Das Singen am Krankenbett ist besonders in der pietistischen Biographik überliefert, wenn z.  B. am Sterbebett gebetet und gesungen wird, um Gott seine Seele zu empfehlen. Vgl. dazu die Personalia aus der Leichenpredigt auf Magdalena Sibylla von Württemberg: Hochfürstliche Personalia, So nach gehaltener Predigt verlesen werden [Stuttgart 1712], z.  B. S. 63. Eine Verwandtschaft oder zumindest Nähe zwischen pietistisch und theatralisch motivierten Ausdrucksmitteln stellte der Verfasser im Fall von Händels Brockespassion fest, vgl. Joachim Kremer: Händel und die Tradition der evangelischen Kirchenmusik. In: Hans Joachim Marx u. Michele Calella (Hg): Händels Kirchenmusik und vokale Kammermusik. Das Handbuch. Laaber 2012, S. 17–44, hier: S. 33  f. Zur Kategorie der „Üppigkeit“ s. Rainer Bayreuther: Pietismus, Orthodoxie, pietistisches Lied und Kunstmusik. Eine Verhältnisbestimmung. In: Wolfgang Miersemann u. Gudrun Busch (Hg.): Pietismus und Liedkultur. Tübingen 2002 (Hallesche Forschungen 9), S. 129–141. Stadtarchiv Herrenberg, Dekanatsarchiv, Bestand H 581 d – Inventar der Musikalien in der Kirche 1729. − Herrn Dr. Christoph Öhm-Kühnle (Herrenberg) sei auch an dieser Stelle für den Hinweis auf dieses Inventar gedankt.

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Tabelle 1: Musikalische Importe aus dem Umfeld der Kantatenkomposition Komponist/ Werk

Fundort

Datierung des Nachweises

Liebhold(t), 1 Jg.

Tübingen/ Ev. Stift

Vermutlich nach 1724, ­identisch mit dem in ­Schotten überlieferten Jg.

Telemann, ein Jg.

Tübingen/ Ev. Stift

ca. 1737

Erlebach/ Gott geheiligte Singstunde 1704

Herrenberg/ Stiftskirche

1729

Erlebach, „Jahrgäng“, aus „34 Stk.“

Tübingen/ Ev. Stift

1745

Erlebach/ Harmonische Freude

Stuttgart/ Stetten/Kirchheim

bald nach 1697

Telemann/ Kantaten

Ulm/ Collegium musicum (Münster)

Beginn 1720er-Jahre

Frauenholtz, Johann Christoph/ Arien

Aalen

1736

Neuß, Georg Leonhard/ „Sonnund Festtags Compositiones“

Aalen

ca. 1736

Auch aus der Reichsstadt Aalen findet sich ein Hinweis, der die Notwendigkeit unterstreicht, solche Formen des Repertoiretransfers zu erfassen. In Aalen sind 1736 Arien von Frauenholtz begehrt worden, weil „dieselbe fast den Vögeln auf den Tächern gemein worden“ sind, und auch „Herrn Neußens Sonn- und Festtags Compositiones“ sollten angeschafft werden.33 Besondere Bedeutung dürften dabei die bis heute nicht systematisch erfassten Telemann-Importe haben, weil Telemanns Kantaten als überregional verbreitete Modelle galten. Bislang sind südwestdeutsche Telemann­ überlieferungen nur punktuell beachtet worden, etwa hinsichtlich der Entstehung der Kantate „In Christo Jesu gilt weder Beschneidung“ (TVWV 1:929), die autograph auf Stuttgart, den 19. August 1720, datiert ist, oder der Nördlinger Kantatenüberlieferung aus der Mitte des Jahrhunderts.34 Unbeachtet sind weitgehend die Anschaffung 33

34

Ernst Häußinger: Die Musikpflege in der freien Reichsstadt Aalen. In: Aalener Jahrbuch (1978), S. 113. Georg Leonhard Neuß wirkte von 1726 bis 1747 als Kantor in Oettingen, später bis zu seinem Tode 1756 als Schulmeister und Kantor in Löpsingen bei Nördlingen. Martina Falletta: Georg Philipp Telemann zu Besuch in Stuttgart. In: Musik in Baden-Württemberg. Jahrbuch 2011, S. 129–137; Joachim Kremer: Von Lasso über Schütz zu madrigalischen Kantaten und Mannheimer Sinfonien. Der Wandel des musikalischen Repertoires am Evangelischen Stift in Tübingen zwischen 1654 und 1767. In: Ulrich Köpf (Hg.): Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Ostfildern 2014 (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 25), S. 407–427; Helmut Lauterwasser: Telemann-Rezeption in Nördlingen anno 1750. Eine Spurensuche. In: Die Musikforschung 66 (2013), S. 362–390.

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der Geistlichen Arien in Herrenberg oder die Diskussionen um die Anschaffung eines Kantatenjahrgangs im Tübinger Stift. Von Telemann wurden sofort nach Erscheinen die Geistlichen Arien erworben, im Tübinger Stift wurde nahezu gleichzeitig die Anschaffung eines Kantatenjahrgangs in den 1730er-Jahren erwogen. Entsprechend könnte auch der Transfer württembergischen Repertoires nach auswärts erfasst werden, z.  B. die Überlieferung der Kantaten Johann Samuel Welters in Straßburg oder der Werke Störls in Rudolstadt35 (Tabelle 2). Tabelle 2: Überlieferung der Werke Störls in Rudolstadt Werke Johann Georg Christian Störls im Inventar der Schwarzburg-Rudolstädtischen Musikaliensammlung (1714–1720) Laufende Nr.

Titel

728

Jauchzet dem Herrn alle Welt à 6 di Störl, benebst. d. Part.

791

Lobet ihr Himmel den Herrn à 11 di Störl

812

Nach dir Herr verlangt mich à 9 di Störl

875

Wie lieblich sind deine Wohnungen di Störl

916?

Kyrie …rl (Kerll, Störl?)

944

Jubilate Deo omnis terra à 9 di Störl

973

In te Domine speravi &c. à 4 Clarini, Haub., 2 Voci (di St)örl

979

Laudate pueri Dominum à Basso Solo di Störl

Unter dem Kürzel „J. G. C. S.“ 676

Exultate justi in Domino à 3 Ten.-Solo con Strom. di J. G. C. S.

836

Salve Jesu vita dulcedo Alto con Strom. di J. G. C. S.

Indes kann auch am Inventar Herrenberg − wie häufiger im Herzogtum Württemberg im 17. Jahrhundert – eine regionale Ausrichtung erkannt werden: Die dort aufgeführten Komponisten Theodor Schwartzkopf, Johann Michael Nicolai und Samuel Capri­ cornus sind einheimische Musiker, aber es sind keine zeitgenössischen Autoren. Bemerkenswert ist in Herrenberg auch der Import, also die Anschaffung von Werken Erlebachs, Strattners und Telemanns.

35

Angaben nach Bernd Baselt: Die Musikaliensammlung der Schwarzburg-Rudolstädtischen Hofkapelle unter Philipp Heinrich Erlebach (1657–1714). In: Walther Siegmund-Schultze (Hg.): Traditionen und Aufgaben der Hallischen Musikwissenschaft. Halle-Wittenberg 1963, S. 105–134.

Die Kantate im deutschen Südwesten zwischen 1700 und 1760

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6 Perspektiven für die Kantatenproduktion und Forschungsperspektiven Der Stuttgarter Stiftskirchenorganist Johann Georg Christian Störl war für den Hamburger Musikkritiker und Schriftsteller Johann Mattheson einer der „Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc.“, die er in seinem 1740 erschienenen Musikerlexikon vereinte.36 Dass Mattheson schon früh eine Autobiographie von Störl erbeten hatte und diese offenbar kurz vor dessen Tod erhielt, zeugt von der überregionalen Wahrnehmung, vielleicht auch von der Bedeutung Störls und seines Kantatenschaffens. Das gilt aber entsprechend der Liste über den Zustand des Ehrenpforten-Projekts, die Mattheson 1719 in der Exemplarischen Organisten-Probe publizierte, auch für andere in Südwestdeutschland vertretene (Kantaten-)Komponisten, etwa den Rudolstädter Kapellmeister Philipp Heinrich Erlebach, den Stuttgarter Kapellmeister Johann Christoph Pez (1664–1716) oder den badendurlachischen Kapellmeister Johann Philipp Käfer (1672–1728). Der ebenfalls dort genannte und bis heute weder kompositorisch noch musiktheoretisch hervorgetretene Organist und Lehrer am Gymnasium Johann Nicolas Peucer37 aus Öhringen dürfte in dieser Hinsicht aber eine Ausnahme darstellen. Mit den beiden Komponisten Störl und Käfer scheint in dem Herzogtum Württemberg und der Markgrafschaft BadenDurlach eine eigene Kantatentradition begründet worden zu sein. Sie setzte sich später fort, etwa in den 1740er-Jahren, wo eine intensive Kantatenproduktion im Umfeld der Stuttgarter Hofkapelle nachweisbar ist. 1742 beschloss der Kirchenrat „zur Ehre Gottes, und auch mehrerer reputation der Hof Capell“ vom Hoforganisten Johann Philipp Bamberg einen Jahrgang komponieren zu lassen, obgleich doch „regulariter die jeweiligen Capellmeister dergleichen Kirchenstücke, krafft Ihres Staats unentgeldtlich zu verförtigen schuldig seynd“.38 1743 war begonnen worden, „eine GOtt=geheiligte Poesie, auf jedes Evangelium im gantzen Jahr“ zu verfertigen und diese zu drucken, was im Vorbericht zum ersten Jahrgang des Hoforganisten Bamberg (1745) vermerkt wurde. Bamberg hatte diesen Jahrgang komponiert und 1744 wiederholt zur Aufführung gebracht. Der Vorbericht des Jahrgangsdrucks von 1745 weist darauf hin, dass in dem Druck zerstreute Texte zusammengefügt wurden, 36 37

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So beschrieb Johann Mattheson im Titel der Ehren-Pforte (wie Anm. 7) die Auswahl. Bei dem bislang weitgehend unbekannten „Peucer“ handelt es sich um den 1714 in Öhringen nachweisbaren Organisten und Gymnasiumslehrer Johann Nicolas Peuc(k)er(t), oder auch Peuker(t), war den Öhringer Akten zufolge bestrebt, nach Heilbronn zu wechseln; Herr Rolf Werner (Öhringen) half bei der Identifikation maßgeblich. Landesarchiv Baden-Württemberg/ Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 21 Bü 610: Hofkapelle und Hofmusik: Acta Evangelische Hoff Capell Stuttg. Kirchen Poesie zur Kirchen Musique de ao: 1743. 1744. 1745. 1746. 1747. 1748. 1749. et 1750. Von dem Hoforganist[en] Bamberg et Hofmusico Dontzen aufgeführt, ohne Fol.-Nr. Extractus Fürstl. Kirchen Raths Protocolli ad 21st May, 1742. – Zum Druckprivileg, das Bamberg erteilt wurde, vgl. Landesarchiv Baden-Württemberg/ Hauptstaatsarchiv Stuttgart: Findbuch A 210 II: Oberrat: Stadt und Amt Stuttgart, A 210 II Bü 574: Privileg für den Hoforganisten (1745).

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Joachim Kremer

und verkündet wurde die Absicht einen zweiten Jahrgang zu verfertigen, der mit dem ersten alternieren sollte.39 1747/48 setzte Bambergs zweiter Jahrgang ein, die GOtt=geheiligter Poesie, Auf alle Sonn=[,] Fest= und Feyer=Täge des gantzen Jahrs, In der Hoch=Fürstlichen Hof=Capelle zu Stutgart, Zweyter Jahrgang. Auf Hochfürstl. gnädigsten Befehl Musicalisch componirt Und Zum Druck befördert, Von Georg Philipp Bamberg, Hof=Organisten […] Stuttgart […] 1747, der dem Vorwort des Textdrucks zufolge den Vorzug eines „doppelte[n] Choral[s]“ hat, „welches vor die gantze Gemeinde zur Gemeinschafftlichen Mit=Andacht desto bequemer und erbaulicher ist“. Die Kantatenjahrgänge des Stuttgarter Kammermusikers Georg Eberhard Duntz (1705–1775) von 1748/49, 1754/55 und 1755/56,40 der Jahrgang des Kammermusikers Jacob Senger von 1756, dessen Fortführung aufgrund einer Resolution vom 29. Oktober 1757 und der Druck eines weiteren Jahrgangs 1759, seine Gott=geheiligte Poesie, auf all Sonn=[,] Fest= und Feyer=Täge des gantzen Jahrs, zur Kirchen=Music In der Herzoglich=Evangelischen Hof=Capelle zu Stuttgart, Auf Herzogl. Gnädigsten Befehl Musicalisch componirt und zum Druck befördert Durch Jacob Senger […], Stuttgart [1759], führen diese Kantatenproduktion weiter. Die damit bis in die Mitte des Jahrhunderts nachweisbare und teilweise erhaltene Menge von Kantaten in Südwestdeutschland weist darauf hin, dass die 1651 geäußerten Befürchtungen des Stuttgarter Stiftsorganisten Philipp Friedrich Böddecker unbegründet waren, dass man „wegen mangel guten Verstandes dahin geraten [wird]/ daß […] wir gewiß in wenig Jahren so wohl die Vocalem als Instrumentalem wirden [sic] vergessen und verlohren haben; vnd hingegen das toll=wilde geschrey der Barbaren annehmen und hören müssen.“41 Aber der hier vorgelegte kursorische Überblick über das Kantatenschaffen im Südwesten zeigt eine Besonderheit in der Überlieferung und Entstehung: Auch hier war dieser Gattungstypus ein Erfolgsmodell. Freilich fehlten ihm der Glanz und die Patronage des herzoglichen Hofes, weil hier der Kapellmeister nicht Komponist geistlicher Musik war. 1756 verfertigte in Stuttgart der Kammermusiker Jacob Senger auf herzoglichen Befehl einen Kantatenjahrgang, nachdem er sich mit einer Kirchenkomposition empfohlen und die positive Begutachtung durch den Kapellmeister Niccolò Jommelli eingeholt hatte. Die Akten bezüglich der Entstehung eines Kantatenjahrgangs 1743 sprechen aber deutlich aus,

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GOtt=geheiligter Poesie, Auf alle Sonn=[,] Fest= und Feyer=Täge des gantzen Jahrs, In der Hoch=Fürstlichen Hof=Capelle zu Stutgart, Erster Jahrgang. Auf Hochfürstl. gnädigsten Befehl Musicalisch componirt Und Zum Druck befördert, Von Georg Philipp Bamberg, Hof=Organisten […] Stuttgart […] 1745, Vorbericht. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 21 Bü 610: Extractus Herzogl. Kirchen Raths Protocolli d. d. 20sten May 1775. – Zu Duntz s. auch Dorothee Wohlfarth: Die „wohlbestallte Kirchenmusik“ im Lande Württemberg von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts am Beispiel Schorndorfs. Esslingen 1992, S. 97  f. Philipp Friedrich Böddecker: Sacra Partitura. Voce sola cum 2. sonat: […], Straßburg 1651: An den Kunst=Ehrenden Gönstigen Leser.

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dass eigentlich dem Kapellmeister diese Kompositionstätigkeit oblag, zu der sich Jommelli aber nicht entschließen konnte oder wollte.42 Die Gründe dafür, dass die Entstehungs- und Etablierungsgeschichte der Gattung im Südwesten nicht kontinuierlich verlief, waren sicher vielfältig. Dazu gehörte aber vermutlich auch, dass weder eine nachhaltige Förderung der Kirchenmusik, noch ein starkes Musikeramt oder die Verpflichtung der Kapellmeister eine Notwendigkeit zur Kantatenproduktion mit sich brachte. Dies aber ist kein Argument gegen die weitere Erforschung des insgesamt ansehnlichen Werkbestands, der nachweisbar und überliefert ist. Ob sich dabei die hier vorgestellten Fragerichtungen verstärken oder verflüchtigen werden, ist gegenwärtig offen.

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Vgl. das oben angeführte Zitat aus Landesarchiv Baden-Württemberg/ Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 21 Bü 610: Hofkapelle und Hofmusik: Acta Evangelische Hoff Capell Stuttgt. Kirchen Poesie zur Kirchen Musique de ao: 1743. 1744. 1745. 1746. 1747.

M ichael M aul

Leipziger Inspirationsquellen für Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten Es muss inzwischen nicht mehr eigens betont werden, dass Erdmann Neumeister mit seinem 1702 gedruckten Kantaten-Jahrgang1 kein ‚Reformwerk’ im Sinne einer völlig neu entwickelten Textgattung für die protestantische Kirchenmusik vorgelegt hat. Auch wurde nicht erst damit das durchgehend auf Bibeltexten basierende Geistliche Konzert des 17. Jahrhunderts durch diverse, von freigedichteten Formen bestimmte Textmischungen abgelöst. Verschiedene Quellenfunde der letzten Jahrzehnte und Studien zu den geistlichen Werken mancher Protagonisten der mittel- und norddeutschen Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben gezeigt, dass spätestens seit der Zeit um Caspar Zieglers Plädoyer für den Madri­galvers in musikalischen Dichtungen (1653)2 und den „Geistlichen Oden“ (den sogenannten ConcertoAria-Kantaten) von David Elias Heidenreich3 Mischformen aus madrigalischen, choralgebundenen und Bibeltext-basierten Texten in die Kirchenmusik eindrangen. Speziell das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts bildete eine spannende Transitionsphase, die vielgestaltige und facettenreiche Textmischungen hervorbrachte. Diese waren teilweise schon bzw. noch weit entfernt von den standardisierten Formen der traditionellen Spruch- und Choralkonzerte des 17. Jahrhunderts auf der einen Seite und der im frühen 18. Jahrhundert dann etablierten Form der sogenannten ‚Neumeister-Kantate‘ aus Arien, Rezitativen sowie bald auch Chorälen und Chören.4

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Zunächst anonym erschienen unter dem Titel: J.N.J. Geistliche Cantaten Uber alle Sonn-Fest- und Apostel-Tage, Zu einer, denen Herren Musicis sehr bequemen Kirchen-Music in ungezwungenen Teutschen Versen ausgefertiget. Anno 1702. Zu dem Jahrgang s. ausführlich Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006 (Schriften zur mitteldeutschen Musikgeschichte 13). Dort auch weiterführende Literaturangaben. Vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Miersemann im vorliegenden Band. S. Caspar Ziegler: Von den Madrigalen, einer schönen und zur Musik bequemsten Art Verse, wie sie nach der Italianer Manier in unserer Deutschen Sprache auszuarbeiten, nebenst etlichen Exempeln. Mit einer Einführung und Anm. hg. von Dorothea Glodny-Wiercinski. Frankfurt a. M. 1971 [ND der Ausg. Leipzig 1653] (Ars poetica. Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst 12). David Elias Heidenreich: Geistliche Oden auf die fürnehmsten Feste und alle Sonntage des gantzen Jahres. Halle 1665. S. hierzu etwa – neben der weiter unten genannten Literatur – Friedhelm Krummacher: Die Choralbearbeitung in der protestantischen Figuralmusik zwischen Praetorius und Bach. Kassel 1978 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 22), S. 303–305; Peter Wollny: Neue Forschungen zu Johann Kuhnau. In: Friedhelm Brusniak (Hg.): „Nun bringt ein polnisch Lied die gantze Welt zum springen“. Telemann und Andere in der Musiklandschaft Sachsens und Polens. Tagungsbericht Arolsen 1997. Sinzig 1998 (Arolser Beiträge zur Musikforschung 6), S. 185–195; Wolfram Steude: Zur Vorgeschichte der „Madrigalischen Kantate“ Erdmann Neumeisters. In: Schütz-Jahr-

https://doi.org/10.1515/9783110572810-004

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Die augenscheinliche Vielfalt der existierenden Formen, verbunden mit einer noch immer nicht systematisch erfolgten Sichtung der überlieferten Quellen und dem Fehlen einer Studie, die die Entwicklung der protestantischen Kirchenmusik insgesamt von Schütz zu Bach und Telemann gattungsübergreifend nachzeichnen sollte,5 machen es nicht leicht, den tatsächlichen ‚Neuigkeitswert‘ von Neumeisters ersten Kantatentexten zu bestimmen. Dennoch möchte ich in der vorliegenden Studie auf der Basis von ausgewählten Fallbeispielen aus dem Umfeld der Leipziger Kirchenmusik des ausgehenden 17. Jahrhunderts schlaglichtartig einige ‚Reformversuche vor der Reform‘ beschreiben. Sie sind für die Vorgeschichte von Neumeisters Geistlichen Cantaten insofern bedeutsam, als sie nachweislich von ihm zur Kenntnis genommen wurden. Ein außerordentlich frühes, wenn nicht das früheste Beispiel für einen madrigalischen Text als Libretto einer Leipziger Kirchenmusik, das den Inhalt der relevanten Evangelien- und Episteltexte paraphrasierte und ausdeutete und damit gewissermaßen in Konkurrenz mit der Predigt trat, lieferte der – damalige Theologiestudent – Caspar Ziegler, vier Jahre bevor er seine berühmte Schrift Von den Madrigalien veröffentlichte. Es handelt sich um eine Musik auf den ersten Weihnachtsfeiertag 1649, die laut dem erhaltenen Textdruck im Gottesdienst der Leipziger Paulinerkirche aufgeführt wurde und mit den Worten „Entsetze dich, Natur“ beginnt.6 Der Titel des Textdruckes lautet: Caspar Zieglers | Auff das H. Weihnacht-Fest, | Zu der | Von | Johann Rosenmüllern | In der Pauliner Kirch | Auff den Ersten Feyer-Tag | angestellten | Musik | Vorentworffener | Text | Gedruckt zu Leipzig. gey Fried. Lanckischen S. Erben, 1649.7

Die Dichtung8 (Abbildungen 1–2) zeigt bereits viele Merkmale von Zieglers – später propagiertem – Madrigalvers nach italienischem Vorbild. Der Dialog eines „Chors der Wundernden“ und eines „Chors der Andächtigen“ über das Wunder von Christi Geburt, verfasst in abwechslungsreichen Versmaßen, wurde auch sehr ‚italienisch‘

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buch 23 (2001), S. 43–53; Irmgard Scheitler: Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madrigalischen Kantate. In: Bach-Jahrbuch 89 (2003), S. 197–220. Die bereits vorliegenden Studien beschränken sich auf bestimmte Gattungen, s. Krummacher: Die Choralbearbeitung (wie Anm. 4), und Michael Märker: Die protestantische Dialogkomposition in Deutschland zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach. Köln 1995. Erstmals besprochen in: Michael Maul: Musik und Musikpflege in Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg (1645–1660). Magisterarbeit (masch.). Leipzig 2001, S. 28–33; s. auch Ders.: Musikpflege in der Paulinerkirche im 17. Jahrhundert bis hin zur Einführung des ‚neuen Gottesdienstes‘ (1710). In: Eszter Fontana u.  a. (Hg.): 600 Jahre Musik an der Universität Leipzig. Studien anläßlich des sechshundertjährigen Jubiläums. Leipzig 2010, S.  33–56, hier: S.  37  f. und Peter Wollny: Studien zum Stilwandel in der protestantischen Figuralmusik des mittleren 17. Jahrhunderts. Beeskow 2016 (Forum Mitteldeutsche Barockmusik 5), S. 169–176. Exemplar in: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur: 8 P Germ. II, 6281. Sie basiert in Teilen auf Versen aus: Caspar Zieglers von Leipzig: Jesus Oder Zwantzig Elegien Uber die Geburt/ Leyden/ und Auferstehung unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi. Leipzig 1648; vgl. hier speziell die vierte und siebente Elegie (S. 20, 26 u. 39).

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Abb. 1

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in Musik gesetzt: Caspar Zieglers enger Freund, der damalige Thomasschullehrer Johann Rosenmüller, besorgte die Vertonung (die in den Beständen der Musikaliensammlung der Erfurter Michaeliskirche abschriftlich erhalten blieb),9 und man muss wohl davon ausgehen – nicht zuletzt aufgrund der Titelformulierung –, dass beide das damals wahrhaft experimentelle Projekt von Beginn an gemeinsam geplant hatten. Experimentell war das Projekt nicht nur in formaler und musikalischer Hinsicht. Auch der Umstand, dass der Text von keinem Geistlichen in Amt und Würden stammt, sondern von einem Theologiestudenten – der bald ins juristische Fach wechseln und später ein berühmter Wittenberger Kirchenrechtler werden sollte10 – ist bemerkenswert. Es war sicherlich eine bewusste Entscheidung, dass Entsetze dich, Natur nicht für eine Darbietung am ersten Weihnachtstag in den Leipziger Hauptkirchen entstand, sondern im studentischen Gottesdienst der Universitätskirche erklang.11 Und ob die Aufführung den Beginn einer anhaltenden Praxis solcher Kompositionen im Umfeld der Paulinerkirche markierte, ist ebenfalls fraglich. Zwar existieren – mehr oder weniger konkrete – Hinweise auf weitere ‚madrigalische‘ geistliche Werke des Autorenduos Rosenmüller und Ziegler,12 jedoch wurden vergleichbare textliche Experimente in der Leipziger Kirchenmusik in den Jahren nach Rosenmüllers Flucht und Zieglers Weggang aus der Messestadt (beides im Frühjahr 1655) nur in wesentlich schlichterer Form gewagt. Werner Fabricius etwa, Universitätsmusikdirektor ab 1656, schuf – zumindest zeitweise – für die Musikaufführungen an den Weihnachtsfeiertagen in der Paulinerkirche Werke, die auf neuen strophischen Dichtungen basierten, wartete zum Osterfest indes mit Bibeltext-basierten Dialogkompositionen auf und setzte am Pfingstfest auf traditionelle Spruchkonzerte in der Manier von Schützens Psalmen Davids – alle drei Formen präsentierte er nebeneinander in seinen 1662 publizierten Geistlichen Arien, Dialogen und Concerten.13

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus. ms. 18902. Zu Zieglers Biographie: Max von Waldberg: Ziegler, Kaspar. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Band 45 (1900), S. 184–187. Zu den damaligen Musikaufführungen in der Paulinerkirche an den drei hohen Festtagen, die traditionell in der Verantwortung des Thomaskantors lagen (offenbar hat Rosenmüller diese Aufgabe schon früh anstelle des oft bettlägerigen Thomaskantors Tobias Michael übernommen), s. Maul: Musikpflege in der Paulinerkirche (wie Anm. 6). S. die Anspielungen auf ein entsprechendes Stück „über Ostern“ von Ziegler (und möglicherweise Rosenmüller), erwähnt in Neumeisters Ziegler-Artikel (s.  u. Anm. 19); Maul: Musik und Musikpflege in Leipzig (wie Anm. 6), S. 31  f. Répertoire International des Sources Musicales [= RISM] A/I: F 35. Zu der Sammlung s. HansJoachim Buch: Die Tänze, Lieder und Konzertstücke des Werner Fabricius. Diss. Bonn 1961, passim; Friedhelm Krummacher: Spätwerk und Moderne. Über Schütz und seine Schüler. In: Anne Ørbaek Jensen (Hg.): Heinrich Schütz und die Musik in Dänemark zur Zeit Christian IV. Kongreßbericht Kopenhagen 1985. Kopenhagen 1989, S. 155–175, hier: S. 161–163; Märker: Die protestantische Dialogkomposition (wie Anm. 5), S. 99–101; Maul: Musik und Musikpflege in Leipzig (wie Anm. 6), S. 55–69; Maul: Musikpflege in der Paulinerkirche (wie Anm. 6), S. 46.

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Obgleich lediglich in Gelegenheitsdrucken überliefert, waren Caspar Zieglers frühe kirchenmusikalische Experimente Erdmann Neumeister sehr vertraut. In seiner Leipziger Dissertation De poëtis germanicis (1695) schwärmte Neumeister im Artikel „Ziegler“ über alle Maßen von dessen unvergleichlich „lieblichen und abgerundeten Versen“, die niemals schwülstig wären. Er regte in diesem Zusammenhang eine Art Gesamtausgabe von Zieglers Gedichten und Madrigalen an und unterstrich, dass er zu einer solchen einige rare Stücke beitragen könne, darunter offensichtlich jenes Weihnachtsstück, das er gemeinsam mit Rosenmüller 1649 ins Werk gesetzt hatte: Ein Mann, der – wie sogar der Neid bezeugt – größer ist als alles Lob und den zu nennen schon ihn loben heißt. […] die Poeten verehren kniefällig den großen Dichter in ihm, dem sogar Apoll selbst und seine Schwestern den Vorzug einräumen. Seine hervorragenden Schriften sind: IESUS, oder XX. Elegien, über die Geburth, Leiden und Auferstehung unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi, Leipzig 1648, 8°.14 Man kann nichts Lieblicheres und nichts Abgerundeteres als diese Verse finden […]. Der würde sich jedoch nicht vergeblich bemühen, der es unternähme, die Madrigale und auch die übrigen Gedichte unseres Ziegler zu sammeln, um sie in einem Band herauszugeben. Ich selber bewahre unter meinen Papieren nicht weniges auf, namentlich Gedichte, die von unserem Ziegler dem Johann Rosenmüller, dem gefeierten Musiker, zu Gefallen verfaßt wurden; auch habe ich ein Musik-Drama, den Kühleweins zur Hochzeit gewidmet.15 Dann ein Gedicht über die Geburt Christi,16 ebenso über Ostern.17 Weiter: Der an der Pleiße wohnenden Najaden erster FriedensGesang, an Herrn Johann Copy, Schwedischen Obristen18 etc. etc.19

Eine wirklich neue Form von standardisierten kirchenmusikalischen Texten tauchte auf den Leipziger Pulten dann Mitte der 1660er-Jahre auf – nachdem sie zuvor in Halle ins Werk gesetzt worden war: Thomaskantor Sebastian Knüpfer vertonte mindestens einmal, möglicherweise sogar zweimal den epochemachenden Jahrgang Geistliche Oden auf die fürnehmsten Feste und alle Sontage des ganzen Jahres aus der Feder des in Halle und Weißenfels wirkenden Poeten David Elias Heidenreich.20 Der Zyklus von Dichtungen, die stets mit einem Dictum (basierend auf dem jeweiligen Evangeliumstext) beginnen, auf das eine strophische Arie folgt, war 1664/65 für die hallesche Hofkapelle unter ihrem Kapellmeister David Pohle entstanden und 14 15

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Caspar Ziegler: Jesus Oder Zwantzig Elegien (wie Anm. 8). Textdruck: Die sechs Jahreszeiten bey der Kühleweinischen und Trogerischen Hochzeit/ Drama Caspar Zieglers Unter Johann Rosenmüllers Musick vorgestellet. Leipzig 1652. Exemplare in: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, 2 Sax. IV, 2 (35); Universitäts- und Landesbibliothek Halle, Kapsel 78 M 354, Nr. 138; Ratsschulbibliothek Zwickau, 31.1.8. (183). Sicherlich der Textdruck zu „Entsetze dich Natur“ (s. Anm. 7). Nicht nachweisbar. Nicht nachweisbar. Deutsche Übersetzung des Artikels Ziegler (Caspar) in: Erdmann Neumeister: De poёtis germanicis. Hg. u. übers. v. Franz Heiduk in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern 1978 [ND der Ausg. (Leipzig?) 1695], S. 267  f. Heidenreich: Geistliche Oden (wie Anm. 3). Zu Elias Heidenreichs Geistlichen Oden, auf die fürnehmsten Feste, und alle Sonntage des gantzen Jahres, Halle 1665, als Muster für die Ausprägung der sogenannten Concerto-Aria-Kantate s. Gottfried Gille: Der Kantaten-Textdruck von David Elias Heidenreich, Halle 1665, in den Vertonungen David Pohles, Sebastian Knüpfers, Johann Schelles und anderer. In: Die Musikforschung 28 (1985), S. 81–94.

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wurde – auf der Basis des gedruckten Textes – vielfach andernorts vertont. Knüpfers Vertonung dürfte zeitnah zur Entstehung der Dichtungen, wenn nicht ebenfalls 1665, entstanden sein.21 Jedenfalls bedankte sich Knüpfer zwei Jahre zuvor in der Vorrede zu seinen gedruckten Lustigen Madrigalien und Canzonetten überschwenglich bei seinem „sonderbahren guten Freunde“22 Heidenreich für die Erstellung mancher Verse für seine Madrigalien-Sammlung. Offenbar standen er (geb. 1633) und der fast gleichaltrige Heidenreich (geb. 1638), ein gebürtiger Leipziger, in sehr enger Beziehung. Inwiefern Heidenreichs sogenannte Concerto-Aria-Kantaten23 auch Neumeister (noch) als Inspirationsquelle dienten, bleibt offen – in seinem Heidenreich-Artikel in De poëtis germanicis lobt er zwar dessen „Opern und Dramen, die im Theater zu Halle und Weißenfels aufgeführt wurden“ für die „Erhabenheit ihres Stils“, räumt aber auch ein, sie hätten „ungerechte Behandlung durch unsere Zeit erfahren“, wovon sie „befreit“ werden müssten.24 Auf Heidenreichs kirchenmusikalische Texte kommt Neumeister jedoch nicht zu sprechen. Sucht man nach Formen, die über die in Heidenreichs Jahrgang bereits angelegte Kombination aus Bibelwort (basierend auf den Perikopen) und – damals noch strophischer – Arie auch dem rezitativischen Gesang Platz in einer kirchenmusikalischen Textmischung einräumten, so richtet sich der Blick zunächst auf ein genuin Leipziger Jahrgangsprojekt, das am ersten Sonntag nach Trinitatis 1683 vom Thomaskantor Johann Schelle begonnen wurde. Es wurde in den einschlägigen Arbeiten zur Gattungsgeschichte der Kantate zwar stets zitiert, jedoch in seiner Bedeutung erst in jüngerer Zeit ausführlicher gewürdigt.25 Den Grund hierfür liefert eine schlechte Quellenlage, denn wir wissen von dem Projekt nur durch einen Bericht im Tagebuch des Thomasschulrektors Jacob Thomasius. Dieser berichtet Folgendes: Schelle habe am ersten Trinitatissonntag 1683 die Neuerung eingeführt, vor der Predigt anstatt 21

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Spätestens wohl 1668/69; s. Michael Maul: Knüpfer, Sebastian. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher [= MGG2]. Personenteil 10, Kassel u.  a. 2003, Sp. 355–358, hier: Sp. 357; außerdem Ders.: „Dero berühmbter Chor“ – Die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren (1212–1804). Leipzig 2012, S. 134. Sebastian Knüpfer: Lustige Madrigalien und Canzonetten (1663). Neuausgabe hg. v. Bernd Baselt, eingel. v. Peter Wollny. Madison 1999 (Recent Researches in the Music of the Baroque Era 97). Zur Terminologie s. Friedhelm Krummacher: Kantate. In: MGG2. Sachteil 4. Kassel u.  a. 1994, Sp. 1741. Neumeister: De poёtis germanicis (wie Anm. 19), S. 184. An älteren Darstellungen s.: Sebastian Knüpfer, Johann Schelle, Johann Kuhnau: Ausgewählte Kirchenkantaten. Hg. u. eingel. v. Arnold Schering. Leipzig 1918 (Denkmäler Deutscher Tonkunst, 1. Folge, Bd. 58/59), S. V; Johann Schelle: Actus Musicus auf Weihnachten. Hg. v. Bernd Baselt. Kassel u.  a. 1965, S. III; Krummacher: Die Choralbearbeitung (wie Anm. 4), S. 305; an neueren: Peter Wollny: A collection of seventeenth-century vocal music at the Bodleian Library. In: Schütz-Jahrbuch 15 (1993), S. 77–108, besonders S. 88–99; Maul: „Dero berühmbter Chor“ (wie Anm. 21), S. 120–123; und: Leipzig Church music from the Sherard Collection. Eight Works by Sebastian Knüpfer, Johann Schelle, and Johann Kuhnau. Hg. v. Stephen Rose. Middleton/ Wisconsin 2014 (Collegium Musicum Yale University. Second Series 20).

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der bislang üblichen, angeblich zumeist lateinischen Figuralmusik (oft italienischer Autoren) eigene deutschsprachige Stücke aufzuführen, die den jeweiligen Evangeliumstext zum Gegenstand hatten und um eingefügte Choräle, freigedichtete Arien und offenbar auch Rezitative bereichert waren. Doch das nach Schelles Plan als vollständiger Jahrgang angelegte Projekt suchte der regierende Bürgermeister und Vorsteher der Thomasschule Christian Lorenz von Adlershelm zu stoppen. Im Vorfeld des Weihnachtsfestes wies er in seiner Funktion als Schulvorsteher den Kantor an, die Praxis künftig abzuschaffen und wieder zu Werken italienischer Autoren zurückzukehren. Schelle ließ sich von der – offenbar nur mündlich erteilten – Dienstanweisung jedoch nicht einschüchtern und erhielt Beistand von Thomasius und dem Superintendenten Lehmann. Thomasius berichtet in seinem Tagebuch am 22. Dezember 1683 ausführlich über den Vorgang:26 Ante merid. adit me Cantor Joh. Schelle et significat, daß ihm Consul Laurentius [d.  h. Christian Lorenz von Adlershelm] Antistes scholae […] entbiethen lassen, daß er negstkünfftig bey dem Weynachtsfest in den Kirchen die Evangelia vor der predigt figuraliter musiciren zu lassen numehr auffhören solte. De hoc toto negotio memoranda haec veniunt.27 Man hat sonst in beyden Stadtkirchen an Sonnund Festtagen bey den Frühestunden nach Absingung des Evangelii, ehe das Symbolum: Wir gleuben all an einen Gott, abgesungen worden, Musicam figuralem, wozu auch instrumentalis gebrauchet worden, pflegen hören zu lassen, deren Textus latini, und die Composition wol mehrentheils a Musicis Italis verfertiget. An statt solcher so genanten Italienischen Music hatte der Cantor in diesem Jahr 1683. Dominica I. post Trinit. d. 10. Junii angefangen die gewöhnlichen Evangelia figuraliter absingen zu lassen, iedoch nicht in beyden kirchen zugleich, sondern wechselsweise, bald zu S. Thomae, bald zu S. Nicolai. Bey dieser Music seind die Evangelia stückweise und hierbey theils Lutheri deutsche version von Wort zu Wort, theils (wenn nemlich gewisse personen redend eingeführt werden,) deutsche Reimen (wiewol auch nicht allezeit) musiciret, hierunter auch strophae gewöhnlicher Kirchenlieder wechselsweise, item deutsche Ariae figuriret worden. […] Die abschrift solcher Texte hat mir auch der Hr. Cantor communiciret.

Schelle versuchte nun, zumindest die Genehmigung für eine Fortführung des Projektes bis zum Trinitatisfest 1684 zu erreichen, laut Thomasius: „damit er also einen gantzen Jahrgang hiermit erfüllen könte, zumahl weil ihm bewust, daß solche Musica Evangelica denen Auditoribus bisher wohl gefallen.“ Jedoch soll der Bürgermeister Lorenz – laut Thomasius – dieses Argument nicht gelten gelassen und gefordert haben, dass die ganze Kirche „seinem Geschmack gehorche“:

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Das Tagebuch ist verschollen; die Wiedergabe der Zitate erfolgt nach der Edition des Tagebuches: Acta Nicolaitana et Thomana. Aufzeichnungen von Jakob Thomasius während seines Rektorates an der Nikolai- und Thomasschule (1670–1684). Hg. v. Richard Sachse. Leipzig 1912, hier: S. 652–654. Für die Übersetzung der lateinischen Passagen bin ich Almuth Märker (Universität Leipzig) zu Dank verpflichtet. D.  h.: In dieser Angelegenheit sind folgende Dinge zu bedenken.

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Michael Maul

[…] es bliebe dabey, daß er numehr hiermit auffhören solte, es weren auch leute zu finden, welchen solche Evangelische Musica nicht gefiele, die kirchenlieder, so dabey mit unterlieffen, könte man wol zu hause singen (atque aliud est talia Cantica figuraliter audire, aliter more consueto decantare.)28 […] Atque hoc ipso prodidit, parum sibi placere devotionem ex Evangeliis item Canticis Ecclesiasticis ita in omnium Auditorum tam plebejorum (cum haec omnia cantentur germanice) quam eruditorum animis hactenus excitatam, (wie denn iederman bisher diesen gebrauch, quantum scio, excepto Laurentio, ihme sehr wol gefallen und sich dadurch zur andacht bewegen lassen,) magis placere sonos Italicae aut similis Musicae absque ulla devotione aures implentis: cui stomacho suo voluit ipse obtemperare totam Ecclesiam.29

Rektor Thomasius und Superintendent Lehmann ging dieses Maß an Selbstherrlichkeit des Bürgermeisters Lorenz zu weit. Sie erreichten, dass der Stadtrat mehrheitlich den Beschluss fasste, Schelle dürfe seinen Jahrgang Evangelien-Musiken weiterführen – ganz zum Unmut des Bürgermeisters (und Großstifters für die Thomasschule) Lorenz, der wenige Wochen später, am 7. Februar 1684, starb.30 Peter Wollny hat darauf hingewiesen, dass sich möglicherweise eine Vertonung aus diesem Jahrgang innerhalb der Sherard Collection in der Bodleian Library in Oxford erhalten hat; zumindest lässt sich die Textmischung in dem dort überlieferten Stück „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ in allen Details mit den Hinweisen von Thomasius auf die textliche Gestalt der Evangelien-Musiken in Einklang bringen. Zwar weist die Quelle in der Sherard Collection auf dem Titel eine Bestimmung für den 14. Sonntag nach Trinitatis aus, wohingegen der vom Tenor – hier ausdrücklich als „Evangelist“ bezeichnet – rezitierte Text31 das Evangelium für den 12. Sonntag nach Trinitatis repräsentiert. Jedoch dürfte dieser Umstand eher auf eine veränderte Zweckbestimmung der Abschrift als auf den ursprünglichen Anlass der Komposition zurückzuführen sein. Mindestens zwei weitere erhaltene Kompositionen Schelles folgen ebenfalls der besagten Struktur: „Nun lob mein Seel’ den Herren“, gerichtet auf den zweiten

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D.  h.: und es ist eins, derlei Choräle figural gesungen zu hören, etwas anderes, sie nach gewohnter Weise zu singen. D.  h.: Und er [Bürgermeister Lorenz] ließ in dieser Angelegenheit verlautbaren, daß eine Andacht, die aus den Evangelientexten und Kirchenliedern, so in den Gemütern aller Zuhörer – sowohl der einfachen Leute (weil sie das alles deutsch singen) als auch der Gebildeten – erweckt wird, ihm persönlich wenig zusage (wie denn iederman bisher diesen gebrauch, soviel ich weiß, außer dem Bürgermeister Lorenz, ihme sehr wol gefallen und sich dadurch zur andacht bewegen lassen,). Und [Lorenz ließ weiter verlautbaren], daß ihm mehr die Klänge italienischer oder ähnlicher Musik gefielen, die ohne jede Andacht die Ohren erfüllten. Er selbst wollte, daß diesem seinem Geschmack die ganze Kirche gehorche! S. die Ausführungen zu Christian Lorenz von Adlershelm bei Maul: „Dero berühmbter Chor“ (wie Anm. 21), S. 114–123. Markus 7,31–37: Heilung eines Taubstummen.

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Pfingstfeiertag,32 sowie „Und da die Tage ihrer Reinigung“,33 komponiert auf Mariä Reinigung. In allen drei Stücken wird der vollständige Evangeliumstext in der Tat „stückweise“, also unterbrochen von Arien, Strophen bestimmter „gewöhnlicher Kirchenlieder“ oder Chören, in der Art eines Secco-Rezitatives vorgetragen: in zwei Fällen von einem Tenor, hingegen in dem Pfingststück von einem Bass – in zwei der drei Quellen wird der Sänger der Rezitative ausdrücklich als „Evangelist(e)“ bezeichnet. Wenn jedoch wörtliche Rede im zugrundeliegenden Evangelium erscheint, also „wenn nemlich gewisse personen redend eingeführet werden“ und ganz generell gegen Ende der Vertonung des Evangeliums, wird der Inhalt – analog zu Thomasius’ Beschreibung – oft kunstvoll paraphrasiert, also in „deutschen Reimen“ wiedergegeben, und in der Form von ariosen Gebilden oder Chorsätzen musiziert. Hier überblicksartig der Aufbau der einzelnen Stücke mit den entsprechenden Text­ incipits: Nun lob mein Seel, den Herren Auf den 2. Pfingstfeiertag, Evangelium: ­Johannes 3,16–21 (Jesus und Nikodemus). 1. Sonata 2. Chorische Choralbearbeitung: Nun lob mein Seel, den Herren 3. Rezitativ (Bass): Also hat Gott die Welt ­ge­liebet (Johannes 3,16) 4. Aria: Wer kann die große Lieb ergründen 5. Rezitativ (Bass): Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt (Johannes 3,17) 6. Aria: Jesu, unser Seelenheil ist allein auf dich gegründet 7. Rezitativ (Bass): Wer an ihn gläubet, der wird nicht gerichtet (Johannes 3,18) 8. Chorische Choralbearbeitung: Er hat uns wissen lassen sein heiligs Recht und sein Gericht (Strophe 2 von „Nun lob mein Seel“) 9. Rezitativ (Bass): Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt kommen ist (Johannes 3,19) 10. Aria (Duett): Du wertes Licht, gib, daß wir dich umfassen

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Durch Adams Fall ist ganz verderbt Auf den 14. [recte: 12.] Sonntag nach ­Trinitatis, Evangelium: Markus 7,31–37 (Heilung eines Taubstummen). 1. Sonata 2. Chorische Choralbearbeitung: Durch Adams Fall 3. Rezitativ „Evangelist“ (Tenor): Und da er wieder ausging von den Grenzen Tyri und Sidon (Markus 7,31) 4. Aria: O, wie manche saure Reise 5. Rezitativ „Evangelist“: Und sie brachten Jesu einen Tauben (Markus 7,32) 6.1.  Aria: Ach, lege doch nur deine Hand 6.2.  Chor: Ja, rühre seinen stummen Mund 7. Rezitativ „Evangelist“: Und er nahm ihn von dem Volk besonders (Markus 7,33–35) 8. Aria: Großer Gott, dem wir vertrauen 9. Chorische Choralbearbeitung: Wer hofft in Gott und dem vertraut (7. Strophe von „Durch Adams Fall“) 10. Rezitativ „Evangelist“: Und er verbot ihnen, sie sollten’s niemand sagen (Markus 7,36)

Überliefert innerhalb der Bokemeyer-Sammlung, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus. ms. 19780(1). Neuausgabe in: Johann Schelle (1648–1701): 11 Geistliche Konzerte und Kantaten. Hg. von Bernd Koska u. Roland Wilson. Leipzig 2017 (Denkmäler Mitteldeutscher Barockmusik II/11). Ebd., Mus. ms. 19784. Neuausgabe ebenfalls in Schelle: 11 Geistliche Konzerte (wie Anm. 32); eine Besprechung des Stückes bereits bei Friedrich Graupner: Das Werk des Thomaskantors Johann Schelle 1648–1701. Wolfenbüttel 1929, S. 49–56 und in Krummacher: Die Choralbearbeitung (wie Anm. 4), S. 305  f.

60 11. Rezitativ: Wer Arges tut, der hasst das Licht (Johannes 3,20–21) 12. Chor: „So hilf nun, du liebreicher Herr, daß wir in dir all unser Tun anfangen und vollenden. Es soll sich unser Herz dir ganz und gar ­verpfänden bis wir in deiner Liebe ruhn und ohne Zeit und Neid nach diesen Finsternissen, dich, o du wahres Licht, in Ewigkeit genießen.“

Michael Maul 11. Chor: „Er hat alles wohlgemacht, denn die Tauben macht er hören und die Stummen kann er lehren, daß sie sagen mit Bedacht: Er hat alles wohl gemacht. Sollten wir ihn nicht erheben, weil er unser Leib und Leben so genädig nimmt in Acht? Er hat alles wohlgemacht. Drum wollt er uns auch erlösen von so viel und manchem Bösen, daß der Feind uns zugedacht: Er hat alles wohl gemacht. Ja, er wird’s auch ferner machen und regieren unsre Sachen, bis wir singen Tag und Nacht: Er hat alles wohlgemacht.“ (Paraphrase von Markus 7,37 und freie ­Dichtung)

Und da die Tage ihrer Reinigung Auf das Fest Maria Reinigung, Evangelium: Lukas 2,22–32 (Darstellung des Herrn und Begegnung mit dem greisen Simeon). 1. Sonata 2. Rezitativ „Evangelista“ (Tenor): Und da die Tage ihrer Reinigung (Lukas 2, 22–24) 3. Aria (Duett), 2 Strophen: Christus, des Gesetzes Herr 4. Rezitativ „Evangelista“: Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem (Lukas 2,25) 5. Aria: O wohl, wer stets mit Simeon 6. Rezitativ „Evangelista“: Und ihm war eine Antwort worden (Lukas 2,26–27/1) 7. Chor/ Choral: „Fürwahr, euch sage ich: Wer mein Wort hält und glaubt an mich, der wird nicht kommen ins Gericht und den Tod ewig schmecken. Und ob er gleich hier zeitlich stirbt, mitnichten er drüm gar verdirbt.“ (Strophe 6 des Chorals „Herr Jesu Christ, wahr’r Mensch und Gott“, Paraphrase von Johannes 11,25–26) 8. Rezitativ „Evangelista“: Und da die Eltern das Kind Jesum in den Tempel brachten (Lukas 2,27/2–28) 9. Rezitativ accompagnato/ Arioso Basso: Herr, nun lässest Du Deinen Diener fahren (Lukas 2,29–32) 10. Chor-Aria/Choral: „O Jesu, laß uns auch mit gutem Fried und Freuden, wie hier den Simeon, von dieser Welt abscheiden. Gib uns, kömmt Zeit und Stündelein, und laß uns für und für dir ganz ergeben sein. Ach Herr, vergib all unser Schuld, hilf, daß wir warten mit Geduld, bis unser Stündlein kömmt herbei, auch unser Glaub stets wacker sei; dei’m Wort zu trauen festiglich, bis wir einschlafen seliglich (freie Dichtung und letzte Strophe des Chorals „Herr Jesu Christ, wahr’r Mensch und Gott“)

Aus einem früheren Eintrag in Thomasius’ Tagebuch geht hervor, dass der Textdichter jenes Evangelien-Jahrgangs Paul Thiemich war. Hauptsächlich bezogen

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auf eine – ebenfalls von Thymich gedichtete – Nachtmusik, die der Student Johann Kuhnau zuvor anlässlich des Besuchs des Kurfürsten in den Leipziger Straßen aufgeführt hatte, notierte der Rektor am 8. Oktober 1683: Ante meridiem oblatum est mihi mittente Paulo Thymichio, Collaboratore scholae nostrae, quem ea de re rogaveram Carmen Germanicum in großfol., welches am negstverwichenen ♃ 4. Octobr. die sämptlichen Studiosi allhier auff der Universität Leipzigk Ihr. Churf. Durchl. unserm gnädigsten Herrn Joh. Georgio III. (so sich bey itziger Michaelismeß allhier eingefunden, und sein Quartier im Amlungischen Hause am Marckt genommen,) in einer schönen Nacht-Musik darstellen lassen. Carminis hujus initium: Mercurius: Komm, Fama, komm mit deiner Welt-Trompete etc. Autor autem Carminis fuerat is ipse, quem nominavi Scholae nostrae Collaborator Paul. Thymich, est enim poeseos Germanicae peritissimus, wie er denn auch bisher die Carmina Evangelica, so des Sontags itzo vor der Frühepredigt musiciret werden, auffgesetzet.34

Thiemich, geboren 1656 in Großenhain in Sachsen und ab Mai 1669 wohl für insgesamt sechs Jahre Thomaner unter Sebastian Knüpfer, diente von 1681 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1694 (begraben am 27. September) als Kollaborator (Hilfslehrer) an der Thomasschule. Obwohl das Amt miserabel bezahlt war,35 wurde Thiemich in dieser Position bald zugleich der zentrale Librettist für die Opernaufführungen am Weißenfelser Hof – der dortige Kapellmeister Johann Philipp Krieger, seit Juni 1690 Pate von Thiemichs Sohn Johann Paul,36 bezeichnete ihn schon 1690 als den „Verfasser unserer seitherigen Singspiele“.37 Thiemichs Ruhm strahlte sogar so weit, dass der Dresdner Hofkapellmeister Nikolaus Adam Strungk beim Start seiner Leipziger Opernunternehmung – obwohl er zunächst vor allem auf höfisches Personal setzte38 – die Erstellung der ersten Libretti vollständig in die Hände Thiemichs legte. Alceste, das Erstlingswerk für das Opernhaus am Brühl (Ostermesse 1693), sicherlich ebenso Nero (Michaelismesse 1693) und wohl auch die beiden folgenden Operntexte, Syrinx (Neujahrsmesse 1694) und Julius Caesar (Michaelismesse 1694), flossen aus Thiemichs Feder.39 Mit anderen Worten: Sie rührten von einem Hilfs-

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Acta Nicolaitana et Thomana (wie Anm. 26), S. 638; bereits in einer Bemerkung zum Ratswahlgottesdienst im August 1683 bemerkt Thomasius, daß die die dort aufgeführte Musik „einige teutsche Reime“ enthielt, „so Paulus Thymich collaborator auffgesetzet“ (ebd., S. 623) – die aber strenggenommen nicht zum Evangelien-Jahrgang gehörten. S. Maul: „Dero berühmbter Chor“ (wie Anm. 21), S. 160–166. Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720). Freiburg 2009 (Voces. Freiburger Beiträge zur Musikgeschichte 12), S. 1127. Vorrede seiner gedruckten Ariensammlung: Johann Paul Thiemich: Auserlesene In denen Dreyen Sing-Spielen: Flora, Cecrops und Procris enthaltene Arien, Nürnberg 1690. – Neben den im Titel des Ariendrucks genannten Werken ist Thiemich noch das Libretto zu Camilla, Weißenfels 1694, zuzuschreiben; s. dazu Neumeisters Ausführungen unter Anm. 42. S. Maul: Barockoper in Leipzig (wie Anm. 36), S. 251, 1114  f. u. 1117  f. Die Autorschaft ist nur im Falle von Alceste durch zeitgenössische Dokumente belegt; zu den Argumenten für die Zuschreibung der folgenden Stücke s. ausführlich Maul: Barockoper in Leipzig (wie Anm. 36), S. 880  f., 989, 1025 u. 1127, und Erdmann Neumeisters Ausführungen zu Thiemich (s. Anm. 42).

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lehrer an der Thomasschule her, dessen Frau freilich eine allenthalben in Leipzig, Weißenfels und andernorts verehrte Operncantatrice war.40 Fast alle bekannten biographischen Informationen über das schillernde Paar verdanken wir wiederum Neumeister und seiner Dissertation. Er schwärmte 1695, unmittelbar nach Thiemichs Tod: Thiemich (Paul), aus Großenhain, Kollege an der Leipziger St. Thomas Schule. Hat kürzlich erst seine sterbliche Hülle abgelegt. Er ist besonders bekannt durch die sehr fein gearbeitete Art von Dramen, die wir den Italienern verdanken und zu der er wie geboren zu sein schien: aber als er an seine Oper: Camilla, Königin der Volscer, die er im Theater zu Weißenfels herauszubringen plante, eben schon die allerletzte Hand anlegen wollte, wurde er von einer Krankheit erfaßt […]. Wir bewundern auf jeden Fall die Geschmeidigkeit der Sprache Thiemichs und die Anmut, mit der die eingeschobenen sogenannten Arien und Chöre wirken; wir loben ihn über alles und sind ganz erstaunt, wenn dann die Melodien bekannter Tonkünstler, man denke an Strunck und Krieger, und Stimme und Vortragskunst der Gattin Thiemichs noch dazukommen, die bewundernswert lieblich und angemessen sind: Aber wozu braucht es der Worte? Die Sache selber wird sicher für diesen Mann sprechen, dem so oft von vielen Zuschauern im vortrefflichen Theater des erlauchten Fürsten Johann Adolf und in unserem neuen Leipziger Theater Beifall gespendet wurde. Es sollte doch endlich einer, der ein Freund oder Kenner dieser göttlichen Kunst ist, die komischen und anderen Gedichte dieses Mannes sammeln, die er stets mit einzigartiger Leichtigkeit und einzigartigem Glück hervorbrachte. Auch der ganzen gebildeten Welt muß er bekannt gemacht werden, wenn er auch bisher nur die Theater in Weißenfels und in der Lindenstadt Leipzig beglückte. Und auch der schon oben erwähnte bekannte Krieger, der aus drei Spielen [d.  h. Opern] Arien mit Melodien veröffentlichte,41 wird uns künftig seine Grazien nicht vorenthalten.42

Offen bleibt in Neumeisters enthusiastischem Plädoyer für Thiemichs Werke, ob dessen geistliche Musiktexte, namentlich der Evangelien-Jahrgang, über die Jahre 1683/84 hinaus in Leipzig oder anderswo Schule machten und wie Neumeister selbst über die Texte urteilte. Ersteres wäre denkbar, zumal keineswegs gesichert ist, dass die drei überlieferten Stücke sämtlich dem Jahrgang von 1683/84 entstammen, mithin Schelle das Konzept der Evangelien-Musiken aus Chören (madrigalisch oder basierend auf Bibelwort), Chorälen, freigedichteten Arien und Rezitativen (basierend auf den Evangelien) durchaus mehrfach oder über einen längeren Zeitraum zum Gegenstand seiner de-tempore-Stücke gemacht haben könnte. Eine Tradition dürfte der Jahrgang insofern begründet – oder bereits fortgesetzt – haben, als Schelle auch in späteren Jahren mehrfach seine Kirchenmusik zyklisch anlegte und seinen Jahrgängen jeweils ein bestimmtes formales Konzept zugrunde legte: 1689/90 etwa in seinem berühmten Jahrgang von Choral-Konzerten, dargeboten im Verbund mit Liederpredigten des Thomaspfarrers Benedict Carpzov;43 sodann 1690/91 mit einem an die Evangelientexte angelehnten Zyklus, Evangeli-

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Maul: Barockoper in Leipzig (wie Anm. 36), S. 1126  f. Bezieht sich auf die in Anm. 37 genannte Publikation. Originaltext in Latein; hier zit. nach Neumeister: De poёtis germanicis (wie Anm. 19), S. 25. Zu diesem Projekt s. Denkmäler Deutscher Tonkunst 58/59 (wie Anm. 25), S. XXXIII, und Markus Rathey: Schelle, Carpzov und die Tradition der Choralkantate in Leipzig. In: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2011 (2012), S. 185–210.

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sches Honig, auf Texte des Eilenburger Diakons Gottfried Erdmann – im Textdruck44 wird bei den einzelnen Dichtungen anfänglich auf das zugrundeliegende Evangelium verwiesen. Erdmanns Verse indes sind als strophische „Oden“ (Vorrede) auf die jeweiligen Evangelien strukturiert und verzichten auf Rezitative. Neumeister schätzte Erdmanns Verse sehr. In seiner Dissertation schrieb er: Ganz reinen Honig bringt er [Erdmann] ein, süßen Honig, der wohl jedermann schmecken wird. Er nährt sich selbst und jede gottergebene Seele nicht anders als die Bienen in den blühenden Wäldern. Wenn man dazu auch noch die lieblichen Melodien nimmt, die der bekannte Schelle, der Leiter des Leipziger Musik-Chores, den Sonntagen beizugeben pflegt, so möchte man sagen, müßten Zuhörer herbeischwärmen, geradeso wie die Bienen zu den Schellen.45

Womöglich 1691/92 vertonte Schelle dann den 1690 vom schlesischen Pfarrer – ehemals Leipziger Studenten – Johann Neunhertz im Druck vorgelegten Textjahrgang Evangelische Sabbaths-Freude (Zittau 1690).46 Zumindest haben sich einzelne Vertonungen daraus erhalten und weiß Neumeister sich zu erinnern – offenbar bezogen auf die Leipziger Kirchenmusik während seiner Studentenjahre: „Ein in jeder Beziehung gebildeter Dichter, dessen keusche, straffe, echt deutsche, anmutige und liebliche Art, von dem berühmten Schelle in Melodien gebunden, unseren Ohren in unseren Tempeln schon sehr oft schmeichelte.“47 1701 griff Schelle dann erneut auf Verse von Neunhertz zurück.48 Wenn auch Neunhertz’ Dichtungen (1691/92 und 1700/01) ebenfalls odenartigen Charakter haben und nicht die Vielfalt an Formen einschließlich rezitativischer Abschnitte aufweisen, wie dies Thiemichs Evangelien-Jahrgang ausgezeichnet hatte, scheint Schelle doch auch in den 1690er-Jahren auf derartige Mischformen zurückge44

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Evangelisches Honig oder Himmlischer und Hertzerquickender Trost, Vor allerhand bekümmertund Nothleidende Seelen, Aus den ordentlichen Sonn und fürnehmsten Fest-Tags-Evangeliis Durchs gantze Jahr zusammen getragen von M. Gottfried Erdmannen, bey der Stadt-Kirchen zu St. Nicolai in Eulenburg Diacono. Und in die Music übersetzt von Johann Schellen, der Music Direct. in Leipzig […]. Leipzig 1690 (VD17 1:664434D). Originaltext in Latein, hier zit. nach Neumeister: De poёtis germanicis (wie Anm. 19), S. 162. Johann Neunhertz: Evangelische Sabbaths-Freude/ Das ist Sonn- und Fest-Tägliche Andachten: vermittelst welcher Ein gläubiger Christ Durch Lehrreiche Hertzens-Gespräche mit Christo […] sich gottseelig ergötzet; samt einem Anhange von Biblischen Gesängen […]. Zittau 1690 (VD17 23:667372X). Neumeister: De poёtis germanicis (wie Anm. 19), S. 213. Belegt durch den Textdruck: Evangelische Hertz-Ermunterung, das ist, Musicalische Texte auff Alle Sonn- und Fest-Tage durchs gantze Jahr, da jedesmahl mit einem Biblischen Spruche der Anfang gemacht, so dann ein Theil des Evangelii mit untermengten Arien durchgeführt, und endlich mit einem Vers aus einem Kirchen-Gesange beschlossen wird, verfertiget von M. Johann Neunhertz und zu Leipzig musiciret durch Johann Schellen Anno Chr. 1701. Exemplar in der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg, erstmals nachgewiesen bei Tatjana Schabalina: ‚Texte zur Music‘ in Sankt Petersburg. Neue Quellen zur Leipziger Musikgeschichte sowie zur Kompositions- und Aufführungstätigkeit Johann Sebastian Bachs. In: Bach-Jahrbuch 95 (2008), S. 33–98, speziell S. 47–51. – Schelle plante demnach für das Jahr 1701 die Aufführung eines ganzen Jahrgangszyklus auf Texte von Neunhertz; sein Tod am 10. März 1701 dürfte diesen Plan aber durchkreuzt haben.

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griffen zu haben. Für den ersten Pfingstfeiertag 1693 hat sich ein Einzeltextheft zur Leipziger Kirchenmusik erhalten, das wiederum jene Zusammensetzung aufweist (Abbildungen 3–5). Es trägt den Titel: Die Pfingst-Epistel/ Aus dem 2. Capitel der Apostel-Geschichte/ Mit unterschiedenen Arien zusammen gesetzet/ Und Am Ersten Feyer-Tage in der Amt-Predigt zu S. Nicolai/ In der Vesper aber zu S. Thomas musiciret. […]49

Tatsächlich liefert hier nicht das Pfingst-Evangelium das textliche Gerüst zur Musik, sondern die Pfingst-Epistel; sie wurde laut Textdruck – sicherlich rezitativisch vertont – von einem „Evangelist“ vorgetragen (der Abschnitt Apostelgeschichte 2, Verse 7–11, sogar vom „Chor“) und ist immer wieder von frei gedichteten Arien und Chören unterbrochen; Choräle indes fehlen. Die stilistische und formale Nähe zu den Dichtungen der älteren Evangelien-Musiken legen die Annahme nahe, dass die Texte erneut von Paul Thiemich herrührten – der auch das Wochen zuvor über die Bretter gegangene Libretto zur Eröffnung des Leipziger Opernhauses geschaffen hatte. Zwar lässt das unpaginierte Textheft – es ist das älteste erhaltene zur regulären Kirchenmusik an den Leipziger Hauptkirchen – keine Rückschlüsse darauf zu, was an den übrigen Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres 1692/93 in Leipzig aufgeführt wurde. Doch ließe sich angesichts von Schelles damaliger Vorliebe für zyklische Formen mit guten Gründen postulieren, dass der Thomaskantor gemeinsam mit seinem Schulkollegen Thiemich spätestens zu diesem Zeitpunkt dem Jahrgang auf die Evangelientexte einen auf die jeweiligen Episteln folgen ließ. Dessen Entstehen hätte Erdmann Neumeister, von 1691 bis 1695 Student der Theologie und Poetik in Leipzig, neben dem Erklingen der Zyklen auf Texte von Erdmann und wohl auch Neunhertz unmittelbar verfolgen können; und angesichts der begeisterten Bemerkungen, die Neumeister über Thiemich, aber auch über Erdmann und Neunhertz 1695 in seiner Dissertation niederschrieb, dürften Schelles Jahrgangsprojekte überhaupt zentrale Impulse für Neumeisters eigenes Wirken als (Kantaten-)Textdichter gewesen sein. Dies wird unmittelbar greifbar in Neumeisters Poetischen Oratorien, also jenen frühen Dichtungen auf die Sonn- und Festtage eines ganzen Kirchenjahres, die er circa 1704 drucken ließ und die nach Ausweis seiner Vorrede partiell schon „in meinen Studenten-Jahren“ entstanden waren. Er hatte sie dann dem „Herrn Krieger“ in Weißenfels „communiciret“ und hernach auf „von der Hochfürstlichen [Weißenfelsischen] Herrschafft gnädigsten Befehl […] durch einen gantzen Jahrgang zu continuiren“ gehabt.50 Dieser erste Jahrgang Neumeisters steht in der Tradition sowohl

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Exemplar in der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg; erstmals nachgewiesen bei Schabalina: ‚Texte zur Music‘ (wie Anm. 48), S. 43  f. Gedruckt als Erdmann Neumeister: Poetische Oratorien. In: Herrn Erdmann Neumeisters Fortgesetzte Fünffache Kirchen-Andachten, in Drey neuen Jahrgängen, auf alle Sonn- und Fest- auch Apostel-Tage […]. Hamburg 1726 [ND der Ausg. Freiberg um 1704], S. 204–400.

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Abb. 3

von Heidenreichs Concerto-Arie-Kantaten als auch der odenartigen Dichtungen von Gottfried Erdmann und enthält nur gelegentlich eingestreute Choräle.51 Zugleich waren es natürlich die Produktionen am jungen Leipziger Opernhaus, in denen der Student Neumeister ab 1693 sozusagen an der Quelle die Prinzipien von Opernrezitativ und -arie studieren konnte. Dass er die Libretti und die Aufführungen eifrig rezipierte, belegen Neumeisters oben wiedergegebene Äußerungen in seiner Dissertation über Thiemich, zum anderen aber auch diejenigen zu Christian Ludwig Boxberg, der 1695 Thiemich in seiner Rolle als Verfasser von Strungks Operntex­51

Zu dem Jahrgang s. Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u.  a. 2005, S. 136 u. 146, u. Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik (wie Anm. 1), S. 28  f.

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Abb. 4

ten beerbte.52 Dies wird aber auch bezeugt durch eine auf Neumeisters in Leipzig gehaltene Poetik-Vorlesungen (um 1696) zurückgehende Passage in Hunolds poetologischer Abhandlung Die Allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen (Hamburg 1707). Hier werden Thiemichs Alceste und Nero (beide Leipzig 1693) als beispielhafte Opernlibretti hingestellt: Soll ich schließlich eine oder die andere Opera zum Exempel und zur Imitation recommendiren, so wüste ich keine bessere, als welche auf dem Weissenf[elsischen] Theatro recitiret worden. Jedoch bloß die Alcestis und der Nero rauben den andern den Preiß. Wolte man die Atalanta [Leipzig, Ostermesse 1695], der Intriguen halber, dazu nehmen, so möchte sich noch wohl etwas finden, welches ein curiöses Gemüthe contentiren kan.53

Wie eng Neumeisters persönlicher Kontakt zur Leipziger Operistenszene während seiner Studentenjahre gewesen sein muss, gibt ein an entlegener Stelle überliefertes Gedicht auf Neumeisters Hochzeit im Jahr 1697 zu erkennen. Es findet sich im handschriftlichen Protokollband zu den Zusammenkünften des „Görlitzischen Collegium Poeticum“, einer Vereinigung von Leipziger Studenten, die Absolventen des

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Über Boxbergs Libretti schreibt Neumeister: „die poetischen Arbeiten in seinem Museum, die er mich durchlesen ließ, vor allem Musikdramen [„Dramata inprimis Musica“], waren alle voll Kraft.“ Neumeister: De poёtis germanicis (wie Anm. 19), S. 147. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg 1707, S. 413.

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Görlitzer Gymnasiums waren und sich bei ihren regelmäßigen Zusammenkünften gegenseitig ihre neuesten Verse vortrugen. Diese wurden von den Gesellschaftsmitgliedern im Nachgang eigenhändig in einen Folianten eingetragen.54 Anfang 1698 verewigte hier ein gewisser Andreas Luther ein Gedicht mit dem Titel „Das Meister-Stücke in der Liebe, Wollte an der NeuMeister- und Meisterischen HochzeitFeyer, d. 24 Novembr. Anno 97 mit eilfertiger Feder entwerffen des Hr. Bräutigams ergebenster Brüderlicher Freund, Andreas Luther“ (Abbildungen 6–7).55 Der Autor war, wie Neumeister, Student; 1692 hatte sich Luther in Leipzig immatrikuliert. Um 1695 avancierte er zum ersten Tenor des örtlichen Opernhauses und heiratete kurz darauf Magdalena Anna, eine Tochter des Leipziger Operngründers Nikolaus Adam Strungk.56 Bis 1709 – dem Jahr, in dem Luther Stadt- und Domkantor in Merseburg wurde – stand er nicht nur regelmäßig auf der Bühne, sondern war nach dem Tod seines Schwiegervaters auch Mitorganisator der Leipziger Opernaufführungen. Luthers etwas holprige Verse auf die Hochzeit seines „brüderlichen Freundes“ Neumeister – mit der Schwester des Autors des nachmals erfolgreichen Opern­ librettos Der Carneval von Venedig (Weißenfels 1705)57 – bieten einen lebendigen Einblick in Neumeisters frühe Biographie. Über dessen schon bis 1698 in Leipzig erworbene Meriten heißt es hier: Endlich kam die Zeit heran zu den frohen Wander-Jahren, Da manch junger Pursche sucht etwas mehres zu erfahren, Dir gefiel das edle Leipzig nebst den Meistern dieser Stadt, Weil ein ieder unter Ihnen, warlich was besonders hat. Hier ist dein entbrandter Fleiß allererst recht angegangen, Hier hastu mit gutem Ruhm vor dich selbsten angefangen, Was bey unverdroßnen Hören deine Lehrer vorgebracht, ward bey Dir an andern Freunden bald zu gutem Nutz gemacht. Deine nette Poësie hat sehr vielen wohlgefallen, Dich erhob dis Studium hie und anderswo vor allen; Denn es war hie nächst den Worten die Invention galant, Drum es auch an vielen Orten gütige Patronen fand.

Wenn wir also nach den prägenden Vorbildern und Innovationsquellen für Neumeister und dessen ‚Kantatenreform‘ suchen, ist es gewiss zu kurz gegriffen, allein auf Johann Philipp Krieger und die Weißenfelser Hofopern zu verweisen.58 Sicherlich 54

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Zur Gesellschaft und zu den in der Universitätsbibliothek Leipzig erhaltenen Protokollbänden s. Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 70), passim, hier: S. 347  f. Universitätsbibliothek Leipzig, Rep. VI. 16b, Tomus I, fol. 73–74. Biographische Angaben zu Luther ausführlich in Maul: Barockoper in Leipzig (wie Anm. 36), S. 64–77 u. 1121  f. S. ebd., S. 384–386. Vgl. etwa Krummacher: Die Choralbearbeitung (wie Anm. 4), S. 344, und Scheitler: Neumeister versus Dedekind (wie Anm. 4), S. 215.

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hat Neumeister schon vor seiner Anstellung als örtlicher Hofdiakon (ab 1704) von dort manche Anregungen empfangen, zumal er bereits während seiner Jahre als Pfarrer im benachbarten Bibra (1696–1704) gelegentlich als Verfasser von Weißenfelser Opernlibretti (in der Nachfolge Thiemichs) belegt zu sein scheint.59 Einen ähnlich großen Eindruck dürften die innovativen Jahrgangsprojekte des Duos Johann Schelle und Paul Thiemich aus den 1680/90er-Jahre auf Neumeister gemacht haben, vereint mit den Darbietungen im Leipziger Opernhaus. Dass dieser Leipziger Einfluss kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, sei abschließend noch anhand einer weiteren Quelle untermauert, die an anderer Stelle ausführlich vorgestellt werden soll, die aber indirekt meine Beobachtungen untermauert.60 Innerhalb der Büchersammlung von Johann Christoph Gottscheds „Deutscher Gesellschaft“ hat sich ein Manuskript erhalten, das nach Ausweis des Zwischenbesitzers Johann Ernst Philippi (Professor in Halle) „ex Bibliotheca Pohliana“ stammt.61 Bei näherem Hinsehen erweist es sich als ein Diarium der Gottesdienste in der Merseburger Schlosskirche für den Zeitraum vom 1. Januar 1689 bis zum 3. Sonntag nach Trinitatis 1691. Es übermittelt die Texte zu sämtlichen Musikstücken (nebst Angaben zu den Komponisten), die in diesem Zeitraum aufgeführt wurden – zunächst unter der Leitung des Kapellmeisters Heinrich Groh und nach dessen Tod (1690) unter dem Kapellmeister und Schütz-Schüler David Pohle. Das Diarium bietet somit einen Überblick über das Repertoire der Merseburger Hofkapelle in jenen Jahren. Will man dieses mit einem Wort zusammenfassen, so wäre dies: höfisch. Aufgeführt wurden vor allem Werke der örtlichen Kapellmeister und der Kollegen an den benachbarten 59



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Einigermaßen sicher sind ihm die Libretti Die getreue Schäfferin Daphne, in einer Pastorelle und Bellerophon zuzuschreiben, die in [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 53), S. 356–393 und S. 414–466 als Beispiele abgedruckt sind. Der Abdruck der Daphne ist versehen mit der Vorbemerkung: „Von meiner Arbeit will ich folgendes zur Probe setzen.“; zu Bellerophon heißt es: „Ich gebe sie vor kein Meisterstücke aus, weil ich die wenigste Zeit auf dergleichen Art von Gedichten gewendet […]“. Daphne korrespondiert titelmäßig mit einem in Gottscheds Schauspiel-Verzeichnis für das Jahr 1698 bibliographierten Textdruck: „Die getreue Schäferin Daphne. Weißenfels. in Folio.“, von dem sich jedoch kein Exemplar erhalten zu haben scheint (s. Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts. Hildesheim u.  a. 1970 [ND der Ausg. Leipzig 1757], S. 266). Der bei Neumeister/Hunold abgedruckte Text bot offenkundig die Vorlage für eine Neufassung des Librettos, wie es zur Neujahrsmesse 1710 – vermutlich in der Vertonung Johann David Heinichens – über die Leipziger Opernbühne ging (Maul: Barockoper in Leipzig, wie Anm. 36, S. 952  f.). Auch zu Bellerophon hat sich kein Weißenfelser Textdruck aus der Zeit um 1700 erhalten, ebenso fehlt ein bibliographischer Beleg. Wohl aber liegt ein Weißenfelser Einzeltextdruck des – geringfügig veränderten – Librettos aus dem Jahr 1720 vor, gedruckt anlässlich einer Aufführung zum Geburtstag von Herzog Christian: Die vom Himmel geschützte Unschuld und Tugend Oder Bellerophon […] in einer Opera. Eine umfangreichere Darstellung zum im Folgenden behandelten Aufführungskalender der Merseburger Kirchenmusik 1689–1691 soll in Kürze im Schütz-Jahrbuch erfolgen. Universitätsbibliothek Leipzig, Rep. VI. 44.

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sächsischen Höfen, außerdem punktuell Wiener Repertoire und Stücke italienischer Provenienz. Hingegen Kompositionen städtischer Herkunft, namentlich die Werke der Leipziger Größen um Schelle und Knüpfer, die doch sonst in den zeitgenössischen Inventaren und Notensammlungen städtischer Provenienz das Repertoire bestimmten, findet man hier überhaupt nicht. Dies ist zwar nicht verwunderlich, weil auch aus dem zeitgleich geführten Aufführungskalender der Weißenfelser Hofkapelle um Johann Philipp Krieger – das nur die Textincipits der einzelnen Werke übermittelt, jedoch keine Angaben zur Struktur der Dichtungen bietet – sich eine ganz ähnliche Repertoirezusammenstellung ergibt.62 So gesehen kann es dann aber auch nicht verwundern, dass die Dichtungen, die der Merseburger Kirchenmusik zugrunde liegen, in keiner Weise eine Beeinflussung durch die experimentellen Textmischungen in Schelles Kirchenmusik im benachbarten Leipzig zeigen. Gepflegt indes wurde die Form des herkömmlichen Geistlichen Konzerts, basierend auf deutschem oder lateinischem Bibelwort, oder die strophische Arie. Am modernsten kommen noch die von Pohle – sicherlich auf der Basis seiner älteren Vertonung – wiederaufgeführten Concerto-Aria-Kantaten auf Texte von Elias David Heidenreich daher. Indes wirklich neuartige Textmischungen finden sich innerhalb des drei Jahre umfassenden Merseburger Aufführungskalenders nur für zwei Tage: Am jeweils dritten Feiertag des Weihnachts- bzw. Osterfestes wurden in der Schlosskirche während der Vesper dialogisch strukturierte Werke auf der Basis deutscher madrigalischer Texte musiziert – im Weihnachtsstück debattieren die Hirten und der Engel über die Bedeutung von Christi Geburt („Dialogus â 14.”);63 im Osterstück 1691 („Concert in Dialogo â 12.“) staunt Maria Magdalena über das leere Grab und wird sodann über das Wunder der Auferstehung Jesu in Kenntnis gesetzt; unmittelbar an das Stück schließt sich – folgerichtig – die Darbietung eines Magnificats an.64 Dass diese behutsam das traditionelle Schema aufbrechenden Werke jedoch nur auf einem ‚Nebenschauplatz‘ der Hochfeste erklangen, nämlich am dritten Feiertag in der Vesper, sie also gewissermaßen ein ‚Nachspiel‘ zum Fest boten, scheint eines deutlich zu machen: Offensichtlich wollte oder sollte David Pohle derlei Novitäten eben nicht in den Vordergrund der Hofgottesdienste stellen und in den Hauptgottesdiensten vielmehr auf traditionellen Formen der Kirchenmusik verharren. Möglicherweise kommen in diesem Umstand genau jene Vorbehalte zum Ausdruck, die der elitäre Leipziger Bürgermeister Lorenz von Aldershelm bereits 1683 vorbrachte, als ihm die deutschen madrigalischen Texte Thiemichs und die eingemengten Choräle, die man „doch besser zu Hause singen“ solle, als zu gemein und zu wenig kunstvoll für den Gottesdienst erschienen.

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Vgl.: Das Weißenfelser Aufführungsverzeichnis Johann Philipp Kriegers und seines Sohnes Johann Gotthilf Krieger (1684–1732). Kommentierte Neuausgabe bearb. u. hg. v. Klaus-Jürgen Gundlach. Sinzig 2001. Universitätsbibliothek Leipzig, Rep. VI. 44, fol. 209–211. Ebd., fol. 244–246.

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So gesehen wäre es umso mehr Neumeisters und sicherlich dann auch Johann Philipp Kriegers Verdienst gewesen, dass sie diesen de facto schon etwas älteren Ansatz einer deutschen Kirchenmusik aus Arien und Rezitativen (freilich ohne Choräle), der jedenfalls in Leipzig um 1700 schon eine gewisse Tradition hatte, überhaupt erst „hoffähig“ gemacht haben, und dessen Siegeszug sich dann nicht mehr aufhalten ließ.

Wolfgang M iersemann

Erdmann Neumeisters Geistliche CANTATEN von 1702 und die Anfänge einer Kantatendichtung in „ungezwungenen Teutschen Versen“. Forschungserträge und offene Fragen Wie der Untertitel „Forschungserträge und offene Fragen“ anzeigt, ist mein Beitrag als eine Art Forschungsbericht angelegt. Das heißt zunächst einmal, dass die Forschung zu dem im Obertitel genannten Thema mittlerweile einen Stand erreicht hat, der einen derartigen Bericht durchaus rechtfertigt. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind hier beachtliche Fortschritte erzielt worden, sodass eine Zusammenschau des Erreichten sinnvoll erscheint, zumal sich dieses in einer Vielzahl sehr verschiedenartiger und verstreut publizierter Beiträge darbietet. Außer germanistischen gilt es hier musikwissenschaftliche, theologische, historiographische und biographische Beiträge zu berücksichtigen, die als Aufsätze beziehungsweise Miszellen in Jahrbüchern, Tagungs- oder Katalogbänden, aber auch als Teile von Dissertationen, Quellen­pu­bli­ ka­tio­nen oder Dokumentensammlungen erschienen sind. Zugleich signalisiert der Untertitel aber auch die Absicht, möglichst deutlich solche Punkte zu benennen, die hier – bei allen Fortschritten der Forschung zum Gegenstand – noch immer ungeklärt sind. Bestandsaufnahme und Forschungsausblick – dies also die Doppelintention meines Aufsatzes, der sich in zwei Teile gliedert, überschrieben mit 1 Quellenkundlich-Bibliographisches und 2 Entstehungsgeschichtlich-Biographisches.

1 Quellenkundlich-Bibliographisches Bei Erdmann Neumeisters (1671–1756) hier thematisiertem ersten Kantaten-Jahrgang handelt es sich im wahrsten Sinne um ein Opus eximium, das als solches seit jeher die besondere Aufmerksamkeit von Forschern und Forscherinnen auf sich gezogen hat. Wie andere herausragende, am Anfangs- beziehungsweise Wendepunkt einer Gattungsentwicklung stehende Werke – man denke nicht zuletzt an die Geschichte der Oper – ist auch dieses Opus von einer merkwürdigen Aura umgeben. Außer einem sich hier bekundenden Sendungsbewusstsein des damals noch jungen Autors gehört dazu eine geradezu geheimnisumwobene Publikationsgeschichte. So brauchte es denn überaus lange Zeit, bis diese einigermaßen aufgehellt werden konnte. Und zu solchen Merkwürdigkeiten zählt schließlich auch, dass ausgerechnet die über viele Jahrzehnte so intensiv gesuchte Urausgabe des Werkes nicht lange nach ihrer Entdeckung der Forschung wieder entzogen worden ist, worauf an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird. Als Gewährsmann in Sachen Publikationsgeschichte galt über Jahrhunderte hinweg ein aus Schlesien gebürtiger Leipziger Literator namens Gottfried Tilgner https://doi.org/10.1515/9783110572810-005

Erdmann Neumeisters Geistliche CANTATEN von 1702

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(1691–1717), der als Herausgeber einer Sammlung von fünf „Jahr=Gängen“ geistlicher Poesien aus Neumeisters Feder, erschienen 1716 in Leipzig unter dem Titel Herrn Erdmann Neumeisters Fünfffache Kirchen=Andachten, einen gewichtigen Beitrag zur Verbreitung der neuartigen Kirchenmusiktexte des damals bereits in Hamburg wirkenden Dichter-Theologen geleistet hat. In Rede steht ein in der Forschungsliteratur häufig zitierter Abschnitt aus Tilgners Vorwort, dessen Beginn lautet: Was gegenwärtige Sammlung betrifft, so hat man die vier ersten Jahr=Gänge zwar bereits vor diesem eintzeln, iedoch nicht zum öffentlichen Verkauff, (ohne was mit dem allerersten durch heimlichen Nachdruck geschehen) sondern nur zum Gebrauch der Zuhörer in den Fürst= und Gräflichen Schloß=Kirchen, wo sie musiciret worden, im Drucke gesehen. Denn der erste ist 1700. auf Hoch=Fürstl. Gnäd. Befehl in die Capelle nach Weissenfels kommen.1

Ebendiese Passage ist es, in der die in der Literatur (so oder in anderer Form) zu findende Angabe „Weißenfels 1700“ als Vermerk von Erscheinungsort und -jahr der Erstauflage des ersten Neumeister’schen Kantaten-Jahrgangs ihren Anhalt hat.2 Quellenkundlich Neues bot erst Ute-Maria Suessmuth Viswanathan im bibliographischen Anhang ihrer Neumeister-Monographie von 1989, indem sie dort der Registrierung jenes von Tilgner erwähnten „heimlichen Nachdrucks“ von 1705 den Hinweis anfügte: CATALOGUS [das heißt der 1771 in Hamburg erschienene Auktionskatalog der Bibliothek Neumeisters, W. M.] S. 191 Nr. 238 nennt Geistliche Cantaten über alle Sonn-, und Festtage, 1702, ohne Autor. Wenn es sich dabei um Neumeisters Werk handelt, was nach dem Titel zu urteilen wahrscheinlich ist, wurde diese Ausgabe bisher nirgendwo erwähnt.3

Im Anschluss an diesen Hinweis habe ich selbst in einer Anmerkung meines Beitrags zum Bericht über das Weißenfelser Neumeister-Kolloquium von 1996 die Feststellung getroffen, dass „ein Zutagefördern“ der Erstedition des Werkes, wie sie in jener Kantatenausgabe von 1702 zu vermuten war, „einen bedeutsamen Fund im Zuge weiterer Quellenforschungen zur Geschichte der evangelischen Kirchenkantate darstellen (würde)“.4 Und eine ebensolche Trouvaille war kurz darauf dem Telemann-Forscher Wolf Hobohm bei Recherchen in der Hallenser Universitätsbi1

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Tit. Herrn Erdmann Neumeisters Fünfffache Kirchen=Andachten bestehend Jn theils eintzeln, theils niemahls gedruckten Arien, Cantaten und Oden Auf alle Sonn= und Fest=Tage des gantzen Jahres. Herausgegeben von G. T. Leipzig 1716, Vorrede, Bl. [)()(3r]. Vgl. die entsprechende Quellenangabe in: Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte. Hg. v. Werner Neumann. Leipzig 1974, hier unter: Quellennachweis zum Faksimile-Teil. I Drucke. A Gedichtsammlungen, S. 509. Ute-Maria Suessmuth Viswanathan: Die Poetik Erdmann Neumeisters und ihre Beziehung zur barocken und galanten Dichtungslehre. Ph.D. Diss. University of Pittsburgh 1989 (UMI 1996), Anhang C. II. Gedruckte Werke Neumeisters, S. 300 (Nr. 24a). Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ zu seinen „Geistlichen CANTATEN“ von 1704: ein literatur- und musikprogrammatisches „Meister=Stück“. In: Henrike Rucker

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Wolfgang Miersemann

bliothek vergönnt.5 Nach Hobohms glücklichem Fund eines Exemplars der Auflage von 17026 (Abb. 1) und den in seiner fünfseitigen Annotation gegebenen Erläuterungen erscheint die frühe Editionsgeschichte des Neumeister’schen Kantatenerstlings nunmehr in einem wesentlich klareren Licht. Ganz ohne Zweifel handelt es sich bei dem angezeigten bis dato „unbekannten, frühen Textdruck“ um jene legendäre Editio princeps des Werkes, die jetzt jedoch durch Hobohms kritischen Kommentar des Legendären weitgehend entkleidet ist. Diesem Kommentar zufolge erklärt sich nämlich Gottfried Tilgners Datierung jener Ausgabe aus deren Zusammenhang mit einem tatsächlich das Datum „1700“ tragenden anderen geistlichen Frühwerk Neumeisters, das allerdings nur als Manuskript überliefert ist, betitelt mit Poetische Früchte der Lippen, in Geistlichen Arien, über alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage, entsproßen aus Symbolis= Denck= und Wahlsprüchen meistentheils Durchlauchtigster Personen, und in die Hochfürstl. Sächs. SchloßCapelle zu Weißenfels zur Kirchen=Music übergeben von Erdmann Neumeistern. 1700.7 Doch so sehr ein derartiger entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang als Erklärung für Tilgners Jahresangabe einleuchtet, so unerfindlich bleibt noch immer der damit später verbundene bibliographische Vermerk „([erschienen in] Einzelhefte[n])“.8 Als Gewährsmann fungiert in diesem Falle kein Geringerer als der Bach-Biograph Philipp Spitta. Nach einer erklärtermaßen Tilgner folgenden9 Datierung des Neumeister’schen Debuts als Kantatendichter heißt es bei Spitta weiter: „Die Dichtungen beziehen sich auf die Sonn- und Festtage des gesammten Kirchenjahres; sie wurden einzeln gedruckt und jedesmal zum Nachlesen an die Gemeinde vertheilt.“10 In Max Seifferts Vorwort zu seiner 1916 erschienenen Auswahlausgabe von Kirchenkompositionen Johann Philipp Kriegers (1649–1725) kommt dann noch eine genaue Formatangabe hinzu: „Bei der erstmaligen Aufführung wurden die Texte einzeln im üblichen Kleinoktav gedruckt und den Kirchenbesuchern ausgehändigt.“11 Und in Dorothea Becks Dissertation von 1951 Krise und Verfall der protestantischen Kirchenmusik im 18. Jahrhundert wird aus der knappen Zusatz­information schließlich eine Schilderung, die etwas beinahe Salbungsvolles hat:

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(Hg.): Erdmann Neumeister (1671–1756): Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Weißenfels 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 51–74, hier: S. 70, Anm. 2. Wolf Hobohm: Ein unbekannter, früher Textdruck der Geistlichen Cantaten von Erdmann Neumeister. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. Jahrbuch 2000, S. 182–186. Vgl. ebd., S. 185, die Angabe in Anm. 13: „Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (HAu), Sign. AB 71 B 5/e, 11(6).“ Vgl. ebd., S. 183  f. Neumann (Hg.): Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte (wie Anm. 2), S. 509. Vgl. Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. Erster Band. Wiesbaden 1964 [Fotomechanischer ND der 4., unveränderten Aufl. Leipzig 1930], S. 467, Anm. 5. Ebd., S. 467. Max Seiffert (Hg.): Johann Philipp Krieger 1649–1725. 21 ausgewählte Kirchenkompositionen. Leipzig 1916 (Denkmäler Deutscher Tonkunst 53/54), Vorwort, S. LXXVI.

Erdmann Neumeisters Geistliche CANTATEN von 1702

Abb. 1: Titelseite der Erstauflage von Neumeisters erstem Kantaten-Jahrgang

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Wolfgang Miersemann

[…] Neumeister […] schrieb 1700 für ihn [Johann Philipp Krieger, W. M.] einen ganzen Jahrgang, d.  h. Kantaten für alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres […]. Die Texte wurden gedruckt und an den Kirchentüren verkauft, damit die Gläubigen die ihnen unbekannten Worte besser verstehen und der Musik eher folgen konnten.12

Solcherart bloße Behauptungen sind denn auch von Wolf Hobohm in seinem Kommentar gehörig in Zweifel gezogen worden, indem er feststellt: „Von diesen angeblichen frühen Einzeldrucken der jeweiligen Sonntagstexte gibt es keine Spur mehr. Einzeldrucke waren wohl auch noch gar nicht üblich.“13 Festzuhalten bleibt, dass Neumeisters Geistliche CANTATEN von Anfang an ein veritables Buch bildeten und nicht erst in der von Spitta und Seiffert verwendeten „zweyten Auflage“ von 1704, die immerhin in zwei Exemplaren überliefert ist.14 Ein von mir bald nach der Kunde von jenem Glücksfund angestellter erster Vergleich der Auflagen von 1702 und 1704 ergab, dass diese bis auf die Titelseite und eine in Letzterer hinzugekommene Widmung identisch sind: Auf eine 13-seitige Vorrede folgen auf 175 Seiten 83 nach dem Kirchenjahr angeordnete Kantatendichtungen in „Teutschen Versen“ plus ein „Versuch in [lateinischer] Sprache“ und schließlich eine Seite Errata. Offensichtlich handelt es sich bei jener „zweyten Auflage“ von 1704 um eine Titelauflage, auch wenn der Vermerk auf der Titelseite „auf Unkosten Eines guten Freundes“ den Anschein eines Neudrucks erweckt. Ein wünschenswerter genauerer Vergleich ist allerdings – dies ein schon erwähntes weiteres merkwürdiges Moment der Geschichte des Werkes – heute kaum noch möglich, gehört doch jene unikale Erstauflage von 1702 mit zu den Abertausenden von historischen Drucken, deren die Hallenser Universitätsbibliothek durch nach 1990 erhobene Rückübereignungsforderungen verlustig ging. Schließlich müssen noch zwei quellenkundliche Beiträge zu den Geistlichen CANTATEN erwähnt werden, die – ausdrücklich an Hobohms Annotation anknüpfend – beide ebenfalls im MBM Jahrbuch erschienen sind. Im Jahrbuch 2003 konnte Irmgard Scheitler die Entdeckung gleich Zweier weiterer früher Drucke von Neumeisters Geistlichen Cantaten15 vermelden, nämlich eines bereits 1704 produzierten Schleizer und eines Augsburger Druckes von 1708. Und im Jahrbuch 2004 antwortete darauf Ute Poetzsch-Seban mit Weiteren Aspekten zu den Geistlichen Kanta-

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Dorothea Beck: Krise und Verfall der protestantischen Kirchenmusik im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg [1951] 1953 (masch.), S. 139. Hobohm: Textdruck (wie Anm. 5), S. 183  f. Zu dem bekannten Exemplar der Berliner Staatsbibliothek (Sign. Slg Wernigerode Hb 1256) kommt noch ein in Viswanathan: Neumeister (wie Anm. 3) verzeichnetes der Universitätsbibliothek New Haven hinzu, vgl. ebd., Anhang C, II. Gedruckte Werke Neumeisters, S. 295 (Nr. 19a). Irmgard Scheitler: Zwei weitere frühe Drucke von Neumeisters Geistlichen Cantaten. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. Jahrbuch 2003, S. 365–367.

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ten von Erdmann Neumeister,16 die in der Tat weiteres Licht in die Publikationsgeschichte des Werkes gebracht haben. Diese stellt sich nun folgendermaßen dar: Außer dem Abdruck in Tilgners 1716 herausgebrachter und 1717 erneut aufgelegter Sammlung ist Neumeisters Kantatenerstling sechsmal im Druck erschienen: Weißenfels (?) 1702 Weißenfels (?) 1704 („Zweyte Auflage“) Schleiz 1704 Halle 1705 Augsburg 1708 Querfurt 1727 („Zum drittenmale aufgeleget“)

Bei der damals noch massenhaften handschriftlichen Vervielfältigung neuer Kirchenmusiktexte ist es nebenbei bemerkt sehr wohl möglich, dass sich das Werk bei fortgesetzten intensiven Quellenstudien außer in weiteren Drucken auch noch in Form von Manuskripten findet.17 Anders als immer wieder suggeriert, steht übrigens Weißenfels als Druckort der ersten und der „Zweyten Auflage“ keineswegs fest; wie noch zu zeigen sein wird, kommt als deren Erscheinungsort durchaus auch Leipzig in Betracht. Neben der Hallenser Ausgabe von 1705 ist auch die Augsburger von 1708 als ein „heimlicher Nachdruck“ anzusehen. Dagegen steht beim Schleizer „Nachdruck“18 von 1704 zu vermuten, dass dieser nicht einfach „heimlich“, sondern im Einvernehmen mit dem Weißenfelser Hof erfolgte, hier also Beziehungen zwischen diesem und dem Schleizer Hof in Rechnung zu ziehen sind. Als tatsächlich autorisiert können außer dem Abdruck in den Fünfffachen Kirchen=Andachten die erste und die „Zweyte Auflage“ sowie der Querfurter Druck von 1727 gelten, der das Werk dementsprechend auf der Titelseite als „Zum drittenmale aufgeleget“19 ausweist. Diese Daten, die großteils neue Erkenntnisse darstellen und als solche eine Zuarbeit zu einer wünschenswerten umfassenden Neumeister-Bibliographie bilden, sprechen denn für eine recht verwickelte Verbreitungsgeschichte. Künftig wird es über einen akribischen Vergleich jener Drucke hinaus darum gehen, möglichst genau die Instanzen zu erkunden, über welche die Vermittlung des Werkes erfolgte. Indem dabei neue Aufschlüsse über Aufführungsorte beziehungsweise -kontexte zu erwar-

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Ute Poetzsch-Seban: Weitere Aspekte zu den Geistlichen Kantaten von Erdmann Neumeister. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. Jahrbuch 2004, S. 343–347. Dem entspricht eine Äußerung Tilgners in Neumeister: Kirchen=Andachten (wie Anm. 1), Vorrede, Bl. [)()(3v]: „Dannenhero ist die Anschaffung derselben [d.  h. der vier davor erwähnten Jahrgänge, W. M.] einige Zeit her so schwer gewesen, daß sie weit und breit von vielen Kennern der reinen Poesie und Liebhabern einer rechtschaffenen Kirchen=Music insonderheit von den geübtesten Componisten häuffig sind abgeschrieben worden.“ Vgl. den von Scheitler: Drucke (wie Anm. 15), S. 365, zitierten Titel. Vgl. den von Poetzsch-Seban: Aspekte (wie Anm. 16), S. 345, zitierten Titel.

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Wolfgang Miersemann

ten sind, erscheinen solche noch zu leistenden Forschungen zugleich als ein Beitrag zur weiteren Aufhellung der Rezeptionsgeschichte der frühen Kantatendichtungen Neumeisters.

2 Entstehungsgeschichtlich-Biographisches Dass der Verfasser der Geistlichen CANTATEN von 1702 keineswegs der erste geistliche Dichter deutscher Zunge gewesen ist, der sich „ungezwungener“, das heißt madri­galischer Verse bedient hat, weiß man schon seit langem. Und auch über die verschiedenen Stationen der Entwicklung hin zur Neumeister-Kantate als einer Spezies madrigalischer Dichtung wissen wir inzwischen relativ gut Bescheid. Leider ist hier nicht der Raum, die Erkenntnisse im Einzelnen darzutun, doch sei an dieser Stelle wenigstens auf fünf besonders wichtige Forschungsbeiträge verwiesen: so zunächst auf die 1970 vorgelegte, den Beginn der neueren germanistischen Kantatenforschung markierende Studie von Joachim Birke Die Poetik der deutschen Kantate zu Beginn des 18. Jahrhunderts;20 ferner auf Klaus Conermanns 1977 im Druck erschienenes Wolfenbütteler Referat Die Kantate als Gelegenheitsgedicht;21 des Weiteren auf Wolfram Steudes im Rahmen eines Weißenfelser Kolloquiums vorgetragene, 1994 publizierte Anmerkungen zu David Elias Heidenreich, Erdmann Neumeister und den beiden Haupttypen der evangelischen Kirchenkantate;22 und schließlich auf Irmgard Scheitlers auf Steudes Anmerkungen replizierenden Aufsatz Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madri­ ga­lischen Kantate,23 einen Aufsatz, an den die Autorin dann 2005 in ihrem Buch über Deutsche Oratorienlibretti mit dem Kapitel „Die neue Kantate“24 unmittelbar anknüpfte. Dank solcher im letzten Halbjahrhundert entstandener Arbeiten sind wir, wie gesagt, über Grundzüge der Genese einer Kantatendichtung, wie sie mit Neumeisters Namen verbunden ist, ziemlich gut informiert. 20

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Joachim Birke: Die Poetik der deutschen Kantate zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Heinz Becker, Reinhard Gerlach (Hg.): Speculum Musicae Artis. Festgabe für Heinrich Husmann zum 60. Geburtstag. München 1970, S. 47–62. Klaus Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. In: Dorette Frost u. Gerhard Knoll (Hg.): Gelegenheitsdichtung. Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur Wolfenbüttel, 28. 8.–31. 8. 1976. Bremen 1977, S. 69–109. Wolfram Steude: Anmerkungen zu David Elias Heidenreich, Erdmann Neumeister und den beiden Haupttypen der evangelischen Kirchenkantate. In: Roswitha Jacobsen (Hg.): Weißenfels als Ort literarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums vom 8.–10. Oktober in Weißenfels, Sachsen/Anhalt. Amsterdam u. Atlanta 1994, S. 45–61. Irmgard Scheitler: Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madrigalischen Kantate. In: Bach-Jahrbuch 89 (2003), S. 197–220. Dies.: Deutschsprache Opernlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u.  a. 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), S. 129–159.

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Wenig Genaues wissen wir allerdings – und dem will ich mich im Weiteren widmen – über den Werdegang Neumeisters als Kantatendichter sowie über die Umstände, unter denen sein erster Kantaten-Jahrgang entstanden ist. Dabei schlägt das Manko an biographischen Kenntnissen besonders zu Buche. Gerade die hier interessierenden Lebensabschnitte, also Neumeisters Leipziger Studien- und Dozentenzeit von 1691 bis 1696 sowie die darauffolgende Zeit von 1697 bis 1704 als Pfarrsubstitut und schließlich bestallter Pastor in Bibra bei Naumburg, liegen nach wie vor ziemlich im Dunkeln. Autobiographische Zeugnisse aus diesen knapp anderthalb Jahrzehnten, die sicher die bewegtesten im Leben des Dichter-Theologen gewesen sind, haben sich leider nur wenige erhalten. Immerhin findet sich darunter ein im Folgenden von mir herangezogener kurzer autographer Lebenslauf in lateinischer Sprache.25 Besonders angewiesen sind wir hier also auf anderweitige lebensgeschicht­ liche Quellen, von denen es allerdings ebenfalls nicht gerade viele gibt. Ungeachtet der verdienstvollen biographischen Skizze Franz Heiduks von 197826 und trotz eines dokumentarisches Material präsentierenden gut 200-seitigen Biografischen Mosaiks, erschienen 2011,27 bleibt an Neumeisters Sturm-und-Drang-Zeit – wohl von ihm selbst gewollt – vieles unklar, sodass wir uns hier oft genug mit Vermutungen behelfen müssen. Ausgehen kann man davon, dass der Autor der Geistlichen CANTATEN nicht erst als Student in Leipzig von damals neuartigen Poesien in „ungezwungenen Teutschen Versen“ erfahren hat, sondern bereits während seiner Schulzeit in Weißenfels und Pforta. Damit eröffnet sich ein ausgesprochen weites, Dichtungs- und Musikgeschichtliches ebenso wie Schul- und Bildungsgeschichtliches umfassendes Feld, das in vielem noch immer der Erkundung harrt. Oder anders gesagt: Zur Diskussion steht die scheinbar recht simple, in Wahrheit jedoch überaus komplexe Frage, wie denn gerade der sachsen-weißenfelsische Schulmeisterssohn Erdmann Neumeister zum Propagator einer bestimmten Art madrigalischer Poesien und damit zu einer Figur der Literatur- und Musikgeschichte geworden ist, deren Name auch nach 300 Jahren noch seinen Platz im kulturhistorischen Gedächtnis hat. Konkrete Ansatzpunkte bieten hier die Namen von Autoren, wie sie in Neumeisters 1695 als Habilitationsschrift vorgelegtem Dichterlexikon DE POËTIS GERMA25

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Als Faksimile wiedergegeben in Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), S. 244  f. Zu diesem Manuskript, dem noch eine Transkription angefügt ist, findet sich auf S. 243 eine kurze Information über Inhalt und Fundort: „Neumeisters handschriftlicher lateinischer Lebenslauf, in dem er auf zwei Seiten sein Leben und seine Ausbildung bis zum Jahre 1697 beschrieb, befindet sich im Staatsarchiv der DDR in Magdeburg (Sign. Rep.: A 29a, Nr. 64, Seite 19r und 19v).“ Bibliographisch erfasst ist Neumeisters Lebenslauf ebd., Anhang C, I. Handschriften, S. 284 (Nr. 31): „Curriculum Vitae Neumeisters, handschriftlich, lateinisch […]. 2 S. SA Magdeburg.“ Erdmann Neumeister. De Poetis Germanicis. Hg. v. Franz Heiduk in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern u. München 1978, Nachwort, S. 505–512, hier: S. 507–512. – Zitate aus diesem Kompendium werden im Folgenden nach Günter Merwalds dem Reprint des Werkes angefügter Übersetzung geboten. Uwe Riedel: Erdmann Neumeister 1671–1756. Biografisches Mosaik. o.  O. 2011.

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NICIS gewissermaßen als Hinweise auf Wegbereiter erscheinen. Dabei handelt es sich um solche – mit unserem Thema mehr oder weniger eng verbundene und in der einschlägigen Literatur mehr oder minder häufig auftauchende – Namen wie Caspar Ziegler, Adam Krieger, David Elias Heidenreich, Constantin Christian Dedekind, Christian Weise, Johann Riemer, Johann Gottfried Olearius, Albrecht Christian Rotth und Christian Gryphius. Zusammengenommen stehen diese Namen für ebenjene Momente, die bei der Ausprägung der im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts dann so schnell aufsteigenden „geistlichen Cantate“ eine Rolle gespielt haben, nämlich für kulturpatriotisch motivierte dichterische Ambitionen und entsprechende poetologische Bemühungen genauso wie für ein Streben nach Vertiefung religiösen Erlebens durch Innovation im Bereich gottesdienstlicher Musik. Schon Charakterisierungen der angeführten Autoren wie Dichter-Komponist, Dichter-Theologe beziehungsweise Dichter-Pädagoge sind höchst bezeichnend für die vielen bei der Genese der „geistlichen Cantate“ zu berücksichtigenden Aspekte. Aber auch beteiligte Institutionen beziehungsweise frühe Pflegestätten der Kantate wie protestantische Gelehrtenschule, Universität, Hof- oder Stadtkirche sind durch die genannten Autoren bestens repräsentiert. Schließlich wird mit ihnen auch der topographische Rahmen sehr genau abgesteckt: Abgesehen von Dresden und Breslau als (Haupt-) Wirkungsorten von Dedekind beziehungsweise Christian Gryphius war es insbesondere das Städtedreieck Leipzig–Halle–Weißenfels, in dem sich die Entwicklung einer Kantate in „ungezwungenen Teutschen Versen“ vollzog. Mit dem letztgenannten Ort komme ich endlich wieder auf die Ausgangsthese zurück, nach der der Autor der Geistlichen CANTATEN bereits als Schüler Kunde von madrigalischen Dichtungen in deutscher Sprache erhalten hat. Wenn Neumeister in dem erwähnten Lebenslauf schreibt, dass er – ein bisher völlig übersehenes Faktum – schon an der Weißenfelser Schule einige Jahre lang eine äußerst gediegene Erziehung genossen habe,28 so heißt dies, dass er während jener auf die mittachtziger Jahre zu datierenden Zeit einem der profiliertesten Dichter-Pädagogen des Spätbarock begegnet sein muss, nämlich jenem in seinem Dichterlexikon belobten Johann Riemer (1648–1714), der 1678 Nachfolger Christian Weises (1642–1708) als Professor eloquentiae et poeseos am Gymnasium illustre Augusteum, der Eliteschule des letzten Oberhaupts der Fruchtbringenden Gesellschaft, Herzog Augusts von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), geworden war.29 Dass zu einer dort genossenen gediegenen Erziehung nicht zuletzt ein an neuesten Entwicklungen orientierter Unterricht im 28

29

So heißt es in Neumeisters Vita, zit. nach Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), S. 244: „Tam vero Musis consecratus Scholam Weissenfelsensem frequentare jubeor, ubi velut in vestibulo literarum per aliquot annos educationem nactus sum fidelissimam.“ Vgl. dazu jüngst Otto Klein: Gymnasium illustre Augusteum. Die bildungspolitischen Verdienste Herzog Augusts. In: Boje Schmuhl u. Thomas Bauer-Friedrich (Hg.): Im Land der Palme. August von Sachsen 1614–1680, Erzbischof von Magdeburg und Fürst in Halle. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) vom 14. August bis 2. November 2014. Halle (Saale) 2014, S. 177–183.

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poetischen Fach gehörte, wie ihn Riemer als Romanschriftsteller und Pionier des Weißenfelser Schultheaters tatsächlich erteilt hat, kann als sicher gelten. Wie ein Kommentar dazu erscheint denn die von Neumeister im Riemer-Artikel seines Kompendiums herausgehobene Leistung des Weißenfelser Professors bei der Erstellung von poetischer Unterweisung dienenden „Verzeichnisse[n]“ wie etwa einem dem Lehrwerk „[Überreicher] Schatzmeister, Leipzig 1681“ beigegebenen „poetische[n] Index“, von dem es heißt, dass er all „denen sehr gelegen kommt, denen die Quelle beim Erfinden von Rhythmen versiegt“.30 Und erinnert sei in diesem Zusammenhang schließlich auch daran, dass es Riemers in Neumeisters Dichterlexikon mit noch größerem Lob bedachter Amtsvorgänger Christian Weise gewesen ist, der in einem Lehrbuch von 1682 ein – noch „Recitatio“ genanntes – frühes Exempel einer geistlichen Kantate neuen, italienischen Stils geliefert hat.31 Noch mehr aber dürfte Neumeister während der langen Zeit als „Fürsten=Schüler“ in Pforta, wo „(sich) sogleich auch seine poetische Ader (regte)“,32 von solchen neuartigen Dichtungen erfahren haben. In den betreffenden Fächern Poesie, Rhetorik und Musik stand die traditionsreiche Schule, die er von April 168633 bis Januar 169134 besucht hat, dem Weißenfelser Augusteum wohl kaum nach. Dass in Pforta etwa ein von ihm als „vortreffliche Abhandlung“35 apostrophierter Traktat wie Caspar Zieglers (1621–1690) Programmschrift Von den Madrigalen mit zur Lektüre zählte, ist umso wahrscheinlicher, als ein Exemplar der Erstausgabe der Werkes von 1653 zum Bestand der bis heute erhaltenen Historischen Bibliothek des Gymnasiums gehört. Und bei den Beziehungen der kursächsischen Landesschule zu dem ebenfalls traditionsreichen Gymnasium in Halle wäre es ziemlich verwunderlich, wenn man sich dort nicht der 1688 herausgekommenen Vollständigen Deutschen Poesie des Hallenser Gymnasiallehrers Albrecht Christian Rotth (1651–1701) bedient hätte – ebenjener dazumal höchst modernen Poetik, die mit dem Terminus eines „Madrigalen ähnliche[n] Gedichte[s]“36 genau diejenigen Neuerungen in der zeitgenössischen deutschen Literatur auf den Begriff gebracht hatte, welche Neumeister dann in seiner in den mittneunziger Jahren entworfenen eigenen Poetik quasi sanktionieren sollte. Die Vermutung, dass sich der poesiebeflissene Alumnus Portensis bereits selbst in solchen „Madrigalen ähnlichen Gedichten“ versucht hat, liegt nicht

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Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), S. 227  f. Christian Weisens Reiffe Gedancken/ Das ist Allerhand Ehren= Lust= Trauer= und Lehr=Gedichte […]. Leipzig 1682, S. 382–384. Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Nachwort, S. 508. Vgl. Riedel: Neumeister (wie Anm. 27), S. 18. Vgl. ebd., S. 25. Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), S. 267. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie/ in drey Theilen/ Deren der I. Eine Vorbereitung/ Jn welcher die gantze Prosodia enthalten/ und was sonst in dergleichen Sachen pflegt geschrieben zu werden? […]. Leipzig 1688, CAP. V. Von etlichen Verß=Arthen […], TIT. III. Von den Madrigalen, Bl. D3v.

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ganz fern, auch wenn vom ihm lediglich traditionelle „Paraphrasen von Bibelstellen und Kirchenliedern“37 bekannt geworden sind. Doch zur eigentlichen Schule in puncto „allerneueste“ Poesien muss dann die Leipziger Universität geworden sein, die der Absolvent des Gymnasium Portense im Frühjahr 1691 bezog, um sich neben dem Studium der „Sancta Theologia“ besonders der weiteren Ausbildung in den „litterae“ zu widmen.38 Zu denken ist dabei indes weniger an den universitären Unterricht selbst, so sehr Neumeister die fürsorgliche Leitung dieser Ausbildung durch die ehrwürdige „Academia Lipsiensis“ herausstreicht,39 als vielmehr an die vielfältigen Anregungen, die das damals im Zeichen galanter Conduite stehende Studentenleben in der sächsischen Handels­ metropole bot.40 So bildeten studentische Zirkel, wie sie hier seit Johann Hermann Scheins (1586–1630) und Paul Flemings (1609–1640) Zeiten als Orte poetischmusikalischer Innovation wirkten, offenbar auch den Hintergrund für einen bei Neumeister als Fortschritt in der Entwicklung der Gattung begriffenen Vorgang, der als Verbürgerlichung der Kantate charakterisiert worden ist. In seiner profunden Studie über Die Kantate als Gelegenheitsgedicht stellt Klaus Conermann fest: Als formal selbständige, universal verwendbare, jedoch vom Dichter verbürgerlichte Dichtart tritt uns die Kantate zum erstenmal in Neumeisters Poetik entgegen […]. […] Die Kantate, die in Deutschland ihre Entwicklung als Form höfischer Gelegenheitsdichtung begonnen hatte, ist hier zu einer […] Gattung geworden, die Texte für Komponisten nur noch bereitstellte und im übrigen emotionale Modelle anbot, – bei Neumeister besonders das bürgerliche Modell des unvergnügten Einzelnen, der sozialen Aufstieg durch die Macht des Geldes und des höfischen „Glücks“ bestimmt sah.41

Dieser Feststellung entspricht die Tatsache, dass von den 23 in Neumeisters Poetik gebotenen „Probe“42-Stücken nicht weniger als 20 weltliche und lediglich drei geistliche Kantaten sind. Auf den ursprünglichen ‚Sitz‘ solcher Dichtungen im studentischen Leben verweist geradezu überdeutlich ein Titel eines solchen „Probe“-Stückes wie „An ein Collegium Musicum“. Aber noch in anderer Hinsicht ist dieser Text mit dem Incipit „UNvergnügt! so muß ich klagen“43 in unserem Zusammenhang von besonderem Belang. Indem das Stück mit seinen verschiedenen instrumentalen Einlagen – „eine[r] Sonata mit Violinen“, einigen „von den neuesten [Redouten] Stück37 38 39 40

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Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Nachwort, S. 508. So die Angaben in Neumeisters Lebenslauf, zit. nach Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), S. 244  f. Vgl. ebd., S. 244. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der die Angaben zur Leipziger Studienzeit beschließende Satz in Neumeisters Vita, zit. nach ebd., S. 245: „Sic ultra lustrum vitam egi academicam in civitate hac cultissima.“ Conermann: Kantate (wie Anm. 21), S. 92. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemühtern/ Zum Vollkommenen Unterricht Mit überaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet/ Von Menantes. Hamburg 1707, S. 285. Ebd., S. 329.

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gen“, Tänzen wie „Alemande“, „Courante“, „Sarabande“ und „Chique“44 – quasi ein Musikdramolett bildet, stellt sich hier nämlich ein direkter Bezug zu jener dramatischen Gattung her, der die neue „Cantata“ die denkbar stärksten Impulse verdankte. Damit nun ist die 1693, also zwei Jahre nach Neumeisters Studienbeginn, in Leipzig gegründete Oper angesprochen, mit der der junge Poetiker und Dichter, möglicherweise sogar als Librettist, in enger Verbindung stand. Jedenfalls taucht sein Name immer wieder in Michael Mauls 2009 erschienener Pionierarbeit über dieses erste ‚bürgerliche‘ Opernunternehmen in Mitteldeutschland auf.45 Von Neumeisters Vertrautheit mit dem Leipziger Opernbetrieb zeugen etwa die beiden Artikel zu Christian Ludwig Boxberg (1670–1729) und Paul Thiemich (Thymich) (1656– 1694), die sich in seinem Autorenlexikon von 1695 finden46 und die als Artikel zu reinen Librettisten dem bis dahin erreichten Niveau einer Operndichtung in deutscher Sprache Rechnung tragen. Wenn Neumeister hier besonders auf „die Geschmeidigkeit der Sprache“47 eines Opernpoeten wie Thiemich abhebt, so legt ein derartiges Lob den Gedanken nahe, dass er als Autor von den Opern ähnlichen Kantaten in hohem Maße von der Sprachkunst jener Leipziger Librettisten profitiert hat, zumal er in seinem Artikel zu Boxberg bekundet, dass dieser ihn seine „Musikdramen“ „in seinem Museum […] durchlesen ließ“.48 Wünschenswert wären daher entsprechende Textvergleiche, in welche übrigens Zeugnisse aus der reichen Überlieferung des Leipziger Studenten- beziehungsweise Gesellschaftsliedes einzubeziehen wären, ist doch anzunehmen, dass der Kantatendichter Neumeister auch von dorther Anregungen formaler wie thematischer Art empfangen hat. Eine Zäsur im Leben Neumeisters mit weitreichenden Folgen für sein dichterisches Schaffen markierte dann das Jahr 1697, als der berufliche Weg des jungen Magisters eine entscheidende Wendung nahm. Über die Gründe für die Aufgabe seiner offenbar erfolgreichen Tätigkeit als Dozent für Dichtkunst und Beredsamkeit an der Leipziger Universität 1695/9649 wissen wir zwar nichts Näheres, doch kann man mit Franz Heiduk mutmaßen, dass „der Verzicht Neumeisters auf eine akademische Karriere […] nicht zuletzt von seinem Streben nach einer sicheren Existenz bestimmt (war)“.50 Indem er 1697 das Angebot der Stelle eines Pfarrverwesers in Bibra annahm, war die Entscheidung für eine geistliche Laufbahn gefal44 45 46 47 48 49

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Ebd., S. 330–332. Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720). Freiburg i.Br. u.  a. 2009 (Rombach Wissenschaften. Reihe Voces 12/1 u. 2). Vgl. hierzu das Personenregister im Katalogband, S. 1176. Vgl. dazu ebd., S. 881. Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), S. 251. Ebd., S. 147. Darüber schreibt Neumeister in seinem Lebenslauf, zit. nach Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), S.  244  f.: „Equidem institutis Philosophicis operam impendi primam, laurea quoque donatus Dissertationem de Poëtis Germanicis habui publice, inde prælectiones Oratorias, Geographicas, Historicas, Poëticas, numero studiosorum non adeo infrequente, institui, quod si et illud adjicere liceat, orationes binas, jubente ita Rectore Magnifico, in templo Academico recitavi.“ Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Nachwort, S. 510.

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len – eine Entscheidung, die ein enger Studienfreund wie Johann Burchard Mencke (1674–1732), ein Sohn des renommierten Leipziger Ethik- und Politikprofessors und Herausgebers der berühmten ACTA ERUDITORUM Otto Mencke (1644–1707), durchaus „bedauert“ hat.51 Anders als etwa bei Johann Riemer, der seine Weißenfelser Professur 1687 ebenfalls mit einem geistlichen Amt vertauscht hatte und übrigens 1704 Vorgänger Neumeisters im Amt des Hauptpastors an St. Jacobi in Hamburg werden sollte, bedeutete der Wechsel vom Katheder zur Kanzel hier keineswegs eine Abkehr vom bisherigen literarischen Schaffen. Weltliche Poesien des einstigen Bannerträgers der Galanten, darunter manch ausgemacht erotische, erschienen auch noch weit nach 1697: nicht nur in mehreren Teilen der vielfach aufgelegten und entsprechend weit verbreiteten Neukirchschen Sammlung als dem Publikationsorgan deutscher galanter Dichter,52 sondern auch im Rahmen der 1707 von Christian Friedrich Hunold (1680–1721) in Hamburg veröffentlichten Neumeister’schen Poetik, die es mit dem werbekräftigen Titel Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen bis 1742 auf nicht weniger als elf weitere Auflagen brachte.53 Darüber hinaus finden sich weltliche Texte Neumeisters auch in Hunold-Menantes’ Edler Bemühung müssiger Stunden, Hamburg 1702, oder in Erdmann Uhses (1677–1730) im selben Jahr begründetem Leipziger Musen-Cabinet.54 Seinen Pfarrhof muss der einstige Vorkämpfer „reiner und galanter Poesie“ sehr bald schon zu einem regelrechten Musenhof gemacht haben, besucht von vielen früheren, aber auch neuen Mitstreitern,55 sodass man hier wohl von einem Versuch des in die Provinz Versetzten sprechen kann, etwas von dem in der Pleißemetropole Erlebten in seinen neuen Wirkungsbereich hinüberzuretten. Gleichwohl bedeutete jene berufliche Wende auch in Neumeisters Dichterbiographie eine Umorientierung, wie sie in einem Opus eximium wie den Geistlichen CANTATEN von 1702 zum Ausdruck kommt. Doch so plausibel ein solcher Zusammenhang ist, so schwer lässt sich das Geflecht an Motiven durchschauen, die den Hintergrund für die Entstehung des Werkes bilden. Was ich hierzu beitragen kann, sind lediglich einige fragmentarische Gedanken, die der weiteren Aufhellung eben51 52 53 54 55

Ebd., S. 509. Vgl. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung. Bern 1971, S. 102  f. – Vgl. hierzu auch Anm. 67. Vgl. Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), Anhang C, II. Gedruckte Werke Neumeisters, S. 301–304 (Nr. 28a bis h). Vgl. Heiduk: Dichter (wie Anm. 52), S. 103. Dazu bemerkt Heiduk in Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Nachwort, S. 510: „Er [Neumeister, W. M.] selber ließ das Pfarrhaus neu errichten, mit einem geräumigen Hof, einem großen Wirtschafts- und einem kleinen ‚Lust‘-Garten. Die Anlage blieb ohne wesentliche Änderungen bis heute erhalten. Über dem Eingang zum Pfarrhaus erinnern noch in Stein gehauene Worte an Neumeister, der über diesen vielfältigen Aufgaben [in seinem Amt, W. M.] nur wenig Zeit zu schriftstellerischen Arbeiten fand. Die Kontakte zur literarischen Welt pflegte er dennoch, knüpfte sogar manche neue an. Überliefert ist uns der Besuch Johann Beers am 22. März 1700 im Bibraer Pfarrhaus; Hunold-Menantes wäre in dieser Zeit beinahe sein Schwager geworden, stand er doch in einem engeren Verhältnis zur Schwester der Pfarrfrau.“

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jenes Entstehungshintergrunds dienen sollen. Gut anknüpfen lässt sich dabei sowohl an eine einschlägige Studie von Dieter Merzbacher mit dem Titel „Ob ein Poete wohl Superintendens seyn könne?“ Erdmann Neumeister im Spiegel seiner Poetik, publiziert im Rahmen des bereits genannten Berichts über das Weißenfelser NeumeisterKolloquium von 1996,56 als auch an meinen eigenen Beitrag zu diesem Tagungsband, in dem ich den Versuch einer Analyse der programmatischen Vorrede Neumeisters zu seinem ersten Kantaten-Jahrgang unternommen habe.57 In ihrer epochalen Bedeutung – davon ist hier auszugehen – erschließen sich die Geistlichen CANTATEN von 1702 erst dann, wenn man sie vor dem breiten Horizont unterschiedlicher kultureller Konzepte im Übergang vom Barock- zum Aufklärungsjahrhundert betrachtet,58 das heißt in ihrem Zusammenhang mit gegenläufigen Bestrebungen sieht, wie sie sich auch und gerade in den „musiktheologischen und poetologischen Diskursen“59 der Zeit manifestierten und wie man sie mit solchen Stichworten wie „Heiligung gegen Verweltlichung“, „Streben nach Verinnerlichung versus Repräsentationsdrang“ oder mit Gegensatzpaaren wie „bürgerlich – höfisch“, „fromm – galant“,60 „pietistisch – orthodox“ auf den Begriff zu bringen versucht hat. Verfechter der lutherischen Orthodoxie und entschiedener Gegner des Pietismus – so die gängige Charakterisierung der Position Neumeisters in der mit dem letzten Begriffspaar bezeichneten Problematik, was für dessen Sorauer und Hamburger Zeit ja auch durchaus zutrifft. Doch im Hinblick auf den frühen Neumeister taugt eine solche klare Scheidung in pro und contra keineswegs. Vielmehr lassen sich bei diesem durchaus – so schon Max von Waldbergs Beobachtung – „pietistische Anklänge“61 ausmachen, wie sie bisher zwar speziell an Liedtexten aufgewiesen worden sind,62 wie man sie aber wohl auch an manchen seiner frühen Kantatendichtungen63 zeigen kann. 56 57 58

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Dieter Merzbacher: „Ob ein Poete wohl Superintendens seyn könne?“ Erdmann Neumeister im Spiegel seiner Poetik. In: Rucker: Neumeister (wie Anm. 4), S. 75–95. Vgl. Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ (wie Anm. 4.). Vgl. den die kulturelle Vielfalt um 1700 thematisierenden interdisziplinären Sammelband: Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger u. Jörg Wesche (Hg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 93). So die Überschrift des ersten Teils des in Anm. 4 nachgewiesenen Tagungsberichts (S. 25). Eingehend diskutiert, und zwar gerade am Beispiel der geistlichen Kantate, wird dieses Verhältnis im Rahmen des „Fromme Conduite“ überschriebenen 4. Kapitels des dritten Teils der Dissertation von Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin u. Boston 2012 (Frühe Neuzeit 167), S. 370–397, hier: S. 377–388 u. 388–393. Max von Waldberg: Erdmann Neumeister. Versuch einer Charakteristik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 2 (1910), S. 115–123, hier: S. 121. Vgl. Wolfgang Miersemann: Lieddichtung im Spannungsfeld zwischen Orthodoxie und Pietismus. Zu Erdmann Neumeisters Weißenfelser Kommunionbuch Der Zugang Zum Gnaden-Stuhl JEsu Christo. In: Jacobsen: Weißenfels (wie Anm. 22), S. 177–216. Verwiesen sei hier beispielsweise auf den ersten der in Neumeisters Poetik „zur Probe [ge-] geben[en]“ Kantatentexte, in dessen Eingangs-„Aria“ das singende Ich mit emphatischen Fragen anhebt: „JSt es denn umsonst gethan/ Daß ich reinen Hertzens bleibe/ Und kein Gottloß Wesen

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Aufs Neue zu erinnern ist dabei an Neumeisters des Öfteren zitiertes briefliches Bekenntnis gegenüber Valentin Ernst Löscher (1673–1749), dass er „bei [s]einen ersten Academischen Jahren bey nahe mit auf den pietistischen Höhen geopfert und geräuchert hätte“.64 Bisher kaum bekannt ist dagegen sein in jenem Curriculum Vitae bezeugter längerer Aufenthalt in der Pietisten-Hochburg Halle,65 der allem Anschein nach in das Jahr 1695 fiel und der höchstwahrscheinlich mit dem in der Saalestadt erfolgten Druck gleich zweier Ausgaben seiner Habilitationsschrift,66 möglicherweise aber auch mit abschließenden redaktionellen Arbeiten an dem ebenfalls 1695 publizierten ersten Teil der Neukirchschen Sammlung zusammenhing.67 Da eine der beiden 1695 erschienenen Ausgaben jener Habilitationsschrift im Betrieb des radikalpietistischen Drucker-Verlegers Andreas Luppius (1654–1731) herausgekommen ist,68 haben wir umso mehr Grund zu der Annahme, dass der junge Leipziger Magister sehr genau über neueste Entwicklungen im Bereich pietistischer Buchproduktion im Bilde war. Gemeint sind in unserem Zusammenhang vor allem neue Liedsammlungen wie das 1692 von Luppius herausgegebene sogenannte „Pietisten=Gesangbuch“,

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treibe? Daß ich fromm und Christlich handle/ Und auf GOttes Wegen wandle? GOtt/ siehst du denn das nicht an? Jst es denn umsonst gethan?“, um dann Gott zu klagen: „Es thut mir weh/ und sticht mich in dem Hertzen. Daß mich die böse Welt Mit meiner Frömmigkeit vor einen Thoren hält. Du weist/ wie mir die Schmach mein Hertze bricht. Ein Welt=Kind spricht: Was solte GOTT nach diesem fragen? Der Höchste siehet nicht auf ihn. Mich will der Himmel auf den Händen tragen/ Und seine Gnade muß in meine Wohnung ziehn. Mein GOtt! das kräncket mich! Wer Gottloß ist/ der dencket nicht an dich/ Und scheinet doch dem Glück im Schooß zu sitzen.“ [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 42), S. 285–287, Zitat S. 285  f. Zit. nach Herwarth von Schade: „Geld ist der Hamburger ihr Gott“. Erdmann Neumeisters Briefe an Valentin Ernst Löscher. Herzberg 1998 (bibliothemata 18), S. 70 (Brief vom 31. Juli 1708 aus Sorau an Löscher in Wittenberg). Dazu heißt es in Neumeisters Lebenslauf, zit. nach Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3), S. 245: „Utut enim statio quædam haud contemnenda ad Halensem me vocaret; tamen, quod ibidem doctrinæ fidei non immerito suspectas sese reddidissent hactenus, nunquam, qui amplecterer illam persuaderi sum passus.“ So die entsprechenden Angaben unter den Nrn. 5 („Verlags- und Druckort höchstwahrscheinlich Halle a.  D. Saale“) und 5a („Verlags- und Druckort sehr wahrscheinlich auch Halle a.  D.S.“) des Verzeichnisses der Schriften Erdmann Neumeisters in Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Literaturverzeichnis, S. 513. Diese Annahme stützt sich auf Bemerkungen Heiduks in ebd., Nachwort, S. 509: „In diese Zeit [gemeint sind die mittneunziger Jahre, W. M.] fällt auch das Auftreten Benjamin Neukirchs in Leipzig, das er von Halle aus, wo er seit 1693 dozierte, öfters besuchte. Neukirch bereitete seit 1694 die Veröffentlichung seiner Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene … Gedichte vor. Der Anteil Neumeisters an diesen Vorbereitungen sowie an der Redaktion vieler Gedichte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden […].“ Angegeben unter Nr. 5a des Verzeichnisses der Schriften Erdmann Neumeisters in ebd., Literaturverzeichnis, S. 513 (vgl. Anm. 66); Viswanathan: Poetik (wie Anm. 3) vermerkt in Anhang C, II. Gedruckte Werke Neumeisters, S. 288 (Nr. 4b): „SPECIMEN || DISSERTATIONIS || HistoricoCriticæ || DE || POËTIS || GERMANICIS || hujus seculi præcipuis, || Nuper admodum in Academia quadam || celeberrima publice ventilatum || a || M. E. N. || [Linie] || Impensis ANDREÆ LUPPII, Sereniss. ac || Potentiss. Elect. Brandenb. Bibliopol. spe= || cialiter Privileg. et Exemti. || M.DC.XCV”.

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bezeichnet auch als Luppiussches Gesangbuch,69 oder ein gleichfalls bei Luppius erschienenes Werk von 1693 mit dem Titel Wahrer Kinder GOttes Hertzliche Bußfertige Christerbauliche Lieder Und GOttgeheiligte Andachten […]. […] mitgetheilet und zugeeignet/ Durch M. Georg Heinen/ weiland treufleißigen Evangelischen Predigern/ und wohlverdienten Diaconum zu Halle/ bey S. Mauritz/ anietzo aber beruffnen Seelsorger in Pommern/ etc.70 Was der junge Neumeister in solchen Sammlungen finden konnte, waren Lieder, die als Ausdruck vertiefter Frömmigkeit auf eine Belebung geistlichen Gesangs zielten und als solche ein überraschend neues Gepräge trugen. Charakteristisch für diese „geist=reichen“ Lieder sind ihre oft Modetänzen wie Menuett oder Gavotte nachgestalteten Melodien,71 die ihre Entsprechung in Texten mit häufig ganz neuen Vers- und Strophenformen fanden, welche durchaus auf einer Linie lagen mit dem vom Kantatendichter Neumeister bezeigten Eintreten für metrische „Ungezwungenheit“. Auch in pietistischer Liedpoesie gab es das Phänomen prosanaher, ja mitunter ganz auf metrische Bindung verzichtender Dichtung, wenn man etwa an die in drei Teilen publizierte freie Psalmendichtung Stimmen Aus Zion (1696, 1698 und 1701) von Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) denkt, der freilich zu Neumeisters Hauptgegner im Lager der Frommen wurde.72 Noch bemerkenswerter ist in unserem Kontext jedoch die Tatsache, dass sich Bemühungen um eine Erneuerung geistlichen Gesangs auch schon im frühen Pietismus nicht auf die biblisch legitimierte Gattung des Liedes beschränkten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass jener erste „heimliche Nachdruck“ der

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[Andreas Luppius (Hg.):] A & O. Andächtig Singender Christen=Mund/ Das ist: Wahrer Kinder GOttes Geheiligte Andachten/ bestehende Jn einem dreyfachen Christlichen Hand= und Gesang=Buche/ Darinnen Der Kern fürnemster Lieder und das gantze Christenthum enthalten […]. Wesel u.  a. 1692.  – Zu dieser ersten bedeutenden Liedanthologie des Pietismus vgl. den zweiten Teil meiner Studie: Wolfgang Miersemann: Auf dem Wege zu einer Hochburg „geist=reichen“ Gesangs: Halle und die Ansätze einer pietistischen Liedkultur im Deutschland des ausgehenden 17. Jahrhunderts. In: Gudrun Busch u. Wolfgang Miersemann (Hg.): „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Tübingen 1997 (Hallesche Forschungen 3), S. 35–80, hier: S. 35–64. Georg Heine (Hg.): In Nomine JESU EMANUEL! JESUS meine Liebe ist für uns gecreutziget; Das ist: Wahrer Kinder GOttes Hertzliche Bußfertige Christerbauliche Lieder Und GOttgeheiligte Andachten […]. […] mitgetheilet und zugeeignet/ Durch M. Georg Heinen/ weiland treufleißigen Evangelischen Predigern/ und wohlverdienten Diaconum zu Halle/ bey S. Mauritz/ anietzo aber beruffnen Seelsorger in Pommern/ etc. […]. Amsterdam, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1693. – Zu dieser Liedsammlung vgl. wiederum den zweiten Teil meiner in Anm. 69 angegebenen Studie, hier: S. 76  f. Vgl. dazu Gudrun Busch: Lieder in „liederloser Zeit“, oder: der „Freylinghausen“ (1704/1714) als wiederentdeckte Klammer zwischen zwei Jahrhunderten deutscher Liedgeschichte. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Wolfgang Miersemann u. Gudrun Busch (Hg.): „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen 20), S. 1–53, hier: S. 45–49. Vgl. Miersemann: Lieddichtung (wie Anm. 62), S. 204  f. u. 210–213.

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Geistlichen CANTATEN 73 von 1705 ausgerechnet in Halle herausgekommen ist, vertrieben dort von der bekannten Rengerischen Buchhandlung, deren Sortiment nach einem „CATALOGUS“ von 1709,74 der auch diesen Nachdruck aufführt, offenbar einiges an pietistischer Literatur aufwies.75 Einen eindeutigen Beleg aber für die Aufgeschlossenheit von Pietisten gegenüber gerade aufgekommenen neuen Formen „theatralischer“ Kirchenmusik bieten die erwähnten Christerbaulichen Lieder Und GOttgeheiligten Andachten von 1693 (Abb. 2). So folgt dort am Schluss auf ein „Christerbauliches“ „Lied ZIONS gegen BABEL“,76 also einen für die Frommen ganz typischen Streitergesang, eine „GOttgeheiligte Andacht“ besonderer Art,77 die augenfällig mit einem drei Nummern davor gebotenen, wohl vom Herausgeber Georg Heine selbst stammenden 18-strophigen „Pfingst=Lied“78 korrespondiert und die da betitelt ist mit Die Pfingst=Epistel/ aus dem 2. Capitel der Apostel=Geschichte/ mit unterschiedenen Arien zusammen gesetzet/ und Anno 1693. am Ersten Feyer=Tage in der Amts=Predigt zu S. Nicolai, in der Vesper aber zu S. Thomas in Leipzig musiciret (Abb. 3). Was wir in dieser zweieinhalbseitigen Pfingst=Epistel vor uns haben, ist ein Zeugnis für das schon zu Zeiten des Thomaskantors Johann Schelle (1648–1701) ungemein rege musikalische Leben an den Leipziger Hauptkirchen, welches für Neumeister als Dichter geistlicher Kantaten eine Inspirationsquelle ersten Ranges gewesen sein muss. Und auch hier ist es wieder sein Dichterlexikon von 1695, das deutlich auf solche von ihm während seiner Leipziger Studienzeit empfangene Anre73

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Geistliche CANTATEN Uber alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage/ Zu beförderung Gott geheiligter Hauß= Und Kirchen=Andacht Jn ungezwungenen Teutschen Versen ausgefertiget von M. Erdmann Neumeistern/ Hoch=Fürst. Sächß. Weissenf. Hoff=Pred. Halle in Magdeburg: Zu finden in Rengerischen Buchladen/ Anno 1705. CATALOGUS Einiger neuen und anderer nützlichen Bücher/ so in der Rengerischen Buchhandlung zu finden. In: Kurtze Nachricht Von der Stadt Halle, Und absonderlich Von der Vniuersität daselbst. Anno M.DCC.IX. Zu finden in Rengerischer Buchh. ND Halle u. Hanau 1994, Bl. L3a– [L8a]. – Der Vermerk jenes Nachdrucks findet sich ebd., Bl. L5b: „Neumeisters geistl. Cantaten über alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage 8.“ In der Rengerischen Buchhandlung erschien übrigens zehn Jahre darauf auch eine der ersten Arbeiten des halleschen Theologen Johann Jacob Rambach (1693–1735), der in seinen Geistlichen Poesien von 1720 ebenfalls Kantatentexte für alle kirchlichen Sonn- und Feiertage vorlegte und damit zu einem Vertreter genuin pietistischer Kantatendichtung wurde. Vgl. dazu Julian Heigel: „Vergnügen und Erbauung“. Johann Jacob Rambachs Kantatentexte und ihre Vertonungen. Halle 2014 (Hallesche Forschungen 37). Verzeichnet ist jene bei Renger herausgekommene Rambach’sche Arbeit von 1715 ebd., S. 309. Heine (Hg.): Christerbauliche Lieder (wie Anm. 70), S. 122–124. – Dieses in frommen Zirkeln überaus beliebte Lied mit dem Incipit „Auff! Triumph! es kömmt die Stunde“ hat nicht den auf dem Titelblatt genannten Herausgeber Georg Heine (nach 1640 – um 1700) selbst zum Autor, sondern den Leipziger (!) Francke-Schüler Johann Christian Lange (1669–1756), der als einer der Exponenten früher pietistischer Lieddichtung anzusehen ist. Ebd., S. 124–126. Ebd., S. 117–119, überschrieben mit „(37.) Ein Pfingst=Lied. Jm Thon: O Jesulein süß/ O Jesulein mild/ etc.“ und beginnend mit: „Komm/ Heiliger Geist/ komm/ Herre GOTT/ Du bist der Edle Friedens=Both/ Ach komm/ und zeig uns Armen an/ Daß Fluth und Zorn ein Ende han. O Heiliger Geist! O Heiliger GOtt!“

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Abb. 2: Titelseite einer 1693 in Neumeisters Umfeld erschienenen pietistischen Sammlung ­Christerbaulicher Lieder Und GOttgeheiligter Andachten

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Abb. 3: Erste Hälfte eines in den Christerbaulichen Liedern Und GOttgeheiligten Andachten abgedruckten neuartigen Leipziger Kirchenmusiktextes

gungen zu eigener poetischer Produktion verweist. So bezieht sich einer der Artikel auf einen 1690 erschienenen Jahrgang von Kirchenmusiktexten des Eilenburger Diakons Gottfried Erdmann (1647–1709)79 mit dem vielversprechenden Titel Evangelisches Honig,80 der in Schelles Vertonung den künftigen Kantatendichter vollends begeisterte: 79 80

Vgl. Michael Maul: „Dero berühmbter Chor“. Die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren (1212–1804). Leipzig 2012, S. 142. Gottfried Erdmann: Evangelisches Honig oder Himmlischer und Hertzerqvickender Trost/ Vor allerhand bekümmert= und Nothleidende Seelen/ Aus den ordentlichen Sonn und fürnehmsten Fest=Tags=Evangeliis Durchs gantze Jahr zusammen getragen von M. Gottfried Erdmannen/ bey der Stadt=Kirchen zu St. Nicolai in Eulenburg Diacono. Und in die Music übersetzt von Johann Schellen/ der Music Direct. in Leipzig. Leipzig 1690.

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Ganz reinen Honig bringt er [Gottfried Erdmann, W. M.] ein, süßen Honig, der wohl jedermann schmecken wird. Er nährt sich selbst und jede gottergebene Seele nicht anders als die Bienen in den blühenden Wäldern. Wenn man dazu auch noch die lieblichen Melodien nimmt, die der bekannte Schelle, der Leiter des Leipziger Musik-Chores, den Sonntagen beizugeben pflegt, so möchte man sagen, müßten Zuhörer herbeischwärmen, geradeso wie die Bienen zu den ­Schellen.81

Was nun jene Pfingst=Epistel von 1693 anbetrifft, so ist es Tatjana Schabalina, die Entdeckerin des entsprechenden Textheftes, gewesen, die in ihrem Kommentar zu dessen Verzeichnung82 in prägnanter Weise auf den musikgeschichtlichen Kontext dieses wichtigen Dokuments aufmerksam gemacht hat: Diese „Pfingst-Epistel“ des Jahres 1693 ist einer der frühesten Leipziger Textdrucke überhaupt. Er gehört in die Ära von Johann Schelle (1648–1701) […]. […] Besetzungsangaben zeigen, daß die Rezitative des Evangelisten mit Solo- und Ensemblesätzen durchflochten waren. […] Johann Schelle, einer der wichtigsten Vorgänger J. S. Bachs, ist vor allem für die Einbeziehung von Evangelienstexten in seine Kantaten bekannt. Zehn Jahre vor der Veröffentlichung des hier vorgestellten Hefts hatte er eine Auseinandersetzung mit dem Leipziger Bürgermeister Johann Lorenz von Adlershelm, der auf die Beibehaltung der traditionellen Kirchenmusik bestand. Der Rat der Stadt, der die Angelegenheit kurz vor dem Weihnachtsfest 1683 zu behandeln hatte, stellte sich auf die Seite von Schelle – eine Entscheidung, die in den folgenden Jahren weitere formale Experimente begünstigte. Im Pfingsttext des Jahres 1693 kann man die für Schelles Werke typische Form der deutschen Kantate nachvollziehen, die er mit seinem Schaffen begründete und die von seinen Nachfolgern aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.83

Die Frage nach dem Verfasser der Pfingst=Epistel wird in dem Kommentar zwar nicht berührt, doch bietet eine Anmerkung zum Hinweis auf „weitere formale Experimente“ immerhin einen Ansatz bei der Autorensuche. Verwiesen wird in dieser Anmerkung auf Peter Wollnys MGG-Artikel zu Schelle, in dem ein uns bereits bekannter Dichtername auftaucht: Als Thomaskantor erregte Schelle durch verschiedene innovative Kantatenzyklen Aufmerksamkeit. Bedeutend ist die Einführung von Evangelienmusiken mit eingefügten Kirchenliedstrophen und frei gedichteten Arien aus der Feder von Paul Thymich (1683), auf die der Leipziger Bürgermeister Johann Lorenz von Adlershelm mit Protest reagierte […].84

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Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), S. 162. Tatjana Schabalina: „Texte zur Music“ in Sankt Petersburg. Neue Quellen zur Leipziger Musikgeschichte sowie zur Kompositions- und Aufführungstätigkeit Johann Sebastians Bachs. In: BachJahrbuch 94 (2008), S. 33–98, S. 35: „Die | Pfingst-Epistel/ | Aus dem 2. Capitel der Apostel- | Geschichte/ | Mit unterschiedenen | ARIEN | zusammen gesetzet/ | Und | Am Ersten Feyer-Tage in der | Amts-Predigt zu S. Nicolai/ | In der | Vesper aber zu S. Thomas | musiciret. || In Leipzig druckts Johann Georg. 1693.“ Ebd., S. 43  f. Peter Wollny: Schelle, Johann. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher. Personenteil 14. Kassel u.  a. 2005, Sp. 1267–1270, hier: Sp. 1267.

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Und an späterer Stelle heißt es bei Wollny: Schelle gab der […] Kantatenform neue Impulse durch die Wahl von innovativen, häufig literarisch anspruchsvollen Dichtungen, die zum Teil bereits an der Schwelle zur madrigalischen Kantate des 18. Jh. stehen und nicht zuletzt auch auf die Kantatenreform E. Neumeisters großen Einfluß hatten. Schelles geistliches Vokalschaffen ist formal sehr mannigfaltig. Es umfaßt Vertonungen traditioneller Bibeltexte, Arien […], Concerto-Aria-Kantaten […] sowie vielfältige Formen von Textmischungen (Dichtungen von Paul Thymich, Johann Neunhertz und Gottfried Erdmann).85

Mit jenem als Thomasschullehrer wirkenden Paul Thiemich,86 der uns bereits als von Neumeister belobter Opernlibrettist begegnet ist, gerät ein überaus rühriger Vertreter der damaligen Leipziger literarischen Szene in den Blick, der durchaus auch als Verfasser unserer Pfingst=Epistel in Frage kommt – womit wir einen weiteren Beleg hätten für die dazumal außerordentlich enge Verbindung zwischen Dichtungen im Dienste einer neuartigen Kirchenmusik und solchen für das Musiktheater. Lag sozusagen „theatralische“ Kirchenmusik im Trend, dem sich – wie der Abdruck jenes Pfingsttextes in den Christerbaulichen Liedern Und GOttgeheiligten Andachten von 1693 bezeugt – selbst Pietisten nicht verschlossen, so bedeutete allerdings Neumeisters Favorisierung der „Cantata“ geistlicher Art einen Schritt, der über bisherige Versuche in ebendieser Art von „Texten zur Music“ weit hinausging. Im Grunde hatte der Titel Geistliche CANTATEN, der uns heute so harmlos vorkommt, an sich schon etwas ausgesprochen Provokantes, das in der Zweitauflage durch den Zusatz „statt einer Kirchen=Music“ noch eine Steigerung erfuhr.87 Hier schickte sich ein ambitionierter Dichter an, ein bekanntermaßen im profanen Bereich entstandenes, strukturell der umstrittenen Oper verwandtes musikalisch-literarisches Modell in allerreinster Form in den kirchlichen Raum zu übertragen. Und dass hier tatsächlich damit zu rechnen war, dies als Entweihung heiliger Stätten misszudeuten, dafür bietet uns Neumeisters offensiver „Vorbericht“ zu seinem Werk das denkbar beste Zeugnis.88 Falsch wäre es mithin, würde man sich die dem Druck vorangegangene Zusammenarbeit Neumeisters mit Johann Philipp Krieger sozusagen als siegesgewisses Miteinander von Dichter und Komponist beim Hervorbringen neuartiger Kirchenmusik vorstellen. Mit seinem dem Weißenfelser Hofkapellmeister gesungenen überschwänglichen Lob hat der Vorredner Neumeister freilich selber einer solchen Verklärung des Verhältnisses Vorschub geleistet. Dabei steht sehr wohl zu bezweifeln, dass Krieger hier der große Anreger gewesen ist.89 Wie der Vorredentext verrät, 85 86 87 88 89

Ebd., Sp. 1269. Vgl. dazu Maul: „Dero berühmbter Chor“ (wie Anm. 79), S. 109 u. 141  f. Vgl. Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ (wie Anm. 4), S. 52–54. Vgl. ebd., S. 64  f. Das Bild Kriegers als Lehrmeister, der den gut zwanzig Jahre jüngeren Neumeister heranzog, vermittelt besonders Max Seiffert in dem bereits zitierten Vorwort zu seiner Ausgabe ausgewählter Kirchenkompositionen des Weißenfelser Hofkapellmeisters. So heißt es bei Seiffert (Hg.): Krieger (wie Anm. 11), Vorwort, S. LXXIV: „Je weniger die verschwenderische Prunksucht

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hat der Bibraer Pfarrer seine Kantatendichtungen zunächst zur Rekreation nach den ermüdenden Amtsgeschäften verfasst90 und so gewissermaßen ihre besondere Eignung zur Erbauung an sich selbst erprobt. Das schließt jedoch nicht aus, dass er sehr bald schon die neue Dichtform „Cantata“ auch als ein Mittel, im gewählten Beruf zu reüssieren, erkannt hat. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die Verhältnisse im Bibraer Pfarramt mehr als bescheiden gewesen sind.91 So hat Franz Heiduk in seiner biographischen Skizze Neumeisters spätere Behauptung, „er sei nur ungern von Bibra weggegangen“, ganz zu Recht für unglaubwürdig gehalten.92 Die modische „Cantata“ als Instrument eines musisch begabten Landpfarrers, auf der Karriereleiter emporzusteigen – auch dies kann man unter den Leitgedanken „Die Kantate als Katalysator“ fassen. Doch bis sich der Erfolg endlich einstellte und Neumeister 1704 die Berufung zum Diakon an der Weißenfelser Schlosskirche erlangte, war es noch ein ziemlich weiter Weg. Zu überwinden galt es dabei Hindernisse, auf die bereits Max Seiffert aufmerksam gemacht hat mit dem Hinweis auf Schwierigkeiten, welche sich daraus ergaben, dass die Texte zu den für eine Aufführung in der Schlosskirche vorgesehenen Musikstücken, sofern sie freie Dichtungen darstellten, der Zensur unterlagen.93 Im Falle des Bibraer Dichter-Pfarrers dürften die Weißenfelser Zensoren da einiges zu tun bekommen haben. Wie viele von dessen Kirchenmusiktexten in der Komposition Kriegers vor 1704 in der „SchloßCapelle zu Weißenfels“ tatsächlich erklungen sind, müsste allerdings noch genauer untersucht werden. Von einer den Geistlichen CANTATEN vorangegangen, in ihrer zyklischen Anlage ähnlichen größeren Arbeit wissen wir dies jedoch genau. Es handelt sich dabei um jene Poetischen Früchte der Lippen, die Neumeister im Jahre 1700 als Manuskript „in die Hochfürstl. Sächs. SchloßCapelle zu Weißenfels zur Kirchen=Music übergeben“ hat und an denen schon von Max von Waldberg eine Diskrepanz zwischen dem „Ausdruck […] fromme[r] Stimmungen“ und „praktisch-nüchternen Erwägungen“

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des Fürsten [Johann Georg von Sachsen-Weißenfels, W. M.] Krieger zum Schaffen für die Oper anreizte, desto mehr vertiefte er sich in die Kirchenmusik; hatte ihm doch ein gütiges Geschick den Mann in den Weg geführt, der ihm die poetische Grundlage für das darbieten konnte, was ihm musikalisch als Ziel vor Augen stand: Erdmann Neumeister.“ Und weiter heißt es, ebd., S. LXXV: „Krieger wird oft genug Veranlassung gehabt und Gelegenheit genommen haben, Neumeister darzulegen, was einem Musiker für die Kirche nottut. Aus der besonderen Hochachtung, mit der Neumeister von Krieger als dem ‚Weißenfelsischen Chenania‘ (1. Chron. 16,22) spricht, darf man den Beweis ableiten, daß es wohl auch Krieger war, der Neumeister veranlaßte, nun noch einen Schritt weiter [als in den ‚poetischen Oratorien‘, W. M.] zu gehen und die Fessel des Bibelworts völlig abzustreifen. Dieser Anregung nachgehend, gelangte Neumeister zur Form seiner ersten Kantaten, die Krieger vom Advent 1702 an in seiner Komposition aufführte.“ Vgl. Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ (wie Anm. 4), S. 63  f. Vgl. die beiden aus seiner Bibraer Zeit erhaltenen Klagebriefe Neumeisters an den zuständigen Superintendenten zu Eckartsberga Friedrich Ernst Kettner (1671–1722), abgedruckt in: von Schade: „Geld ist der Hamburger ihr Gott“ (wie Anm. 64), S. 53–57. Neumeister: De Poetis Germanicis (wie Anm. 26), Nachwort, S. 510. Vgl. Seiffert (Hg.): Krieger (wie Anm. 11), S. XXII.

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beobachtet worden ist. Während man – so Waldberg – „geneigt war“, diese Arien von ihrer späteren Veröffentlichung her als „von den Schwingen der Andacht getragene Dichtungen“ zu betrachten, stellen sie sich in ihrer Manuskriptform dar „als höfische Dedikationspoesie im Sinne jener Gelegenheitsdichterei des 17. Jahrhunderts, die den ‚Göttern dieser Erde‘ ihre Opfer bringt“.94 Wie bei diesem Werk dürfte auch bei den Geistlichen CANTATEN die Initiative von Neumeister ausgegangen sein. Wenn Gottfried Tilgner in der zitierten Vorrede zu seinen Fünfffachen Kirchen=Andachten schreibt, dass dessen erster Kantaten-Jahrgang „auf Hoch=Fürstl. Gnäd. Befehl in die Capelle nach Weissenfels“ gekommen sei, so entspricht dies wahrscheinlich kaum der tatsächlichen Situation. Vielmehr dürfte es sich auch bei den Geistlichen CANTATEN um ein Empfehlungswerk gehandelt haben, zu dessen Veröffentlichung es tatkräftiger Unterstützung von dritter Seite bedurfte. Hier endlich kommt der auf dem Titelblatt der Zweitauflage als Träger der Druckkosten genannte „gute Freund“ ins Spiel, bei dem wir es aller Wahrscheinlichkeit nach mit Neumeisters schon genanntem Leipziger Kommilitonen Johann Burchard Mencke zu tun haben, der als nunmehriger wohlbestallter Professor mit der Finanzierung des Kantatendrucks seinem einstigen Studienfreund einen wahrhaft lebenswendenden Dienst erwies. Von daher ist als Publikationsort weniger der Bestimmungsort Weißenfels als vielmehr Menckes Wirkungsort Leipzig anzunehmen, wo die Neumeister-Kantate, wie hier in groben Zügen gezeigt, ihren Ursprung hat. Um bei allen noch immer offenen Fragen mit etwas Feststehendem zu schließen: Erst als am 1. Advent des Jahres 1702 das erste Stück des Werkes in der Komposition Kriegers in der Weißenfelser Schlosskirche erklang, war der „Cantata“ der Weg in die protestantische Kirchenmusik bereitet.

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von Waldberg: Neumeister (wie Anm. 61), S. 119.

II Kantatentransfers: Die Kantate im europäischen Kontext

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Wechselbeziehungen zwischen der italienischen Kantaten- und Opernproduktion um 1700: Zur „cantata“ in Antonio Vivaldis L’incoronazione di Dario (1717) In seiner Geschichte der weltlichen Solokantate ging Eugen Schmitz mit der ita­ lienischen Lyrik um 1700 hart ins Gericht. Die Rede ist dabei von „in der italienischen Poesie seit Jahrhunderten stereotyp gewordenen Redensarten, ganz zierlich gereimt, ganz artig ausgedrückt, aber auch von unaussprechlicher Langweiligkeit.“1 Die Plattitüdenhaftigkeit der Dichtungen, die einem Großteil der italienischen Kantatenproduktion um 1700 zugrunde liegen, wurde keineswegs nur von Schmitz inkriminiert und mag dazu beigetragen haben, dass sich dieses Repertoire von wenigen prominenten Ausnahmen abgesehen erst seit wenigen Jahren eines gewachsenen Forschungsinteresses erfreut. Neben der Erschließung des Repertoires führten neuere Ansätze auch dazu, die gescholtenen Kantatentexte in einem differenzierteren Licht zu betrachten und etwa ihre Sinnbildlichkeit für die Dynamiken klientelärer Gesellschaftsstrukturen der Barockzeit herauszustellen. Auch liegen mittlerweile recht weitgehende Erkenntnisse über Kantateninhalte, Entstehungszeit und Aufführungsanlässe sowie Funktionen vor, die sich auf die Auswertung von Archivalien, Überlieferungslage und Kantatentexten, akteursbezogene Untersuchungen sowie die Bewertung von Hofmannstraktaten der Jahrzehnte um 1700 stützen.2 Während jedoch die Zuordnung von anlassbezogenen Kantaten und eindeutig politisch bzw. hofkritisch konnotierten Texten vielfach möglich ist, stellt die Kontextualisierung von Kantaten wie den von Schmitz kritisierten, also solchen mit allgemein bukolischen oder amourösen Inhalten, nach wie vor ein Problem dar, was umso gravierender ist, als es sich beim Großteil der italienischen Kantatenproduktion just um solche Fälle handelt: Sofern keine Namen genannt sind, die sich über arkadische Pseudonyme mit identifizierbaren Personen in Verbindung bringen lassen, sind Versuche einer spezifischen Zuordnung zumeist aussichtslos oder bleiben spekulativ.

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Eugen Schmitz: Geschichte der Kantate und des geistlichen Konzerts. 1. Teil: Geschichte der weltlichen Solokantate. Leipzig 1914 (Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen 5), S. 19. Beispielsweise erschienen in Forschungsprojekten zur Musikpflege im Umfeld der Colonna und Pamphili sowie zur römischen Kantate der Händelzeit an den Universitäten Mainz und Zürich folgende Publikationen innerhalb der Reihe MARS (Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento/ Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento): Alexandra Nigito: La musica alla corte del principe Giovanni Battista Pamphilj (1648–1709). Kassel 2012; Lea Hinden: Die Kantatentexte von Benedetto Pamphili (1653–1730) (mit vollständiger Edition). Kassel 2015; Berthold Over (Hg.): La Fortuna di Roma. Italienische Kantaten und römische Aristokratie um 1700. Kassel 2016.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-006

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Auf einer allgemeineren Ebene allerdings eröffnet dieser Löwenanteil des Repertoires noch einiges Erkenntnispotential, wenn man die Vielzahl von Bezügen der italienischen Kantatenproduktion um 1700 zur zeitgenössischen Oper ernster nimmt. Analogien der Arienformen und -inhalte, motivische Übernahmen, analoge Überlieferungskontexte sowie häufig identische Interpreten kennzeichnen die wechselseitige Durchlässigkeit beider Gattungen bei allen Unterschieden, die insbesondere Dimensionen und Aufführungskontexte betreffen. So wurde bislang kaum untersucht, inwieweit etwa die extrem verdichtete Motivation von arioser Affektartikulation, wie sie in der italienischen Kammerkantate massenhaft erprobt wurde, Impulse für die Librettistik im Umfeld der Arcadia bot und sich aus diesem gewissermaßen propädeutischen Experimentalcharakter, für den die exklusive Laborsituation der adelsbestimmten conversazioni den idealen Entfaltungs- und Diskussionsrahmen bot, der enorme Erfolg dieser Gattung zumindest teilweise erklärt. Einen zusätzlichen Ansatzpunkt für die Kontextualisierung von Kantaten mit unspezifischer Thematik bietet ihre Einbettung in Opernhandlungen, da die jeweiligen Aufführungssituationen Rückschlüsse auf zeitgenössische Usancen und die reale Verortung des fraglichen Repertoires erwarten lassen.3 So findet sich in Antonio Vivaldis 1717 am venezianischen Teatro Sant’ Angelo uraufgeführtem Dramma per musica L’incoronazione di Dario (RV 719) am Ende des ersten Aktes die Einschaltung einer „Cantata“, die der in die Prinzessin Statira verliebte Philosoph Niceno komponiert hat und seine Angebetete, die überraschend auftritt, singen lässt, von ihm selbst auf der Viola da Gamba begleitet. Dabei kann die diegetische Einbettung dieser Solokantate in die Opernhandlung, so die Ausgangshypothese, als Gradmesser für das Verhältnis der beiden Gattungen sowohl in musikalisch-kompositorischer wie auch funktional-lebensweltlicher Perspektive interpretiert werden. Wie nachfolgend gezeigt werden soll, erweist sich der Fall als überaus aufschlussreich für grundlegende Mechanismen der Kantatenproduktion, ihre Funktionen und sozialgeschichtliche Relevanz. Dazu sollen zunächst Rahmenbedingungen und Überlieferungssituation von Vivaldis Oper betrachtet werden; sodann wird die Textgestalt und Vertonung der Kantatenszene in den Blick genommen, bevor in einem dritten Schritt die Funktion der Kantate innerhalb der dramaturgischen Konstellation des Librettos zu untersuchen sein wird. In einem Ausblick wird zu fragen sein, inwieweit sich die gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinern lassen. Das Libretto zu L’incoronazione di Dario stammte von Adriano Morselli und war bereits 1684 erstmals von Domenico Freschi für das Teatro S. Angelo vertont worden. Wie die Untersuchungen von Anna Vencato gezeigt haben, kam es nachfolgend zu Wiederaufnahmen und weiteren Vertonungen in Venedig (1685), Bologna (1686), Vicenza (1689) und Turin (1699). In einer Bearbeitung durch Silvio Stam-

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Vgl. zu einem weiteren Fall den Beitrag von Hansjörg Drauschke im vorliegenden Band.

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piglia wurde es in Neapel (1705), Bologna (1711) und Rovigo (1718) aufgeführt.4 Vivaldis Vertonung von 1717 war damit die vorletzte und stützte sich auf eine neue Bearbeitung, die weitgehend unabhängig von der Stampiglia-Version vermutlich von Domenico Lalli vorgenommen wurde.5 Das grundsätzliche Handlungsgerüst blieb dabei unverändert: Nach dem Tod des Cyrus rivalisieren Dario, Oronte und Arpago um den persischen Thron. Einem Orakelspruch zufolge ist die Thronfolge an die Heirat der ältesten Tochter des Cyrus, Statira, geknüpft, der Dario von vornherein in Liebe zugetan ist. Ihre Schwester Argene intrigiert gegen sie, um selbst auf den Thron zu gelangen, und zusätzliche Verwicklungen ergeben sich durch Interven­tio­ nen der Geliebten der beiden anderen Prätendenten. Am Ende finden Statira und Dario zu­einander und letzterer wird gekrönt. Zu den grundlegenden Neuerungen der von Vivaldi vertonten Libretto-Version zählt die hier in Frage stehende Szene 14 des ersten Akts (vgl. Abbildung 1). Beteiligt ist neben Statira der Philosoph Niceno, der als Erzieher und Vertrauter der beiden Prinzessinnen fungiert und Statira heimlich liebt; für die Haupthandlung ist die Bass­ partie jedoch nur von nachgeordneter Bedeutung. Angesiedelt ist die Szene im „Appartamento di Niceno con Globi, libri, stromenti chimici, matematici, e da musica“, wie schon der letzte Szenenkomplex des ersten Aktes in Morsellis Erstfassung des Librettos (vgl. zum Szenenaufbau die Tabelle auf S. 109). Auch die Grundkonstellation der Unterredung des Philosophen Niceno mit der Kronprinzessin Statira bleibt gleich – anders übrigens als in den meisten anderen Bearbeitungen, in denen der Philosoph zumeist durch eine weibliche Vertrauensperson ersetzt ist. Im Unterschied zu 1684 jedoch ist Niceno in der Fassung von 1717 zu Szenenbeginn nicht mit alchemistischen Experimenten beschäftigt, sondern er sinniert über eine selbstkomponierte Kantate, in der er seine aussichtslose Liebe zu Statira thematisiert. Er improvisiert auf der Viola all’inglese, als Statira überraschend hinzukommt und zu Nicenos Gambenspiel ein schlichtes Arioso singt. In dem nachfolgenden Rezitativ sieht er die Gelegenheit gekommen, sich ihr zu offenbaren, indem er sie auffordert, seine Kantate, eine Liebesklage, zu singen. Statira tut dies zu seiner Begleitung, bricht nach der Arie jedoch ab und fragt Niceno, wer denn diese Worte singe. In einem witzigen Dialog versucht dieser, sich ihr nun zu erklären, jedoch missversteht die naive Prinzessin die Andeutungen und bittet ihren Erzieher zu allem Überfluss stattdessen, sie über die Folgen einer Verheiratung aufzuklären, was dieser unter Nöten und verklausulierten Liebesbezeugungen auch versucht. Sie allerdings bleibt weiterhin ahnungslos und bekundet in ihrer die Szene beschließenden Abgangsarie lediglich ihr Missfallen über die Auskunft Nicenos, dass ihre

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Anna Vencato: Morselli, Stampiglia e Vivaldi: Tre rivali al soglio ovvero L’incoronazione di Dario. In: Atti dell’Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, t. 155 (1996–1997). Classe di scienze morali, lettere ed arti, Venezia: Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, S. 415–506. Reinhard Strohm: The Operas of Antonio Vivaldi. Bd. 1. Florenz 2008, S. 196.

Abb. 1: Libretto L'incoronazione di Dario, Venezia: Marino Rossetti 1717.

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Augen, ihre Lippen und ihr Busen nach der Hochzeit nicht mehr ihr selbst, sondern dem Gemahl gehören würden. Während der zweite Teil der Szene sich bereits in der Erstfassung vorgeprägt findet, sind Komposition und Aufführung der Kantate ohne jedes Vorbild. Dass sie speziell auf die Konstellation am Teatro Sant’ Angelo des Winters 1716/17 abgestimmt waren, verdeutlicht ein Blick auf die Besetzung. Als Interpret des Niceno ist Angelo Zannoni angegeben, der nicht nur ein renommierter Bass, sondern auch geschätzter Gambenspieler war. Drei Jahre zuvor war er in London nicht nur als Händels erster Argante in der Uraufführung des Rinaldo, sondern verschiedentlich auch als Solist mit der Bassgambe aufgetreten.6 Die Einschaltung der Kompositionsszene sollte also offenkundig die Doppelbegabung des Solisten ausstellen und damit zugleich die Attraktivität der Produktion erhöhen. Auf die Konzeption der Szene wurde einige Sorgfalt verwandt. Den Untersuchungen Sardellis zu musikalischen Konkordanzen im Œuvre Vivaldis zufolge findet sich für keine der drei ariosen Nummern eine musikalische Entsprechung im Schaffen Vivaldis.7 Auch Textkonkordanzen konnten für diese nicht eruiert werden. Die beiden Eröffnungsverse des Eingangsrezitativs der Kantate jedoch, „Ardo tacito amante e il foco mio/ Celar non posso, e palesar non oso“, zitieren den Beginn eines Gedichts von Girolamo Preti, das in seiner 1614 erschienenen und häufig nachgedruckten Gedichtsammlung unter der Überschrift Amante timido figuriert.8 Es sind noch zwei weitere Kantaten mit diesem Textincipit erhalten, von denen eine anonym überliefert ist, die andere von Francesco Mancini vertont wurde. Beide spinnen ebenso wie im vorliegenden Fall den Text unabhängig von Preti fort.9 Vermutlich handelt es sich auch bei Preti um eine Anleihe, denn in Luoghi-comuni-Sammlungen findet sich das Incipit ebenfalls: Spadas Giardino degli epiteti verzeichnet es etwa unter dem Stichwort „duolo soave“, allerdings mit Bezug auf ein Gedicht Pignatellis.10 Offenbar wurde also von Vivaldis Textbearbeiter bewusst eine verbreitete, zum Arsenal der Stegreifdichtung zählende Standarderöffnung gewählt, um die Kantate eindeutig in einem Milieu schöngeistiger Dilettantendichtung zu verorten und der Szene damit Realitätsnähe zu verleihen. Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein, zunächst allerdings sei der Blick auf Vivaldis musikalische Umsetzung dieser Szene gerichtet.11  6  7  8  9

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Peter Holman: The Viola Da Gamba in Britain from Purcell to Dolmetsch. Woodbridge 2010, S. 111. Federico Maria Sardelli: Catalogo delle concordanze musicali vivaldiane. Florenz 2012, S. 209  f. Hier verwendete Ausgabe: Venedig: Brigna 1656, S. 47. Vgl. Giulia Giovani: Scheda numero 5524. URL: http://cantataitaliana.it/query_bid.php?id=5524 [11. 11. 2015]; Josephine R. B. Wright: The secular cantatas of Francesco Mancini, Diss. New York University 1975, S. 318. Giovanni Battista Spada: Giardino degli epiteti, traslati, et aggiunti poetici italiani. Bologna: Benacci 1648, S. 237. Mein Dank gilt dabei dem Istituto Italiano Antonio Vivaldi in Venedig, das mir eine vorläufige Partiturausgabe der Oper zur Verfügung gestellt hat.

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Die Anlage der Szene und die Einbettung der Kantate können in textlicher wie musikalischer Hinsicht als schillernd bezeichnet werden. Dem Libretto zufolge ist der Kantatenbeginn klar mit dem Rezitativ „Ardo tacito amante“ markiert und Vivaldi verortet es ebenso wie die Arie eindeutig in d-moll (Notenbeispiel 1a und 1b). Der Beginn des folgenden Rezitativs „Cosi dicea“ suggeriert, dass die Kantate hier eigentlich fortgesetzt werden soll: Statira (und mit ihr der Hörer) erwartet, dass nun der Name einer Person, typischerweise eines Hirten, folgt, dessen unerwiderte Liebe nun näher zu skizzieren wäre. Ein solcher Perspektivenwechsel von der wörtlichen Rede eines lyrischen Ichs zu einem Erzähler ist in vielen Kantaten zu beobachten, jedoch bricht Nicenos Komposition hier offenbar ab, was Statira zu der Frage veranlasst „Ma chi dicea così?“, womit die Diegese verlassen wird und ein Dialog zwischen den beiden Akteuren beginnt. Das Rezitativfragment „Così dicea“ lässt Vivaldi in F-Dur einsetzen (Notenbeispiel 1c). Dies stellt harmonisch einen Rückbezug zu Statiras Auftrittsworten „Niceno al suon“ sowie dem Arioso „Godi pur“ her, das in seiner gebrochenen Dreiklangsmelodik über der Tonika zudem engstens mit der Arie der Kantate verwandt ist (Notenbeispiel 2). Ausgehend von Tonartenplänen, wie sie für die Solokantate um 1700 typisch sind,12 legt dieser Rückbezug nahe, dass Vivaldi dieses Arioso bereits als Teil der Kantate auffasst: Sie bildet den ersten ariosen Kantatenteil in der Haupttonart F-Dur, woran sich eine Modulation zur Paralleltonart anschließt, bevor im Schlussrezitativ die Rückkehr zur Haupttonart erfolgt. Erst der dann folgende Dialog und Statiras Abgangsarie entfernen sich von der harmonischen Sphäre der Kantate und machen damit auch musikalisch deutlich, dass die Rückkehr zum Dramma per musica endgültig erfolgt ist. Relativiert wird diese Deutung freilich durch das Libretto. Statira improvisiert demnach bei ihrem Auftritt ein Lied zu Nicenos Gambenspiel; dass er sie begleitet, macht auch ihre Aufforderung „Siegui Niceno“ am Ende der zweiten Strophe deutlich, als dieser offenkundig innegehalten hatte. Die gemeinsame Musiziersituation unterscheidet sich also von der Kantatenaufführung ganz grundlegend, so dass es eher abwegig erscheint, bereits hier den Beginn der Kantate anzusetzen. Tatsächlich vollzieht Vivaldi diese Unterscheidung zwischen Improvisation und eigentlicher Kantate auch in der Instrumentation mit: Während die Begleitung der Viola all’inglese in der Kantate auskomponiert ist, wird das Arioso durch eine Solovioline begleitet (Notenbeispiele 1 und 2). Das Libretto legt nahe, dass Niceno mit der Gambe dabei den Bass übernimmt, allerdings heißt es in der Partitur ausdrücklich „Cembalo solo“ (Notenbeispiel 2). Niceno lauscht also Statiras Gesang, begleitet ihn aber nicht. Diese musikalische Mehrdeutigkeit korrespondiert mit der Dramaturgie der Szene in ihrer Vielschichtigkeit der Rollen, Perspektiven und Subtexte. In Nicenos Gambenimprovisation, die der Bewältigung seiner Liebesqualen dient, fällt Statira mit ihrem Arioso ein, dessen Text in der konkreten Situation ihre Naivität unterstreicht,

12

Michael Talbot: The Chamber Cantatas of Antonio Vivaldi. Woodbridge 2006, S. 44–60.

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Notenbeispiel 2

denn unbewusst gibt sie Niceno Anlass zur Hoffnung auf Erhörung. Der Text suggeriert nämlich, sie verstünde sein Musizieren als Ausdruck eines „diletto“, der sie affiziere und mit diesem „incanto del piacer“ ihr Herz reize. Es ist aber offenkundig, dass Statira dies nicht als reale Gefühlsäußerung gegenüber Niceno, sondern als unbefangenes Rollenspiel ohne doppelten Boden begreift. Nur für den wissenden Zuschauer, der um Nicenos Liebesqualen weiß, wird die Tragikomik des Missverständnisses offenbar. Niceno allerdings treibt nun das zufällig herbeigeführte Rollenspiel bewusst einen Schritt weiter: Indem er Statira durch das Absingen der Kantate seine eigene Rolle einnehmen lässt, hofft er, dass sich ihr seine realen Gefühle erschließen. Erst im rezitativischen Dialog nach der Kantate wird dieses subtile Rollenspiel beendet und Niceno durch Statiras naive Begriffsstutzigkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Arioso und Kantate sind also gleichermaßen Bestandteil besagten Rollenspiels, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Im Arioso schlüpft Statira zufällig und unbewusst in die Rolle der erfolgreich Angebeteten, in der Kantate ist sie – wiederum unbewusst, aber gesteuert – zugleich Interpretin und Adressatin von Nicenos Liebesbekundung. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Vivaldis kompositorische Handhabung dieser szenischen Konstellation. Auf harmonischer und melodischer Ebene wird ein logischer innerer Zusammenhang konstituiert, wohingegen die Instrumentierung die Ebenen klar voneinander trennt: Während die Gambenbegleitung der Kantate eindeutig Nicenos Beteiligung und Autorschaft signalisiert, bewirkt die Solovioline im Arioso eine Objektivierung der Perspektive. Von den dramaturgischen und musikalischen Strategien der eigentlichen Arien des Dramma per musica, in denen die Perspektive zumeist eindeutig und die Affekt-

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artikulation bzw. -reflexion unmittelbar den dramatis personae zugeordnet ist, unterscheidet sich die vorliegende Konstellation sehr weitgehend. Dennoch lässt das Beispiel auch die prinzipielle Nähe zwischen Opernszene und Kantate deutlich werden, denn wäre Statira nicht aufgetreten und hätte Niceno seine Kantate selbst gesungen, wäre sie von einer selbstreflexiven Lamentoarie kaum zu unterscheiden gewesen. Eine Kantate erscheint damit potentiell auch als eine in die Realität transponierte Opernszene, in der die dramatis personae durch wirkliche Personen ersetzt sind. Die literarische Qualität der analysierten Szenenanlage kann als zusätzliches Indiz dafür gewertet werden, dass es sich bei dem anonymen Bearbeiter des Librettos um den vielgerühmten Domenico Lalli handelte, der insbesondere während seiner Tätigkeit für Emanuele d’Astorga zahlreiche Kantatenlibretti verfasst hatte und insofern bestens mit dem Anspielungsreichtum dieser Gattung vertraut war. So oder so aber bietet die Szene, bei aller literarischen Stilisierung, wesentliche Aufschlüsse über die sozialgeschichtliche Verortung und Funktion der italienischen Kantatenproduktion um 1700, über die es ansonsten, wie eingangs erwähnt, nur indirekte Informationen gibt. Zunächst lässt die Szene keinen Zweifel an der sehr persönlichen Dimension der Kantatendichtung und -komposition. Ebenso wie Nicenos Kantate, in der er sich mit einer Gefühlslage auseinandersetzt und sie gleichermaßen reflektiert und ventiliert, tragen zahlreiche Kantatentexte den Charakter von Bewältigungsstrategien, die der Verarbeitung von Gefühlszuständen und -entwicklungen dienen. So zeigten etwa die Untersuchungen Lea Hindens zu den Kantatentexten des Kardinals Benedetto Pamphili, dass diese ein breites Spektrum der Reflexion von Gefühlslagen abdecken und zunächst für sich standen, bevor dann einzelne von ihnen zur Vertonung und Verbreitung vorgesehen wurden.13 Dass nun Niceno bei der Dichtung seines Kantatentextes von der Kopfzeile eines verbreiteten Preti-Gedichts über einen „amante timido“ ausging und diese dann frei weiterführte, entsprach, wie erwähnt, ebenfalls einer verbreiteten Praxis der Dilettantendichtung. Bedeutsam erscheint ferner die Verortung der idealisierten Kantatenaufführung im höfisch-adeligen Kontext des persischen Königshauses. Die Rolle von Dichtung und Musik war bei Hof traditionell in besonderem Maße verankert und schon in der Erziehung grundlegender, selbstverständlicher Bestandteil der Affektregulierung im Rahmen des Otiums (was auch erklärt, dass Statira so unbefangen auf Nicenos Musizieren reagiert und spontan daran Anteil nimmt); darüber hinaus sind es aber auch die Möglichkeiten der temporären Ausschaltung hierarchischer Unterschiede, die der künstlerischen Praxis innerhalb der komplexen ständischen und klientelären Regeln des Hoflebens eine so wichtige Bedeutung verleihen. Ebenso wie in den Zusammenkünften der Accademia dell’Arcadia oder den conversazioni in den Adelspalästen bietet auch Nicenos Musizieren mit Statira die Möglichkeit einer imaginier-

13

Lea Hinden: Die Kantatentexte von Benedetto Pamphili (wie Anm. 2), S. 56–96 u. passim.

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ten Einebnung der Standesgrenzen, die die Hoffnung auf eine reale Liebesbeziehung zumindest im Geheimen mit einschließen mochte. Schließlich dürfte auch das skizzierte Rollenspiel, das Wissen und Nicht-Wissen der Beteiligten um reale und inszenierte Gefühlslagen, ein essenzieller Bestandteil der Performanz von Kantaten in Adelskreisen gewesen sein, der sich freilich in den wenigsten Fällen rekonstruieren lässt. So hat, um ein beliebiges von zahlreichen Beispielen zu nennen, Michael Talbot auf die mutmaßlichen Bezüge zu intimen Details des Hoflebens hingewiesen, die sich in Vivaldis nur ein Jahr nach dem hier diskutierten Beispiel entstandenen Kantaten für den Mantuaner Hof abzeichnen und aus der Sicht der Hirten Daliso und Clori in bewusster Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ausgehandelt werden.14 Für Händels römische Kantaten haben Ellen T. Harris, Ursula Kirkendale u.  a. teils sehr weitgehende und umstrittene Deutungsoptionen vorgeschlagen, die überdies noch von einer unmittelbaren Involvierung der Komponisten und Interpreten in diese Rollenspiele ausgehen.15 Als markantestes Beispiel sei an Benedetto Pamphilis Kantatentext „Hendel, non puo mia musa“ erinnert, den Händel als im Text Gepriesener selbst vertont und damit in ein komplexes Beziehungsgeflecht zu seinem Patron und Textdichter eintritt. Über das konkrete Setting der Aufführungen dieser und nahezu aller anderen ita­lie­nischen Kantaten ist nichts bekannt; die Kantatenszene in L’incoronazione di Dario allerdings führt exemplarisch ein solches Setting mit seinen multiplen Implikationen vor Augen, mit einer Tragweite, die potentiell auch für weite Teile der zeitgenössischen Kantatenproduktion zu veranschlagen ist. Allerdings zeigt die Szene zugleich, dass diese Dimension der Kantatenproduktion und -performanz ganz im Privaten, vielfach Imaginären und Zufälligen verortet war. Schon bei den unmittelbar Beteiligten konnte sie Anlass zu Missverständnissen geben, so dass sie sich vollends einer eindeutigen Interpretierbarkeit entzieht. Die Szene verdeutlicht also das zen­ trale methodische Problem im Umgang mit der italienischen Kammerkantate: Über die eigentliche Dimension der „zierlich gereimten Redensarten“, die Eugen Schmitz als so unaussprechlich langweilig empfand, kann in den allermeisten Fällen bestenfalls gemutmaßt werden.

14 15

Talbot: Chamber Cantatas (wie Anm. 12), S. 99–102. Ellen T. Harris: Handel as Orpheus. Voice and Desire in the Chamber Cantatas. Cambridge MA 2001; Ursula Kirkendale: Händel bei Ruspoli. Neue Dokumente aus dem Archivio segreto Vaticano, Dezember 1706 bis Dezember 1708. In: Händel-Jahrbuch 50 (2004), S. 309–374, hier: S. 317  f. und passim.

Zur „cantata“ in Antonio Vivaldis L’incoronazione di Dario

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Tabelle: Vivaldi, L’incoronazione di Dario, 1. Akt, Szene 14 (Szenenaufbau) Appartamento di Niceno con Globi, libri, stromenti chimici, matematici, e da musica Recitativo Niceno (allein)

D > (…) > C

(Qui suona) (Partitur: I,15) Recitativo Statira: Niceno al suon

F

(Arioso) Statira: Godi pur de’ tuoi diletti

F>C>F

Recitativo Niceno, Statira

F>a

Cantata Statira:    Recitativo: Ardo tacito amore

d>g

   Aria: L’adorar beltà che piace

d>a>d

Recitativo Statira, Niceno: Cosi dicea

F > C > (…) > g

Aria Statira: L’occhio, il labbro, il seno, il core

g/c, Es

Berthold O ver

Liebeskonzeptionen in der italienischen und deutschen Kantate

Das Thema Liebe spielt in der Kantatenpoesie seit dem 17. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Während in Italien jedoch Kantatentexte relativ unkonkret sind, interpretiert werden können (sollen und dürfen) und sich gerade für die Liebesthematik verschiedene Lesarten anbieten, scheinen deutsche Kantatentexte weitaus konkreter zu sein und eine moralische Intention zu favorisieren. Der Transfer des Typus in einen anderen kulturellen Zusammenhang hat offenbar einen tiefgreifenden Transformationsprozess in Gang gesetzt, der letztendlich dazu geführt haben mag, dass die Kantate im protestantischen Gottesdienst nutzbar wurde. Im Folgenden sollen hauptsächlich zwei verschiedene Spielarten der Kantatenpoesie in Italien, nämlich Kantaten mit Kasual- und Liebesthematik, deutschen Kantatendichtungen gegenübergestellt werden. Es gilt, Charakteristika, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der italienischen und deutschen Kantatenpoesie herauszuarbeiten, um letztendlich ein wenig Licht in den bislang kaum betrachteten Transformationsprozess zu bringen.

1  Liebeskantaten in Italien Liebe ist die zentrale Thematik der Kantate um 1700 in Italien. Selbstverständlich existierten daneben zahlreiche andere thematische Spielarten – allegorische, heroische, komische, moralische Kantaten. Doch greifen diese oftmals das Thema Liebe ebenfalls auf, und insgesamt bilden sie eindeutig die Minderheit des gesamten italienischen Kantatenschaffens. Eng verbunden mit dem Liebesthema ist das Thema des Pastoralen, das nicht erst mit der Gründung der römischen Dichterakademie Arcadia im Jahr 1690 die Kantatenpoesie bestimmt. Die breite Dissemination des Themas Liebe wirft jedoch einige Fragen auf. Liebeskantaten wurden in staatstragenden Kontexten aufgeführt, etwa zum Staatsbesuch Philipps V. von Spanien in Neapel 1702,1 zur Geburt des Duc de Bretagne 1704,2 zum

1

2

[Anon.]/Alessandro Scarlatti: Clori, Dorino e Amore. Vgl. Thomas Edward Griffin: The Late Baroque Serenata in Rome and Naples: A Documentary Study with Emphasis on Alessandro Scarlatti. California 1983, S. 365–367. Die Kantate wurde am Namenstag des Königs aufgeführt. Giacomo Buonaccorsi/[Anon.]: Le gare festive in applauso alla Real Casa di Francia con occa­ sione della nascita del Serenissimo Duca di Bertagna [!] festeggiata dall’Illustriss., ed Eccellentiss. Signore, il Signor Principe di Palestrina D. Urbano Barberini Grande di Spagna di prima classe, e Cavaliere del Toson d’Oro, […] dedicata all’Eccellentissima Signora, la Signora D. Isabella Maria Giron Duchessa d’Uzeda Ambasciatrice di Spagna. Rom 1704.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-007

Liebeskonzeptionen in der italienischen und deutschen Kantate

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Geburtstag der Kaiserin Elisabeth Christina 17143 oder zum Einzug des portugiesischen Botschafters in Rom 1721.4 Wie ist hier Liebe zu verstehen? Kardinäle, wie etwa Kardinal Benedetto Pamphilj, dichteten Liebeskantaten.5 Wie ist die Beschäftigung mit dem Thema mit ihrem Stand zu vereinbaren? Auch wird das Liebesthema bisweilen mit anderen Themen vermischt, etwa in Georg Friedrich Händels Kantate Mentre tutto è in furore, in der liebende Schäfer in einer Kriegssituation auftreten. Wie ist hier Liebe mit dem Thema des Krieges zu verbinden? Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass italienische und speziell römische Kantaten oft Konkretisierungen vermeiden, um Subtexte zuzulassen. Häufig ergehen sie sich in Anspielungen, die heute zu entschlüsseln nicht unproblematisch ist, in der damaligen Zeit aber jedem Eingeweihten evident gewesen sein dürften. Besonders signifikant sind Gelegenheitskantaten, an denen beispielhaft gezielte Kryptisierungen aufgezeigt werden sollen. Der Text der 1689 für Kardinal Pamphilj kopierten Kantate Già lunsingato appieno von Alessandro Scarlatti weist keine konkreten Bezüge zu Personen, Orten oder Aktivitäten auf. Handelnde Person der Kantate ist ein „anglico eroe“, der in sein Königreich zurückkehren und den Thron wiedererobern möchte und daher seiner Frau und seinem Sohn Lebewohl sagt: Già lusingato appieno Da Zeffiri, dal mar, dal cielo sereno Volgeva il piede al legno L’anglico eroe per ricondursi al regno, Quando le luci affisse Nella sposa e nel figlio E alle voci, che amore Gl’intonava nel core, Rese l’eco la lingua e così disse:

Wer mit diesem „anglico eroe“ gemeint ist, wird in der Kantate mit keinem Wort erwähnt. Und wenn man nicht aus einer anderen, erst kürzlich entdeckten Quelle wüsste, dass es sich um den abgesetzten englischen König James II. handelte,6 könnte 3

4

5

6

Paolo Rolli/Giovanni Bononcini: Sacrificio a Venere. Serenata fatta cantare nel felicissimo giorno natalizio della S.C.R.C.M. dell’Augustissima Imperatrice Elisabetta Cristina dall’Illustriss. ed Eccellentiss. Sig. Gio. Vincislao di Gallasso Ambasciador Cesareo, e Cattolico in Roma. Neapel 1714. Gaetano Lemer/Alessandro Scarlatti: La virtù negli amori. Componimento musicale fatto cantare dall’Eccellenza del Signor D. Andrea de Melo de Castro Ambasciadore ordinario della Maestà del Re di Portogallo in occasione di pubblica gioja per il solenne possesso preso dalla Santità di N.S. Papa Innocenzo Decimoterzo nel giorno 16 di novembre dell’anno 1721. Rom 1721. Zit. nach Claudio Sartori: I libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici. Bd. 5. Cuneo 1992, S. 499 (Nr. 25007). Lea Hinden: Die Kantatentexte von Benedetto Pamphilj (1653–1730) (mit vollständiger Edition). Kassel 2015 (MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 2). Der Text befindet sich im Fondo Campello in Spoleto, F. ms.n.55, und ist mit Pel ritorno di Giacomo II al Regno d’Inghilterra/ Cantata überschrieben. Vgl. Teresa Chirico: Il fondo dei

112

Berthold Over

man eine wahre Phalanx an historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten aufbieten, die dem „Profil“ entsprechen würden. Der katholische James II. verließ tatsächlich aufgrund der Glorious Revolution im Dezember 1688 England, um Zuflucht in Frankreich zu suchen. Im März 1689 landete er in Irland und plante von dort aus die Rückeroberung des englischen Throns.7 Das ist die historische Situation, die der im Juli 1689 kopierten Kantate zugrunde liegt und auf die sich die Anspielungen beziehen. Die literarische und musikalische Verarbeitung der Situation zeigt, dass das Schicksal des Königs, mit dem man offenbar Hoffnungen auf eine Rekatholisierung Englands verband, Rom zutiefst interessierte. Die ähnlich anlassgebundene Kantate Non cessate aquiloni, io voglio guerra von Carlo Francesco Cesarini ist ebenfalls ohne den sich nicht selbst erschließenden historischen Hintergrund kaum verständlich.8 Die Dialogkantate zwischen Nettuno und Innocenza spielt sich an einem Meeresstrand ab. Nettuno ergötzt sich am aufgewühlten Meer, während Innocenza bemüht ist, die Wellen zu glätten. Sie schafft es und ruft Tauben mit dem Ölzweig herbei: Sù dunque, non tardate, Candide mie colombe, à sciorre il volo E gl’ulivi portate Di bella pace all’uno e l’altro polo.

Dieses Bild, das uns aus der Noah-Geschichte bekannt ist, scheint wie Innocenzas Wunsch, dass im Meer die Schiffe sicher fahren, einen religiösen Hintergrund nahezulegen. Einen konkreten Hinweis auf eine historische Situation erhält man indessen durch den Befehl Innocenzas, den antiken Hafen von Anzio dort wiedererstehen zu lassen, wo die Tauben die Olivenzweige pflanzen werden: Tu dunque segui il loro [delle colombe] volo, e dove Piantano sovra il lido il verde olivo, Io voglio, che tu veggia risorto D’Anzio su le ruine amico il porto.

7

8

Campello di Spoleto: autografi ottoboniani e altri testi per musica. In: Analecta musicologica 37 (2005), S. 85–178, hier: S. 163. Eine „Cantata con VV. p. il Rè d’Inghilterra“, die sicherlich mit der Scarlatti-Kantate identisch ist, wurde 1689 für Kardinal Pamphilj kopiert. Vgl. Hans Joachim Marx: Die „Giustificazioni della Casa Pamphilj“ als musikgeschichtliche Quelle. In: Studi musicali 12 (1972), S. 121–187, hier: S. 159 (Dok. 67 vom 5. Juli 1689). Die Kantate ist in der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Musikabteilung, MA/252 überliefert, der komplette Text ist in: Clori. Archivio della cantata italiana, URL: http://cantataitaliana.it/, scheda 2049 zu finden. Tim Harris: Revolution. The Great Crisis of the British Monarchy, 1685–1720. London 2007, S. 305, 433–445; Edward Gregg: France, Rome and the Exiled Stuarts, 1689–1713. In: Edward Corp: A Court in Exile. The Stuarts in France, 1689–1718. Cambridge 2004, S. 11–75, hier S. 22–27. Clori (wie Anm. 6), scheda 1404.

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Dieser vage Hinweis ist der Schlüssel für das Verständnis der Kantate. Er verweist darauf, dass die Kantate vor dem Hintergrund des seit 1697 erfolgten Wiederaufbaus des Hafens von Anzio zu lesen ist, einem großen päpstlichen Wirtschaftsförderungsprojekt, das die Sicherung des Schifffahrtswegs entlang der Küste und einen verstärkten Warenfluss nach Rom intendierte. Und in der Tat stecken hinter Nettuno und Innocenza Personifikationen der Stadt Nettuno, in deren Nähe der Hafen liegt, und des Papstes Innocenzo bzw. Innozenz XII., der 1697 dorthin reiste, um sich ein Bild von der Topographie und den geplanten Baumaßnahmen zu machen. Die Tauben, die in ihren Schnäbeln einen Olivenzweig halten, verweisen auf Kardinal Benedetto Pamphilj, der das Projekt im Vorfeld bereits vorantrieb, verantwortlich für den Wiederaufbau war und dessen Wappen die Taube mit Olivenzweig enthielt.9 Viele subtile Anspielungen erhalten durch diese kurz skizzierte historische Situation eine Bedeutung und unterstützen die Lesart. Nettuno beschreibt Innocenza folgendermaßen: Al candor delle vesti e al nuovo armento Cosa mortal non sembra E men feroce parmi, ch’ogni elemento Si renda a un cenno sol della sua voce.

Hier wird durch die Reinheit ihrer Kleidung – der Papst trug wie heute als Hauptkleid ein weißes Gewand –,10 ihre quasi überirdische Existenz und ihre allumfassende Macht eine Apologie des Papsttums manifest. Auch andere Formulierungen verweisen auf das Papsttum wie diese Anspielung auf das Fischerdasein des Hl. Petrus: Pronta movo le piante al mare in riva, Che la memoria viva Tengo dentro il mio core Dell’uffizio primiero, Che trattava sul onde il mio gran Piero.

Die mehrfache Erwähnung des Schiffers hingegen, der die unsicheren Fluten durchqueren muss, ist keinesfalls ein Bild des im Meer des Lebens umherirrenden Menschen,11 sondern bezieht sich konkret auf die Situation im Tyrrhenischen Meer, dessen See ebenso Gefahren barg wie die umherziehenden Korsaren.

 9 10

11

Vgl. dazu meine in Vorbereitung befindliche Studie: „Parlar’ in enigma“. Die römische Kantate im höfischen Kontext der Händelzeit. „Era il Papa vestito del suo abito lungo bianco, con rocchetto, mozzetta rossa, stola e cappello rosso.“ June di Schino u. Furio Luccichenti (Hg.): Viaggio di Papa Innocentio XII da Roma a Nettuno l’anno 1697. Rom 2001, S. 15. Dieses aus der Emblematik bekannte Bild wurde häufig im geistlichen Zusammenhang eingesetzt. Berthold Over: Per la gloria di Dio. Solistische Kirchenmusik an den venezianischen Ospedali im 18. Jahrhundert. Bonn 1998 (Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 91), S. 156–158.

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Auch die genannten Liebeskantaten, die zu Staatsanlässen aufgeführt wurden, verzichten oftmals auf eine konkrete Nennung von Personen und Situationen. So werden beispielsweise in der 1704 zur Geburt des Duc de Bretagne, Louis de Bourbon, aufgeführten Kantate Ludwig XIV. und Philipp V. von Spanien namentlich erwähnt, das Kind jedoch nur mit „Britannico Duce“ umschrieben – eine Formulierung, die höchst missverständlich ist, da das italienische „britannico“ sowohl „bretonisch“ als auch „britisch“ bedeuten kann. Der Anspielungsreichtum entspricht einer Tendenz, die vor allem in Rom verbreitet gewesen zu sein scheint, und die die Notwendigkeit der Interpretation poetischer Texte postulierte. Wenn wir zum Thema Liebe zurückkehren, so konnten Liebestexte durchaus wörtlich verstanden werden. Sie lassen sich jedoch auch auf Basis der neuplatonischen Liebesphilosophie lesen, die als Interpretationsangebot etwa auf Geheiß und unter Mitarbeit Christinas von Schweden von Stefano Pignatelli 1680 ausführlich in seinem Werk Quanto più alletti la bellezza dell’animo, che la bellezza del corpo dargestellt wurde. Wie Pignatelli in seinem Vorwort schrieb, sollte sein Buch zur „difesa de’ nostri Poeti“ beitragen, deren Werke von „molti“ als „privi di quell’innocente candore, e di quel laudevol costume del cigno, c’hà per natura di non ber mai dell’acqua torbida“ angesehen würden.12 Die Sublimierung der Poesie durch die neuplatonische Liebesphilosophie sollte folglich quasi als Ehrenrettung der als „lasziv“ verschrienen Dichter fungieren. Auch die Arcadia bediente sich vorwiegend des neuplatonischen Interpretationsmodells.13 Ein Text wie der folgende lässt durch bestimmte inhärente Vorstellungswelten eine Kenntnis der neuplatonischen Liebesphilosophie annehmen: E dove mai l’inferno Hà pene e fiamme tali, Che si rendano eguali Al penoso, ch’io soffro, incendio interno? Tutto l’Inferno è foco, Ma è poco al paragon del foco mio. E l’anime dannate, Disperate non son, come son io. Amor fiero mi rende E fiero in tormentarmi ogn’or s’avanza E più fiero mi rende Disperata in amore ogni speranza.

12

13

Stefano Pignatelli: Quanto più alletti la bellezza dell’animo, che la bellezza del corpo. Alla Sacra, e Real Maesta di Cristina Reina di Svezia. Trattato. Rom 1680: „L’autore a chi legge“, unpaginiert. Zur Dominanz dieses Modells bei der Arcadia vgl. Michele Mari: Venere celeste e Venere terrestre. L’amore nella letteratura italiana del Settecento. Modena 1988 (Il vaglio. Studi e documenti di storia della cultura italiana 4), S. 15–27.

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Spero vita e amore in sorte Cruda morte ogn’or mi dà. E per darmi più martire Mai morire non mi fa. Che morte? ah ch’io m’inganna, Tu Amor, nume tiranno, Mentre vita mi dai, Da me quanto più sai, l’alma dividi E col negarmi morte, empio, m’uccidi. All’alma smarrita In morte la vita Si cangia per te. Tu viver mi fai, Crudel, perché sai, Ch’è peggio per me.14

Gemäß der neuplatonischen Liebesphilosophie erleidet ein Liebender den Tod, wenn seine Liebe nicht erwidert wird. Erwiderte Liebe bedeutet Herzens- und Seelentausch der beiden Liebenden. Ist dieser aufgrund einer unerwiderten Liebe durch die Geliebte nicht möglich, stirbt der Liebende.15 Die in vielen Texten angesprochene Schönheit der Geliebten lässt sich ebenfalls auf die neuplatonische Liebeslehre beziehen: Filli cara e adorata, Qual momento felice Sorte benigna à questo cor concede D’adorar quei bei lumi, Per cui le luci mie piangon ogn’ora Troppo impiaga e innamora Vicin un sì bel volto Ebro di gioia, homai confuso (?) ho il seno. Pietà, ch’io vengo meno. Non più, pupillette, Vi chiedo pietà. I sguardi celate À un misero cor; Deh più, non scoccate E troppo perfette Voi siete in beltà. Mà, oh Dio, perchè sospiri, Alma di questo cor, mentre ch’io peno? Forse l’aspro martire, Che versa nel mio sen, strugge il tuo core.

14 15

[Anon.]/Francesco Mancini; Clori (wie Anm. 6), scheda 1754, 4358. Pignatelli: Quanto più alletti (wie Anm. 12), S. 133–151.

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Ah sì, che ben comprendo, Che non può star la vita Senza l’anima unita. Hor che solo qui dolente, Il mio duol chiede ristoro. Sol un bacio, cara, imploro, Che ravviva il cor languente. Così frà gioi (!) immense Imprimerò sopra il labro amato Col bacio il spirto e morirò beato.16

Die äußerliche Schönheit verweist auf die auf Tugendhaftigkeit beruhende Schönheit der Seele, die vom Liebenden angebetet wird, auf das Göttliche verweist und in einer kausalen Beziehung zum Liebesvorgang steht.17 Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ergibt sich aus der konkreten damaligen sozialen Praxis des Klientelismus. Liebe ist eine wichtige Kategorie in der Beziehung zwischen Klient und Patron: Der Klient muss den Patron lieben, um persönliche Vorteile zu erlangen. Der Patron kann seine Liebe in Form seiner Gunst geben oder verwehren. In diesem Sinne agiert der Patron wie eine Geliebte, die ihre Liebe erwidern oder verweigern kann.18 Im ersten Fall durchlebt der Liebende eine glückliche, im zweiten eine unglückliche Liebe – letztere eine Situation, die in der Kantatenpoesie in petrarkistischer Manier unzählige Male durchgespielt wurde. In der bereits erwähnten Kantate Mentre il tutto è in furore e d’ogni intorno von Georg Friedrich Händel beispielsweise spricht eine Schäferin zu ihrem Schäfer. Die Kantate evoziert eine Kriegssituation, die zur Zeit der Entstehung des Stücks 1707/08 konkret im Spanischen Erbfolgekrieg vorlag.19 Der Krieg berührte direkt Territorien des Kirchenstaats, die durch kaiserliche Truppen besetzt wurden, so dass der Papst in die Kampfhandlungen involviert wurde. Marchese Ruspoli, für den die Kantate entstanden war, unterstützte durch die Aufstellung eines Regiments im Jahre 1708 den französisch gesinnten Papst und griff damit in die Kämpfe ein.

16 17

18

19

[Anon.]/Domenico Sarro; Clori (wie Anm. 6), scheda 1614. Pignatelli: Quanto più alletti (wie Anm. 12), S. 23–32. Bezeichnenderweise wird die oben erwähnte Kantate für Philipp V. in einem avviso vom 2. Mai 1702 als „una Cantata in musica in lode delle virtù Reali che adornano l’anima del monarca“ beschrieben (Griffin: The Late Baroque Serenata, wie Anm. 1, S. 366). Sie ordnet sich so in den Tugenddiskurs des Neuplatonismus ein. Berthold Over: The Cantata and Aristocratic Ethos. In: Ders. (Hg.): La Fortuna di Roma. Italienische Kantaten und römische Aristokratie um 1700/ Cantate italiane e aristocrazia romana intorno il 1700. Kassel 2016 (MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 231–252. Reinhard Strohm: Händel in Italia. Nuovi contributi. In: Rivista italiana di musicologia 9 (1974), S. 152–174; Ursula Kirkendale: The War of the Spanish Succession Reflected in Music by Antonio Caldara (Mantua, Milan, Vienna, Rome). In: Ursula Kirkendale u. Warren Kirkendale (Hg.): Music and Meaning. Studies in Music History and Neighbouring Disciplines. Florenz 2007 (Historiae musicae cultores. Biblioteca 113), S. 269–285.

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Die Kriegssituation wird in der Kantate mit einer Liebessituation verbunden. Eine Schäferin, die Fileno später als „mio bene“ anspricht, fordert den Schäfer auf, seine Liebe zu unterbrechen und das Schwert zu ergreifen: Mentre il tutto è in furore e d’ogni intorno Di timpani e di trombe il rauco suono Strepitosi ne fan la notte e il giorno, Mentre i boschi e le valli Al nitrir de cavalli Rendon eco guerriera, Tu sol, forte Filen, t’en stai posando Nel sen di molle amore. Ah no, risveglia il core, impugna il brando!

Man fragt sich unwillkürlich, was ein Schäfer mit einem Schwert anfangen soll, zumal da das Pastorale a priori mit dem Martialischen nicht vereinbar ist.20 Die Schäferin erwartet von Fileno zu kämpfen und siegreich aus dem Kampf zurückzukehren. Dies sei ein Grund, ihn weiterhin zu lieben: Vanne, sì vedi e vinci E poi ritorna à me carco di palme E di trionfi onusto Cinto d’alloro augusto Torna à goder, che anch’io Godrò, se potrò dire: Amante io sono D’un, che in campo sembrò fulmine e tuono.

Wendet man auf diesen Text die vorhin geschilderten Interpretationsmöglichkeiten an, so macht es keinen Sinn, ihn wörtlich zu verstehen: Es wirkt eher unrealistisch, dass eine arkadische Schäferin einen Schäfer auffordern könnte, in den Krieg zu ziehen. Auch eine neuplatonische Interpretation wäre nicht zielführend: Liebe als Kontemplation der idealen tugendhaften Schönheit geht nicht mit der Aufforderung zur Beteiligung am Krieg konform. Erst wenn man die dritte Interpretationsmöglichkeit anwendet, so kann man dem Text einen Sinn abgewinnen: Der Patron fordert den Klienten auf, in den Krieg zu ziehen. Siegreich zurückgekehrt wird er ihn voller Stolz weiterhin lieben. Bezogen auf Ruspoli liegt die zentrale Textaussage darin, in den Krieg einzugreifen, was er mit der Aufstellung des Reggimento Ruspoli auch tat. Mit seinem Einsatz verband Ruspoli Hoffnungen auf Kompensation seiner „Liebesleistung“, die sich mit der Standeserhöhung zum Fürsten im Jahre 1709 durch den Papst erfüllten.21

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Daniela Della Valle: L’eroe pastorale barocco (proposta per un comparatismo strutturale). In: Studi francesi 15/43 (1971), S. 37–56, hier: S. 40–42; Françoise Lavocat: Arcadies malheureuses. Aux origines du roman moderne. Paris 1998 (Bibliothèque de littérature générale et comparée 12), S. 252–257. Das heißt nicht, dass der Text vom Papst oder der Kurie womöglich lanciert worden sei. In einem geschickten Akt der Selbststilisierung und Selbstinszenierung könnte er durchaus auf Geheiß

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Ohne hier näher auf Schäfer und Schäferin einzugehen, die eine spezifische Tradition der metaphorischen Autorepräsentation der adligen Führungsschicht widerzuspiegeln scheinen,22 ist das Gros der pastoralen Liebeskantaten jedoch nicht an historisch konkretisierbare Situationen gebunden. Pastorale Liebeskantaten spielen sich in einem idealisierten, fernen Arkadien ab, das als Staffage für Liebesleid und in selteneren Fällen Liebesfreud dient, wobei Arkadien als Reminiszenz an das legendäre Goldene Zeitalter ebenso unkonkret wie unrealistisch und zeitentrückt ist. Liebe wird dabei häufig als Passion, als Tugend und mit Blick auf den Klientelismus als Ausdruck und Reflexion einer sozialen Praxis verhandelt.

2  Liebeskantaten in Deutschland Betrachtet man nun deutsche Kantaten, so scheinen sie einen weitaus konkreteren Zuschnitt zu haben und in den protestantischen Moral- und Tugenddiskurs einzuordnen zu sein. Bei der Durchsicht der verschiedenen Teile der Publikation Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte fällt als eine der ersten weltlichen in den Bänden publizierten Kantaten die Cantata von der rechten liebe ins Auge.23 Bezeichnenderweise thematisiert die 1697 im zweiten Teil der Sammlung publizierte Dichtung die Liebe und bezeichnenderweise stammt sie von Erdmann Neumeister, dem bahnbrechenden Dichter eines neuen Typs protestantischer Kirchenmusik.

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Ruspolis entstanden sein. Zur Standeserhöhung vgl. Ursula Kirkendale: Antonio Caldara. Life and Venetian-Roman Oratorios. Revised and Translated by Warren Kirkendale. Florenz 2007 (Historiae musicae cultores 114), S. 57  f.; Berthold Over: Zum sozialen Kontext von Händels römischen Kantaten. In: Hans Joachim Marx u. Michele Calella (Hg.): Händels Kirchenmusik und vokale Kammermusik. Laaber 2012 (Das Händel-Handbuch 4), S. 325–343, hier: S. 342  f. Over: The Cantata and Aristocratic Ethos (wie Anm. 18), S. 238–244. Angelo George de Capua u. Ernst Alfred Philippson (Hg.): Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte anderer Theil. Nach dem Erstdruck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Tübingen 1965, S. 326  f. Eine weitere Kantate Neumeisters (Die großmüthigkeit, S. 290–292) ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, da der Herausgeber oder Drucker wohl in Unkenntnis der neuen Form Rezitative und Arien durch Schmuckbänder abgetrennt hat. Sie schlägt in Sprache und Inhalt einen moralisch-scherzhaften Ton an. Vgl. auch Klaus Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. Über die Entstehung der höfischen Kantatentexte und ihre Entwicklung zum galanten ‚Singgedicht‘. In: Dorette Frost u. Gerhard Knoll (Hg.): Gelegenheitsdichtung. Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur Wolfenbüttel, 28. 8.–31. 8. 1976. Bremen 1977 (Universität Bremen. Bibliothek. Veröffentlichungen der Abteilung Gesellschaftswissenschaften und der Spezialabteilung 11), S. 69–109, hier: S. 108, Anm. 81.

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Cantata von der rechten liebe. E[rdmann] N[eumeister]       Aria. Nichts ist süsser als das lieben/ Lieben ist ein himmelreich; Menschen/ die das wesen üben/ Sind dadurch den göttern gleich. Ja zwey recht vertraute hertzen Sind zwey engel auff der welt/ Weil ihr angenehmes schertzen Gott und menschen wohlgefällt. Wiewohl die liebe muß auf rechtem fusse stehen. Wo keine treu/ wo keine keuschheit ist/ Wo man das tugend=ziel vergist/ Da muß die schöne lust zergehen. Und was ein himmel heist Muß eine hölle werden. Jedoch ein reiner geist Befleckt sich nicht. Gedancken und geberden Sind tugendhafft und edel eingericht. Die küsse sind die seele bey dem lieben/ Wann diese rein geblieben/ So muß die seele leben/ Und tausendfache lust verliebten cörpern geben.       Aria. Weichet nun ihr blöden sinnen/ Weicht von hinnen/ Die die liebe nicht verstehn. Denn es pflegt das schöne schertzen Edlen hertzen Zur vergnügung anzugehn.

Obwohl die Kantate von der (weltlichen) Liebe handelt, verfolgt sie dezidiert moralische Intentionen. Allein schon der Titel spricht von der „rechten“ Liebe. Liebe soll nämlich nicht als fleischlicher Sinnenkitzel verstanden werden („Weichet nun ihr blöden sinnen/ Weicht von hinnen/ Die die liebe nicht verstehn“), sondern im Sinne einer reinen und unbefleckten Liebe der Seele als neuplatonische Liebe aufgefasst werden („Wo keine treu/ wo keine keuschheit ist/ Wo man das tugend=ziel vergist/ Da muß die schöne lust zergehen“; „Wann diese rein geblieben/ So muß die seele leben/ Und tausendfache lust verliebten cörpern geben“). Doch im Unterschied zur Kantate in Italien wird hier die neuplatonische Zielsetzung der Liebe als Tugend ausgesprochen, während diese in Italien nur durch eine intellektuelle Interpretationsleistung – etwa durch die Applizierung neuplatonischer Vorstellungen – erfahrbar wird. Der höhere Konkretisierungsgrad deutscher Kantatenpoesie wird auch in anderen Kantaten deutlich. Im relativ spät gedruckten siebten Teil der von Benjamin Neukirch herausgegebenen Gedichtsammlungen (1727) vollzieht sich ein regelrechtes

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„down to earth“. Während in Italien Schäfer in den Hainen Arkadiens über die Liebe sinnieren, befindet sich der Liebende in Johann Georg Hamanns Kantate Er liebt sie verschwiegen in den eigenen vier Wänden:24 Ihr stummen wände wißt, Wen meine brust so zärtlich ehret; Ihr habt es offt mit angehöret, Was meiner sehnsucht ursprung ist.

Der ansonsten anscheinend an italienischen Vorbildern orientierte Text – der Liebende klagt in Einsamkeit und wünscht sich angesichts seiner Liebesschmerzen den Tod – erhält durch dieses „setting“ eine bodenständige Faktur, die weder als ideal noch als zeitentrückt bezeichnet werden kann, sondern in die von Ann Le Bar konstatierte Tendenz zur Verbürgerlichung in der deutschen Kantate einzuordnen ist.25 Auch andere Texte zeigen die Orientierung an Italien und die Transformierung hin zu einer konkreteren sprachlichen Form. In der Kantate Er siegt durch seine beständigkeit wird das Thema der so häufig durchdeklinierten „costanza“ verarbeitet, doch in einem ganz anderen Sinne.26 In italienischen Kantaten muss der Liebende beständig sein, denn erst dann kann er auf Gegenliebe hoffen – in der genannten Kantate stellt die Geliebte den Liebenden arglistig auf die Probe: So that der treue mund Des Silvio sein leyden kund, Als seine schöne jüngst gekommen, Und, ihn zu prüfen, sich arglistig vorgenommen, Ob er auch noch getreu, Und der beständige, wie vormahls, sey.

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Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger (Hg.): Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte Siebender Theil. Nach dem Druck vom Jahre 1727 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten sowie einem Anhang Poetischer Staar-Stecher (1730). Tübingen 1991, S. 81  f. Ann Le Bar: The Domestication of Vocal Music in Enlightenment Hamburg. In: The Journal of Musicological Research 19 (2000), S. 97–134. Einen ähnlichen Umschwung zu mehr Realitätsnähe vollzog Christian Gotthilf Jacobi für den Hof von Anhalt-Zerbst, der ab 1734 „anstelle von Handlungen, die auf mythologischen Begebenheiten basieren und von Jägern, Schäfern, Chören der Tritonen bzw. heroischen Verrichtungen und Tugenden vorangetrieben werden, 1736 z.  B. Chöre der Landeseinwohner bzw. Hof-, Stadt- und Landleben als Überbringer von Glück- und Segenswünschen“ in seinen Kantaten verarbeitete. Barbara M. Reul: Musikalische Aufführungen anläßlich fürstlicher Geburtstage am Anhalt-Zerbster Hof während der Amtszeit Johann Friedrich Faschs (1722–1758). In: Rainer Kaiser (Hg.): Bach und seine mitteldeutschen Zeitgenossen. Bericht über das Internationale musikwissenschaftliche Kolloquium Erfurt und Arnstadt 13. bis 16. Januar 2000. Eisenach 2001 (Schriften zur Musikgeschichte 4), S. 95–111, hier: S. 105  f. Metzger u. Metzger (Hg.): Benjamin Neukirchs […] Siebender Theil (wie Anm. 24), S. 76  f.

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Die Geliebte wird zur realitätsnahen intriganten Schäferin, die Kantate endet atypisch für italienische Stücke mit der Verbindung der beiden Geliebten. Eine eher das ita­ lie­nische Vorbild nachahmende Kantate ist dagegen Er liebt sie ohne gegen=liebe.27 Blickt man auf die eingangs zitierten römischen enkomiastischen oder panegyrischen Gelegenheitsdichtungen, so fehlt in deutschen Pendants ebenfalls häufig der unkonkrete Anspielungsreichtum. In einer 1701 aufgeführten Kantate zum Geburtstag König Friedrich I. von Preußen wird der Jubilar namentlich erwähnt.28 Die 1714 zur Krönung Georgs I. von England vom englischen Residenten in Hamburg gegebene Serenata Die frohlockende Themse nennt ebenfalls selbstverständlich den zu Krönenden.29 Dies ist insofern in vergleichender Perspektive bemerkenswert, als ein päpstliches Wirtschaftsförderungsprojekt oder der Feldzug des englischen Königs alles andere als irrelevante, banale oder prekäre Themen sind, die einer Verschlüsselung nicht bedurft hätten.30 Die Fähigkeit, verborgene Botschaften zu vermitteln, wird in der deutschen Poetik am ehesten dem pastoralen Genre zugesprochen. Schon Neumeister reflektierte im Kapitel „Von Pastorellen“ seiner von Christian Friedrich Hunold 1707 veröffentlichten Poetik – anders als in Italien, wo eine Reflexion kaum stattfindet – das metaphorische Potenzial des Pastoralen, sich auf das Vorbild Vergil berufend: „Und versichert/ man könte da eben sowohl Metonymice und Allegorice verfahren/ wie es Virgilius gemacht/ welcher par Exemple in der ersten Ecloga vom Augusto handelt u. wen es angienge/ der würde es wohl errahten/ wie es gemeinet wäre.”31 Und so finden wir

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Ebd., S. 84  f. „Der grosse Friderich mehrt seiner jahre zahl,/ Und will das erstemahl/ Als könig diesen tag begehen.“ Streit des alten und neuen Seculi bey dem geburths=feste Seiner Königl. Majestät in Preussen, u. in einer musique aller=unterthänigst fürgestellet d. 12. Jul. 1701; Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger (Hg.): Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte Sechster Theil. Nach dem Druck im Jahre 1709 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Tübingen 1988, S. 272–277, hier: S. 272. [Anon.:] „Der grosse George wird heute gekrönt“. Vgl.: Die frohlockende Themse, auf das höchst=erfreuliche Crönungs=Fest Sr. Königl. Majest. Georgs I. von Groß=Britannien u. bey einem von dem damahligen Hamburgischen Groß=Britannischen Residenten und ietzigen Envoye Extraordinaire im Niedersächsischen Crayse, Herrn von Wich, deßfalls daselbst angestellten Freuden=Feste, und einer darauf zielenden illumination, unter währender tafel 1714. in einer Serenate allerunterthänigst aufgeführet. In: Metzger u. Metzger (Hg.): Benjamin Neukirchs […] Siebender Theil (wie Anm. 24), S. 246–256, hier: S. 248. In diesem Sinne funktionieren auch die um 1700 in Deutschland (und anderen Teilen Europas) beliebten Schlüsselromane anders. Abgesehen von wenigen Ausnahmen werden Namen bei brisanten politischen Themen, skandalösen ‚histoires secrètes‘ etc. verschlüsselt, wenn entsprechende Publikationen nicht unter Pseudonym und mit fingiertem Publikationsort ohne Verschlüsselung auskommen. Vgl. dazu Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam u.  a. 2001 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 52), S. 208–417. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art/ zur reinen und galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemüthern/ zum vollkom-

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sowohl in Neumeisters Poetik,32 als auch in anderen Gedichtsammlungen Beispiele für derartige metaphorische pastorale Kantaten,33 die, soweit es überblickt werden kann, insbesondere konkrete Persönlichkeiten der Adelsgesellschaft zu fokussieren scheinen, aber anders als in Italien keine dominierende Spielart der Kantatenpoesie darstellen. Eine weitere Sub-Gattung der Kantate, die Hochzeitskantate, fällt ebenfalls durch Anspielungsreichtum auf, der aber anders als in Italien oft ins Zotenhafte und Anzügliche abgleitet.34

3  Transformation und Akkulturation Über den evidenten Transformationsprozess, den die Kantate durchlaufen haben muss, liegen bislang nur wenige Erkenntnisse vor. Näheren Aufschluss könnten die in Deutschland Ende des 17. Jahrhunderts kursierenden italienischen Kantatensammlungen geben. Doch liegen bislang keine Untersuchungen darüber vor, welche Sammlungen im protestantischen Deutschland, wo die deutsche Kantate entsteht, rezipiert wurden, welche Modelle somit für die ersten deutschen Kantaten vorlagen. Weitgehend unbekannt ist außerdem, wann die ersten deutschen Kantatentexte

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menen Unterricht/ mit überaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempla ans Licht gestellet/ von Hunold (genannt Menantes). Hamburg 1707, S. 348. Ebd., S. 348–350: „eine Ode/ darinnen auff ein Durchl. Haupt gezielet wird/ welcher eine grosse Antwartschafft zu hoffen/ doch bey gegenwärtigen Kriege die Früchte des Friedens liebet.“; S. 350: „In folgender Cantata ist ebenfalls eine Durchl. Fürstin verborgen/ welche aus Fürst­ lichen Geblüte entsprossen/ und daher schwerlich ohne Neider seyn konnte. Jedoch aber durffte niemand ihre Vergnügung hindern.“ Beispielsweise Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Academische Neben=Stunden allerhand neuer Gedichte/ nebst einer Anleitung zur vernünftigen Poesie. Halle u.  a. 1713, S. 155: „Thyrsis zieht seine Liebe zu seiner Schönen der Liebe zu seinen Schaafen vor. Auf eine gewisse Liebes=Begebenheit.“; Irmgard Scheitler: Hunolds Kantatentexte für Johann Sebastian Bach. In: Andreas Waczkat (Red.): Beiträge des 5. Köthener Herbstes „Ich bin in mir vergnügt“. Hunold (genannt Menantes) – Kayser – Fürst August Ludwig. Drei Jubiläen im Umfeld von Johann Sebastian Bach. Köthen 2006 (Cöthener Bach Hefte 13; Veröffentlichungen der Bach-Gedenkstätte Schloss Köthen. Historisches Museum für Mittelanhalt 31), S. 46–48. Vgl. etwa Keisers Hochzeitskantate Entlaubte Wälder (Hansjörg Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (1674–1739). Wilhelmshaven 2004 [Veröffentlichungen zur Musikforschung 15], S. 82–94) und, sich auf Texte Picanders [d.  i. Christian Friedrich Henrici] beziehend, Hans Joachim Kreutzer: Johann Sebastian Bach und das literarische Leipzig der Aufklärung. In: Bach-Jahrbuch 77 (1991), S. 7–31, hier: S. 23. Zu pastoralen Hochzeitskantaten in Hamburg: Steffen Voss: Johann Matthesons Hochzeitsmusiken. In: Hans-Joachim Marx (Hg.): Beiträge zur Musikgeschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Frankfurt u.  a. 2001 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 18), S. 233–256. In Italien sind Hochzeitskantaten in der Regel ernster Machart, wie etwa Amore e Virtù/ Il trionfo della Virtù von Alessandro Scarlatti. Anzüglichkeiten finden sich hingegen in komischen Kantaten, wie sie insbesondere Principe Antonio Ottoboni dichtete und vertonen ließ. Vgl. Berthold Over: Zwischen Hirtendasein und Heldentum. Frauenfiguren in der italienischen Kantate um 1700. In: Göttinger Händel-Beiträge 17 (2016), S. 37–56; Ders.: „La buona comica è affatto andata in disuso“. Komik in den Kantaten Antonio Ottobonis. In: Ders. (Hg.): La Fortuna di Roma (wie Anm. 18), S. 499–529.

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gedichtet wurden.35 Fakt ist, dass Erdmann Neumeister seine Vorstellung von der Kantate um 1695 entwickelt und verbreitet haben muss, als er an der Universität Leipzig lehrte.36 Fakt ist weiterhin, dass die Rezeption der Kantate bei Neumeister die Opernerfahrung voraussetzt, die ab 1693 mit der Etablierung eines regulären Opernbetriebs zu den Leipziger Messezeiten ermöglicht wurde.37 Denn Neumeister definiert die (unbekannte) Kantate anhand des (bekannten) Beispiels Oper: „Eine Cantata siehet aus/ wie ein Stück aus einer Opera.“38 Wahrscheinlich noch vor seiner Anstellung als Pastor in Bibra 1697 entstand wohl in Leipzig die im gleichen Jahr veröffentlichte Cantata von der rechten Liebe. Erste Kompositionen veröffentlichte im Jahr darauf Reinhard Keiser in Hamburg, deren Texte offenbar von Christian Heinrich Postel stammten und um 1696 entstanden.39 Keiser verweist in seinem Vorwort auf die relative Bekanntheit von Kantaten in Hamburg: „[…] so ist nunmehro in Teutschland die Manier der Welschen in dergleichen Stücken schon so bekant/ daß es unnöthig eine Definition zu geben/ was eine Cantata sei […].“40 Es ist unklar, ob diese mehr oder weniger zeitgleichen Aktivitäten in irgendeiner Beziehung zueinander stehen. Der Amsterdamer Verleger Estienne Roger veröffentlichte ab ca. 1698 – im Vergleich zu seiner umfangreichen Publikationstätigkeit von italienischer Instrumentalmusik – nur wenige italienische Kantatensammlungen;41 die 35 36

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Zu Vorformen vgl. Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 23); zur Vorreiterrolle Christian Weises ebd., S. 90–92. 1691 immatrikulierte sich Neumeister an der Leipziger Universität, 1695 entstand seine Habilitationsschrift De poetis germanicis, 1697 wurde er Pastor substitutus in Bibra. Als Magister legens konnte er folglich nur zwischen 1695 und 1697 unterrichtet haben. Die von Hunold veröffentlichte Poetik Neumeisters stützt sich auf dessen Unterrichtsschriften. Zur Biographie vgl. Wolfgang Miersemann: Neumeister, Erdmann. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 170  f. URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn11893094X.html [23. 06. 2015]. Zur Herleitung der Kantate aus der deutschen madrigalischen Dichtung vgl. Joachim Birke: Die Poetik der deutschen Kantate zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Heinz Becker u. Reinhard Gerlach (Hg.): Speculum musicae artis. Festgabe für Heinrich Husmann zum 60. Geburtstag am 16. Dezember 1968. Dargebracht von seinen Freunden und Schülern. München 1970, S. 47–62, hier: S. 49–51; Irmgard Scheitler: Neumeister versus Dedekind. Das deutsche Rezitativ und die Entstehung der madrigalischen Kantate. In: Bach-Jahrbuch 89 (2003), S. 197–220; Wolfram Steude: Zur Vorgeschichte der „Madrigalischen Kantate“ Erdmann Neumeisters. In: Schütz-Jahrbuch 23 (2001), S. 43–53. Vgl. zur Leipziger Operngeschichte neuerdings Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693– 1720). 2 Bde. Freiburg i.Br. u.  a. 2009 (Rombach Wissenschaften. Reihe Voces. Freiburger Beiträge zur Musikgeschichte 12). [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), S. 285. Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (wie Anm. 34), S. 38–40. Reinhard Keiser: Weltliche Kantaten und Arien. Bd. 1. In: Hansjörg Drauschke u. Thomas Ihlenfeldt (Hg.): Werke aus gedruckter Überlieferung. Beeskow 2012 (Musik zwischen Elbe und Oder 30), S. XXXIII. In diesem Jahr wird der Druck der Kantaten Francesco Antonio Pistocchis angezeigt („Les Cantate de Pistochi […] s’impriment“ – wahrscheinlich die Scherzi musicali, Répertoire International des Sources Musicales [= RISM] P 2458. François Lesure: Bibliographie des éditions musicales publiées par Estienne Roger et Michel-Charles Le Cène (Amsterdam, 1696–1743). Paris 1969 (Publications de la Société française de musicologie. Deuxième série 12), S. 37. Andere Publikationen erschienen 1701 („[Alessandro] Scarlati [Scarlatti] opera prima, Cantate a una & due voce, col basso c.“ – RISM S 1183) und 1702 („Cantate e Ariette a voce sola con violini ad

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Frankfurter und Leipziger Messekataloge enthalten keine italienischen Kantatendrucke, etwa aus Venedig oder Bologna.42 Die handschriftliche Verbreitung italienischer Kantaten in Leipzig, Hamburg und anderen protestantischen Städten ist weitgehend unerforscht.43 Allenfalls die höfische Pflege italienischer Repertoires könnte hier weiterhelfen (Dresden, Hannover u.  a.).44 Jedoch ist es viel wahrscheinlicher, dass nicht Kompositionen, sondern gedruckte Kantatentexte eine Vorbildfunktion übernommen haben. Denn angesichts der problematischen Rekonstruktion der poetischen Form von Texten, die einer musikalischen Komposition unterlegt sind, und die darauf hinausläuft, dass nicht ohne Vorwissen und Erfahrung Fließtexte in das konventionelle Reimschema – Sieben- und Elfsilber für Rezitative, andere Versmaße für Arien – übertragen werden können,45 ist es kaum denkbar, dass diese Rekonstruktion deutsche Dichter geleistet haben, die vermutlich keinen täglichen Umgang mit italienischer Poesie pflegten. Ende des 17. Jahrhunderts liegen einige Drucke vor, die Kantatentexte enthalten und teilweise dem reformerischen Lager arkadischer Prägung zuzuordnen sind.46 Diese dürften weit mehr einen Anhaltspunkt für die poetische Form von Kantaten geliefert haben als musikalische Manuskripte.47

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libit. del signore [Carlo Francesco] Polaroli [Pollarolo] e altry famosi Autori” – Nachweis im RISM; „Les mêmes sans violons” – kein Nachweis im RISM; „Cantate à 1 et 2 voce con Tromba e Flauti e sensa del illust. Sig. Caldara, Polaroli, Marini, Albinoni e altri Autorye“ – Nachweis im RISM). Lesure: Bibliographie, S. 40, 41, 77, 78, 84, 85. Auch: Rudolf Rasch: The Music Publishing House of Estienne Roger and Michel-Charles Le Cène 1696–1743, http://www.let. uu.nl/~Rudolf.Rasch/personal/Roger/Roger.htm. Albert Göhler: Verzeichnis der in den Frankfurter und Leipziger Messekatalogen der Jahre 1564 bis 1759 angezeigten Musikalien. Hilversum 1965 [ND der Ausg. Leipzig 1902]. Zu Venedig und Bologna vgl. Reinmar Emans: A Tale of Two Cities: Cantata Publication in Bologna and Venice, c. 1650–1700. In: Michael Talbot (Hg.): Aspects of the Secular Cantata in Late Baroque Italy. Farnham 2009, S. 79–109. Reinhard Keiser spricht in seinem Vorwort zur Gemüths=Ergötzung (1698) von einer gewissen Popularität der Stücke: „Belangend demnach das Erste [die Poesie]/ so ist numehro in Teutschland die Manier der Welschen in dergleichen Stücken schon so bekant/ daß es unnöthig eine Definition zu geben/ was eine Cantata sei/ ja es haben dieselben in Teutschland so sehr das Bürger=Recht gewonnen/ daß sie die alten Bürger/ nemlich die ehmaligen Teutschen Lieder/ gar ausgetrieben haben.“ Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (wie Anm. 40), S. XXXIII. Conermann (Die Kantate als Gelegenheitsgedicht, wie Anm. 23, S. 80) äußert sich nur spekulativ zur Rezeption der italienischen Kantate im protestantischen Deutschland. Die als mögliche Vorbilder erwähnten Giacomo Carissimi, Luigi Rossi, Giovanni Andrea Bontempi und Vincenzo Albrici gehören jedoch einer älteren Generation an, deren Kantaten aus formalen Gründen nicht als Vorbild der Neumeister-Kantate gelten können. Der Autor spricht hier aus Erfahrung. Übertragungen finden sich in Clori (wie Anm. 6) und sind auch von italienischen Kollegen teilweise nicht ganz korrekt durchgeführt. Etwa die Sammlungen von Francesco Melosio (Poesie e prose, mehrere Auflagen zwischen 1673 und 1704), Carlo Maria Maggi (Rime varie, mehrere Auflagen zwischen 1688 und 1696) oder Francesco de Lemene (Poesie diverse, mehrere Auflagen zwischen 1692 und 1711). Auch die Definition des Dichters Neumeister „siehet aus/ wie ein Stück aus einer Opera“ verweist zweifellos auf die visuelle Erfahrung mit (gedruckten) literarischen Texten.

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Über die Motive der Auseinandersetzung mit der Gattung ist mehr bekannt: Attraktiv waren weniger Thematik und Stil als das affektive Potenzial der Musik, das über eine entsprechende literarische Gestaltung ausgeschöpft werden konnte. Hunold kritisiert in seiner Vorrede zu Neumeisters Poetik die italienische Poesie offen und fokussiert dabei die das 17. Jahrhundert kennzeichnenden Strömungen des Marinismus und Konzeptismus, die allerdings zum Publikationszeitpunkt der Poetik 1707 aufgrund der literarischen Aktivitäten Christinas von Schweden sowie der 1690 gegründeten und sich in Italien explosionsartig ausbreitenden Arcadia bereits weitgehend Geschichte waren:48 Die Italiäner haben viele falsche hohe Gedancke. Als we[n]n einer von einem Frauenzimmer/ die am Strande des Meeres ihr Unglück beweinet/ den Einfall hat/ so ehemals mich erinnere gelesen zu haben: Die Thränen dieser Schönen waren so kostbar/ daß/ weil sie das Meer niemahls schöner gesehen/ es solche aufnahm/ und zu Perlen machte. Die Frantzosen nennen dergleichen Gedancken faux brillans, oder Sachen/ die schön in die Augen fallen/ aber schlecht von Wehrt sind/ wie falsche Diamanten.49

Die italienische Kantatenpoesie scheidet somit zumindest für Hunold als thematisches und stilistisches Vorbild für die deutsche Kantate weitgehend aus. Hingegen bietet die formale literarische Gestaltung in Rezitativ und Arie Möglichkeiten, die in früheren deutschen Dichtungen und Vertonungen nicht umsetzbar waren. Während etwa strophische Odenkompositionen in der Regel an die Vertonung der ersten Strophe gebunden sind und die folgenden Strophen einer Musik unterlegt werden mussten, die dem Textinhalt womöglich widersprach, erlaubten Kantaten eine größere und an den jeweiligen Affekt angepasste Bandbreite der musikalischen Umsetzung.50 Dieses Potenzial 48

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Zur literaturhistorischen Entwicklung vgl. Alberto Asor Rosa: Storia europea della letterautra italiana. Bd. 2: Dalla decadenza al Risorgimento. Turin 2009, S. 152–186; Maria Teresa Acquaro Graziosi: L’Arcadia. Trecento anni di storia. Rom 1991. 1705 existierten in Italien außer in Rom Kolonien der Arcadia in Arezzo, Bologna, Cagli, Ferrara, Genua, Macerata, Mailand, Neapel, Pesaro, Pisa, Reggio, Rimini, Siena, Udine, Urbino, Venedig, Verona, außerdem im Kamaldulenser-Orden und bei den Padri Scolopi. Bis 1710 kamen Kolonien in Bari, Florenz, Perugia sowie außerhalb Italiens in Ljubljana, im Deutschen Reich und in der Provence hinzu. Giovanni Mario Crescimbeni: I giuochi olimpici celebrati in Arcadia nell’Olimpiade DCXXI. in lode degli Arcadi defunti. Rom 1705, S. 121  f.; Ders.: I giuochi olimpici celebrati in Arcadia nell’Olimpiade DCXXII. in lode degli Arcadi defunti dentro la precedente Olimpiade. Rom 1710, Anhang. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), Vorrede Hunolds (unpaginiert). Erdmann Neumeister: Geistliche Cantaten über alle Sonn= Fest= und Apostel=Tage/ zu Beförderung Gotte geheiligter Hauß= und Kirchen=Andacht in ungezwungenen teutschen Versen. Halle 1705, „Vorbericht“ (unpaginiert): „Und der Musicus kan in einer Ode ebenfalls nicht mehr/ als die erste Strophe/ componiren/ nach welcher sich die übrigen alle richten müssen. Allein/ wie übel es läst/ wenn unterschiedene Affecten einerley Melodie haben/ und wie heßlich es klinget/ wenn die Musicalischen Variationes in den Pausen/ Trillern/ Läuffern u. s. f. auf wiedrige und unbequeme Worte fallen/ kann iedweder leicht urtheilen/ der nur halben Verstand von der Music hat. Im Gegentheil sind dergleichen inconvenientien und harte passagen in einer Cantata gar nicht zubefahren/ sondern die Kunstgriffe nach der guten Phantasie überal ohne Zwang anzubringen.“ Bei der Ausgabe von 1705 handelt es sich wohl um einen Raubdruck der Originalausgabe von 1702. Vgl. Ute Poetzsch-Seban: Weitere Aspekte zu den Geistlichen Kantaten von Erdmann Neumeister. In: Peter Wollny (Hg.): Mitteldeutschland im musikalischen Glanz seiner Residen-

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der musikalischen Affektgestaltung oder „Affektmodellierung“51 in der Kantate, die als Resultat im Hörer eine innere „Bewegung“ auslösen sollte, ist denn auch ein Argument im Kantatenstreit ab 1726.52 Dass die Kantate aus eher musikalischen Gründen als Vorbild diente, formuliert auch Reinhard Keiser im Vorwort seiner Gemüths=Ergötzung von 1698. Während die deutsche Pastoralpoesie des 17. Jahrhunderts thematisch in der Kantate ihre Fortführung erfahre, sei die neue formale literarisch-musikalische Gestaltung in Rezitativ und Arie dem italienischen Muster geschuldet: Der Einhalt [Inhalt] aber eines solchen Gedichtes ist gar nicht neu/ weil so wol unter den alten Welschen als Teutschen Liedern gar viele vorhanden/ die Erzählungs-Weise den Einhalt vorbringen/ und sehe man sich nur zum Exempel an die bekante schöne Ode unsers Teutschen Opitzen: Coridon der ging betrübet/ oder des vortreflichen Simon Dachen seine niemahls genug gepriesene/ und gantz unvergleichliche Ode: Es fing ein Schäffer an zu klagen; so wird man zwei rechte vollkommene Cantaten finden/ daran kein anderer Unterschied/ als daß sie Vers-Weise gesetzet/ und nach einer Melodie müssen gesungen werden: da eine heutige Cantate die Abwechselung der Melodien und des Ariosen- mit dem Recitativ-Spiel hat/ welches das eintzige ist/ das wir in diesem Stück den Welschen zu dancken haben.53

Konsequenterweise ist in der Kantatendichtung eine dezidierte Musikalisierung der Sprache zu beobachten, die das Konzept der italienischen poesia per musica als einer

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zen. Sachsen, Böhmen und Schlesien als Musiklandschaften im 16. und 17. Jahrhundert (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2004), Beeskow 2005, S. 343–347, hier: S. 347. Zum „Vorbericht“ vgl. Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ zu seinen „Geistlichen CANTATEN“ von 1704: ein literatur- und musikprogrammatisches „Meister= Stück“. In: Henrike Rucker (Hg.): Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Rudolstadt u.  a. 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 51–74. Zur historischen Entwicklung der Präferenz von Arien und Rezitativen vgl. Birke: Die Poetik der deutschen Kantate (wie Anm. 36), S. 54  f. Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Miersemann im vorliegenden Band. So Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin u.  a. 2012 (Frühe Neuzeit 67), S. 264–271, speziell zur geistlichen Kantate S. 388–393. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), Vorrede Hunolds (unpaginiert): „Ich will sie [die geistlichen Kantaten, B. O.] nicht rühmen/ sondern solche zu lesen/ oder sie in denen vielen Kirchen/ wo man sie mit der Music eingeführt/ zu hören bitten/ so werden Seufft­ zer/ Thränen oder eine innerliche Tugendhaffte Bewegung ihre besten Lob=Reden seyn. […] Die Music nun solcher geistlichen Cantaten, legt der Würdigkeit der Poesie keine Unehre/ sondern eine nicht gemeine Krafft zu andächtiger Bewegung vollends bey/ […].“ Vgl. auch Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006 (Schriften zur mitteldeutschen Musikgeschichte 13), S. 54–69. Zum Kantatenstreit: Jürgen Heidrich: Der Meier-Mattheson-Disput. Eine Polemik zur deutschen protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1995. Philologisch-Historische Klasse. Göttingen 1995, S. 53–107, hier: S. 72 (Mattheson: „kein Stil in der Welt ist geschickter, als eben der thea­ tra­lische, die Gemüther zu bewegen: […]“); Christian Bunners: Musiktheologische Aspekte im Streit um den Neumeisterschen Kantatentyp. In: Henrike Rucker (Hg.): Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Rudolstadt u.  a. 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 39–50, hier: S. 46–48. Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (wie Anm. 40), S. XXXIII. Vgl. auch Scheitler: Neumeister versus Dedekind (wie Anm. 36), S. 214.

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ganz auf die Belange der Musik zugeschnittenen Poesie nach Deutschland überträgt.54 Als Fazit kann hier festgehalten werden, dass die Übernahme des Modells der italienischen Kantate hauptsächlich aus einer musikalischen Motivation erfolgte. Denn die literarische Bearbeitung eines Themas in Rezitativ und Arie, mit einer musikalisierten Sprache und in Verbindung mit einer adäquaten Vertonung, ist besser geeignet, die Zuhörer zu bewegen, als ältere Formen der Dichtung und Vertonung. So stark die deutsche Kantatenpoesie thematisch und stilistisch von der italienischen in den meisten Fällen abweicht, so gibt es doch vereinzelt Kantaten, die dem italienischen Typus entsprechen. Da eine Sichtung der Kantatenproduktion unter diesem Fokus aussteht, können allerdings hier lediglich erste Beobachtungen präsentiert werden, die anhand des Kantaten-Oeuvres Reinhard Keisers paradigmatisch gewonnen wurden. Die in der Gemüths=Ergötzung (1698) publizierten Die biß an den Tod geliebte Iris und Die rasende Eyfersucht auf Texte Postels enden wie italienische Kantaten typischerweise unglücklich und ähneln stark italienischer Kantatenpoesie, während die ersten vier Kantaten der Sammlung untypischerweise glücklich enden.55 Davon ist eine zumindest, Der vergnügte Amyntas, 1696 anlässlich einer Hochzeit entstanden,56 reiht sich also in die Kasualpoesie ein, und möglicherweise sind weitere Kantaten ebenfalls Gelegenheitskompositionen.57 Zur Kasualpoesie

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Zu etwa Pier Jacopo Martellos Verständnis von poesia per musica (1718) vgl. Berthold Over: „E le passioni colla ragione si temperino“. The cantata da camera as a Means to Control the Passions. In: Renata Ago (Hg.): Revisiting Baroque. Rom 2014. URL: http://www.enbach.eu/ content/e-le-passioni-colla-ragione-si-temperino-cantata-da-camera-means-control-passions, DOI 10.14615/enbach30; zur Musikalisierung der deutschen Poesie vgl. Rose: Conduite und Text (wie Anm. 51), S. 257–264. Aus den unzähligen italienischen Kantaten, die thematisch die Liebe bis in den Tod verarbeiten, seien beispielhaft folgende herausgegriffen: [Anon.]/Alessandro Scarlatti: Vorrei, Fille adorata (Clori, wie Anm. 6, scheda 1565); [Anon.]/Francesco Gasparini: Piaghe, strali e ritorte (Clori, scheda 1850). Zur Eifersucht seien folgende Beispiele angeführt: Benedetto Pamphilj/Carlo Francesco Cesarini: Filli, nol niego, io dissi (Clori, scheda 426); [Anon.]/Francesco Mancini: Agitato mio pensiero (Clori, scheda 1788). Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 23), S. 89; Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (wie Anm. 34), S. 38  f. Zu Keisers Kantaten vgl. auch Klaus-Peter Koch: Reinhard Keisers gedruckte weltliche Kantaten (1698–1715). In: Zur Entwicklung und Ausführung vokaler Kammermusik im 18. Jahrhundert. XII. Internationale Wissenschaftliche Arbeitstagung zu Fragen der Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts. Michaelstein, 10. bis 12. Juni 1994, Michaelstein 1997 (Michaelsteiner Konferenzberichte 51), S. 49–61, hier: S. 51  f. Aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung der ersten drei Kantaten („das Zusammenfinden eines Schäferpaares“) geht Conermann (Die Kantate als Gelegenheitsgedicht, wie Anm. 23, S. 89) davon aus, dass neben Der vergnügte Amyntas zwei weitere Kantaten aus Anlass eines Hochzeitsfestes entstanden sind. Drauschke (Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers, wie Anm. 34, S. 38) leitet aus der Formulierung, die Kantaten seien „streu=weise guten Freunden zu gefallen verfärtiget“ worden, ab, dass alle Kantaten vermutlich Gelegenheits-, mithin anlassgebundene Kompositionen seien. Doch könnte die Formulierung auch bedeuten, dass Kompositionsaufträge vorlagen, die nicht zwingend einen Anlass voraussetzen. Eine im Vorwort erwähnte, im Erfolgsfall des Drucks geplante Sammlung mit (weltlichen) Continuo-Kantaten wurde offensichtlich nicht realisiert: „Hat nun die Arbeit das Glück zu gefallen/ so kann man

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sind auch die Kantaten L’occaso di Titone all’Aurora oriente mit italienisch-deutschem Mischtext in den Divertimenti serenissimi (1713) – sie spielt auf den Vornamen der Widmungsträgerin Gräfin Maria Aurora von Königsmarck an – sowie wahrscheinlich Hercules auf dem Scheide-Wege (1713) zu rechnen.58 Die beiden in den Divertimenti serenissimi enthaltenen italienischen Kantaten (Il geloso sprezzante und Il sonno) entsprechen aufgrund der genuin italienischen Textvorlage dem ita­ lie­nischen Modell: Während in der ersten ein Liebender aufgrund seiner Eifersucht seine Geliebte verlässt, um sich einer anderen Liebe zuzuwenden – eine durchaus gängige Konstellation,59 erscheint in der zweiten der Geliebte in einem Traumbild – ein ebenso geläufiges Motiv.60 Mit der Sammlung Musicalische Land=Lust (1714) verändert Keiser seinen Fokus auf moralische Kantaten.61 Die Sammlung Kayserliche Friedens=Post (1715) dokumentiert den musikalischen Anteil eines Fests des kaiserlichen Gesandten in Hamburg, stellt somit wieder anlassgebundene Gelegenheitskompositionen zusammen, die aber nach Ausweis des Titelblatts moralische Kompositionen darstellen, darunter drei Kantaten.62 Eine Gelegenheitskomposition liegt auch in der Hochzeitskantate Entlaubte Wälder (1716) vor,63 während die nicht eindeutig an Keiser zuschreibbare Cantata von der Großmuth wiederum eine moralische Kantate ist.64 Als Resümee kann festgehalten werden, dass nur vier der insgesamt 21 regelrechten Kantaten Keisers65 textlich und stilistisch dem italienischen

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denen Liebhabern künfftig mit einem andern Theil solo ohne Instrumenten auffwarten/ […].“ Faksimile des Vorworts in Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (wie Anm. 40), Bd. 1, S. XXXIII. Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (wie Anm. 34), S. 50  f., 54: „Anlass unbekannt (möglicherweise für eine private oder öffentliche Geburtstags- bzw. Volljährigkeitsfeier).“ Vgl. etwa [Anon.]/Georg Friedrich Händel, Tu fedel? tu costante? ah non è vero (Händel-WerkeVerzeichnis [=HWV] 171, 1706–1707; Clori [wie Anm. 6], scheda 4410, 4413), oder [Anon.]/ Alessandro Scarlatti, Dagli strali d’amore (1702; Clori, scheda 4159). Vgl. etwa [Anon.]/Georg Friedrich Händel, Stanco di più soffrire (HWV 167b, 1707–1708; Clori, scheda 1580), oder Antonio Ottoboni/ Carlo Francesco Pollarolo, Ti viddi, idolo mio (1710; Clori, scheda 2317). Mit der Kantate „Über den 62. Psalm“ enthält die Sammlung auch eine geistliche Kantate. Vgl. auch Gunilla Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds in der Musicalischen Land=Lust (1714) von Reinhard Keiser. In: Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha bei Jena 2006 (Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 21), S. 154–173. Eine angekündigte Sammlung weltlicher Kantaten erschien offenbar ebensowenig wie eine weitere mit moralischen Kantaten: „Gleich wie man auch jüngst lauter Geistliche/ so hat man hier lauter Moralische Gedancken wehlen wollen/ mit dem Versprechen: Bald auch etwas weltliches/ als einen verliebten Amintas, oder eine getreue Doris zum Vorschein zu bringen; […].“ Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (wie Anm. 40), S. XLI („Kurzter Bericht an den Leser!“). 1714 plante Keiser unter dem Titel Musicalische Stadt=Lust eine Sammlung mit moralischen Kantaten. Ebd., S. XIII. Kayserliche Friedens=Post/ Nebst verschiedenen moralischen Sing=Gedichten und ARIEN. Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (wie Anm. 34), S. 73–75, 82. Ebd., S. 95–97. Bei Ich spiele mit Ketten handelt es sich um eine Zusammenstellung von Arien und Rezitativen aus Keisers Fredegunda (1715). Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (wie Anm. 34), S. 81.

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Typus entsprechen, die anderen geistlichen, moralischen oder kasualen Inhalts sind. In der hohen Relevanz der Gelegenheitskantate, auf deren Dominanz in der Kantatenpoesie jüngst Dirk Rose hingewiesen hat,66 entsprechen sie allgemeinen Tendenzen. In Italien hingegen ist der Typus der pastoralen Liebeskantate derjenige, der am weitesten verbreitet ist und alle anderen Typen weit in den Schatten stellt.67

4  Die Kantate als Katalysator Erdmann Neumeister bezeichnete die Kantate in seiner Poetik als eine der höchsten poetischen Gattungen: „[…]: was die Grandes in Spanien/ die Prinzen vom Geblüte in Franckreich/ die Mylords in Engelland/ die Woywoden in Pohlen/ die Bojaren in Moscau/ die Bassen in Türckey/ die Mandarinen in China/ das sind die Cantaten in der Poesie und Music.“68 Er formulierte mit diesem die ständische Gesellschaft des Ancien régime in den Blick nehmenden Vergleich einen Ranganspruch, der die Kantate gleich nach der höchsten Gattung (dem „König“ oder der „Königin“) einordnete, dem Rang, den die Granden, Princes de sang usw. einnahmen.69 Und Neumeister scheint sie thematisch in erster Linie als moralisches Genre verstanden zu haben. Sie wie in Italien thematisch im Sinne von Liebe als Passion zu behandeln, scheint ihm offenbar nicht in den Sinn gekommen zu sein, obwohl er in anderen literarischen Formen Liebespoesie verfasste.70 In seiner Poetik gibt Neumeister viele

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Rose: Conduite und Text (wie Anm. 51), S. 356. Neumeister selbst verweist auf den dominanten Kasualcharakter der Kantate, wenn er im „Vorbericht“ seiner Geistlichen Cantaten formuliert, er habe intendiert, „sie nicht so wol auf politische [d.  h. auf öffentliche Anlässe bezogene] als auf geistliche Gedancken zu verwenden“. Paradigmatisch können hier die Kantaten-Oeuvres von Alessandro Scarlatti oder Antonio Caldara stehen. Auch Händels Kantaten für römische Auftraggeber entsprechen in der Mehrzahl diesem Typus. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), S. 284. Welche Gattung indessen für Neumeister die höchste ist, geht aus seiner Poetik nicht hervor. Zur Rolle des Librettos in Deutschland, das als „Leitgattung“ die Romanproduktion um 1700 beeinflusst zu haben scheint, Bernhard Jahn: Das Libretto als literarische Leitgattung am Ende des 17. Jahrhunderts? Zu Zi(e)glers Roman Die Asiatische Banise und seinen Opernfassungen. In: Eleonore Sent (Hg.): Die Oper am Weißenfelser Hof. Rudolstadt 1996 (Weißenfelser Kulturtraditionen 1), S. 143–169. Vgl. auch Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011, S. 365  f., 376, der darauf hinweist, dass Liebesdichtung nicht mit Liebeserleben gleichzusetzen ist, „daß zwischen dem Verfasser einer Darstellung und dem in der Darstellung Präsentierten keine direkte Verbindung vorliegt, sondern allein von einem in der Fiktion gebundenen Imaginären bzw. in die Fiktion überführtem Realem gesprochen werden kann“. Er bezieht sich dabei auf [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), Vorrede Hunolds (unpaginiert), der attestierte: „Ob er [Neumeister] gleich im geistlichen Stande/ und dabey von besonderer Frömmigkeit war/ so verhinderte dieses dennoch nicht/ daß er eine grosse Menge verliebter/ und zwar sehr verliebter Verse machte.“ Im gleichen Atemzug nennt er Mlle de Scudéry, die zwar Liebesdichtung schrieb, doch „gleichwohl selbst davon frey geblieben seyn“ soll. Gleichwohl sind Liebeskantaten, die Liebe als Passion betrach-

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Beispiele von Kantaten, doch die ersten Beispiele, die er anführt, sind geistlicher und die meisten folgenden moralischer Natur. Letztere zeigen unmissverständlich das moralische Potenzial auf, das Neumeister mit der Gattung verband: Neben vier geistlichen und vier weltlichen Beispielen stehen 16 moralische Kantaten. Es ist unbestritten, dass Neumeister damit in literarisch interessierten Kreisen ein bestimmtes Verständnis der Gattung Kantate propagierte. Auch weitere Sammlungen postulieren den moralischen Anspruch der Gattung in Deutschland,71 dessen Relevanz sich sowohl vor dem Hintergrund der Diskussion um den gesellschaftlich-moralischen „Wert“ der Oper, als auch der theologischen Strömung des Pietismus ergibt. Die Vermittlung von moralisch-ethischen Werten durch die Poesie war weiterhin eine Forderung, die die Dichtungslehre erhob und in der Verbindung des delectare der verführerischen poetischen Form mit dem prodesse des nützlichen Inhalts realisiert fand.72 Auch die Liebe wird unter diesem Nützlichkeitsaspekt moralisch wertvoll, wenn sie in der ehelichen und keuschen Liebe Tugenden aufleben lässt.73 Nicht zuletzt mag die reflektierende

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ten, im Œuvre Neumeisters offenbar nicht zu finden. Zur moralischen Orientierung Neumeisters vgl. auch Conermann, Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 23), S. 92. Vgl. die Sammlungen Keisers und später Telemanns. Le Bar: The Domestication (wie Anm. 25); Dies.: Musical Culture and the Origins of the Enlightenment in Hamburg. Washington 1993, S. 264–348; Wolf Hobohm: Zur Kantate Geht, ihr unvergnügten Sorgen von Georg Philipp Telemann. In: [Stiftung Kloster Michaelstein:] Zur Entwicklung, Verbreitung und Ausführung vokaler Kammermusik (wie Anm. 56), S. 64–85; Günter Fleischhauer: Georg Philipp Telemanns Zyklus VI Moralische Cantaten für eine Singstimme, Soloinstrument und Basso Continuo nach Worten von Joachim Daniel Zimmermann (Hamburg 1736–37). In: Bernd Baselt u.  a. (Hg.): Aufklärerische Tendenzen in der Musik des 18. Jahrhunderts und ihre Rezeption. Walther Siegmund-Schultze zum 70. Geburtstag. Halle 1987 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-LutherUniversität Halle. Reihe G: Musikwissenschaftliche Beiträge 14), S. 32–50. Vgl. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), „Vorrede“ Hunolds (unpaginiert, Hervorhebungen im Original): „Will einer vielleicht einwenden/ die Weißheit in der Poesie habe nicht das Absehe[n]/ noch die Wirckung in Erbauung der Menschen/ als die andere eigentlich gena[n]nte Philosophie; dem antworte: bey manchen Poeten vielleicht beydes nicht/ und bey manchen auch mehr; oder in Lesung der Poesie hat die darinnen begriffene Weißheit offt mehr heilsame Wirckung bey manchen leuten/ als die andere Scholastische Philosophie. Des vortrefflichen alten und jungen Herrn Grüphien geistliche Lieder und Gedichte/ wie auch des Hrn. Hofmanns=Waldau seine/ u. nebst dieser beyden und des Herrn von Lohensteins höchst=schätzbaren Sitten=Lehre. Ja des Herrn Ober=Hof=Predigers Neumeister an dem Reichs=Gräflichen Promnitzischen Hofe Geist=reich bewegende geistliche Cantaten, anderer itzo nicht zu erwehnen/ könten zu einiger Behauptung meiner Meinung angezogen werden.“ Und: „Ein Poetisch Buch wird vor angenehm und gefällig geschätzt/ und wegen seines Ergetzens geliebet; der Tugend wegen aber selten aufgeschlagen/ bey derer man hernach mit mehrerer Verwunderung/ gleichsam wie vor einer Rarität stille stehet/ wenn man sie so schön darinnen findet: […].“ Vgl. auch Steigerwald: Galanterie (wie Anm. 70), S. 256–259, 356–362. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), „Vorrede“ Hunolds (unpaginiert): „Damit aber/ weil die Liebe das Aergerniß in denen Opern macht/ man nicht urtheilen möge/ solche sey auch aus denen Romanen und der Poesie gäntzlich zu verdammen/ so antworte: Zwischen der Liebe in Opern und in der Poesie ist ein so grosser Unterscheid/ wie zwischen einem Original und Portrait: dort wird die Liebe recht lebendig durch die Stimme/ Augen/ Minen und Geberden/ und durch solche Personen in Original vorgestellet/ die gern von der gantzen Welt wollen geliebt seyn. Hierinnen wird ein blosser schrifftlicher Abriß davon gemacht/ und sehr selten verlieben sich Leute in ein Portrait dergestalt/ daß sie eine Ausschweiffung begehen.

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Arie, die eine moralisch-sentenzenhafte Poesie erlaubte, die Kantate als besonders geeignet für ethisch-moralische Finalisierungen erschienen lassen haben.74 Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch die Arcadia ganz ähnlich eine Ausrichtung der Poesie auf ethisch-moralische Zielsetzungen einforderte, was jedoch mit Blick auf die Kantate in der Praxis kaum oder wenn, dann nur stark verschlüsselt eingelöst wurde.75 Darin unterscheidet sich aber die italienische Poesie fundamental von der deutschen, da sie ethisch-moralische Zielsetzungen eben nicht auf den ersten Blick erkennbar macht.76 In Deutschland hingegen ist es von der intendierten und realisier-





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­ ierinnen aber bin mit allen Tugendhafften eins/ daß man in Romanen und der Poesie so wohl H als in Opern-Versen alle zu natürliche Redens=Arten von Brüsten/ Schoß und dergleichen vermeiden/ und wenn man Laster anführt/ solche bestraffen/ nicht aber so angenehm beschreiben müsse/ daß man selber Appetit darzu bekomme; als wenn einige von den süssen Umarmungen und andern unsern natürlichen Trieb gefährlichen Umständen in der Liebe etwas erwehnen. Dieses heist recht Aergerniß geben; dieses aber ein Aergerniß aus seinem bösen Hertzen nehmen/ oder Gifft aus Rosen saugen/ wenn man aus wohl anständiger Beschreibung einer keuschen Liebe böse Flammen fängt. Die ehliche Liebe ist ja eine Tugend/ und eine Tugend angenehm vorzustellen wird ja kein Laster seyn. Der Himmel befiehlt ja/ keusch zu lieben/ also wird er nicht davon zu schreiben verbiehten. Es ist viel mehr edel/ von einer keuschen Liebe schön zu schreiben/ noch edler dadurch einer geliebten Person das Hertz zu rühren/ daß sie uns wieder liebt/ denn wer den Ehestand so heilig schätzt/ der wird alle Mittel darzu honnettement zu gelangen/ nicht verwerfflich halten. Eine angenehme/ bewegliche und scharffsinnige Poesie von tugendhaffter Liebe/ ist wie ein Gesicht/ das die Natur vor andern schönen gebildet: wer nun aus dessen zarten Zügen und Annehmlichkeiten verbotene Glut sauget/ über wen könte dieser klagen/ über den Himmel oder über sich?“ Auch Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Academische Neben=Stunden allerhand neuer Gedichte/ nebst einer Anleitung zur vernünftigen Poesie. Halle u.  a. 1713, „Vorrede“ (unpaginiert), in der er sowohl Liebe als Passion als auch die neuplatonische Lesart zugunsten einer durch die christliche Tugendlehre bestimmten Liebeskonzeption ablehnt. Zum moralischen Liebesdiskurs in Deutschland vgl. Isabella van Elferen: Mystical Love in the German Baroque. Theology, Poetry, Music. Lanham u.  a. 2009 (Contextual Bach Studies 2), S. 119–149. Zur Vollendung der Liebe in der Ehe vgl. Thomas Borgstedt: ‚Tendresse‘ und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ‚Preciosité‘ – mit einer kleinen Topik galanter Poesie. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 405–428. Neumeister: Geistliche Cantaten (wie Anm. 50), „Vorbericht“ (unpaginiert): „Was die Arien belanget/ sollen selbige […] allemahl einen affect, oder ein morale, oder sonst etwas besonders in sich halten.“; [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31), S. 227: „Das sind aber die schönsten Arien, welche etwas moralisches und affectuöses in sich halten. Und gewiß diejenigen sind des schönen Nahmens nicht einmal wehrt/ bey welchen man solches/ als die Quintessenz, nicht findet.“ Auch Birke: Die Poetik der deutschen Kantate (wie Anm. 36), S. 59. Over: „E le passioni colla ragione si temperino“ (wie Anm. 54). Auch der Liebesdiskurs in deutschen Tugend- und Liebeslehren betont die moralische Komponente: Christian Thomasius: Von der Kunst vernünfftig und tugendhafft zu lieben/ als dem eintzigen Mittel zu einem glückseeligen/ galanten und vergnügten Leben zu gelangen; oder Einleitung zur Sitten Lehre, nebst einer Vorrede, […]. Halle 1706 [ND der Ausg. Halle 1692]; Christian Weise: Ausführliche Fragen/ über die Tugend=Lehre/ welchergestalt ein Studirender nach Anleitung der Ethica sich selbst erkennen/ die wahre Glückseeligkeit in der Tugend suchen/ auch solchen Zwei durch unbetrügliche Mittel erlangen/ hiernächst aber mit sonderbahrem Nutzen den Grund zur pol[i]tisch= und gehlehrten Beredtsamkeit legen soll. In dreyen unterschiedenen Theilen nach der gewöhnlichen Methode allen Liebhabern der Oratorie zur Nachricht vorgestellet. Leipzig 1696; [Julius Bernhard von Rohr:] Germani Constantis neuer moralischer Tractat

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ten moralischen Zielsetzung nur ein kleiner Schritt, die Kantate als ideales Medium geistlicher Inhalte zu verstehen. Neumeister realisierte diesen Schritt in seinen 1702 erstmals veröffentlichten geistlichen Kantaten.77 Die Kantatenform bietet noch einen weiteren Vorteil: Durch die relative poetische Ungebundenheit und formale Offenheit – es gibt in deutschen Rezitativen und Arien kein festgelegtes Reimschema und kein festgelegtes Versmaß, die Kantatenstruktur umfasst eine Vielzahl von Möglichkeiten, angefangen von einem Rezitativ und einer Arie bis zu einer mehrfachen Kombination der beiden Elemente –78 ist der Einschub von traditionellen Elementen (Bibeltext, Choral) am einfachsten zu realisieren. Diese an Konventionen anknüpfende Mischform aus der neuen Kantate und den Elementen der protestantischen Kirchenmusiktradition trat zum ersten Mal relativ bald nach dem Erscheinen der Neumeister-Kantaten 1704/05 in Meiningen auf.79 Neumeister ging ab seinem dritten Jahrgang von 1711 zu diesem Mischtypus über.80

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von der Liebe gegen die Personen andern Geschlechts/ darinnen so wohl überhaupt die Regeln der Klugheit bey Liebes=Affairen vorzukommen pflegen/ vorgestellet werden/ als insonderheit die christliche/ eheliche/ Freundschaffts/ Galanterie, Socialitäts, Concubinats und Huren=Liebe moralisch abgehandelt werden. Leipzig 1717. Vgl. auch die Applikation der Konzepte in Bezug auf die Oper bei Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem der Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 45), S. 275  ff. Abgesehen von neuplatonischen Diskursen sind Tugend- und Liebeslehren in Italien quasi inexistent bzw. erscheinen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Mari: Venere celeste (wie Anm. 13). Zu Erst- und Folgeauflagen vgl. Poetzsch-Seban: Weitere Aspekte (wie Anm. 50); Irmgard Scheitler: Zwei weitere frühe Drucke von Neumeisters Geistlichen Cantaten. In: Peter Wollny (Hg.): Klopstock und die Musik, Beeskow 2005 (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2003), S. 365–367; Wolf Hobohm: Ein unbekannter, früher Textdruck der Geistlichen Cantaten von Erdmann Neumeister. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2000. Eisenach 2001, S. 182–186. „Wie nun aus diesen beyden Stücken/ Recitativ und Arien, eine Cantata bestehet/ so hat sie darbey diese Freyheit/ daß sie nicht in gewissen Zeilen/ wie ein Sonnet/ eingeschräncket/ sondern dem Poeten die Hand ungebunden gelassen ist/ solche nach Gutbefinden lang oder kurtz zu machen. Welches letztere jedoch sich am meisten recommendiret. Gleich so wenig ist eine gewisse Zahl der Arien gesetzet/ sondern man mag deren zwey/ drey und mehr einschieben/ ja bey kurtzen Cantaten auch wohl nur eine nehmen. Ingleichen ists unverwehrt/ bißweilen zwey Arien von zweyerley generibus stracks auf einander zu setzen/ ohne daß recitativ zwischen inne stehet: wie gegentheils bey einer Aria von zwey Strophen/ diese beyden eben nicht immediate auf einander folgen dürffen/ sondern Recitativ gar manierlich zwischen eingeschoben werden kann. Uberdiß stehets in des Poeten Willkühr/ ob er die Cantata mit einer Aria, oder stracks mit Recitativ anfangen will/ oder nicht/ welches auch bey dem Schlusse seinem Guthbefinden überlassen wird. Doch machet die Aria meistentheils und am bequemsten das Final.“ Neumeister: Geistliche Cantaten (wie Anm. 50), „Vorbericht“ (unpaginiert). In Dichtungen, die 1705 von Johann Georg Schürmann vertont wurden und möglicherweise von Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen stammten. Vgl. Konrad Küster: Meininger Kantatentexte um Johann Ludwig Bach. In: Bach-Jahrbuch 73 (1987), S. 159–164. Elke Axmacher: Erdmann Neumeister – ein Kantatendichter J. S. Bachs. In: Musik und Kirche 60 (1990), S. 294–303, hier: S. 296. Dass diese Stücke im Verständnis der Zeit keine regelrechten Kantaten waren, da sie nicht mehr ausschließlich aus Rezitativ und Arie bestanden, zeigte Poetzsch-Seban (Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann, wie Anm. 52, S. 49–53).

Liebeskonzeptionen in der italienischen und deutschen Kantate

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Neben der im Rahmen der Akkulturation zu beobachtenden Transformation zu einem moralisch-geistlichen Genre scheint also auf sprachlicher Ebene eine Transformation hin zu einer textlichen Form mit höherem Konkretisierungsgrad erfolgt zu sein. Während italienische Kantaten bewusst eine nebulöse sprachliche Form wahren, um Subtexte zuzulassen (die vielleicht nicht direkt ausgesprochen werden sollten oder durften), dadurch eine dem fürstlichen Arkanum entsprechende Qualität zu erlangen (da sie nur Eingeweihten verständlich waren) und der auch anderen Kunstformen inhärenten Notwendigkeit der Interpretation zu entsprechen (die auf literarischer Ebene etwa in Gesellschaftsspielen wie der Interpretation eines „Orakels“ in Veranstaltungen der Arcadia eingeübt und gepflegt wurde),81 reden Dichter deutscher Kantaten meist „Klartext“, auch wenn metaphorische Sublimierungen zu einer poetischen Verarbeitung eines Themas selbstverständlich dazugehören. Das sieht auch Neumeister so, wenn er mit Blick auf seine geistlichen Kantaten formuliert: „Bey dem Stylo habe am liebsten Biblische und Theologische Redens=Arthen gehalten wollen. Denn mich dünckt/ daß bey Geistlichen Gedichten ein prächtiger Wörterschmuck von menschlicher Kunst und Weisheit den Geist und die Anmuth so sehr verhindert/ als er vielleicht beydes in Politischen Versen befördern möchte.“82 Der höhere Konkretisierungsgrad ist jedoch Voraussetzung für eine Verbreitung von theologischen Inhalten, so dass erst durch diese Transformation eine Nutzung der Gattung im protestantischen Gottesdienst möglich wurde.

81 82

Vgl. Over: The Cantata and Aristocratic Ethos (wie Anm. 18), S. 231–234. Neumeister: Geistliche Cantaten (wie Anm. 50), „Vorbericht“ (unpaginiert); ähnlich Hunold in der „Vorrede“ zu [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 31) (unpaginiert): „Was die Poesie anbelangt/ so ist solche desto schöner/ weil sie der Schrifft=gemäß/ und von keinen hochtrabenden Menschlichen Gedancken ist.“ Vgl. auch Axmacher, die auf den Umstand hinweist, dass Neumeister in seinen Geistlichen Cantaten Altes in eine neue Form verpacke und dabei auf Allgemeinverständlichkeit setze. Konsequenterweise sei bei Neumeister „durchweg“ ein „für die Allgemeinheit verständliches stilistisches Mittelmaß“ zu beobachten (Erdmann Neumeister, wie Anm. 80, S. 298  f.). Ähnlich schreibt auch schon 1665 David Elias Heidenreich in seiner Vorrede der Publikationen seiner Concerto-Aria-Kantaten die Einfachheit auf seine Fahnen. Vgl. Wolfram Steude: Anmerkungen zu David Elias Heidenreich, Erdmann Neumeister und den beiden Haupttypen der evangelischen Kirchenkantate. In: Roswitha Jacobsen (Hg.): Weißenfels als Ort literarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums vom 8.–10. Oktober 1992 in Weißenfels, Sachsen/Anhalt, Amsterdam u. Atlanta 1994 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 18), S. 45–61, hier: S. 48. Im späteren Kantatenstreit wird hingegen auf die hohe sprachliche Form der Kantate verwiesen, die sozial niederen Schichten das Verständnis erschwere. Vgl. Bunners: Musiktheologische Aspekte (wie Anm. 52), S. 45  f.

H erbert S chneider

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

Kurz nach 1700 entstand in Paris eine für Frankreich neue Gattung, die Kantate, die bald modisch wurde und Literaten, dilettierende Dichter und Komponisten dazu stimulierte, Texte und Vertonungen für ein der italienischen Musik aufgeschlossenes Publikum zu schaffen. Wenn man François Raguenet glauben darf, dann kursierten in Paris um diese Zeit allein von Bononcini mehr als 200 Kantaten, d.  h. die italienische Kantate war um 1700 bereits unter Kennern bekannt und sehr gefragt: Mais pour Buononcini duquel nous avons plus de deux cent Cantates à Paris, et meme des Opéra entiers, M. le Chevalier ne pouvoit pas échoir plus mal, car il n’y a nul Maître de Musique en Italie dans les Ouvrages duquel il y ait si peu de ces endroits picquans et recherchez que M. le Chevalier compare aux épices, qu’il y a dans les ouvrages de Buononcini; tous les Maîtres de France le citent comme un modele pour le gracieux, et c’est le seul qu’ils citent en ce genre; il n’y a point de si petit Musicien François qui ne le connoisse sur ce pied et qui ne sache que c’est là son caractére.1

Einerseits weist Raguenet auf die Verbreitung und die Beliebtheit italienischer Kantaten in Paris selbst bei unbedeutenden Komponisten und Musikern hin, nennt andererseits auch die Merkmale italienischer Kompositionen, „piquant, recherché“, d.  h. interessant, gut gearbeitet. Diese Charakteristika treffen nicht auf die Kantaten Bononcinis zu, vielmehr das Epithethon „gracieux“, das zu den häufigsten Charakterangaben französischer Da-capo-Arien gehört. Eine Schlüsselrolle für die Verbreitung italienischer Musik und Kantaten nahm der Förderer der italienischen Musik und der französischen Kantate, Philippe II., Charles Duc d’Orléans (bis 1701 Duc de Chartres) ein, dem zahlreiche Drucke gewidmet sind. Das erste „livre“ der Kantaten Jean-Baptiste Stucks (1706, hier zweite Auflage von 1713) z.  B. ist mit einem symbolischen Stich (s. Abbildung auf S. 135), einer Widmung auf dem Titelblatt und einer zweiseitigen Widmung versehen. Die Beliebtheit der italienischen Kantate bei Literaten, Komponisten, am Hof und in den Salons, wo sie der Unterhaltung diente, führte zur explosionsartigen Verbreitung ihres französischen Abkömmlings von 1703 ab, wie bereits Sébastien de Brossard feststellte: „Il n’y en [Arten von Divertissements, H. S.] a point qui ait esté receu en France avec plus d’applaudissement, et dont l’usage se soit répandu plus viste ny plus generallement que de celui qu’on nomme maintenant cantate.“2 Der Komponist 1 2

François Raguenet: Défense du parallele des Italiens et des François en ce qui regarde la Musique et l’Opéra. Paris 1705, S. 43  f. Sébastien de Brossard: Dissertation sur cette espece de concert qu’on nomme cantate; Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. fr. n.a. 5269, fol. 75.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-008

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Abb.: Stich von „S le Clerc filius inven. F. J. Spätt. sculp.“ aus der zweiten Auflage der Cantates Françoises à voix seule, avec symphonies. Paris, Ballard 1713. Das Genie begabt Apollo zu seinen künstlerischen Leistungen. Die Abbildung zeigt viele Musikinstrumente von der Panflöte bis zur Gambe und zur Musette.

Jean-Baptiste Morin rechtfertigt die Publikation von Kantaten mit französischem Text im „Avis“ seines ersten Kantatendrucks von 1706 damit, die Liebhaber italienischer Musik hätten nicht die gleiche „satisfaction“, wenn sie die gesungenen Worte nicht verstünden, d.  h. die Verwendung der französischen Sprache und das Verständnis der Verse spielen für den französischen Zuhörer eine wichtige Rolle. In seiner Widmung an den Duc d’Orléans betont Stuck ebenso die Verwendung der französischen Poesie für die Kantate: Die Förderung durch den Duc d’Orléans sei es gewesen, ce qui m’a fait hazarder de joindre le goût de la Musique Italienne avec les Paroles Françoises. Ces beaux Chants, la Variété, les beaux Desseins, l’Harmonie, doivent, comme j’ay eu l’honneur d’entendre dire plusieurs fois de VOSTRE ALTESSE ROYALE, convenir à toutes les Nations, pourvû toutefois qu’on ait égard au génie particulier de chaque Langue, et qu’on ne s’écarte jamais du raisonnable et du vray.3

3

Jean-Baptiste Morin: Cantates Françoises à voix seule, avec symphonies. Paris (Ballard) 1713, „Epitre“, ohne Seitenzählung.

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Dass viele Autoren – mehr oder weniger ausgewiesene Literaten oder Dilettanten – sich berufen fühlten, Texte für die in Mode gekommene Gattung zu verfassen, zeigen die 167 Kantatentexte, die zwischen 1711 und 1771 im Mercure de France erschienen, von denen aber nur ein geringer Teil auch vertont wurde.4 Die französische Kantate, weltlich oder geistlich, war für die Kammer und für das wohlhabende bürgerliche Publikum bestimmt. Das in der Messe gesungene Pendant waren Motetten mit lateinischen, meist Psalm-Texten; die Vertonung der solistisch besetzten Motette, etwa jene Nicolas Berniers, unterschied sich kaum von den Kantaten. Trotz der fehlenden formalen Voraussetzungen der lateinischen Texte nahm hier die Da-capo-Arie einen ebenso wichtigen Platz ein wie in der weltlichen Kantate.

1  Die Texte Für die textliche Gestalt der französischen Kantate war Jean-Baptiste Rousseau maßgeblich, dem Voltaire die Monographie Vie de Monsieur Jean-Baptiste Rousseau (1738, gedruckt 1764) widmete, Zeichen seiner Hochschätzung trotz erheblicher Streitigkeiten zwischen beiden Literaten. Die Kantatentexte schätzte Voltaire: „Ce sont les premières cantates que nous ayons en français; il les retoucha depuis. Il y en a de tres belles; c’est un genre nouveau dont nous lui avons l’obligation.“5 Ganz anders sah dies Teresa Di Scanno, die in ihrer Ausgabe der Kantatentexte Rousseaus (1984) harte, kaum gerechtfertigte Urteile über die an Unterhaltungsbedürfnissen orien­ tierte Gattung fällte, obwohl Rousseau selbst die Ambivalenz seiner Kantatentexte bereits hervorgehoben und begründet hatte.6 Während die antike Ode dem sublimen Stilniveau angehöre, ernste Themen und erhabene Meditationen zum Inhalt habe, trage Rousseau in den Kantatentexten „avec aisance les sentiments d’une société élégante et corrompue“ vor, „en satisfaisant sa prédilection pour un genre léger et harmonieux.“7 Sprachliche Schwächen oder Eigenarten erklärt sie mit der zum Allgemeinplatz gewordenen Bemerkung des Abbé Jean-Baptiste Du Bos: „Les vers les plus remplis d’images et généralement parlant les plus beaux ne sont pas les plus propres à réussir en musique.“8 Di Scanno zufolge vermochte Rousseau ausgehend von „banalen Legenden“ nicht

4

5 6 7 8

David Tunley: The Eighteenth-Century French Cantata. 2. Aufl. Oxford 1997, S. 23, davon nur sechs mit religiöser Thematik (Esther, Daniel, Le Passage de la Mer Rouge, La Défaite de Goliath, zweimal La Naissance de Jésus Christ). Voltaire [d.  i. François-Marie Arouet]: Vie de Monsieur Jean-Batiste Rousseau [sic]. Édition critique par François Moureau. In: Les Œuvres de Voltaire. Bd. 18A. Oxford 2007, S. 32. Vgl. dazu unten S. 139. Jean-Baptiste Rousseau: Cantates. Texte établi, annoté et présenté par Teresa di Scanno. Fasano di Puglia 1984, S. 42. Jean-Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la Poésie et sur la Peinture. Paris 1717, S. 676.

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à créer un univers merveilleux, à rendre vivante la mythologie des Anciens. Quoi de plus insipide que la discussion de Jupiter et d’Europe sur l’égalité des mortels et des dieux devant l’amour (XIX)? Quoi de plus conventionnel que la manière désinvolte dont l’Hymen livre Vénus à Vulcain (IV)? […] Quoi de plus plat que la cantate XI, Les filets de Vulcain? […] On tombe dans la vulgarité.9

Zwar gesteht sie Rousseau die Fähigkeiten zu, gute Verse zu schreiben, die sich für die Vertonung eignen, aber ihm fehle die dichterische Inspiration und seinen Versen die Originalität.10 Rousseau begnüge sich damit, eine Geschichte zu erzählen und daraus moralische und psychologische Lehren im Hinblick auf die Liebe quasi als „ars amandi“11 zu präsentieren: Les thèmes abordés sont des lieux communs. […] Quant à la matière tirée de la mythologie, elle a été si souvent traitée et triturée au cours des siècles, qu’elle constitue une pure mise en scène de banalités psychologiques ou morales.12

Bei den Texten geht sie auf den Wechsel von langen Versen für die Rezitative und kurzen isometrischen für die Arien ein, letztere bezeichnet sie als „espèces de couplets de chansons qui d’habitude se répètent“,13 eine unzutreffende verallgemeinernde Charakterisierung, die lediglich auf einige Texte, besonders für Rondeaux, zutrifft. Ähnlich negativ wie Di Scanno sieht Tunley die Texte der französischen Kantaten im Allgemeinen: Nowadays it is difficult to understand how such insipid verses could have aroused the enthusiasm they did, but it must be remembered that cantata poetry was amongst most ‚poetic’ works of an unpoetic age [dies wohlgemerkt zu einer Zeit, in der u.  a. La Fontaine wirkte, H. S.], it would thus be both pointless and depressing to discuss in any detail the poetry of the cantata.14

Irreführend ist auch Tunleys Meinung, die Worte der Kantaten Rousseaus bestünden „aus sechs Strophen (Rezitative und Arien im Wechsel)“ – er zählt also die Rezitativtexte als Strophen – „und die Stoffe stammten fast immer aus der griechischen Mythologie. Aus der entsprechenden Episode wurde jeweils ein Satz herausgelöst, der im Schlußvers als Maxime oder Moral für Liebende präsentiert wurde.“15 Dieser Hinweis auf den letzten Vers ist ziemlich sicher auf die fehlerhafte Übersetzung in der MGG zurückzuführen, denn in seiner Werkmonographie schreibt Tunley, die „amorous moral“ befinde sich im „final movement.“16  9 10 11 12 13 14 15 16

Rousseau: Cantates (wie Anm. 7), S. 54  f. Ebd., S. 56  f. Ebd., S. 57. Ebd., S. 81. Ebd., S. 73. Tunley: The Eighteenth-Century French Cantata (wie Anm. 4), S. 23. David Tunley: Kantate. Frankreich. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher [= MGG2]. Sachteil 4. Kassel u.  a. 1996, Sp. 1728. Tunley: The Eighteenth-Century French Cantata (wie Anm. 4), S. 20. Tunleys Begründung der späten Übernahme der Kantate in Frankreich enthält einen Widerspruch: Er bemerkt einerseits,

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In seinem MGG-Artikel bemerkt Joachim Steinheuer zutreffend, R ­ ousseau sei in seinen Kantatentexten dem „Vorbild zeitgenössischer italienischer Kantatendichtungen“17 gefolgt. Die Rezitativverse sind Steinheuer zufolge „aus einer freien Folge von Acht- und Zwölfsilblern [sic]“ und die Arien „aus zwei Strophen mit je drei bis sechs isometrischen Versen gebildet“;18 was die Arien betrifft, gibt es davon eine Reihe von Ausnahmen. Anhang 1 bietet ein genaues Bild der Texte Rousseaus, die zu seiner Zeit unter seinem Namen publiziert wurden. Die Abfolge Rezitativ-Arie ist die Regel, wobei die Anzahl der Verse pro Rezitativ sehr variabel ist. Die Komponisten nehmen sich des Öfteren die Freiheit, die literarische Vorlage nach eigener Vorstellung zu interpretieren: Das Rezitativ von 16 Versen in Le Triomphe de l’amour ist z.  B. in der Vertonung von Nicolas Bernier in ein Rezitativ mit fünf, eine Da-capo-Arie mit vier, ein weiteres Rezitativ mit zwei und eine Strophe mit fünf Versen für eine mehrteilige Arie gegliedert. Die beiden Strophen von Sechssilbern am Ende von Circé vertont Jean-Baptiste Morin als zwei Menuett-Arien, François Colin de Blamont dagegen als zweiteilige Arie. Rousseaus Kantaten enthalten 37 Da-capo-Arien mit zwei Strophen und der üblichen Wiederholung der ersten, drei französische Da-capo-Airs, zweimal vier, achtmal eine und sechsmal zwei Strophen, die für andere Arienformen vorgesehen scheinen. Fünfmal sieht Rousseau drei Da-capo-Arien für die Kantate vor, zehnmal zwei und viermal nur eine; Beispiel für ein französisches Da-capo-Air ist „Faut-il que la crainte me glace“ (Jupiter et Europe). In diesen auf die Tradition Lullys zurückgehenden Arien wird nur der Anfang der Arie nach mehreren Versen am Schluss zitiert. Die Strophen für ein-, zweiteilige oder durchkomponierte Arien variieren zwischen einer, dem häufigsten Fall (8-mal), zwei (6-mal) und vier (2-mal) Strophen. Man kann also kaum von einem standardisierten Aufbau der Kantatentexte Rousseaus ausgehen, wie in der Literatur vereinfachend dargestellt wird.

17

18

der Kantate „fehlt die dramatische Handlung, indem die Rollen des Erzählers und der Hauptfigur oft von ein und demselben Sänger gesungen werden.“ Im nächsten Satz heißt es dagegen, die schlichten französischen Airs, die vor 1706 entstanden, seien „von den dramatischen Bedürfnissen der Kantate“ weit entfernt gewesen, Tunley: Kantate. Frankreich (wie Anm. 15), Sp. 1726. Der Förderer der italienischen Musik und der französischen Kantate sei „Philippe III., Herzog von Orléans, späterer König von Frankreich“ geworden, ebd., Sp. 1727; einen Philippe III., Duc d’Orléans, gibt es nicht, und Philippe II. de Bourbon, Duc d’Orléans, wurde nicht König von Frankreich. Joachim Steinheuer: Rousseau, Jean-Baptiste. In: MGG2. Personenteil 14 (2005), Sp. 538. Steinheuer zählt 27 Kantatentexte, Tunley, The Eighteenth-Century French Cantata (wie Anm. 4), Appendix C (i), S. 260–262, 26 und dazu Danae als nicht publizierten Text. Die Summe aller nachweisbaren Kantatentexte und der nicht auf ihre Authentizität überprüfbaren Zuschreibungen beträgt 29 (die von J. Bachelier, Recueil de cantates, La Haye 1728, die des Portefeuille de J.-B. Rousseau, L. D. [vermutlich Lenglet du Fresnoy, Hg.], Amsterdam 1751 und die von Di Scanno [wie Anm. 7] genannten hinzugerechnet). Steinheuer: Rousseau (wie Anm. 17), Sp. 538.

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Rousseau verkleidet die Liebesthematik in antike Stoffe oder Mythen (15) und wählt nur in vier Fällen nicht aus der Antike stammende Titel. Stoffe aus der Mythologie verbesserten in Frankreich wie in der Oper die Chancen auf Erfolg: En affichant le nom d’un héros qui a déjà un solide passé derrière lui, le librettiste est plus sûr de plaire au public qui, au dix-huitième siècle comme de nos jours, manifeste une grande imprudence envers l’inconnu. […] Pendant tout le dix-huitième siècle, la source essentielle des livrets d’opéra [sowie Kantate, H. S.] demeure l’Antiquité gréco-romaine.19

Anhang 2 zeigt die Gesamtzahl einschließlich der spät zugeschriebenen Texte Rousseaus sowie die Fehlzuschreibungen bei J. Bachelier.20 Trotz der Beliebtheit dieser Texte sind keineswegs alle vertont worden. Bezüglich der literarischen Gestalt und der Entstehung der Kantate und ihrer Hintergründe gibt Jean-Baptiste Rousseau in der „Preface“ seiner vierbändigen Werkausgabe Auskunft.21 Neben antiken Vorbildern, der Ode Pindars und den Chören der Tragödien, nennt er die italienischen Kantatentexte als Modelle. Unter den Oden und Epoden von Horaz befinden sich z.  B. Titel, von denen viele unter den französischen Kantatentexten zu finden sind: „Frühlingslied“, „An die Ungetreue“, „Trost“, „Frage“, „Im Winter“, „Lobgesang auf Merkur“, „Lebensregel“, „Eifersucht“, „Das Staatsschiff in Gefahr“, „Lob des Weines“, „Tyrannin Venus“, „An Chloe“, „Totenklage“, „An Apoll“, „Vergänglichkeit“, „Alte und neue Zeit“, „Sittenverfall“, „Tröstung“, „Eine alte Kokette“, „Wahrer Reichtum“, „Dithyrambe“, „Neptunfest“, „An Melpomene“, „Des Dichters Geschenk“, „Des Dichters Macht“, „Trost im Wein“.22 Die italienische Kantate ist in drei Rezitative und drei „airs de mouvement“ geglie19 20 21

22

Béatrice Didier: Le Livret d’opéra en France au XVIIIe siècle. Oxford 2013, S. 115. Bachelier: Recueil de cantates (wie Anm. 16). Œuvres de Jean-Baptiste Rousseau. Nouvelle édition. Bruxelles 1743. Bd. I, S. XVII–XIX: „Ce second livre est suivi d’une autre espèce d’Odes toute nouvelle parmi nous, mais dont il seroit aisé de trouver des exemples dans l’Antiquité. Les Italiens les nomment Cantates, parce qu’elles sont particuliérement affectées au chant; ils ont coutume de les partager en trois Récits coupés par autant d’Airs de mouvement, ce qui les oblige à diversifier les mesures de leurs strophes, dont les vers sont tantôt plus longs & tantôt plus courts comme dans les Chœurs des anciennes Tragédies, et dans la plûpart des Odes de Pindare. J’avois entendu quelques-unes de ces Cantates, & cela me donna envie d’essayer […] réconcilier l’Ode avec le chant, mais comme je n’avois point d’autre modèle que les Italiens, à qui il arrive souvent, aussi bien qu’à nous autres François, de sacrifier la raison à la commodité des Musiciens, je m’apperçus après en avoir fait quelquesunes, que je perdois du côté des Vers ce que je gagnois du côté de la Musique, & que je ne ferois rient qui vaille, tant que je me contenterois d’entasser de vaines phrases poëtiques les unes sur les autres sans dessein ni liaison : c’est ce qui me fit venir la pensée de donner une forme à ces petits Poëmes, en les renfermant dans une Allégorie, dont les Récits fissent le corps, & les Airs chantans l’ame ou l’application. Je choisis parmi les Fables anciennes celles que je crus les plus propres à mon dessein, car toute l’Histoire fabuleuse n’est pas propre à être allégoriée, & cette maniere me réussit assez pour donner envie à plusieurs Auteurs de travailler sur le même plan. De sçavoir si ce plan est le meilleur que j’eusse pu choisir, c’est ce qu’il ne me convient pas de décider, parce qu’en matière de nouveauté rien n’est si trompeur qu’une première vogue, & qu’il n’y a jamais que le temps qui puisse prouver leur mérite, & le réduire à sa juste valeur.“ Horaz. Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Färber. München 1960, passim.

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dert: Rezitative und Arien haben einen verschiedenen Strophenbau, wie man sie auch in Pindars Oden und den Chören der antiken Tragödie antrifft; beim Verfassen von Kantatentexten gehen italienische wie französische Dichter sowie er selbst Kompromisse ein, indem sie „la raison à la commodité des Musiciens“,23 d.  h. die Qualität der Verse der besseren Eignung für die Vertonung unterordnen; Rousseau ist um hohe Qualität bemüht und hat die „kleinen Gedichte“ als Allegorien konzipiert; die Rezitative bilden das Korpus, die „Airs chantants“ deren Seele bzw. die „Anwendung“; als Themen hat er die am besten geeigneten Mythen der Antike für seine Kantatentexte ausgewählt; viele Autoren ahmen seine Kantatentexte nach, deren längerfristige Existenz über den momentanen Erfolg als Modegattung hinaus er skeptisch einschätzt. Rousseau sieht damit klar die Rücksichtnahme seitens des Dichters auf die Bedürfnisse des Komponisten, unterscheidet die Versarten sowie die Zielsetzung von Rezitativ und Arie und begründet ganz allgemein die Auswahl der antiken Stoffe, die an der Eignung für eine allegorische Verwendung orientiert sei. Schließlich übt er sich in Bescheidenheit hinsichtlich der Überlebenschancen der von ihm für Frankreich geschaffenen neuen Dichtungsgattung. In 16 von 19 authentisch zu bezeichnenden Texten Rousseaus geht es um Pro­ bleme der Liebesbeziehungen: Liebe und Keuschheit; Charme ist notwendig, um in der Liebe Erfolg zu haben; Liebe und Ehe; Liebe und Geld; das Draufgängertum verspricht keinen Erfolg bei der Liebeswerbung; wie geht man mit der Zurückweisung der Frau um?; Liebe kann man nicht erzwingen; Apathie kann nicht zum Erfolg in der Liebe führen; das Schicksal in Liebesdingen ist voller Überraschungen; der Eifersucht soll man mit Vernunft begegnen und die Liebe geheim halten; verborgene und öffentlich gewordene Liebe; unberechenbare Liebe; Liebe und Kummer und schließlich sozialer Rang und Liebe. In diesen 16 Kantatentexten zeigt sich Rousseau als Ratgeber in Liebesbeziehungen. Die übrigen Themen sind der Wein, die Natur und die Genüsse der Menschen im Winter sowie die Warnung an junge Pflanzen vor der überraschenden Kälte im Frühjahr – im Übrigen eine Thematik, die man auch als Warnung an junge Menschen verstehen kann. Im Vorwort seiner Textanthologie Recueil de cantates (1726, Anhang 3) geht J. Bachelier, der sich als Musiker bezeichnet, auf mehrere Aspekte der Kantatendichtungen ein. Die musikalisch gebildeten französischen Zuhörer würden in den Kantaten mit italienischem Text mehr durch die Musik als durch die Verse berührt und hätten „toute la beauté et l’expression du sujet“24 nicht erfassen können. Diejenigen, die nur am Text orientiert seien, hätten sich wegen der in dieser Gattung „unvermeidbaren Wiederholungen“ von Worten oder Ausdrücken gelangweilt. Die 23 24

Zitiert nach Bachelier, Recueil de cantates (wie Anm. 16), nicht paginierte Préface. Ebd. Alle nachfolgenden Zitate Bacheliers stammen aus der nicht paginierten Vorrede (wie Anm. 16).

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Publikation der Texte sei sowohl für den Liebhaber der Musik als auch den der Dichtung nützlich. Für erstere sei die einfache Lektüre ein Gewinn, da diese ihnen ermögliche, deren „goût“ kennenzulernen und infolgedessen auch ihre Ausführung zu verbessern – Bachelier scheint damit die Aufführung durch geübte Laien anzudeuten –, die Liebhaber der Dichtung könnten die Behandlung der Sujets, die Schönheit der Verse und die Beziehung von Dichtung und Musik studieren und schließlich ein Urteil darüber abgeben, welchen Dichtern und Komponisten der Vorrang zu geben sei. Für Ausländer biete die Sammlung die Möglichkeit, die Texte zu übersetzen und damit die Basis für ihre Vertonungen im Idiom der eigenen Tonsprache zu schaffen. Allerdings konnten bislang weder Übersetzungen noch Vertonungen der 100 Texte aus Bacheliers Anthologie25 außerhalb Frankreichs nachgewiesen werden. Zu beachten sind die große Zahl anonymer Texte und die falschen Zuschreibungen. Bachelier orientierte sich bei der Zusammenstellung der Texte seiner Anthologie offensichtlich primär an den Vertonungen und damit an den Komponisten. Die Quantität und das Renommee dieser Kantaten (von Nicolas Bernier 24, von Louis Nicolas Clérambault 15, von Batistin Stuck 13, von Michel Pignolet de Montéclair 12, von André Campra 11, von Jean-Baptiste Morin 8, von Robert 5 etc.), aber auch die Qualität der Dichtungen (von Rousseau 17, von Louis Fuzelier 7, von „Mr F“ 4 und „Mr H“ sowie La Grange je 3) hat er offensichtlich berücksichtigt. Rousseau bezeichnet er als „maître des regles de la Cantate“; Fuzelier, der als Dramatiker der privilegierten Theater sowie der Théâtres de la Foire zur ersten Kategorie von Autoren der Zeit in diesen Bereichen gehört, nimmt die zweite Stelle ein. Im Gegensatz zur Ausgabe der Kantaten in den 1712 erschienenen Œuvres Rousseaus26 sind in dessen Werkausgabe von 1743 sowie bei Bachelier die Wiederholungen der ersten Strophe notiert. Bei Houdar de La Motte hingegen besteht die ganz überwiegende Mehrzahl der Texte für die Arien seiner geistlichen Kantaten aus zweistrophigen Vierzeilern, wobei nur in wenigen Fällen die Wiederholung des ersten Vierzeilers durch das Textincipit angedeutet ist,27 und somit bleibt es meist 25 26

27

Im Register der Ausgabe Bacheliers sind davon nur 97 genannt. In den bei Fritsch und Böhm 1712 in Rotterdam erschienenen Œuvres Rousseaus sind vielfach Arientexte nicht von den Rezitativtexten abgesetzt, während in der Didot-Ausgabe von 1743 die Da-capo-Strophen von den Rezitativen abgesetzt notiert sind. Antoine Houdard de La Motte: Œuvres. Paris 1754. Bd. 8, S. 9–96: Textincipits für die Wiederholung der ersten Strophe: La Tour de Babel, S. 13, Abraham, S. 16, La Naissance de Moïse, S. 27, L’arche captive, S. 51, David appaise les fureurs de Saul, S. 58, Prière de David pour appaiser la fureur de Saul, S. 59 (die Kantate besteht aus einer einzigen Da-capo-Arie), Ozias, S. 73, Tobie, S. 75. Abweichend von den Vierzeilern schrieb Houdar de La Motte einen Vierzeiler und eine siebenzeilige 2. Strophe in Le Passage de la Mer Rouge, S. 29, eine sechszeilige in Esther, S. 81, zwei dreizeilige Strophen in L’Arche captive, S. 51, drei vierzeilige Strophen in Le Serpent d’airain, S. 34  f., in Balthasar, S. 85, in Les Machabées, S. 95 (entweder zwei Strophen für den A-oder für den B-Teil); von der dreistrophigen Norm abweichend einzelne Vierzeiler, die für ein- oder zweiteilige oder Da-capo-Arien vorgesehen sind, in La Tour de Babel, S. 14, in Goliath, S. 61, in La Pithonisse, S. 61  ff. Sedecias, S. 80, einen Sechszeiler in Adam, S. 11, und Esther, S. 82  f., in Le Passage de la Mer Rouge, S. 30 (alle Abschlussarien), in Deborah, S. 41,

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dem Komponisten überlassen, ob er die beiden Strophen für eine zweiteilige Arie, für die strophische Vertonung (bei gleicher „coupe“ der Strophen), für eine Da-capoArie oder gar für ein Rondeau verwendet.

2  Das untersuchte Textkorpus Das untersuchte Korpus besteht aus 192 Kantaten, die in der Zeit von 1703 (Bernier) bis 1725 im Druck erschienen (siehe Anhang 4). In dieser Zahl sind die nicht gedruckten Kantaten Rameaus und Brossards einbezogen. Abgesehen von Drucken weniger einzelner Kantaten fehlen nur die geistlichen Kantaten von Elisabeth Jacquet de La Guerre aus diesem Zeitraum. Die meisten Stoffe, etwas mehr als zwei Drittel der Texte, gehen auf Vorlagen aus der antiken Mythologie oder auf antike Oden zurück (Anhang 4), auch wenn im Titel der Kantate die mythologischen Personen des Texts das nicht unmittelbar erkennen lassen. Zum letzten Drittel gehören entweder Stoffe, die menschliche Beziehungen ganz verschiedener Art, den Weingenuss, die Natur oder aber bestimmte gesellschaftliche Ereignisse oder Anlässe der Epoche zum Inhalt haben. Nur sechs geistliche Kantaten, fünf von Brossard nach dem Alten Testament und eine von Clérambault, gehören zu dem Textkorpus. Im Gegensatz zur Einschätzung Di Scannos, die im Fall von Rousseaus mythologisch verbrämten Sujets abwertend von „lieux communs“ spricht, hat die Präsenz mythologischer Stoffe wichtige Funktionen: Die Textautoren spielen bei den Zuhörern und Lesern oft nur auf diese Personen der Mythologie an oder machen sie zum Inhalt für den Teil des Publikums, dem diese aus der Lektüre oder aus Opern bekannt sind und halten sie damit als Bildungsgut präsent. Auch die Malerei rekurriert permanent auf mythologische Stoffe, die in verschiedener Weise und Qualität dargestellt werden und damit im kulturellen Gedächtnis präsent bleiben. Béatrice Didier bemerkt zu Recht, antike Stoffe in Oper (und Kantate) zu wählen, sei auch auf deren Omnipräsenz in der Bildenden Kunst zurückzuführen: „Le librettiste est forcément influencé par les modes et aussi par les modèles picturaux, qui changent au cours du siècle. La peinture académique sert d’inspiration au librettiste quand il indique la présence sur la scène de temples et de statues.“28 Unter den Komponisten, die durch eine relativ große Zahl von Kantaten hervorgetreten sind, überwiegen nur bei Montéclair diejenigen mit zeitübergreifenden modernen Stoffen (Anhang 4).

28

eine neunzeilige Strophe in Le Serpent d’airain, S. 35 (für eine Da-capo-Arie mit 4+5 Versen), eine zehnzeilige Strophe (7+3 Verse) in David appaise les fureurs de Saul, S. 56. Eine Ausnahme stellt die Anfangs-Arie „Jephté revient“ in Jephté dar, mit 2+2 Versen und den zum Abschluss ausgeschriebenen ersten beiden Versen, S. 45. Didier: Le Livret d’opéra en France au XVIIIe siècle (wie Anm. 19), S. 193.

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Anhang 5 zeigt die Arienformen bei den Komponisten und unten auf der Seite ihre Summe in dem hier behandelten Zeitraum. Bei zwei Strophen wird die erste bekanntlich im Da capo wiederholt,29 bei einer Strophe hat der Komponist die Möglichkeit gesehen und sich die Freiheit genommen, die Verse einer Strophe auf die beiden Teile der Da-capo-Arie aufzuteilen. Bei Bernier begegnet der Fall, dass er drei Strophen als französisches Da-capo-Air vertont hat, wobei nur der Beginn der ersten Strophe am Ende wiederholt wird („Verse, divin sommeil, tes pavots enchantés“, L’Aurore, Mercure et les Muses, divertissement ou cantate des fünften „livre“ Les nuits de Sceaux). Bei drei Strophen können zwei für den A- oder für den B-Teil verwendet werden. Auch in diesen Fällen hat der Komponist die literarische Vorgabe auf seine Weise interpretiert und vertont. Bei den französischen Da-capo-Airs liegt in der Regel eine Strophe vor, deren erster oder die ersten beiden Verse am Ende in der unveränderten Vertonung wiederholt werden.

3  Zur Vertonungsweise Die analytischen Beobachtungen bleiben hier auf einige Aspekte beschränkt, die insbesondere die Spezifika der französischen Textvertonung in der Da-capo-Arie betreffen. Generell unterscheiden sich die Behandlung des Texts und die Ausdeutung des Einzelwortes von der italienischen Kantate, denn, abgesehen von der Isolierung und der Hervorhebung durch Melismen von Schlüsselworten wie „triompher“, „enchaîner“, „gloire“, „victoire“, „couler“ u.  ä., werden Verse und Halbverse sowie ihre Wiederholungen im Ganzen vorgetragen. Naturgemäß neigen die stärker an der italienischen Kantate orientierten Komponisten mehr zur Ausschmückung isolierter Worte. Die Mehrfachvertonung der Strophen, auch in kürzeren Da-capo-Arien, ist selbst im B-Teil sehr häufig anzutreffen im Gegensatz zur italienischen Arie, wo sie im B-Teil eher eine Ausnahme bildet. Für sein 1703 publiziertes erstes „livre“ wählte Nicolas Bernier vier Texte von Rousseau aus (Diane, L’Hymen, Le Triomphe de l’Amour, Les Forges de Lemnos), zwei sind anonym (L’Inconstance, Vénus et Adonis). Bernier folgt der charakteristischen Sprachvertonung in der französischen Musik und wiederholt mit wenigen Ausnahmen immer ganze Verse, einzelne Worte nur, wenn es sich um Imperative handelt. Einzelne werden in der Regel mit Melismen versehen, wenn diese bildliche („flamme“, „brûler“, „relever“, „tonner“, „voler“, „s’éveiller“ etc.) oder mehr oder weniger symbolische Vorstellungen („gloire“, „triompher“, „couronner“ etc.) nachahmen. Die zweifache Vertonung der Verse ist im A-Teil der Da-capo-Arien 29

Der Begriff „da capo“ wird bei in den Kantaten in italienischer Sprache der französischen Komponisten durchweg verwendet, aber auch z.  B. in den französischen Kantaten von Clérambault (1716), Mouret (im ersten „livre“) und Grandval (1720). Ansonsten begegnen „comme ci-devant“ (auch zusammen mit „reprise“), „au commencement“, „reprise“ und gelegentlich „da capo“.

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(11-mal) häufiger als im B-Teil (7-mal). In den Arien „L’amant de l’Aurore“ und „Hymen quand le sort t’outrage“ (L’Hymen) fügt er ein Da capo ein, wo in der Rousseau-Ausgabe von 1743 keines vorgesehen ist, und isoliert aus einem Rezitativtext vier Verse von „Venez, cher tyran, de mon âme“ für eine Da-capo-Arie, die insofern ein kompositorischer Sonderfall ist, als in der Mitte des Da capo zehn Takte ausgelassen sind. Mit Ausnahme einer zweiteiligen und einer „durchkomponierten“ Arie liegen in diesem „livre“ nur Da-capo-Arien vor. In „Je renonce à ma liberté“ (Le Triomphe de l’Amour, hier als „durchkomponiert“ angesehen) vertont er den Text zweimal vollständig und dann die Verse 3–5, 4–5, 4–5 erneut zum Abschluss. Durch die unveränderte Wiederholung des ersten Verses zu Beginn jedes Teils wird dem Hörer eine Orientierung gegeben. Ein bemerkenswerter Sonderfall für eine französische Da-capo-Arie wegen der „durchmischten“ Abfolge der Verse in der Vertonung stellt der Hauptteil der Arie „Fiers vainqueurs de la terre“ (Les Forges de Lemnos) dar. Dass Bernier ein Kenner und Experimentator auf dem Gebiet der Harmonik war, zeigt sich an der Vielzahl der harmonischen Anschlüsse zwischen B- und A-Teil: Dominante und Parallele zur Tonika in jeweils vier Arien, Molldominante in drei, Doppeldominante und Dominantparallele in zwei, Mollsubdominante in einer Arie und außerdem noch die ungewöhnliche Folge von a-Moll und B-Dur. Mit der Mediante d-Moll nach B-Dur z.  B. beabsichtigte Bernier vermutlich, den Entschluss und seine Folgen – das Glück, sich von den Amores frei gemacht zu haben (A-Teil), und der Erlösung von den Liebesqualen („Quel bonheur! quelle victoire“, Diane, B-Teil) – mit harmonischen Mitteln zu unterstützen. Die Konfrontation von a-Moll und B-Dur in „Travaillons, Vénus nous l’ordonne“ (Les Forges de Lemnos) ist aus dem Gegensatz zwischen dem Entfachen des Feuers mit dem Blasebalg in der Schmiede und dem lauten Erschallen des Ambosses, wenn der Hammer auf ihn geschlagen wird, zu erklären. Bereits in den ersten Kantaten von 1706 realisiert Morin eine erstaunliche Vielfalt verschiedener Möglichkeiten der Da-capo-Arie sowie der Textbehandlung, die für die Nachfolger Maßstäbe gesetzt haben und auch französische Eigenarten ausprägen. Morin vertont immer ganze, selten Halbverse und verzichtet auf Wortwiederholungen: Ein charakteristisches Beispiel ist der A-Teil der Arie „Ce sont les faveurs de l’Aurore“ (L’Impatience) mit der unveränderten Wiederholung der Verse 1–2 und der dreimaligen Vertonung der Verse 3–4. Die Wiederholung der ersten Vertonung ist der Normalfall im A-Teil, von dem gelegentlich abgewichen wird wie im A-Teil in der f-Moll-Arie „Cruel auteur du trouble de mon âme“ (Circé, Arie mit fünfzeiligen Strophen). Eine zweite Vertonung der ersten Strophe oder, wenn eine Strophe für den Aund B-Teil verwendet wird, dann eben der Verse des A-Teils, ist die Regel. Im A-Teil der Arie „L’Amour se réveille“ (Euterpe) sind die vier Verse sogar viermal vertont. Im B-Teil findet eine zweite Vertonung der Verse nicht so oft wie im A-Teil statt. Die mehrfache Aufnahme von Versen in diesem Teil unterscheidet sich dagegen nicht von dem Verfahren im A-Teil. Ein typischer Fall ist der B-Teil der Arie „Sa voix redoutable“ (Circé) mit der Abfolge der Verse 1–2, 2, 3–4, 4–6. In dieser Arie weicht

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Morin im Übrigen von der Textvorlage Rousseaus ab, der zwei sechszeilige Strophen schuf, die von Morin durch die Wiederholung der ersten Strophe zu einer Da-capoArie umfunktioniert sind. In der Abschluss-Arie „Chantons la victoire“ (Euterpe) werden die Verse im B-Teil dreimal vertont, ebenso im ersten Da-capo-Duett der Duo-Kantate „Tu m’as trompé, Dieu d’amour infidelle“ (Les Amants mécontents). Als Frühform der Dal-segno-Arie ist die Praxis Morins anzusehen, häufig das Anfangsritornell und die Wiederholung der identisch vorgetragenen ersten Verse im Da capo wegzulassen; manchmal wird in diesen Fällen ein verkürztes Ritornell vor dem Da capo eingefügt. Beim Tonartwechsel zwischen B- und A-Teil gibt es bei Morin eine Reihe von Varianten: Der gewöhnlichste Fall ist der von der Dominante zur Dur- oder MollTonika, aber auch von der Moll- Dominante zur Moll-Tonika, wie in der Arie „Cruel auteur du trouble de mon âme“ (Circé) von b- nach f-Moll; häufig begegnet die Abfolge Moll-Parallele – Durtonart (von h nach D) wie in „L’Aurore peint les cieux d’une beauté nouvelle“ (L’Impatience), oder von der Dur-Parallele zur Molltonart (von B nach g) wie in „Chantons la victoire“ (Euterpe); ungewöhnlicher, aber nicht selten anzutreffen wie bei Händel sind andere mediantische Beziehungen, so von B nach d in „Ce sont les faveurs de l’Aurore“ (L’Impatience), von e nach C in „L’Amour a quitté sa mère“ (L’Amour dévoilé). An anderen Arienformen bei Morin sind zu nennen: Die erste Arie der Kantate Euterpe, „Que vôtre brillante audace“, ist wegen der wiederholten Versvertonung ein ungewöhnliches Rondeau: der Refrain mit der zweimaligen Vertonung der Verse 1–3 und zusätzlich der Verse 2–3, das erste Couplet mit den Versen 1–3 und 2–3, das zweite mit den Versen 1–3, 3 und 3. Circé endet mit zwei zweiteiligen MenuettArien. Der Abschluss von Kantaten mit Rezitativ ist nicht ungewöhnlich. Ein Beispiel bei Morin etwa ist ein Rezitativ, das in ein langes Accompagnato übergeht, an dessen Ende die letzten beiden und dann die letzten drei Verse noch einmal neu vertont sind (Enone). Campra bedient sich im ersten „livre“ (1708) seiner Kantaten vier verschiedener Formen der Arien, 18 Da-capo-Arien, vier durchkomponierte, drei zweiteilige und zwei Rondeaus. Die Texte stammen von drei Dichtern (vier von Roy und je einer von Danchet und M. de Navarre). Die Da capo-Arien sind einheitlicher gestaltet als bei Morin bzw. weitgehend nach einem einfachen Muster gebaut; fünf der 13 Da-capoArien liegen zwei Textstrophen zugrunde, in allen anderen teilt Campra die Verse einer Strophe auf den A- und B-Teil auf. Die unveränderte Wiederholung der ersten Takte des Vokalparts sowohl im A- als auch im B-Teil, meist die Vertonung von zwei Versen, ist in den frühen Kantaten, also auch bei Campra üblich. Da es sich in dessen ersten „livre“ meist um kurze Arien handelt, kommt es zwar zur Wiederholung von Versen, aber nur in geringerer Anzahl zur zweifachen Vertonung der Strophe, in der Mehrzahl im A-Teil. Passend zu dem Text „Hâtez-vous de me venger“ (Didon) wiederholt Campra im A-Teil besonders oft Verse (die Verse 1, 1, 2, 1, 3, 4, 4), dann zum Abschluss erneut lediglich Vers 1 in der ersten und in neuer Vertonung. Es kommt in

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anderen Arien auch vor, dass nach dem Vortrag aller Verse noch einmal die Anfangsverse in neuer Vertonung erklingen, u.  a. in der Arie „Les flots sentent la puissance“ (Arion). Im Da capo werden die Anfangsritornelle in der Regel ausgelassen. In der ersten Arie der Didon, „Suffit-il d’être amant aimé“, liegt ein Beispiel der frühen Dalsegno-Arie vor, in der das Da capo mit der Wiederholung der Vertonung der ersten beiden Verse beginnt. Beim tonalen Übergang vom B- zum A-Teil variiert Campra zwischen dominantischer (sieben Beispiele), molldominantischer (drei) und mediantischer Beziehung (sechs), einmal wechselt er von der Subdominante zur Tonika. In der Arie „Les flots sentent la puissance“ (Arion) verzichtet Campra auf den tonalen Kontrast beim Übergang vom A- zum B-Teil. Dass die Komponisten schon in der Frühzeit der französischen Kantate durchaus eigene Wege einschlagen, zeigt auch das erste „livre“ von Bourgeois. Es gibt nur eine zweiteilige Arie; an Sonderfällen sind zu erwähnen: die Gavotte-Arie „Une cruelle perfide“ (Ariane), die zweimal in Gänze vorgetragen wird, die Arie „Quand l’amour nous est favorable“ (Hippomène), in der durch die Wiederholung des ersten Verses zum Abschluss ein Rahmen gebildet ist (A=a+b, A, B, a), ebenso in „Un amant sans espérance“ (Le Berger fidèle), einer Da-capo-Arie, in der der A-Teil durch die Wiederholung der Verse 1–2 beschlossen wird. Bourgeois’ 18 Da-capo-Arien (keine Dal-segno-Arie des frühen Typus) liegen 14-mal zwei Textstrophen und viermal eine Strophe zugrunde. Die zweite Vertonung kommt im A-Teil häufiger vor (siebenmal) als im B-Teil (fünfmal) sowie in der gleichen Arie („Des peines si chères“, Céphale et l’Aurore für zwei Singstimmen) die dreifache Vertonung der Strophen in beiden Teilen, in denen der Inhalt, Liebeskummer und -qualen, die durch das Liebesglück überwunden sind, dadurch bekräftigt wird. Strophen- oder Verswiederholungen sind inhaltlich motiviert, wie etwa die Arie „Mille trompettes éclatantes“ (Ariane) zeigt, in der im A-Teil die letzten beiden Verse, in denen die durch Weingenüsse beglückten „concerts“ der Mänaden und Bacchanten gefeiert werden, dreimal erklingen. Bei dem tonalen Übergang vom B- zum A-Teil verzichtet Bourgeois in sechs Arien auf einen tonalen Kontrast – damit bleibt er im untersuchten Repertoire ein Einzelfall –, in sieben Arien erfolgt der Wechsel von der Parallele in die Tonika, nur einmal von der Dominante und einmal von der Molldominante, im letzten Fall („Déserts où m’abandonne un ingrat que j’adore“, Ariane) gut motiviert, da Ariadne voller Qualen wegen der Untreue von Theseus ist (A-Teil) und der Appell an die Rachegötter vergebens scheint (B-Teil). Zwei ungewöhnliche Fälle sind noch zu erwähnen: In „Amour, venge un berger fidèle“ (Le Berger fidèle) ist der Wechsel von c-Moll (Subdominantparallele) nach B-Dur inhaltlich kaum zu erklären, und in „Le printemps couronné de fleurs et de verdure“ (Le Berger fidèle) schließt der A-Teil auf der Dominante D-Dur. Um die tonale Einheit zu erreichen, wird das Da capo mit dem zweiten Vers in der Tonika g-Moll beendet. In Clérambaults erstem „livre“ sind die Akzente bei der Textvertonung, der Behandlung der Tonarten und der formalen Gestaltung wiederum auf andere Weise gesetzt. Den 19 Da-capo-Arien liegen sechsmal eine Strophe, 13-mal zwei und

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einmal drei Strophen zugrunde.30 Die zweite Vertonung der Strophe bzw. der Teil­ strophe hat Clérambault zehnmal im A- und fünfmal im B-Teil vorgenommen. Häufig beginnt die zweite Vertonung mit der unveränderten Wiederholung der ersten beiden Verse. Nur „Courons à la vengeance“ (Médée) ist eine Dal-Segno-Arie, in der wie bei anderen Komponisten das Da capo mit der Wiederholung der ersten beiden Verse einsetzt. Die außerordentliche Thematik des Orpheus unterstreicht Clérambault durch eine besondere formale Gestaltungsweise der Unterweltszene (der Dichter kam mit 17 Versen dafür aus): Die „Szene“ beginnt mit einem „Air fort lent et fort tendre“ in der Besetzung mit Flûte allemande, Violine und Cembalo in H-Dur („Monarque redouté de ces royaumes sombres“), gefolgt von einem „Mineur“ h-Moll „fort lentement“ im alla breve („Laissez-vous toucher par mes pleurs“),31 einem „Air tendre“ im Dreiertakt in D-Dur („Vous avez ressenti la flamme“, Da-capo-Air) und der Wiederholung des h-Moll-Teils. Im Übrigen scheint Clérambault der erste gewesen zu sein, der, wie in italienischen Da-capo-Arien u.  a. bei Händel, im B-Teil des ersten „Air tendre et piqué“ „Fidèles échos de ces bois“ (Orphée), der in der Mollsubdominante e-Moll steht, bei den Worten „Fut-il jamais amant plus malheureux“ in das ausdrucksgeladene Rezitativ wechselt. Eine weitere originelle, inhaltlich motivierte Lösung ist die Wiederaufnahme der Anfangsarie „Reviens printemps, reviens, ramène les beaux jours“ (Le Jaloux) – mit der Bitte an Amor, an dem erfolgreichen Rivalen, der dem Ruf in den Krieg folgt und damit den Ruhm gegenüber der Liebe bevorzugt, Rache zu üben und ihm selbst seine Angebetete zurückzuführen – zum Abschluss der Kantate, nachdem drei Da-capo-Arien, eine französische Da-capoArie und ein Rezitativ erklungen sind. Auch die tragische Thematik der Medea findet musikalisch ihren besonderen Ausdruck, indem Clérambault in dem langen Rezitativ zu Beginn („L’amante de Jason aux rives de Colchos“, Médée) bei „Séduite par les soins de sa fausse tendresse“ von F-Dur nach f-Moll, vom „Secco-Rezitativ“ ins Accompagnato wechselt und dann mit einem Prélude nach F-Dur zurückkehrt („Non, non, n’écoutons plus qu’un courroux légitime“). Die Dämonie der letzten Da-capoArie („Volez, démons, volez, servez ma colère fatale“, Médée) wird dadurch akzentuiert, dass das Prélude im Dämonen-Topos vom Beginn am Ende wiederholt wird. Bezüglich des tonalen Übergangs vom B- zum A-Teil bevorzugt Clérambault deutlich den Wechsel zur Paralleltonart (zehn Fälle) und den von der Dominante zur Tonika (fünf Fälle). Die Arie „Allez Orphée, allez que votre amour extrême“ (Orphée), der drei Strophen zugrunde liegen, zwei davon im B-Teil, ist tonartlich entsprechend der Strophenabfolge in die Bereiche G-Dur, die Tonika-Parallele e-Moll und h-Moll gegliedert. Der ungewöhnliche Übergang vom h-Moll zum Da capo in 30 31

Für dieses erste „livre“ komponierte Clérambault nur eine zweiteilige und in der abschließenden Kantate für zwei Stimmen zwei einteilige Arien. Mit dem Dur-Moll-Wechsel in einer Arie schuf Clérambault ein frühes Beispiel für den später in der Opéra-comique so beliebten Modus-Wechsel. In „Le cher objet de mes soupirs“ (L’Impatient, 1720) wechselt Nicolas Racot de Grandval im A-Teil zu Beginn der zweiten Vertonung der Strophe in die Variante A-Dur.

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G-Dur ist wiederum inhaltlich motiviert, denn es heißt: „Cet honneur [der Eintritt in die Unterwelt] n’était dû qu’à vous.“ Montéclair komponierte für sein erstes „livre“ zwei italienische (Godimento e pena in amore mit drei und Amante di bella donna mit zwei Da-capo-Arien) und vier französische Kantaten. Wie bei anderen Komponisten überwiegt in den französischen Da-capo-Arien die Textvorlage mit zwei Strophen (neun Arien, fünf mit einer Strophe), in den italienischen liegt nur einmal eine zwei- und viermal eine einstrophige Textvorlage zugrunde. Die zweite Vertonung ist im A-Teil häufiger (elfmal gegenüber sechsmal im B-Teil, in den italienischen dreimal im A- und zweimal im B-Teil sowie dreimal in dem A-Teil von „Chi mi presta un altro core?“, Amante di bella donna). In den italienischen Kantaten gibt es erwartungsgemäß nur Da-capoArien, in den französischen 14 Da-capo-Arien, davon nur eine des Typus der frühen Dal-segno-Arie, vier zweiteilige, zwei Rondeaus und eine durchkomponierte Arie. Auch bei Montéclair ist es nahezu die Regel, dass im A-Teil der Anfang, sei es ein Vers, seien es zwei Verse, wiederholt und außerdem bei der zweiten Vertonung wieder aufgenommen wird. In der Arie „La douce espérance“ (La Fortune) wiederholt er allerdings die gesamte erste Vertonung des Vierzeilers, bevor er die Verse ein zweites Mal vertont. Zwei besondere kompositorische Lösungen bietet Montéclair: In der ersten Arie „O toi! Déesse de Cythère“ (La Mort de Didon) wird das Da capo wie ein Double ornamentiert und kann dadurch als Modell für die Ornamentierung des französischen Da capo allgemein dienen. Mit dem harmonischen Mittel des zweimaligen Trugschlusses in Moll deutet er den Vers „Cachez la honte de mes pleurs“ (am Ende des A-Teils) und analog dazu bei „Me charme encor au moment qu’il m’outrage“ (am Ende des B-Teils) in „Arbres épais, sombre feuillage“ (Le Dépit généreux) aus. Das Rondeau „Amants trop tendres et trop sages“ (La badine) ist ein einmaliger Fall, da nach dem Refrain die Teile B, Refrain und C in Gänze wiederholt werden. Bei den tonalen Übergängen zeigt Montéclair Präferenzen für die Molldominante (in sechs Arien) und die Parallele (in fünf); der Wechsel von der Dominantparallele und von der Dominante zur Tonika erscheint ebenso oft (dreimal), in einer italienischen Arie von der Subdominante zur Tonika. Originalität und kompositionstechnische Qualität des ersten „livre“ der Kantaten von Jean-Baptiste Stuck bestehen in erster Linie aus der Beteiligung konzertierender, kontrapunktisch geführter Instrumente in allen Arien, während bei seinen Zeitgenossen nur in einzelnen Arien, meist in der letzten Kantate des „livre“, ein oder zwei Soloinstrumente beteiligt sind. Stuck setzt eine oder zwei Geigen in den ersten drei Kantaten ein, in der vierten und sechsten auch zusätzlich die Haute-contre de violon, in der fünften und sechsten Flöte und zwei Violinen. Dazu vertont er Rezitativverse mehrfach als Accompagnati. Hinsichtlich der formalen Gestaltung der Da-capo-Arien (elf an der Zahl, daneben fünf zweiteilige, eine einteilige, eine durchkomponierte Arie, ein Rondeau) bietet Stuck keine so reiche Palette. Bei ihm sind die einstrophigen Texte (6) gegenüber den zweistrophigen (5) in der Überzahl, und die zweimalige Vertonung der Strophe oder Halbstrophe in den beiden Teilen

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der Da-capo-Arie ist gleich häufig anzutreffen. Nur in „Vénus lui donna ses attraits“ (L’Amant reconcilié) wird im A-Teil die Halbstrophe ein drittes Mal vertont (einstrophiger Text für die ganze Arie). Er bevorzugt auch die mediantische Beziehung zwischen B- und A-Teil (fünfmal die Parallele, dreimal die Dominantparallele, dagegen nur zweimal die Molldominante und einmal die Dominante). Brunet de Molan publizierte 1708 seine Cantades et Ariettes Françoises. Abgesehen davon, dass in den „ariettes françoises“ jeweils zwei Strophen (davon in drei Ariettes nur im A-Teil) zu singen sind, also die gesamte Da-capo-Form ein zweites Mal mit neuem Text vorgetragen wird, besteht kein Unterschied in der Da-capo-Form der Kantaten (22 Da-capo-Arien, ein Rondeau, eine französische Da-capo-Arie) und der „Ariettes françoises“. Den Da-capo-Arien der Kantaten liegen 14-mal zwei und zehnmal eine Strophe zugrunde, die zweite Vertonung ist nur in zwei Fällen im A-Teil häufiger als im B-Teil. In „Trop heureux qui n’aime que soi“ (Le Destin de Narcisse) besteht der A-Teil aus der Vertonung eines einzigen Verses, der B-Teil aus den drei übrigen Versen. In „Qu’il faut d’ennuis et d’allarmes“ (Le Jugement de Paris) werden die ersten beiden Verse nach der zweimaligen Vertonung der gesamten Strophe erneut mit neuer Musik vorgetragen. Sie bilden damit einen Rahmen. Der Komponist begnügt sich in „Chacun de nous a sa folie“ (Le Destin de Narcisse) damit, die Strophe im A-Teil schlicht zweimal mit der gleichen Musik zu wiederholen, während in „Triomphe amour, triomphe de mes peines“ (Apollon et Daphné) die beiden Verse der Halbstrophe im A-Teil viermal in neuer Vertonung erklingen. Brunet de Molan hat wiederum eine Präferenz für den mediantischen Übergang vom B- zum A-Teil (sechsmal von der Paralleltonart, zweimal von der Dominant- und einmal von der Subdominantparallele), außerdem sechsmal von der Dominante, fünfmal von der Mollsubdominante und zweimal ohne tonalen Kontrast. Von den sechs „Ariettes françoises“ ist nur eine zweiteilig, alle anderen stehen in der Da-capo-Form.

4  Charakter- und Tempobezeichnungen Eingangs wurde die Charakterisierung der Kantaten Bononcinis durch französische Musiker als „gracieux“ erwähnt. Um zu überprüfen, ob dieses Vorbild für die französische Kantate seine Spuren hinterlassen hat, wurden die Tempo- und Charakterbezeichnungen der Arien und ihre Metren des Textkorpus angesehen. Im Vergleich zu den entsprechenden Angaben in den Opernpartituren der Zeit sind diese Angaben in den Drucken der Kantaten entschieden differenzierter und vielfältiger. Im Anhang 6 sind lediglich die Komponisten genannt, in deren Arien (und zunehmend auch in den Accompagnati) die entsprechenden Tempo- bzw. Charakterbezeichnungen vorkommen, nicht aber deren Anzahl. In den Arien ist „lent“ („lentement“) mit elf Zusätzen am häufigsten anzutreffen, gefolgt von „gai“ („gaiement“) mit acht Zusätzen sowie „tendre/tendrement“ mit vier Zusätzen, aber darüber hinaus als ergänzende Angabe bei anderen Vortragsbezeichnungen; an dritter Stelle erst befindet sich „gra-

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150

cieux“ mit sieben weiteren Angaben, aber als zweite Bezeichnung bei vielen anderen Charakterbezeichnungen; es folgen „vivement“ mit sieben sowie „léger“ mit vier Zusätzen. Nur Clérambault wählte sechsmal „doucement“ mit fünf Zusätzen, wobei hier nicht die Dynamik gemeint ist. Gruppiert man die „heiteren“ und „raschen“ Bezeichnungen („gai“, „vivement“, „léger“, „vite“, „vivace“, „allegro“), so ergibt sich die höchste Zahl mit 37 Varianten, bei den „zarten“ („tendrement“, „gracieux“, „doucement“, „affectueusement“) liegen 27, bei den „langsamen, ernsten“ („lent“, „grave“, „largo“, „adagio“) 22 vor. Diese Übersicht bestätigt die ästhetische Grundkonstellation der französischen Musik, die bemerkenswerte Differenzierung der Charakterangaben, die große Beweglichkeit der Musik, die Betonung ihrer Zartheit und erst danach die ruhige Bewegung und damit die Vermeidung der extremen und die starke Ausdifferenzierung der mittleren Affektsphären. Grosso modo geht es in der Mehrzahl um die zentralen Ausdruckssphären und Bewegungsarten „heiter“, „anmutig“, „zärtlich“, „ruhig“ und „lebendig“, die im sozialen Milieu der KantatenRezipienten beheimatet sind. Aus diesem Rahmen fallen in gewisser Weise nur die „Tempêtes“, die als Accompagnati vertont sind. Die italienischen Vortragsbezeichnungen begegnen mit Ausnahme von „andante“ bei Montéclair nur in italienischen Kantaten der Franzosen. Bei der Wahl der Metren herrscht auch eine große Variabilität von 14 verschiedenen Metrenangaben. Die ungeraden Metren stellen den größten Teil (drei Fünftel) dar, das aus Italien importierte 12/8-Metrum sowie die Notierung als 3/4 statt französisch 3 begegnen relativ selten. *** Das Stereotyp der moralischen Belehrung bzw. die Reflexion in der Schlussarie ist keineswegs die generelle Lösung, wie oft behauptet wurde. Die Situationsbeschreibung mit pastoralem Tenor im Anfangsrezitativ von Les heureux amants von Campra und Danchet z.  B. charakterisiert auch die zweiteilige Schluss-Ariette, für die Danchet zwei Strophen schrieb.32 Campra, 2e livre 1714 Les Heureux époux, Text von Danchet (Rezitativ zu Beginn der Kantate) L’amante du Dieu Mars abandonne Cythere Et cherche la fraîcheur de ce bois solitaire:   Rapprochez-vous, jeunes ormeaux; A l’ardeur du soleil opposez vos feüillages;   Et pour redoubler vos ombrages,   Entrelassez vos verds rameaux. bis

32

Schön zu sehen bei den Reimwörtern „surpris“-„fils“, dass das „s“ in „fils“ nicht ausgesprochen wurde.

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(Schluss-Ariette zweiteilig)   Les oyseaux épris d’un beau zele    Raniment leurs tendres voix,   Les faunes d’une ardeur nouvelle    Suivent les nymphes des bois;   Plus d’une bergere sauvage   Aux yeux de son amant surpris,   S’apperçut que dans ce boccage   Venus étoit avec son fils.

Auch bei der finalen Da-capo-Arie in der Kantate Protée von Fuzelier und Bernier gibt es keine Schlussmoral; vielmehr wird vermittelt, die in der Ferne befindliche Geliebte sowie ihre Liebesklage seien im Bewusstsein und in der Emotion des Liebhabers präsent. Beim Schluss-Rondeau in Berniers Les songes geht es um das Erwachen bei Tagesbeginn und den Wunsch, die nächtlichen Träume von der Liebesglut mögen nun Realität werden. Der anonyme Textdichter schrieb drei Strophen, die zwar alle fünfsilbige Verse, aber voneinander abweichende Versmetren haben, so dass hier poetisch die Voraussetzungen für ein Rondeau eindeutig gegeben sind. Die Strophenarie, die bei Bononcini noch des Öfteren vorkommt, existiert nur in der Kantate Léda (1720) von Nicolas Racot de Grandval, als zweiteilige Arie mit zwei Couplets „En amour la ruse est permise“. Eine Strophe des Dichters kann auf sehr verschiedene Weise vertont werden, als französische Da-capo-Arie, als ein- oder zweiteilige oder durchkomponierte oder bei Aufteilung der Strophe in zwei Teile als Da-capo-Arie oder schließlich als Rondeau. Die zwei-, drei- oder viermalige Vertonung von Strophen in beiden Teilen der französischen Da-capo-Arie entspricht nicht der italienischen Vertonungsweise, in der Einzelworte durch wiederholte Vertonungen in den Vordergrund gestellt sind. Der späte Transfer der italienischen Kantate in Frankreich ist der vorausgehenden Abgrenzung gegenüber der italienischen Musik geschuldet. Einigen Gruppierungen unter den Musikliebhabern, einigen Komponisten, die sich in Italien aufgehalten oder großes Interesse an italienischer Musik zeigten, sowie dem Förderer italienischer Musik, Philippe II. de Bourbon, Duc d’Orléans, ist die Übernahme und Beliebtheit der Kantate in Frankreich zu verdanken, die in der Gesellschaft und am Hof nach 1700 bald in Mode kam. Sowohl literarisch als auch in der Musik entwickelt sich die Kantate in Frankreich nach anfänglicher enger Anlehnung, so besonders bei Stuck und Bernier, an italienische Vorbilder Scarlattis, Bononcinis u.  a. eigenständig. Im Verlauf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen Komponisten zu immer interessanteren individuellen kompositorischen Lösungen. Dilettierende Schreiber belegen, welche wichtige Stellung und Funktion der Gattung in der französischen Gesellschaft jenes Teils zukam, der Zugang zur „verschriftlichten“ Musik hatte.

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152

Anhang 1 Jean-Baptiste Rousseau, allegorische Kantaten1 R=Rezitativ; dc=Da-capo-Arie; frz dc=Form der frühen französischen Da-capo-Arie; 2tgl=zweiteilige Arie; Str=Strophe; Ziffern bedeuten Anzahl der Verse Titel

Konflikt

Diane

R8

dc 4

R9

dc 3

R 10

dc 4

Keuschheit durch Liebe besiegt

Adonis

R6

dc 4

R 10

1 Str =10 R 12

dc 4

freundlich und charmant zu sein ist erfolgreicher als verliebt zu sein

Le Triomphe R 10 de l’amour

dc 4

R8

dc 4-6

R 162

Hymen

R 10

dc 5

R6

1 Str =123

R 10

R4

Amymone4

R8

dc 4

R 10

dc 4

R 10

dc 4

Thétis

R 10

dc 4

R 12

dc 4

R 10

R4

Circé

R 10

dc 5

R 12

1 Str =125

R 12

2 Str =66

1

2 3 4 5 6

Musen, Natur; Freiheit zugunsten der Bindung an Partner aufgeben 2 Str =6

Amor und Hymen rivalisieren soziale Stellung imponiert, durch Charme Liebe gewinnen, nicht durch Draufgängertum

2 Str =6

durch entmutigendes Gehabe der Angebeteten nicht abschrecken lassen mit Ehrgeiz, Einschüchterung ist keine Liebe zu erzwingen

In Rousseau, Œuvres, Bd. 1, Rotterdam 1712, sind 16 Kantaten auf S. 135–183 und separat davon S. 485 die Kantate Les bains de Tomeri notiert; auch in Rousseau, Œuvres, Paris 1743, Bd. I, S. 299–350, befinden sich die Kantaten bis Calisto einschließlich auf S. 359–370, die übrigen jeweils ohne Titel. Die 1712 an erster Stelle notierte Kantate Sur un baiser fehlt 1743. Bei Bernier R 5, Da-capo-Arie mit vier Versen, R 2, mehrteiliges Air mit fünf Versen. Bei Bernier Da-capo-Arie. In Rousseau, Œuvres (wie Anm. 1), lautet der Titel Animone. Bei Morin Da-capo-Arie, bei Colin de Blamont zweiteilige Arie. Bei Morin zwei Menuette, bei Colin de Blamont zweiteilige Arie.

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

153

Titel

Konflikt

Céphale

R 10

dc 4

R6

frz dc 2-4-2

R 10

dc 4

Bacchus

R 12

4 Str =4

R9

dc 6

R 12

dc 4

Les Forges de Lemnos

R6

dc 4

R8

1 Str =4

R 10

dc 4

Les Filets de R 4 Vulcain7

1 Str =4

4 Str =4

R 12

dc 4

R 10

Les Bains de R 10 Toméry

dc 4

R 10

dc 4

R8

dc 4

Contre l’hiver

R 12

dc 4

R 16

2 Str =6

Tristesse der Natur, Bäume werden gefällt, Frühling wird erwartet

Pour l’hiver

R9

dc4

R 11

dc 4

Macht des Winters, er stellt alle Früchte bereit, ist Patron der Vergnügungen

7

durch Schlaf und Apathie entgeht die Liebe R9

dc 5

Wohltaten des Weins, Bacchus Gott des Friedens Pfeile Amors treffen Mars, Amor ist Gott des (Liebes-)Krieges

2 Str =6

In Rousseau, Œuvres (wie Anm. 1), S. 173, lautet der Titel Vénus et Mars.

Eifersucht mit Vernunft begegnen, bei höchstem Glück besteht größte Gefahr, Eifersucht und Glück verstecken Attraktivität der Duchesse Douairière, Geburt Amors von der Schönheit initiiert, die Schönheit verdankt Amor ihre Macht

Herbert Schneider

154 Titel

Konflikt

Calisto

R6

dc 4

R6

dc 4

R8

dc 4

Calisto verachtet die Liebe, aber ihre Schönheit verführt Jupiter; verborgene Liebe bringt Ruhe, Liebe mit prominentem Partner wird publik

L’Amour dévoilé

R8

dc 4

R 10

dc 5/4

R4

2 Str =4

das Schicksal hat Amor die Augenbinde angelegt, daher ist die Liebe unberechenbar; ohne Binde wirkt Amor positiv

L’Amant heureux

R6

dc 4

R4

1 Str =10

R6

dc 5

zur Liebe gehören Schmerz und Sehnsucht; Leben nur für die Geliebte

Sur un ­arbrisseau

R5

dc 4

R8

dc 4

Europe (Jupiter et Europe) für 2 St.

E: R8

J: R 4, Art frz dc 4

E: R4, Art frz dc 1/4

J/E: R 10

junger Busch, hüte dich vor dem Winter, Bitte an die Sonne Duo 4

J: R4

E: 2tgl 6

J: 2tgl 6 duo 4

Konflikt zwischen der Zugehörigkeit zu verschiedenem sozialem Rang und der Liebe

Antike „Stoffe“ 15; moderne Stoffe 4. 37 Da-capo-Arien mit zwei Strophen, drei französische Da-capo-Arien in der Nachfolge Quinaults und Lullys, zweimal vier, achtmal eine und sechsmal zwei Strophen; fünfmal sieht Rousseau drei Da-capo-Arien für die Kantate vor, zehnmal zwei und viermal nur eine.

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

155

Anhang 2 Kantaten Rousseaus einschließlich der falschen Zuschreibungen und ihre Vertonungen Kantate

Rezitativ

Da-capoArie

andere Arie

vertont

Di Scanno, Seite:

Bd. 1 Diane

3

3



Bernier

 88–89

Adonis

3

2

1

Bernier

 90–92

Le Triomphe de l’Amour

3

2



Bernier

 93–95

L’Hymen

4

1

2

Bernier

 96–99

Amymone

3

3



Stuck

100–102

Thétis

4

2

1

Stuck

103–106

Circé

3

1

2

Morin, Colin de Blamont

107–110

Céphale

3

2; frz dc

1

Stuck

111–113

Bacchus

3

3

1

Bernier, Morin

114–118

Les Forges de Lemnos 3

2

1

Bernier, Gervais

119–121

Les Filets de Vulcain

3

1

3



122–125

Les Bains de Toméri

3

3



Stuck

126–128

Contre l’hiver

2

1

1



129–131

Pour l’hiver

2

2



L.C.D.B (?) 1741

132–133

Calisto

3

3



Bernier

134–136

Bd. 2 L’Amour dévoilé (Ne me reprochez plus)

3

2

1

Morin, Bernier

137–139

L’Amant heureux= L’Absence m’a fait voir

3

2

1

Bernier (L’inconstance)

140–142

Sur un arbrisseau=Jeune et tendre arbrisseau

2

2



Montéclair

143–144

Europe à deux voix (Jupiter et l’Europe)

5

2 frz dc

2 (2 duo)

Bernier

146–148

ab hier Di Scanno:

Herbert Schneider

156 Kantate

Rezitativ

Da-capoArie

andere Arie

vertont

Di Scanno, Seite:

Sur un baiser

2

1

1

Bernier

149–150

ab hier Lenglet du Fresnoy (1751):

Seite:

Jupiter et Sémélé

2

2





153–155

L’Héliotrope

2

2





156–158

Faune et Omphale

2



2



159–160

Ariane et Bacchus

2

1





161–162

Psyché

4

5





163–167

Le Parjure innocent

2

2





168–169

nur Bachelier (1728):

Seite:

Diane et Endymion à 2, Text von Fuzelier

3

2



Bernier

173–176

L’Enlèvement de Proserpine, Text von Fuzelier

3

3



Bernier

177–180

Proserpine

3

3



Stuck

181–183

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

157

Anhang 3 100 Kantatentexte bei Bachelier (1728), im Register nur 97

Textdichter: Rousseau 17; Fuzelier 7; Thibault 5; Mr. F. 4; Mr. H. und La Grange je 3 Komponisten: Bernier 24, Clérambault 15, Stuck 13, Montéclair 12, Campra 11, Morin 8, Robert 5 Komponist

Dichter

Titel

Bernier

Rousseau Rousseau Thibault Thibault Rousseau Rousseau ­[Fuzelier] Rousseau Mr. F. Mr. F.D.A. Rousseau – Thibault Thibault Mr. F. Rousseau Rousseau Rousseau

63 253 328 345 213 94 30 245 273 9 352 320 337 341 158 114 366 265

Rousseau – Fuzelier Fuzelier Fuzelier Mr. P. Thibault

Adonis Bacchus Calipso Calisto Diane Diane et Endimion Europe et Jupiter Hippolyte et Aricie Iris L’Amant heureux L’Amant trompé L’Amour aveuglé L’Amant vainqueur Le Café L’Hymen L’Enlèvement de Proserpine Le Portrait d’Uranie Le Triomphe de l’Amour ou les Muses Les Forges de Lemnos Les Nymphes de Diane Les Songes Les Zéphirs Protée Vertumne et Pomone à 2 La Vengeance de l’Amour

Bourgeois Mr. B.

La Grange Mr. K.

Dédale Don Quichote, cantate burlesque

332 221

Bousset

Mr. H.

Tircis et Climène, églogue bachique

287

Campra

Mr. D. – – – – – Mr. D.

Arion Daphné Didon Enée et Didon Hébé La Danse de Flore La Dispute de l’Amour et de l’Hymen, épitalame L’Heureux époux L’Heureux jaloux Les Femmes Silène

205 193 41 370 102 176 137

– – [Roy] [Danchet]

Seite

18 310 401 398 394 356 363

111 12 80 171

Herbert Schneider

158 Komponist

Dichter

Titel

Clérambault

Mr. V. – – Mr. D. – – – – – – – – – – –

Alphée et Aréthuse Apollon et Doris L’Amour et Bacchus L’Amour piqué par une abeille L’Amour guéri par l’Amour La Musette Léandre et Héro Le Bouclier de Minerve Le Jaloux Le Triomphe de la paix Médée Orphée Pygmalion Pirame et Thisbé Polyphème

15 378 189 23 374 182 45 390 155 119 141 90 35 69 7

Le Duc d’Orléans (D.D.)

Le Duc d’Orléans

La Résolution inutile

284

Guido, Antonio

Mr. S. Mr. P.

La Pomme d’or Tircis et Climène à 2

341 324

La Coste



Idylle

292

Montéclair

– – – – Mr. F. Mr. D. – – – Mr. B. – Mr. D.C.

La Badine La Fortune La Mort de Didon L’Amour vengé (nicht Text wie Stuck) Le Dépit généreux L’Enlèvement d’Orithie Le Retour de la paix Le Triomphe de l’Amour Le Triomphe de la constance Les Sirènes Pan et Syrinx Pirame et Thisbé à 3

87 66 124 162 210 197 249 51 151 217 128 231

Morin

Rousseau – Mr. C Rousseau Mr. H. Rousseau Mr. Q. Fuzelier

Circé Enone Euterpe L’Amour dévoilé La Rose Le Baiser Les Amants mécontents Le Sommeil de l’Amour (auch Stuck)

241 48 1 185 225 180 259 107

Robert

La Grange La Grange Mr. Francisque Guyot de Merville Mr. F. Van-Effen

La Belle hollandaise La Chasse des oiseaux La Jouissance Le Bercement de Sancho L’Impatience amoureuse Ragotin ou la sérénade burlesque

146 306 303 98 262 74

Komponist ist nicht Robert, sondern Gervais

Seite

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate Komponist

159

Dichter

Titel

Mr. E.

L’Amant trahi Le Dégoût des grandeurs

299 269

Stuck

– Rousseau Menesson Mr. D.C.L. Seré Fuzelier – – Rousseau Mr. H. Rousseau Fuzelier Rousseau

Ariane Céphale Flore Héraclite et Démocrite L’Amour vengé Le Sommeil de l’Amour (auch Morin) Les Troubles de l’Amour Mars jaloux Neptune et Amimone Philomèle Proserpine Psyché Thétis ou la naissance d’Achille

56 167 20 277 38 107 228 133 4 60 201 80 29

ohne Angabe

Mr. I.D.V. M. de B.

Les Vendanges Pentée ou l’irreligion punie

383 316

attrib. Duc d’Orléans Mons. S.  A.R le D. R. de F. (Mgr D.D.R. de F.)

Anhang 4 Das untersuchte Textkorpus Bousset, Cantates (1703?, 1710)    3 Kantaten Bernier, Livre 1–7 (Privileg von 1703–1723)   38 Kantaten Stuck, Livre 1–4 (1706–1714)   20 Kantaten Bourgeois, Livre 1–2 (1708–1715)   10 Kantaten Brunet de Molan, Livre de cantates (1708)    4 Kantaten Campra, Livre 1–2 (1708–1714)   12 Kantaten Clérambault, Livre 1–4 (1710–1720)   20 Kantaten Colin de Blamont, Livre 1 (1723)    3 Kantaten Courbois, Cantates (1710)    7 Kantaten Destouches, Oenone, Sémélé (1717, 1719)    2 Kantaten Gervais (1720)    1 Kantate Grandval, Cantates (1720)    6 Kantaten Jacquet de La Guerre, Cantates (ca. 1715)    3 Kantaten Montéclair, Livres 1–3 (ca. 1709, 1717)   23 Kantaten Morin, Livres 1–2, op. 6 (1706–1712)   17 Kantaten Mouret, Cantates (1718)    4 Kantaten Lemaire, Cantates (1723)    6 Kantaten Rameau, Cantates (ca. 1715–1740)    7 Kantaten Brossard   6 Kantaten Summe: 192 Kantaten

Seite

Herbert Schneider

160 Komponist

Kantaten nach antiken Stoffen

nach zeitgenössischen Stoffen

Bousset

  1

 2

Brunet de Moland

  4

 –

Stuck

 14

 6

Destouches

  2

 –

Bernier

 29

 9

Jacquet de La Guerre

  3

 –

Campra

 10

 2

Lemaire

  2

 4

Gervais

  1

Clérambault

 16

  3 + 1 geistliche

Morin

 12

 5

Mouret

  1

 3

Courbois

  5

 2

Montéclair

  9

14

Rameau

  3

 4

Colin de Blamont

  3

 –

Bourgeois

  8

 2

Grandval

  1

 5

Brossard

  –

  1; 5 geistliche AT

124

62, 6 geistliche

     192 Kantaten

  7

  1

  1

  6

 17

 47

 16

 13

 21

 17

 26

Bousset

Morin

Stuck

Brunet de Moland

Campra

Bourgeois

Courbois

Clérambault

Jacquet de La   8 Guerre

Mouret

  6

 19

 89

Bernier

  2

  6

 16

  6

 27

  4

  1

dc 1 Str

dc 2 Str

Komponist

2



2





2









1

dc 3 Str













1-1 Str







2-1 1-3 Str

dc français

 2

 2

 5

 1

 4

 8

 –

 2

 4

 –

 6

zweiteilig 1 Str

1-3 Str

 –

 –

 –

 –

 –

 –

 3

 3

 1

 2

zweiteilig 2 Str

1-4 Str







1-1 Str

3-2 Str 1-4 Str 1-5 Str

1-1 Str



1-1 Str

3-2 Str 1-1 Str

rondeau

1-1 Str

1-1 Str

1-1 Str

3-3 Str

1-1 Str

einteilig

2-1 Str

1-2 Str 1-1 Str





2-1 Str 1-3 Str

1-1 Str





1-1 Str

durchkomponiert strophisch

dc = da capo; Str = Strophe, 1/2tlg = ein/zweiteilig etc.; bei zwei mit Bindestrich verbundenen Ziffern zeigt die erste Zahl die Anzahl der entsprechenden Stücke bei dem jeweiligen Komponisten, die zweite die Anzahl der Strophen an.

Anhang 5 Arienformen

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate 161

  –

113

 12

  5

  4

  7

 17

319

Montéclair

Brossard

Lemaire

Colin de Blamont

Rameau

  1

  6

  2

 11

  –

  –

Gervais

  3

  8

Grandval

dc Summe: 449

7









2tlg Summe: 77

63-1 Str 15-2 Str 1 4tlg-1 Str 1-3 Str

1-3 Str 5-1 Str

16

 –

 1

 2

 1

 –

2

64

5; 1 4tlg-1 Str

 5

 7

 5

 3

 2

 2

6



1-1 Str

1

12 9-1 Str.; 3-3 Str.

6-2 Str.; 7-1 Str.; 4-3 Str.; 2-4 Str.; 1-5 Str.;

1-1 Str

2-1 Str

1-1 Str

1-1 Str

20



1-1Str 1-3 Str

3-3 Str 1-1 Str

1-1 Str



1-1 Str

16-1 Str; 1-3 Str; 1-2 Str; 2 Sonderfälle: 1 und 2 Str

20



5-1 Str

2-1 Str

1-1 Str

1-1 Str



2 Sonderfälle: ABAC-1 Str dc neu vertont-2 Str

162 Herbert Schneider

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

163

Anhang 6: Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen adagio Stuck adagio, affettuoso Montéclair affectueusement, lié Campra air sérieux Bernier, Morin allegro Stuck, Montéclair andante Montéclair de mouvement, marqué Clérambault détaché Bernier doucement sans lenteur Clérambault doucement sans lenteur, marqué Clérambault doucement Clérambault doucement, mesuré Clérambault doucement, piqué Clérambault doucement, tendrement, coulé Clérambault en menuet évocation, fort, lent

Bernier, Morin Clérambault

fort, marqué

Morin

gai

Bernier, Stuck, Campra, Clérambault, Grandval, Montéclair, Lemaire Mouret Campra Bourgeois Campra, Clérambault Brossard Bernier, Morin, Stuck, Brunet de Molan, Campra, Montéclair, Brossard, Lemaire Bourgeois Brossard Campra, Brossard Campra

gai, affectueux gai, lié gai, modéré gai, piqué un peu gai, tendrement gaiement gaiement, gracieusement un peu gaiement un peu gaiement, mesuré un peu gaiement, piqué gracieusement

Bernier, Bousset, Morin, Brunet de Molan, Campra, ­Bourgeois, Courbois, Jacquet de La Guerre, Mouret, ­Montéclair, Lemaire gracieusement, coulé Clérambault gracieusement, gai Clérambault gracieusement, louré Clérambault gracieusement, marqué Morin, Bourgeois gracieusement, piqué, louré Bernier, Stuck gracieusement, un peu louré Jacquet de La Guerre gracieux Bernier gracieux, gai Clérambault grave Bernier gravement Bernier, Morin, Stuck, Campra, Brossard gravement, détaché Stuck gravement, piqué Campra gravement, tendrement Bernier, Bourgeois largo largo, affettuoso

Stuck, Montéclair Montéclair

Herbert Schneider

164 léger léger, doux léger, gracieux légèrement légèrement, gracieusement légèrement, piqué très légèrement lent lent, détaché lent, piqué lent, tendre lentement lentement, fort tendrement lentement, gracieusement lentement, marqué lentement, piqué lentement, tendrement fort lent, fort tendre fort lentement très lentement louré

Bernier, Montéclair, Lemaire Montéclair Mouret Bernier, Morin, Campra, Courbois, Mouret, Grandval, Montéclair, Lemaire Campra, Clérambault, Clérambault Bernier Mouret Campra, Montéclair Montéclair Campra Montéclair Bernier, Morin, Stuck, Brunet de Molan, Campra, Courbois, Clérambault, Jacquet de La Guerre, Grandval, Montéclair, Brossard (sommeil), Lemaire Clérambault Jacquet de La Guerre Clérambault Mouret Bourgeois, Montéclair, Brossard Clérambault Courbois, Clérambault Courbois Bernier, Campra

majestueusement sans lenteur Clérambault marqué Morin, Campra marqué, lentement Jacquet de La Guerre mesuré, piqué Campra modéré Montéclair modéré, piqué Campra mouvement de gavotte Bourgeois mouvement de menuet Campra mouvement de rigaudon Brossard musette doucement, gracieusement Clérambault piqué et détaché Brossard piqué Campra point vite et louré Brossard rondement Bernier un peu plus rondement Clérambault tendre tendre, louré tendre, piqué tendrement

Bernier, Montéclair Bernier Clérambault Bernier, Bousset, Morin, Stuck, Brunet de Molan, Campra, Bourgeois, Courbois, Grandval, Montéclair, Brossard, Lemaire tendrement, coulé Bernier tendrement, lentement Stuck, Lemaire tendrement, sans lenteur Clérambault tendrement, un peu de mouvement Montéclair fort tendre Clérambault fort tendre, fort lent Clérambault

Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate

165

fort tendre, lentement Clérambault tristement Montéclair vite Bernier, Campra vite, fort Clérambault fort vite Campra, Morin, Courbois, Clérambault fort vite à quatre temps Brossard vitement Clérambault vivace Montéclair vif Bernier, Clérambault, Grandval vivement Bernier, Morin, Stuck, Campra, Bourgeois, Jacquet de La Guerre, Grandval, Brossard, Lemaire vivement, détaché Stuck vivement, fort Brunet de Molan vivement, marqué Stuck vivement, mesuré Campra vivement, pointé Brossard vivement, très vite Bourgeois vivement, vite Clérambault ohne Angabe

Bernier, Bousset, Morin, Stuck, Brunet de Molan, Campra, Bourgeois, Courbois, Clérambault, Jacquet de La Guerre, Mouret, Grandval, Gervais, Montéclair, Brossard, Lemaire

III Kantatenaffekte: Poetik, Theologie und Moral

Bernhard Jahn

Moralische Charaktere in der Kantate – Die Kantate als Moralische Wochenschrift Wohl kaum eine Gattung im 18. Jahrhundert ist so sehr durch heterogene Weiterungen und Symbiose-Bereitschaft bestimmt wie die Kantate, wohl kaum eine Gattung bereitete den zeitgenössischen Gattungstheoretikern aus diesem Grunde größere Schwierigkeiten. Die [Kirchen-]Kantate, schreibt Mattheson mit einem Stoßseufzer im Vollkommenen Capellmeister, sei ein aus viererley Schreib-Arten zusammen gestoppeltes Wesen. Das Cantatenmäßige, so darin vorkömmt, gehört zum Madrigal-Styl; Die vielstimmigen Chöre und Fugen zu[m] Moteten-Styl; die Begleitungen und Zwischen-Spiele zum Instrumenten-Styl; und endlich die Choräle zum melismatischen. Bei solchem Verfahren werden wir wenig systematisches aufweisen können.1

Während sich die deutschen Theoretiker ab den 1730er-Jahren schwer taten mit dem amorphen Erscheinungsbild der Kantate – Gottsched und Mattheson sind sich hier so nahe wie sonst kaum –,2 scheinen die frühen Theoretiker, also Autoren wie Erdmann Neumeister oder Christian Friedrich Hunold, einen unverkrampfteren, weil weniger normativen Zugang zu den symbiotischen Tendenzen der Kantate zu pflegen. Um einen besonderen Fall von Anverwandlungsfähigkeit wird es im folgenden Beitrag gehen, einen Fall, der sich zwar nicht in Tausenden von Kantaten niederschlug, der aber doch gut geeignet ist, die für diesen Tagungsband stichwortgebende Katalysatorfunktion der Kantate zu veranschaulichen. Gleichzeitig wird dabei die europaweite Verbreitung der Kantatenform hier aus einer vielleicht eher ungewöhnlichen Per­ spektive beleuchtet, nämlich einmal nicht unter dem Blickwinkel Italiens, sondern unter einem englischen. Hierfür werden die Interferenzen zwischen der Gattung der Charakterskizze, die in der Frühen Neuzeit meist als ‚moralischer Charakter‘ bezeichnet wurde, und der Kantate im deutschen Sprachraum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Symbiose-Bereitschaft eingehender betrachtet. Zu diesem Zweck wird zunächst ein knapper Überblick über die Geschichte und die Merkmale des ‚moralischen Charakters‘ vorangestellt, danach werden im Hauptteil einige Kantaten-Beispiele diskutiert.

1

2

Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739, S. 215. Gottscheds Einlassungen zur Kantate finden sich in: Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Hg. v. Joachim u. Brigitte Birke. In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. v. Phillip M. Mitchell, Bd. VI,1–4. Berlin u. New York 1973, hier Bd. 2, S. 59–74.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-009

170

Bernhard Jahn

I Den gattungsprägenden Archetext der Charakterskizze bilden die Charakteres ethikoi des Theophrast3 aus dem vierten Jahrhundert vor Christus, eine Sammlung von 30 Charakterskizzen. Der Zusatz „ethikoi“ erläutert die spezifische Verwendung des Wortes ‚Charakter‘ durch Theophrast: ‚Charakter‘ meint zunächst „Präger“ in der Art eines Stempels; dann auch das, was geprägt wurde, das Zeichen. In diesem Sinne wurde das Wort noch im 18. Jahrhundert gebraucht, in Zedlers Universal-Lexicon4 findet sich sogar ausschließlich diese Bedeutung. Theophrast verwendet das Wort ‚Charakter‘ auf die menschliche Seele und ihre spezifischen Eigenschaften bezogen, in dieser Bedeutung wurde es durch die Gattungstradition der moralischen Charaktere ins 18. Jahrhundert transportiert. In Johann Christian Wächtlers erstmals 1703 in Leipzig erschienenem Commodem Manual heißt es entsprechend: „Character, ein Merckmal; z.E. der Character der Christl. Kirchen; was hat er vor einen Character am Hofe? was bedienet er? er hat den Character eines Freigiebigen“.5 Theophrasts Sammlung enthält 30 Skizzen,6 die auf menschliche Eigenschaften rekurrieren: der Unaufrichtige, der Schmeichler, der Redselige, aber auch Aspekte des Standes oder des Berufes einschließen: der Bäuerische, der Oligarchische.7 Die kleinen Skizzen Theophrasts, die meist weniger als eine Seite ausmachen, sind so aufgebaut, dass zunächst eine Definition des Charakters erfolgt, an die ein Erzähler im Präsens einige Beispiele reiht, Situationen, Momentaufnahmen, Zitate, in denen sich das Spezifische des Charakters äußert, ohne dass sich die einzelnen Beobachtungen zu einer Gesamthandlung zusammenfügen. Die Darstellung des Charakters geht von allgemein menschlichen Eigenschaften aus, es geht also nicht um die Darstellung konkreter individueller und/oder historischer Personen. Dennoch soll das Typische der Charaktere in seiner Allgemeingültigkeit anhand möglichst individuell wirkender Einzelmomente erzeugt werden. Individualität und Typus stehen so in einer spezifischen Relation zueinander. 3 4 5

6

7

Leicht greifbar in der Reclam-Ausgabe: Theophrast: Charaktere. Griechisch/deutsch. Übers. und hg. v. Dietrich Klose, mit einem Nachwort v. Peter Steinmetz. Stuttgart 2000. Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. und 4 Bde. Halle u. Leipzig 1732–1764, hier: Bd. 5, Sp. 2003  f. Johann Christian Wächtler: Commodes Manual, Oder Hand-Buch, Darinnen zu finden […] II. Ein vollkömmliches Dictionaire, in welchem die meisten in civili vita vorkommenden Termini und gewöhnliche Redens-Arten ordine Alphabetico eingerichtet, erkläret, und mit mit Exemplis illustriret seynd […]. 5. Aufl. Leipzig, o.  J., S. 99. Pirckheimers erste Edition enthielt zunächst nur 13 Skizzen. Vgl. dazu Sandra Richter: Charakter und Figur. Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands Abderiten (1781). In: Nicolas Pethes u. Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Tübingen 2008 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117), S. 145–170, hier: S. 152. Vgl. Theophrast: Charaktere (wie Anm. 3), Nr. 4 („Der Bäurische“), Nr. 26 („Der Oligarchische“).

Moralische Charaktere in der Kantate

171

Das Wiederaufleben der Gattung der ‚moralischen Charaktere‘ in der Frühen Neuzeit setzte im humanistischen Kontext mit Willibald Pirckheimers Edition Theophrasts nebst lateinischer Übersetzung 1527 ein und begründete so eine bis ins 18. Jahrhundert hineinwirkende philologische Theophrast-Rezeption.8 Eine Breitenwirkung jenseits der Universität begann mit Isaac Casaubons Theophrast-Ausgabe von 1592, die einen umfangreichen Kommentar enthält, der vor allem in England wirksam wurde, wo sich Anfang des 17. Jahrhunderts die volkssprachliche Tradition der sogenannten ‚character-writers‘ herausbildete. Sie umfasste Autoren wie etwa Joseph Hall mit seinen Characters of Virtues and Vices (London 1608) sowie zahlreiche weitere Verfasser.9 Neu bei den englischen Autoren ist die stärkere explizite Bewertung der Charaktere an der Messlatte der christlichen Moral. Theophrast war hier eher implizit geblieben, was nicht wenig zum Reiz seines Büchleins beiträgt. Wie der Titel von Halls Buch schon andeutet, gibt es nun nicht mehr ausschließlich Charakterskizzen, die negative Eigenschaften darstellen, sondern auch positive Schilderungen. Die ‚character-writers‘ tradieren die Gattung in England bis ins beginnende 18. Jahrhundert, wo sie in den ‚moral weeklies‘ von Addison und Steele aufgegriffen und zu einem ihrer elementaren Bestandteile gemacht wurde.10 Der moralische Charakter bildete einen moraldidaktischen Baustein, der in keiner Moralischen Wochenschrift fehlen durfte.11 Über die Nachahmung der ‚moral weeklies‘ im deutschen Sprachraum wurden die moralischen Charaktere als Gattung einem breiten Publikum vertraut. Es war Johann Mattheson, der die neue Gattung 1713 in Hamburg einführte,12 die dann aber vor allem durch den Hamburger Patrioten, Gottscheds Vernünfftige Tadlerinnen sowie den Biedermann und die Diskurse der Mahler von Bodmer/Breitinger in den zwanziger und dreißiger Jahren überaus populär wurde.13 In den Diskursen der Mahler findet sich sogar eine Metadiskussion der moralischen Charaktere.14  8  9 10 11

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Zur deutschen Theophrast-Rezeption in der Frühen Neuzeit vgl. Richter: Figur (wie Anm. 6). Zu den englischen ‚character-writers‘ vgl. John William Smeed: The Theophrastan ‚Character‘. The history of a literary genre. Oxford u. New York 1985, S. 1–46. Ebd., S. 64–81. Dazu grundlegend Ute Schneider: Der moralische Charakter. Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften. Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 19); für Leipzig vgl. auch Susanne Niefanger: Schreibstrategien in den Moralischen Wochenschriften. Formalstilistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gottscheds ‚Vernünfftigen Tadlerinnen‘. Tübingen 1997, S. 215–225. Vgl. Holger Böning: Der Musiker und Komponist Johann Mattheson als Hamburger Publizist. Studie zu den Anfängen der Moralischen Wochenschriften und der deutschen Musikpublizistik. Bremen 2011 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 50), besonders S. 186–265. Zur Gattung der Moralischen Wochenschriften immer noch Standard: Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968; zu neueren Forschungsperspektiven vgl. Misia Sophia Doms u. Bernhard Walcher (Hg.): Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum. Bern u.  a. 2012 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 110). Vgl. Schneider: Charakter (wie Anm. 11), S. 18–23. Es geht dabei um die Abgrenzung des moralischen Charakters vom historischen Porträt.

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Die neue Publikationsform der Wochenschrift wurde in den 1720er-Jahren in Hamburg auch für die Musik relevant: Ab 1728 veröffentlicht Johann Mattheson in Anlehnung an die Hamburger Moralische Wochenschrift Der Patriot seinen Musicalischen Patrioten15 und Georg Philipp Telemann war schon 1726 dazu übergegangen, unter dem Titel Harmonischer GOttes-Dienst wöchentlich eine geistliche Kantate zu publizieren. 1727 schließt sich vom selben Komponisten ein Auszug derjenigen musicalischen und auf die gewöhnlichen Evangelien gerichteten ARIEN, welche in den Hamburgischen Haupt-Kirchen/ durchs 1727. Jahr/ vor der Predigt aufgeführet werden an. 1728 schließlich erscheint zweiwöchentlich Telemanns Der getreue Music-Meister, der Instrumentalstücke, aber auch Kantaten enthält.16 Schon hinsichtlich der Publikationsform ist somit ab den 1720er-Jahren ein enger Bezug zwischen Moralischer Wochenschrift und Kantate gegeben. Gegenüber der Dominanz der Moralischen Wochenschriften erweist sich die französische Traditionslinie, aus der heute vor allem Jean de La Bruyère bekannt ist, als weniger wirkmächtig für den deutschen Sprachraum.17 Sind die moralischen Charaktere zunächst ausschließlich in Prosaform abgefasste Skizzen, so finden wir im 18. Jahrhundert dann verstärkt Adaptionen in anderen Formen, etwa in Vers­ erzählungen oder eben in Kantaten.

II In den Zentren der Verbreitung von Moralischen Wochenschriften wie Hamburg und Leipzig entstehen auch jene Kantaten, um die es im Folgenden gehen soll. Sie werden von den Zeitgenossen meist, aber nicht immer, als moralische Kantaten bezeichnet, wobei allerdings nicht alle moralischen Kantaten auch schon moralische Charakterkantaten sind. Heute noch bekannt sind vor allem die zweimal sechs Kantaten, die Georg Philipp Telemann unter dem Titel Moralische Cantaten18 ab 1735 erscheinen

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[Johann Mattheson:] Der Musicalische Patriot, Welcher seine gründlichen Betrachtungen/ über Geist- und Weltl. Harmonien […] In angenehmer Abwechselung […] mittheilet […]. Hamburg 1728. Vgl. dazu Böning: Mattheson (wie Anm. 12), S. 345–406. Zu den genannten Publikationen vgl. Böning: Mattheson (wie Anm. 12), S. 407–416. Vgl. auch den Beitrag von Steven Zohn im vorliegenden Band. Jean de La Bruyère: Les Caractères de Théophraste traduits du grec avec Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle. Hg. v. Marc Escola. Paris 1999 (Sources Classiques 17). Ediert in: Georg Philipp Telemann: Kammerkantaten. Hg. v. Steven Zohn. Kassel u.  a. 2011 (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 44), S. 85–168. Zu Telemanns Moralischen Kantaten vgl. Günter Fleischhauer: Georg Philipp Telemanns Zyklus VI Moralische Cantaten für eine Singstimme, Soloinstrument und Basso Continuo nach Worten von Joachim Johann Daniel Zimmermann (Hamburg 1736–1737). In: Bernd Baselt u. Siegfried Flesch (Hg.): Aufklärerische Tendenzen in der Musik des 18. Jahrhunderts und ihre Rezeption. Walther Siegmund-Schulze zum 70. Geburtstag. Halle 1987, S. 32–50, ferner Ders.: G. Ph. Telemanns Zyklen VI Moralische Cantaten (TVWV 20:23–38 und 29–34) im Urteil J. A. Scheibes. In: Monika Fink u.  a. (Hg.):

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ließ. Aber schon die 1714 erschienene Musicalische Landlust19 auf Texte von Hunold wird auf dem Titelblatt als aus „verschiedenen moralischen Cantaten“ bestehend angekündigt. Zu Recht weist Gunilla Eschenbach darauf hin, dass dieser neue Typus der moralischen Kantaten nicht einfach als Fortsetzung der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts etablierten italienischen cantate morali zu verstehen ist.20 Zur Illustration und Verdeutlichung sei zunächst auf die Kantate „Die Falschheit“ aus Telemanns erster Sammlung von sechs moralischen Kantaten näher eingegangen. Die Texte der Kantaten stammen von Daniel Stoppe, allerdings mit Ausnahme der vorliegenden Kantate, für welche der Dichter bislang nicht ausgemacht werden konnte.21 Die Falschheit 1. Arie Laßt mich über Falschheit klagen, die bis in die Seele kränkt. Höflichs Bücken, glatte Worte, spürt man an so manchem Orte, wo die Lippen trüglich sagen, was man heimlich anders denkt. 2. Rezitativ Man sehe doch, mit welcher Freundlichkeit dort Philidor dem Stax den guten Abend beut: Sie küssen, sie umarmen sich, und mancher sollte schwören, daß sie ein ander Ich, ein einzig Herz in zweien Leibern wären. Geduld! wir werden sie bald besser kennen. Schaut! wie sie sich so zärtlich trennen. Schleicht beiden nach! O weh, was hört man nicht! Stax schreit den Philidor von Haus zu Haus, als einen Erzbetrüger aus, da der von jenem spricht, er sei der größte Bösewicht.

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Musica Privata. Die Rolle der Musik im privaten Leben. Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Salmen. Innsbruck 1991, S. 315–338. Ediert in: Reinhard Keiser: Weltliche Kantaten und Arien. Bd. 1. Werke aus gedruckter Überlieferung. Hg. v. Hans Jörg Drauschke u. Thomas Ihlenfeld. Beeskow 2001 (Musik zwischen Elbe und Oder 30), S. 101–117. Gunilla Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds in der „Musicalischen Land=Lust” (1714) von Reinhard Keiser. In: Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha bei Jena 2006 (Palmbaum 21), S. 154–173, hier: S. 155. Vgl. Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 18), Vorwort, S. XIV. Zu Stoppe vgl. Eberhard Haufe: Daniel Stoppe als Textdichter Telemanns. In: Günter Fleischhauer u. Walther SiegmundSchulze (Hg.): Telemann und seine Dichter. Konferenzbericht der 6. Telemann-Festtage 1977. Magdeburg 1978, S. 75–86.

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3. Arie Entweich von mir, verstellte Tücke! Du sollst von mir verbannet sein. Ich will mit treuem Herzen wandeln, und gegen jeden redlich handeln; gereicht mirs gleich zum Ungelücke, so bleibt doch mein Gewissen rein.22

Falschheit bzw. Heuchelei waren häufig Themen in den Moralischen Wochenschriften und boten Anlass zu ‚moralischen Charakteren‘, im Hamburger Patrioten etwa in der Nr. 103.23 Durch die Vorstrukturierung aufgrund musikalischer Kategorien ist bei der vorliegenden Kantate eine klare Dreiteilung erkennbar. Die erste Arie benennt das Thema. Die zentrale Charaktereigenschaft, das ist kennzeichnend für die moralischen Charakterisierungen, wird jeweils schon in der ersten Zeile der Dichtung genannt, die erste Arie enthält eine knappe Definition des Phänomens. Im Rezitativ referiert der Erzähler dann im Präsens ein Fallbeispiel anhand zweier Figuren, die namentlich, meist sogar mit sprechenden griechischen Namen, eingeführt werden, und an denen jene für die Charaktere gattungskonstitutive Mischung von eingehender Detailbeschreibung und allgemeiner Typik demonstriert wird. Die abschließende Arie enthält einen moralischen Imperativ. Hauptthema der moralischen Charakterkantate muss nun nicht mehr ein zentraler Affekt sein, sondern der darzustellende Charakterzug kann zunächst einmal losgelöst von einem spezifischen Affekt beschrieben werden. So ist die im vorliegenden Beispiel zentrale Eigenschaft des Heuchlers, die Falschheit, kein Affekt, sondern eine ethisch defizitäre Verhaltensweise, die mit verschiedensten Affekten einhergehen kann. Die Affektdarstellung ist also nicht mehr Endzweck, sondern eher ein charakterisierendes Mittel der Kantate. Werden indes Affekte ins Zentrum gerückt, dann dominiert eine mittlere Affektlage, zumindest was den Text und die diskursive Entfaltung des Affektsystems in den Texten betrifft. Die Nähe, ja das parasitäre Verhältnis zur Oper, das Neumeister und Hunold für die Kantate konstatierten,24 wird bei den moralischen Kantaten geringer. Dies gilt auch für den Text: Mittlere Affekte spielen nun die Hauptrolle, die großen Leidenschaften sind zu vermeiden. Hans-Jörg Drauschke hat auf eine entsprechende Stelle in Scheibes Critischem Musicus hingewiesen, in der Scheibe in Anlehnung an die alte Dreistillehre eine mittlere Schreibweise skizziert.25 Obwohl Scheibe nicht 22 23 24

25

Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 18), S. 108–113. Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724–1726 in drei Textbänden u. einem Kommentarband. kritisch hg. v. Wolfgang Martens. 4 Bde., Berlin 1969–1984, hier: Bd. 2, S. 417–419. Vgl. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art, Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen […] ans Licht gestellet, Von Menantes. Hamburg 1707, hier zitiert nach der Auflage Hamburg 1728, S. 285: „Eine Cantata siehet aus, wie ein Stück aus einer Opera. Was nun oben vom Recitativ und Arien gemeldet worden, wird hier zu wiederholen seyn.“ Keiser: Weltliche Kantaten (wie Anm. 19), Vorwort, S. XII.

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explizit von Kantaten spricht, scheint er genau jene Charakterkantaten im Auge zu haben, wenn er eine Aufzählung präsentiert, die sich wie die Inhaltsangabe einer zeitgenössischen Charaktersammlung liest: Es wird also ein Andächtiger, ein Freudiger, ein Vergnügter, ein Tugendhafter, ein Liebhaber, ein Geduldiger, ein Pralender, ein Sittsamer, ein Lehrender, ein Kaufmann, ein Künstler, ein Edelmann und dergleichen, am besten in dieser Schreibart [der mittleren Schreibart] ausgedrücket.26

Einige Zeilen später fällt sogar das gattungsstiftende Stichwort, wenn Scheibe zusammenfassend von den „itzt angeführten Charakteren“ spricht.27 Typisch für die Affektdarstellung im Text ist die Propagierung eines gemäßigten Affektgebrauchs. Eben nicht mehr Armida abbandonata oder Agrippina condotta a morire,28 sondern Titel wie „Die Zufriedenheit“, „Die Freundschaft“ oder „Das mäßige Glück“, die das neue Programm schon andeuten.29 Besonders der Liebes­ affekt wird moderiert und auf diese Weise der beginnenden Anakreontik wie auch der Empfindsamkeit kompatibel gemacht.30 Programmatisch wird der neue Affektgebrauch im Kontext der Charakterkantate von Johann Joachim Daniel Zimmermann formuliert, und zwar in der vierten moralischen Kantate der zweiten Serie von Sechs moralischen Cantaten, etwa in Bezug auf die Liebe: Ein wenig liebt man von Natur, jedoch, im Ernst, ein wenig nur. Die Torheit kömmt dazu, und macht das gute Lieben kühn, heftig, schmertz- und sorgen-voll.31

Die Erkenntnis bündelnde Schlussarie hätten auch Gleim oder Uz im Rahmen ihres anakreontischen Programmes nicht besser formulieren können: Seufzer und Geduld und Sehnen, strenge Schönen, sollt ihr nimmer von mir sehn.

26 27 28

29 30

31

Johann Adolph Scheibe: Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1745 [ND der Ausg. Hamburg 1737–40], S. 128. Ebd., S. 129. So die von modernen Rezipienten hinzugefügten Titel zweier Kantaten Händels, die während seines Italienaufenthalts entstanden und in denen jeweils starke Affekte im Zentrum stehen: „Dietro l’orme fugaci“ (Armida abbandonata) Händel-Werke-Verzeichnis (= HWV) 105; „Dunque sarà pur vero“ (Agrippina condotta a morire) HWV 110. Die Titel beziehen sich auf Georg Philipp Telemanns Sammlung VI moralische Cantaten (Hamburg 1736); vgl. Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 18), S. 123–168. Zur Legitimation des Gebrauchs der Sinne in der Anakreontik vgl.: Anakreontische Aufklärung. Hg. v. Manfred Beetz u. Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 2005 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 28), hier besonders die Aufsätze von Karl Richter, Dorothee Kimmich, Karsten Zelle und Ernst Rohmer. Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 18), S. 150.

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Wenn ich ja noch lieben werde, muß es ohne die Beschwerde, nur mit Lust und Scherz geschehen.32

Inwieweit sich der Komponist in seiner Vertonung an die mittlere Stillage des Textes hält, wäre in jedem Einzelfall zu prüfen. Kriterium nach Scheibe ist die Dominanz der Melodie über die Harmonie: „Die Harmonie muß die Melodie nur allein deutlicher und vernehmlicher machen; sie muß aber keineswegs hervorragen“.33 Ein gewisses Konfliktpotential dürfte hier besonders bei den nur generalbassbegleiteten Kantaten entstehen, für die Mattheson, aber auch Scheibe einen höheren Aufwand an Kontrapunkt und elaboriertere harmonische Wendungen als in der Oper fordern. Wenn man etwa die erste Arie aus Telemanns Kantate „Die Falschheit“ betrachtet (Notenbeispiel auf S. 177), dann sind hier die musikalischen Pointen eher harmonischer Art, so etwa, in der Grundtonart g-moll, das cis auf der Silbe „falsch“ gegenüber dem es des Basses, als doppelter Vorhalt, oder in Takt 17 und 18 das Wort „kränkt“, bei dem die Musik anstatt der erwarteten Tonika g-moll nach As-Dur ausweicht.34 Der für die moralische Charakteristik typische Einbau von individuell wirkenden oder porträtähnlichen Versatzstücken in die allgemeine Charaktertypik findet sich gelegentlich auch in den Kantaten, wird hier allerdings durch den performativen Aspekt erreicht. So berichtet Hunold in seinen Theatralische[n]/ Galante[n] Und Geistliche[n] Gedichte[n] von Aufträgen, die er von zwei Damen erhalten haben soll, wobei es galt, jeweils ein Porträt der Damen zu liefern: Hiernächst wurde abermahl von einem Frauenzimmer ersuchet/ eine Cantata auf die Zufriedenheit ihres Gemüths zu verfertigen/ das sich um die gleichsam unverdiente Verfolgungen ihrer Mißgönstigen nichts bekümmerte. Es ist mit der Poesie in gewissen Stücken wie mit der Mahlerey bewandt/ wo man nicht allezeit ein genaues/ sondern ein schön Portrait zu entwerffen sich bemühet.35

Der für die Dame, wohl eine Sängerin, entworfene Text hebt nun allerdings keine individuellen Züge hervor, sondern entwirft den Typus einer ob allen Anfechtungen gleichwohl vergnügten Zufriedenheit:    Aria Ich bleibe wie ich bin/ Das heißt/ ich bin vergnügt/ Weil einen edlen Sinn Ein Unglück nie besiegt. Drum geht ihr Sorgen hin: Ich bleibe wie ich bin/ Das heißt/ ich bin vergnügt.36 32 33 34 35 36

Ebd., S. 151–154. Scheibe: Critischer Musikus (wie Anm. 26), S. 128. Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 18), S. 108. Christian Friedrich Hunold: Theatralische/ Galante Und Geistliche Gedichte/ Von Menantes. Hamburg 1706, S. 29. Ebd.

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Die Falschheit TVWV 20:27

1. Arie Traurig Singstimme

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© 2011 by Bärenreiter-Verlag, Kassel

Notenbeispiel: Georg Philipp Telemann: Die Falschheit (TVWV 20:27). Beginn der ersten Arie, Takt 1–19. Aus: Georg Philipp Telemann: Kammerkantaten. Hg. von Steven Zohn. Kassel u.  a. 2011 (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 44), S. 108.

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Das Spannungsverhältnis zwischen Individualität und typischer Charakteristik tritt genau dann ein, wenn die Auftraggeberin der Kantate diese selbst aufführt, oder wenn die Hörer oder Leser die Person kennen, auf welche die Kantate abzielt. Fehlt dem Rezipienten diese Kenntnis, überwiegt die allgemeine Charakteristik. Ein ähnlicher Effekt entsteht auch in jenen Cembalostücken François Couperins oder Carl Philipp Emanuel Bachs, die bestimmte Personen charakterisieren.37 Doch während die Porträtfunktion vom Rezipienten bei den reinen Instrumentalstücken nur nachvollzogen werden kann, wenn man die porträtierte Person kennt, besitzt die moralische Charakteristik einen erkenntnistheoretischen Mehrwert, da es ihr auf den allgemeinen Typus ankommt, ganz gleich, ob er im individuellen Porträt wiedergefunden wird oder nicht. Typisch für die moralische Charakterkantate ist schließlich, um ein letztes Merkmal zu nennen, der narrative Modus der Präsentation. Wir finden einen Erzähler, der entweder am Beispiel anderer Figuren einen Charakter entwirft oder aber in der Ich-Form sich selbst als Charakter präsentiert. Anders formuliert: CharakterKantaten sind immer Solo-Kantaten, sie sind nicht im dramatischen Modus dialogisiert und entfalten keinen dramatisch stringenten Plot. So trägt etwa Lisgen in Christian Friedrich Henricis Kantate Uber den Coffe38 als manisch Kaffeesüchtige zwar Züge eines moralischen Charakters, den man auch in den zeitgenössischen Moralischen Wochenschriften finden kann, doch die Präsentationsform der Kantate mit verteilten Rollen ist der dramatische, nicht der narrative Modus, obwohl ein Erzähler die Kantate einleitet. Und ein dramatischer Plot, die Auseinandersetzung zwischen Lisgen und ihrem Vater um den Coffee, die in dem Heiratsverbot des Vaters gipfelt, bestimmt die dramatische Struktur. Eine Kaffeekantate im Sinne eines ‚moralischen Charakters‘ liefert hingegen Daniel Stoppe mit einer hinreißenden Kantate, die schon durch ihre medizinisch gewagte Eingangsthese frappiert: „Der Thee ist wahrlich nicht gesund. | Coffe soll mein Leibtruck seyn“.39 Im Folgenden entwirft ein Sprecher-Ich Facetten seiner Kaffee-Sucht, ohne dass ein dramatischer Plot entfaltet würde. Als Beleg sei hier eine rezitativische Passage zitiert, die den coffeesüchtigen Poeten schildert: Er [der Coffe] macht die faule Nacht zum arbeitsamen Tage Gesetzt auch, daß die Uhr schon halber Zwölfe schlage, Gesetzt auch, daß der Schlaf unüberwindlich scheint: Der Coffe ist sein Feind, Der wird ihm schon die Wege weisen; So bald er in den Magen kommt, muß jener aus den Augen reisen. Da sitzt, da spintisirt, da findet der Poete In der bräunlichschwarzen See, die ihn stärkt und munter macht, 37 38 39

Vgl. Hans-Günter Ottenberg: Carl Philipp Emanuel Bach. Leipzig 1982, S. 141. Picander [Christian Friedrich Henrici]: Uber den Coffe. Cantata. In: Ders. (Hg.): Ernst-Schertzhaffte und Satyrische Gedichte. Dritter Theil. Leipzig 1732, S. 564–567. Daniel Stoppe: Cantata. In: Ders. (Hg.): Der Parnaß im Sättler, Oder: Scherz- und Ernsthafte Gedichte. Frankfurt u. Leipzig o.  J. [1735], S. 174–176, hier: S. 174.

Moralische Charaktere in der Kantate

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Auch sogar um Mitternacht Den Wiederschein der Morgenröthe. Dieses nachgemachte Blut Ist so balsamisch abgekocht, von so gesunden Kräften, So daß es auch so gar in den verdrüslichsten Geschäften Die angenehmsten Dienste thut.40

III Der moralischen Kantate mit den moralischen Charakteren als einer möglichen Formvariante war eine kurze, jedoch erfolgreiche Phase vor allem im Rahmen der aufklärerischen Dichtungskonzepte beschieden. Es ist signifikant, dass Johann Christoph Gottsched, der aus seiner Abneigung gegenüber musikalisch-poetischen Formen sonst keinen Hehl machte, im Kantatenkapitel seiner Critischen Dichtkunst doch einigermaßen zurückhaltend argumentiert, wenn man etwa das Opernkapitel kontras­tierend dagegenhält. Vergleicht man die Auflagen der Critischen Dichtkunst41 in Bezug auf das Kantatenkapitel, so findet sich ein bemerkenswerter Unterschied: Die Auflagen von 1730 und 1737 enthalten Kantaten aus Gottscheds eigener Feder, die dem Casualtypus entsprechen, etwa eine Kantate auf den Namenstag Augusts des Starken. In den Auflagen von 1742 und 1751 werden diese Kantaten gegen drei neue Beispiele ausgetauscht, die allesamt aus Neumeisters Allerneueste[r] Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen stammen, nicht eben Gottscheds Lieblingspoetik. Die gewählten Kantaten aber entsprechen von der Anlage her den hier skizzierten ‚moralischen Charakteren‘: Je eine Kantate über die Hoffnung, den Neid, und die Geduld.42 Noch in den 1750er-Jahren scheint Gottsched diese ‚moralischen Charaktere‘ für vorbildlich und im Sinne der Aemulatio für nachahmenswert zu halten. Zu dieser Zeit ist indes die Hochphase der moralischen Charakterkantate bereits vorüber. Warum das so ist, zeigt ein Blick auf Christian Fürchtegott Gellert. Dieser schaltete in seine ab 1744 in Leipzig gehaltenen, überaus populären moralischen Vorlesungen ‚moralische Charaktere‘ zur Illustration des Gesagten ein, die erst posthum 1770 im Druck erschienen sind.43 Betrachtet man diese durchaus in der Tradition Theophrasts stehenden Charakterskizzen, so fällt der erhöhte Grad an Differenziertheit auf. Die Leser Gellerts haben es nun mit gemischten Charakteren zu tun, die nicht durch einen einzigen Charakterzug geprägt werden, sondern durch eine subtile oder komplizierte 40 41 42 43

Ebd., S. 175. Die Unterschiede der einzelnen Fassungen sind in Band VI,3 der Ausgabe von Birke wiedergegeben. Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 84–89. Ebd., Bd. 2, S. 70–74. Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. v. Bernd Witte. Bd. VI; Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen; Moralische Charaktere. Hg. v. Sibylle Späth. Berlin u. New York 1992, hier S. 287–309.

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Mischung, die nicht mehr ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen ist, beispielsweise „Der Mann mit dem einen Laster und mit vielen Tugenden“.44 Der Umfang der Skizzen weitet sich auf mehrere Seiten aus, und so liegt es nahe, dass nicht mehr die eher knapp angelegte Form der Kantate der Ort für ihre Umsetzung ins performative Genre ist, sondern beispielsweise das Theater eines Herrn Lessing.45 Die Geschichte der musikalischen Charakterisierungskunst ist damit allerdings noch nicht zu Ende. Die Charakterdarstellung wandert in die reine Instrumentalmusik. Vor der Durchsetzung des Konzeptes der absoluten Musik und auch noch lange nachher konnte, wie Arne Stollberg46 jüngst in einer umfassenden Studie gezeigt hat, die Symphonie als (Charakter-)Drama verstanden werden, bei dem der Held rein musikalisch charakterisiert wird. Die geforderte Komplexität des Charakters wird ins Medium der reinen Instrumentalmusik verlagert und vermag hier sogar die sprachliche Charakterskizze an Komplexität zu überbieten. Doch damit haben wir das weite Feld der Kantatenproduktion endgültig verlassen.

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46

Ebd., S. 291. Bekanntlich tendierte Lessing schon in seinen frühen Lustspielen dazu, das überkommene Schema der sächsischen Typenkomödie unter anderem durch die Verwendung komplexerer Charaktere zu erweitern. Zum Forschungsstand vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. 3. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2010, S. 68–94. Arne Stollberg: Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. München 2014, hier besonders S. 54  f.

Stefanie Stockhorst

Normative Aspekte der Kantate in der deutschsprachigen Dichtungstheorie vom Spätbarock bis zur Spätaufklärung 1 Einleitung Als im Jahr 1733 der Zedler-Artikel zur Kantate erschien, war die historisch vergleichsweise junge Gattung in Deutschland nicht nur seit einigen Jahrzehnten erfolgreich rezipiert und praktiziert worden, sondern hatte sogar schon eigenständige Entwicklungen durchlaufen. Dennoch findet sich im Zedler nur eine sehr knappe Bestimmung der Gattung als mehrgliedriges Musikstück für Solostimme und Begleitung, dessen Verbreitungsgeschichte jenseits der aus Italien stammenden Gattungsmodelle nur beiläufig erwähnt wird. Über seine charakteristische Affektwirkung erfährt man gar nichts. So handele es sich bei einer ‚Cantata‘ um ein langes Music-Stück, dessen Text Jtaliänisch, und aus Arien mit untermischten Recitativ [!] bestehet; Die Composition aber bestehet aus verschiedenen Tact-Arten, und gemeiniglich a Voce sola nebst einem Continuo, zuweilen ist sie auch mit mehreren Jnstrumenten versehen. Vor weniger Zeit haben auch die Frantzosen Cantates zu setzen begonnen, und die Teutschen haben solches gleichfalls nachgemachet.1

Immerhin verweist der Artikel namentlich auf Johann Mattheson (1681–1764) als deutschen Vertreter, jedoch verstärken die kurzen Folgelemmata, die eine Handvoll weitere Bedeutungen auffächern, den Eindruck, dass zumindest im enzyklopädischen Begriffsverständnis erhebliche Unsicherheiten über den gattungssystematischen Platz der Kantate bestanden. „Cantata“, liest man dort, „wenn es als ein Lateinisches Wort genommen wird, bedeutet cantum ecclesiasticum“, eine nicht näher bestimmte Form, die bereits „vor mehr als 400 Jahren bekannt gewesen“ sei, und in drei weiteren Lemmata werden verschiedene Kantaten nach ihren Gegenständen gebündelt als „Cantate amorose“, „Cantate morali“ und „Cantate spirituali“,2 ohne jedoch diese Subgattungen italienischer Provenienz zu kontextualisieren. Allerdings macht es die Vielgestaltigkeit der Gattung auch noch bis heute schwer, die Merkmale ihrer diskursiven und faktischen Existenz auf einen Nenner zu bringen. Sie begegnet in geistlichen und in weltlichen Kontexten, im höfischen wie im bürgerlichen Milieu, in kammermusikalischen oder auch orchestralen Aufführungssituationen, mit okkasionalem Bezugsrahmen und ohne. Ihre musikalischen Verwandtschafts1

2

[Autor des Artikels:] Cantate. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges UniversalLexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Fünffter Band: C–Ch. Halle u. Leipzig 1733, Sp. 584. Ebd.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-010

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beziehungen reichen von der Oper bis zum Kirchenlied und literarisch konvergieren in ihr neuzeitlich geprägte literarische Gattungstraditionen mit solchen, die bis in die Antike zurückreichen, darunter etwa Ode und Hymne sowie Ekloge und Idylle. Daher erscheinen spezifische Ausschnittbildungen sinnvoll, um ein ebenso überschaubares wie aussagekräftiges Problemfeld abzustecken. Untersucht werden im Folgenden nicht Kantaten selbst, sondern gelehrte Äußerungen über Kantaten, darunter Poetiken, Rezensionen und ästhetiktheoretische Stellungnahmen aus dem deutschsprachigen Kulturraum. Da etliche Musiktheoretiker nicht nur kompositorische, sondern auch poetologische Überlegungen zur Kantate anstellten, erscheint die von Irmgard Scheitler in einer Untersuchung zur Werkpoetik der Kantate vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚literarischer‘ und ‚musikalischer‘ Poetik3 hier heuristisch nützlich, obgleich ‚literarische Poetik‘ begrifflich streng genommen tautologisch ist (lat. poetica, die Dichtkunst). Denn der Blick soll sich auf die textuelle, nicht auf die musikalische Seite der Gattung richten. Zwar erzielen Text und Musik durch den „poetisch-musikalischen Doppelcharakter der Kantate“4 eine gemeinsame Wirkung, jedoch erscheint diese Perspektivierung insofern legitim, als Poesie und Komposition im 18. Jahrhundert nicht nur in weitgehend separate, häufig eher als konkurrierend denn als kooperierend wahrgenommene künstlerische Zuständigkeiten fielen. Außerdem gingen Kantatenlibretti – unabhängig davon, ob es sich um Bearbeitungen von Bibel- oder Kirchenliedmaterial oder um Neuschöpfungen handelte – als eigene „Dichtungsform, die durch musikkonforme Madrigalverse […] den Wechsel von Rezitativ, Arioso und Arie ermöglichte“,5 meistens der Vertonung voraus. Und nicht zuletzt gibt es nach wie vor erheblich weniger literaturwissenschaftliche Studien zur Kantate als musikwissenschaftliche,6 so dass sich

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Vgl. Irmgard Scheitler: Die Kantate als literarische Form und die geistlichen Kantatentexte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wolfgang Hirschmann u. Peter Wollny (Hg.): Wilhelm Friedemann Bach und die protestantische Kirchenkantate nach 1750. Beeskow 2012 (Forum Mitteldeutsche Barockmusik 1), S. 33–51, hier: S. 33. Klaus Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. Über die Entstehung der höfischen Kantatentexte und ihre Entwicklung zum galanten ‚Singgedicht‘. In: Dorette Frost u. Gerhard Knoll (Hg.): Gelegenheitsdichtung. Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur Wolfenbüttel, 28. bis 31. August 1976. Bremen 1977, S. 69–109, hier: S. 69. Klaus Conermann: Kantate. In: Reallexikon der deutsche Literaturwissenschaft. Neubearb. des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Harald Fricke u.  a. Bd. II: H–O. Berlin 2000, S. 227–230, hier: S. 227. Vgl. für die Literaturwissenschaft insbesondere Scheitler: Die Kantate als literarische Form (wie Anm. 3); Joachim Birke: Die Poetik der deutschen Kantate zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Heinz Becker u. Reinhard Gerlach (Hg.): Speculum Musicae Artis. Festgabe für Heinrich Husmann […]. München 1970, S. 47–62; sowie Paul Brausch: Die Kantate. Bd. 1: Geschichte der Kantate von den Anfängen bis Gottsched. Diss. (masch.) Heidelberg 1921 [mehr nicht erschienen]. – Weiterführende Hinweise bei Conermann: Kantate (wie Anm. 5), S. 229  f.; sowie zur Musikwissenschaft Reinmar Emans u.  a.: Kantate. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher. Sachteil 4. Kassel u.  a. 1996, Sp. 1705–1773, hier: Sp. 1762–1773.

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das Erkenntnisinteresse auch durch bestehenden Forschungsbedarf begründen lässt. Die exemplarisch ausgewählten Quellen zum Kantatendiskurs des 18. Jahrhunderts geben Aufschluss über den ästhetikgeschichtlichen Funktionswandel der Kantate in einer Zeit, in der sie zum einen besonders beliebt war und in der zum anderen die Ablösung einer regelgeleiteten Literaturauffassung durch Geschmacksdiskurse und daraus abgeleitete, durchaus normative Beschreibungsmuster stattfand.

2 Präskriptive Poetik – technische Grundlagen zwischen Rationalitätsund Affektkultur Für den Kantatendiskurs in der deutschsprachigen Poetik nehmen Erdmann Neumeister (1671–1756) und Christian Friedrich Hunold (1680–1721) sowie Johann Christoph Gottsched (1700–1766) insofern eine herausragende Stellung ein, als sie sich erstmals bzw. letztmals im Rahmen eines wirkmächtigen poetologischen Regelwerkes eingehend mit der Gattung befassen.7 In der von Hunold unter seinem Pseudonym ‚Menantes‘ herausgegebenen und mit einer langen Vorrede versehenen Poetik Neumeisters, der Allerneuesten Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen (1707), spielt dieses Moment indes noch keine Rolle, geht es hier doch vielmehr um die Bereitstellung handwerklich-technischer Unterweisungen, aus denen angehende Dichter und Neulinge auf dem Gebiet der Kantate die nötigen Voraussetzungen ersehen konnten, um an der Schwelle von Spätbarock und Frühaufklärung kunstgerecht die poetologiegeschichtlich an Bedeutung gewinnende „logische Strenge“ mit der gattungskonstituierenden „Freiheit in der Form zu versöhnen“.8 Weil die Kantate im ausdrücklichen Gegensatz zur Ode, die sich zeitgenössisch im Text und in der Vertonung nach dem Muster der ersten Strophe richten musste, sowohl in der Hebungs- und Verszahl als auch in der Reimstellung offen war, schätzte Neumeister diese Gattung außerordentlich.9 Ihren Aufbau beschreibt er im Wesentlichen als ein- oder mehrstimmige, alternierende Folge von Rezitativen und Arien: Also werden nun kürtzlich die Cantate auf diese Art gemacht/ daß man Stylum recitativum und Arien miteinander abwechselt. Mit einem Worte: Eine Cantata siehet aus/ wie ein Stück ans [!] einer Opera. Was nun oben von Recitativ und Arien gemeldet worden/ wird hier zu wiederholen seyn. […] Eine Cantata ist gemeiniglich ein Solo, doch kan sie auch a doi und mehr Stimmen ins Geschicke richten/ oder sie in Forme [!] eines Dialogi drücken.10

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Weitere Schlüsseltexte zur Kantatentheorie im 18. Jahrhundert nennt Scheitler: Die Kantate als literarische Form (wie Anm. 3), S. 33, Anm. 5. Birke: Die Poetik der deutschen Kantate (wie Anm. 6), S. 62. Vgl. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold:] Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemühtern/ Zum Vollkommenen Unterricht/ Mit überaus deutlichen Regeln/ und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet von Menantes. Hamburg 1707, S. 284. Ebd., S. 284  f.

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Nicht bloß aus Stilgründen, sondern auch um der besseren Sangbarkeit willen, rät Neumeister zur Kürze, „weil die Componisten ohnedem ein Wort so lang zu dehnen wissen/ daß mans in einem Othem nicht aussprechen oder aussingen kann“.11 Den für das Gattungsverständnis der Folgezeit richtungweisenden Aspekt der kalkulierten Affektwirkung hatte Hunold bereits kurz zuvor in seinen Theatralischen Gedichten (1706) stark gemacht: Und in jedweder Aria soll/ wo nicht was scharffsinniges/ doch was artiges oder recht Affectuöses stecken. Denn wie soll ein Componist seine sonst schönen Einfälle in der Music anbringen/ wenn er keine gute Worte hat/ zu schlechten und miserablen Zeuge wird sich eine hübsche Music übel schicken/ weil man eben die Music schön nennet/ die Naturel, das ist/ die jedes Wort/ oder jede Redens-Art/ nach der Emphasin ausdrucket.12

Neumeisters Handreichungen zur Herstellung von Rezitativen betreffen nicht nur Kantaten, sondern auch Opern, Oratorien und andere musikalische „Scenicis“,13 was Neumeister veranlasste, diesen Einzelgattungen ein gesondertes Kapitel Vom Stylo Recitativo vorauszuschicken. Um diesen gesprochenen Partien eine gattungsgemäße Anmut zu verleihen, distanziert er sich von der als schwerfällig empfundenen Ästhetik des barocken Sprechdramas.14 Im Gegensatz dazu solle der Text des Rezitativs offensichtlich im Sinne der perspicuitas15 syntaktisch und stilistisch klar aufgebaut, der „Sensus nicht bis in die dritte/ vierdte/ etc. Zeile/ oder zwischen viel Commata, verworffen“ und „keine Hochtrabenden/ sondern angenehme/ sinnreiche und übliche Redens-Arten gebrauchet werden“.16 Als einzigen Kunstgriff gestattet er bei aller Schlichtheit eine rahmenförmige Wiederholung einzelner Verse, dergestalt, dass man „bisweilen einen Vers oder zwey/ nach etlichen andern Versen/ wo der vollkommene Sensus und die gantze Passage aus ist/ repetiren kan/ wie das Capo in Arien“.17 In den Arien hält er die Da-capo-Struktur für besonders wünschenswert, könne man doch darin nach italienischem Vorbild gut „den erstern/ oder den ersten und andern/ oder auch den ersten andern und dritten Vers […] am Ende wiederholen“.18

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Ebd., S. 285. Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Theatralische/ Galante und Geistliche Gedichte. Hamburg 1706, S. 14. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 9), S. 216. – Darunter fallen „Cantata, Oratoria, Serenata, Pastorale und Opera“ (ebd., S. 217). Vgl. ebd., S. 73. Vgl. zur rhetorischen Ausrichtung Neumeisters Dieter Merzbacher: „Ob ein Poete wohl Superintendens seyn könne?“ Erdmann Neumeisters Kantatendichtungen im Spiegel seiner Poetik. In: Henrike Rucker (Hg.): Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Rudolstadt u. Jena 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 75–95, besonders S. 85–88. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 9), S. 74. Ebd. Ebd., S. 220.

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Die Arien selbst, deren Regulierung ebenfalls alle „Scenicis“ gleichermaßen betrifft,19 umfassen nach Neumeister üblicherweise eine, höchstens jedoch drei Strophen, wobei darauf zu achten sei, dass man „wo möglich/ von einerley Vocalen brauche/ wie in der ersten Strophe gewesen sind“.20 Metrum und Versmaß könnten grundsätzlich beliebig gewählt werden,21 sofern ausreichender Abwechslungsreichtum für eine vielseitige Vertonung entstehe: „Man nehme bey den Musicalischen Arien, so wohl hier [sc. im Oratorium]/ als in den Cantaten und durchgehends/ nur dieses in acht, daß sie nicht einerley Genus haben/ damit so wohl der Poet/ als der Componist, seine Variationes könne an den Tag legen.“22 Eine wirkungsästhetische Begründung für die Bevorzugung bestimmter Metren lieferte kurz zuvor bereits Hunold in seinen Theatralischen Gedichten: Wie aber keine Regel ohne Ausnahme/ so gebe auch zu, daß zwey Genera dann und wann wol passen, wenn sie zweyerley besondere Affectus imprimiren. Das Trochaeische und Jambische schicken sich zu traurigen und gleichgültigen Gemüths-Bewegungen/ (die Lustigen nicht ausgeschlossen) das Dactylische aber hauptsächlich zu recht freudigen oder auch rasenden.23

Inhaltlich solle diese Wiederholungsfigur stets eine Sinneinheit bilden, deren Darbietung Neumeister vor allem dann für gelungen erachtet, „wenn das Capo Anfangs einen unvollkommenen Sensum hat/ man solchen am Ende kan complet machen“.24 Anders als Neumeister rechnet Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst (1730/51) Kantaten nicht zur Musikdramatik, sondern begreift sie als „Lieder“, die „an statt der Oden eingeführet worden“25 seien. Gleichwohl könne man, quasi wie in einem Rollengedicht, „mehr als eine Person darinn redend aufführen“,26 sofern eine vernunftgemäße Entsprechung von Personen- und Stimmenzahl in der Vertonung eingehalten werden, d.  h. man solle „zu Duetten, das ist zu Cantaten von zwey Personen, die sich mit einander besprechen, zwey Stimmen; zu dreyen, welches denn ein Trio heißt, drey u.s.w. wehlen, und also die Wahrscheinlichkeit beachten“.27 Hinsichtlich der grundlegenden Regeln für die Kantatendichtung stützt sich Gottsched ausdrücklich auf die Poetik Neumeisters, dem er zwar in der Sache folgt, jedoch die Gattung und zumal ihr musikalisches Prinzip völlig anders bewertet, wenn er meint: „Alle [sc. Regeln] laufen dahinaus, daß der Poet ein Sclave des Componis19 20 21 22 23 24 25 26 27

Vgl. zu Neumeisters Abgrenzung von Arie und Ode Birke: Die Poetik der deutschen Kantate (wie Anm. 6), S. 52  f. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 9), S. 217. Vgl. ebd., S. 219. Ebd., S. 275. [Hunold:] Theatralische/ Galante und Geistliche Gedichte (wie Anm. 12), S. 11  f. [Neumeister/Hunold:] Die Allerneueste Art (wie Anm. 9), S. 221; vgl. zur Konstruktion im Einzelnen und zur Stellung zum Rezitativ S. 221–229. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen […]. Leipzig 1730, S. 358. Ebd., S. 361. Ebd., S. 360.

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ten seyn, und nicht dencken oder sagen müsse wie oder was er wolle; sondern so daß der Musicus seine Triller und Einfälle recht könne hören lassen.“28 Deshalb referiert er das, was er für die drei Grundregeln der Kantate erachtet, in recht abfälligem Duktus. So müsse man erstens „die ersten Zeilen der Arien mit solchen Wörtern anfüllen […], dabey sich der Componist eine halbe Stunde aufhalten könne, wenn er irgend das Lachen, Weinen, Jauchzen, Aechzen, Klagen, Heulen, Zittern, Fliehen, Eilen, Rasen, Poltern oder sonst ein Wort von dergleichen Art auszudrücken sucht“.29 Zweitens bestätigt er das Ideal der Da-capo-Arie, indem er festhält, „daß man die ersten Zeilen einer Arie, so viel möglich ist, so einrichten müsse, daß sie am Ende derselben wiederholet werden könne [!], und also eine Art von Ringelreimen daraus entstehe“.30 Offenbar ist ihm noch immer die bereits bei Neumeister zurückgewiesene Alexandrinerästhetik des Barock gegenwärtig, wenn er drittens vorschreibt, dass „die Recitative, theils aus kurtzen Zeilen bestehen, theils an sich selbst sehr kurtz seyn sollen; damit man von dem schläfrigen Wesen derselben nicht gar zu sehr verdrüßlich gemacht werde“.31 Auf die Affektwirkung der Kantate richtet Gottsched ein besonderes Augenmerk, weil die Gattung in erster Linie „einen gewissen Affect ausdrücken, oder voll erhabener und feuriger Gedancken, prächtiger oder zärtlicher Ausdrückungen“32 sein solle. Gerade in den erweiterten Möglichkeiten, Affekte wiederzugeben, sieht er die Ursache für den Erfolg der Kantate im Verhältnis zur Ode. Ein fest gefügtes Formschema wie das der Ode, so erklärt er, führe dazu, dass bei einer Änderung des Affekts im Text die notwendig gleichbleibende Musik nicht mehr passe: „Denn wie klingt es, wenn ein lustiger Text nach einer traurigen Melodie gesungen wird?“33 Durch ihre metrischen Freiheiten gestatte es demgegenüber die Kantate, Stimmungswechsel durch Formwechsel im Text zu markieren und damit musikalisch abbildbar zu machen. Wenn man „Zeilen von ungleicher Länge, auf eine ungebundene Art durch einander laufen“ lasse und die „Music durchgehends nach dem Jnhalte des Gedichtes“ einrichte, so könne man „jede Zeile eines solchen Gesanges dem darinn herrschenden Affecte gemäß, ausdrücken, jedem Worte nach seinem rechten Sinne den gehörigen Thon und Nachdruck geben“.34 So einleuchtend diese Argumentation erscheint, so wenig entsprach sie Gottscheds eigenem Geschmack. In der überarbeiteten und erweiterten 4. Auflage seiner Critischen Dichtkunst von 1751 deutet er die Variation der Affekte, welche die Kantate ermöglichte, nicht als Bereicherung der Dichtkunst, sondern als handwerkliches Defizit: „Nun hätten die Poeten diesem Fehler zwar abhelfen können, wenn sie in einem Liede nur einen Affect vom Anfange 28 29 30 31 32 33 34

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1730] (wie Anm. 25), S. 361. Ebd., S. 358. Ebd.

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bis zum Ende hätten herrschen lassen, wie es auch billig seyn sollte.“35 Nicht nur der Wechsel der ausgedrückten Leidenschaften, sondern auch die Reduktion der Kantate auf vordergründige Wort- und Stimmungseffekte, die er insbesondere bei den Italienern feststellt, bei denen man „ein ewiges ha, ha, ha, ho, ho, ho, hertrillern“36 höre, verabscheut er rundheraus, werde doch in solchen Kantaten das rationale Vergnügen durch das sinnliche überlagert: „Bekam das Ohr dabey viel zu hören, so hatte der Verstand desto weniger dabey zu gedencken.“37 Bereits in der Erstausgabe seiner Poetik hatte Gottsched eigene Forderungen an den Dichter vorgetragen, weil er manche Eigenheiten der Kantate als Gattung missbilligte und „nach Anleitung der Natur und Vernunft“38 zu beseitigen suchte, darunter vor allem die musikalische Überdehnung von Sinn, Wörtern und Affekten, die allzu häufige Wiederholung mancher Verse sowie die Eintönigkeit überlanger und musikalisch vernachlässigter Rezitative.39 Außerdem war er der Ansicht, dass nicht die Musik, sondern die Poesie in der Kantatendichtung dominieren solle, was er 1751 mit der Forderung radikalisierte, dass „er [sc. der Komponist] nicht, durch eine verschwendete musikalische Kunst, das Werk der Poesie unsichtbar mache“.40 Während Neumeister die italienische Kantatentradition zumindest als orientierungsgebendes Modell heranzog, führt Gottsched diese exempla nur zur Abschreckung ins Feld. Schon 1730 beanstandet er eine maßlose Übertreibung der Affekte: „Sind sie etwa verliebt, so wird der Sänger gewiß vor Liebe sterben wollen, und der Componist, wird das liebe morir dreyßig, vierzig Tacte durch, so zermartern und zerstümmeln, daß einem übel davon werden möchte.“41 Dem hält Gottsched strenge Plausibilitätskriterien entgegen: „Nun aber würde wohl kein Mensch, der mir einen Vers vorläse, gesetzt, daß der gröste Affect darin steckte, denselben mehr als zwey, höchstens dreymahl wiederholen.“42 Diese Beschränkung nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit gelte für Text und Musik gleichermaßen: „Man wiederhole aber nur im Singen kein Wort, welches nicht der Poet auch im Texte ohne Ubelstand hätte wiederholen können.“43 Den gängigen Formkonventionen folgt Gottsched, wenn er empfiehlt, Kantaten mit Arien beginnen und enden zu lassen, die im Wechsel mit Rezitativpartien stehen, so dass ein solches Stück also mindestens zwei, meistens jedoch drei und höchstens fünf Arien umfasse. Zu den Versmaßen in den Arien schreibt er 1730 noch im Sinne 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darmstadt 1962 [ND der 4., vermehrten Aufl. von 1751], S. 717. Ebd., S. 725. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1730] (wie Anm. 25), S. 359. Ebd., S. 361. Vgl. ebd.; s. auch Eugen Schmitz: Geschichte der weltlichen Solokantate. 2. Aufl. Leipzig 1955 [ND der Ausg. Leipzig 1914], S. 263. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1751] (wie Anm. 35), S. 722. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1730] (wie Anm. 25), S. 362. Ebd., S. 363. Ebd., S. 362  f.

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von Neumeister, sie „können jambisch, trochäisch und dactylisch, ja auch vermischt seyn“, was er 1751 zugunsten größerer metrischer Einheitlichkeit revidiert. Faktisch untersagt er damit die gattungstypischen, musikalisch ergiebigen Madrigalverse: „Nur merke der Poet, daß er bey der Versart, womit er eine Arie anfängt, bis ans Ende bleibe; auch nicht kurze oder lange Zeilen durch einander menge, wenn er dem Componisten gefallen will.“44 An die Stelle des früheren Bedauerns über einen Mangel an mustergültigen deutschen Komponisten tritt in Gottscheds erweiterter Fassung seiner Poetik mit Conrad Friedrich Hurlebusch (1691–1765), Georg Friedrich Händel (1685–1759), Carl Heinrich Graun (1703/04–1759), Johann Adolph Hasse (1699–1783) und Johann Friedrich Gräfe (1711–1787)45 immerhin ein kleiner Kreis von Komponisten, der seinen Ansprüchen an eine rational eingehegte Affektkultur in der genuin affektbetonten Kantate genügt.

3  Literaturkritik – Ramler und die Grenzen musikalischer Poesie Zu den prominentesten Kantatendichtungen des 18. Jahrhunderts gehört Karl Wilhelm Ramlers (1725–1798) Libretto Der Tod Jesu, das 1755 mutmaßlich in Absprache der Komponisten fast zeitgleich in den Vertonungen durch Georg Philipp Telemann (1681–1767) in Hamburg bzw. durch den von Gottsched lobend hervorgehobenen Graun in Berlin uraufgeführt wurde.46 Weitere, weniger verbreitete Musikfassungen legten unter anderem Christian Gottfried Krause (1719–1770) im Jahr 1758 und Johann Christoph Friedrich Bach (1732–1795) im Jahr 1760 vor.47 Ein anonymer Rezensent mit dem Namenskürzel V.  A., der Kantaten noch immer als „Gedichte in einer Art, wovon wir noch wenig aufzuweisen haben“,48 einführt, streicht 1761 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste begeistert die besondere Affektwirkung von Ramlers empfindsamer Passionskantate heraus:

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1751] (wie Anm. 35), S. 727. Vgl. ebd., S. 723  f. Vgl. Peter Czornyi: ‚Der Tod Jesu‘ (1755) – Ein Gelegenheitswerk mit Zukunft. Versuch einer Darstellung der Entstehung und frühen Aufführungstradition der Passionsvertonung Telemanns in Beziehung zur gleichnamigen Vertonung Carl Heinrich Grauns. In: Wolf Hobohm u.  a. (Hg.): Telemanns Auftrags- und Gelegenheitswerke – Funktion, Wert und Bedeutung. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 10. Magdeburger Telemann-Festtage, Magdeburg, 14. bis 16. März 1990. Oschersleben 1997, S. 152–158, besonders S. 155. Vgl. Laurenz Lütteken: Zwischen Berlin und Hamburg. Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts. In: Ders., Ute Pott u. Carsten Zelle (Hg.): Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2003 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 2), S. 175–194; sowie ausführlich Herbert Lölkes: Ramlers ‚Tod Jesu‘ in den Vertonungen von Graun und Telemann. Kontext – Werkgestalt – Rezeption. Kassel 1999; Ingeborg König: Studien zum Libretto des ‚Tod Jesu‘ von Karl Wilhelm Ramler und Karl Heinrich Graun. München 1972 (Schriften zur Musik 21). V.  A.: Berlin. Karl Wilhelm Ramlers geistliche Cantaten. bey [!] Ch. Fr. Voß. 1760. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 7 (1761). 1. Stück, S. 194–198, hier: S. 194.

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Wir haben die unempfindlichsten Seelen, bey dem Tode Jesu von der Composition des seel. Graun, in Wehmuth zerschmelzen, und alle die Leidenschaften fühlen gesehen, die der Dichter und der Musikus erregen wollen, und man kann sich hier überzeugen, daß die deutsche Sprache so gut für die Musik als die italienische gemacht ist, so bald ein deutscher Metastasio mit seinem deutschen Pergolesi zusammen kömmt.49

Da es im Rezensionswesen naturgemäß nicht um Herstellungsanleitungen, sondern um die Beurteilung vorliegender Werke geht, stellt der Anonymus zwar keine Regeln auf, lässt aber neben der gefühlsbetonten Expressivität auch Inhalt und Stil als Wertungskriterien erkennen: „Sie [sc. Ramlers Geistliche Kantaten] sind voll großer erhabener Gedanken bey dem simpelsten, edelsten und feyerlichsten Ausdruck, voller Bilder, die alles übertreffen, was man in den schönsten theatralischen Gedichten finden kann.“50 Aufgrund ihrer enormen Fähigkeit, selbst kalte Gemüter zu berühren, sollten gute Kantatenbeispiele wie die Ramler’schen vermehrt in den Dienst der Kirchenmusik gestellt werden: „[W]ie viel würde nicht selbst die Andacht und die Religion gewinnen, wenn unsere meisten Kirchenstücken [!] auch nur in der Entfernung einer ramlerischen Arbeit ähnlich wären!“51 Der anonyme Rezensent übergeht die Tatsache, dass Ramler seine hoch gelobte Kantate für den besprochenen Erstdruck als selbstständige Dichtung ohne Noten im Jahr 1760 revidiert hatte, was hingegen der ‚Literaturpapst‘ Friedrich Nicolai nicht nur bemerkte, sondern auch vehement beanstandete. Im 142. der Briefe, die Neueste Litteratur betreffend aus dem Jahr 1761 nennt er seinen Freund Ramler als rühmliche Ausnahmeerscheinung in der ansonsten für weitgehend deplorabel befundenen Gegenwartsliteratur, nicht zuletzt unter Hinweis auf die Kantate Der Tod Jesu in der Graun’schen Vertonung: Das zweyte Stück besonders, nachdem es nach der Composition des verewigten Grauns zuerst vor sechs Jahren, in der Domkirche mit einer ungewöhnlichen starken und vortreflichen Begleitung von Jnstrumenten aufgeführt worden, hat seitdem jährlich alle Einwohner dieser Hauptstadt erbauet und entzücket, die nicht zu allen Empfindungen musikalischer und poetischer Schönheiten verwahrloset sind.52

Nicolai stört sich an Ramlers Versuch, sein Werk „noch vollkommener zu machen als es war, so, daß es jetzt an vielen Stellen gänzlich verändert worden“.53 Mit den Vertonungen durch herausragende Komponisten wie Graun und Telemann habe „dieses Gedicht“ seiner Ansicht nach „ja wohl den Zweck seiner Bestimmung vollkommen

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Ebd., S. 195. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Friedrich Nicolai: Hundert und zwey und vierzigster Brief. Beurtheilung der geistlichen Cantaten des Herrn Ramler, insbesondere der Veränderungen in der Cantate der Tod Jesu. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. IXter Theil (1761), S. 3–20, hier: S. 7  f. Ebd., S. 8.

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erreichet“.54 In der überarbeiteten Version sei jedoch „nunmehr weder die Musik zum Gedichte, noch das Gedicht zur Musik zu gebrauchen“.55 Indes beobachtete Klaus Conermann schon für die 1670er-Jahre zwei Tendenzen, die es fragwürdig erscheinen lassen, die Qualität einer Kantatendichtung nur oder vorrangig an ihrer Verwendbarkeit zur Musik messen zu wollen. Zum einen ließen Autoren wie etwa David Schirmer, Constantin Christian Dedekind, Christian Weise oder Christian Gryphius ihre Kantatendichtungen nicht nur zum okkasionalen Gebrauch musikalisch aufführen, sondern gaben einige davon auch nachträglich in den Druck, um sie wegen ihrer poetologischen „Mustergültigkeit“ zu dokumentieren. Zum anderen macht Conermann eine „Unterscheidung zwischen der zur privaten Andacht bestimmten Lesekantate und dem Kantatentext für eine Kirchenmusik“ plausibel.56 Bei Ramler, immerhin rund 90 Jahre später, dürfte zwar das Moment der privaten Andacht erheblich durch das säkulare Vergnügen der aisthesis überlagert worden sein, jedoch bleibt festzuhalten, dass der Rezeptionsweg über die Lektüre ohne Musik in der deutschen Gattungsgeschichte nicht nur vereinzelt belegt ist. Im Falle von Ramlers Tod Jesu erscheint Nicolais Einwand jedoch berechtigt, sprechen doch sowohl die Vertonungsgeschichte als auch die Veröffentlichungsweise mit zwei weiteren Kantaten als Sammeldruck57 ohne Noten dafür, dass die Libretti von Ramler als beispielhafte Gattungsmodelle und gezielte Ermutigung zu wiederholten Vertonungen in Umlauf gebracht wurden.58 Neben dem Musikalitätsverlust hat allerdings Nicolai in Ramlers Druckfassung nicht nur „an vielen Stellen die weggelassene Verse bedauret“,59 sondern auch manche Änderungen in der Anordnung. Um die seiner Ansicht nach daraus resultierenden Wirkungseinbußen zu veranschaulichen, zitiert er zahlreiche Textstellen im Vergleich von alter und neuer Fassung. Mit einer Suggestivfrage fordert er beispielsweise sein Publikum auf, an sich selbst eine geringere Gemütsbewegung bei der Lektüre des folgenden Passus festzustellen:   Gethsemane! – Gethsemane! Wen hören deine Mauren So bange, so verlassen trauren? Wer ist der peinlich langsam sterbende? – Empfinden Sie noch eben die Rührung, wenn Sie folgende veränderte Zeilen lesen?   Jhr Palmen in Gethsemane

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Ebd. Ebd., S. 9. Vgl. Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 4), S. 81–86, das Zitat S. 86. Der Tod Jesu wird in der Buchausgabe gerahmt von den Kantaten Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem und Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu und bildet somit das „zweyte Stück“; vgl. Karl Wilhelm Ramler: Geistliche Kantaten. Hg. v. Wolf Hobohm u. Ralph-Jürgen Reipsch. Magdeburg 1992 [ND der Erstausg. Berlin 1760]. Vgl. Lütteken: Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 47), S. 186. Nicolai: Hundert und zwey und vierzigster Brief (wie Anm. 52), S. 9.

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Wen hört ihr so verlassen trauren Wer ist der ängstlich sterbende?60

Des Weiteren entdeckt er in manchen neuen Formulierungen eine unfreiwillige Komik, die dadurch entsteht, dass beim musikalischen Vortrag in der Rezeptions­ situation über das Gehör die sinnstrukturierende Interpunktion im Einzelfall untergehen kann. Diesen Effekt hat Ramler für seine Druckfassung entweder versehentlich nicht mitbedacht oder aber er wurde wie der Notentext gezielt ausgeblendet, um womöglich die Literarizität der Kantate zu betonen: Jn den beyden Versen   Hör am Grabe, den der schwächer,   Trost begehrt. ist die Construction etwas verworfen und undeutlich. Dies sollte in Versen, die zum Singen gemacht sind, am wenigsten Stat finden. […] Der Componist kann wegen des Verstandes, die Wörter schwächer und Trost schwerlich durch eine ausdrückliche Pause von einander trennen; wann sie nun der Sänger nacheinander aussprechen soll, und sich nicht besonders wohl in acht nimmt, daß er das Comma in der Aussprache deutlich unterscheidet, so wird der Zuhörer glauben er höre:   Der schwächern Trost begehrt.61

Während Nicolai anscheinend den Gebrauch eines Wortes wie ‚Gottmensch‘ durch die Vorstellung der Inkarnation Gottes in Christus im Sinne der neologisch geprägten Aufklärungstheologie billigt,62 so bezweifelt er zu Recht die Sangbarkeit dieser Doppelhebung, zumal die anschließende einsilbige Verbform prosodisch noch eine dritte Hebung bildet: Das Wort Gottmensch wird zwar einem eifrigen Theologen gefallen, ich habe auch an sich selbst nichts daran auszusetzen; aber mich dünkt es ist wegen der vielen Mitlauter in einem musikalischen Gedichte nicht wohl zu leiden. Nehmen Sie dazu, daß auf dieses Wort, das sich mit viertehalb Mitlautern endigt, ein einsilbiges Wort folgt, das noch dazu auch mit einem Mittlauter [!] anfängt, und zwey andere bey sich führt. Jedermann wird leicht emfinden [!] daß Gottmensch nimm nicht wohl klinget.63

Allerdings räumt er ein, wie schwierig es sei, den Evangelientext überhaupt in eine kantatentaugliche Form zu bringen. Deshalb könne er Ramler, der sich seinerseits oft als ‚Verbesserer‘ gerierte, letztlich keine Belehrungen erteilen: „Jch ziehe mich zurück, warum unternehme ich auch Verbesserungen, da, wo sie selbst einem Ramler nicht recht gelingen wollen.“64 Zudem erachtet er die Geistlichen Kantaten allen Beanstandungen zum Trotz insgesamt nach wie vor für ein Musterbeispiel der poetischen Imagination: 60 61 62 63 64

Ebd., S. 10. Ebd., S. 13  f. Vgl. zum Stellenwert der Neologie in der Kantate Lölkes: Ramlers ‚Der Tod Jesu‘ (wie Anm. 47), S. 51–53. Nicolai: Hundert und zwey und vierzigster Brief (wie Anm. 52), S. 14. Ebd., S. 18.

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Welches Feuer! welche Einbildungskraft! – Welch ein Vergnügen ist es doch, wenn man Werke beurtheilet, wo die Schönheiten, die man auf jeder Seite antrift [!], uns so angenehm unterhalten, daß man Mühe hat, nach den Stellen wieder zurück zu kommen, bey denen etwa einige Anmerkungen zu machen sind.65

Mehr als drei Jahrzehnte nach dieser literaturkritischen Eloge wurde der Tod Jesu sogar selbst zum Instrument der Literatur- bzw. Kulturkritik. Diese Intention steht jedenfalls zu vermuten bei einem mit „J. von Boguslawksi“ unterzeichneten Beitrag in der Berlinischen Monatsschrift aus dem Jahr 1796, der aus einem unkommentierten Gedicht mit dem Titel Auf die Kantate, der Tod Jesu besteht.66 Der Text umfasst zwölf Verse unterschiedlicher Länge (3- bis 6-hebig), am Anfang und am Ende steht jeweils ein Paarreim, dazwischen finden sich ein Kreuzreim sowie ein umarmender Reim, was sich als Formzitat der madrigalartigen Kantate verstehen lässt. Inhaltlich erfolgt ein allegorisches Lamento der Religion darüber, dass „viele Menschen sich vor meinem Ernste scheuen,/ Als wär’ ich stets mit wahrer Lust in Krieg,/ Als wäre nicht mein Zweck die Herzen zu erfreuen“.67 Auf Bitten der Religion kommen ihr die Dichtkunst und die Musik zu Hilfe: „Geschlossen ward der Bund; durch ihn entstand/ das hohe Himmelslied, das jedes Herz durchdrungen,/ Von Ramler und von Graun gesungen.“68 Mit dem Wunsch nach sensualistischer Glaubensvermittlung im Medium der Kantate klingt derselbe Tenor an wie bei dem Anonymus, der sich im Jahr 1761 in der von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn gegründeten Rezensionszeitschrift Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste über die Ramler-Kantate geäußert hatte. Boguslawskis Gedicht vermittelt keine neuen Einsichten in das Werk, sondern ruft seine bekannte und mehr als 40 Jahre nach seiner Uraufführung womöglich nicht mehr ganz zeitgemäße Ästhetik ungebrochen in Erinnerung – eine beharrliche commemoratio also, die jedoch bei der Tendenz zur spätaufklärerischen Vergangenheitsbeschwörung in der Berlinischen Monatsschrift keineswegs aus dem Rahmen fällt. Sie ist zudem eine Replik auf Herders Verdikt speziell über die Ramler’sche Kantate, auf die im folgenden Abschnitt noch eingegangen wird.

4 Ästhetische Projektionen einer transmedialen Gattung im Zeichen der Sinnlichkeit In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts enthalten gattungstheoretische Schriften kaum mehr normative Hilfestellungen für die Produktion von Texten, wohl aber für

65 66 67 68

Ebd., S. 20. J. von Boguslawski: Auf die Kantate, der Tod Jesu. In: Berlinische Monatsschrift 27 (1796). 1. Stück, S. 386. Ebd., V. 4–6. Ebd., V. 10–12.

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die Findung eines Geschmacksurteils. Sie beanspruchen oftmals nicht minder gesetzmäßige Geltung, richten jedoch ihr Augenmerk stärker auf die Herstellungs- als auf die Wirkungsseite literarischer Werke. In der Kantatentheorie nimmt der bereits als Komponist der Ramler’schen Passionskantate erwähnte Christian Gottfried Krause eine Schwellenposition am Übergang von der Regelpoetik hin zur Ästhetik ein. Er beschäftigt sich in seiner Abhandlung Von der musikalischen Poesie (1752) mit der Kantatendichtung zwar aus dem Blickwinkel der Musik, erscheint aber für die hier fokussierte literarische Poetik in mehrfacher Hinsicht interessant, nicht zuletzt, weil er das diskursive Entstehungsumfeld von Ramlers Tod Jesu durch seine Anregungen mit bestimmte.69 Er stützt sich einerseits in technischer Hinsicht noch auf Gottscheds Critische Dichtkunst (in der 2. Auflage).70 Andererseits setzt er jedoch Alexander Gottlieb Baumgartens epochemachende Aufwertung der Ästhetik zur „scientia co­gni­tio­nis sensitivae“71 bereits kurz nach Veröffentlichung des 1. Bandes von dessen Aesthetica (1750/58) in seiner eigenen Darstellung um. Damit ebnet er den Weg für ein sensualistisches Verständnis der Kantate,72 welches so nachhaltig wirkte, dass noch Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771–74) auf die technischen Anweisungen „in Krausens fürtreflichem Werk von der musikalischen Poesie“73 verwies. Wenn Krause überhaupt Regeltreue einfordert, so geht es ihm nicht um poetologische, sondern ausdrücklich um die „allgemeinen aesthetischen Regeln“.74 Da es nicht in Baumgartens Absicht lag, ein erkenntnistheoretisch gestütztes Regelwerk zur Verfertigung von Kunstwerken, sondern vielmehr eine beschreibende Phänomenologie des Kunstschönen zu entwickeln, steht bei Krause „poetischer Ausdruck“75 an erster Stelle, der speziell im Falle der Kantatendichtung das „Gemüth im nötigen Feuer erhalten“76 solle. Desgleichen prägt Baumgartens Definition der Schönheit als einer durch ein ästhetisch geschultes Publikum erst zu erschaffenden „perfectio

69 70 71 72

73

74 75 76

Vgl. Lütteken: Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 47), S. 181. Vgl. Christian Gottfried Krause: Von der Musikalischen Poesie. Mit einem Register vermehrt. Leipzig 1973 [ND der Ausgabe Berlin 1753; Erstausgabe 1752], S. 122. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. 2 Bde. Lateinisch-deutsch. Übers.  u. hg. v. Dagmar Mirbach. Hamburg 2007, S. 10. Vgl. differenziert zu Krauses Übergangsstellung in der Ästhetikgeschichte des 18. Jahrhunderts: Rainer Bayreuther: Ästhetische Wahrnehmung in Christian Gottfried Krauses ‚Von der musikalischen Poesie.‘ In: Manfred Beetz u. Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 28), S. 275–286; s. auch Paul F. Marks: The Rhetorical Element in Musical ‚Sturm und Drang‘: Christian Gottfried Krause’s ‚Von der Musikalischen Poesie‘. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 2 (1971), Heft 1, S. 49–64. Johann George [!] Sulzer: Cantate. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln [!], nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Erster Theil, von A bis J. Leipzig 1773, S. 254–256, hier: S. 256. Krause: Von der Musikalischen Poesie (wie Anm. 70), S. 138. Ebd., S. 136. Ebd., S. 142.

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cognitionis sensitivae“77 unverkennbar Krauses Verständnis vom Zusammenspiel der Künste in der Kantate: „Das Wahre und Wesentliche des Schönen überhaupt, ist der Zweck eines Singstückes, und die Musik und die Poesie, machen dabey Eins aus.“78 Bemerkenswert erscheint diese von Krause mit exzeptioneller Prononciertheit verfochtene Synästhesie der „Schönheiten der Musik“ mit den „Schönheiten der Poesie“, welche „den Zuhörer merklich mehr ergötzen und rühren“79 könnten als nur eine der beiden Künste allein, auch insofern, als Krause das horazische Nützen und Ergötzen, welches Gottsched noch als Maß und Ziel jeglicher Dichtkunst aufrechterhielt, in ein empfindsames Nützen und Rühren ummünzt. Verminderte Ra­tio­na­li­tät gilt ihm nicht als Manko, sondern ausdrücklich als erwünschter Effekt: „Jn musikalischen Gedichten wird zwar überhaupt mehr auf das Rührende, als auf eine klare Erkäntniß dessen, was vorgetragen wird, gesehen.“80 Deshalb hält er „emphatische Wiederholungen der Worte“,81 wie sie Gottsched so entschieden als unglaubhaft zurückgewiesen hatte, für geradezu notwendig, um die Affekte angemessen zur Geltung bringen zu können: Endlich werden manchmal die Empfindungen so starck, und die Gemüthsbewegung wird so groß, daß wir nicht eher zufrieden sind, biß wir uns derselben gänzlich entladen, und das Herz recht weitläufig ausgeschüttet haben. Dieses geschicht [!] nun in einer Arie; ein musikalisches Stück welches mit aller Kunst und Zierlichkeit componiret und gesungen wird.82

Ein solcher Affektvortrag entspricht zwar nicht dem Gottsched’schen Wahrscheinlichkeitspostulat, wohl aber einer gleichsam poetischen Wahrscheinlichkeit mit eigenen Gesetzen, für die Krause eintritt: Jeder Dichter hat die Wahrscheinlichkeit zu beobachten. Jn musikalisch poetischer Absicht aber, ist manche gesungene Poesie wahrscheinlich, die solches nicht wäre, wenn sie nur hergesaget würde. Die Rührungen, so die Musik verursachet, geben den Singgedichten, bey deren wirklicher Aufführung mit Musik, ein ganz ander Leben, als selbige nicht haben würden, wenn man sie nur läse.83

Gattungsgeschichtlich sieht er in der Kantate wie Gottsched ein gestalterisch anpassungsfähigeres Gegenstück zur starren Form der Ode, in der es schwerlich machbar gewesen sei, „in allen Strophen derselben, einerley Abschnitte und einerley Affect, auf gleichen Stellen anzubringen“.84 Dennoch klassifiziert er die Kantatendichtung nicht als liedhafte oder lyrische Gattung, sondern unterscheidet vielmehr zwischen epischen und dramatischen Kantaten, die er eingedeutscht als ‚Singgedichte‘ bezeich77 78 79 80 81 82 83 84

Baumgarten: Ästhetik (wie Anm. 71), S. 20. Krause: Von der Musikalischen Poesie (wie Anm. 70), S. 150. Ebd., S. 119. Ebd., S. 125. Ebd., S. 130. Ebd., S. 129. Ebd., S. 151. Ebd., S. 113.

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net: „Jn dramatischen Singgedichten aber werden die Personen und die zu Personen gemachte Dinge, selbst aufgeführet. Jn den Recitativen epischer Singgedichte erzehlet der Dichter die Umstände, worinn seine Personen stehen, und die Ursachen, so sie bewegen, ihre Leidenschaften ausbrechen zu lassen.“85 Aufgrund ihrer größeren Anschaulichkeit gibt er den dramatischen Kantaten den Vorzug.86 Als gar nicht dramatisch fasst hingegen Sulzer die Kantate auf, da sie gerade „keine Handlung ist, wie das Drama, sondern eine Betrachtung über einen großen Gegenstand“.87 Dies gelte selbst für Kantaten, deren Text sich auf verschiedene Rollen verteilt: „Denn jede von den redenden Personen drükt ihre eigene Empfindungen und Betrachtungen aus. Dieses macht keine Handlung.“88 Allerdings werde die von Sulzer so entschieden postulierte nicht-dramatische Natur der Gattung in der Praxis zuweilen übersehen: „Einige machen ihre Cantaten dramatisch, dieses schikt sich gar nicht; denn die Cantate ist die Moral einer Handlung, nicht die Handlung selbst.“89 Entscheidend für das Gelingen einer Kantate sei es vielmehr, den „Mangel der Handlung und der theatralischen Vorstellung durch innerliche Schönheiten“90 zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst widersprüchlich erscheinen, wenn Sulzer verlangt, man solle „historische Umstände“ nicht nacherzählen, sondern sie dem Zuhörer im Interesse der Anschaulichkeit so vergegenwärtigen, „als ob er die Sachen sähe und höre“.91 Als Musterbeispiel dafür nennt er unter anderem einmal mehr Ramlers Tod Jesu, in dem keine szenischen Handlungen nachgestellt werden, sondern vor allem situativ eingebundene Affekte. Zwar wechseln sich darin als Arien, Soli, Duette, Terzette, Tutti oder Rezitative ausgewiesene Partien mit unterschiedlichen Redeformen (‚ich‘, ‚du‘, ‚er‘, ‚wir‘, ‚ihr‘) ab, aber es erfolgen keine konkreten Personenzuordnungen zu den Stimmen. Da Sulzer größeren Wert auf lebhafte Affekte als auf eine äußere Handlung legt, geht seine Gattungsdefinition von den Formen und Gegenständen aus, die er für geeignet hält, eine entsprechende Wirkung zu erzeugen: Für ihn ist eine Kantate „[e]in kleines für die Musik gemachtes Gedicht von rührendem Jnhalt, darin in verschiedenen Versarten, Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen und Leidenschaften ausgedrükt werden, welche bey Gelegenheit eines wichtigen Gegenstandes entstehen.“92 Obwohl er der Kantate einen vornehmlich okkasionalen Charakter zuspricht, weil sie meistens „bey dem öffentlichen Gottesdienst, an feyer­lichen Tagen“, aber auch „bey andern festlichen Gelegenheiten, oder auch nur blos in

85 86 87 88 89 90 91 92

Ebd., S. 123. Vgl. ebd. Sulzer: Cantate (wie Anm. 73), S. 255. Ebd. Ebd. Ebd., S. 256. Ebd., S. 255. Ebd., S. 254.

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Concerten“93 verwendet werde, weisen die von ihm empfohlenen Gegenstände keine Casualdeixis auf. Vielmehr solle „eine interessante Scene aus der Natur, aus dem menschlichen Leben, aus der Moral, Politik oder Religion“94 dargeboten werden, also ein Sujet mit verallgemeinerbarer, durchaus didaktischer Aussage, die es jedoch nicht diskursiv zu vermitteln gelte, sondern affektiv: Er [sc. der Dichter] muß dabey die Absicht haben, das Volk auf die wichtigsten Theile seines Gegenstandes aufmerksam zu machen, dasselbe auf wichtige Betrachtungen und Lehren zu führen, lebhafte Empfindungen rege zu machen, und überhaupt das ganze Gemüth mit einer heilsamen Leidenschaft zu erfüllen.95

Vor artistischen Schreibweisen warnt Sulzer nachdrücklich. Am besten sei es, „weder Witz, noch Kunst, noch irgend etwas zu zeigen wodurch der Zuhörer von dem Gegenstand seiner Betrachtung auf den Dichter, oder auf Nebensachen könnte abgeführt werden“. Ferner rät er von Allegorien ab, da sie „insgemein die ganze Vorstellung frostig“96 machten. Und von „Erzählungen“ sei, ebenso wie von „Beschreibungen mit Arien, die moralische Anmerkungen und Maximen enthalten“, gänzlich abzusehen. Bei diesem Passus handelt es sich offenbar um eine Amplifikation der Rousseau’schen Feststellung, „les Airs en maximes, sont toujours froides & mauvaises“.97 Sulzer führt erklärend aus, dass derlei nicht nur „der Lebhaftigkeit der Empfindungen entgegen“ stünde, sondern auch, wie er nun mit ausdrücklichem Verweis auf das Dic­tionnaire de Musique (1768) schreibt, „dem Tonsetzer nicht Gelegenheit genug“ gäbe, „sich kräftig und rührend auszudruken“.98 Umgekehrt entstehe die eigentümliche Wirkung der Kantate dann, wenn der Dichter „dem sich abändernden Zustand des Geistes und Herzens zufolge, das, was er denkt oder empfindet, ausdrükt, den Ausbruch seiner Leidenschaft schildert, und für jedes eine besondere, der Sache angemessene Versart wählet“.99 Zwar müssten „[e]in oder zwey Recitative und ein paar Arien […] nothwendig dabey vorkommen“, aber ansonsten setze sich eine Kantate frei aus unterschiedlichen „Dichtungsarten“ zusammen: „Ein Theil kann erzählend, ein andrer lehrend, ein andrer betrachtend, und ein andrer rührend seyn.“100 An sprachlichen Problemen, wie sie Nicolai am Beispiel Ramlers aufgezeigt und Sulzer als deplatzierte Kunstfertigkeit zurückgewiesen hatte, stößt sich auch der publi­zistisch tätige Komponist und Kapellmeister Johann Adam Hiller (1728–1804). In einem Artikel für das Neue Deutsche Museum aus dem Jahr 1791 vermutet er, die

 93  94  95  96  97  98  99 100

Ebd., S. 255  f. Ebd., S. 254. Ebd., S. 255. Ebd. J[ean] J[acques] Rousseau: Cantate. In: Ders.: Dictionnaire de Musique. Paris 1768, S. 72  f., hier: S. 73. Sulzer: Cantate (wie Anm. 73), S. 255. Ebd., S. 254. Ebd.

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sprachliche Gestaltung trage „in den meisten deutschen Kantaten die größte Schuld an der Verachtung der Kirchenmusik“.101 Trotz einiger gelungener Beispiele (von denen er keines nennt), gebe es doch etliche, „an denen nichts genießbar ist, als der zum Chore bestimte [!] biblische Spruch, und der Choralvers“.102 Im Rückgriff auf die inhaltliche Kritik und sogar auf ihren Wortlaut bei Sulzer bzw. Rousseau fügt er polemisierend hinzu: „Das übrige ist nichts als gereimte Dogmatik oder Moral, so trocken und kalt, mit frostigen Allegorien durchwebt, daß sich der schlechteste Dorfpfarr schämen würde, in einem so platten und seltsamen Tone von der Kanzel zu reden.“103 Außerdem stört er sich an einer blutleeren Sprachkunst, die weder Verstand noch Gefühl anspreche: „Ueberhaupt scheinen frostige Anspielungen und Wörterkram bei den meisten geistlichen Kantatendichtern die Stelle des Denkens und Empfindens zu vertreten.“104 Auch seine Forderung nach einer Stilsenkung zugunsten des bereits von Neumeister im Kantaten-Diskurs etablierten perspicuitas-Ideals bringt er in geharnischtem Tonfall vor: Und leider haben einige Dichter das Vorurtheil, daß Poesien voll schwülstiger Ausdrücke und hochfliegender Phantasien, ohne alle Symmetrie, die sie indeß mit besonderm Pathos zu lesen und zu declamiren wissen, sich auch müßten componiren und singen lassen. Allerdings wohl; aber nicht besser, als man die Zeitungen componiren und singen könte, blos rezitativisch.105

Seine Beschwerde über die häufig fehlende „Symmetrie“, mit der er eine „symme­tri­ sche, oder lieber gleiche Länge der Zeilen“106 meint, steht der in Kantaten üblichen Madrigalästhetik entgegen. Desgleichen unterläuft sein Verbesserungsvorschlag, dass die Dichter „ihre Rezitative ohne Reime ließen, oder lieber gar keine Rezitative machten, da sie sich nur selten zur Kirchenmusik schicken; und dafür mehr Sinn, mehr interessanten Sinn, in anständigen Ausdrücken, in die Arien legten“,107 die allgemein anerkannte Gattungsform mit ihrem Wechselspiel von Arien und Rezitativen. Im konsensuellen Bereich bewegt er sich hingegen, wenn er für „einen edlen nicht gekünstelten, nicht hoch trabenden Ausdruck“ und für „abgerundete, nicht allzu lange Perioden“ plädiert.108 Und seine Anregung, „soviel vollständigen Sinn in jeder Zeile“ einzuschließen, „daß man den Verstand der ganzen Periode daraus einsehen kan“,109 entspricht vollauf den sowohl von Gottsched als auch von Nicolai angesprochenen Erfordernissen einer Gattung, die vorrangig über das Gehör rezipiert wird. 101 102 103 104 105 106 107 108 109

J[ohann] A[dam] Hiller: [Selbstrezension] Beiträge zu wahrer Kirchenmusik, von Johann Adolph Hasse, und Johann Adam Hiller. In: Neues Deutsches Museum 4 (1791), S. 362–387, hier: S. 363. Ebd. Ebd., S. 363  f. Ebd., S. 365. Ebd., S. 367. Ebd., S. 368. Ebd., S. 364. Ebd., S. 368. Ebd.

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Während Hiller mit den Problemen von Reim und Stil sowie dem Zusammenfall von Satz- und Versschluss noch immer hergebrachte poetologische Fragestellungen aktualisiert, vollzieht spätestens Johann Gottfried Herder (1744–1803) die Sublimation der normativen Kantatentheorie in reine Ästhetik. Das aufklärerische Bemühen um die Modellierung einer gleichgerichteten Nachahmung von Affekten in der Verbindung von Poesie und Musik erklärt er bereits 1773 für schlechthin gescheitert. Ausgerechnet Ramlers Tod Jesu wird ihm nun zum Inbegriff rationalistischer Gefühlskälte, der er hochgradig emotionalisiert entgegentritt: – so kalt! so scholastisch! […] Und nun zwischen inne in Arien, in Choral, in Chören – wer spricht? wer singt? Auf Einmal eine nützliche Lehre aus der biblischen Geschichte gezogen, locus communis in der besten Gestalt! […] Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fortgehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks – R[amlers] Tod Jesu ist ein erbauliches, nützliches Werk, das ich in solchem Betracht tausendmal beneidet habe! Jede Arie ist fast eine schönes Ganze [!]! Viele Recitative auch – aber als Poetisches Werk des Genies – für die Musik!“110

Die Gattung selbst gibt Herder allerdings ebenso wenig auf wie die Zielvorstellung eines mimetischen Schulterschlusses von Poesie und Musik. Im Jahr 1802 unternimmt er eine Projektion der Kantate in die Idealität, fern jeder Nutzen- oder Erbauungsprogrammatik oder gar einer handwerklich-technischen Orientierung. Er legt größten Wert darauf, dass nur Poesie und Musik in einer Kantate vorkommen dürften, „zwei Schwestern“, die „gemeinschaftlich, ohne Rücksicht des Zwanges einer dritten Kunst“ und insbesondere ohne Beschreibungen und Handlungen „ihre Kräfte üben“ sollten, damit eine gleichsam überirdische Wirkung direkt das Empfindungsvermögen erreiche:111 Es kommt wie vom Himmel, ohne zerstreuenden, das Auge fesselnden Theaterschmuck, verhüllet gleichsam wie eine Vestale. Oder vielmehr, u n s i c h t b a r fliessen nach und nach Stimmen und Töne in unsre Seele, vom zartesten Tropfen bis zum vollesten Strom, an keinen Faden gereiht, als an den leisen, aber mächtigen, unzerreißbaren, der E m p f i n d u n g .“112

Im harmonischen Zusammenspiel von Ein- und Mehrstimmigkeit solle sich die Gesamtheit der Empfindungsfülle entfalten können, was in letzter Konsequenz nicht nur das Kunstschöne, sondern auch die sittliche Vollendung sinnlich erfahrbar mache: [T]refliche Darstellung des ganzen Gewebes unsrer Empfindungen und Bemühungen auf dem Kampfplatz des Lebens. Wem Worte und Töne dies v e r b ü n d e t ausdrücken, der wird über sich, aus sich hinausgezogen; nicht etwa nur in einem Spiegel erblickt er, er e m p f i n d e t , wenn man so kühn reden darf, die E t h i k u n d M e t a p h y s i k s e i n e s m e n s c h l i c h e n D a s e y n s .113

110 111 112 113

Johann Gottfried Herder: Nachschrift [zu: Shakespear]. In: Ders. (Hg.): Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hamburg 1773, S. 113–118, hier: S. 117  f. Johann Gottfried Herder: Händel. In: Adrastea 3 (1802), S. 319–349, hier: S. 325. Ebd. Ebd., S. 327.

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Somit dient die Kantate nach Herder einzig der Erschaffung und Abbildung höheren Menschseins im Medium der Kunst. Dieser Anspruch reflektiert unverkennbar den für das künstlerische Selbstverständnis der Moderne insgesamt grundlegenden Gedanken der Autonomieästhetik, welche keine Zwecke des Kunstschönen außerhalb seiner selbst anerkennt.114

5 Fazit Als genuin neuzeitliche Prägung war die musikalisch-poetische Mischgattung der Kantate nicht durch antike praecepta verbürgt, was im 18. Jahrhundert durchaus noch den negativen Beigeschmack des Traditionslosen hervorrufen konnte. Kurz bevor der eingangs zitierte, in seiner Substanz auffallend spärliche Zedler-Artikel erschien, hatte Gottsched die Kantate verächtlich als „neue Erfindung der Jtaliener, davon die Alten nichts gewust“,115 geschmäht, was er später gallig zuspitzte: „Wenn nun gleich Horaz sehr darüber lachen würde, wenn er dergleichen Gesinge, ohne Beobachtung der lateinischen Quantitäten, hören sollte: so denken wir doch Wunder, wie schön solches klingt.“116 Wie Gottsched andeutet, unterlag die Kantate zudem vergleichsweise wenigen formalen Vorgaben, was nicht zuletzt wegen der häufig verwendeten Madrigalverse den ebenfalls unerwünschten Eindruck der Regellosigkeit erwecken konnte. Diese Versart hatte allerdings Caspar Ziegler bereits 1653 in metrischer Hinsicht unter anderem für die deutschsprachige Kantatendichtung systematisch erschlossen und kompositorisch auf das argutia-Ideal verpflichtet – von poetologischem Wildwuchs konnte eigentlich längst nicht mehr die Rede sein.117 Nicht zuletzt vollzog sich die Herausbildung poetologischer Standards bei neuzeitlichen Gattungsmodellen typischerweise nicht unbedingt in der Theorie, sondern eher in der Praxis. Bei der Kantate als „poetisch-musikalische[r] Hauptform der kirchlichen und weltlichen Gelegenheitskunst des deutschen 18. Jahrhunderts“118 stellte beispielsweise die okkasionale Bindung mindestens in der Aufführungssituation eher die Regel als die Ausnahme dar. Gleichwohl wird dieser Aspekt im theoretischen Diskurs kaum berührt und spätestens bei Herder vollends ausgehebelt. Immerhin besteht im 18. Jahrhundert ein Grundkonsens über das normative Gattungsverständnis, den Irmgard Scheitler in einer Untersuchung zur Werkpoetik der 114

115 116 117

118

Vgl. Gerhard Sauder: Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik. In: Friedrich Hiller (Hg.): Normen und Werte. Heidelberg 1982 (Annales Universitatis Saraviniensis 18), S. 130– 150, besonders S. 133–137. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1730] (wie Anm. 25), S. 358. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [1751] (wie Anm. 35), S. 730. Vgl. Caspar Ziegler: Von den Madrigalen. Hg. v. Dorothea Glodny-Wiercinski. Frankfurt a. M. 1971 [ND der Erstausg. 1653] (Ars Poetica 12), S. 29. – Zur „Epigrammatisierung des Ma­dri­ gals“ im deutschen Sprachraum siehe Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979, Zitat S. 70. Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 4), S. 69.

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Kantate folgendermaßen umreißt: „Sowohl die musikalische als auch die literarische Poetik verstanden unter ‚Cantata‘ ein nur aus Rezitativen und Arien zusammengesetztes und undramatisches, d.  h. nicht rollenhaftes und auch keine Handlung aufbauendes Werk.“119 Als weitere generelle Tendenz identifiziert sie die Ablösung des „schweren Stils“ durch das „Ideal der Natürlichkeit und Klarheit“, zudem sollte „der Affekt, den ein Text erregte, möglichst einheitlich sein“,120 was aber in der literarischen Poetik in dieser Deutlichkeit nur 1751 bei Gottsched als Vorgabe verbürgt ist. Im poetologischen Diskurs, so ist aufgrund der vorgängigen Analysen hinzuzufügen, ist man sich ferner einig über die – gleichwohl eher zähneknirschend gebilligte als wirklich geliebte – Verwendung von Madrigalversen in den Arien, über die Eleganz der Da-capo-Struktur, über die Zweckmäßigkeit der Kürze sowie über das Ziel der Affektwirkung. Während sich nach Scheitler das Moment des Dramatischen in der Praxis und in der musikalischen Poetik der Kantate durchsetzt, namentlich bei Johann Adolph Scheibe (1708–1776) und Christian Gottfried Krause,121 ergeben sich aus den vorgängig untersuchten Quellen zum Kantatendiskurs abweichende Einsichten. Während Neumeister und Krause den Charakter der Gattung als dramatisch zu klassifizieren scheinen, wenngleich die Kantate auch ihnen als formal flexible Alternative zur Ode gilt, begreifen Gottsched und Sulzer sowie implizit auch Hiller und Herder ihn als lyrisch. Offenbar geht es nicht um Dramatik im Sinne der aristotelischen Nachahmung von Handlungen, sondern um die Nachahmung von Affekten, die allenfalls nach dem Redekriterium ‚dramatisch‘ präsentiert werden; desgleichen erfolgt regelmäßig eine Abgrenzung gegen narrative bzw. deskriptive Gattungen, um die nötige Unmittelbarkeit der Affektdarstellung zu garantieren. Bereits bei Hunold, der, flankiert durch Neumeisters Poetik, mit seinen eigenen Dichtungen nicht nur die Kantate hin zum Bürgertum öffnete, sondern auch einer subjektiv-lyrischen Formensprache den Weg ebnete,122 stand das affektive Potential im Zentrum des Gattungsverständnisses. Die Grundlage dafür bildete die Affektmodellierung durch die Musik, denn, so Dirk Rose, die „Aufwertung des musikalischen Prinzips […] reagierte nicht zuletzt auf das als begrenzt empfundene Innovationspotential des rhetorischen Prinzips“.123 Jedoch erweist sich die Umsetzung einer

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123

Scheitler: Die Kantate als literarische Form (wie Anm. 3), S. 33. Ebd., S. 34. Vgl. ebd. Vgl. Ute-Maria Suessmuth Viswanathan: Die Poetik Erdmann Neumeisters und ihre Beziehung zur barocken und galanten Dichtungslehre. Diss. Pittsburgh 1989 [Rückvergrößerung der Mikrofilm-Mastercopy durch UMI Dissertation Services, Ann Arbor 1997], S. 82, im Rekurs auf Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht (wie Anm. 4), S. 92. Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin u. Boston 2012 (Frühe Neuzeit 167), S. 264; vgl. jedoch zu rhetorischen Potentialen der Affektmodellierung: Dietmar Till: Rhetorik des Affekts (Pathos). In: Ulla Fix, Andreas Gardt u. Joachim Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 1. Halbbd., Berlin u. New York 2008, S. 646–669.

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musikalisch-poetischen Affektdarstellung, so vielversprechend dies klingen mag, als heikel, konkurrierten doch die Wunschvorstellung einer ästhetischen Synthese mit dem gleichzeitigen Anspruch beider Künste auf Dominanz innerhalb der Gattung. Spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte das „Problem eines angemessenen Verhältnisses von Musik und Poesie im Rahmen eines mimetischen Konzepts“124 in gattungsgeschichtliche Aporien. In dieser Zeit büßte die Kantate, so Scheitler mit Blick auf die poetische Praxis, „für die Dichtkunst an Attraktion“ ein und verkümmerte zum „Metier von dichtenden Theologen“.125 Infolge des Geschmackswandels von rationalistischen über empfindsame bis hin zu idealistischen Vorlieben sowie von der Nutzenprogrammatik zur Zweckfreiheit der Kunst unterhöhlen Einwände und Optimierungsvorschläge im theoretischen Diskurs die Gattung, deren Möglichkeiten zum Gefühlsausdruck, die zunächst als ihr wichtigster Vorzug galten, zunehmend in Zweifel geraten. Die veränderte Wahrnehmung von Ramlers Tod Jesu kann dafür exemplarisch stehen: Lange wurde diese Kantate als Musterbeispiel für die musikalisch-poetische Freisetzung von ‚Erhabenheit‘ und ‚Feuer‘ gepriesen, dann jedoch als Reflex post-barocker Allegorienseligkeit und schließlich als Ausbund jener ‚Frostigkeit‘ verurteilt, die seit Sulzers Rousseau-Rezeption als Mangel der Aufklärungspoetik galt. Trotz seiner radikalen Kritik legt allerdings Herder kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert eine merkwürdige Euphorie an den Tag, wenn er über metaphysische Potentiale der Gattung spricht – womöglich die Apotheose eines literarischen Auslaufmodells durch einen ‚dichtenden Theologen‘. Freilich tritt er in ästhetische Distanz zur Aufklärung, macht die Problematik einer musikalischen Poesie zur Aufgabe der höchsten Imagination und perpetuiert damit die poetologisch letztlich uneingelöste Vision einer musikalischen (statt rhetorischen) Affektkultur in der Dichtkunst.

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Lütteken: Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 47), S. 191. Scheitler: Die Kantate als literarische Form (wie Anm. 3), S. 34; vgl. auch Lütteken: Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 47), S. 194.

Julian H eigel

Die Legitimation der Kantate mithilfe des hallesch-pietistischen Affektkonzepts Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist der Befund, dass die Halleschen Pietisten sich einerseits gegen allzu üppige Musik in der Kirche aussprechen und dass sie andererseits das gemeinschaftliche Erleben des Singens zum Kern ihres Programms erheben. Abwehr des musikalisch erzeugten Affekts und Förderung der musikalischen Affizierung sind offensichtlich zwei gegensätzliche Gesten, die dem halleschpietistischen Musikverständnis inhärent sind. Im Folgenden soll gefragt werden, wie dieser Widerspruch in den Schriften der Halleschen Pietisten verhandelt wird, welche Legitimationsbedingungen an Musik und ihre Ausführung gerichtet werden, und mit welchen diskursiven Strategien die eigene Musikpraxis gerechtfertigt wird. Die musiktheologischen Paradigmen des Halleschen Pietismus sind keine randständigen Phänomene einer religiösen Minderheit, sondern tragen zum Verständnis der Figuralmusik und insbesondere der Kantate im frühen 18. Jahrhundert wesentlich bei, indem sie zeitgenössische Konzepte von Frömmigkeit, von Affizierung, von Musizieren und Musikrezeption verhandeln. Im ersten Teil dieses Beitrags wird das spezifische Affektkonzept der Halleschen Pietisten vorgestellt und dessen Geltung für die historische Deutung von geist­lichen Kantatentexten und deren Vertonungen gezeigt. Im Anschluss daran werden die hallesch-pietistischen Schriften im Hinblick auf ihre Aussagen zur Musik befragt, wobei der Blick je gesondert auf die Musiker und die Zuhörer gelenkt wird. Neben den hallesch-pietistischen Schriften werden musikästhetische und musiktheologische Schriften anderer Autoren des frühen 18. Jahrhunderts einbezogen, die den Kontext der historischen Diskussion zur geistlichen Kantate vervollständigen. *** Das hallesch-pietistische Affektkonzept wird von dem Theologen Johann Jacob Rambach systematisiert, der sich mit den Affekten sowohl in seiner Bibelhermeneutik als auch in seiner moraltheologischen Hauptschrift Christliche Sitten=Lehre beschäftigt.1 Im Gefolge von August Hermann Francke macht Rambach einen 1

Der Musikwissenschaft ist Rambach durch seinen vielfach vertonten Kantatentextjahrgang Geistliche Poesien aus dem Jahr 1720 bekannt. Vgl. Julian Heigel: „Vergnügen und Erbauung“. Johann Jacob Rambachs Kantatentexte und ihre Vertonungen. Halle 2014 (Hallesche Forschungen 37); Wolfgang Hirschmann: Pietismus und Empfindsamkeit. Zu den Kantatendichtungen von Johann Jacob Rambach (Halle 1720). In: Wolfgang Ruf (Hg.): Der Klang der Stadt. Musikkultur in Halle vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Halle 2009 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 13), S. 65–84; Ders.: Zu einigen Georg Philipp Telemann zugeschriebenen Kirchenstücken nach

https://doi.org/10.1515/9783110572810-011

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spezifischen Affektdualismus stark, mit dem sich Affekte beziehungsweise affekthafte Handlungen aufgrund von äußeren Bedingungen bewerten lassen. In seiner Sitten=Lehre führt Rambach dies folgendermaßen aus: Man kan die Affecten auf eine doppelte Art betrachten in abstracto & concreto. […] Die Bewegungen der Freude und Traurigkeit an sich sind natürlich gut, und moralisch indifferent, aber die Determinatio und Hinwendung dieser Bewegungen auf dieses oder jenes Object kan böse und sündlich werden.2

Die Beurteilung der an sich neutralen Affekte richtet sich also nach ihrem Objekt beziehungsweise nach ihrem Gerichtetsein auf Weltliches oder Geistliches. Zur Differenzierung bedient sich Rambach der dualistischen Bezeichnung natürliche vs. geistliche Affekte. Trauer, Liebe, Freude, Zorn, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache – alle Affekte können, je nachdem worauf sie bezogen sind, sowohl natürliche als auch geistliche Affekte sein. Immer ist die Intention entscheidend: Die natürlichen Affekte zielen auf eigennützige Bedürfnisse, denn sie „entspringen ex peruerso amore sui ipsius“,3 die geistlichen Affekte richten sich dagegen auf die Ehre Gottes. Während die natürlichen Affekte das menschliche Gemüt verwirren, zum Kontrollverlust oder zur Affektekstase führen, betont Rambach, dass die geistlichen Affekte Gemütsruhe und Gelassenheit befördern, womit er sich an die Laster- und Tugendlehre der Halleschen Frühaufklärer Christian Thomasius und Christian Wolff anschließt.4 Die Ausrichtung des Affekts auf ein bestimmtes Objekt ist jedoch nur eine Bedingung für die Legitimität des Affekts. Eine zweite wesentliche Bedingung ist die Integrität des Affektträgers beziehungsweise des Ausführenden einer affekthaften Handlung. Die geistlichen Affekte sind nämlich ausschließlich demjenigen vorbehalten, der eine gewisse moralisch-religiöse Disposition besitzt, oder, wie es im pietistischen Sprachgebrauch heißt, der ein Wiedergeborener ist. Daher fungieren die geistlichen Affekte als messbare Indikatoren der Wiedergeburt, während die natürlichen Affekte Ausdruck eines unvollkommenen Zustands sind. Ein Blick in die für den Halleschen Pietismus grundlegenden Erbauungsschriften beispielsweise von Johann Arndt oder Johann Gerhard zeigt, dass bereits diese Theologen die konträren Affekt-

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Texten von Johann Jacob Rambach. In: Carsten Lange u. Brit Reipsch (Hg.): Telemann der musikalische Maler. Telemann-Kompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 10. bis 12. März 2004, anlässlich der 17. Magdeburger Telemann-Festtage. Hildesheim u.  a. 2010 (Telemann-Konferenzberichte 15), S. 248–272. Johann Jacob Rambach: Moral=Theologie oder Christliche Sitten=Lehre, von dem sel. Verfasser zu unterschiedenen malen zu Halle und Giessen vorgetragen, Nun aber Aus zweyen eigenhändigen Manuscripten desselben, mit einer Vorrede von dem Vorzug dieser ächten Edition vor der unächten Halberstädtischen […] hg. v. Conrad Caspar Griesbach. Frankfurt a. M. 1738, S. 1065. Johann Jacob Rambach: Ausführliche und gründliche Erläuterung über seine eigene Institutiones Hermeneuticae Sacrae, aus der eignen Handschrift des seligen Verfassers […]. Bd. 1. Hg. v. Ernst Friedrich Neubauer. Gießen 1738, S. 385. Vgl. Heigel: „Vergnügen und Erbauung“ (wie Anm. 1), S. 77–81.

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gruppen nutzen, um die menschliche Existenz vor und nach der Wiedergeburt als verschiedene Seinszustände zu konturieren. Mit leuchtenden Farben und trefflichen Metaphern illustrieren die sprachbegabten Erbauungsschriftsteller des 17. Jahrhunderts die unterschiedlichen Affektzustände vor und nach der Wiedergeburt, sodass weniger die Wiedergeburt als zeitliches Ereignis, sondern vielmehr ihre unterschiedenen Affektstufen diskursiviert werden.5 Den Kritikern dieser affektbezogenen Messbarkeit des Gnadenstands – konkret Valentin Ernst Löscher6 – entziehen die Halleschen Pietisten die Argumentationsgrundlage, indem sie für die sachgerechte Unterscheidung zwischen natürlichen und geistlichen Affekten ein iudicium spirituale geltend machen, das „kein fleischlicher und unwiedergebohrner recht erlangen“ könne.7 So wie die Halleschen Pietisten das „Monopol für die Schriftauslegung“8 beanspruchen, so sind auch nur sie allein dazu imstande, die Kennzeichen des Gnadenstands beziehungsweise der Wiedergeburt zu erkennen. Auch wenn gerade Rambach gegenüber der einmaligen Wiedergeburt (regeneratio) die graduelle Bekehrung (conuersio) betont – beide Konzepte sind der altlutherischen Dogmatik inhärent –,9 zeigt sich im Diskurs über den Affekt, wie die Idee der Wiedergeburt zur Distinktion gebraucht wird, während gleichzeitig die Idee der persistenten Bekehrung als Anreiz zur dauerhaften Gewissensbefragung dient. Die Bewertung des Affekts ist abhängig von dessen Kontext, seine Legitimation bemisst sich also an bestimmten äußeren Bedingungen, nämlich an der Intention beziehungsweise der Direktion einer affekthaften Handlung und an der spirituellen Disposition des Ausführenden. In diesem Sinne bezieht sich auch die vielzitierte Lustfeindlichkeit der Pietisten eben ausschließlich auf die Abwertung einer weltlichen Lust, der eine erwünschte heilige Lust entgegengesetzt ist. Der sogenannte ‚Lust-Streit‘ zwischen Albrecht Christian Rotth und Gottfried Vockerodt verhandelt nicht die Berechtigung der Lust an sich, sondern kreist um die Frage, ob Lust überhaupt unabhängig von ihrem Objekt und von der lustempfindenden Person bewertet werden kann.10 Während Rotth Lust als indifferentes Adiaphora auffasst, will

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Ebd., S. 74–77. Zur Auseinandersetzung Valentin Ernst Löschers mit den Halleschen Pietisten vgl. Hans-Martin Rotermund: Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers „Timotheus verinus“ in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes. Berlin 1959 (Theologische Arbeiten 13); Martin Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1971 (Untersuchungen zur Kirchengeschichte 5). Rambach: Sitten=Lehre (wie Anm. 2), S. 387. Vgl. Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. I: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 439–539, hier S. 468. Emanuel Hirsch zeigt dies beispielsweise bei Johann Andreas Quenstedt; Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht. 4. Aufl. Berlin 1964, S. 348–350. Vgl. Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 107).

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Vockerodt die Lust immer nur in Abhängigkeit von ihrem Kontext beurteilt wissen. Auch Rambach greift diese Kontroverse auf und schreibt in seiner Sitten=Lehre: Also darf man wohl eine wohlschmeckende Speise mit Vergnügen geniessen, oder an einer schönen Blume riechen, oder einem Singe=Vogel, oder dem Klang eines Musicalischen Instruments mit Vergnügen zuhören, wenn man nur dabey sein Gemüth und Hertz zu GOtt erhebet, […] und wo man nur diese Bächlein des Vergnügens in das unerforschliche Meer seiner Liebe und Gütigkeit hinein leitet.11

Jegliche Affizierung wird also dann in eine geheiligte Affizierung transformiert, wenn sie nicht ihrem Gegenstand verhaftet bleibt, sondern den Affizierten zu Gott führt. Rambach geht sogar noch einen Schritt weiter als Vockerodt, wenn er schreibt: Die Schöpfung sei deshalb so annehmlich von Gott geschaffen, damit der Mensch sie zur Ehre Gottes genieße und nicht, damit er sich in ihren Fallstricken verfange. Hier klingt die Physikotheologie des von Rambach geschätzten Barthold Hinrich Brockes an, demzufolge der Mensch durch die sinnliche Erfassung der Gottesgaben Gott nähergebracht wird. Die sinnliche Freude an den Gaben der Schöpfung ist nicht nur zulässiger Ausdruck des Gottesdienstes, sondern sie ist regelrecht erwünscht, denn sie mündet in die Anschauung und Anbetung Gottes. Die pietistische Rede über die heilige Lust ist allerdings immer nur möglich durch die Markierung der sündhaften Lust; das Erlaubte bedarf also immer der Abgrenzung vom Nichterlaubten. Der Hallesche Pietismus exponiert ein dualistisches Wertesystem, das ausschließlich zwischen gut und schlecht unterscheidet. Auch an sich unverfängliche Handlungen werden, wenn sie sich nicht explizit unter die Maßgabe von Devotion oder Erbauung ordnen lassen, verurteilt, weil sie kostbare Zeit einnehmen, die nicht zur geistlichen Vervollkommnung genutzt wird. Deshalb stellt Rambach seinen Gedichtbänden jeweils Vorreden voran, die seitenlang die negativen Einflüsse der Poesie aufdecken, um am Ende den Nutzen der guten Poesie hervorheben zu können.12 Rambachs erbauliche Kantatentexte zielen darauf ab, Glaubensinhalte affektiv aufzubereiten beziehungsweise bestimmte geistliche Affekte einzuüben. Dies kann aber nur geschehen, wenn hervorgehoben wird, welche Affekte nicht erwünscht sind. Diese Dialektik zieht sich bis in die Binnenstruktur der einzelnen Kantaten, die häufig auf der Gegenüberstellung eines negativen und eines positiven Affekts beruht.13 In dem folgenden Ausschnitt aus Rambachs Kantatendichtung zum Festtag 11 12

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Rambach: Sitten=Lehre (wie Anm. 2), S. 796  f. Johann Jacob Rambach: Poetische Fest=Gedancken Darinnen die Höchsten Wohlthaten Gottes, Die Er der Welt In der Geburt, Leyden, Sterben […] erzeiget hat, Besungen und beschrieben werden: Zur gemeinen Erbauung mitgetheilet Samt einem Discours Vom Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie. Jena 1723. Die Gegenüberstellung von unterschiedlichen Affekten innerhalb einer Kantate lässt sich bei Rambach mit dem hallesch-pietistischen Bekehrungsmodell in Verbindung bringen. Die gegensätzlichen Affekte zeigen die unterschiedlichen Zustände vor und nach der Bekehrung, wobei die

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der Heimsuchung Mariae wird die geistliche Lust entfaltet, während gleichzeitig die weltliche Lust abgewertet wird: RECIT. Wer JEsum lobt, Der fühlt die wahre Freude. Auf diesen Auen schmeckt ein Geist, Der sich der Welt entreißt. Die angenehmste Weyde. Die Lust der Welt wirckt Tod und Sterben, So wol, als Traurigkeit der Welt, Und läßt das Hertz, das sich ihr zugesellt, Zuletzt in bittrer Reu verderben. Allein sich seines JEsu freuen, Erqvicket Marck und Blut, Bringt Trost und Muth, Und kan die Kräffte recht erneuen. DICTUM. Die Freude an dem HErren sey eure Stärcke. Nehem. 8,10. ARIA. Edler Geist! Fleuch, die Lust, die sündlich heißt. Willstu wahre Freude fühlen, So muß JEsus in dir spielen. Der ist froh, der ihn geneußt. Fleuch die Lust, die sündlich heißt, Edler Geist.14

*** Im Folgenden soll die musikalische Affektvermittlung näher in den Blick genommen werden, die eine der wichtigsten Funktionen der geistlichen Kantate im frühen 18. Jahrhundert darstellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich das Konzept des dualistischen Affekts auf die Legitimierung von Musik auswirkt. Die Halleschen Pietisten positionieren sich eindeutig gegen die Oper; die Abwertung von figuraler Musik, die oft pauschal als üppige Musik bezeichnet wird, findet in den halleschen Schriften dagegen nur am Rande Erwähnung. Das Wort Üppigkeit wird in den moraltheologischen Schriften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als ein negativ konnotierter Begriff gebraucht, der unterschiedliche Praktiken des Luxuriösen oder

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negativen Affekte keine sündhaften Affekte darstellen, sondern Strafaffekte wie Angst vor dem Jüngsten Gericht oder Reue der Sünden. Vgl. Heigel: „Vergnügen und Erbauung“ (wie Anm. 1), S. 119–123. Johann Jacob Rambach: Geistliche Poesien/ Davon Der erste Theil Zwey und siebenzig Cantaten über alle Sonn= und Fest=Tags=Evangelia/ Der andre Theil Einige erbauliche Madrigale, Sonnette und Geistliche Lieder in sich fasset. Halle 1720, S. 230  f.

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Übermäßigen beschreibt.15 Bezogen auf die Figuralmusik ist anzunehmen, dass der Begriff zur Charakterisierung der Musik eine Umschreibung für schnelle Tempi, Tanzrhythmen, größere Besetzungen und melodische wie harmonische Regelabweichungen darstellt. Die Halleschen Pietisten konkretisieren nicht weiter, was sie genau unter üppiger Musik verstehen, sodass die Kategorie des Üppigen vor allem ein tradiertes16 regulatives Instrument zu sein scheint, mit dem eine Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Nichterlaubten eingezogen werden kann. Einerseits beinhaltet diese Kategorie eine vage Kritik an der stilistischen Ausformung des jeweiligen Musikstückes, anderseits bedarf diese Grenzziehung einer gesonderten Interpretation. Analog zum bipolaren Affektkonzept des Halleschen Pietismus ist auch die figurale Musik beziehungsweise die Kantate nur zulässig aufgrund der Eingliederung in sein dualistisches Wertesystem. Es ist der Kontext der Musik, der entscheidet, ob es sich um erbauliche oder eitle Musik handelt. Dementsprechend kann eine Musik ohne ihren Kontext nicht bewertet werden. Rambach greift dieses Problem auf und führt in seiner Dogmatik den Terminus der moralisch beurteilbaren „Handlung der Music“ ein. Nicht die Musik an sich ist demnach gut oder schlecht, sondern die Haltung, mit der sie ausgeführt wird, und der Zweck, für den sie bestimmt ist.17 Ebenso differenziert Gottfried Vockerodt in seinen Schriften immer wieder zwischen erlaubter Erquickung durch Musik und unerlaubter Ohren-Lust. Sinnliches Vergnügen an Musik wird dann gebilligt, wenn es Mittel zum Zweck ist. Es wird aber nachdrücklich abgelehnt, wenn es sich nicht unter die notwendige Zweckbestimmung von Devotion und Erbauung einordnen lässt. Der sich ansonsten antipietistisch positionierende18 Johann Mattheson stimmt mit den Pietisten darin überein, dass sinnliches Vergnügen eine Folge der Erbauung sein kann. In seiner im Jahr 1727 erschienenen Schrift Ephorus, die im Zusammenhang mit dem sogenannten Kantatenstreit steht, betont der vom englischen Sensualismus geprägte Mattheson die Wirkmacht der sinnlichen Erkenntnis: „Haben wir andre 15

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Johann Georg Hamann charakterisiert den Begriff Üppigkeit mit folgenden Beiwörtern: „Die volle. schnöde. reiche[.] lüsterne[.] verdammliche. schändliche. weiche. leichte. gemästete. fette. faule.“; Johann Georg Hamann: Nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand Poetischen Redens=Arten/ Bey=Wörtern; Beschreibungen, scharffsinnigen Gedancken und Ausdrückungen […]. Leipzig 1725, S. 822. Vgl. Christian Bunners: Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zu Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1966 (Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung 14), S. 88–99. Rambach schreibt: „[D]ie Kirchen=Musiquen sind im N.T. weder geboten, noch verboten, und ist also res indifferens et libertati christianae relicta. Allein die Handlung der Music ist nicht indifferent, sondern entweder gut, wenn sie zur Ehre GOttes und Erbauung der Gemeine legitime geschiehet; oder sündlich, wenn sie nur ad pompam vel vanitatem gebraucht wird“; Johann Jacob Rambach: Dogmatische Theologie oder christliche Glaubens=Lehre […]. Hg. v. Ernst Friedrich Neubauer. Bd. 1. Frankfurt u. Leipzig 1744, S. 722. Johann Mattheson: Der Musicalische Patriot, Welcher seine gründliche Betrachtungen, über Geist= und Weltl. Harmonien, samt dem, was durchgehends davon abhänget, In angenehmer Abwechselung zu solchem Ende mittheilet. Leipzig u.  a. 1975 [ND der Ausg. Hamburg 1728], S. 19 u. ö.

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Canäle zum Gehirn, als Augen und Ohren?“19 Solle man sich denn „bey richtigen Lehren, Ottern=Ohren zulegen, oder mit Ulyßes Gefährten, Wachs zur Hand nehmen, als ob eine Circe zugegen wäre“?20 Die affektive Erbauung geschehe nun einmal über die Sinne, deshalb müsse dem Gehör „geschmeichelt, und dadurch eben der rechte Weg ins Hertz und in die Seele gefunden werden.“21 Sinnliche Lust ist für den Kirchenmusiker Mattheson ein Mittel der Erbauung oder der moralischen Besserung, sie ist jedoch nicht legitim, wenn diese kontextuelle Ebene fehlt: „[A]llein die Ohrenkützelung ist darum nicht der endliche Zweck, sondern Hertz, Seele und Verstand müssen, durch das Werckzeug der Ohren, gerühret und gebessert werden.“22 Darin ähnelt Matthesons Position derjenigen Rambachs, der im oben genannten Zitat die Freude am „Klang eines Musicalischen Instruments“ gutheißt, wenn diese die Freude in Gott versinnlicht. Die zweite oben genannte Prämisse des erlaubten Affekts betrifft die moralische Disposition des Affektträgers. Einen Topos der pietistischen Rede über Musik bildet der vermeintlich unzüchtige Lebenswandel der Musiker, die nicht zur Ehre Gottes, sondern aus pekuniären oder anderen weltförmigen Gründen musizieren. Gemäß dem pietistischen Bewertungsmaßstab schreibt Gottfried Vockerodt: [Es ist] nicht nöthig/ die Music an sich selbst in Böse und Gute zu unterscheiden/ sondern es bleibet darbey/ daß der Mißbrauch und die bösen Effecta der Music den Musicanten zuzuschreiben/ und diese billich in Gute und Böse eingetheilet werden.23

An der moralischen Disposition der Musiker entscheidet sich also auch hier die Nützlichkeit der Musik. Damit sich aber die erbauende Wirkung der Musik überhaupt entfalten kann, müssen die Musiker den geistlichen Gehalt der Musik innerlich mitvollziehen. Vockerodt ermahnt die Musiker: „Nicht anders treibet ihr diese Kunst in und zur Heiligung/ ihr müsset denn vor euch selbst dem HErrn singen und spielen in euren Hertzen: euch ernstlich bemühen die Andacht der Zuhörer zu erwecken“.24 Die Produktion des musikalischen Affekts beruht offensichtlich nicht nur auf einer rein technischen Fertigkeit, sondern auf der Idee einer geistlichen Affizierung. Ähnlich dem bibelhermeneutischen Ansatz der Pietisten, der eine Affektübertragung von den biblischen Autoren auf die Leser der Bibel geltend macht, wird die Musik als Mittel 19

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Johann Mattheson: Der neue Göttingische Aber Viel schlechter, als Die alten Lacedämonischen, urtheilende Ephorus, wegen der Kirchen=Music eines andern belehret Von Io. Mattheson […]. Hamburg 1727, S. 7. Ebd., S. 6  f. Ebd., S. 6. Mattheson: Patriot (wie Anm. 18), S. 28. Gottfried Vockerodt: Mißbrauch der freyen Künste/ insonderheit Der Music/ nebenst abgenöthigter Erörterung der Frage: Was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comödien zu halten sey? […]. Frankfurt 1697, S. 28. Gottfried Vockerodt: Wiederholetes Zeugnüs der Warheit Gegen die verderbte Music und Schauspiele/ Opern/ Comödien und dergleichen Eitelkeiten/ Welche die heutige Welt vor unschuldige Mitteldinge will gehalten wissen […]. Frankfurt u. Leipzig 1698, S. 137.

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der Affektübertragung von den Musikern auf die Zuhörer gewertet. Nur wenn die Musiker den Sinn der Musik affektiv verinnerlicht haben, ist auch die Affizierung der Zuhörer möglich. Die Auffassung, dass der Produzierende selbst affiziert sein muss, um andere zu affizieren, ist um 1700 ein Topos in rhetorischen, poetologischen und musiktheoretischen Diskursen, der die gesamte erste Hälfte des 18. Jahrhunderts prägt. Eine viel zitierte Referenz dafür ist beispielsweise Carl Philipp Emanuel Bachs Ausspruch, ein Musiker könne nur rühren, wenn er selbst gerührt sei.25 Für den Halleschen Pietismus ist die vorgängige Selbstaffizierung allerdings eine besondere Voraussetzung jeder Vermittlung: Nur der affizierte Exeget kann die Bibel sachgemäß auslegen, allein der im Affekt stehende Prediger kann geistlich predigen und einzig der bewegte Musiker kann mit seiner Musik geistliche Affekte wecken. Um die Dimension der Affektübertragung zu vervollständigen, soll abschließend noch der Zuhörer in den Blick genommen werden. Der Zuhörer wird in den musiktheologischen Diskurs verstärkt einbezogen, weil nicht mehr davon ausgegangen wird, dass der musikalisch vermittelte Affekt selbsterklärend auf den Zuhörer wirkt, sondern dass dieser eine hermeneutische Leistung erbringen muss, um Musik zu verstehen beziehungsweise um den Affekt sachgemäß entschlüsseln zu können. Das Problem der unkalkulierbaren affektiven Wirkung von Musik wird im frühen 18. Jahrhundert in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert, aber für das pietistische Musikverständnis ist dieses Problem besonders schwerwiegend, weil geistliche Musik, die gegen ihre Intention aufgefasst wird, zur unerlaubten Musik wird. Insbesondere die geistliche Kantate mit ihren aus der Oper erborgten Formen unterliegt der Gefahr, statt der erwünschten geistlichen die natürlichen Affekte zu erzeugen. Genau um diese Verwechselbarkeit der Affekte geht es auch im genannten Kantatenstreit, der sich an der Ähnlichkeit von geistlicher Kantate und Oper entzündet.26 Gottfried Ephraim Scheibel greift die Kritik an der reinen Instrumentalmusik auf und unterscheidet zwischen Genus und Species des Affekts: „Ein gantze [sic] Concert von vielen Instrumenten stellt mir wohl das Genus eines Affectus vor/ aber noch lange nicht dessen Speciem, die ich gerne wollte movirt wissen. z. e. Ich höre etwas lustiges/ ich weiß aber nicht worüber ich soll lustig seyn.“27 Der Spener-Anhänger Martin Heinrich Fuhrmann richtet seine Kritik an der Affekt-Verwechselbarkeit auf 25 26

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Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Bd. 1. Berlin 1753, S. 122. Jürgen Heidrich: Der Meier-Mattheson-Disput. Eine Polemik der deutschen protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse); Julian Heigel: „Es bleibt ein Affect/ nur daß die Objecta variren“. Zum historischen Diskurs der Affektion durch geistliche Musik im frühen 18. Jahrhundert. In: Iris Cseke u.  a. (Hg.): produktion – Affektion – rezeption. Tagungsband zum interdisziplinären Symposium für Nachwuchswissenschaftler im Rahmen des Promotionsprogramms ProArt der LMU München. München 2014, S. 139–152. Gottfried Ephraim Scheibel: Zufällige Gedancken Von der Kirchen=Music, Wie Sie heutiges Tages beschaffen ist […]. Stuttgart 2002 [ND der Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1721], S. 17  f.

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die Ausführenden, die sowohl in der Kirche als auch in der Oper die gleichen Affekte inszenieren. So bitte die Sängerin morgens um die Führung durch Gott, abends lasse sie sich auf der Opernbühne von ihrem Galan verführen.28 Joachim Meier bezieht sich ebenfalls auf den mangelnden Kontext der Affekte, wenn er in Bezug auf die Textverständlichkeit kritisiert, der Zuhörer könne nichts finden, „worauf er seine Attention und Andacht gründen könne.“29 Weil unbedingte Textverständlichkeit die erste Bedingung für eine sachgerechte Entschlüsselung des Affekts ist, geht es im Kantatenstreit unter anderem darum, welcher musikalischen Ausformung man mehr Textverständlichkeit zuschreiben kann: Meier spricht sich für die biblischen Dicta der Motetten aus, weil diese den Zuhörern bekannt seien,30 Mattheson verweist dagegen auf die monodische Faktur der Kantate, die im Hinblick auf die Textverständlichkeit gegenüber der polyphonen Motette im Vorteil sei.31 Die Diskussion um die mangelnde Textverständlichkeit produziert eine Hermeneutik des musikalisch erzeugten Affekts, die sich nicht allein am Musiktext orientiert, sondern andere Ebenen des Verstehens einbezieht. Bereits um die Wende zum 18. Jahrhundert prangert der Dresdner Pfarrer Christian Gerber die kirchliche Figuralmusik unter anderem wegen der fehlenden Textverständlichkeit an. Sein Widersacher, der Kantor Georg Motz aus dem entfernten Tilsit, räumt in seiner Schrift mit dem programmatischen Titel Die Vertheidigte Kirchen=Music zwar grundsätzlich ein, dass die Texte der figuralen Kirchenmusik in den halligen Kirchenräumen teilweise schwer zu verstehen seien, er betont aber, dass eine absolute Textverständlichkeit für die Aufnahme der Affekte nicht notwendig sei: Wenn bey einer geistlichen Music die auditores nicht alles verstehen können/ so ist es schon genug wenn sie von dem Wohlklang gute Gedancken schöpffen/ und bey sich gedencken: Haec si contingunt terris quae gaudia coelo? Wann solche Freude ist auf Erden. Was wird für Freud im Himmel werden?32

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[Martin Heinrich Fuhrmann:] Die an der Kirchen GOttes gebauete Satans=Capelle […]. Cölln am Rhein [1729], S. 80. Joachim Meier: Der anmaßliche Hamburgische Criticus Sine Crisi Entgegen gesetzet dem so genannten Göttingischen Ephoro Joh. Matthesons, Und dessen vermeyntlicher Belehrungs Ungrund in Verthädigung der Theatralischen Kirchen=Music […]. [Lemgo 1728], S. 150. [Joachim Meier:] Unvorgreiffliche Gedancken über die Neulich eingerissene Theatralische Kirchen=Music und Denen darinnen bishero üblich gewordenen Cantaten […]. [o.O.] 1726, S. 65  f. Mattheson antwortet auf Joachim Meiers Schrift Unvorgreiffliche Gedancken: „Mich wundert nichts so sehr, als daß pag. 59. der Unvorgreifflichen Gedancken dargethan werden will, und zwar ohne den geringsten Schatten eines Beweises, daß die Sprüche Heil. Schrifft besser, als die Cantaten, verstanden werden können; da man mir doch kein eintziges Exempel von alten Componisten zeigen kann, welches nicht vielstimmig, fugirt und verwirret, einfolglich viel schwerer zu verstehen sey, als eine einstimmige Cantate“; Mattheson: Ephorus (wie Anm. 19), S. 91 (u. ähnlich S. 80). Georg Motz: Die Vertheidigte Kirchen=Music, Oder Klar und deutlicher Beweis/ Welcher Gestalten Hr. M. Christian Gerber/ […] in seinem Buch/ welches Er Unerkandte Sünden der Welt nennet/ In dem LXXXI. Cap. da Er von dem Mißbrauch der Kirchen=Music geschrieben […] zu weit gegangen. [o.O.] 1703, S. 74  f.

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Die Aneignung des durch Musik vermittelten Affekts bedarf nach Motz keines erklärenden Musiktextes, sondern lediglich eines Kontextes, der auf das Geistliche verweist. Sehr ähnlich argumentiert rund 25 Jahre später Mattheson für die kunstvolle Instrumentalmusik, deren Gesetzmäßigkeiten nicht bekannt sein müssten, damit sie ihre affekthafte Wirkung entfalte und die Erbauung befördere: „Summa, es gereichen alle Dinge, auch die wir nicht verstehen, noch begreiffen, dennoch ad majorem DEI gloriam“.33 Zur musikalischen Affizierung braucht es nach Mattheson keine kognitive Leistung, weder muss der Text mitvollzogen, noch die musikalische Faktur verstanden werden. Diese nichtrationale Wirkungsweise löst jedoch die Notwendigkeit einer Auslegung des musikalisch erzeugten Affekts nicht auf, sondern stellt sie dem einzelnen Zuhörer anheim: GOtt loben aber kann wol so wenig ohne Andacht seyn, daß, wenn ihrer tausend auch lauter gravitätische, ehrbare und emphatische Lieder singen oder spielen, und dencken nicht an das, was sie thun (wie leider fast alle unsre Sänger, die noch drüber lachen, wenns ihnen pro Concione vorgehalten wird) so lobet doch ihrer kein eintziger den wahren GOtt.34

Weder die stilistische Ausformung der Musik noch der Text dienen laut Mattheson dazu, eine Musik zu einer geistlichen zu machen, sondern allein die innere Haltung des Zuhörers. Von dessen Aufnahmefähigkeit oder emotionalem Einfühlungsvermögen hängt es ab, ob eine Musik als erbauend oder anstößig zu gelten hat. Matthesons abschließendes Fazit klingt dementsprechend fast wie das eines Pietisten: „Daher ist keine Andacht ohne Lob, und kein Lob ohne Andacht, bey frommen Seelen und Hertz=Christen.“35 Die Idee, dass die innere Verfasstheit des Hörers zur Legitimationsgrundlage und zum Deutungsinstrument für Musik wird, findet sich gleichfalls in den wenigen musikbezogenen Aussagen der Halleschen Pietisten.36 Auch dort wird die Deutung des musikalischen Affekts von der inneren Verfasstheit des Singenden abhängig gemacht. Gemäß dem paulinischen Diktum aus dem Titusbrief Den Reinen ist alles rein; den Unreinen aber und Ungläubigen ist nichts rein (Tit 1,15) entscheidet eine fundamentale Glaubenseinstellung des Einzelnen, wie dessen Handlungen zu bewerten sind. Exemplarisch sei Johann Anastasius Freylinghausens Vorrede zu seinem berühmten Gesangbuch angeführt, in der das Vermögen, Musik als Schaden oder Nutzen anzuwenden, von der Frömmigkeit des Einzelnen abhängig gemacht wird: Im übrigen schicket sich nicht ein ieglicher Gesang auf einen ieglichen Sänger/ ohne Unterscheid. Der unbußfertige und fleischliche Mensch mag gar nicht also singen/ daß es GOtt gefalle/ so lange er von der Ungerechtigkeit nicht begehret abzutreten/ sondern die Finsterniß mehr liebet

33 34 35 36

Mattheson: Ephorus (wie Anm. 19), S. 91. Mattheson: Patriot (wie Anm. 18), S. 221. Ebd., S. 222. Heigel: „Vergnügen und Erbauung“ (wie Anm. 1), S. 96–109.

Julian Heigel

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als das Licht […]. Wer GOTT in der Wahrheit suchet/ er mag nun erst anfangen/ oder allbereit einen rechtschaffenen Grund darzu geleget haben/ kan/ wie erhörlich und GOTT=gefällig beten/ also auch singen.37

*** Abschließend seien noch einmal die Grundthesen dieses Beitrags knapp zusammengefasst: Die Halleschen Pietisten bedienen sich eines spezifischen Affektkonzepts, mit dem sie das Musizieren oder das Hören von geistlicher Musik als Gottesdienst deuten. Die Musik gilt als Mittel zur gewünschten geistlichen Affizierung, die darüber legitimiert wird, dass sie von der unerwünschten Affizierung abgegrenzt wird. Dabei wird die Affizierung über die Sinne explizit aufgewertet, sofern sie ins Geistliche gewendet ist. Grundlegend für diesen Vorgang ist die Moralität des Affizierten, von dessen religiösem Reifegrad beziehungsweise ‚Gnadenstand‘ es abhängt, ob die geistlichen Affekte als solche aufgenommen werden können oder nicht. Die Fokussierung auf die innere Einstellung des Affektträgers ist auch für die Deutung von Kirchenmusik relevant. Die Frage, ob Musik erbauend oder anstößig ist, richtet sich nun nicht nach ihrer stilistischen Ausformung, sondern nach der inneren Haltung des Einzelnen, der gemäß seinem Gnadenstand dazu befähigt ist, die geistlichen Affekte sowohl als Musiker wie als Zuhörer zu produzieren. Beide geraten damit stärker ins Blickfeld, weil sie aktiv an der Sinngebung des musikalischen Affekts beteiligt sind. Diese subjektbezogene Deutung von Musik wird sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer zentralen musikalischen Hermeneutik weiterentwickeln; in den musiktheologischen Diskussionen um die Legitimation theatraler Formen in der Kirchenmusik scheint sich diese Entwicklung bereits anzubahnen.

37

Johann Anastasius Freylinghausen: Geist=reiches Gesang=Buch/ Den Kern Alter und Neuer Lieder/ Wie Auch die Noten der unbekannten Melodeyen […]. 3. Aufl. Halle 1706, Bl.):():([1]v und f.

Gunilla E schenbach

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien und Johann Friedrich Helbigs Kantatenjahrgang Auffmunterung zur Andacht (beide 1720) Gott ist unseren Sinnen nicht zugänglich. Alle Aussagen, die wir über Gott und göttliche Dinge treffen, sind vom Geschöpf her gedacht.1 Diese notgedrungen anthropozentrische Perspektive spiegelt sich in den zahlreichen metaphorischen Aussagen der Bibel von Gott. Metaphern wie diejenigen von Gott als Burg, als Fels, als Richter etc. haben nicht den Anspruch, Gottes eigentliches Sein sprachlich zu erfassen. Metaphorisches Sprechen über Gott ist aber geeignet, auszudrücken, was Gott für uns ist. Denn Metaphern zeichnen sich generell dadurch aus, dass sie keinen Sachverhalt ausdrücken, sondern die propositionale Einstellung einer Person P in Bezug auf einen Gegenstand G. Sie setzen G und die Empfindungen, Wertungen, Wünsche und Glaubensinhalte von P, seine Einstellungen also, miteinander in Bezug. Dabei bewegen sie sich auf der intentionalen Ebene von Einstellungssätzen: Die Bedeutungsebene, also die Ebene, auf der entscheidbar ist, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, ist bei Metaphern ‚leer’. Nehmen wir zum Beispiel den Beginn des Lutherlieds „Ein feste Burg ist unser Gott“. Dieser Satz ist keine Identitätsbehauptung, obwohl sie auf einer formalen Ebene die Struktur Burg=Gott hat, sondern möchte besagen, dass P gegenüber beiden Gegenständen dieselbe Einstellung hat, d.  h. sich von Gott beschützt fühlt. Dass Luther genau die bergenden und trutzenden Eigenschaften einer Burg in seinem Lied aktualisieren will, ist textimmanent durch weitere Metaphern wie „ein gute Wehr und Waffen“ sowie durch das Wissen über Gott in der christlichen Überlieferung verbürgt. Indem P1 (hier: der Liedverfasser Luther) die Burg-Metapher verwendet, will sie einen Adressaten P2 dazu bringen, dieselbe Haltung gegenüber dem prädizierten Gegenstand einzunehmen. Würde man die Aussage als nicht-metaphorische Prädikation Gottes missverstehen, so ließe sich freilich immer noch nicht entscheiden, ob sie wahr oder falsch ist, weil ihre Referenz unbekannt ist: G ist transzendent. Dasselbe gilt für alle nicht-metaphorischen Aussagen über Gott als seiend, gut, gerecht etc. Sie können nicht für wahr oder falsch, sondern allenfalls für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich im Abgleich mit den Wissensbeständen der christlichen Offenbarung aufgefasst werden. Ingolf Ulrich Dalferth spricht diesbezüglich von einer „Prädizierbarkeitsproblematik“.2 Eine wichtige Voraussetzung dafür, Aussagen über Gott als wahrscheinlich aufzufassen, ist, dass die Eigenschaftsbehauptungen stimmig 1 2

Für die folgende Argumentation zentral ist Ingolf Ulrich Dalferth: Religiöse Rede von Gott. München 1981. Ebd., Kap. 3.3: „Die Prädizierbarkeitsproblematik“.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-012

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Gunilla Eschenbach

sind. Metaphorische Aussagen über Gott sind dann stimmig, wenn – erstens – die verwendeten Prädikate sich nicht gegenseitig aufheben, also nicht miteinander inkompatible Perspektiven auf den prädizierten Gegenstand einnehmen, und – zweitens – wenn metaphorische und nicht-metaphorische Aussagen miteinander kombiniert werden. Bei einer durchgehend metaphorischen Sprechweise ist es wichtig, dass die Metaphern sich nicht gegenseitig widersprechen, sondern eine einheitliche Perspektivierung von G zulassen. Andernfalls droht die Gefahr der Unstimmigkeit. Eine durchgehaltene metaphorische Ebene ohne nicht-metaphorische Ankerpunkte kann dazu führen, dass ein Text, möglicherweise entgegen seiner Intention, als fiktional und/oder hermetisch aufgefasst wird. Die nicht-metaphorischen Aussagen geben gleichsam den Rahmen vor, in den eine Metapher sich fügt. Eine Beschränkung auf nicht-metaphorische Prädikate – zum Beispiel von Gott als seiend, gut, ewig – wäre theologisch unbefriedigend, weil sie die anthropozentrische Sichtweise ausblendet, ohne die aber Gott nicht gedacht werden kann. Darüber hinaus wäre sie ästhetisch unbefriedigend, weil sie ohne den produktiven Sinnüberschuss auskommt, der die Metapher so attraktiv macht. Das erkenntnistheoretische Problem der NichtÜberprüfbarkeit der Gottesprädikate wird von Metaphern entschärft, indem sie beim menschlichen Dafürhalten bleiben. In einem vertonten metaphernhaltigen Text kann die Musik diese Tendenz verstärken, indem sie einen unmittelbare Evidenz erzeugenden ästhetischen Rahmen bereitstellt, innerhalb dessen metaphorische Aussagen über Gott als stimmig und glaubwürdig erscheinen. Metaphern wie die oben genannten von Gott als Burg, Amme oder Richter implizieren eine grundsätzliche Erfahrbarkeit Gottes. Das macht sie für die christliche Meditations- und Erbauungsliteratur sowie für die christliche Dichtung im Allgemeinen so attraktiv. Eine Textvertonung kann diesen Effekt auf den Hörer verstärken, da auch die Musik – wie die Metapher – auf eine emotionale, unbegriffliche Beglaubigung göttlicher Wahrheiten setzt. Sie ist nicht nur der Rahmen einer Metapher, der ihr Stimmigkeit verleiht, sondern auch ihr erster Interpret, indem sie eine bestimmte Richtung vorgibt, wie die Metapher zu verstehen sei. Vor diesem Hintergrund mutet es überraschend an, dass Daniel Georg Morhof im Unterricht von der teutschen Poesie (1682) bei „Liedern/ die gesungen werden“ ein ‚Metaphernverbot’ erteilt. In Morhofs Argumentation spielen ausschließlich aufführungspragmatische Aspekte eine Rolle: Ich wolte auch davor halten/ daß man zwar außerlesene Wörter in den Liedern/ die gesungen werden/ aber keine gar hohe und Metaphorische Redensarten/ gebrauchen solle. Denn/ wenn die Wörter nicht verständlich sind/ daß man zugleich mit dem Thon den vollkommenen Verstand der Wörter haben kan/ so hat solches keine Krafft in Bewegung der Gemüther.3

3

Daniel Georg Morhof: Unterricht von der teutschen Poesie. Bad Homburg, Berlin u. Zürich 1969 [ND der Ausg. von 1700], S. 643.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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Morhof warnt an dieser Stelle vor dem Szenario, dass Metaphern wirkungslos bleiben, wenn ihre Fähigkeit zu emotionalisieren und die „Gemüther“ zu affizieren verpufft. Der hierbei springende Punkt ist die Strophenform. Sie nötigt P1 (Sänger) dazu, weiterzusingen, auch wenn P1 selbst oder P2 (Hörer) den Sinn der Worte nicht versteht. Das zeitliche Korsett des musikalischen Ablaufs verhindert, dass P1 und P2 den uneigentlichen Sinn einer Metapher erfassen. Daher erklärt Morhof komplexe sprachliche Wendungen und namentlich die Metapher als ungeeignet für das Lied. Die Möglichkeit, dass Musik dem intuitiven Begreifen einer Metapher aufhelfen könne, zieht Morhof nicht in Erwägung; sie ist in der Form des mensurierten Kirchenlieds oder der liedhaften, metrisch regulierten Strophenaria auch begrenzt. Die Kantatenform des Neumeister-Typs ermöglicht nun aber Komponisten leichter die Vertonung metaphernhaltiger Texte. Die Aufeinanderfolge von Bibeltext, freiem Rezitativ und Arie – zumal der Da-capo-Arie – ermöglicht die interpretierende Entfaltung schwer verständlicher Aussagen und die Ausgestaltung der propositionalen Einstellung, von der P1 (die gläubige Seele, Christus etc.) aus eine metaphorische Zuschreibung trifft. Das gilt sowohl für den Textdichter als auch für den Komponisten. Ersterer hat vor allem in den rezitativischen Formteilen die Möglichkeit, Metaphern, die zum Beispiel im vorhergehenden Bibeldictum oder im Choral vorkommen, argumentativ aufzugreifen. Laut Christian Weise erlaubt es der madrigalische Vers, wie er in Rezitativen angewandt wird, „curieuse Gedancken“ und „unterschiedene meditationes“ im Text anzubringen.4 Im Rezitativ können Metaphern – im Dienste der oben erwähnten Stimmigkeit – um nicht-metaphorische Aussagen ergänzt und diskursiviert werden. In den Arien wiederum kann ein emotionaler Rahmen aufgespannt werden, der eine im Text vorkommende Metapher glaubhaft verstärkt. Einem Komponisten stehen mit der Kantatenform zudem zahlreiche Optionen zur Verfügung, um metaphorische Textaussagen zu deuten. Durch Textwiederholungen, obligat konzertierende Instrumente, Vor- und Zwischenspiele, Melismen, Dehnungen, Choralzitate und vieles mehr können Metaphern akzentuiert und interpretiert werden. Dadurch kann P2 (Hörer) bei einem einzelnen Wort und in einer bestimmten emotionalen Situation verweilen. Die Kantatenform ermöglicht demnach, anders als die Liedform nach Morhof, den Einsatz von Metaphern. Diese stehen nicht mehr als erratische Blöcke im Text, sondern geraten in Fluss und werden in eine übergeordnete Emotionalität eingebettet. Auf diese Weise kommen sie auch dem Stilempfinden des frühen 18. Jahrhunderts entgegen.5 Christian Friedrich Hunold, der in seinen Kantatentexten viele Metaphern verwendet, verteidigt ihren Gebrauch:

4 5

Christian Weise: Curieuse Gedancken von Deutschen Versen. Leipzig 1692, S. 422  f. Vgl. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 385.

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Gunilla Eschenbach

Ich gebe gern zu/ daß/ wenn man in seinen Arien die galanterie artig ausdrücket/ solche vor gut passiren. Doch nach Beschaffenheit der Sache wird ein nettes Gleichniß/ eine nachdrückliche Sentenz, eine geschickte Metaphora, allegorie und dergleichen überaus wohl in Arien angebracht. Galante Arien sind schön; Allein galante und scharffsinnige zugleich sind schöner.6

Nach eben diesem Muster verfährt Hunold in seinen eigenen Kantatentexten. Er vermeidet Metaphernhäufung und achtet darauf, dass – beim Einsatz mehrerer Metaphern – diese aus kongruenten Bildbereichen stammen und ein und dieselbe Perspektive auf den prädizierten Gegenstand einnehmen. Metaphorische Aussagen werden in einer nicht-metaphorischen Textumgebung gedanklich reflektiert (dies vor allem in den Rezitativen). Die Kombination von Rezitativ und Da-capo-Arie in der Kantatenform erlaubt es also, länger beim einzelnen metaphorischen Ausdruck oder in der von ihm intendierten emotionalen Situation zu verweilen. Mit Rambach und Helbig werden im Folgenden zwei Librettisten von Kantatenjahrgängen vorgestellt, die sehr unterschiedlichen Gebrauch von Metaphern machen. Johann Jacob Rambach, hallescher Theologe und Lieddichter, veröffentlicht 1720 den Kantatenjahrgang Geistliche Poesien. Johann Friedrich Helbig, Regierungsbeamter in Eisenach, gibt im selben Jahr die Poetische Auffmunterung zur Andacht heraus.7 In ihren Vorreden kündigen Helbig und Rambach ihre jeweiligen Zielsetzungen an. Rambach möchte „eine Sache natürlich und beweglich in gebundener Rede vor[…]stellen“ und „das Hertz rühren“.8 In seiner Vorrede dankt er Christian Friedrich Hunold, dass er ihn hinsichtlich der Kantatenform beraten habe, womit der Wunsch verbunden ist, höchsten ästhetischen Ansprüchen gerecht zu werden. Helbig hingegen möchte „keine eitle so genandte poetische Zierligkeiten“ bringen, sondern „Christlich[e] Einfalt“9 walten lassen. Seine Dichtung folgt dem Ideal des stilus humilis der lutherischen Predigt. Sowohl Helbig als auch Rambach verwenden die Mischform des Neumeister-Kantatentypus mit Dictum, Arie, Rezitativ und Choral. Während Rambach die Abfolge variiert, damit „der Leser durch eine angenehme Abwechselung vergnüget würde“,10 hält sich Helbig an die feste Reihenfolge Dictum – Arie – Rezitativ – Arie – Choral. Rambachs Kantatenjahrgang enthält viele Dialoge, auch einige Echo-Arien baut er ein; die einzelnen Elemente kombiniert er zuweilen so, dass er rezitativische Passagen mit Dictum, Aria oder Choral mischt. Manchmal werden auch die Bibeldicta aufgespalten und ins Rezitativ integriert, so  6  7

 8

 9 10

Christian Friedrich Hunold: Theatralische, Galante Und Geistliche Gedichte. Hamburg 1706, S. 24. Von dem Kantatenjahrgang erschienen zwei Textdrucke. Grundlage dieses Aufsatzes ist ein digitalisiertes Exemplar der Universität Jena [VD 18 13202375-001]: Johann Friedrich Helbig: Poetische Auffmunterung Zur Sonn- und Fest-Täglichen Andacht, durchs gantze Jahr. Eisenach 1720. Johann Jacob Rambach: Geistliche Poesien, Davon Der erste Theil Zwey und siebenzig Cantaten über alle Sonn- und Fest-Tags-Evangelia; Der andre Theil Einige erbauliche Madrigale, Sonnette und Geistliche Lieder in sich fasset. Halle 1720, S. 11. Helbig: Poetische Auffmunterung (wie Anm. 7), Vorrede, unpaginiert. Rambach: Geistliche Poesien (wie Anm. 8), S. 13.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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dass sie als Antwort der göttlichen Stimme auf Fragen der gläubigen Seele erscheinen. Während Helbig zumeist ältere Choräle des 16. Jahrhunderts verwendet – Lieder wie Johann Flittners „Jesu meines Herzens Freud“ bilden die Ausnahme –, greift Rambach auf aktuelle Lieder zurück. Helbig will den Leser bzw. Hörer rational belehren und moralisch erziehen, Rambach zielt auf die emotionale und ästhetische Ansprache des Adressaten. Entsprechend fällt der Metapherngebrauch beider Autoren aus. Dort, wo sie ein und dieselbe Metapher verwenden, treten die Unterschiede deutlich hervor. Dies gilt etwa für die Metapher von Jesus als Licht. Sie steht im Zentrum des Dictums von Helbigs Kantate zum Dreikönigsfest: „Christus ist das wahrhafftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“ (Joh. 1,9). Durch das Beiwort „wahrhafftig[…]“ und den Adressatenkreis „alle“ wird ein totaler Wahrheitsanspruch eingeführt, welcher der metaphorischen Prädikation im Modus des Einstellungssatzes entgegensteht. Helbig greift diese theologische Objektivierung und Bedeutungsverengung der Licht-Metapher auf, wenn er im Rezitativ dichtet: „Soll nun das ewge Licht uns zu den [sic] Himmel führen;/ So lasst uns von selben beständig regieren.“11 Das Beiwort ‚ewig’ ist vergleichsweise neutral. Etwaige emotionale Konnotationen von Licht werden dadurch ausgeschaltet. Die Licht-Dunkel-Metaphorik wird von Helbig in dieser Kantate – im Einklang mit seiner den gesamten Jahrgang bestimmenden Bußthematik – auf den Gegensatz von christlichem und sündigem Lebenswandel bezogen. Entsprechend redet P in der ersten Arie Jesus als „der Seelen Morgenstern“ an, der „die dunckle Sünden=Nacht“ im Herzen beende. Ebenso wie ein „ewge[s] Licht“ ist auch das Licht des Morgensterns sternenweit vom irdischen Erleben des Ichs entfernt. Diese theologische Haltung wird im nachfolgenden Rezitativ durch den Hinweis auf die verstockten „Gergesener“12 untermauert, die Jesus ablehnen, obwohl sie unmittelbare Zeugen von Gottes Heilswirken sind. Nur an einer Stelle, in der zweiten Arie, redet das Sprecher-Ich Jesus mit „mein Licht“ an und deutet damit eine Emotionalisierung der Lichtmetapher an. Doch sogleich mündet diese im nachfolgenden Finalsatz in Helbigs Generalthema: „Bleib mein Licht,/ Damit ich nicht/ Mit der Welt im finstern walle“.13 Helbigs Verfahren, Metaphern zu vereindeutigen, steht in Einklang mit der rationalistischen Poetik der Zeit. In der fiktiven „Unterredung Zwischen einem Professor und Untergeben“ in Christian Weises Curieusen Gedancken von Deutschen Versen verfasst ein Schüler unter Anleitung ein Gedicht.14 Als der Schüler eine Licht-Metapher vorschlägt, weist ihn der Lehrer darauf hin, dass der Sinn nicht eindeutig sei: „Licht ist ein allegorisch Wort/ wir wollen ein Synonymum in significatione propria darzu setzen: Licht und Ruhm, so wird es deutlicher 11 12

13 14

Helbig: Poetische Auffmunterung (wie Anm. 7), S. 20. Es handelt sich um denjenigen Menschenschlag, bei dem Jesus zwei Besessene von Dämonen heilt und diese in eine Schweineherde fahren lässt, woraufhin die entsetzte Bevölkerung ihn bittet, die Gegend zu verlassen (Mt. 8,28–34). Helbig: Poetische Auffmunterung (wie Anm. 7), S. 21. Weise: Curiöse Gedancken (wie Anm. 4), 2. Teil, S. 86–108.

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werden.“15 Wenn Helbig vom göttlichen Licht spricht, präzisiert er in gleicher Weise sein Anliegen. Er will verdeutlichen, dass es ihm um die rationale Erkenntnis des Guten geht und nicht darum, dass P Gott sinnlich erfährt. Rambach arbeitet hingegen sprachlich die Proposition der Einstellung des Sprechers heraus. In seiner Kantate zum 2. Pfingsttag macht er die Bedeutungsoffenheit von Metaphern, darunter auch die Licht-Metapher, ästhetisch produktiv. Die Kantate beginnt mit einem Choral. Anschließend wird in einem Bass-Rezitativ, welches eine immer wieder neu ansetzende Sopranarie unterbricht, das theologische Problem der Nichterkennbarkeit Gottes verhandelt. Durch den Sohn, so die von P1 (Sopran) vertretene Perspektive, wird Gott für den Menschen erfahrbar. Anstelle eines wörtlichen Dictums wird der Bibeltext in einer Arie paraphrasiert. Es handelt sich um den bekannten Bibelvers Joh. 3,16 („Also hat Gott die Welt geliebt […]“). Nach anfänglichem Widerstreben lässt sich P2 (Bass) auf diese Perspektive ein. Im Bassrezitativ verwendet Rambach zunächst Metaphern, die die Unsicherheit und Verzagtheit von P2 spiegeln. Der Versuch, „der Gottheit Tiefe“ mit dem menschlichen Verstand zu durchdringen, scheint P2 vergeblich: „Auf diesem weiten Meer/ Wanckt meiner Sinnen Schiff zu sehr“. Am Ende des freimadrigalischen Rezitativs finden jedoch die Perspektiven von P1 und P2 auf Gott und die Welt zueinander. Dies zeigt sich u.  a. darin, dass die von den beiden Sprechern verwendeten Metaphern einander nicht widersprechen, sondern ein kongruentes Bild ergeben: Am andern Pfingst=Feyertage […] Aria Canto. Also… Recit. Basso. Halt ein! Also hat… Halt ein, halt ein! Verwegner Mund, was wilstu sagen? Befleckte Lippen, wolt ihr euch, An Nachdruck arm, an Ohnmacht reich, Bis in der Gottheit Tiefe wagen? O Zunge, kommt dich nicht ein Stottern an? Doch sage, was hat GOtt gethan? Also hat GOtt gel… O Wunder=Wort! Die Sylb.[en] wollen nicht v.[on] meiner Zunge fort: Sie sterben mir selbst auf den Lippen. Auf diesem weiten Meer Wanckt meiner Sinnen Schiff zu sehr, Und stößt an tausend Wunder=Klippen. Doch gebet acht, Vielleicht wird itzt mein Mund von Banden frey gemacht. Also hat GOtt geliebt die Welt, Daß er zu ihrem Heyl und Leben 15

Ebd., S. 96.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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Ihr seinen eignen Sohn gegeben, Und ihn zum Mittler dargestellt. Also hat GOtt geliebt die Welt! Recit. Der Sohn steht selbst entzückt, Wenn er in diesen Abgrund blickt. Wem wunderts, daß der Menschen Sinnen Vom Schwindel übertäubt, zerrinnen? Ach was ist GOtt? was ist die Welt? 1. Er ist ein Paradieß 2. Sie ist ein Dornen=Feld. 1. Er ist ein Licht. 2. Sie Nacht und Schatten. 1. Er ist gerecht. 2. Sie Laster voll. 1. Er weis und klug 2. Sie dumm und toll. 1. 2. Wie können sich zwey so verschiedne Dinge gatten? Wer füllt die Klufft, die beyde trennt?16

Am Beginn der Kantate steht die Erkenntnis, dass Gott den menschlichen Sinnen verschlossen bleibt. Die Lösung dieses Problems, welches die Kantate im Folgenden anbietet, besteht in der göttlichen Liebe, die sich im Sohn manifestiert. Die Liebe, so die zentrale Textaussage, überwindet den Abgrund zwischen Mensch und Gott. Sie ermöglicht eine subjektive Erfahrbarkeit Gottes: „Die füllt die Klufft, so sich dazwischen stellt./ Nun heists: GOtt hat geliebt die Welt.“17 In der folgenden Arie fordert P die „Geister des Himmels“ und die „Bürger der Erde“ auf, die göttliche Liebe zu verehren und zu preisen. Die Emotion der Freude steht im Vordergrund; rationale Erörterungen bleiben den Rezitativen vorbehalten. Im anschließenden Rezitativ unterstreichen die verwendeten Metaphern subtil die Argumente von P: Recit. Nun ist nichts mehr zu thun, Als voller Zuversicht und Glauben In dieser Liebe Schoß zu ruhn. Wer nun die Nacht der Sünden hasset, Und GOttes theuren Sohn Als seinen holden Gnaden=Thron Gebeugt und Glaubens=voll umfasset, Soll nicht verlohren gehen. Sein Glaube soll ein ewig Leben sehen.18

Die Metapher vom „Schoß der Liebe“ akzentuiert die schützende, bergende Qualität der Liebe Gottes. In eine ähnliche Richtung geht das Kompositum „Gnaden=Thron“ als Metapher für Jesus. Mit dem Beiwort ‚hold’ wird das Erstglied ‚Gnaden’ gegenüber dem Bestimmungswort ‚Thron’ aufgewertet und somit die gesamte Metapher mit der von Rambach intendierten emotionalen Qualität eingefärbt. Grimms Wör16 17 18

Rambach: Geistliche Poesien (wie Anm. 8), S. 123  f. Ebd., S. 125. Ebd., S. 125  f.

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terbuch schreibt zur Bedeutung von ‚hold’: „die alte sprache braucht […] das wort in bezug auf die zuneigung des herrn zu seinem untergebenen“.19 Die Metapher zielt also nicht auf Jesus als Herrscher, sondern auf Jesus als einem dem Menschen zugewandten Herrscher. Dem Rezitativ folgt eine Dialogarie zwischen Jesus und dem personifizierten Glauben, in welcher Jesus einige metaphorische Ich-Aussagen trifft, die vom Glauben bestätigend aufgegriffen werden: Aria duetto. […] J. Ich bin dein Licht. J. Ich bin dein Schatz. J. Gl. Uns scheidet nichts.

Gl. Ich will kein anders wissen. Gl. Ich will dich brünstig küssen. J. Ich bin dein                                                                                                          } ewig Theil Gl. Du bist mein20

Göttliche und menschliche Sphäre finden sowohl musikalisch – durch Stimmverschränkung – als auch faktisch zueinander. Die Metaphern, die P1 gegenüber P2 verwendet, um seine Einstellung gegenüber dem adressierten Du auszudrücken, „Ich bin dein Licht“ und „Ich bin dein Schatz“, transportieren einen Überschwang positiver Emotionen. Die erste Selbstaussage greift die weiter oben im Kantatentext vorgenommene Gottesprädikation „Er ist ein Licht“ auf. Diese eher allgemeine Aussage steht dort im Kontext der Aussagen: „Er ist gerecht“ und „Er [ist] weis und klug“. Sie bleiben aber ohne expliziten Bezug auf ein menschliches Du. Mit der IchAussage Jesu „Ich bin dein Licht“ erhält die Lichtmetapher eine neue Perspektive, die sehr direkt die Beziehung zum Menschen artikuliert. Insofern passt die auf diese Weise modifizierte Lichtmetapher zur Kernaussage der Kantate, dass der Sohn die Brücke bildet zwischen Gott und Mensch. Das göttliche Licht wird dem Menschen erst durch den Sohn erfahrbar; daher treten erst am Schluss der Kantate im Dialog der gläubigen Seele mit Jesus die emotionalen Konnotationen der Lichtmetapher hervor. Auf diese Weise passt Rambach die Metaphern subtil der narrativen Dramaturgie des Kantatentexts an. Helbig, in dessen Kantatenjahrgang der Aufruf zur Buße dominiert, betont aufgrund dieser Thematik indes die Kluft zwischen Mensch und Gott. In der Kantate zum Sonntag nach Weihnachten besagt das Dictum Jes. 8,14–15, dass der Messias ein „Stein des Anstoßens und ein Felß der Ärgerniß“ sei.21 Helbig dichtet in der ersten Arie: „Christi Kreutz ist falschen Christen/ Ein erschrecklich Ärgerniß“.22 Mit der Metapher vom Kreuz deutet Helbig an, dass die Nachfolge Christi mit Leiden verbunden ist, und erläutert damit, worin das Anstößige an der Botschaft Jesu besteht.

19 20 21 22

Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: hold (adj.). In: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Bd. 10 (1877), Sp. 1733. Rambach: Geistliche Poesien (wie Anm. 8), S. 126. Helbig: Poetische Auffmunterung (wie Anm. 7), S. 14. Ebd.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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Außerdem präzisiert er, dass es die Schein-Christen sind, welche diese negative Per­ spektive auf Jesus einnehmen. Im Zentrum der zweiten Arie steht eine Lichtmetapher, die sich stark von der metaphorischen Prädikation „Ich bin dein Licht“ bei Rambach unterscheidet. JEsu, Licht, der gantzen Welt, Strahl’ in unsre finstre Hertzen. Hilff, daß wir behutsam handeln Und in deinem Lichte wandeln. Laß uns nicht das Heyl verschertzen, Welches du uns vorgestellt. JEsu, Licht, der gantzen Welt, Strahl’ in unsre finstre Hertzen.23

Das Licht Jesu wird in dieser Arie keinem individuellen Du, sondern einer Totalität („der gantzen Welt“) zugesprochen. Während in der eben zitierten „Aria duetto“ von Rambach P keine Alternative zum Licht kennt („Ich will kein anders wissen“), befindet sich P in dieser Arie noch im Zustand der Sünde. Das Licht Jesu gilt zwar der ganzen Welt, erhellt sie aber nur dann, wenn dem eine Entscheidung von P zur Buße und zur Nachfolge Christi vorausgeht („Hilff, daß wir behutsam handeln/ Und in deinem Lichte wandeln.“). Rambach betont die emotionalen Konnotationen der Licht-Metapher, die in Helbigs Kantatentext völlig unter den Tisch fallen. Bei ihm steht die Licht-Dunkel-Metaphorik allein für den Gegensatz zwischen wahrem und falschem Christentum und hat eine rein didaktisch-belehrende Funktion. Während P bei Rambach von der Nahpräsenz des Geliebten erfüllt ist, ist P bei Helbig (noch) von G getrennt, wie die nachfolgende Metapher vom finsteren Herzen unterstreicht. Helbigs Verfahren, eine Metapher wie auch diejenige vom Stein des Anstoßes für Jesus umgehend auf ihren theologischen Sinn hin zu deuten und damit den poetischen Möglichkeitsraum zu ignorieren, den sie gerade in ihrer semantischen Offenheit bereithält, erinnert an die Textbearbeitungsverfahren pietistischer Gesangbuchherausgeber. Als Beispiel diene hierfür Heinrich Müllers geistliches Lied „Er führet mich in den Wein=Keller“ aus der Geistlichen Seelenmusik (1659). Müller baut das aus der Tradition der Erlebnismystik bekannte Bild von der Einführung in den Weinkeller als Metapher für die unio mystica zu einer sich über den gesamten Liedtext erstreckenden Allegorie aus. Der Schlüssel zur ‚eigentlichen’ Bedeutung ist mit der Überschrift gegeben, die den entsprechenden Hoheliedvers Cant. 2,4 („Er führet mich in den Weinkeller“) zitiert. Im Liedtext selbst enthält sich Müller jeglicher Metaphorik. Er tut dies aber nicht, indem er unmetaphorisch spricht, sondern indem er die metaphorische Ebene des Themas durchhält, so dass es keine logischen Falschaussagen im Text gibt, die einem unmittelbaren Verständnis entgegenstünden. Auf diese Weise umgeht

23

Ebd., S. 15.

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Gunilla Eschenbach

er das von Morhof diskutierte Problem metaphorischer Aussagen in Liedtexten und schöpft gleichzeitig das ästhetische Potenzial der mystischen Weinkeller-Metaphorik aus: Wie schmeckt es so lieblich und wol! Wie bin ich so trunken und voll! O selige Stunden! Nun hab ich empfunden, Was mich erfreuen und sättigen soll. Wie hat mich mein Jesus erquickt, Und an seine Brüste gedrückt! Wie reichlich beschenkt, Mit Wollust getränkt! Wie lieblich bis in den Himmel entzückt! O bin ich doch nun nicht mehr mein! Denn was ich bin, ist alles sein. Mein lieben und hassen Hab ich ihm gelassen: Alles wirckt in mir sein kräftiger wein.24

Wie sich zeigt, entfaltet die im gesamten Text durchgehaltene Quasi-Realität der Weinkeller-Metapher ein starkes ästhetisches Eigengewicht. Die ‚dichte Beschreibung’ von Sinnenrausch und seliger Wollust ist so überzeugend, dass sie P2 davon abhält, den Transfer zum ‚eigentlich Gemeinten’ zu vollziehen. Auf diese Weise wird die Metapher stimmig und zwar nicht, indem sie in eine nicht-metaphorische Umgebung eingebettet und dadurch erklärt würde (wie oben als erste Voraussetzung für eine ‚wahrscheinliche’ metaphorische Prädikation angeführt), sondern indem sie sich ganz auf einer fiktionalen Meta-Ebene einrichtet. Die propositionale Einstellung von P wird auf diese Weise nicht nur punktuell durch den metaphorischen Einstellungssatz eingeführt, sondern erstreckt sich über den gesamten Liedtext. Die Metapher des Weinkellers steht nicht als ein semantischer Fremdkörper im Text, sondern wird in den Paratext der Liedüberschrift ausgelagert. Sie und weitere mystische Metaphern mit derselben Perspektive auf Jesus wie die von der geistlichen Trunkenheit (Str. 1), von den Brüsten Jesu (Str. 2) oder vom göttlichen Wein (Str. 3) werden im Text scheinbar in ihrem Literalsinn verwendet. Indikatoren für uneigentliche metaphorische Rede fehlen: Es findet weder eine präzisierende Festlegung des Sinns einer Metapher direkt im Text statt, wie etwa bei Helbig, noch erscheinen die Metaphern in einem buchstäblichen Sinn als falsch. So wird innerhalb des Liedtextes nicht deutlich, dass die Umarmung durch Jesus und die Brüste Jesu, die Sättigung und die Trunkenheit, die Entzückung und der Wein einen uneigentlichen, mystischen Sinn haben. Das Wörtlich-Nehmen dieser Metaphern und die präsentische Art der 24

Heinrich Müller: Geistliche Seelen-Musik Bestehend In Zehen Betrachtungen und vier hundert außerlesenen […] Gesängen. Frankfurt 1684 [unveränd. ND der 2. Aufl. v. 1668], S. 160  f.

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Darstellung führen dazu, dass P2 ohne den Umweg einer Entschlüsselungsleistung direkt in die Empfindungen von P involviert wird. Durch die Konzentration auf den Geschmackssinn erhält Jesus eine überwältigende Nah-Präsenz. P2 kann im singenden oder hörenden Nachvollzug an der geistlichen Realität der unio mystica teilhaben. Wenn P2 diese Perspektive auf Jesus nicht teilt, weil ihr eine entsprechende religiöse Voreinstellung fehlt, wird sie diesen Text als fiktional ansehen und rein ästhetisch konsumieren. Diese Rezeption liegt nahe, weil das Wörtlichnehmen und Weiterführen einer Metapher – wie an diesem Textbeispiel ablesbar – zur Erschaffung eines fiktionalen Raumes führt. Da biblische Metaphern jedoch einen religiösen Wahrheitsanspruch haben, wird diese Fiktion je nach Voreinstellung von P2 als göttliche Realität oder als Literatur aufgefasst werden. Vielleicht muss beides auch in gar keinem Gegensatz zueinander stehen: Fiktion ist die dichtende Erschaffung eines Möglichkeitsraums, der die menschliche Realität überschreitet. Sie kann auch einen Möglichkeitsraum für eine religiöse Erfahrung schaffen. Überraschenderweise wird in einer pietistischen Rezeption dieses Lieds von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. Müllers Text wird bei seiner Aufnahme ins pietistische Freylinghausensche Gesangbuch (1704) nämlich stark redigiert. Durch die redaktionellen Eingriffe werden die Metaphern ihrer semantischen Offenheit und ihres ästhetischen Eigenwertes beraubt und auf einen bestimmten theologischen Sinn hin fixiert. Die ersten drei Strophen lauten in der Version des Freylinghausenschen Gesangbuches: O JEsu, mein Bräut’gam! wie ist mir so wohl, dein’ liebe die macht mich gantz truncken und voll: O selige stunden! ich habe gefunden, was ewig erfreuen und sättigen soll! Du hast mich, o JEsu! recht reichlich erquickt, und an die trost=brüste der liebe gedrückt, mich reichlich beschencket, mit wollust geträncket, ja gäntzlich in himmlischer freude verzückt. Nun, Hertzens=Geliebter! ich bin nicht mehr mein, denn was ich bin um und um alles ist dein, mein lieben und hassen hab ich dir gelassen diß alles wirckt in mir dein göttlicher wein.25

25

Hier zitiert nach der Edition: Johann Anastasius Freylinghausen: Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar. Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen zu Halle hg. v. Dianne Marie McMullen u. Wolfgang Miersemann. Band I, Teil 2: Geist-reiches Gesang-Buch (Ausg. Halle 4. Aug. 1708): Text (Lied 396–758; Melodien-Büchlein). Tübingen 2006, S. 656.

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Wortlaut und Metrum sind gegenüber der Vorlage verändert. Müllers Text besteht nicht wie die Bearbeitung aus regelmäßigen daktylischen Vierhebern (Verse 3 und 4 zusammengenommen), sondern ist in sich bewegter, denn die Daktylen sind teils aufund teils volltaktig. In der pietistischen Bearbeitung sind diese metrischen Varianten geglättet. Die Kurzverse (Verse 3 und 4) reimen bei Müller teils männlich, teils weiblich. Die pietistische Fassung sucht durch die Einfügung eines Fugen-e bei „beschenket“ und „geträncket“ hier durchgängig weibliche Endungen zu erzielen. Außerdem ist die thematische Rahmung der Weinmetaphorik in der pietistischen Bearbeitung nicht mehr enthalten, denn die Erklärung der allegorischen Bedeutung erfolgt unmittelbar im Text selbst. In Strophe eins wird zum Beispiel mit der Anrufung „O Jesu, mein Bräut’gam!“ gleich der Urheber der Trunkenheit benannt, während die Frage, ob es sich um eine buchstäbliche oder metaphorisch zu verstehende Trunkenheit handelt, in Müllers Text offen bleibt. Müller spielt durchweg mit einer Pluralität der Verstehensweisen, während die pietistische Bearbeitung gleich im zweiten Vers der Eingangsstrophe herausstellt, dass es ausschließlich Jesu Liebe ist, die den Effekt der Trunkenheit bewirkt. Durch die Erläuterung „ewig“ (Str. 1, Vers 5) wird zudem der präsentische Charakter des Geschehens relativiert. Diese Tendenz setzt sich in den Folgestrophen fort. Strophe zwei der Bearbeitung nimmt die Allegorese der Brüste Jesu in den Text hinein. Die Aussage „trost=brüste“ schränkt die Deutungsmöglichkeiten des Wortes „Brüste“ aus Müllers Vorlage ein. Die erotische Komponente ist abgeschwächt, da die Umarmung von vornherein als eine tröstende und nicht etwa eine sexuell begehrende charakterisiert ist: Die Vorlage lässt auch diese Verstehensmöglichkeit offen. Der Schlussvers der dritten Strophe schließlich ersetzt die Bezeichnung „kräftiger Wein“ der Vorlage, in der das Adjektiv „kräftig“ eine geschmackliche Eigenschaft des Weins benennt, durch „göttlicher wein“. Die sinnliche Geschmacksqualität des Weins wird durch ein Abstraktum ersetzt, das wiederum die hermeneutische Entschlüsselungsleistung eines Rezipienten vorwegnimmt. Die durchgängige Hineinnahme der Auslegung in den Text selbst führt dazu, dass er wörtlich verstehbar ist und ein unmittelbares Textverständnis nicht durch die Notwendigkeit, Metaphern und Bilder zu dekodieren, behindert wird. Die gedankliche Dekodierungsleistung wird dem Rezipienten abgenommen. Doch das erfolgt um den Preis der Sinnlichkeit. Bei Müllers Text ist eine wortwörtliche Rezeption ebenfalls möglich, aber aus dem entgegengesetzten Grund, weil keine Indikatoren für uneigentliche Rede ein naives Textverständnis hemmen, welches sich völlig auf die fiktionale Darstellungsebene einlässt. Während P (das Sprecher-Ich) in Müllers Gedicht ganz bei sich ist und seine Emotionen intensiv auskostet, versichert sich P in der pietistischen Bearbeitung der göttlichen Provenienz seiner Gefühle.26 26

Zur Fassungsgeschichte vgl. Christian Bunners: „‚O JESU/ mein Bräut’gam/ wie ist mir so wohl!‘ Heinrich Müller (1659) und das Lied Nr. 459 in Johann Anastasius Freylinghausens Geistreichem Gesang-Buch (1704)“, in: Pietismus und Liedkultur. Hg. v. Wolfgang Miersemann u. Gudrun Busch. Tübingen 2002 (Hallesche Forschungen 9), S. 81–94.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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Dieser Befund ist auf den Metapherngebrauch bei Rambach und Helbig übertragbar. Während bei Rambach – genau wie bei Müller – die ästhetisch-fiktionale und die religiöse Dimension von Metaphern miteinander interagieren, sind Metaphern bei Helbig – wie im pietistischen Gesangbuch – stets an einen theologischen Reflexionsakt gebunden. Daraus spricht wohl (im Blick auf die Freylinghausensche Bearbeitung) die Angst des Pietismus vor einer fehlgeleiteten, rein ästhetischen Rezeption, die einem anderen Geist als dem göttlichen Tor und Tür öffnen wurde.27 Möglicherweise steht ein solcher Kunstvorbehalt auch bei Helbig im Raum. Entscheidend ist aber die unterschiedliche Wirkungsabsicht – docere versus delectare –, welche die Librettisten Helbig und Rambach trennt. Helbig verwendet Metaphern weitaus seltener als Rambach. Er bevorzugt einfache Benennungen von Wesenseigenschaften Gottes. Wenn Helbig Metaphern verwendet, dann schließt er sofort deren Exegese an. Rambach hingegen hält die metaphorische Ebene in all ihrer semantischen Offenheit über längere Zeit durch. Helbig legt mit der Exegese sogleich fest, welche propositionale Einstellung die ‚richtige’ ist, um die Metapher ihrem Sinn nach zu deuten. Rambach lässt offen bzw. überlässt es dem Rezipienten, diejenige propositionale Einstellung zu finden, in der die Metapher stimmig wird. Hinzu kommt, dass Helbig einige kühne Metaphern verwendet, die man als sprachlich verunglückt bezeichnen muss. In der Kantate auf den 13. Sonntag nach Trinitatis lautet die erste Arie: Was trotzt der Heuchler auf den Glauben, Da er doch keine Früchte weist? Er setzt sein Heil auf falsche Schrauben, Ob iedermann ihn heilig preißt. Denn wer den armen Nechsten haßt, Hat Christi Lehre schlecht gefaßt.28

Helbig kombiniert die biblische biologische Metapher des Fruchtbringens mit der technischen Metapher der „falsche[n] Schrauben“. Es sind zwei unvereinbare Bildbereiche, die sich gegenseitig aufheben und dazu führen, dass die Metapher den Einstellungsstandpunkt von P eher verunklart statt verdeutlicht. Da die Libretti auch als Leseausgaben intendiert sind, besteht zwar für einen Rezipienten die Möglichkeit, sich den Sinn durch mehrfaches Lesen zu erschließen. Aber die Inkompatibilität der Bildbereiche als handwerklicher Fehler bleibt. Daher mag auch ein verschiedenes handwerkliches Niveau der Librettisten Rambach und Helbig für ihren unterschiedlichen Metapherngebrauch verantwortlich sein. Nicht zuletzt deswegen ist die naheliegende Frage schwer zu beantworten, ob bestimmte theologische Positionen eine spezifische religiöse Metaphorik bedingen. Im Blick auf die pietistische Bearbeitung des Müller-Liedes könnte man diese Frage 27 28

Vgl. den Beitrag von Julian Heigel im vorliegenden Band. Helbig: Poetische Auffmunterung (wie Anm. 7), S. 107.

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wie folgt beantworten: Im Pietismus steht die ‚richtige’ propositionale Einstellung von P fest, während sie in der Mystik offen bleibt. Diese einfache Opposition lässt sich im Vergleich zwischen Rambach und Helbigs Kantatenjahrgängen allerdings nicht durchhalten. Vor allem deswegen nicht, weil Rambach Pietist war und Helbig nicht. Daher greift eine theologische Begründung ihres Metapherngebrauchs zu kurz bzw. müsste völlig losgelöst von der realen theologischen Haltung der Verfasser geschehen. Es ist zwar denkbar, dass sich in einem Werk religiöse bzw. ästhetische Strukturen manifestieren, die unabhängig von der religiösen Haltung ihrer Verfasser sind. Aber ausgesprochen schwierig würde danach die Begründung, weshalb der Pietist Rambach sich der ‚barockmystischen’ Fiktionalisierung anschließt und der Nicht-Pietist Helbig der ‚pietistischen Stillstellung’ von Metaphern, ihrer Theologisierung und Entsinnlichung. Möglicherweise sind für die spezifische Metaphorik von Helbig und Rambach weniger theologische als poetologische Gründe in Anschlag zu bringen. Rambach orientiert sich nachweislich – die programmatische Namensnennung von Menantes in der Vorrede zeigt dies ebenso deutlich wie die Gestalt seiner Texte selbst – an einem neuen ‚galanten’ Formideal.29 Helbig verfolgt dagegen das Ideal des Gemeindegemäßen in der Kantatenform. Seine Vorliebe für einen predigenden Stil, für die Choralform auch in den Arien und für ältere Gemeindelieder sprechen dafür. Dazu passt sein sparsamer Einsatz von Metaphern. Ein Adressat wird durch eine Metapher immer manipuliert, weil er die Perspektive der Person übernehmen soll, die diese Prädikation vornimmt. Anders als buchstäbliche Aussagen über Jesus wie: Jesus sei sanft, weise, gut, tugendhaft etc. sind metaphorische Prädikationen griffiger, aber eben auch ‚übergriffiger’. Sie sagen in erster Linie etwas über die Beziehung aus, in der P1 zu Jesus steht, und wollen einen Adressaten P2 auf ihre Seite ziehen. An dieser Stelle berühren sich ästhetische und religiöse Absichten. Helbig will zur Buße auffordern (und braucht dafür keine Metaphern), Rambach will P emotional ansprechen (und braucht dafür Metaphern und die ästhetischen Evidenzen, die sie im Text erzeugen). Rambachs Texte sind offen für Metaphern, die eine innige Zweierbeziehung evozieren; eine intime Beziehung, die entsteht, wenn man von Gott nicht nur aussagen kann, er sei gut, weise und allmächtig, sondern wenn man Metaphern für ihn findet, die von einer individuellen Erfahrung des Göttlichen zeugen. Hier kommt die Fähigkeit der Kantatenform zum Tragen, Metaphern im strophisch komponierten Text einsatzfähig zu machen. Morhofs Metaphernverbot im strophisch komponierten Text wird durch die Kantatenform also umgangen – sofern der Textdichter, wie Rambach, das zulässt und eine Metapher ins Zentrum eines Kantatentexts stellt. Die ästhetische Form der Kantate entfaltet eine unmittelbare, nicht-diskursive Überzeugungskraft, die Pseudo-Wahrheitsbedingungen formuliert, unter denen eine Metapher als Metapher wirken kann,

29

Rambach: Geistliche Poesien (wie Anm. 8), S. 12.

Zum Metapherngebrauch in Johann Jacob Rambachs Geistlichen Poesien

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d.  h. der Hörer in die propositionale Einstellung von P kommt. Die Arien dienen dazu, den Hörer in eine solche emotionale Haltung zu bringen, dass er die Perspektive des Sprechers teilt. Die oft sogenannte Subjektivität der Arie hat hier einen Ansatzpunkt: Sie bringt den Hörer in die Stimmung, der Metapher zu folgen. Im Rezitativ wird diese Einstellung mit Argumenten untermauert, die vom solchermaßen gestimmten Hörer leichter akzeptiert werden. Ist also nicht nur die Kantate ein Katalysator, sondern auch und insbesondere der Metapherngebrauch in ihr? Die Kantatenform zumal des Neumeistertypus mit Rezitativ und Da-Capo-Arie lieferte den poetischen Freiraum für die Aufnahme von Metaphern im strophisch komponierten Text. Wenn sich ein Verfasser von Kantatentexten auf eine metaphorische Sprache einließ – wie Rambach –, führte das zu etwas, das man mit den Schlagworten Fiktionalisierung und Poetisierung umreißen könnte, kurz mit dem, was zukunftsweisend für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts geworden ist. Den Gedanken eines katalysatorischen Zusammenhangs zwischen beidem halte ich für nicht ganz abwegig.

IV Kantatenwelt: Sammlungs- und Verwendungszusammenhänge

Steven Z ohn

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project Between the late 1720s and early 1740s Georg Philipp Telemann responded to the growing popularity of moral literature by issuing a series of six publications at Hamburg containing moral chamber cantatas, songs, and odes.1 Two of these publications, Der getreue Music-Meister (1728–29) and the Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen (1733–34), were even conceived as didactic musical equivalents to the popular moral journals that had recently begun to appear in German-speaking lands.2 Taken as a whole, these nineteen cantatas and thirty-eight songs and odes, listed in Table 1 (p. 248  f.), represent the most significant body of vocal chamber music with moral texts by a single composer from the early eighteenth century.3 They also suggest that an important component of Telemann’s ambitious self-publishing program at Hamburg was a project to issue musical settings of moral literature over the course of a dozen years. In this essay I consider the literary, musical, and theoretical contexts for this music, with an emphasis on the chamber cantatas. Telemann’s concentration on chamber cantatas with German texts throughout his career was itself unusual, suggesting that he was especially receptive to contemporary trends in native poetry and to efforts at elevating the status of the German ­language.4 1

2

3

4

I use the modern term “chamber cantata” (“Kammerkantate”) to denote a work that is called “Cantate” or “Cantata,” is scored for single voice with instrumental accompaniment, is divided into sections or discrete movements, and has a secular poetic text designed for musical setting. Although these criteria were developed by Michael Talbot: The Chamber Cantatas of Antonio Vivaldi. Woodbridge 2006, pp. 25  f., for classifying Italian examples of the genre, they apply equally well to the German repertory. In the case of Der getreue Music-Meister, the connection with moral journals is made explicit in Telemann’s preface and in the diversity of the journal’s contents. The Singe-, Spiel- und GeneralBass-Übungen, an imaginative cross between a song collection and a figured bass treatise, was advertised as a “Journal,” and fully half of its forty-eight songs have moralizing texts. See Steven Zohn: Morality and the ‘Fair-Sexing’ of Telemann’s Faithful Music Master. In: Consuming Music. Individuals, Institutions Communities, 1730–1830. Ed. by Emily Green and Catherine Mayes. Rochester, NY 2017, pp. 65–101. Three cantatas that Telemann left unpublished also explore moral themes: Mein Herze lachet vor Vergnügen, Telemann-Vokalwerke-Verzeichnis (= TVWV) 20:58 (possibly composed at Eisenach, 1708–1712); Ruht itzt sanft, ihr zarten Glieder, TVWV 20:65; and So bald wird man das nicht vergessen, TVWV 20:68 (perhaps another Eisenach work). I acknowledge that what constitutes a moral text, that is, one focusing mainly on vices and virtues, is to some degree open to interpretation. Thus, the number of songs and odes in Table 1 might be slightly increased or decreased. Telemann recalled having composed nearly fifty secular cantatas to mostly German texts at Eisenach and elsewhere in his 1718 autobiography. See Georg Philipp Telemann: Lebens-Lauff mein Georg Philipp Telemanns; Entworffen In Frankfurth am Mayn d. 10.[–14.] Sept. A. 1718. In: Johann Mattheson: Grosse General-Baß-Schule. Oder: Der exemplarischen Or­ga­nisten­-

https://doi.org/10.1515/9783110572810-013

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To be sure, most of his countrymen based their chamber cantatas on Italian poetry. This practice has an obvious parallel in the widespread cultivation of Italian opera north of the Alps, but also reflects the cantata’s Italian origins, the extremely large number of works written by influential Italian composers active around 1700, and the study trips to Italy undertaken by many German musicians.5 By one recent count, three of the most prolific Italian composers of chamber cantatas – Giovanni Bononcini (1670–1747; 295 cantatas), Benedetto Marcello (1686–1739; 378 cantatas), and Alessandro Scarlatti (1660–1725; 620 cantatas) – left nearly 1,300 works between them.6 Works by these and other composers circulated among German courts and cities in manuscript copies and, presumably, via the steady stream of works published up through Marcello’s Cantate da camera a voce sola (Venice, 1708) in the publishing centers of Bologna, Florence, Lucca, Milan, Modena, Naples, Rome, and Venice. Especially likely to have penetrated the German market for printed music are several collections of Italian cantatas issued by Estienne Roger in Amsterdam between 1698 and 1702, including Scarlatti’s Cantate a 1 e 2 voce, Op. 1 (1701). Also readily available to German composers was Carlo Agostino Badia’s Tributi armonici (Nürnberg, ca. 1699).7

5

6 7

Probe […]. Hamburg: Kißner 1731, p. 176. On the historical background of Telemann’s chamber cantatas, see Georg Philipp Telemann: Kammerkantaten. Ed. by Steven Zohn. Kassel 2011 (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 44), pp. viii–xviii, which forms the basis of the following discussion. As Georg Friedrich Händel had done before them, several German composers of Italian-language chamber cantatas studied in Italy: Johann Gottlieb Graun, Jacob Greber, Johann Adolf Hasse, Johann David Heinichen, Conrad Friedrich Hurlebusch, Johann Melchior Molter, and Gottfried Heinrich Stölzel. Others who contributed significantly to the genre include Johann Fischer, Carl Heinrich Graun, Reinhard Keiser, Johann Mattheson, Johann Christoph Pez, Abraham Pfuhl, and Augustin Reinhard Stricker, who published a collection of Cantate a voce sola (Köthen 1715). See Eugen Schmitz: Geschichte der Kantate und des geistlichen Konzerts. Hildesheim 1966 [Reprint of Ed. Leipzig 1914], pp. 247  f. For a detailed study of Heinichen’s cantatas, see Richard Lorber: Die italienischen Kantaten von Johann David Heinichen (1683–1729). Ein Beitrag zur Geschichte der Musik am Dresdner Hof in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Regensburg 1991. Mattheson’s cantatas are discussed in Hansjörg Drauschke: Johann Matthesons Kantatenproduktion. Zur Auseinandersetzung Hamburger Komponisten mit einem italienischen Modell. In: Studien zum 250. Todestag Johann Matthesons. Musikschriftstellerei und -journalismus in Hamburg. Ed. by Simon Kannenberg. Berlin 2017, pp. 141–189. Talbot: The Chamber Cantatas (see note 1), p. 1. Ibid. (see note 1), pp. 2–7, provides an overview of Italian cantata publications of the late seventeenth and early eighteenth centuries. Telemann is especially likely to have known the cantatas of Marcello, a composer he openly admired. See Wolf Hobohm: Telemann und Marcello. In: Telemann und seine Freunde. Kontakte – Einflüsse – Auswirkungen. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 8. Telemann-Festtage der DDR, Magdeburg 15. und 16. März 1984. Magdeburg 1986. Vol. 1, pp. 57–73. Concerning the cultivation of Italian chamber cantatas at the court of Schwarzburg-Sondershausen in particular, see Helen Geyer: ‘Arie, cantate, ah quasi delle opere intere si sentiva…’ – Italienische Spuren im Repertoire der Hofmusik zu Schwarzburg-Sondershausen. In: Musikgeschichte der Stadt Sonderhausen. Ed. by Karla Neschke. Sondershausen 2004, pp. 23–32.

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That Italian chamber cantatas were already well known to German musicians by the first decade of the eighteenth century is clear from the “Vorrede” to Reinhard Keiser’s Gemüths-Ergötzung (Hamburg, 1698) and from early theoretical and lexicographical discussions of the genre.8 In his manuscript composition treatise of 1708, Johann Gottfried Walther observed that “Cantata, ist ein neu Italiänisch Wort, welches einem solchen Gesange beygeleget wird, in welchen bald recitativ, bald Arien vorkommen” (Cantata is a new Italian word denoting a vocal piece that includes alternating recitatives and arias).9 His 1732 dictionary entry only slightly expands this concise definition, and notably still identifies cantatas as works with Italian texts: “Cantata […] ist eigentlich ein langes Music-Stück, dessen Text Italiänisch, und aus Arien mit untermischten Recitativ; die Composition aber aus verschiedenen Tact-Arten, und gemeiniglich à Voce sola nebst einem Continuo bestehet öffters aber auch mit zwey und mehrern Instrumenten versehen ist” (Cantata […] is essentially a long musical piece with an Italian text and arias mixed with recitative; the composition contains various meters and is generally à Voce sola with continuo, but is more often furnished with two or more instruments). Walther also provides separate entries for “Cantate amorose” (“deren Texte von Liebe handeln”; the texts of which deal with love) and “Cantate morali” (“deren Texte aus der Sitten-Lehre hergenommen sind”; the texts of which are taken from moral doctrine).10 The German vogue for Italian cantatas is vividly reflected in his story that the composer Christoph Förster had learned Italian because at the Merseburg court “bey Taffel- und Cammer-Musiken keine andere als in dieser Sprache abgefaßte Cantaten, gedultet werden” (with respect to music during meals and in the chamber, only cantatas in this language are tolerated).11 Shortly before leaving Hamburg for Venice in 1710 or 1711, Johann David Hei­ ni­chen used the cantata Della mia bella Clori by Carlo Francesco Cesarini (1666– 1741) as a demonstration of figured bass realization in his first continuo treatise.12  8

 9 10

11 12

Keiser notes that “So ist nunmehro in Teutschland die Manier der Welschen in dergleichen Stücken schon so bekant, daß es unnöthig eine Definition zu geben, was eine Cantata sei, ja es haben dieselben in Teutschland so sehr das Bürger-Recht gewonnen, daß sie die alten Bürger, nemlich die ehmaligen Teutschen Lieder/ gar ausgetrieben haben” (The style of the Italians in such pieces is already so well known in Germany that it is unnecessary to provide a definition of what a cantata is. Indeed, [such pieces] have so completely won over the citizenry that they have completely driven out the old German songs). See the facsimile of the preface in Reinhard Keiser: Weltliche Kantaten und Arien. Vol. 1: Werke aus gedruckter Überlieferung. Ed. by Hansjörg Drauschke and Thomas Ihlenfeldt. Beeskow 2012, p. xxxiii. Unless otherwise indicated, all translations in this essay are my own. Johann Gottfried Walther: Praecepta der Musicalischen Composition. Ed. by Peter Benary. Leipzig 1955, p. 42. Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec. Kassel 1953 [Reprint of Ed. Leipzig: Deer 1732], p. 134. Walther’s entries on the cantata provided the basis for those in Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Halle and Leipzig 1733. Vol. 5, p. 307. Walther: Musicalisches Lexicon (see note 10), p. 251. Johann David Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung […] zu vollkommener Er­ler­nung des General-Basses. Hamburg: Schiller 1711, pp. 228–260. On Cesarini’s cantata

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Almost two decades later, he demonstrated the realization of an unfigured bass in his second continuo treatise with reference to Scarlatti’s cantata Lascia deh lascia al fine di tormentarmi più. And an analysis of an anonymous Italian “Cantata a voce sola” appeared in the book’s introduction.13 Johann Mattheson echoed Walther in 1713 by observing that the ideal cantata was scored for voice and continuo.14 He reiterated this preference in 1739, also selecting a cantata aria by Benedetto Marcello to reveal how music may follow the structure of a classical oration.15 As late as 1751, Johann Christoph Gottsched found that German composers preferred to set Italian texts, singling out for praise works by Johann Friedrich Gräfe, Carl Heinrich (?) Graun, Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse, and Conrad Friedrich Hurlebusch.16 (In earlier versions of his discussion, he had praised Giovanni Antonio Giay and “Machini” instead of Gräfe and Hasse.) Yet he also derided “so viel künstlichen musikalischen Schnörkeln” (so many artificial musical curlicues) that obscured the words in Italian cantatas, and held up Heinichen’s La, dove in grembo al colle as a negative example in this respect.17 Why, he asked, didn’t German composers show a greater interest in setting texts in their native language, which would surely show their skills to better effect? Ist es den ihre eigene Muttersprache nicht werth, daß sie in eine schöne Musik gesetzt wird? Und soll denn das Vorurtheil ewig dauren, daß man lieber unverständliche Sylben von Sängern, die insgemein kein italienisch können, verstümmeln; als durch Worte, die Sänger und Zuhörer verstehen, die völlige Stärke des Componisten, im Ausdrucke der Gedanken, kenntlich machen will? Denn in der That ist es gewiß, daß eine schöne Melodie doppelt schöner wird, wenn der Zuhörer auch den Text versteht, und seine Uebereinstimmung mit der Melodie wahrnimmt.18

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(Rome, ca. 1706) and Heinichen’s relationship to it, see Wolfgang Horn: Johann David Hei­ nichens erste dokumentierte Begegnung mit der italienischen Cantata. Anmerkungen zu Hei­ nichens frühen Jahren und zu dem Stück Della mia bella Clori des Carlo Francesco Cesarini. In: Händel-Jahrbuch 47 (2001), pp. 113–136. Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition. Dresden: Heinichen 1728, pp. 1–94 (“Einleitung Oder Musicalisches Raisonnement vom General-Bass und der Music überhaupt”) and pp. 797–836. Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre. Laaber 2002 [Reprint of Ed. Hamburg: Mattheson 1713], p. 177, § 30. Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Ed. by Margarete Reimann. Kassel 1954 [Reprint of Ed. Hamburg: Christian Herold 1739], pp. 237–239, § 14–22. Johann Christoph Gottsched: “Von Cantaten, Serenaten, und Kirchenstücken, oder Oratorien”. In: Ders. (Ed.) Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig: Breitkopf 4th ed. 1751, pp. 723–724, § 7–8. A briefer version of Gottsched’s discussion appeared in the book’s 1730 first edition. The version in the book’s 1737 second edition was reprinted by Lorenz Christoph Mizler von Kolof, a Gottsched pupil, in his: Neu eröffnete Musikalische Bibliothek Oder Gründliche Nachricht, nebst unpartheyischen Urtheil von musikalischen Schriften und Büchern. Vol. 1, part 6. Leipzig: Mizler von Kolov 1739, pp. 1–6. Gottsched: “Von Cantaten” (see note 16), pp. 724–725, § 9. For a discussion of Heinichen’s cantata, see Lorber: Die italienischen Kantaten (see note 5), pp. 175–180. Gottsched: “Von Cantaten” (see note 16), p. 723, § 8.

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Is their own mother tongue unworthy of being set to beautiful music? And will the prejudice in favor of unintelligible syllables mangled by singers, who on the whole do not know Italian, last forever, as opposed to words that singers and listeners understand, that make discernible the composer’s full strengths in expressing ideas? For it is in fact certain that a beautiful melody becomes twice as beautiful if the listener understands the text and feels a rapport with the melody.

Gottsched’s solution for this “Mangel an deutschen, moralischen und verliebten Cantaten” (shortage of German, moral, and amorous cantatas) was for poets to cultivate “eine natürliche, fließende und bewegliche Schreibart” (a natural, flowing, and versatile manner of writing), such as that found in the poetry of Christian Friedrich Hunold, who wrote under the pen name “Menantes”: “Dieses würde uns wenigstens von dem unverständigen Geheule, italienischer Texte befreyen” (This would at least free us from the incomprehensible howling of Italian texts).19 Since Gottsched was well aware of Telemann’s music generally, it is curious that he does not mention the composer’s published German-language cantatas to moral and amorous texts, all of which had appeared before the 1737 and 1742 editions of the Versuch einer Critischen Dichtkunst. In fact, Gottsched may have been behind the times, for by mid-century German composers were turning away from Italian cantatas and toward aria collections, songs, and German-language cantatas. Writing to Carl Heinrich Graun on 15 December 1751, Telemann asked and answered the following question: “Warum sind die Welschen Cantaten aus der Mode gekommen, und einzelne Arien an ihre Stelle getreten? Sind es nicht scheinbar die Recitative?” (Why have Italian cantatas fallen out of fashion, replaced by single arias? Are not the recitatives to blame?).20 Gottsched classifies cantatas as either epic or dramatic, depending on whether or not the poet’s voice is heard: Wenn der Poet selbst darinn redet: so ist es episch verfasset, obgleich hier und da auch andere Personen redend eingeführet werden. […] Läßt aber der Poet durchgehends andere Personen reden und handeln, so, daß er selbst nichts darzwischen sagt, sondern so zu reden, unsichtbar ist: so entsteht ein kleines theatralisches Stück daraus, welches […] ein Drama genennt wird.21 If the poet himself orates, then it is epically conceived, even if here and there other speaking persons are introduced. […] But if the poet continuously lets other persons speak and act, so that he himself says nothing in between and is invisible, so to speak, then a small theatrical piece develops that […] is called a drama.

This distinction is also made by Gottsched’s pupil Johann Adolf Scheibe, whose 1739 discussion of the chamber cantata is by far the most extensive one from the eighteenth century. Cantatas, according to Scheibe, are usually epic in nature, and may have a character that is “moralisch, verliebt, ernsthaft, oder scherzhaft” (moral, 19 20 21

Ibid., p. 729, § 14. Georg Philipp Telemann: Briefwechsel. Ed. by Hans Grosse and Hans Rudolf Jung. Leipzig 1972, p. 283, No. 99. Gottsched, “Von Cantaten” (see note 16), p. 728, § 12.

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amorous, serious, or humorous).22 The first type of chamber cantata he discusses in detail is that for solo voice and continuo, examples of which are the most common and “ganz besondere Schönheiten besitzen, die man in keinen andern Singestücken findet” (possess exceptional beauties that one does not find in other vocal works). Such cantatas are esteemed by connoisseurs, he says, and their greatest exponents are Baron Emanuele d’Astorga, Diogenio Bigaglia, Francesco Bartolomeo Conti, Händel, Heinichen, Francesco Mancini, and Marcello.23 Thus for Scheibe, as for earlier writers, chamber cantatas normally have Italian texts. He goes on to describe two other common subtypes of the genre: those including an oboe, flute, violin or other obbligato melody instrument; and those with a full string accompaniment, which in longer cantatas (those with more than three arias) may be supplemented by one or more concertante instruments in selected arias.24 Given Scheibe’s initial collaboration with Telemann on Der critische Musikus, his frequent praise for the composer’s music in other genres, and the exact correspondence between his typology of chamber cantata scorings (accompaniment of continuo, of solo instrument with continuo, or of strings with the occasional addition of a concertante instrument) and Telemann’s three cantata publications of the 1730s, it is striking that he does not recommend Telemann as a composer of chamber cantatas. This omission could be due to Scheibe’s apparent conception of the genre as based on Italian texts, which do not figure prominently in Telemann’s oeuvre. However, Günter Fleischhauer plausibly connects it with Scheibe’s interruption of his discussion to renew a polemical exchange with Johann Abraham Birnbaum over the music of Johann Sebastian Bach. According to this interpretation, Scheibe may have wished to avoid dragging Telemann, his former collaborator, into the controversy as a contrasting ideal to Bach in the realm of vocal music.25 The Italian chamber cantatas known to Telemann and his German contemporaries were for the most part written in sympathy with the poetic and musical ideals 22

23 24 25

Johann Adolph Scheibe: Critischer Musikus (“Das 41 Stück. Dienstags, den 9 Junius, 1739.”). Hildesheim 1970 [Reprint of Ed. Leipzig 1745], pp. 381 and 383. Scheibe’s discussion of the chamber cantata is a revised and expanded version of that originally appearing in the second volume of: Der critische Musikus. Hamburg: Benke 1740. Scheibe: Critischer Musikus (see note 22) (“Das 43 Stück. Dienstags, den 23 Jun. 1739”), pp. 395 and 400  f. Ibid. (“Das 44 Stück. Dienstags, den 30 Junius, 1739.”), p. 407. Günter Fleischhauer: G. Ph. Telemanns Zyklen VI Moralische Cantaten (TVWV 20:23–28 und 29–34) im Urteil J. A. Scheibes. In: Monika Fink, Rainer Gstrein, and Günter Mössmer (Ed.): Musica Privata. Die Rolle der Musik im privaten Leben. Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Salmen. Innsbruck 1991, pp. 315–338, especially pp. 316 and 330. Reprinted in Günter Fleischhauer: Annotationen zu Georg Philipp Telemann. Ausgewählte Schriften. Ed. by Carsten Lange. Hildesheim 2007, pp. 267–288. On the second set of VI moralische Cantaten, see also Günter Fleischhauer: Georg Philipp Telemanns Zyklus ‘VI Moralische Cantaten’ für eine Singstimme, Soloinstrument und Basso Continuo nach Worten von Joachim Johann Daniel Zimmermann (Hamburg 1736–1737). In: Bernd Baselt and Siegfried Flesch (Ed.): Aufklärerische Tendenzen in der Musik des 18. Jahrhunderts und ihre Rezeption. Walther Siegmund-Schultze zum 70. Geburtstag. Halle 1987, pp. 32–50.

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espoused by the Adunanza degli Arcadi (better known as the Accademia degli Arcadi), a literary society founded in Rome in 1690 to counter the extravagant expression of seventeenth-century Italian poetry and literary genres with a simplicity and naturalness.26 Other Italian literary academies quickly identified themselves as “colonies” of the Roman Arcadia, imitating its use of pastoral imagery and its members’ adoption of shepherd- or nymph-like pseudonyms during meetings. The chamber cantata, in particular, offered an ideal medium for the seemingly endless explorations of Arcadian love, expressed through amorous shepherds, shepherdesses, or mythological characters. Pastoral pseudonyms allowed a poet’s identity to merge with that of an Arcadian figure, thereby liberating him to explore and revitalize poetic conventions while indulging passions that might subvert social conventions, as with the homoerotic fantasy embodied in some of Händel’s cantatas.27 In the Roman Arcadia, for example, Scarlatti was Terpandro Politeio, the poet Giovan Battista Felice Zappi was Tirsi, and the academy’s leader, Giovan Mario Crescimbeni, was Alfesibeo Cario. One might imagine that the Arcadian orientation of the libretti to some of Telemann’s early chamber cantatas, transmitted exclusively through manuscript copies, is directly connected to his adoption of the pastoral pseudonym “Melante” by about 1715. Among his German contemporaries, a number of poets, novelists, and other writers took on similar Arcadian personae: besides Hunold/Menantes, the poet and amateur musician Johann Sigismund Scholze was “Sperontes”, the novelist Johann Gottfried Schnabel was “Gisander”, the poet Christian Friedrich Henrici was “Picander”, and the dancing master Johann Leonhard Rost was “Meletaon.”28 Perhaps, then, the composer-poet Telemann devised “Melante” in sympathy with the Arcadian ideal (and possibly on the specific model of Hunold) while composing German and Italian chamber cantatas early in his career. But it was Keiser who pioneered the composition of German chamber cantatas at the turn of the eighteenth century.29 His Gemüths-Ergötzung, to librettos proba26

27

28 29

On the activities and influence of the Roman Arcadia, see Berta Joncus: Private Music in Public Spheres: Chamber Cantata and Song. In: Simon P. Keefe (Ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Music. Cambridge 2009, pp. 514–516; Norbert Dubowy: ‘Al tavolino medesimo del Compositor della Musica’. Notes on Text and Context in Alessandro Scarlatti’s cantate da camera”. In: Michael Talbot (Ed.): Aspects of the Secular Cantata in Late Baroque Italy. Farnham and Burlington 2009, pp. 111–134; and Talbot: The Chamber Cantatas (see note 1), pp. 39–43. This aspect of Händel’s cantatas is explored in Ellen T. Harris: Handel as Orpheus. Voice and Desire in the Chamber Cantatas. Cambridge 2001. Telemann’s familiarity with Händel’s cantatas is suggested by his poem “Ueber etliche Teutsche Componisten”, the third line of which reads: “Bemüht sich Hendels Fleiß in ändernden Cantaten” (strive after Händel’s diligence in varied cantatas). The complete poem is reprinted in Georg Philipp Telemann: Briefwechsel (see note 20), p. 161. On the concealment of identity among composers, writers, and artists in Italy and England during the eighteenth century, see Harris: Handel as Orpheus (see note 27), pp. 9–11. For overviews of Keiser’s published cantatas, see Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (see note 8), pp. vii–xiv; Gunilla Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds in der ‘Musicalischen Land=Lust’ (1714) von Reinhard Keiser. In: Cornelia Hobohm (Ed.): Menantes: Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha bei Jena 2006, pp. 154–173;

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bly by Christian Heinrich Postel, was the first publication of secular cantatas with German texts, and as such may be considered the direct ancestor of Telemann’s three collections from the 1730s. The seven cantatas, called “Sing-Gedichte” and ranging in length from six to eleven movements, are scored for solo voice with an accompaniment of obbligato instruments and continuo. All are pastoral love stories in the Arcadian tradition, and the last one, Die rasende Eyfersucht (Raging Jealousy), takes on a moralistic tone in a recitative preceding the concluding aria.30 Keiser returned to the German cantata in the Musicalische Land-Lust, Bestehend: In verschiedenen Moralischen Cantaten (Hamburg, 1714), four settings for voice and continuo of moralistic librettos published by Hunold/Menantes during the preceding year.31 By this time, the German moral cantata had taken firm root, at least in literary terms. For example, Erdmann Neumeister’s Die Allerneueste Art, zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, published by Hunold/Menantes in 1707, includes numerous examples of cantata librettos, the majority of which have didactic, moral messages that would become common in the following decades.32 Three of the cantatas in Keiser’s Musicalische Land-Lust are on topics familiar from Telemann’s second set of VI moralische Cantaten (Von dem Land-Leben, Von der Music, and Von der Zufriedenheit), and the fourth is based on Psalm 62.33

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Hansjörg Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (1674–1739). Wilhelmshaven 2004; Ann Le Bar: The Domestication of Vocal Music in Enlightenment Hamburg. In: Journal of Musicological Research 19 (2000), pp. 97–134, especially pp. 109–117; Klaus-Peter Koch: Reinhard Keisers gedruckte weltliche Kantaten (1698–1715). In: Zur Entwicklung, Verbreitung und Ausführung vokaler Kammermusik im 18. Jahrhundert. XXII. Internationale Wissenschaftliche Arbeitstagung zu Fragen der Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts, Michaelstein, 10. bis 12. Juni 1994. Michaelstein 1997, pp. 49–63; and Schmitz: Geschichte der Kantate (see note 5), pp. 238  f. and 245. “Ja, gar zu leicht verkehrt sich Lieb in Grauen,/ wenn sie des Argwohns Augen nimmt,/ und was man heut nicht gnugsam kann anschauen,/ wird, wenn des Eifers Tocht entglimmt,/ von dieser Seelensucht verdammet und verflucht” (Yes, all too easily love turns to horror,/ When it sees with the eye of suspicion,/ And when the wick of jealousy begins to burn,/ What one cannot look upon enough today,/ Becomes damned and accursed in this sickness of the soul). Translated in Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (see note 8), p. lvii. Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Academische Neben-Stunden allerhand neuer Gedichte. Halle and Leipzig: Johann Friedrich Zeitler 1713. [Erdmann Neumeister/Christian Friedrich Hunold (Menantes):] Die Allerneueste Art, zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg 1707. The book is based on Neumeister’s lectures of 1695–1697. The moral cantata librettos that follow brief remarks entitled “Von der Cantata” include (pp. 292–335): Hoffnung, süsser Trost des Lebens; Geld! Rufft die Welt Allemahl; Ach wohl dem, der ein gut Gewissen; Verdammter Neid!; Ihr hellen Sterne des Glücks; Nichts ist süsser, als das Lieben; Was scher ich mich um dich; Ducatino. Vinetto. Amando; Glück und Opinion; Ein jedes Ding an seinen Orth; Bistu darzu gebohren; Schister in die Welt!; Mein Glücke schläffst du noch?; Beliebter Platz der süssen Einsamkeit; Ich bin nun so; Mein Glücke lacht; An ein Collegium Musicum; und Sanfftmuht, Langmuht, Freundlichkeit. Menantes had himself already published two moral cantata librettos in his: Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte. Hamburg: Gottfried Liebernickel 1706. See Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds (see note 29), p. 156. The sacred-moral connection in this and other cantatas, songs, and odes discussed below finds a parallel in the Italian repertory of non-secular cantate morali, on which see Carolyn Gianturco:

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One year later, Keiser published several moral arias and cantatas for solo voice with orchestral accompaniment as the Kayserliche Friedens-Post, Nebst verschiedenen moralischen Sing-Gedichten und Arien (Hamburg, 1715). The collection contains a remarkable sequence of thematically-related pieces, starting with its first cantata, Der Soldat, which provides the negative moral example of a man who forsakes book learning and finds pleasure only in the heroic life of a soldier. By contrast, the speaker of the following aria, “Der Staats-Mann”, seeks glory and fame only through wisdom. The soldier’s life is more forcefully rejected in a second cantata, Der Geistliche, in which fame won on the battlefield is compared unfavorably to service to God, to the pleasure of learning, and to the contentment of solitude – all key moral virtues. Among the other moralistic works in the collection is the cantata Der Freyer, which cautions the listener not to rush into marriage before financial stability is ensured. It is not difficult to imagine Telemann taking Keiser’s Gemüths-Ergötzung as a model for his own German chamber cantatas at Eisenach and Frankfurt, then drawing inspiration for his Hamburg cantata publications from the Musicalische Land-Lust and the Kayserliche Friedens-Post, Nebst verschiedenen moralischen Sing-Ge­dich­ ten und Arien.34 Well before he published any of his sacred cantatas at Hamburg, Telemann was exploring the possibility of issuing a collection of moral cantatas with the broadest possible appeal. In a letter to Johann Friedrich von Uffenbach of 12 March 1725, he asked his Frankfurt friend to provide him with librettos for “ein halb oder ganz Dutzend Cantaten von geistlich-moralischen Inhalte, so, daß sie so wohl in der Kirche, als bey Privat-Concerten, gemacht werden könnten. […] Daß das Public ein solches Werk wohl aufnehmen würde, solches stehet zu glauben, und wollen HerrBrockes und Richey mich dessen gewiß versichern” (a half or full dozen cantatas on sacred-moral subjects, so that they can be performed both in church and at private concerts. […] There is reason to believe that such works would be well received by the public, and Herr Brockes and Richey have assured me of this).35 It is significant that Telemann had sought advice from his Hamburg colleagues Barthold Heinrich Brockes and Michael Richey, both of whom were then among the principal editors of the moral journal Der Patriot (Hamburg, 1724–26). Telemann never collaborated with Uffenbach on this project, which eventually resulted in three collections of moral cantatas during the following decade. First, however, Telemann tested the market for these publications with Ich kann lachen, singen, weinen, TVWV 20:15, appearing in Lections 19–20 (1729) of Der getreue Music-Meister. Publication of the Sechs Cantaten was announced in the 30 March 1731 issue of the Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyi­schen

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35

‘Cantate spirituali e morali’: With a Description of the Papal Sacred Cantata for Christmas 1676– 1740. In: Music & Letters 73/1 (1992), pp. 1–31, especially pp. 8–12. Besides Keiser and Telemann, the only other German composer to have left a significant number of German-language chamber cantatas from the early eighteenth century is Stölzel, whose works likely post-date Telemann’s Eisenach and Frankfurt examples. Telemann: Briefwechsel (see note 20), p. 219, No. 71.

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Correspondenten, where Telemann called attention to the “besonderer Affekt” (particular affect) expressed by nearly every aria.36 This collection, which Telemann advertised as “weltliche Cantaten” (secular cantatas) or “Cantates galantes, en Allemand” (galant cantatas in German) appeared by November of that year.37 That Telemann was already planning, and perhaps had even begun to compose, the two sets of VI moralische Cantaten as early as 1733 is indicated by a French-language catalog of his works, where the addenda include “6. Cantates morales, à I. voix avec la Basse chiffr.” and “6. Cantates morales, à I. voix, Violon ou Travers. & Basse chiffr.” A German-language version of the catalog appeared in Hamburg the following year.38 Thus Telemann’s moral publishing project began taking shape in 1725 and solidified between early 1731 and 1733, with the publication of the Sechs Cantaten (1731) and the Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen (the first issue of which appeared in November 1733), along with the conception of the two sets of VI moralische Cantaten. What became the Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden of 1741 was evidently on the composer’s mind by early 1740, for on 3 February of that year he requested “moralische Oden” from the Göttingen professor ­Albrecht von Haller, author of the poem for “Heuchler” in the Singe-, Spiel- und Ge­ne­ral-BassÜbungen: “Meine Anwendung davon würde diese seyn, daß ich sie, mit Melodien versehen, gleich den Singenden Musen an der Pleisse und Sale, im Druck heraus gäbe” (My use for these would be the following: that I would print and publish them, providing them with melodies like the Singende Muse an der Pleiße).39 In the event, however, Telemann set the poetry of several other authors. *** Let us now turn to the texts and music of Telemann’s moral cantatas, songs, and odes. First, it is worth noting that the distinction between libretto types mentioned by Gottsched and Scheibe in connection with chamber cantatas (moralisch, verliebt, ernst­haft, scherzhaft) is difficult to maintain in practice. For example, the libretto to Ruht itzt sanft, ihr zarten Glieder, TVWV 20:65 (a work that Telemann left unpub36 37

38

39

Quoted in Werner Menke: Das Vokalwerk Georg Philipp Telemann’s. Überlieferung und Zeitfolge. Kassel 1942, Anhang A: “Hamburger Konzertchronik von 1721 bis 1767”, p. 21. See Georg Philipp Telemann. Thematisch-Systematisches Verzeichnis seiner Werke: TelemannWerkverzeichnis (TWV). Instrumentalwerke. Vol. 1. Ed. by Martin Ruhnke. Kassel 1984, pp. 233–235 and 239. Catalogue des Œuvres en Musique de Mr. Telemann, Maitre de Chapelle & Directeur de la Musique à Hambourg, qui se vendent à Hambourg chez lui. Impremé à Amsterdam 1733; and: Verzeichniß der Telemannischen Musicalischen Werke. Gedruckt zu Hamburg, 1734. The first catalog and excerpts of the second are reprinted in Telemann: Thematisch-Systematisches Verzeichnis (see note 37). Vol. 1, pp. 233–236. Telemann: Briefwechsel (see note 20), p. 143, No. 53; Georg Philipp Telemann: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Ed. by Werner Rackwitz. Leipzig 1981, p. 194, No. 54. Telemann refers here to Sperontes’s Singende Muse an der Pleiße (Leipzig 1736).

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lished), is both amorous and moral, and each of the Sechs Cantaten combines pastoral love with morality, perhaps explaining why Telemann did not advertise them as “moralisch”. A number of the moral themes found in Telemann’s published cantatas, songs, and odes appear already in the early cantata Mein Herze lachet vor Vergnügen, TVWV 20:58, the libretto of which is given in Table 2 (p. 250). In addition to “Vergnügen” (pleasure), touched upon in the opening and closing arias, the themes of “Glück” (fortune) and “Zufriedenheit” (contentedness) are introduced in other movements. The libretto, possibly by Telemann himself, therefore provides a nearly universal message for those seeking moral nourishment. The same is true of another early cantata, So bald wird man das nicht vergessen, TVWV 20:68, which addresses the familiar moral subject of “Hoffnung” (hope) in addition to “Glück”, and “Vergnügen”. As may be seen in Table 1, all of these themes, together with the equally common subject of “Freundschaft” (friendship), feature prominently in the three cantata collections, the Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen, and the Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden. Such thematic correspondences are actually more common than they might at first appear, for favorite moral subjects are often concealed behind titles and opening lines. Like the bi-weekly Der getreue Music-Meister and the weekly Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen, the first set of VI moralische Cantaten was issued serially, with one cantata appearing every two weeks. (Telemann originally planned to issue the second set of cantatas serially as well, but abandoned this plan for some reason.) Such piecemeal publication of songs and cantatas on moral subjects is strongly reminiscent of the serial nature of moral journals, and indeed Telemann’s works align themselves with the didactic messages characteristic of such periodicals, namely that one should strive to be a “sittliche Person” (ethical person) and, in the words of the moral weekly Der Biedermann (Leipzig, 1727–28), “ein zufriedener Bürger in der Stadt Gottes” (A contented citizen in the city of God).40 Thus one ought to aim for moderation in one’s pleasures, as argued by Die Zeit and Das mäßige Glück, which proclaims that “am besten bleib’ ich in der Mitte” (I do best to follow a middle path); seek happiness and fortune in one’s faith (Hoffnung); be satisfied with what one has (Die Zufriedenheit); long for the simplicity and purity of country living (Die LandLust); and reflect on what makes a true friend (Die Freundschaft). It is worth noting here the association of moderation or temperance (also the message of “Mittel-Stand” and “Mässigkeit” in the Singe-, Spiel- und GeneralBass-Übungen, and of “Der Mittelstand zwischen Reichtum und Armut” and “Die schlechte Mahlzeit” in the Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden) with abstinence. Johann Georg Hamann (1697–1733) observed in his Poetisches Lexicon that “Die Mäs[s]igkeit wird als ein Weib gebildet, welche eine von ihren Händen auf den Mund leget, in der andern aber einen langen Zettul hält, darauf

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Der Biedermann 1/1 (1 May 1727), p. 3.

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stehet: Utor, ne abutar” (Temperance is portrayed as a woman who places one of her hands over her mouth, but holds in the other a long slip of paper on which is written Utor ne abutar).41 The same image was commonly associated with abstinence, as noted by the contemporary Dictionarium Britannicum: “Abstinence is properly represented in Painting, by a Woman of a healthy Constitution, holding one Hand on her Mouth, and in the other a Scrall [sic], upon which the Words, Utor, non ne abutar, I use but don’t abuse”.42 Perhaps not coincidentally, several of the poets listed in Table 1 were closely connected with moral journals. This is true of Christiana Mariana von Ziegler (1695– 1760), whose first book of poetry, Versuch in gebundener Schreib-Art (Essay in the Poetic Mode), furnished Telemann with the libretto for Ich kann lachen, weinen, scherzen in Der getreue Music-Meister (Figure 1 p. 251).43 As I have argued elsewhere, Telemann’s music journal was directly inspired by German moral weeklies, above all by Hamburg’s Der Patriot and Leipzig’s Die vernünfftigen Tadlerinnen (The Sensible Female Scolds; Leipzig, 1725–26), and the composer followed the editors of these journals in promoting the education of women as a key to elevating the German language (both literary and musical) to be on a par with English, French, and Italian.44 It is this background that helps explain why Telemann chose a cantata libretto by Ziegler, a key figure in German moral literature and in the effort to improve women’s education. She was a frequent contributor to Die vernünfftigen Tadlerinnen, arguing, under various male pseudonyms, that women were the equal of men, spoke more eloquently than men, should receive better educational opportunities than was generally the case, and ought to be allowed to write poetry without the involvement of male editors. Although she would soon became a literary star, winning the Deutsche Gesellschaft’s prize for poetry in 1732 and 1734, and being crowned imperial poet laureate by the philosophical faculty of the University of Wittenberg in 1733, her libretti had so far attracted little attention from composers. Johann Sebastian Bach – as the local composer in Ziegler’s home city of Leipzig – had set nine of her sacred cantata libretti in 1725. But none of her secular poetry had so far inspired musical settings, much less a printed composition. Ziegler’s poetry was novel and her views unusually progressive. Telemann may also have been attracted to her writings because of long-standing personal connec41

42 43 44

Johann George Hamanns Poetisches Lexicon. Revised ed. Leipzig: Groß 1737, p. 626. The definition of “Mäsigkeit” does not appear in the dictionary’s first edition: Nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand Poetischen Redens-Arten, Bey-Wörten, Beschreibungen, scharffsinnigen Gedancken und Ausdruckungen […] an statt eines Poetischen Lexici. Leipzig: Johann Großens seel. Erben 1725. Dictionarium Britannicum: Or a more Compleat Universal Etymological English Dictionary than any Extant. Ed. by Nathan Bailey et. al. 2nd ed. London: T. Cox 1736, unpag. Christiana Mariana von Ziegler: Versuch in gebundener Schreib-Art. Leipzig: Johann Friedrich Brauns sel. Erben 1728, pp. 212  f. See Zohn: Morality and the ‘Fair-Sexing’ (see note 2), on which the following discussion of Ziegler is based.

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tions, for she was the daughter of the former Leipzig Bürgermeister Franz Conrad Romanus, who in 1701 helped launch Telemann’s professional career as a composer. Moreover, her Leipzig salons almost certainly included performances of Telemann’s music during the 1720s and 1730s. She was, in fact, a subscriber to the Musique de table of 1733. Ich kann lachen, weinen, scherzen is not typical of Ziegler’s secular cantatas, in which women are often “chaste objects of male desire” in an imagined pastoral setting.45 Instead, its three movements promote a moral message of maintaining equanimity in the face of hardship, the first aria boasting that “Ich kan lachen, weinen, schertzen,/ alles ist mir einerley./ Mein gesetzter Sinn kan sagen,/ vor den allergrösten Plagen/ hab ich weder Furcht noch Scheu” (I can laugh, cry, joke;/ It’s all the same to me./ My composed mind can say:/ I have neither fear nor dread/ Of the greatest troubles). As uncontroversial as the cantata’s message is, setting a libretto by Ziegler in 1729 may have been regarded by Telemann’s contemporaries as provocative, and perhaps even as a public rejoinder to the criticism Ziegler endured in the aftermath of her book’s appearance.46 For instead of the sacred poetry usually associated with women, she had written predominantly galant, secular poetry that makes frequent sexual and erotic references. Furthermore, she had dared to publish under her real name. Two other writers listed in Table 1, Gottsched and Hamann, worked with Ziegler as the editors of Die vernünfftigen Tadlerinnen, writing under the mythological, pastoral, and female pseudonyms of Calliste and Iris. Gottsched also edited Der Biedermann, and Hamann served as editor of several other moral journals, including Die Matrone (The Matron; Hamburg, 1728–30), in which he impersonated a widow from Sachsen. But the writer appearing most frequently in Table 1 is Daniel Stoppe (1697–1747), the author of five libretti in the first set of VI moralische Cantaten and of numerous moral poems for the Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen and Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden.47 The cantata libretti appeared in Stoppe’s book of poetry, Der Parnaß im Sättler.48 Figure 2 (p. 252) shows the first four of five movements in Auf die Vergänglichkeit der Zeit. Telemann’s setting, renamed Die Zeit, uses only the first, second, and fifth movements of Stoppe’s libretto, and similar selections – also involving the replacement or omission of words and lines – were made in the other four settings. These changes may have been carried out by Telemann himself, though his access to Stoppe’s libretto for Glück (Singe-, Spiel-

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Katherine R. Goodman: Amazons and Apprentices: Women and the German Parnassus in the Early Enlightenment. Rochester, NY 1999, p. 141. On the criticism of Ziegler, see Goodman: Amazons and Apprentices (see note 45), pp. 146–152. Regarding Telemann’s settings of Stoppe’s poetry, see Eberhard Haufe: Daniel Stoppe als Text­ dich­ter Telemanns. In: Günter Fleischhauer and Walther Siegmund-Schultze (Ed.): Telemann und seine Dichter. Konferenzbericht der 6. Magdeburger Telemann-Festtage vom 9. bis 12. Juni 1977. 2 Vols. Magdeburg 1978. Vol. 1, pp. 75–86. Daniel Stoppe: Der Parnaß im Sättler, Oder: Scherz- und Ernsthafte Gedichte. Frankfurt and Leipzig: Franz Christian Mumme 1735, pp. 72–74, 84–86, 105–107, 115–117, and 187  f.

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und General-Bass-Übungen) the year before it was published could indicate that the poet’s published libretti were in fact revised and expanded versions of texts he had already provided to the composer. For the second set of VI moralische Cantaten, Telemann again maintained a consistent poetic voice by working with a single librettist, Joachim Johann Daniel Zimmermann (1710–1767), who later published revised versions of the librettos in a volume of the Poesie der Nieder-Sachsen.49 Despite their novel scorings with four-part strings and occasional obbligato wind instrument, the Sechs Cantaten represent something of a throwback – perhaps a nostalgic one – to the repertory of early eighteenth-century amorous, pastoral cantatas, as represented by Italian works in the Arcadian tradition and the early efforts of Keiser and Telemann. The presence in three arias of parts for recorder, flute, and oboe – the instruments most frequently called upon to evoke a shepherd’s piping – reinforces the pastoral nature of the texts. On the other hand, unison writing for the violins and instrumental doublings of the vocal line impart a theatrical quality to the music.50 Just six years later, Scheibe judged that “die niedrige Schreibart” (the low style) of composition, characterized by simplicity and conservatism, was best suited to shepherds and other pastoral characters, precisely the type of named inhabitants in five of the Sechs Cantaten (Floridan, Celia, Tirsis, Lisis, Seladon, Iris, Silvia, Silvien, and Phillis): Die niedrige Schreibart endlich entzieht sich allen sinnreichen und scharfsinnigen Auszierungen. Sie ist gleich, sie duldet wenig und nur mäßige Harmonie. Ihre Sätze sind allemal kurz, und erfordern fast gar keine Ausführung. Sie zeiget kein Feuer, sondern sie schleichet nur gleichsam in einer sanften, bequemen, und sich selbst ähnlichen und ruhigen Stille fort. Sie enfernet sich also von allen kühnen, neuen und sonderbaren Sätzen. Sie erwählet nur bekannte und gebähnte Wege. Sie flieht allen Aufputz, und sie liebet die Natur in ihrer ganz einfältigen Gestalt. […] Sie kann also auch nur bey niedrigen Personen, Sachen und Handlungen gebrauchet werden. […] Ihr vornehmster Charakter, mit dem sie zu thun hat, ist unstreitig der Schäfer; und also wird man leicht urtheilen können, daß auch die Schäferspiele und Schäfergedichte darinnen abzufassen sind.51 Finally, the low style avoids all ingenious and subtle decorations. It is constant, it tolerates little and only modest harmony. Its movements are always brief and require hardly any execution. It displays no fire, but sneaks along, so to speak, in a gentle, comfortable, and self-similar, tranquil stillness. It thus distances itself from all bold, new, and curious ideas. It chooses only familiar and established paths. It flees all finery and loves nature in all its simplicity. […] It may thus only be used for low persons, things, and activities. […] The noblest character with which it is associated is indisputably the shepherd. One therefore easily considers that pastoral plays and poems are also set to this style.

49 50

51

Additional details regarding Stoppe’s and Zimmermann’s librettos are provided in Telemann: Kammerkantaten (see note 4), pp. xii–xiv and xxv. In this connection, several movements that are borrowed or parodied from Telemann’s 1724 and 1730 Kapitänsmusiken, TVWV 15:2a and 15:5b, the 1730 opera Margaretha, Königin von Castilien, TVWV 21:29, and an undated fragmentary opera or serenata, TVWV 21:36, underscore stylistic points of contact between the secular cantata and these dramatic genres. For details, see Telemann: Kammerkantaten (see note 4), pp. xiii, xx, and 273  f. Scheibe: Critischer Musikus (see note 22) (‘Das 13 Stück. Dienstags, den 20 August, 1737.’), p. 129, a revised and expanded version of the passage appearing in: Der critische Musikus (see note 22), pp. 102  f.

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project

245

Yet the low style is absent from the Sechs Cantaten. Instead, the musical idiom of many arias is Lied-like, often with prominent dance rhythms. The same is true not only of the songs and odes in the Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen and Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden, but also of a number of arias in both sets of VI moralische Cantaten.52 This predominance of the “mittlere Schreibart” (middle style) is, as Scheibe explains, appropriate for the moral personages, virtues, and vices populating all of these texts: [Die mittlere Schreibart] muß insonderheit sinnreich, angenehm und fließend seyn. Sie muß die Zuhörer mehr ergetzen und vergnügen, als sie in eine allzuheftige Bewegung bringen, oder in einem allzutiefen Nachdenken hinterlassen. […] Das Schöne und Natürliche dieser Schreibart aber besteht eigentlich darinnen, wenn die Melodie überaus deutlich, lebhaft, fließend, und doch scharfsinnig ist, wenn sie sich auf ungezwungene Art mancherley wohl ausgesonnener Zierrathen bedienet, wenn sie frey, ungezwungen und allemal neu ist. […] Es wird also ein Andächtiger, ein Freudiger, ein Vergnügter, ein Tugendhafter, ein Liebhaber, ein Geduldiger, ein Pralender, ein Sittsamer, ein Lehrender, ein Kaufmann, ein Künstler, ein Edelmann und dergleichen, am besten in dieser Schreibart ausgedrücket. Die Freude, die Wollust, die Liebe, die Andacht, die Sittsamkeit, die Geduld, der Fleiß, die Begierde, die Unterweisung, die Arbeitsamkeit, die Freygebigkeit, der Geiz, die Verschwendung, alle Vermahnungen und Lehren, und dann alle Tugenden und Laster, die ich nicht schon bey der hohen Schreibart bemerket habe, oder die dem Niederträchtigen nicht ganz und gar zukommen, werden in dieser Schreibart am besten nachgeahmet. Hieraus ist zu schließen, daß auch alle Verrichtungen, Handlungen und Wirkungen, die von itzt angeführten Charakteren oder Sachen geschehen, oder entstehen, gleichfalls darzu gehören.53 [The middle style] must be particularly ingenious, pleasant, and fluid. It must delight and please the listener rather than too intensely stimulate him or leave him too deeply in contemplation. […] The beauty and naturalness of this style is especially evident if the melody is very distinct, lively, fluid, and indeed subtle; if it employs various well conceived embellishments in an easy manner; if it is free, easy, and always new. […] Thus someone who is devout, joyful, content, virtuous, an aficionado, patient, boastful, modest, a teacher, a merchant, an artist, a nobleman, and the like is best revealed in this manner of writing. Joy, lust, love, devotion, modesty, patience, diligence, desire, tuition, industriousness, generosity, avarice, profligacy, all admonitions and teachings, and all virtues and vices that I have not already remarked upon concerning the elevated style, or that absolutely do not befit the low one, are best imitated through this style. In closing, all activities, actions, and virtues associated or originating with the characters cited here likewise belong to [this style].

Just as the obbligato winds of the Sechs Cantaten enhance the librettos’ pastoral mood, the obbligato flute/violin part in the second set of VI moralische Cantaten allowed Telemann to draw on a wider affective range than in the first set. Two arias 52

53

The low style, in the form of a rustic idiom, appears occasionally among the works listed in Table 1: “Wechsel” (Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen), “Der Schäfer” (Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden), the second aria of Die Zufriedenheit (VI moralische Cantaten II), and both arias of Die Land-Lust (VI moralische Cantaten II). The Polish style, a rustic idiom that often functions within a more “middling” context, appears in “Ein guter Mut” and “Die Zufriedenheit” (both Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden). Scheibe: Critischer Musikus (see note 22), pp. 128  f.; Der critische Musikus, pp. 101  f. On the middle style of Keiser’s Musicalische Land-Lust, with reference to Scheibe and Mattheson, see Keiser: Weltliche Kantaten und Arien (see note 8), p. xii, and Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds (see note 29), pp. 164–169.

246

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in particular help convey a sense that the composer’s last collection of moral cantatas is not just a sequel, but also provides a résumé of the chamber cantata by alluding to the moral, amorous, and humorous subtypes of the genre. The first aria of Die Land-Lust, a moralistic idyll marked “Hirten-mäßig” and lacking named personages, is exceptional in its avoidance of the da capo form found in all other arias in the collection (Example 1 p. 253). Its binary-like structure (AA :|| BA’ with surrounding ritornellos) is reminiscent of songs and odes, bringing to mind Scheibe’s advice that “in so genannten Galanterienkantaten, die entweder verliebt, oder scherzhaft sind, kann man sich eher dieser Freyheit bedienen, und dergleichen odenmäßige Arien einrücken, weil man sie alsdann gar wohl auf Odenart componiren kann” (in so-called Galanterien cantatas, which are either amorous or humorous, one can more easily avail oneself of this freedom and insert ode-like arias into them; then one may certainly compose the arias in ode style). Although Die Land-Lust is not amorous, it can be considered humorous in that its low, rustic musical style (featuring drones, repetitive melodies and rhythms, and sliding ornaments) carried comic associations, just as the concluding aria of Die Zufriedenheit explicitly associates the word “scherzen” with a rustic topic featuring a drone. Indeed, the longstanding association of the pastoral with humor may explain why the Sechs Cantaten were described by Ernst Ludwig Gerber in 1792 as “Cantaten mit einer lustigen Poesie” (cantatas with merry poetry).54 Representing the opposite end of the affective spectrum is the fiery opening movement of Die Liebe, which Telemann sets as an operatic rage aria: Du bist ein tolles Ungeheuer, You are a tremendous monster, ein Pfeil, ein Netz, ein Gift, ein Feuer, An arrow, a net, a poison, a fire, und doch, o Liebe, lach’ ich dein! And yet, O love, I laugh at you!   Ich weiß in meinen Tagen   I know from experience   von deiner Macht und Plagen   Not to speak against   gar wenig nachzusagen,   Your might and afflictions,   und bin doch weder Geist noch Stein.   And indeed I am neither spirit nor stone.

As may be seen in Example 2 (p. 254  f.), here the obbligato instrument is not a piping shepherd, but the orchestra of the Hamburg Opera. The vocal part, while containing some indignant coloratura writing, makes the appropriate effect without overly taxing Telemann’s target audience of amateur singers. Similarly, the fiery flute/violin part contains several arrows in its quiver (mm. 26–28) but places only moderate demands on the player. Like the actual opera arias given in reduced scorings in Der getreue Music-Meister, this simulated one allowed the world of professional theater music an easy entry point into the homes of music lovers. 54

Ernst Ludwig Gerber: Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler. 2 vols. Graz 1977 [Reprint of ed. Leipzig: Breitkopf 1792]. Vol. 2, col. 632. On the pastoral-comic association, see Steven Zohn: Music for a Mixed Taste: Style, Genre, and Meaning in Telemann’s Instrumental Works. New York 2008, pp. 485–488.

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project

247

We may wish to imagine that Telemann’s moral cantatas inspired similar works by other German composers. But such does not appear to have been the case, notwithstanding Scheibe’s description of the chamber cantata as corresponding closely to Telemann’s published examples. Yet the moral publishing project described here, encompassing musical journals (Der getreue Music-Meister and the Singe-, Spielund General-Bass-Übungen) and several other collections of vocal chamber music (the two sets of VI moralische Cantaten and the Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden) must have resonated with the same segment of the German-speaking population that eagerly consumed moral poetry and weekly journals. For such readers, Telemann’s publications provided enlightening moral instruction on both the literary and musical planes.

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248 Table 1: Telemann’s Published Moral Cantatas, Songs, and Odes Publication/Works with TVWV Number

Author of Poem or Libretto

Der getreue Music-Meister (Hamburg: Telemann, 1728–29)   Ich kann lachen, weinen, scherzen, 20:15

Christiana Mariana von Ziegler

Sechs Cantaten (Hamburg: Telemann, 1731)  1. Dich wird stets mein Herz erlesen, 20:17  2. Mein Vergnügen wird sich fügen, 20:18  3. Mein Schicksal zeigt mir nur von ferne, 20:19  4. Dein Auge tränt, 20:20  5. Leben will ich, 20:21  6. In einem Tal, 20:22

Achilles Augustus von Lersner Johann Ulrich von König Johann Philipp Praetorius Johann Georg Hamann Anon. Anon.

Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen (Hamburg: Telemann, 1733–34)   1. “Neues”, 25:39   3. “Zufriedenheit”, 25:41   5. “Splitter-Richter”, 25:43   6. “Getrost im Leiden”, 25:44   8. “Wechsel”, 25:46   18. “Heyraht”, 25:56   19. “Gemüts-Ruhe”, 25:57   20. “Die Jugend”, 25:58   21. “Ohnesorge”, 25:59   23. “Beglückte Niedrigkeit”, 25:61   24. “Die Einsamkeit”, 25:62   25. “Sanfter Schlaf”, 25:63   27. “Geizhals”, 25:65   30. “Interessirte Heyraht”, 25:68   33. “Glück”, 25:71   34. “Mittel-Stand”, 25:72   35. “Sein eigner Herr”, 25:73   36. “Mäßigkeit”, 25:74   38. “Beherzter Freyer”, 25:76   41. “Verläumder”, 25:78   42. “Freundschaft”, 25:79   44. “Heuchler”, 25:81   45. “Großthuer”, 25:82   47. “Andrer Last unsre Lust”, 25:84   48. “Jeder sein eigner Richter”, 25:85

“W.” Daniel Stoppe Anon. “M.” Stoppe Stoppe Johann Christian Günther Joachim J. D. Zimmermann Stoppe Stoppe Zimmermann Stoppe Christoph Heinrich Amthor “G.” Stoppe Friedrich R. L. von Canitz Anon. Anon. Anon. Zimmermann Stoppe Albrecht von Haller “G.” Johann Christoph Gottsched Stoppe

VI moralische Cantaten (Hamburg: Telemann, 1735)  1. Die Zeit, 20:23  2. Hoffnung, 20:24  3. Das Glück, 20:25  4. Der Geiz, 20:26  5. Die Falschheit, 20:27  6. Großmut, 20:28

Stoppe Stoppe Stoppe Stoppe Stoppe Anon.

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project

Publication/Works with TVWV Number

Author of Poem or Libretto

VI moralische Cantaten (Hamburg: Telemann, 1736)  1. Die Zufriedenheit, 20:29  2. Ton-Kunst, 20:30  3. Das mäßige Glück, 20:31  4. Die Liebe, 20:32  5. Die Land-Lust, 20:33  6. Die Freundschaft, 20:34

Zimmermann Zimmermann Zimmermann Zimmermann Zimmermann Zimmermann

Vierundzwanzig theils ernsthafte, theils scherzende Oden (Hamburg: Christian Herold, 1741)   2. “Die Vergnügen”, 25:87   3. “Die Tugend”, 25:88   4. “Der Schäfer”, 25:89   7. “Wahre Vorzüge”, 25:92   10. “Der Mittelstand zwischen Reichtum und Armut”, 25:95   11. “Vernünftige Lust”, 25:96   13. “Jugendlust”, 25:98   14. “Die schlechte Mahlzeit”, 25:99   16. “Ein guter Mut”, 25:101   18. “Das vergnügte Schäferleben”, 25:103   19. “Die Zufriedenheit”, 25:104   20. “Die Gnügsamkeit”, 25:105   22. “Der Freund”, 25:107

Stoppe Johann Matthias Dreyer Johann Arnold Ebert Dreyer Stoppe Dreyer Friedrich von Hagedorn Stoppe Ebert Stoppe Ebert Stoppe Ebert

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250 Table 2: Telemann, Mein Herze lachet vor Vergnügen, TVWV 20:58, libretto 1. Aria Mein Herze lachet vor Vergnügen und weiß doch dessen Ursprung nicht.   Vielleicht kann’s sein, daß das Gelücke   mir unbewußt gewogne Blicke   auf meine Wohlfahrt hat gericht‘?

1. Aria My heart laughs with pleasure Without knowing its source.   Could it be that the fortune   Of my unexpectedly happy state   Is due to my prosperity?

2. Recitativo Allein, ihr lacht vielleicht zu früh, betrogne Sinnen! Wer oftermals sucht, etwas zu gewinnen, der kömmt um Ruh und weiß nicht, wie. Den Schmeichelein des eiteln Glückes trauen, heißt in die Luft verwünschte Schlösser bauen. Das Glück ist noch, als wie es ehmals war: blind, falsch und wandelbar.

2. Recitative But perhaps you laugh too soon, deceived senses! Whoever repeatedly strives to attain something Will achieve peace without knowing how. The flatteries of idle fortune Build wished-for castles in the air. Fortune remains as it ever was: Blind, false, and changeable.

3. Aria Wer nach eitlem Glücke tracht’, greift nach leeren Schatten.   Ja, es trifft zum öftern ein,   daß uns das muß schädlich sein,   welches wir für gut geacht’   und so sehr gewünschet hatten.

3. Aria Whoever strives for idle fortune Clutches at empty shadows.   Yes, it often happens   That what we held in esteem   And so strongly wished for   Proves detrimental to us.

4. Recitativo Ein wohlgesetzter Geist hält die Zufriedenheit für seine schönste Frucht und glaubet, daß der glücklich heißt, wer gar kein Glücke sucht. Ja, die Vernünftgen lassen ihnen das Unglück selbst zum Glücke dienen. Denn in der Tat ist sonst kein Unglück auf der Welt, als welches man für Unglück hält. Drum will ich künftig nur in allen Sachen mein Glücke selber machen, das heißt, ich bilde mir vollkommnes Wohlsein ein, so kann ich glücklicher als Alexander sein.

4. Recitative A well-ordered spirit Considers contentedness the loveliest fruit And believes that a fortunate person Is one who does not seek fortune at all. Indeed, reasonable people let Misfortune itself serve as fortune. For in fact there is no misfortune in the world Other than that which one considers ­misfortune. Therefore, in the future I will always endeavor To make my own fortune, That is, by imagining for myself complete well being, I can be more fortunate than Alexander.

5. Aria Vergnüge dich, gelaßnes Herze, vergnüge dich und sei zufrieden.   Verlange keinen Überfluß,   er machet meistenteils Verdruß.   Der Himmel kennet schon dein Heil   und hat dir deinen rechten Teil,   soviel dir nützlich ist, beschieden.

5. Aria Please yourself, serene heart, Please yourself and be content.   Do not demand opulence,   Which usually causes vexation.   Heaven already recognizes your salvation   And has granted you your right part,   Insofar as it is useful to you.

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project

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Fig. 1: Telemann, Ich kann lachen, weinen, scherzen, TVWV 20:15, movement 1, mm. 1–38, from Der getreue-Music-Meister, Lection 19 (1729), p. 74

252

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Fig. 2: Daniel Stoppe, Die Zeit verzehrt die eignen Kinder, from Der Parnaß im Sättler, Oder: Scherz- und Ernsthafte Gedichte (Frankfurt and Leipzig: Franz Christian Mumme, 1735), pp. 72–73

“Am besten bleib’ ich in der Mitte”: Telemann’s Moral Publishing Project

253

Example 1: Telemann, Die Land-Lust, TVWV 20:33, movement 1, mm. 1–23, from VI moralische Cantaten (Hamburg: Telemann, 1736). Reprinted from Georg Philipp Telemann, K ­ ammerkantaten, ed. Steven Zohn, Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke, vol. 44 (Kassel: Bärenreiter, 2011). 155

Die Land-Lust TVWV 20:33

1. Arie Hirten-mäßig Violino oder Traverse Singstimme

Generalbaß

6 4

6 4

6 4

5 3

6 4

7 2

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7

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6

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6

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6

© 2011 by Bärenreiter-Verlag, Kassel

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Example 2: Telemann, Die Liebe, TVWV 20:32, movement 1, mm. 1–29, from VI moralische Cantaten (Hamburg: Telemann, 1736). Reprinted from Georg Philipp Telemann, K ­ ammerkantaten, ed. Steven Zohn, Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke, vol. 44 (Kassel: Bärenreiter, 2011). 146

Die Liebe TVWV 20:32

1. Arie Hurtig Violino oder Traverse Singstimme

Generalbaß

7

6

6

6

6

4

3

6

5

6

6

3

6

6

6

7

6

8

3

3

Du bist ein

6

6

6

7

6

6

6

6

6

12

tol

les

Un ge

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Pfeil,

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Netz,

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Gift,

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Feu

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Example 2 (continued) 147 15 3

3 3

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7

6

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6

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6 4

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6

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6

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23

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6

du bist ein

6

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6

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27

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6

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6

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6

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6

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6

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6

H ansjörg D rauschke

Die weltliche Kantate in Hamburg zwischen 1700 und 1715 Thesen zu Produktions- und Rezeptionsmodi eines aristokratischen Modells im urbanen Raum 1 Einleitung Die jüngere Forschung zur weltlichen Kantate im deutschsprachigen urbanen Raum um 1700 zeigt ein paradoxes Bild. Einerseits gilt die italienische Cantata da camera als verbindliches Muster für die in Deutschland produzierten Kantaten; dieses Muster wurde in Städten wie Hamburg oder Leipzig adaptiert und zu deutsch textierten Genres transformiert, wobei neben weltlicher Kantatendichtung auch die protestantische Kirchenkantate entstand. Andererseits stehen diese deutschen Genres erstaunlich einseitig im Vordergrund des Interesses. Themen sind unter anderem die Verortung der Kantatendichtung Christian Friedrich Hunolds und anderer in der galanten Literatur (auch als Einlagedichtung in Romane und Libretti),1 Quellen-, Überlieferungs- und Stilfragen zu Kompositionen solcher Texte,2 die ‚moralische Kantate‘ als Phänomen der Frühaufklärung3 sowie der Zusammenhang zwischen der Ausbildung eines frühbürgerlich-urbanen Musikalienmarktes und der Publikation 1

2

3

Zu Neumeister: Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), S. 133–136; zu Hunold: Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin u. Boston 2012 (Frühe Neuzeit 167), besonders S. 257– 271; zu Lehms Michael Maul: „Daß die Poësie die beste und schlimmste Wißenschafft sey“. Neues zum frühen Schaffen von Georg Christoph Lehms. In: Ursula Kramer (Hg.): Musikalische Handlungsräume im Wandel. Christoph Graupner in Darmstadt zwischen Oper und Sinfonie. Mainz 2011 (Beiträge zur mittelrheinischen Musikgeschichte 42), S. 181–208. Zu Keiser: Klaus-Peter Koch: Reinhard Keisers gedruckte weltliche Kantaten (1698−1715). In: Bert Siegmund (Hg.): Zur Entwicklung, Verbreitung und Ausführung vokaler Kammermusik im 18. Jahrhundert. Michaelstein 1997 (Michaelsteiner Konferenzberichte 51), S. 49−63; Ders.: Aurora von Königsmarck und Reinhard Keiser. Zur Musikausübung in adligen Kreisen. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V. Jahrbuch 2000 (2001), S. 74–82; Gunilla Eschenbach: Die moralischen Kantaten Christian Friedrich Hunolds in der „Musicalischen Land=Lust“ (1714) von Reinhard Keiser. In: Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha 2006, S. 154–173, hier: S. 164–169; zu Telemann: Günter Fleischhauer: Georg Philipp Telemanns Zyklen „VI Moralische Cantaten“ (TVWV 20:23–28 und 29–34) im Urteil Johann Adolph Scheibes. In: Carsten Lange (Hg.): Günter Fleischhauer. Annotationen zu Georg Philipp Telemann. Ausgewählte Schriften. Hildesheim 2007 (Magdeburger Telemann-Studien 19), S. 267–290, hier: S. 272–288. Fleischhauer: Telemanns Zyklen „VI Moralische Cantaten“ (wie Anm. 2), S. 272; Eschenbach: Die moralischen Kantaten Hunolds (wie Anm. 2); Koch: Keisers gedruckte weltliche Kantaten (wie Anm. 2), S. 51.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-014

Die weltliche Kantate in Hamburg zwischen 1700 und 1715

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von Kantatenkompositionen.4 Die zum Teil von denselben Protagonisten an denselben Orten produzierten italienischen Kantaten blieben dagegen nahezu unerforscht; das gilt für Texte ebenso wie für Kompositionen.5 Von der Musikwissenschaft wurde Hamburg als Zentrum der Produktion und Publi­kation von Kantatenkompositionen (Reinhard Keiser, später Georg Philipp Telemann) besonders intensiv untersucht.6 Entsprechend spielt die Stadt auch im Kantatenartikel der Neuen MGG eine zentrale Rolle. Friedhelm Krummacher konstatiert hier, dass mit Keisers vier Hamburger Kantatendrucken – der Gemüths-Ergötzung (1698), den Divertimenti serenissimi (1713), der Land-Lust (1714) und der FriedensPost (1715) – „die Geschichte der eigentlichen Solokantate in Deutschland“ beginnt.7 Diese Drucke, so Krummacher, orientierten sich an „Bedürfnisse[n] der Hausmusik“; und über das von Keiser 1714 und 1715 verwendete Etikett „moralische Kantate“ lasse sich eine direkte Verbindung zu Telemanns Kantatendrucken der 1730er-Jahre herstellen.8 Weiter heißt es: Zugleich trat zunehmend die italienisch textierte Solokantate hervor, die jedoch – angeregt durch in Deutschland tätige Italiener – eine durchaus höfische Gattung blieb. Als ein Ausläufer der italienischen Cantata ist sie hier nur am Rande zu erwähnen, obwohl die Produktion solcher Stücke umfänglicher als die von deutschen Solokantaten war. Eine führende Stellung kommt wieder Keiser zu, dessen Divertimenti serenissimi (1713) in recht knappen Formen den italienischen Gattungstypus vertreten. Aus derselben Zeit sind weitere Belege auch von J. Fischer, J. Greber und J. Chr. Pez erhalten. Hauptvertreter wurde aber J. D. Heinichen […].9

Reinmar Emans behandelt die an den deutschen Höfen gepflegte italienische Kantate im Abschnitt zu Italien, Unterkapitel „Der Niedergang der Kantate“; italienische Kantaten Hamburger Provenienz spielen hier keine Rolle.10  4

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Ann Catherine Le Bar: Musical culture and the origins of the Enlightenment in Hamburg. Phil. Diss. Washington 1993, Kapitel 6 (ab S. 264). Zu Telemann s. die Beiträge von Ann Le Bar und Steven Zohn in diesem Band. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Marc Föcking: Hamburger Barock? Barthold Hinrich Brockes’ italienische Literatur. In: Johann Anselm Steiger u. Sandra Richter (Hg.): Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Berlin 2012 (Metropolis. Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit), S. 491–507, besonders S. 497– 500. Exemplarisch Le Bar: Musical culture (wie Anm. 4). Darüber herrscht bereits in der älteren Literatur Einigkeit: Hermann Kretzschmar: Geschichte des Neuen deutschen Liedes. 1. Teil: Von Albert bis Zelter. Leipzig 1911 (Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen 4), S. 143–147; Eugen Schmitz: Geschichte der weltlichen Solokantate. 2. Aufl. Leipzig 1955 [1. Aufl. 1914], S. 272. Friedhelm Krummacher: Kantate: IV. Deutschland/ 6. Die weltliche Kantate in Deutschland/ b. Die Solokantate bis zur Jahrhundertmitte. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearb. Ausg. hg. v. Ludwig Finscher [= MGG2]. Sachteil 4, Kassel u.  a. 1996, Sp. 1751  f., hier: Sp. 1751; vgl. Le Bar: Musical culture (wie Anm. 4), S. 270. Krummacher: Kantate (wie Anm. 8), Sp. 1752. – Johann Fischer, Jacob Greber, Johann Christoph Pez und Johann David Heinichen waren als Hofkomponisten tätig. Reinmar Emans: Kantate: II. Italien/ 4. Der Niedergang der Kantate/ b. Die italienische Kantate an den deutschen Höfen im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. In: MGG2. Sachteil 4 (1996), Sp. 1722  f., hier: Sp. 1722.

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Der MGG-Artikel referiert grundlegende Denkmuster: Die „eigentliche“ Solokantate in Deutschland ist deutsch textiert und erscheint gedruckt: zuerst 1698–1715 bei Keiser,11 dessen Muster Telemann später aufgreift.12 Dagegen „bleibt“ die italienisch textierte Kantate ein höfisches Genre, das keine Eigenständigkeit entwickelt.13 Die angesichts dessen erstaunlich geringe Zahl an Kompositionen deutscher Kantatentexte wird neuerdings nicht mehr begründet.14 Die Scheidung der in Deutschland produzierten weltlichen Kantaten nach Sprachen und entsprechenden Produktionsorten (italienisch/höfisch vs. deutsch/städtisch) sowie die Konzentration auf die in den urbanen Zentren entstandenen einschlägigen Drucke lassen progressive Tendenzen der deutschen weltlichen Kantate prägnant hervortreten. Diese werden durch die parallele Entwicklung der protestantischen Kirchenkantate bestätigt und bestätigen ihrerseits Prämissen der Aufklärungsforschung.15 Aus dem weiten Spektrum der um 1700 stattfindenden Adaptationsprozesse der Cantata werden dabei aber nur bestimmte Ausschnitte berücksichtigt. Ein Überblick über die derzeit für den Hamburger Kontext erschließbare Kantatenproduktion zwischen 1698 und 1715 liefert folgendes Ergebnis: Von Mattheson und Keiser zusammen sind aus diesem Zeitraum 15 deutsche und 24 italienische Solokantaten sowie eine mit deutsch-italienischem Mischtext musikalisch überliefert. Mattheson komponierte mit Sicherheit weitere sechs heute verschollene italienische Kantaten. Rechnet man diese, Bronners verschollene deutsche Kantaten sowie weitere fünf in Hunolds Theatralischen […] Gedichten überlieferte Kantatentexte, die vermutlich alle von Keiser komponiert wurden, hinzu, so ergeben sich 26 deutsche und 30 italienische Kantaten. Das Verhältnis verschiebt sich für Hamburg nochmals zum Italienischen hin, wenn man die sieben Kantaten in Keisers Gemüths-Ergötzung abzieht, die wohl alle in Wolfenbüttel entstanden. Mit erheblichen Dunkelziffern ist für beide Sprachen zu rechnen. Der Blick auf diese Gesamtheit an Werken führt zu zwei Erkenntnissen und zu einer Reihe von Fragen. Die Erkenntnisse: Erstens lässt sich die italienische Kantate um 1700 nicht als höfisches Genre abtun, vielmehr ist sie ein integraler Bestandteil 11

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1699 auch bereits bei Georg Bronner, dessen 6 deutsche Cantaten […] nach italienischer Manier, gedruckt Leipzig 1699, ebenfalls in Hamburg entstanden sein müssen. Der Druck ist verschollen; Friedhelm Krummacher: Bronner, Georg. In: MGG2. Personenteil 3 (2000), Sp. 977–979, hier: Sp. 977. Dazu jüngst: Georg Philipp Telemann: Kammerkantaten. Hg. v. Steven Zohn. Kassel 2011 (Telemann. Musikalische Werke 44), S. IX. So bereits Schmitz: Geschichte der weltlichen Solokantate (wie Anm. 7), S. 274, 276. Den Widerspruch zwischen dieser Feststellung und dem Umstand, dass auch hier Keiser 1713 mit einem Druck als Pionier dasteht – zu einer Zeit, als er längst kein Hofkomponist mehr war –, löst Schmitz ebenso wenig auf wie Krummacher. Die ältere Literatur sah, im Anschluss an Gottsched, einen Mangel an qualitativ hochwertigen deutschen Kantatendichtungen als Grund an; Schmitz: Geschichte der weltlichen Solokantate (wie Anm. 7), S. 272–274; Kretzschmar: Geschichte des Neuen deutschen Liedes I (wie Anm. 7), S. 147; so auch noch Le Bar: Musical culture (wie Anm. 4), S. 265, 268. Le Bar: Musical culture (wie Anm. 4).

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auch der urbanen Kultur. Zweitens lässt sich die Hamburger weltliche Kantatenproduktion durch einseitige Untersuchung der Drucke, in denen deutsch textierte Kantaten bei weitem überwiegen, nicht umfassend beschreiben. Damit beginnen die Fragen: Welche sozialen Orte und kulturellen Praktiken standen in Hamburg hinter dem Genre? Lassen sich die Sprachen speziellen Orten oder Praktiken zuordnen? Wer waren die Ausübenden? Woher stammen die italienischen Texte? Welche Rolle spielte die Drucklegung für Produktion und Rezeption von Kantaten? Warum lassen sich nur Bronner, Mattheson und Keiser als Hamburger Kantatenkomponisten nachweisen, in einer Zeit, in der auch Christoph Graupner, Johann Christian Schieferdecker und Georg Friedrich Händel in Hamburg waren und dort zumindest an der Oper aktiv wurden? Warum publizierte nur Keiser in Hamburg Kantaten? Weiteres ließe sich anschließen. Diesen Fragen werde ich im Folgenden in fünf nach Entstehungskontexten des untersuchten Materials gegliederten Abschnitten nachgehen. Sie beschäftigen sich mit Keisers Pastoralszenen für Braunschweig-Wolfenbüttel (I), mit Hamburger Kantaten für Aristokraten und Bürger (II), mit Kantaten für die Hamburger Oper und ihre Sängerinnen (III), mit Keisers ‚Moralischen Kantaten‘ (IV) und mit Arien und Kantaten Keisers für ein Hamburger Friedensfest (V). Ziel ist es, Modi der Produktion und Rezeption von Kantatentexten und ihren Vertonungen herauszuarbeiten. Dabei wird sich zeigen, – dass die Drucklegung der Kompositionen in den meisten, wenn nicht sogar in allen Fällen bereits zu einer sekundären Rezeption der Werke führte bzw. (im Falle Matthesons) hätte führen sollen, die mit einer Neukontextualisierung der Werke einherging; – dass die Zusammenhänge zwischen der Textsprache, der Entstehung der Kompositionen, ihrer Präsentation im Druck und der jeweils intendierten Zielgruppe äußerst vielschichtig waren; – schließlich, dass die Produktions- und Rezeptionskontexte für die Kantate um 1700 (Mattheson, Keiser) sich deutlich von denen um 1730 (Telemann) unterscheiden.16 Der vorliegende Aufsatz wäre nicht möglich gewesen ohne die Ergebnisse zweier Forschungsprojekte, die ich in den letzten Jahren durchgeführt habe: die gemeinsam mit Thomas Ihlenfeldt (Bremen) besorgte Gesamtausgabe der erhaltenen weltlichen Vokalmusik Keisers (2004/05 und 2012–2014) sowie Studien zum Opern- und Kantatenschaffen Matthesons.17 16 17

Bronner muss im Weiteren ausgeklammert bleiben, da über seine 6 deutschen Kantaten nichts bekannt ist. Aus den Projekten gingen folgende Publikationen hervor: Reinhard Keiser: Hercules auf dem Scheide=Wege/ Entlaubte Wälder. Hg. v. Hansjörg Drauschke u. Thomas Ihlenfeldt. Wilhelmshaven 2005; Reinhard Keiser: Weltliche Kantaten und Arien. 2 Bände. Hg. v. Hansjörg Drauschke u. Thomas Ihlenfeldt, Bd. I: Werke aus gedruckter Überlieferung. Bd. II: Werke aus handschriftlicher Überlieferung. Beeskow 2012, 2013 (Musik zwischen Elbe und Oder 30, 31); Hansjörg

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2  Keisers Pastoralszenen für Braunschweig-Wolfenbüttel Keiser publizierte 1698 in Hamburg unter dem Titel Gemüths-Ergötzung sieben Solokantaten auf deutsche Texte Christian Heinrich Postels. Es handelt sich um kleine Szenen, die in den ersten sechs Kantaten einen episch-dramatischen Typ verkörpern: Ein Erzähler stellt im Eingangsrezitativ eine arkadische Szenerie vor und eröffnet eine Handlung mit zum Teil mehreren Protagonisten. Er moderiert im Weiteren die Personen- und Affektwechsel und liefert mitunter Eigenkommentare. Nur bei der letzten Kantate (Die rasende Eyfersucht) handelt es sich auch textlich um eine Soloszene, die zudem nicht im pastoralen Ambiente spielt, sondern auf den Bereich der mythologischen (Opern-)Stoffe verweist. Für die zweite Kantate (Der vergnügte Amyntas) ist mit der Hochzeit des Wolfenbütteler Hofdichters Friedrich Christian Bressand im Sommer 1696 der Entstehungsanlass bekannt.18 Aus Keisers Widmung der Gemüths-Ergötzung an Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel lässt sich schließen, dass es sich bei den Kantaten durchgehend um Wolfenbütteler Material handelt. Sie entstanden demnach im höfischen Kontext und wurden nachträglich für den Druck zusammengestellt. Keiser ersucht die potenziellen Käufer ausdrücklich, es nicht übel [zu] deuten […]/ daß sie allhier nicht Stükke aus allen Thonen finden; sondern so wie sie von ohngefähr in die Feder gefallen/ weil man bey Verfärtigung derselben gar nicht den Vorsatz gehabt/ sie durch den Druck gemein zu machen; sondern sie sind streu=weise guten Freunden zu gefallen verfärtiget/ und weil ihnen unvermuhtlich das Glück und die Ehre zugewachsen/ daß sie denen Liebhabern gefallen/ so sind sie bei vielen Musikalischen Versammlungen gemachet/ und bald von Frembden/ bald von Einheimischen zu copiiren, vielmehr aber zum Druck verlanget worden […].19

Dafür, dass die Kantaten nicht als Zyklus konzipiert waren,20 spricht auch ihre ungewöhnliche Siebenzahl. Sie lässt eher an eine ‚Gesamtausgabe‘ – z.  B. aller großen kantatenartigen Musiken der Wolfenbütteler Periode (1694–1697) oder aller derartigen Musiken auf Postel-Texte – denken.

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Drauschke: Vokale Kammermusik in Hamburg. Keiser, Mattheson und Händel. In: Freundes- und Förderkreis des Händel-Hauses zu Halle e.V.: Mitteilungen 1/2014, S. 56–61; Ders.: Johann Matthesons Kantatenproduktion. Zur Auseinandersetzung Hamburger Komponisten mit einem ita­lienischen Modell. In: Simon Kannenberg (Hg.): Studien zum 250. Todestag Johann Matthesons. Musikschriftstellerei und -journalismus in Hamburg. Zweite, überarbeitete Auflage. Berlin 2017 (Musik und. Neue Folge 12), S. 141–189; Ders.: Die Opern Johann Matthesons 1699–1711. Hildesheim (erscheint 2018). – Werkbestände, Datierungen und Quellenlage der hier besprochenen Keiser-Kantaten sind in Keiser: Kantaten und Arien I, II. (Vorworte, Kritische Berichte) systematisch dargestellt. Auf diese beiden Bände werde ich im Folgenden nur ausnahmsweise, etwa für Faksimiles, verweisen. Ein entsprechender Einzeldruck des Textes erschien in Wolfenbüttel bei Caspar Johann Bismarcks Witwe. „Hochgeehrter Leser“; Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XXXIII, Abb. 3. Als solchen sah Ann Le Bar die Gemüths-Ergötzung an; Le Bar: Musical culture (wie Anm. 4), S. 290–303.

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Keisers Formulierungen, die Stücke seien „streu=weise guten Freunden zu gefallen verfärtiget“ und dann mehrfach auf „Musikalischen Versammlungen“ gespielt worden, verweisen zum einen auf Gelegenheitsmusiken (wie die Hochzeitsmusik für Bressand), zum anderen auf Veranstaltungen in der Art der conversazioni und damit auf spezielle Praktiken einer aristokratischen Musikkultur.21 Ob Keisers Terminologie ein bestimmtes Format bezeichnet oder ob verschiedene Formen von (Konzert-)Veranstaltungen gemeint sind, ist derzeit nicht zu klären.22 Offen ist auch, wie die Kompositionen zu Keisers Ämtern als Opernkapellmeister und „CammerComponist“23 im Verhältnis stehen. Jedenfalls handelt es sich nicht um Cantate da camera im engeren Sinne, und das prägt auch den musikalischen Stil der Werke. Die „vermischte Sing=Art“ der Oper, so Keiser, „nemlich bald Recitativ, bald Arien, und diese bald lustig/ bald traurig/ bald aus diesem/ bald aus jenem Thon“, sei hier auf die inhaltliche Vorlage der deutschen Ode angewandt worden, um opernanaloge Szenen für nur einen Solisten zu schaffen – und zwar, weil „allemahl […] ein Stück aus einer Opera zu machen/ wegen Abwechselung der Personen nicht thulich“.24 Die Anlage der Stücke war demnach dem Wunsch geschuldet, Pastoralen im Miniaturformat als Opernersatz aufzuführen. Entsprechend habe Keiser für seine Komposition „mit Fleiß […] nicht so sehr den Kammer= als den Theatralischen Stiel erwählet“.25 Das zeigt sich in der scharfen Zeichnung der einzelnen Charaktere, in der Ausrichtung der Arien auf den jeweiligen ‚dramatischen‘ Zusammenhang und nicht zuletzt in der abwechslungsreichen Instrumentierung, mit der Keiser dem formalen Reichtum der Texte entspricht. Wahrscheinlich hatten die ursprünglichen Fassungen einen vierstimmigen Tutti-Satz, der für den Druck zur Dreistimmigkeit reduziert wurde. Dabei wäre die vielfältige Verwendung von Holzbläsern (Oboi, Flauti dolci, obligates Fagott) und Streichern (neben Violini I/II, Violini unisoni und Violino solo auch Viola da gamba und Violette) beibehalten geblieben. Für die Wolfenbütteler Aufführungen müssen in jedem Falle professionelle Kräfte zur Verfügung gestanden haben. Die in der Literatur immer wieder beschworene hohe künstlerische Qualität der Gemüths-Ergötzung resultierte also offenbar nicht in erster Linie aus Postels und

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Zu römischen conversazioni während Händels Italien-Aufenthalt: Juliane Riepe: Händel vor dem Fernrohr. Die Italienreise. Beeskow 2013 (Studien der Stiftung Händel-Haus 1), S. 85–97. Bestandteil der groß dimensionierten Wolfenbütteler Festveranstaltungen scheinen die Stücke nicht gewesen zu sein. Zu deren Gestaltung: Sara Smart: Doppelte Freude der Musen. Court Festivities in Brunswick-Wolfenbüttel 1642–1700. Wiesbaden 1989 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 19), Kapitel V (besonders ab S. 200). – Die ausgeprägt arkadische Ausrichtung der Texte könnte, abgesehen vom Traditionszusammenhang der deutschen und italienischen Schäferdichtung, auch mit speziellen Vorlieben am Wolfenbütteler Hof zusammenhängen; vgl. ebd., S. 206  f. Gustav Friedrich Schmidt: Die frühdeutsche Oper und die musikdramatische Kunst Georg Caspar Schürmann’s. Bd. 1: Georg Caspar Schürmann. Regensburg 1933, S. 19. „Hochgeehrter Leser“ (wie Anm. 19). Ebd.

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Keisers besonderen Ambitionen bei der Anverwandlung der Cantata, sondern aus der Nähe der Stücke zur Oper. Wenn Keiser die „allhier durch den Druck der Welt mitgetheileten“ Szenen als „Sing=Gedichte“ bzw. „Cantaten“ vorstellt und sie auf die Ode und die Oper bezieht, argumentiert er ausgesprochen clever. Zwar verschweigt er den Entstehungskontext der Werke nicht. Er knüpft aber zugleich direkt (nicht zuletzt mit der bekannten Formulierung „Stück aus einer Opera“) an die Kantatendefinition Neumeisters an, dessen zu dem Zeitpunkt noch ungedruckte Poetik ihm bekannt gewesen sein muss, und legitimiert über die Entwicklungslinie Ode– Kantate die Länge der Szenen und ihre Wechsel zwischen Erzähler- und Ich-Per­ spektive. Diese Argumentation ermöglicht es, die Gemüths-Ergötzung umstandslos und unter Verweis auf das italienische Vorbild als „Cantaten“-Sammlung anzusprechen, obwohl die meisten der Stücke nicht die typische Textform der italienischen Cantata um 1700 verkörpern, wie sie von Hunold und anderen aufgegriffen und im begleitenden Diskurs unter anderem von Hunold, Heinichen, Mattheson, Feind und König propagiert wurde.26 Es lässt sich festhalten, dass pragmatische und künstlerische Aspekte der Produktion und primären Rezeption der Musiken, die Keiser in die Gemüths-Ergötzung aufnahm, vom höfischen Kontext in Wolfenbüttel geprägt waren. Die Hamburger Drucklegung bedeutete eine Zweitverwertung der Werke. Neben der Nachfrage durch Liebhaber dürfte vor allem Keisers Gang nach Hamburg als Verlagsort und Markt diese Drucklegung verursacht haben. Hier erschienen seit den 1680er-Jahren Opernauswahldrucke. Keiser hätte ebenfalls zuerst einen solchen Druck vorlegen können. Dafür, dass er stattdessen mit Kantaten in den Markt einstieg (erst 1701 erschien sein erster Operndruck), scheint sein ausgeprägter Sinn für Innovationen ausschlaggebend gewesen zu sein. Neben vielen Neuerungen im Bereich Oper und Oratorium brachte er in Hamburg nicht nur die ersten Kantaten, sondern 1714 und 1715 auch die ersten Oratoriendrucke heraus.27 Kantaten, so kann man zugespitzt formulieren, publizierte Keiser als innovatives Genre, noch bevor er solche Stücke im engeren Sinne überhaupt komponiert hatte. Zu den aus heutiger Sicht bedeutendsten frühen deutschen weltlichen Kantatenkompositionen wurden die in der Gemüths-Ergötzung enthaltenen Stücke erst durch den Druck, der sie, mit einem poetologisch und musikologisch prägnanten Vorwort versehen und möglicherweise bearbeitet, als „Cantaten“ präsentierte. Dabei wurden sie von ihrem höfischen Produktions- und Rezeptionskontext, innerhalb dessen sie für Aufführungen vor ausgewählter Öffentlichkeit und durch professionelle Kräfte bestimmt waren, in einen urbanen Rezeptionskontext überführt, in dem sie einer

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Einen Überblick über das Schrifttum bietet Zohn in: Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 12), S. Xf. Vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag von Berthold Over im vorliegenden Band. Zu den Oratorien: Herbert Lölkes: „[…] damit ein vollständiges/ zur Christlichen Ubung dienendes/ Opus daraus erwachse.“ Zu den Soliloquiadrucken aus Reinhard Keisers Passionen. In: Archiv für Musikwissenschaft 54 (1997), S. 299–320.

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theoretisch unbegrenzten, auch überregionalen Öffentlichkeit als kompositorische Muster, als Angebot zum (häuslichen) Musizieren oder auch als Sammlerobjekt zur Verfügung standen. Für die Rezeption durch ein städtisches Publikum, damit für den Absatz des Druckes, waren die deutschen Texte sicherlich von Vorteil (zumal auch die Opernauswahldrucke zu dieser Zeit noch ausschließlich deutsch textierte Musik enthielten). Im Kontext der Produktion der Kantaten ist die Wahl der Sprache wohl auf die generelle Vorliebe Anton Ulrichs und seines Hofes für deutsche Librettistik – gerade auch im Bereich der Oper – zurückzuführen. Gelegenheitsmusiken dürften, wie das auch in Hamburg der Fall war, ohnehin eher auf deutsche Texte komponiert worden sein. Vermutlich hat Keiser in Wolfenbüttel noch gar keine italienische Vokalmusik geschrieben. Seine bekannten Kompositionen auf italienische Texte lassen sich jedenfalls relativ sicher in die Zeit ab 1700 datieren.

3  Hamburger Kantaten für Aristokraten und Bürger Erst 1713 gab Keiser erneut einen Druck mit vokaler Kammermusik heraus: die Divertimenti serenissimi. Sie enthalten an italienisch textierten Stücken ein zweiteiliges Kammerduett, eine Duettarie, eine Soloarie sowie zwei Kantaten nach dem Muster R–A–R–A. Hinzu treten eine Kantate nach dem Muster A–R–A, deren erste Arie italienisch, Rezitativ und zweite Arie deutsch sind, sowie je eine deutsche Duettund Soloarie. Aus den dem Druck vorangestellten Texten – einer Widmung an Maria Aurora von Königsmarck und der Vorrede – und aus verschiedenen weiteren Quellen, auf die ich noch näher eingehen werde, ist ersichtlich, dass es sich um eine Blütenlese aus Kompositionen handelt, die zwischen etwa 1703 und 1713 entstanden und in aristokratischen Hamburger Kreisen musiziert worden waren. In der Widmungszuschrift betont Keiser: Wenn gleich in gegenwärtigen Musicalischen Blättern kein eintzig Piéce wäre/ welches Ew. Hochgräfl. Excellentz schon ehmahls von mir mit aller gewünschten Approbation aufgenommen/ solte mich solches dennoch nicht abgehalten haben/ diese Durchlauchtige Ergötzung durch den vorgesetzten Namen einer so grossen Gräfin noch annehmlicher zu machen.28

In der Vorrede heißt es dann, bezogen auf Hamburg: Allhier/ wo sich die Politesse täglich mehret/ hat die Kunst der Music kein so wildes Barbarisches Urteil zu hoffen/ daß vielmehr gegenwärtige Pieces die Approbation vieler Durchl. und illustren Personen/ denen selbe zur Durchl. Gemühts=Ergötzung unterthänigst gewidmet worden/ erhalten; daher sie auch den Titul bekommen.29

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Widmung, Bl. [a2]r. „Geneigter Leser.“, Bl. bv; Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XXXVII (Abb. 9b).

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Der Kreis der „Durchl. und illustren Personen“ war, glaubt man der Widmung, für die Divertimenti um Maria Aurora zentriert.30 Vermutlich veranstaltete die Gräfin regelmäßig Konzerte, möglicherweise adaptierte sie auch die französische Salonkultur. Aus dem hier interessierenden Zeitraum ist darüber nichts bekannt, aber noch 1716 lässt sich ein von ihr in Hamburg gegebener Ball nachweisen, den Zar Peter I. besuchte.31 Zwei in den Divertimenti enthaltene Stücke lassen sich direkt auf die Gräfin beziehen. Die zweisprachige Kantate – L’occaso di Titone all’Aurora oriente („Più chiare, più belle“) – führt ihren Namen im Titel und verherrlicht die mythologische Aurora als Inbegriff der Schönheit, des Sonnenaufgangs und der entflammenden Kraft.32 Der Text der deutschen Soloarie – „Ihr schönen Augen seid selbst Richter“ – stammt von Maria Aurora, was im Notenteil des Drucks eigens erwähnt wird (während die übrigen Textdichter weder genannt sind noch sich bisher erschließen ließen). Die Arie spielt auch in der Vorrede eine exponierte Rolle als Muster für rhetorisch korrekte Sprachvertonung; das Textincipit ist dabei deutlich hervorgehoben.33 Insgesamt deuten die Texte der Divertimenti darauf hin, dass im aristokratischen Hamburger Milieu Italienisch die Sprache der Wahl für Kammermusik war. Das wird bestätigt durch die handschriftliche Kantatenüberlieferung Hamburger Komponisten – nach derzeitigem Kenntnisstand Keiser und Mattheson, wobei sich auf Händel immerhin Hinweise finden lassen.34 Von Mattheson liegen zwei autografe Bände mit je sechs italienischen Kantaten vor, die alle aus dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts stammen: „Sei Cantate | 3. con et 3. senza Stromenti | Opera Seconda. | 1708.“ und „Sei Cantate Trè. con e trè Senza Stromenti Opera Terza“, mit der Datierung „April 18. 1709“ und dem Eintrag „Fine del Tomo quarto.“. Demnach fehlen zwei Bände, einer wohl ebenfalls mit italienischen Kantaten (op. 1), einer möglicherweise mit anderer Vokalmusik. Hinzu kommt die einzeln überlieferte Kantate „Amorosa violetta“, zu deren Entstehen es keine Anhaltspunkte gibt, bei der es sich vielleicht sogar um ein Pasticcio von anderer Hand handelt.35 Die autografen Bände dagegen scheinen ein Parallelprojekt 30

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Substanzielle jüngere Beiträge zur Stellung der Gräfin in der Hamburger Kulturszene des frühen 18. Jahrhunderts, mit Nennung der einschlägigen älteren Literatur, in: Rieke Buning, BeateChristine Fiedler u. Bettina Roggmann (Hg.): Maria Aurora von Königsmarck. Ein adeliges Frauenleben im Europa der Barockzeit. Köln 2015, darin besonders Stephan Kraft: „Denn selbst Apollens Kunst wird hier ein Schatten heissen“ – Zum sichtbar-unsichtbaren literarischen Werk der Gräfin Maria Aurora von Königsmarck (S. 59–74) und Dorothea Schröder: „Eine ungemeine Beförderinn schöner Wissenschaften“ – Maria Aurora von Königsmarck und die Musik (S. 135–152). Hamburger Relations-Courir No. 194 (1716, 50. Woche, 2. Stück: Dienstag, 8. Dezember). Vgl. Keiser: Kantaten und Arien II (wie Anm. 17), S. XII. Der Text mit Übersetzung (Englisch/Deutsch) in: Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. LVIII. Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XXXVII (Abb. 9b). S. dazu Drauschke: Vokale Kammermusik in Hamburg (wie Anm. 17), besonders S. 59–61. Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm. 17), S. 145  f.

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zu Keisers Divertimenti dargestellt zu haben, das jedoch nicht bis zur Drucklegung vorangetrieben wurde. Dass es sich um Druckvorlagen handelt, ist angesichts der planvollen Mischung von continuo- und con stromenti-Kantaten, der exemplarischen Ausschöpfung von formalen und kompositorischen Möglichkeiten und nicht zuletzt der Opuszählung sehr wahrscheinlich. Der als op. 2 gezählte Band beginnt mit der Aurora-Kantate „Aurora, dove sei?“. Dass auch Mattheson für den Fall eines Drucks eine Widmung an die Gräfin plante, wird in der Vorrede zum Vollkommenen Capellmeister bestätigt. Dort schreibt er von op. 2 als von „einer auserlesenen Sammlung der besten Cantaten=Stücke, die ehemahls einer Hochgräfl. Person zum besondern Vergnügen gedienet“;36 auffällig ist die Ähnlichkeit zu Keisers Formulierung in der Widmung der Divertimenti. Ein anderer naheliegender Widmungsträger (vielleicht für op. 3) war Matthesons Dienstherr John Wich.37 Keiser lassen sich neun handschriftlich überlieferte italienische Kantaten für Hamburg sicher zuweisen: „Non sa dire l’alma mia“ (um 1700), La bella cantatrice („E costume del mio sguardo“; wohl um 1703, spätestens 1705), „Quando mai ritornarete“ (spätestens 1705), „Che dici, Amor“ (spätestens 1706), „Qual nova crudeltade“ (spätestens 1706), „Begli occhi, risolvetevi“ (wohl um 1706), „Benché sempre crudel“ (Basso, Cembalo obbligato, Basso continuo; wohl 170638) und „Poco amore mi contenta“ (spätestens 1709) sowie „Bella bocca, un solo baccio“ (nur fragmentarisch; vor 1703).39 Auch für Keiser stellte also das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Hochphase der Produktion italienischer Kantaten dar. Wie hat man sich nun die Kreise vorzustellen, in denen derartige Kantaten musiziert wurden, und welche Protagonisten sind neben Maria Aurora namhaft zu machen? Eine Zusammenschau der Quellen zeigt, dass es ganz verschiedene Formate für die Rezeption und teilweise wohl auch Produktion vokaler Kammermusik gab. Zu nennen sind zunächst Veranstaltungen unterschiedlicher Größe und Funktion in den Stadtwohnungen und auf außerhalb der Stadt gelegenen Anwesen von Adligen und Gesandten. So sind für den Winter 1700/01 regelmäßige Sonntagskonzerte sowie für Oktober und Dezember 1703 außerordentliche Konzerte in Gegenwart Maria Auroras belegt, die im Haus des Kaiserlichen Gesandten von Eckgh unter musikalischer Leitung Keisers, Matthesons und des Violinisten Eberhard Reinwald

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Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister. Hg. v. Margarete Reimann. Kassel 1954 [Faksimile-ND der Ausg. Hamburg 1739]. (Documenta Musicologica. Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles 5), Vorrede, S. 24. Zu John und Cyril Wichs Rolle für Matthesons Vokalmusikschaffen: Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm.  17), S.  152  f. Zur Musikausübung im Haus Wich auch Hans Joachim Marx: John Wich, Sir. In: Ders.: Händel und seine Zeitgenossen. Eine biographische Enzyklopädie. Laaber 2008 (Das Händel-Handbuch 1), S. 1010. Eine zweite Kantate mit demselben Text für Soprano, Flauto traverso und Basso continuo schrieb Keiser um 1720 in Stuttgart. Zur letztgenannten Kantate: John H. Roberts: Blooms of Youth. New Arias by Reinhard Keiser. In: Händel-Jahrbuch 60 (2014), S. 391–424, hier: S. 392–394.

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stattfanden.40 Zu den 1700/01 bei von Eckgh gehaltenen Winterkonzerten schreibt Mattheson: Erwehnte Concerte wurden alle Sonntage […] mit solcher Pracht und Herrlichkeit gehalten, daß ich, an Königl. Höfen dergleichen Überfluß bey Assembleen gesehen zu haben, mich nicht er­innere. Es wohnten den Versammlungen bisweilen 3. oder 4. Fürsten mit bey, welche, nach geendigter Musik, auf das kostbarste bewirthet, und mit Spielen belustiget wurden. Ich war nicht nur ein Mitglied desselben Concerts, sondern mit Eberhard Reinwald, dem starcken Violinisten, ein Director, und zugleich Musikmeister des gräflichen jüngsten Fräuleins. Die Conradinn, die Rischmüllerinn, die Schoberinn, und alles, was nur am geschicktesten zu finden war, konnte man daselbst sehen und hören. Wir hatten nebst reichlicher Bezahlung, einen Schencktisch, desgleichen an Tockaier und andern sehr raren Weinen, wenig zu finden sind, und ein jeder genoß, was ihn beliebte. Keiser führte sich dabey mehr, als ein Cavallier, denn als ein Musikus, auf.41

Es handelte es sich also um Veranstaltungen mit professionellem Personal der Oper für eine ausgewählte, offenbar größere Öffentlichkeit. Von einer vergleichbaren, noch größer dimensionierten Gelegenheitsmusik mit Schauspiel beim Kaiserlichen Gesandten (mittlerweile Baron von Kurtzrock) wissen wir aus dem Jahr 1714. Sie steht in direktem Zusammenhang mit Keisers letztem Kantatendruck und wird in Abschnitt 6 besprochen. Auf dem Landsitz Benedict von Ahlefeldts in Jersbek bei Hamburg, wo sich Keiser mehrfach aufhielt, fanden nachweislich im Winter 1713 musikalische Veranstaltungen statt, die ein anderes Format hatten. Johann Ulrich Königs Widmung seines Librettos L’inganno fedele (1714, Keiser) an von Ahlefeldt lässt ein plastisches Bild entstehen: APollo, welcher vorigen Winter/ nicht ohne sonderbares Vergnügen/ diejenige Ergötzlichkeiten angehört/ die Jersbeck zu einem Parnass gemacht/ will nun/ da er das erstemahl den Hamburgischen Schauplatz wieder betritt/ dieses Sing=Spiel niemand/ als dem grösten Kenner der Poesie und Music zugeschrieben wissen.

Ahlefeldts Tugenden, so König weiter, seien es gewesen, welche mich um so mehr angereitzt/ diese wenige Bogen Euer Hochwohlgeb. gehorsamst zu zueignen/ je gewisser ich bin/ daß Sie nicht weniger Gütigkeit besitzen/ die darin verborgene Fehler zu entschuldigen/ als Scharfsinnigkeit/ solche zu erkennen. Zumahl Ihnen ein so vollkommenes Urtheil in der Dicht=Kunst/ und besonders der Theatralischen beywohnet/ daß sich auch Poëten aus ihren Discursen Regeln zu machen/ für eine Ehre geschätzt/ und man dißmahl Ihnen eintzig und allein zu dancken/ was etwan in diesem Schau=Spiele gutes vorkömmt/ weil sowohl der Componiste als Poëte sich in die wette beflissen/ einem so delicaten Goût nach Möglichkeit Satisfaction zu geben.42

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Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hg. v. Max Schneider. Berlin 1910 [originalgetreuer ND der Ausg. Hamburg 1740], S. 132, 191. – Graf von Eckgh war Kaiserlicher Geheimer Rat, 1694–1706 Kaiserlicher Resident und Wiener Gesandter in Hamburg; Ludwig Bittner u. Lothar Groß (Hg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). Bd. 1. Oldenburg u. Berlin 1936, S. 143. Mattheson: Ehren-Pforte (wie Anm. 40), S. 132. Zitate aus Johann Ulrich König: L’inganno fedele, Oder: Der getreue Betrug. Hamburg 1714, Bl. )(2v, )(3v (verwendetes Exemplar: D-B/ 30 in: Mus. T 4).

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König beschreibt hier etwas, das Parallelen zur italienischen accademia aufweist: Ein hervorragender Kenner von Poesie und Musik empfing Musiker und Dichter auf seinem Landsitz, um mit ihnen über Literatur und Musik zu debattieren und um zu musizieren. Auf eine wahrscheinlich bei diesem Anlass entstandene Kantate Keisers auf einen Brockes-Text werde ich weiter unten in diesem Abschnitt eingehen. So unterschiedlich die Musiken bei von Ahlefeldt und bei den Kaiserlichen Gesandten hinsichtlich der teilhabenden Öffentlichkeit waren, Musiker und Literaten konnten hier wie dort erstaunlich freizügig in aristokratischen Kreisen verkehren. Matthesons Bemerkung, Keiser habe sich im Hause von Eckghs „mehr, als ein Cavallier, denn als ein Musikus“ aufgeführt, zeigt, dass der hoch renommierte und auch persönlich von vielen Vertretern der Hamburger Oberschicht geschätzte Kapellmeister in einer dem galanten decorum verpflichteten Situation auf Augenhöhe mit Gesandten und Fürsten verkehrte. Einen Eindruck von Keisers dichtem Netz an Kontakten zur kulturaffinen Elite Hamburgs und Holsteins vermittelt ein Brief des Kapellmeisters an Gräfin Dorothea van der Nath auf Gut Sierhagen bei Hamburg43 vom August 1707: Sonst bin fast täglich à la ronde bey den Dänischen, Englischen u. Schwedischen Hn. Residenten zur Mahlzeit gebethen worden. G. Majr Leüenthal hatt mich auf seinen Garten bitten laßen. Vor 14. Tagen speißte bey den Geheimden Rath Ahlfeld von Süstermil. Da den[n] von dem Cammer Juncker Sierhagen, u. die dortigen entrettiens extraordinär gerühmet wurden. Vorgestern war bey Hn. Koppen u. heüte hatt mich H. Ahlfeld von Aschau welcher gestern mit seine Liebste kommen ist, zum eßen bitten laßen. Die geheimde Räthin Buchwaldten u. Betuonen sind noch zu Braunschweig. Die Gräfin Ziesendorffen kommt wieder, weil sie in der Opera 2. logen aufs neüe geheüret. Ihre leüte sind auch fast alle hier. Die Opern sind bißher immer so voll gewesen, als man noch nicht einen Sommer weiß. Was mit mir deswegen, u. mit dem Schottischen Hause vorgehet, ist beßer, mündlich zu erzehlen. Es erweisen mir leüte die ich sonst mein lebetage kaum gesprochen, so viel Höfligkeit, daß es nicht zusammen reimen kan, aus was ursachen.44

Der Briefausschnitt bestätigt, mit welcher Selbstverständlichkeit Keiser in adligen Kreisen verkehrte, wie eng deren Protagonisten untereinander vernetzt waren und welche Rolle die Oper als Gravitationszentrum spielte. Überdies ist ersichtlich, dass auch bürgerliche Personen zu den besagten Kreisen gehörten: Der genannte Kopp lässt sich als Georg Kopp (auch Koppe oder Kop; 1655–1710) identifizieren. Er stammte aus einer Instrumentenbauerfamilie und wurde Ende April 1704 in der Nachfolge des 1703 verstorbenen Andreas Dathe zum Oberalten für das Kirchspiel

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Zur Geschichte des Gutes und zum Namen der Besitzer: Henning von Rumohr: Schlösser und Herrenhäuser in Ostholstein. Ein Handbuch. 3. Aufl. Würzburg 1989, S. 412–425, besonders S. 416  f. Reinhard Keiser: Brief an Gräfin van der Nath, Hamburg, 23. 8. 1707; Rigsarkivet København, Assignationskontorets indkomne Breve (Sign. 1707 23/8 Keiser), Bl. [2]r; eine Übertragung des vollständigen Briefes bei Torben Krogh: Reinhard Keiser in Kopenhagen. In: Walter Lott, Helmuth Osthoff u. Werner Wolffheim (Hg.): Festschrift für Johannes Wolf zu seinem sechzigsten Geburtstage. Berlin 1929, S. 79–87, hier: S. 84–86.

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St. Catharinen gewählt.45 Bereits vorher war er Vorsteher des Zuchthauses und in dieser Position für die in der Zuchthauskirche veranstalteten Passionsaufführungen der Jahre nach 1700 mitverantwortlich. Er gehörte damit zu denjenigen Hamburger Persönlichkeiten, die man im umfassenden Sinne als Förderer musikalisch-literarischer Innovation bezeichnen kann.46 Für Keiser lassen sich Kontakte zu Kopp schon für 1704/05 nachweisen. Christian Friedrich Hunold schreibt in seinen 1706 erschienenen Theatralischen […] Gedichten: Ein vortrefflicher Gönner der Musen, (T.) Herr Ober=Alte Koppe/ tractirte den letzten Pfingst=Feyer=Tag eine vornehme Gesellschafft auf seinen Garten; Und weil die Gratien des hiesigen Theatri zugleich zu gegen; Auch der Herr Capell=Meister/ Monsieur Käyser/ etwas zu Componiren sich geneigt offerirte: Also wolte meine Gedancken in einer Serenata drüber auslassen. Mein Absehen darinnen ging auf den Frühling/ als der die aller bequemste Zeit zu einer edlen Gemüths=Ergetzung.47

Hunold verwendet für die Musik bei Kopp denselben Terminus („Gemüths= Ergetzung“) wie Keiser für seinen Druck mit Wolfenbütteler Musiken, kombiniert ihn allerdings mit der Genrebezeichnung „Serenata“. Ebenso wie in Wolfenbüttel und wie auf den Konzerten bei von Eckgh musizierten auch bei Kopp professionelle Kräfte. Bei Kopps Pfingstkonzert waren es vermutlich dieselben wie bei von Eckgh, wohl unter Keisers Leitung. Zu den kulturaffinen Bürgern, die Konzerte veranstalteten, zählte auch Barthold Hinrich Brockes, in dessen Haus 1712 Keisers Vertonung des Brockes’schen Pas­ sions­oratoriums vor 500 geladenen Gästen aufgeführt wurde,48 zweifellos aber auch kleinere Veranstaltungen stattfanden.49

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Hamburgische Chronic, Bd. 3, S. 587  f.; Friedrich Georg Buek: Die Hamburgischen Oberalten, ihre bürgerliche Wirksamkeit und ihre Familien. Hamburg 1857, S. 186  f.; zu Dathe ebd., S. 176  f. 1705 musste er sich vor dem Ministerium wegen der jüngsten Operistenpassion am 6. April verantworten; Hamburgische Chronic, Bd. 3, S. 726; vgl. Christine Blanken: Der blutige und sterbende Jesus von Reinhard Keiser. Das erste deutsche Passionsoratorium nach dem Text von Menantes im Kontext der geistlichen Musik Keisers. Wandersleben 2010, S. 16 (Faksimile), 17; Joachim Kremer: Joachim Gerstenbüttel (1647–1721) im Spannungsfeld von Oper und Kirche. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Hamburgs. Hamburg 1997 (Musik der frühen Neuzeit. Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.–18. Jahrhunderts 1), S. 189  f. Christian Friedrich Hunold: Theatralische, galante und geistliche Gedichte. Hamburg 1706, S. 80. Ob die Serenata zu Pfingsten 1704 oder 1705 entstand, ist nicht eindeutig zu ermitteln; Reinhard Keiser/Christian Friedrich Hunold: Salomon. Nebucadnezar. Hg. v. Hansjörg Drauschke. Beeskow 2015 (Musik zwischen Elbe und Oder 33), S. IX. Barthold Heinrich Brockes: Selbstbiographie. In: Ders.: Selbstbiographie – Verdeutschter Bethlehemitischer Kinder-Mord – Gelegenheitsgedichte – Aufsätze. Hg. v. Jürgen Rathje. Göttingen 2012 (Barthold Heinrich Brockes. Werke 1), S. 27; vgl. Johann Ulrich König: Theatralische, geistliche, vermischte und Galante Gedichte. 2. Aufl. Hamburg u. Leipzig 1716 [1. Aufl. 1713], Bl. (*) 4r (Widmung an Brockes). König schreibt hier von einer „musicalischen Vorstellung“ der Passion vor „hundert Seelen“, meint also vielleicht eine spätere Aufführung. Bereits als Student in Halle lud Brockes zu wöchentlichen Konzerten auf seine „Stube“; Brockes: Selbstbiographie (wie Anm. 48), S. 7.

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Im Gegensatz zum Befund bei Mattheson ist keine der italienischen Kantaten Keisers autograf überliefert. Wie lässt sich das erklären? Die Quelle zu „Poco amore mi contenta“ liefert hier einen wichtigen Hinweis. Die Abschrift stammt von dem aus dem Umfeld der Oper bekannten Kopisten B. Keiser korrigierte sie und versah sie mit einer eigenschriftlichen Widmung an „Mad.ell Koppen“.50 Sehr wahrscheinlich handelte es sich bei der Dame um Georg Kopps Tochter Anna (geboren 1690, verheiratet 1710).51 Die Quelle zeigt, dass italienische Kantaten auch für Hamburger Bürger entstanden. Sie zeigt außerdem einen Überlieferungsweg, auf dem es zu enormen Verlusten gekommen sein muss: Handschriften gelangten direkt in privaten Besitz, in vielen Fällen waren die Werke damit wohl dem Zugriff durch Kopisten, also einer weiteren Verbreitung und Überlieferung, entzogen. Wir haben es gewissermaßen mit einer personenbezogenen, nicht-höfischen musica riservata-Praxis zu tun. Unter diesen Handschriften befanden sich gewiss zahlreiche Autografe nicht nur Keisers. Warum die „Poco amore“-Handschrift nur teilautograf und warum sie überhaupt überliefert ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Denkbar ist, dass das Stück für eine im kleinen Rahmen bei Kopp veranstaltete Musik entstand, vergleichbar mit der accademia bei von Ahlefeldt. Vielleicht sang die Tochter Kopps das Stück selbst, vielleicht sogar probehalber, weswegen es nur autografe Skizzen gab. Der Kopist fertigte später eine Partitur an, die Keiser durchsah und widmete. Selbstverständlich kann das Szenario auch anders gewesen sein. Es erscheint mir aber wichtig darauf hinzuweisen, wie eng die Entstehung und Überlieferung solcher Kantaten im urbanen Raum von Netzwerken und sozialen Praktiken der hinter den Stücken stehenden Protagonisten – Textdichter, Komponisten, Ausübende, Auftraggeber bzw. Widmungsträger – abhing. Auch in den günstigsten Fällen bleiben uns heute ‚nur‘ die Werke selbst, während deren Produktion und primäre Rezeption in kleiner und kleinster Öffentlichkeit kaum noch erschließbar sind. Eine Quelle wie die zu „Poco amore“ ist außerordentlich wertvoll nicht nur wegen einer singulären Werküberlieferung, sondern auch, weil sie Hinweise auf eben diese versteckten Praktiken liefert und daran anknüpfende Überlegungen ermöglicht, die die historischen Abläufe nicht rekonstruieren, aber Arbeitsthesen für weiterführende Forschungen liefern können. Wie sich die übrige handschriftliche Überlieferung italienischer Kantaten Keisers zu deren jeweiligem Entstehungskontext und zu anzunehmenden autografen Primärquellen verhält, wissen wir nicht. Da die Texte der italienischen Kantaten in der Regel nicht gedruckt wurden, fehlen auch von dieser Seite Nachweise. Für Keiser lässt sich, bezogen auf die bisher diskutierten Kantaten, nur der Text zu Il geloso sprezzante („Oh miseria d’amante core“) nachweisen. Er entspricht dem der Kantate „Oh miseria d’amante core“ von Attilio Ariosti, die in mehreren Handschriften kursierte. Für Mattheson ließ sich die Herkunft für sieben Kantatentexte nachweisen: je drei aus op. 2 und op. 3 sowie „Amorosa violetta“. Die Texte sind identisch mit 50 51

Keiser: Kantaten und Arien II (wie Anm. 17), S. XLVI (untere Abb.). Buek: Die Hamburgischen Oberalten (wie Anm. 45), S 187.

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Kantaten von Francesco Nicola Fago, Giovanni Bononcini, Alessandro Scarlatti, Giovanni Battista Bassani, Francesco Gasparini, Lorenzo Gregori und Francesco Antonio Pistocchi.52 Die Pistocchi-Kantate könnte einem Druck,53 alle übrigen Texte dürften Handschriften entnommen sein. Kantatenhandschriften ließen sich auch als Quellen für einige italienische Opernarien nachweisen.54 Die Texte wurden zum Teil bearbeitet. Wie weit diese Bearbeitungen gingen und in welchem Umfang Textpasticci aus verschiedenen Kantaten angefertigt wurden, lässt sich noch nicht sagen.55 Dass man existierende italienische Texte benutzte, weil Hamburger Dichter kaum italienische Kantaten schrieben, ist naheliegend und wird durch verschiedene Hinweise bestätigt.56 Man kann annehmen, dass auf Konzerten und musikalischen Versammlungen Werke A. Scarlattis, Bononcinis, Ariostis und anderer neben Hamburger Kompositionen, zum Teil über dieselben Texte, musiziert wurden und dass es dabei nicht zuletzt um eine kompositorische Auseinandersetzung und um den zugehörigen kompositionsästhetischen Diskurs ging. Dass dem so war, lässt sich zwar nicht direkt nachweisen, aber zwei bekannte Parallelkompositionen desselben italienischen Textes durch Keiser und Mattheson und auch eine gewisse Häufung von Kantaten mit obligatem Cembalosatz deuten darauf hin, dass musikalischer Wettstreit Teil der Zusammenkünfte in den Kreisen um Maria Aurora oder John und Cyril Wich war, in den sicher auch original italienische Kammermusik eingeschlossen war.57 Die italienische Kantate in Hamburg wäre demnach nicht nur auf der Werkebene ein aus genuin italienischen (Texte) und deutschen Elementen (Musik) gemischtes Genre, 52

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Die Recherchen erfolgten über die online-Datenbanken RISM (http://opac.rism.info/) und Clori. Archivio della cantata italiana (http://www.cantataitaliana.it) (zuletzt Herbst 2014). Eine systematische Untersuchung von handschriftlich überlieferten Kantaten und von Kantatendrucken steht aus. – Eine ausführliche Übersicht über Matthesons Textvorlagen bei Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm. 17), S. 155  f. Francesco Antonio Pistocchi: Scherzi musicali. Amsterdam 1698. Die Kantate ist aber auch in mehreren Handschriften überliefert. Drauschke: Die Opern Matthesons (wie Anm. 17). Einer systematischen Recherche steht, neben der kaum überschaubaren Fülle an italienischen Kantaten, vor allem im Wege, dass stärker veränderte Texte auch über Datenbanken mit Volltextaufnahme, wie z.  B. Clori, kaum aufzufinden sind. Feind weist im Vorbericht zu Masagniello furioso (Keiser, 1706) darauf hin, dass man die italienischen Arien „ümsonst anderswo/ als auff diesen Blättern suchen“ würde, setzt sich also offenbar gegen eine Norm der Übernahme präexistenter Texte ab; Barthold Feind: Masagniello furioso. Hamburg 1706, „Vorbericht“ (nicht foliiert; letzte Seite) (verwendetes Exemplar: Universitätsund Landesbibliothek Halle an der Saale, AB 155476 (19)). Feind und Brockes waren vielleicht die einzigen im Italienischen genügend versierten Hamburger Dichter, zumal für Kantaten, bei denen auch die Rezitative gedichtet werden mussten. Hamburger Retuschen italienischer Vorlagen führten entsprechend mehrfach zu sinnentstellenden Formulierungen. Zu den Parallelvertonungen und zur Wettstreitsituation: Keiser: Kantaten und Arien II (wie Anm. 17), S. Xf.; Drauschke: Vokale Kammermusik in Hamburg (wie Anm. 17), S. 59  ff. – Vergleichsanalysen zwischen den genannten italienischen Kantaten und ihren Neuvertonungen durch Mattheson und Keiser versprechen spannende Ergebnisse, sind in diesem Rahmen aber nicht möglich. Ein Beispiel bei Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm. 17), S. 183  f.

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sondern an sich – einschließlich seiner Entstehungs- und Rezeptionskontexte – ein aus italienischen und deutschen Anteilen bestehendes Phänomen. Vokale Hamburger Kammermusik (auf italienische, aber auch auf deutsche Texte) steht in vielfältiger Beziehung zu Opern und Oratorien der jeweiligen Komponisten. Für vier Sätze aus Keisers Divertimenti und für eine weitere Arie aus den handschriftlich überlieferten Kantaten lassen sich derzeit direkte Beziehungen zu Sätzen aus Keisers Opern58 und aus seiner Brockes-Passion59 nachweisen. Im Falle Matthesons ist der Nachweis für eine Opernarie möglich;60 für eine weitere Arie gibt es Indizien dafür, dass sie ebenfalls aus einer (verschollenen) Kantate stammt.61 Handelt es sich im Bereich Oper/Kammermusik um Übernahmen der vollständigen Sätze, zum Teil bearbeitet, die in beide Richtungen stattfinden konnten, so steht Keisers Arienpaar „Salvate il mio sposo“ (Divertimenti)/ „Die ihr Gottes Gnad versäumet“ (Brockes-Passion; Tochter Zion) in einem Parodieverhältnis62 (die beiden Sätze sind auf S. 286–287 vollständig mitgeteilt): Das prägnante ostinato beider Arien ist nahezu gleich, einige melodisch-harmonische Wendungen sind nah verwandt. Das betrifft besonders die jeweils mit „b“, „bʼ“ und „c“ gekennzeichneten Abschnitte. Trotz aller Unterschiede ist die Beziehung der beiden Arien zueinander sofort hörbar.63 Vergleicht man sie auf der Ebene der elaboratio, so entsteht der Eindruck, dass „Salvate il mio sposo“ das jüngere Stück ist, in dem Keiser das Material der knappen ZionArie, auf den neuen Text angepasst, nochmals benutzte und dabei dessen Potenzial noch einmal neu und wesentlich intensiver ausschöpfte. Die gesteigerte Intensität ist in der Häufung kompositorischer Mittel durchgehend evident. Sie korrespondiert mit dem Unterschied in den Texten: hier die ernste Mahnung vor Sünde und ihrer Frucht, dort die hochemotionale Anrufung der Götter um Schutz des Gatten, ohne den das Lyrische Ich nicht weiter zu leben vermag. Der mit „a“ markierte Beginn beider Arien macht Keisers Herangehensweise schlaglichtartig deutlich. In beiden Sätzen wird ein prägnanter Melodiebogen gespannt, jeweils mit den Tönen aʼ, dʼʼ, eʼʼ, fʼʼ,

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Es handelt sich um die Duette „Chi non spera in amor“ und „Dagli amori flagellata“ (Teil 2 von „Caro autor“) sowie um die Arien „Ihr schönen Augen seid selbst Richter“ und „Che mi preghi pur chi vuole“ (aus La bella cantatrice). Hier handelt es sich um „Salvate il mio sposo“ und „Die ihr Gottes Gnad versäumet“. „Benché sempre crudel meco siete“, aus der zweiten Kantate der Sei Cantate op. 2 in Henrico IV. (1711), III,8, übernommen (mit der Textvariante „Benché sempre crudel è la sorte“). In der Kantate fordert Mattheson Streicher und obligates Violoncello, in der Oper statt des Violoncellos Bassoni unisoni (und vermutlich Oboen zur Doppelung der Violinen), im Übrigen ist das musikalische Material identisch. Für die Opernfassung s. Johann Mattheson: Henrico IV. Hg. v. Hansjörg Drauschke. Beeskow 2008 (Musik zwischen Elbe und Oder 19), S. 131–135. „Begl’occhi, rislovetevi“ in Henrico IV. (1711), I,12; Mattheson: Henrico IV. (wie Anm. 60), S. 60–62; vgl. Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm. 17), S. 144  f. Dieser Zusammenhang war uns bei der Arbeit an Keiser: Kantaten und Arien I noch nicht bekannt. Einspielungen: Reinhard Keiser: La bella cantatrice. Cantatas. Susanne Rydén u. Capella Orlandi Bremen unter Thomas Ihlenfeldt, CPO 2003; Reinhard Keiser: Brockes-Passion. Vox Luminis u. Les Muffatti unter Peter van Heyghen, outhere 2014.

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zu denen in „Salvate“ noch cisʼʼ hinzutritt. Abgesehen von dieser Färbung ist aber vor allem der grundsätzlich unterschiedliche Umgang mit dem identischen Tonvorrat bemerkenswert. Während sich in der Zion-Arie die Melodie in gemessenen rhythmischen Werten entwickelt und dabei in zwei Anläufen jeweils über Quartsprung von aʼ aus den (kurzen) Spitzenton erreicht, um dann im Quintfall zu enden, setzt Keiser in „Salvate“ die exclamatio aʼ–fʼʼ an den Beginn, dehnt den Spitzenton und führt die Melodie dann rasch zurück zu aʼ, wobei am Schluss ein Quartfall steht. Hier wird die extreme Höhe, in der Zion-Arie das Fundament betont. Korrespondieren in der Zion-Arie die metrischen Schwerpunkte in Melodie und ostinato, so wird in „Salvate“ die Metrik des Gesangs sofort verschoben: Die zweite Zählzeit erhält über das angesprungene und gedehnte fʼʼ eine Betonung, ebenso die vierte durch den Wechsel der Gesangssilbe mit Triller; der Ablauf kontrastiert in der Metrik mit dem ostinato, das außerdem durch die Punktierung rhythmisch geschärft ist. Im Ergebnis entstehen ein ruhiger, eindringlicher Ausdruck für die im Glauben sicher ruhende Tochter Zion, der eruptive Ausdruck äußerster emotionaler Gespanntheit für eine um ihren Gatten flehende Frau. Man könnte Keisers Verfahren als pragmatisch – im Sinne einer effizienten Nutzung musikalischen Materials – beschreiben oder, unter künstlerischem Aspekt, als Veredelung dieses Materials im Zuge einer Neuverwendung. Man kann aber auch noch eine andere Möglichkeit diskutieren. Bei der Darstellung von Keisers Hamburger Netzwerk wurde aus verschiedenen Perspektiven deutlich, wie hoch die Affinität der für die Hamburger Kammermusikproduktion maßgeblichen Eliten zur Oper war. Zu ergänzen ist, dass Maria Aurora und ihre Schwester Amalie Wilhelmine als Librettistinnen tätig waren;64 dass einzelne Arientexte Maria Auroras in Opern von Keiser und Mattheson Aufnahme fanden; dass von Ahlefeldt sich in den 1720er-Jahren intensiv für die Oper engagierte, ebenso wie Cyril Wich, Matthesons Kom­po­si­ tions­schü­ler und späterer Arbeitgeber; und dass die verschiedenen Gesandten für ihre repräsentativen Zwecke Privatkonzerte und Opernveranstaltungen gleichermaßen nutzten.65 Wichs Kompositionsunterricht gestaltete Mattheson eng am Hamburger Opernrepertoire entlang; der Schüler steuerte vielleicht schon 1704 eine Chaconne zu Matthesons Cleopatra,66 mit Sicherheit dann 1710/11 drei Arien und einen Chor zu Matthesons Boris Goudenow und Henrico IV. und in den 1720er-Jahren Musik zu Hamburger Pasticci bei. Vor diesen Hintergründen lässt sich die wechselseitige Überführung musikalischen Materials zwischen Oper bzw. Oratorium und Kammermusik 64 65

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Dazu jüngst Kraft: „Denn selbst Apollens Kunst“ (wie Anm. 30). Zur Hamburger Oper als Ort politischer Repräsentation: Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienste von Politik und Diplomatie (1690–1745). Göttingen 1998 (Abhandlungen zur Musikgeschichte 2). Peter Wollny: „Zwo Menuetten und eine halbe Arie“ von Händel – Ein wenig beachtetes Hamburger Klavierbuch des frühen 18. Jahrhunderts. In: Händel-Jahrbuch 61 (2015), S. 383–412; weiterführend Keiser/Hunold: Salomon. Nebucadnezar (wie Anm. 17), S. IXf.; Drauschke, Matthesons Opern (wie Anm. 17).

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auch als Verfahren verstehen, durch das interkontextuelle Bezüge zwischen den für unterschiedliche Rezeptionsorte konzipierten Werken hergestellt wurden. Verschiedene Modi von Rezeption und Repräsentation konnten auf diese Weise miteinander in Bezug gesetzt werden. Solch eine Vorgehensweise ist heute freilich nur noch in Ansätzen greifbar, etwa wenn Keiser L’occaso di Titone – der ‚Widmungs‘-Kantate der Divertimenti an Maria Aurora – einen italienisch-deutschen Mischtext zugrunde legt. Diese Textmischung führte er 1703 mit Claudius (Hinrich Hinsch) in die deutsche Oper ein. Es liegt nahe, diesen Vorgang mit der Kantate in Bezug zu setzen. Stand die Gräfin dem Experiment, das umgehend, bald auch an andern deutschen Opernhäusern, gängige Praxis wurde, positiv gegenüber? Diskutierte sie mit Keiser über die librettistische Innovation? Konnte L’occaso di Titone als Seitenhieb gegen einen prominenten Gegner dieser Innovation verstanden werden? Wurde die Textmischung vielleicht sogar zuerst in der Kammermusik erprobt? Dieser letzte Gedanke erscheint mir besonders attraktiv, denn er passt ideal zur Tagungsthese von der Kantate als Katalysator. Die katalytische Wirkung, so meine These, wäre dabei nicht nur auf der Werkebene zu verorten – das in einer Kantate erfolgreich erprobte Verfahren übertrug Keiser auf die Oper –; vielmehr könnte die Kantate vermittelnd zwischen zwei Produktions- bzw. Rezeptionskontexten gestanden haben: aristokratischen Kreisen, die musica da camera im italienischen Stil pflegten, und der an eine urbane Öffentlichkeit gerichteten Oper. Eine entscheidende und nachhaltig wirksame Neuerung in der deutschen Opernlibrettistik war also möglicherweise das Ergebnis von Diskussionen in aristokratischen Zirkeln Hamburgs und ging am Ende gar nicht auf Keiser selbst zurück (dass Hinsch nicht der Initiator in dieser Sache war, ist aus den Quellen eindeutig bekannt). Diese Überlegung soll nicht zuletzt sensibel dafür machen, wie wenig wir nach wie vor über den künstlerischen Einfluss aristokratischer Kreise und deren Praktiken auf die Gesamtheit der Hamburger Musikkultur um 1700 wissen, deren offener sichtbare Erscheinungsformen – Oper, Oratorium, Musikdrucke – uns so ‚bürgerlich‘ vorkommen. Entstand Lʼoccaso di Titone also schon vor Claudius? Und zurück zum Arienpaar „Die ihr Gottes Gnad versäumet“/ „Salvate il mio sposo“: Verhielt es sich mit der Richtung der Übernahme wirklich so eindeutig, wie es die musikalische Gestaltung suggeriert? Dass es auch hier um einen interkontextuellen Zusammenhang ging, ist angesichts des Erstaufführungsereignisses der Brockes-Passion im Haus des Dichters vor großem Publikum mehr als wahrscheinlich. Unter diesem Blickwinkel könnte die Bezugnahme auf eine in den Bereich der musica da camera zu verortende Arie der Selbstvergewisserung einer elitären Minderheit gedient haben, deren Mitglieder durch das Erkennen von Verweisen miteinander verbunden und zugleich vom restlichen Publikum abgesondert waren. Ist „Salvate il mio sposo“ also doch das ältere Stück? Auch wenn hier, wie bei L’occaso di Titone, derzeit keine Antwort gegeben werden kann, so machen die aufgeworfenen Fragen doch exemplarisch deutlich, dass die reine Werk- oder Gattungsperspektive oder die Fokussierung auf die Drucke die Gefahr voreiliger Schlüsse bergen.

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Ein vergleichbarer Fall, bei dem die Situation besser durchschaubar scheint, liegt mit der Kantate „Mi lasci dunque“ (R–A–R–A) vor. Der Text stammt von Brockes; er zählt zu den wenigen italienischen Kantaten des Dichters67 und wurde im Bethlehemitischen Kinder-Mord ab der zweiten Auflage (1725) und mit einem vorangestellten Vierzeiler „Al Sr. Rinaldo Cesare, Maestro di Capella“ publiziert.68 Keisers Komposition erscheint jedoch schon innerhalb einer Theater-im-Theater-Szene in der 1714 aufgeführten Oper L’inganno fedele (König, Keiser). In III,1–2 findet auf einem Vorwerk in einer „Landschaft an der Elbe“ ein Konzert in geschlossener Gesellschaft statt.69 Teilnehmer sind die Gastgeberin Silvamire und ihr Gefolge. Im Saal mit Galerie befinden sich Instrumente und Schriften, es handelt sich also um ein Musik- und Studierzimmer. Hier liegt auch ein Stimmensatz zu einer bisher nur Silvamire bekannten „gantz neu gesetzt[en]“ Kantate. Die Gastgeberin steht also musikalisch produzierenden Kreisen nahe und hat daher Zugang zu einer solch aktuellen Komposition. Deren italienischer Text sagt Silvamire besonders zu. Sie führt die Kantate nun erstmals auf, begleitet von einer Schäferin und zwei Schäfern auf Clavecin, Calichon (einer Mandora) und Flute traversiere. König – darauf habe ich oben bereits verwiesen (S. 266) – widmete Lʼinganno fedele Benedict von Ahlefeldt. Aus den bereits aus der Widmung zitierten Passagen geht hervor, dass im Winter 1713/14 Zusammenkünfte bei von Ahlefeldt auf Jersbek stattgefunden hatten, dass dabei musiziert, aber auch über Librettistik diskutiert worden war und dass, so König, dem Gastgeber „eintzig und allein zu dancken/ was etwan in diesem Schau=Spiele gutes vorkömmt/ weil sowohl der Componiste als Poëte sich in die wette beflissen/ einem so delicaten Goût nach Möglichkeit Satisfaction zu geben.“ König bezieht die in der Widmung beschriebene accademiaSituation bei von Ahlefeldt also direkt auf die vorliegende Oper. Dass er selbst in Jersbek war, ist als sicher anzunehmen. Keiser wird sich ebenfalls dort aufgehalten haben, er zählte zum engeren Kreis um Ahlefeldt.70 König arbeitete um 1714 aber nicht nur mit Keiser zusammen, sondern war auch Co-Autor und Herausgeber bei verschiedenen Ausgaben von Brockesʼ Bethlehemitischem Kinder-Mord. Keiser wiederum hatte 1712 Brockesʼ Passion als erster komponiert. Neben König und Keiser könnte demnach auch Brockes auf Jersbek gewesen sein, und seine Kantate „Mi lasci dunque“ könnte zunächst dort als Kammermusik entstanden und musiziert, später dann in die Oper integriert worden sein.71 All das berechtigt zu der Annahme, 67 68 69 70 71

Föcking: Hamburger Barock? (wie Anm. 5), S. 491–507. Brockes: Selbstbiographie (wie Anm. 48), S. 346, 637. König: L’inganno fedele (wie Anm. 42), Bl. [C4]r f.; die beiden Szenen auch in Keiser: Kantaten und Arien II (wie Anm. 17), S. XX. Hansjörg Drauschke: Die deutschen weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (1674–1739). Wilhelmshaven 2004 (Veröffentlichungen zur Musikforschung 15), S. 23. Von der Besetzung her (Soprano, Flauto traverso und Basso continuo) handelt es sich um ein kammermusikalisches Werk; Reinhard Keiser: Der hochmütige, gestürzte und wieder erhabene Croesus 1730 (1710). L’inganno fedele 1714. Hg. v. Max Schneider. Leipzig 1912 (Denkmäler Deutscher Tonkunst. 1. Folge, 37/38), S. 251–256. – Bezeichnender Weise wird in einer Einrich-

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dass die Szenen am Beginn des dritten Aktes auf die reale Aufführungssituation auf Jersbek rückverweisen, auch wenn sie diese natürlich nicht 1:1 abbildeten. Ein solcher Verweis wäre im Rahmen der Opernaufführung freilich nur für den engen Kreis der Jersbek-Besucher zu entschlüsseln gewesen. Die Integration der BrockesKantate in die Oper, deren Premiere von Ahlefeldt zweifellos besuchte, könnte man damit als eine, im Gegensatz zum gedruckten Widmungstext verdeckte, gleichsam inoffizielle zweite Widmung verstehen. Das für die Hamburger Musiklandschaft so produktive Viergespann König – Brockes – Keiser – von Ahlefeldt wäre dabei gemeinsam auf der Bühne erschienen, vermittelt über eine Kantate, an deren Entstehen und primärer Rezeption die Genannten in verschiedener Weise teilgehabt hatten. Eine solche Widmung hätte aufgrund der Überführung eines kammermusikalischen Werkes in einen sekundären, öffentlichen Rezeptionskontext funktioniert, und zwar gerade deswegen, weil „Öffentlichkeit“ hier zwei Komponenten gehabt hätte: Die Publikmachung des Werkes selbst bedeutete zugleich die Exklusion weiter Teile der durch das städtische Opernpublikum konstituierten Öffentlichkeit hinsichtlich des Widmungscharakters. Vergleichbare Vorgänge kann man auch in Fällen annehmen, die, wie die oben aufgeführten wechselseitigen Entlehnungen bzw. Übernahmen zwischen Opern, der Brockes-Passion und Kantaten, heute zunächst einmal nur als verschiedene Formen von ‚self-borrowings‘ in Erscheinung treten. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich für Keisers „Mi lasci dunque“, für seine gemischtsprachigen Divertimenti sowie für seine und Matthesons handschriftlich überlieferten italienischen Kantaten eine Entstehung in Hamburger Kreisen rekonstruieren lässt, die im Kern aristokratisch waren und ihre kulturellen Praktiken an italienischen Vorbildern orientierten. Diese Kreise waren offen für Personen bürgerlicher Herkunft, wobei gehobene städtische Ämter, Kulturaffinität und wohl auch die Möglichkeit, diese zu finanzieren, eine wichtige Rolle spielten. Bürgerliche Kreise adaptierten die aristokratischen Praktiken, wie am Beispiel der Pfingstmusik bei Kopp und anhand der Kopps Tochter gewidmeten italienischen Kantate „Poco amore“ deutlich wurde. Es zeichnet sich ab, dass Keiser unter den Musikern eine gewisse Monopolstellung innehatte und diese wohl auch massiv gegen Neulinge (Graupner, Händel und andere), aber auch gegen seinen vielleicht wichtigsten Konkurrenten Mattheson verteidigte. Hierin sehe ich den Hauptgrund dafür, dass Matthesons Kantatenbände nicht gedruckt wurden. Offenbar kam es zwischen Keiser und Mattheson zu einer Aufteilung des Marktes, wobei Keiser das Segment der Vokalmusik beanspruchte, während Mattheson das der Instrumentalmusik übernahm.72

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tung für Altus und Viola, die vermutlich Teil des Konzertrepertoires eines Altisten war, für die erste Arie Viola da braccio, für die zweite Arie dagegen die auf größeres Publikum zugeschnittene Besetzung mit Violette unisone gefordert. Die Besetzungsangaben ergänzte Keiser eigenschriftlich in der ansonsten von unbekannter Hand angefertigten Kopie. Weiterführende Überlegungen bei Drauschke: Matthesons Kantatenproduktion (wie Anm. 17), S. 147–154.

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Deutlich wird, dass die gedruckt erschienenen Werke einen schmalen Ausschnitt aus einem weitaus umfangreicheren Korpus an Kompositionen darstellen. Die Divertimenti erschließen, ebenso wie die Gemüths-Ergötzung, die enthaltenen Stücke der sekundären Rezeption durch eine nicht mehr determinierte Öffentlichkeit. Über Umfang und soziale Verortung dieser Sekundärrezeption ließe sich nur spekulieren. Dass ‚Hausmusik‘ einen großen Anteil ausmachte, erscheint – vor allem aufgrund der technischen Ansprüche, die die Arien, Duette und Kantaten der Divertimenti stellen – meines Erachtens fraglich.

4  Kantaten für die Hamburger Oper und ihre Sängerinnen In den Theatralischen […] Gedichten teilt Hunold mehrere Kantaten mit, die im Zusammenhang mit der Hamburger Oper und ihren Protagonist/innen stehen. Es handelt sich zunächst um folgende „Theils auf Ersuchen/ Theils vor mich zum Zeitvertreib gemacht[e]“ Texte:73 – „Ihr Seuftzer brechet durch die Lüffte“ (A–R–A) „ist in der Opera abgesungen worden; Denn weil das Frauenzimmer sich zuweilen gern mit was neues hören läßt/ so schicket sich nichts besser als eine Cantata darzu.“ – „Weint ihr Augen/ weinet Blut“ (A–R–A) „wurde in Cleopatra gesungen.“74 – „Ich bleibe wie ich bin“ (A–R–A–R–A) schrieb Hunold, weil er „abermahl von einem Frauenzimmer ersuchet [worden]/ eine Cantata auf die Zufriedenheit ihres Gemühts zu verfertigen/ das sich um die gleichsam unverdiente Verfolgungen ihrer Mißgönstigen nichts bekümmerte.“ Hinweise auf besondere Qualitäten für die Komposition machen es wahrscheinlich, dass auch dieser Text vertont wurde. – „Unschätzbares Vergnügen“ (A–R–Aa/R/Ab/R/Ad.c.–R–A). Hierzu führt Hunold aus: „Eine galante Virtuosin verlangte eine Cantata, darinnen ebenfalls die Gemühts=Ruhe ausgedrücket; und weil sie in der That die heimlichen Beneidungen ihrer Feinde mit großmühtiger Verachtung en Bagatelle tractirte: so ist sie zwar keine Antwort auf obiges/ aber natureller:“ (es folgt die Kantate). Die Schlussarie „Schmeichelt ihr Winde“ habe „solche abwechselnde Affecten von Anmuth und Grausamkeit eines Elementes, daß/ da solche Monsieur Käyser bereits componirt, keine gemeine Begierde in mir erwecket worden/ sie in ihrer Musicalischen Vollkommenheit zu hören: Denn/ die Wahrheit zu gestehen/ so ist bey aller meiner Theatralischen Poesie dieses mein Vergnügen/ wenn sie ein so grosser Virtuose seiner Composition würdiget/ und ihr das rechte Leben folgends gibt. Hingegen/ wofern man mich zu dem Gelübde verleiten wolte/ nimmermehr wieder Theatralische Verse zu machen/ so dürften nur einige von den heutigen 73 74

Die Kantaten stehen in der hier wiedergegebenen Reihenfolge mit den zitierten Begleittexten in Hunold: Theatralische […] Gedichte (wie Anm. 47), S. 26–51. Zu dieser Kantate s. Drauschke: Die Opern Matthesons (wie Anm. 17).

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Hammer=Schmidts ihre Noten darüber setzen/ und solche vor der Welt absingen lassen.“ Die Kantate wurde demnach von Keiser komponiert, und es ist wahrscheinlich, dass auch die übrigen hier mitgeteilten Texte von ihm vertont wurden. – „Ruhe küßt erlauchte Seelen“ (A–R–A–R–A) wurde „auf die Gegenwart eines Helden=mühtigen Printzens gemacht/ welcher nach den rauhen Kriegs-Instrumenten in der Schlacht bey Hochstädt sein Gemüht des Winters allhier an einer lieblichen Music ergetzte.“ – „Unumschränckte Macht der Hertzen“ (ausgedehnte, sehr komplexe Struktur),75 eine „Cantata von der Liebe“, die als „Douet“ zwischen Amoroso und Jocoso gestaltet ist. Außerdem generierte Hunold drei Kantaten aus insgesamt vier Arien, die er für Salomon (1703; Keiser) geschrieben hatte.76 Die Texte (einmal A–R–A, zweimal R–A) scheinen hauptsächlich der Publikation der Arien gedient zu haben. Eines der drei Rezitative stammt ebenfalls aus Salomon; ob die beiden neu gedichteten Rezitative komponiert und ob die Kantaten jemals als solche aufgeführt wurden, muss offenbleiben. Im vorliegenden Zusammenhang sind die vier zuerst genannten Kantaten von Interesse.77 Sie repräsentieren zwei unterschiedliche Entstehungsanlässe, die im direkten Zusammenhang mit der Hamburger Oper stehen. Die ersten beiden Kantaten – „Ihr Seufzer, brechet durch die Lüfte“ und „Weint, ihr Augen“ – entstanden als Einlagen in Opern. Dieses Verfahren resultierte aus dem Repertoirebetrieb, innerhalb dessen Opern lange Zeit attraktiv gehalten werden mussten. Eine Möglichkeit dafür waren Bravoureinlagen für die Hauptrollen, wobei, soweit sich bisher erkennen lässt, das weibliche Personal im Vordergrund stand.78 Der Auftrag für Texte und Kompositionen dürfte von der Opernleitung erteilt worden sein. Die Stücke führen vor Augen, wie groß die Variationsbreite innerhalb von Aufführungsserien einzelner Opern sein konnte – ein Bereich, der weder aus den Librettodrucken noch aus den überlieferten Partituren zu erschließen ist. Auch der Hamburger Spielbetrieb mit festem Ensemble, so zeigt sich weiterhin, setzte auf die Zugkraft nicht nur von Gästen, sondern gerade auch von lokalen Stars, die dem Publikum mit wechselnden Soloauftritten präsentiert wurden. Die dritte und vierte Kantate – „Ich bleibe, wie ich bin“ und „Unschätzbares Vergnügen“ – entstanden aufgrund von privaten Aufträgen für Opernsängerinnen. Sie haben, so suggeriert es Hunold, sogar biografische Bezüge zu den Protagonistinnen; hinter dieser Andeutung steht wahrscheinlich auch der implizite Hinweis 75 76 77

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Die Aufführung einer Vertonung muss mindestens 30–40 Minuten gedauert haben. Hunold: Theatralische […] Gedichte (wie Anm. 47), S. 52  f.; Keiser/Hunold: Salomon. Nebucadnezar (wie Anm. 17), S. XVIIf. Bei „Ruhe küßt erlauchte Seelen“ haben wir es mit einem Gelegenheitstext zu tun. „Unumschränckte Macht der Hertzen“ sprengt den Rahmen dessen, was im engeren Sinne als Kantate zu bezeichnen ist. Hier besteht also ein grundsätzlicher Unterschied zur Kantate „Mi lasci dunque“, die von vornherein in das Libretto der Oper integriert worden war.

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auf autobiografische Hintergründe.79 Abgesehen davon prägen die Reflexionen des Lyrischen Ichs über den Zustand der Gemütsruhe bzw. der „Großmut“ (des ‚hohen Mutes‘) bei äußerer Anfechtung bereits den Typ der „moralischen Kantate“ aus, wie ihn die vier 1714 von Keiser publizierten Kompositionen über Hunold-Texte exemplarisch und erstmals unter diesem Begriff vertreten (Musicalische Land-Lust; siehe Abschnitt 5). Auch Neumeister hatte bereits solche Kantatentexte verfasst.80 Ob die Operistinnen die Kantaten zur persönlichen Erbauung oder eher im Rahmen klein dimensionierter Konzerte musizierten, sei dahingestellt. Ganz offensichtlich aber war auch für den Typus der moralischen Kantate Hunolds/Keisers die ‚bürgerliche Hausmusik‘ weder Produktionsanlass noch primärer Rezeptionskontext; und den anhand der Land-Lust für das Genre herausgearbeiteten spezifischen musikalischen Stil81 entwickelte Keiser – alles deutet darauf hin – bereits kurz nach 1700 im Umfeld der Oper für das „Opernfrauenzimmer“. Musikalische Modelle lassen sich in moralischen Opernszenen finden. Die Auftritte Daniels in Nebucadnezar (Hunold; 1704)82 oder Senecas in Octavia (Feind; 1705)83 sind plastische Beispiele dafür. Nichts deutet darauf hin, dass die Kompositionen der beiden Hunold-Texte eine größere Öffentlichkeit erreichten. Ihre Rezeption ist damit der der nicht gedruckten italienischen Kantaten vergleichbar.

5  Keisers ‚Moralische Kantaten‘ Als Genrebezeichnung für einen Musikdruck erscheint „Moralische Kantate“ erstmals bei der Land-Lust (1714). Die vier Texte publizierte Hunold 1713 in den Aca-

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Hunold stand in Hamburg zwischen zwei Hauptsängerinnen. Die Conradi, für die er 1704 die Partie des Darius in Nebucadnezar konzipiert hatte, wies seine Liebesbekundungen ab. Daraufhin begann er eine Beziehung mit der verwitweten Anna Rischmüller, die zu dieser Zeit ihre Führungsposition im Ensemble an Conradi verlor, während sich Hunold aus unklaren Gründen nach drei 1703/04 in kurzer Frist mit Keiser realisierten, sehr erfolgreichen Projekten (zwei Opern und einem Oratorium) als dessen Librettist zurückzog. Keiser/Hunold: Salomon. Nebucadnezar (wie Anm. 17), S. VIII–X. In dieser Konstellation sind zahlreiche Szenarien von Anfeindung und (wenigstens dem Wunsch nach) großmütiger Gelassenheit denkbar, auf die Hunold hier öffentlich, aber natürlich nicht explizit, verwiesen haben könnte. Vgl. Eschenbach: Die moralischen Kantaten Hunolds (wie Anm. 2), S. 155. Vgl. auch den Beitrag von Berthold Over in diesem Band. Eschenbach: Die moralischen Kantaten Hunolds (wie Anm. 2), S. 164–169. „Könige sind öfters Sklaven“ (I,7), „Ehret die Götter von Silber und Gold“ (I,8), „Tränen, die vom Himmel fallen“ (II,7); Keiser/Hunold: Salomon. Nebucadnezar (wie Anm. 17), S.  91  f., 95–97; 123  f. „Ruhig sein, sich selbst gelassen“ (I,1), „Ein kleiner Knabe liebt das Spielen“ (III,1); Reinhard Keiser: Octavia. Hg. v. Friedrich Chrysander. Leipzig 1902 (Georg Friedrich Händel’s Werke. Supplemente 6), S. 12–15, 168  f.

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demischen Neben-Stunden, aber nur zwei davon unter „Moralische Überschrifften und Gedichte“.84 Die Bezeichnung ist also eine Setzung Keisers. Ein „Kurtzer Bericht an den Leser!“85 informiert darüber, dass die Kompositio­ nen „auff dem Lande in einer vergnügten Einsamkeit“ entstanden und „denjenigen/ welche sich solche anzuschaffen belieben/ zu einer edlen Land=Lust diesen Sommer über auf ihren Gärten/ und zu einem angenehmen Zeitvertreibe“ dienen sollten. Keiser spricht also explizit den Markt an und benennt einen konkreten Nutzwert der Kantaten für die Käufer. Der „Garten“ als Aufführungsort verweist auf ein bürgerliches Milieu; das wird unterstrichen durch die Widmung an den Juristen und Ratsherren Johann Lüis, dessen Braut als potenzielle Sängerin der Stücke genannt wird.86 Zugleich verweist Keiser auf Parallelen zum Entstehungsort: die vergnügte Einsamkeit auf dem Lande, die ebenso eine Zuflucht vor Hektik und moralischen Anfechtungen des Stadtlebens bietet, wie der Garten. In der ersten Kantate Von dem Land-Leben wird dies thematisiert. Dass die Kompositionen zeitnah zur Publikation und dass sie überhaupt für den Markt entstanden, lässt sich nicht ausschließen, aber man kann es auch nicht selbstverständlich annehmen. Da es sich um nur vier Stücke handelt – Keisers kleinster Druck überhaupt –, könnten die Drucklegung und die Etikettierung ein Experiment gewesen sein, für das vielleicht auch der Widmungsträger mitverantwortlich war. Die 1713 von Hunold publizierten Gedichte waren nicht alle auf dieser Hochlöbl. Friederichs=Universität [in Halle]/ bey meinen Neben=Stunden/ wie der Titul lautet/ sondern zum theil vorhero verfertiget worden: Ich bin aber bemühet gewesen/ alles untugendhaffte Unkraut auszugäten/ und dadurch habe ich über ein halb Alphabet von verliebten/ galanten und Satyrischen Gedichten ausgesondert.87

Keiser könnte einige der Kantaten also bereits in Hunolds Hamburger Zeit, auf die sich die Rede des Dichters vom Aussondern galanter und satirischer Poesie bezieht, vertont haben.88 Dass Keiser in dieser Zeit bereits moralische Kantaten auf HunoldTexte komponierte, wurde im voraufgehenden Abschnitt dargestellt. Auch die LandLust-Kantaten könnten demnach Entstehungs- und primäre Rezeptionskontexte

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Christian Friedrich Hunold: Academische Neben-Stunden allerhand neuer Gedichte. Nebst einer Anleitung zur vernünftigen Poesie. Halle u. Leipzig 1713. Unter der Rubrik „Moralische Überschrifften und Gedichte“ finden sich Über den 62. Psalm und Von der Music (S. 69–73). Von dem Land-Leben steht unter „Galante und vermischte Gedichte“ (S. 153–155), Von der Zufriedenheit in der „Einleitung zur Teutschen Poesie“ als Beispiel einer Kantate mit Gleichnis (S. 25–27). Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XLI (Abb. 14). Zum Widmungsträger und seiner Braut Anna Elisabeth Sontum s. Drauschke: Die Kantaten Keisers (wie Anm. 70), S. 63  f. Die Land-Lust ist der einzige Kantatendruck, den Keiser Vertretern des Bürgerstandes widmete. Hunold: Neben-Stunden (wie Anm. 84), „Vorrede“, Bl. B4v. Für Von dem Land-Leben ist angesichts des Textes mit einiger Wahrscheinlichkeit von Hamburg als Entstehungsort auszugehen.

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gehabt haben, die sich von denen, die den Stücken in der Vorrede des Drucks zugewiesen werden, unterschieden.

6  Arien und Kantaten Keisers für ein Hamburger Friedensfest Mit der Friedens-Post publizierte Keiser 1715 Musik mit einem nochmals anderen Entstehungshintergrund. Der Titelbeginn des Druckes lautet vollständig: „Kayserliche Friedens=Post/ Nebst verschiedenen moralischen Sing=Gedichten und Arien“.89 Tatsächlich teilt sich das enthaltene Material in einen Prolog (A–R–A a 2) und eine Folge von Arien und Kantaten mit moralischer Ausrichtung. Im Unterschied zur Land-Lust handelt es sich in den meisten Fällen jedoch um moralische Charakterstücke mit ausgeprägt komischen Zügen; das betrifft sowohl die Texte als auch Keisers Kompositionen. Stärker als bei allen anderen Kantatendrucken tritt in der Friedens-Post ein kompilatorischer Charakter hervor. Am 4. November 1714 hatte der Kaiserliche Gesandte in Hamburg, Baron Theobald Joseph von Kurtzrock, in seinem Haus ein Fest anlässlich des Reichsfriedens zu Baden und zugleich des Namenstages Kaiser Karls VI. veranstaltet. Dabei wurde auf einem eigens errichteten Theater eine Komödie mit Gesangs- und Tanzeinlagen aufgeführt. Laut „Vorbericht“ der Friedens-Post fand das Fest „in Höchster Gegenwart Ihro Hochfürstlichen Durchlaucht. des Herrn Hertzogs und Administratoris von Holstein/ Bischoffen zu Lübeck ec. Dero Hochfürstlichen Hauses/ Hoffstatt/ und der gesamten sich allhier befindenden Ministrorum und Noblesse“ statt. Die Beschreibung erinnert an Matthesons Zeilen über die Konzerte knapp 15 Jahre zuvor bei von Eckgh (siehe Abschnitt 3). Zur Aufführung heißt es weiter: Der Innhalt dieses Dramatis an sich selbst/ war durchaus in gebundener Rede [n]ach der besten Morale verfasset; im Prologo aber und Epilogo ist haubtsächlich auff obbemeldte Umstände/ den Frieden nemlich und zugleich eingefallenen Allerhöchsten Kayserlichen Nahmens=Tag/ allerunterthänigst gezielet worden.

Welcher Anteil der bei von Kurtzrock erklungenen Musik in den Druck aufgenommen wurde, muss offenbleiben, solange keine Texte der dort aufgeführten Stücke bekannt sind. Die Kantaten und Arien müssen jedenfalls zur Komödie gehört, der Epilog dürfte als licenza auf den kaiserlichen Namenstag Bezug genommen haben. Dass er im Druck fehlt, ist eigenartig, zumal angesichts der Erwähnung des Anlasses im Vorbericht. Vielleicht war er gesprochen, vielleicht erschien er auch zu spezifisch, um für eine größere Öffentlichkeit geeignet zu sein. Der dem Friedensschluss gewidmete Prolog ist vermutlich auch nicht vollständig wiedergegeben. Das im Druck enthaltene Material wurde ausschnittsweise weiterverwendet, zuerst in der Serenata 89

Faksimiles (Titel, Widmung, Vorbericht u.  a.) in: Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XLIV–XLVI (Abb. 20–26).

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Triumph des Friedens zum Friedensfest des Rates am 9. Dezember 1714, dann nochmals in einer erweiterten Fassung dieser Serenata, die am 1. März 1715 szenisch in der Oper gegeben wurde.90 Beide Serenata-Fassungen stammen von König und wurden von Keiser vertont. Beide beginnen genretypisch mit einer Aria a tutti, die durchaus auch bei von Kurtzrock am Anfang gestanden haben kann, für den Druck aber zu umfangreich war.91 Ob König auch die Komödie und/oder die eingelegten Gesangsnummern schrieb, ist unklar. Mit der Friedens-Post legte Keiser keine Kammermusik vor. Zwar fand die Veranstaltung im Privathaus von Kurtzrocks statt, war aber auf maximale Prachtentfaltung vor hochkarätigem Publikum ausgerichtet. Die Kantaten und Arien waren außerdem in die Komödie eingebunden. Es ging hier also um (Musik-)Theater im kleinen Rahmen. Das wird ganz besonders an Keisers Kompositionen deutlich, die die Charaktere und deren Affekte mit dem musikalischen Vokabular der Oper zeichnen, teilweise unter Rückgriff auf musikalisches Material aus eigenen Opern und aus Keisers ebenfalls dramatisch angelegtem Concerto Hercules auf dem Scheide-Wege. Dem entspricht die reiche Orchestrierung. Parallelen zur Gemüths-Ergötzung sind offensichtlich. Auf eine Reduzierung der Partituren verzichtete Keiser. In der Land-Lust – also im Mai 1714 – hatte Keiser angekündigt, nach geistlichen und moralischen „Gedancken […]: Bald auch etwas weltliches/ als einen verliebten Amintas, oder eine getreue Doris zum Vorschein zu bringen; Woraus sich alsdann jeder etwas nach seinem Gefallen und Geschmack wird auszusuchen wissen.“92 Es ging ihm also um eine möglichst umfassende Bedienung von Marktinteressen sowohl mit moralischen als auch erneut mit arkadischen Kantaten. Diese Idee gab Keiser anscheinend wieder auf. Im Vorbericht zum Auswahldruck aus L’inganno fedele (Oktober 1714) wurde eine „Musicalische Stadt=Lust/ bestehend in verschiedenen Moralischen Cantaten mit Instrumenten“ angekündigt.93 Hierbei hätte es sich also um ein umfangreicheres Folgeprojekt zur Land-Lust gehandelt. Man kann daraus schließen, dass der Versuch mit dem neuen Genre erfolgreich war. Die FriedensPost war jedoch nicht geplant, darauf weist Keiser ausdrücklich hin. Ihm sei mit der Friedensfeier bei von Kurtzrock „eine unumgängliche Hinderniß in Weg gekommen/ [die] den gefasten Vorsatz [der Stadt-Lust] etwas unterbrochen.“ Der nun vorliegende Druck sei daher ein vorläufiger Ersatz.94 Mit dieser Darstellung und mit dem im Titel verwendeten Etikett ‚moralische Arien und Kantaten‘ band Keiser die Friedens-Post in die Folge seiner Kantatenprojekte ein. Dass es aber Keisers ursächliches Ziel war, die Stücke einer breiten Sekundärrezeption zuzuführen, ist daraus nicht zu schließen. Der Druck, der eine 90 91 92 93 94

Textübersichten beider Fassungen bei Drauschke: Die Kantaten Keisers (wie Anm. 70), S. 129– 131. Auch in den Opernauswahldrucken wurden Chöre aus diesem Grund weggelassen. Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XLI (Abb. 14). Keiser: Croesus/ L’inganno fedele (wie Anm. 71), „Music-Liebender“, S. [230]. Keiser: Kantaten und Arien I (wie Anm. 17), S. XLIV (Abb. 22a).

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aufwändig gestaltete Widmung an Karl VI. enthält und die Musik in Partitur bringt, hatte offenbar in erster Linie eine auf den Festakt bezogene Memorialfunktion.

7 Fazit Aus dem bisher Diskutierten lassen sich für die besprochenen Kantaten unterschiedliche Modi der Produktion ableiten, die mit unterschiedlichen sozialen Orten für die primäre Rezeption und mit verschiedenen Möglichkeiten einer sekundären Rezeption einhergehen. – Modus 1: Kantaten entstehen im höfischen Kontext (Wolfenbüttel), entweder als Gelegenheitswerke oder als opernartige Pastoralszenen für Veranstaltungen nach Art der conversazioni. Textform und kompositorische Gestaltung werden durch diese Rahmenbedingungen bestimmt. Die Textsprache ist in Analogie zur genuinen Wolfenbütteler bzw. Braunschweiger Oper und zu vergleichbarer Gelegenheitsmusik, etwa auch in Hamburg (Hochzeitsmusiken), deutsch. Liebhaber, die Zugang zu produzierenden Kreisen und/oder den Widmungsträgern hatten, konnten die Werke kopieren. Damit beginnt die sekundäre Rezeption. Außerdem erschienen solche Kompositionen in Auswahl im Druck. Dieser Modus liegt mit Keisers Gemüths-Ergötzung vor, wobei hier der Druck der einzige Rezeptionsweg ist, über den es eine Überlieferung bis heute gibt. Von den handschriftlichen Kopien, auf die Keiser verweist, wurde keine überliefert, Autografe oder Wolfenbütteler Aufführungsmaterial gibt es ebenfalls nicht. – Modus 2: Kammerkantaten, -duette und Einzelarien entstehen für exklusive Kreise innerhalb der urbanen Hamburger Kulturlandschaft. Diese Kreise sind ständisch gemischt, hinsichtlich ihrer kulturellen Praktiken aber aristokratisch geprägt. Hier findet die primäre Rezeption, in manchen Fällen wohl auch die Produktion der Werke statt. Zur Primärrezeption gehören auch Diskurse über Texte und Musik. Typisch für diesen Modus sind: die Dominanz des Italienischen, wobei die Texte in der Regel genuin italienischen Kompositionen entnommen wurden; eine formale und kompositorische Gestalt, die der italienischen musica da camera entspricht; Parallelvertonungen derselben Texte durch verschiedene Komponisten im Rahmen eines Wettstreites und ästhetischen Diskurses, wobei sehr wahrscheinlich die italienischen Vorlagen einbezogen wurden; große Nähe des Repertoires zur zeitgleichen Hamburger Opern- und Oratorienproduktion, wobei in vielfältiger Weise interkontextuelle Bezüge hergestellt werden konnten; schließlich der Umstand, dass ein Großteil der Stücke wohl im Besitz von Einzelpersonen blieb und heute verloren sein dürfte. Kopien, die Eingang in größere Sammlungen fanden und überliefert wurden, sind möglicherweise die Ausnahme. Ausgewählte Kompositionen wurden gedruckt und damit einer Zweitverwertung zugeführt. Dieser Modus betrifft Keisers Divertimenti sowie die handschriftlich überlieferten Kantaten Keisers und Matthesons, die durchweg italienisch textiert

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sind. Einen speziellen Fall stellt Keisers „Mi lasci dunque“ (Brockes) dar: Die Kantate wurde nachträglich, wohl im Sinne einer Widmung, als Theater-im-Thea­ ter-Szene in eine Oper aufgenommen. – Modus 3: Kantaten entstehen (höchstwahrscheinlich im Auftrag der Opernleitung) für die Hauptsängerinnen der Hamburger Oper als Bravoureinlagen. Hier ließen sich nur zwei Texte nachweisen, beide von Hunold (1704/05). Hunold publizierte sie mit ausgiebiger poetologischer Diskussion. Die Kompositionen, vermutlich beide von Keiser, erlebten ihre Rezeption auf der Opernbühne. Auf eine Sekundärrezeption fanden sich keine Hinweise, eine Überlieferung jenseits der Texte ist derzeit nicht nachweisbar. – Modus 4: Kantaten entstehen infolge privater Aufträge durch das „Opernfrauenzimmer“. Auch hier ließen sich nur zwei Texte von Hunold nachweisen (1704/05). Für welche Sängerinnen die Stücke, die Keiser vertonte, entstanden, ist nicht bekannt. Auch wie man sich hier den Rezeptionsrahmen vorzustellen hat, muss vorerst offenbleiben. Denkbar sind der Privatgebrauch zur Erbauung, aber auch die Darbietung vor einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit. Auffällig ist die Nähe der Texte zu denjenigen, die Keisers 1714 als „moralische Kantaten“ publizierten Hunold-Kantaten zugrunde liegen. Eine Sekundärrezeption, die zu einer Überlieferung der Kompositionen geführt hätte, ist nicht nachweisbar. – Modus 5: Kantaten erscheinen gedruckt als Destillate aus einer Festmusik beim Kaiserlichen Gesandten in Hamburg (Friedens-Post). Im Rahmen dieser Festmusik erlebten sie ihre Primärrezeption, wobei nicht sicher gesagt werden kann, ob die gedruckten Fassungen ursprünglich in dieser Form als Kantaten erklangen. Die Drucklegung führte zur Sekundärrezeption und Überlieferung, erfüllte aber in diesem Fall in erster Linie eine Memorialfunktion für den Festakt. – Modus 6: Vokale Kammermusik entsteht für den Musikalienmarkt. Auch wenn die Stücke vor der Drucklegung bereits musiziert worden sein können, stellt der Druck die eigentliche Erstverwertung dar. Von Keisers Kantatendrucken ist nur die Land-Lust nach diesem Modus entstanden, wobei auch hier nicht ganz sicher ist, ob das für alle enthaltenen Kantaten zutrifft. Es ergibt sich folgendes Bild: Die Hamburger Kantatenproduktion zwischen 1700 und 1715 hängt maßgeblich mit aristokratisch geprägten Produktions- und Primärrezeptionskontexten zusammen, die sich über die Beschäftigung mit den Kantaten schlaglichtartig erhellen lassen. Das Wissen um diese Kontexte, also um kulturelle Praktiken in demjenigen Bereich der urbanen Kulturlandschaft, der nicht über die öffentlichen Genres Oper und Oratorium sichtbar ist, trägt wesentlich zum Verständnis der Kammermusikproduktion, aber auch bestimmter Phänomene von Opern und Oratorien bei. Einige grundsätzliche Erkenntnisse lassen sich ableiten: Die aristokratisch geprägten Kreise waren heterogen; typisch scheint eine große Durchlässigkeit der Standesgrenzen gewesen zu sein. Für die Produktion anspruchsvoller vokaler Kammermusik war der Zugang von Komponisten zu diesen Kreisen als Orten der primären Rezeption eine Grundvor-

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aussetzung: Nur dort hatten Werke in kleiner Besetzung, die auf eine Wahrnehmung durch Kenner ‚aus der Nähe‘ ausgerichtet waren, einen Sinn. Von daher sind aus der Quellenlage nicht zuletzt Rückschlüsse über das Machtgefüge der in Hamburg aktiven Komponisten zu ziehen. Offenbar stand nicht allen Komponisten, die an der Oper eine Chance hatten, auch der Zutritt zur adlig-handelsbürgerlichen Kulturelite der Stadt offen. Im Gegenteil ließen sich hier bisher nur Keiser und Mattheson als Protagonisten nachweisen. Beide nutzten ihre Kontakte zu Vertretern der genannten Schichten und – das ist ein wesentlicher Faktor – ihr Privileg, auf Sänger/innen und Instrumentalisten des Opernensembles zugreifen zu können. Dieses Privileg war offenbar der Opernleitung vorbehalten, die künstlerisch in den Händen dieser beiden Komponisten lag (Mattheson freilich nur interimsmäßig). Keisers soziales Netz scheint wesentlich weitflächiger als das Matthesons gewesen zu sein, welches sich wohl weitgehend auf die Kreise um Maria Aurora von Königsmarck und das Haus Wich beschränkte. Die italienisch textierte Cantata da camera nimmt in diesen Kontexten eine zentrale Stellung ein, was besonders im handschriftlich überlieferten Repertoire deutlich wird. Es ist gut möglich, dass die Einführung italienischer Arien in die deutsche Oper, die Keiser 1703 initiierte, ein Zugeständnis an diese Elite war. Dass hauptsächlich deutsche Kantaten publiziert wurden, lässt sich als Resultat eines Auswahlprozesses beschreiben. Für den Druck scheinen aufgrund der Zielgruppe – einer urbanen Käuferschaft – deutsche Texte bevorzugt worden zu sein. Freilich können hinter dem Sprachverhältnis auch noch andere Gründe stehen, wie anhand von Matthesons vermutlich zum Druck vorbereiteten italienischen Kantaten diskutiert wurde. Auffällig ist, dass die Produktion galanter Kantatentexte, vor allem durch Hunold, offenbar keinen parallelen Niederschlag in der Hamburger Kantatenkomposition fand, sieht man von den Kantaten für Opern und für Operistinnen ab, von denen es mehr gegeben haben mag, als Texte überliefert sind. Ich möchte dazu folgende These aufstellen, mit der ich mich auf Bernhard Jahn beziehe:95 Galante Praktiken vollziehen sich in der Öffentlichkeit und sind an galantes Verhalten geknüpft. Für die Vermittlung von Verhaltensregeln ist daher ein performatives Medium optimal geeignet. Hier steht die Medialität der komponierten und vorgetragenen Kantate im Schatten derjenigen der Oper, die neben dem Verbund der Künste auch den Opernbesuch selbst als wichtiges Moment öffentlichen Agierens bietet. Unter diesem Blickwinkel ist es verständlich, dass Keiser mit Hunold 1703–1704 zwei Opern und ein dramatisches Oratorium produzierte und Kantatentexte von ihm als Operneinlagen vertonte. Die wenigen bekannten Kantaten, die Hunold/Keiser für den Privatgebrauch von Operistinnen schrieben, stellen hier einen Sonderfall dar. Einen sozialen Ort, der den 95

Bernhard Jahn: Musiktheater und galanter Diskurs. In: Ruth Florack u. Rüdiger Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 301–315, besonders S. 313‒315.

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Produktions- und Aufführungskontext für eine deutsche galante Kammerkantate im eigentlichen Sinne geboten hätte – eine studentische Kulturszene etwa –, gab es in Hamburg hingegen nicht.96 Abschließend ist festzuhalten, dass die Hamburger Kantate zwischen 1700 und 1715 hinsichtlich ihrer Entstehungs- und Rezeptionskontexte in fast allen wesentlichen Punkten von dem abweicht, was für Telemann um 1730 zutrifft. Ein grundlegender Unterschied ist, dass Telemann seine gedruckten Kantaten von vornherein für den Druck komponierte und sich teilweise eigens dafür die Texte schreiben ließ.97 Zwischenzeitlich hatte die Produktion von Kantaten in Hamburg offenbar aufgehört, denn weder sind handschriftlich überlieferte Kompositionen nach 1715 bekannt, noch gab es Drucke. Wie das zu erklären ist und was sich daraus für die Musikausübung in aristokratischen Kreisen ergab, wäre noch einmal ein eigenes Thema. Unter den Vorzeichen einer zur Aufklärung hin gewandelten städtischen Gesellschaft etablierte Telemann das Genre Ende der 1720er-Jahre neu. Italienische Texte spielten dabei keine Rolle mehr. Keiser, gerade mit der Kantate, als Vorreiter Telemanns zu sehen, verstellt den Blick ebenso wie Rückprojektionen von Beobachtungen an Telemann um 1730 auf die Jahre vor und um 1710. Keiser und Mattheson waren mit ihrer Kammermusikproduktion fest in der aristokratischen Kultur Hamburgs verankert. Wie massiv diese Kultur auch auf die Oper und das Oratorium ausstrahlte, wird anhand der Kantaten noch einmal aus einer neuen Perspektive deutlich.

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Vgl. dazu Michael Mauls Beschäftigung mit den Leipziger Kantatentexten Lehms’ und deren möglichen Vertonungen; Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720). Freiburg i.Br. 2009 (Rombach Wissenschaften. Reihe Voces 12), S. 125–131, 557–563; Ders.: „Daß die Poësie die beste und schlimmste Wißenschafft sey“ (wie Anm. 1). Interessanterweise finden auch die zahlreichen von der Leipziger Studentenschaft gedichteten galanten Kantaten, wenigstens quellenmäßig, kein Äquivalent in entsprechenden Kompositionen. Eine gewisse Ausnahme stellt Melchior Hoffmann dar. Nachweisen lässt sich aber vor allem die Zusammenstellung von Kantaten aus Opernarien und -rezitativen. S. die Werkverzeichnisse bei Clemens Harasim: Kuhnau, Johann. In: MGG2. Personenteil 10 (2003), Sp. 824–833; Wolfgang Horn: Heinichen, Johann David. In: Ebd. Personenteil 8 (2002), Sp. 1178–1192; Andreas Glöckner: Die Musikpflege an der Leipziger Neukirche zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Leipzig 1990 (Beiträge zur Bach-Forschung 8), S. 59–61 (zu Melchior Hoffmann). Kompositorische Aktivitäten Christoph Graupners lassen sich erst für Hamburg nachweisen, wo aber, soweit bekannt, keine Kantaten entstanden. Telemanns Kantatenproduktion setzt wahrscheinlich in Eisenach ein. Telemann: Kammerkantaten (wie Anm. 12), S. XI–XV.

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Hansjörg Drauschke

Die weltliche Kantate in Hamburg zwischen 1700 und 1715

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“The Public would surely welcome such a work”: Telemann and the Career of the Cantata as a Consumer Good Until recently, the subject of consumerism has been overlooked or even held in contempt by scholars of the arts, the fine arts particularly. That attitude of scholarly disdain for consumerism is now beginning to shift toward the view that consumer behavior is itself a type of creative behavior. In her introduction to The Consumption of Culture, 1600–1800: Image, Object, Text, Ann Bermingham writes that individuals appropriate cultural forms to their own individual ends, as tools to construct social selves […]. [P]erhaps the thing that distinguishes the modern period from any that preceded it, is the fact that consumption has been the primary means through which individuals have participated in culture and transformed it. Consumption then should not be understood as simply a positive or negative reality but rather as a powerful tool for social change.1

The apex of the cantata’s popularity among musical amateurs in German-speaking Europe coincided, in the later 17th and early 18th century, with the period economic and cultural historians identify as the birth of consumer society.2 As a composer and self-publisher, Georg Philipp Telemann commanded the marketplace for all genres of music including sacred and secular cantatas composed for amateur musicians. Telemann was both a beloved composer and a brilliant businessman. More than perhaps any other contemporary musician, he was attuned to consumer tastes. The evolution of his music publications is therefore a rich resource for exploring the emerging middle-class music-consuming publics, plural, in Hamburg, the city where he spent the majority of his working life. We know that Telemann wrote and published cantatas by the dozens and that they sold. It is much less certain to whom they sold, why they sold, or, most importantly, how they were valued by their owners. In what follows, I will offer some tentative answers to those questions by analyzing Hamburg’s intellectual and social contexts and their bearing on the evolution of Telemann’s sacred cantata publications. I will focus on three large-scale projects Telemann worked on during the decade of the later 1720s and early 1730s. Two of these projects came to fruition and are wellknown to Telemann scholars: Harmonischer Gottes-Dienst, oder geistliche Cantaten zum allgemeinen Gebrauche (1725/26) and Fortsetzung des Harmonischen GottesDienstes (1731/32). The third project, another sacred Cantata–Jahrgang Telemann

1 2

Ann Bermingham: Introduction. In: Ann Bermingham and John Brewer (Ed.): The Consumption of Culture, 1600–1800. Image, Object, Text. London 1995, pp. 1–20, at p. 14. Daniel Roche: A History of Everyday Things. The Birth of Consumption in France, 1600–1800. Cambridge 2000 [Originally published in French 1997]; Jan de Vries: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-015

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worked on with his Frankfurt friend, Johann Friedrich Armand von Uffenbach, was a commercial failure that Telemann aborted before it could ruin his finances. In their correspondence, Telemann referred to this project simply as “your beautiful cycle” (Dero schönen Jahr-Gang).3 To understand Telemann’s published cantatas as consumer goods requires examining each work simultaneously as a text that transmitted information, both musical and non-musical, and as a material object that could be used (or neglected) by its owner in ways beyond the composer’s control. Inscribed in Telemann’s tone of address to consumers in title pages and prefaces, in the variations of scope, voicing and complexity of each subsequent cantata project, in details of typography and paper choice, and in Telemann’s decision finally to give up on publishing sacred cantatas for amateurs, are the composer’s conversations with multiple audiences and echoes of their conversations among themselves. Four conclusions emerge from textual and contextual analysis of these three cantata projects. First, there was, if not a full-blown “consumer revolution” then at least a definite transformation underway in the 1720s and 1730s in the types of vocal music that amateurs preferred; second, in private homes and informal, friendship-based social gatherings innovation was happening in consumer behavior, specifically because women were increasingly exercising influence over what, when and how singing in their homes occurred; third, despite Telemann’s best efforts and notwithstanding other Lutheran cantors’ admiration for and acquisition of the Harmonischer Gottes-Dienst cycles, sacred cantatas did not become wildly popular consumer goods among middle-class amateurs in Hamburg. However, Telemann’s sacred cantatas were only one part of his larger campaign to market vocal music to new audiences. Ann Bermingham suggests that a “culture-consuming public of the early modern period was there not so much to be tapped as to be created.”4 There can no doubt about the fourth and final conclusion: that Telemann created a broader music-consuming public in Hamburg, and well-beyond. To begin, we must look at the origins of early modern consumerism, consumerism in Hamburg, and the Hamburg Enlightenment’s critical reaction against conspicuous consumption. The critique of consumerism in Hamburg was being formulated in the pages of the Hamburg moral weekly, Der Patriot, at precisely the moment when Telemann began his publishing projects in Hamburg.

3

4

Georg Philipp Telemann, letter to Johann Friedrich Armand von Uffenbach of 12 November 1727. In: Georg Philipp Telemann. Briefwechsel. Sämtliche erreichbare Briefe von und an Telemann. Ed. by Hans Grosse and Hans Rudolf Jung. Leipzig 1972, p. 224. Bermingham: Consumption (see note 1), S. 15.

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1  Early Modern Consumerism Modern consumerism has been defined as a “truly revolutionary change in the ways goods were sold, in the array of goods available and cherished, and in the goals people defined for their daily lives.”5 Looking for explanations for how it began, scholars such as Peter Stearns have found that it first centered in the regions where a commercial economy was most fully developed and where access to global products was expanding most rapidly.6 These were urban spaces, where by the start of the 18th century new kinds of goods – particularly colonial imports – were marketed via a new-fangled invention – print advertisement – and readily accessible in a growing array of retail shops. A sizable fraction of the consumer avant garde that entered this fray were the prosperous city dwellers themselves; in other words, Bürger elites. But the motivations of these first modern consumers are harder to discern and remain controversial. Why did people choose to begin spending their surplus wealth, rather than saving it? Why did they spend on goods that were not necessary for the subsistence of their families? Why and how did they come to want and develop “passionate attachments to things”?7 Early modern consumers were motivated by many factors. One that contemporary observers themselves noticed was emulation. As sumptuary laws fell into disuse, prosperous city dwellers began to acquire things that formerly only the aristocracy could afford and were allowed to own: status goods, such as fashionable clothing made from expensive, exotic materials. However, even in the 18th century, the phenomenon of consumerism was much more diversified and widespread than emulation can account for. Moreover, as Jan de Vries has argued, consuming involved innovation as well as imitation.8 So we have to look to other motivating factors: specifically the influence of the Enlightenment, the influences that came from reading, and the role of gender. The Enlightenment valorized pleasure, comfort, sociability and material well-being and championed education for children and self-cultivation for adults, especially women. The kinds of consumer goods that correlate with Enlightenment-inspired demand were increasingly common in household inventories: for example, home furnishings such as beds; cups and pots for serving and enjoying pleasure drinks in convivial settings; and books on an ever-expanding range of non-religious subjects, aimed at ever more diverse audiences. Reading itself was another enormously powerful stimulator of consumerism. It evoked intense emotions and suggested new behaviors to express them. Lastly, there is the factor of gender. Men and women appear to

5 6 7 8

Peter N. Stearns: Consumerism in World History: The Global Transformation of Desire. 2nd ed. New York 2006, p. 25. Ibid., p. 15. Ibid., p. 26. Cf. de Vries: Industrious Revolution (see note 2).

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have been equally drawn to consuming and men predominated in coffee houses and were the main targets of early advertising. However, women determined and often executed the purchase of household goods. Women may have also invested their possessions with more intense personal meaning than men did.9 Stearns concludes that the private, family sphere was a setting in which women might be eager to use consumer opportunities to gain new interests and personal meaning. Here was a setting in which those aspects of budding consumerism that established women as objects of beauty […] and regulators of consumer-enriched family rituals could make sense, to women and men alike.10

2  Consumerism in Hamburg and its Critics At the start of the 18th century, Hamburg was already a major center of early modern consumerism in northern Europe. It was among the two or three largest cities in the region and a major port of entry for imports from European colonies and export of northern European manufactured goods. In a February 1724 issue of Hamburg’s Enlightenment moral weekly, Der Patriot, a fictional English visitor describes Hamburg as “a warehouse for the treasures of the world.”11 The rapid expansion of wealth among Hamburg’s citizens afforded the possibility for conspicuous, even extravagant consumption, and that was a cause for moral concern among the reform-minded group of professionals and intellectuals that founded Hamburg’s “Patriotic Society” in 1724. One of their objectives in publishing Der Patriot, which became the most influential moral weekly in the German-speaking lands, was to reform the consumer behavior of Hamburg’s wealthy citizenry. As prominent Bürger themselves, the Patriots certainly did not see commerce and consumption as inherently immoral. On the contrary, in the guise of the fictional English visitor quoted above they boast that industry and the arts are stimulated by the financial rewards that come through commerce, and merchants are the ones who assure that money, the lifeblood of the Republic, flows through all its veins. Thanks to them, the poor have their basic needs, the average man has his comforts, the rich man has his finery, and as they all pursue their own happiness, they assure the happiness of the Republic in which all of them share.12

However, the Patriot roundly condemned, and campaigned against, extravagant consumption by Bürger attempting to emulate aristocrats. It particularly targeted such  9 10 11

12

Stearns: Consumerism (see note 5), p. 35. Ibid., p. 36. Der Patriot. Critical edition based on the original Hamburg edition of 1724–26, in three volumes with a volume of commentary. Ed. by Wolfgang Martens. Berlin 1969. I:6, 17. Februar 1724, p. 43. Ibid., S. 44.

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spending when it was done by the households of the Bürger elite, and it sought to curb this with counter-examples of men and women consuming in moderation, using “good judgment”. Four key themes articulated in the early issues of the Patriot contributed to the intellectual context for Telemann’s sacred cantata publications. The first is the Patriot’s focus on Bürger households and women, acknowledging, often explicitly, that women served as decision-making consumers for their families. As a caution against aristocratic-style consumption, in the second issue (13 January 1724) the authors introduce a fictitious Hamburg merchant son, Matz Schaamroht Jr., whose pretentions and wasteful spending bankrupt himself and three generations of his family. The story goes that after his mother’s early death, Matz was raised by a succession of tutors. When as an adult he pursues a ruinously extravagant lifestyle – indulging his own son with singing and dancing tutors, himself with a loge at the opera, and his wife with jewels and expensive gowns – the Patriot leaves little doubt that Matz’s behavior reflects the lack of rational, moderating influences that a virtuous mother would have provided him.13 The next several issues of the Patriot foreground the importance of the education of girls who will become Bürger wives and mothers. „We generally give less attention to raising our daughters than we do our sons”, the Patriot complained.14 That emphasis is flawed, “because their conduct, whether it is good or bad, especially when they become mothers, supports or undermines the general welfare every bit as much as the conduct of our sons.”15 Women were equally responsible for the “happiness of the Republic” in their roles as educators and examples of moral conduct for their children and as enlightened consumers in the marketplace. Second, closely related to its focus on Bürger wives and their households, the Patriot specifies the cultural goods necessary for properly educating girls as well as where and how those goods should be consumed. Books top the list. The Patriot consistently prioritizes reading as an essential activity for girls, wives, and mothers. In the rules for establishing a “ladies academy” presented in the Patriot’s third issue, each girl in the academy is required to assemble her own small book collection. The girls are also only allowed to enjoy luxury drinks such as chocolate while reading “something good”, for example, on Thursdays, the Patriot. And in the February 24th issue, Barthold Heinrich Brockes introduces an ideal, and ideally marriageable, fictional young lady, Araminte, by itemizing the contents of her private library. Third, the Patriot reaffirmed the traditional Lutheran notion of a woman’s primary role as helpmate of her husband by emphasizing practical skills such as cooking and arithmetic and providing pupils with only the rudiments of the sciences and high culture pursuits such as drawing, music, and eloquence in the curriculum of the ladies 13 14 15

Ibid. (see note 11), I:2, 13. Januar 1724, pp. 14–17. Ibid. (see note 11), I:3, 20. Januar 1724, p. 21. Ibid. (see note 11), I:18, 4. Mai 1724, p. 155.

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academy.16 Brockes’ ideal Frauenzimmer, Araminte, models what this education will produce. He tells us that Araminte is an accomplished cook and has mastered the techniques of household management. She is also well-versed in Christian teachings and an intelligent conversationalist on all of the subjects covered by the books in her private library.17 Brockes’ very emphasis on Araminte’s library gives us yet another clue to his, and presumably the rest of the Patriots’, conception of the ideal Bürger daughter. Beyond her rudimentary formal education, she is self-taught via the books that she owns. The disparaging comments about private tutors scattered throughout the Patriot’s pages make it doubtful that their ideal Bürger household would employ tutors for its daughters and sons. A fourth theme introduced in the early issues of the Patriot connects directly to the consumption of culture, including the consumption of music. The specific works in Araminte’s library, which Brockes presents as “a list of useful books” for “my beloved fellow female citizens”, underscore the cultural competencies the Patriot envisioned that wives and mothers of middle-class households should possess. The collection is divided into four categories: “For devotion and edification”, “For information and entertainment”, “On intelligent conduct” and “On household management”. The first two categories are particularly relevant here. The works “for information and entertainment” include one treatise each on the arts of drawing, painting, and music. Among the works for devotion and edification, alongside the Weimar Bible and several works by Martin Luther, Brockes lists two volumes of poetry known in one way or another to every Hamburg Lutheran: the Hamburg Hymnal, and Erdmann Neumeister’s Sacred Cantatas.18 Though both the hymns and Neumeister’s cantatas were sung regularly in Hamburg church services, their presence in Araminte’s library suggests they were also, perhaps ideally, to be read. Their grouping with the Bible and Luther’s works makes clear that for Brockes, himself a poet, the hymns and the cantatas should be “consumed” by women for their religious value and in the context of private devotions at home. Der Patriot set the agenda of the early Hamburg Enlightenment, which was both a cultural reform and a moral reform agenda. In many respects it was forward-thinking; however, its critique of consumption by middleclass households harkened backward: emphasizing that Bürger families should return to practices at the core of traditional Lutheranism. Parents were entrusted with educating their daughters to become wives and mothers; parents were also expected to provide their children’s early religious instruction, imparted by reading religiously-themed works at home. Hymnals were essential cultural goods. Brockes himself owned at least six different volumes of

16

17 18

Ibid. (see note 11), I:3, 20. Januar 1724, pp. 23–25. Cf. Peter Petschauer: Eighteenth-century German Opinions about Education for Women. In: Central European History 19/3 (1986), pp. 264–273. Ibid. (see note 11), I:8, 24. Februar 1724, p. 61. Ibid. (see note 11), I:8, 24. Februar 1724, pp. 67  f.

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Protestant hymns and sacred songs.19 As for musical consumption, it was not a top priority for the authors of Der Patriot. The journal makes no mention of families owning musical instruments; it looked askance at the dancing and singing tutors Matz Schamroth hired for his son. It was famously ambivalent toward the Hamburg opera. For the Patriot’s authors, musical literacy – that is, the ability to perform music from a score – was best gotten by hearing and singing religious music in church and practicing it by oneself, at home.

3  Telemann, the Hamburg Public, and Cantatas as Consumer Goods Telemann began putting his music into print in Frankfurt, producing collections of instrumental chamber music at the behest of various nobles (Standespersonen) and the request of citizens (bürgerliche Personen).20 In their physical features, these first instrumental collections adhered to expectations already well-established in music printing: all bore a title page, some included a brief, laudatory dedication to a princely patron and an ornamental engraving. All were engraved or typeset by experienced craftsmen. [see figure 1] No evidence in Telemann’s extant writings suggests that he had a particular vision for any of these early collections as consumer goods, or any hope for how they would be experienced as aesthetic objects by the musicians who played from them or the individuals who owned them. From the outset, Telemann took a strikingly different approach to publishing music once he had settled in Hamburg. By contrast with his Frankfurt publications – small sets of instrumental pieces occasioned, initially, by specific individuals – his first Hamburg project was a complete Jahrgang of sacred cantatas that, as Steven Zohn states, “dwarfed his Frankfurt publications in scope and expense.”21 Positive reactions from Hamburg parishioners during his first few years as Cantor may have inspired him to make available for sale versions of the post-sermon cantatas they were hearing each week. However, Harmonischer Gottes-Dienst was explicitly aimed at a wide, anonymous audience of fellow church music directors and amateur musicians in other cities as well as in Hamburg. Telemann advertised the cycle heavily and well in advance, offering the cantatas in both individual-sheet and complete-volume

19

20

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Laurenz Lütteken: Überlegungen zur Musikaliensammlung von Barthold Heinrich Brockes. In: Hans-Georg Kemper, Uwe-K. Ketelsen and Carsten Zelle (Ed.): Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) im Spiegel seiner Bibliothek und Bildergalerie. Teil I. Wiesbaden 1998, pp. 273– 298, at p. 296. Georg Philipp Telemann: Lebenslauf (1731). In: Karl Grebe (Ed.): Georg Philipp Telemann mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1970, p. 85. Cf. Steven Zohn: Telemann in the Marketplace. The Composer as Self-Publisher. In: Journal of the American Musicological Society 58/2 (2005), pp. 275–356, at pp. 287  f. Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), pp. 290  f.

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Fig. 1: Georg Philipp Telemann: Title page and page 1 of Six Trios, 1718

formats. The October 1725 announcement in the Staats- und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Correspondenten described the pieces as suitable for “one person playing [continuo] and singing […] as well as two or three people playing together” and offered discounted prices to subscribers who pre-ordered and pre-paid for their copies.22 Telemann expressed his vision of the uses the public would make of his sacred cantatas in a lengthy preface to the first quarterly bound volume, which was delivered to subscribers in the spring of 1726. It was a vision closely aligned with the pedagogical ideals laid out in the pages of the Patriot by Brockes and Christian Fried­ rich Weichmann, whom Telemann also credited with helping him find authors for Harmonischer Gottes-Dienst’s poetry.23 Consistent with the Patriot’s championing of Lutheran notions of religious instruction, the composer described Harmonischer Gottes-Dienst as “more for private use at home than for public worship.”24 Adhering to Brockes’ emphasis on the importance of self-cultivation through book collection and reading, Telemann’s preface offered instructions “especially for those not 22 23

24

Ibid., p. 291. Cf. Werner Menke: Das Vokalwerk Georg Philipp Telemann’s. Überlieferung und Zeitfolge. Kassel 1942, pp. 51–53 and Appendix A, pp. 8–11. Georg Philipp Telemann: Vorbericht [unpag.]. In: Harmonischer GOttes-Dienst/ oder geist­ liche Cantaten […]. Hamburg 1725/26. International Scores Music Library Project. URL: http://imslp.org/wiki/Harmonischer_Gottesdienst_%28Telemann,_Georg_Philipp%29. [31. 03. 2016]. Ibid.

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schooled in music” about tempo and articulation in the recitatives and reassurance that the pieces were composed and printed so as to be easy to read. Telemann also envisioned that the Harmonischer Gottes-Dienst cantatas would fulfill a religious necessity as old as Lutheranism itself: the need for sacred music for “private devotions” (Privatandacht).25 Since the printing of Martin Luther’s own Geystliche Gesangk Buchleyn in 1524, Protestants had relied on hymnals to help them meet Luther’s expectation that they “sing spiritual songs and Psalms heartily unto the Lord, so that God’s Word and Christian doctrine might be instilled and implanted in many ways.”26 That Telemann expected his sacred cantatas might fill the same niche as a hymnal is suggested by the similarity in the typeface, formatting and language of Harmonischer Gottes-Dienst’s title page and that of the standard title page of the Hamburg Hymnal. [see figures 2–3] Yet, as a poetic form and as a musical genre, cantatas in the early 18th century were novelties. Therefore, Harmonischer Gottes-Dienst could both satisfy a traditional religious need, and at the same time, satisfy an individual consumer’s desire for something fashionably new. The path for sacred cantatas to serve the same function as hymns in the hands of consumers had already partially been paved. By the 1720s, congregations in Hamburg, Leipzig, Frankfurt and elsewhere could engage actively with cantatas as they were performed during the worship service by reading along in printed cantata texts, in the same way that they read and sang church hymns with the help of hymnals.27 Telemann himself produced and sold the Texte zur Music containing the cantata libretto for each worship day, printed in the same Octavo format (16,25 cm × 9,5 cm) used for hymnals. Telemann’s printed cantata texts thus resembled hymnals both in their physical shape and their function. Furthermore, during his first three years in Hamburg, Telemann included a standard hymnal feature at the end of each yearly cycle of his cantata texts in the form of an index that organized each cantata of the year by the day on which the piece was performed, the Church it was performed in, and the time of the worship service.28 For 18th-century Lutherans, hymn melodies and their texts were indispensable parts of the mental scaffolding of an individual’s faith. The religious meaning of every hymn text was inextricably bound up in its tune. The tenets of the faith were, in effect, musically cataloged in each individual’s memory with the result that a specific text could be called back to memory via its tune. The organization of Telemann’s 25 26 27 28

Ibid. Quoted in Christopher Boyd Brown: Singing the Gospel. Lutheran Hymns and the Success of the Reformation. Cambridge, MA 2005, p. ix. Cf. Tanya Kevorkian: The Reception of the Cantata during Leipzig Church services, 1700–1750. In: Early Music 31/1 (2002), pp. 27–44, at p. 34  f. The Index is quoted in full by Annemarie Clostermann: Georg Philipp Telemann. Selbstverfaßte Texte zu sonntäglichen Kirchenmusiken aus den Beständen des Staatsarchivs Hamburg. Hamburg 1993 (Hamburger Telemann-Archiv. Mitglieder-Jahresgabe 1993), pp. 1–52, at p. 6.

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Fig. 2: Georg Philipp Telemann: Harmonischer GOttes-Dienst, 1726, Title Page

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Fig. 3: Neu-Vermehrtes Hamburgisches Gesangbuch zum Heiligen Gebrauch, 1745, Title Page

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index of cantata texts presumed that Hamburg congregants were experiencing and re-experiencing their faith musically, so that if a congregant heard a particular tune during a particular service, that tune became linked to that moment in space and time. The tune could, therefore, lead a congregant back to its text. Telemann describes this use of musical-spatial memory in his preface to the first year’s index: This index is assembled with this useful purpose in mind: that anyone whose religious emotions are awakened by the hearing of a particular piece of Church music, if he has set the printed text aside, can find and read it again for his own edification; or, if he hears a certain piece for the first time and would like the text, he need only indicate the first words of the text to the Music Director, who will then find it for him.29

Like all Lutheran composers of the day, Telemann depended on the fact that a mental scaffolding of familiar hymns organized worshippers’ experience of sacred music in church. Composers built their sacred cantatas around this scaffolding, in order to give worshippers a stable, familiar platform for accessing the new music and the new texts that cantatas contained. As with his printing of the Texte zur Music, Telemann took care that the Harmonischer Gottes-Dienst cantatas were optimally usable for the individuals who purchased them. The cantatas were printed in score format, so that one or two musicians sitting together could read or play from a single copy. [see figure 4] For a novice singer, seeing a text she had recently heard in church might call the melody back to mind; remembering the melody reinforced the emotional resonance of the text. If a mother sang and played an instrument while her children followed along, then the cantata became a teaching tool. Families could experience musically-reinforced reading along with the tenets of religion at once. Two further pieces of evidence point to the fact that Telemann intended these cantatas for women and families as end users. The title words for “Private and household worship” explicitly refer to the domestic sphere where women were becoming active consumers. Second, the cantatas in Harmonischer Gottes-Dienst are all set for either Soprano or Mezzo Soprano voice, arguably a deliberate adjustment to women’s and children’s vocal ranges. Thus mothers and their children certainly could have used Harmonischer Gottes-Dienst to enhance private household worship or to practice and improve their singing or playing of instruments. Did Bürger families buy the Harmonischer Gottes-Dienst cantatas, and if they did, did they value and use them for learning music and enriching their household religious practices? There cannot be a definitive answer to those questions, but substantial indirect evidence tells us, probably not in significant numbers. As the published cantatas became available in 1726, Telemann seems to have faced slower sales than he had anticipated, forcing him eventually to offer the complete volume at a

29

Ibid.

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Fig. 4: Georg Philipp Telemann: Harmonischer GOttes-Dienst, 1726, Cantata for the Second ­Sunday after Epiphany

price below the original subscription rate.30 Expense was probably one obstacle for many Bürger families. Telemann initially charged 6 Schillings for a single cantata and 5 Marck Courant for a quarterly subscription to the Harmonischer GottesDienst, many times the 2-Schilling price he charged for a single Cantata textbook.31 Also, despite Telemann’s best efforts to make the vocal part easy by confining “the range of the melodies […] so that they do not reach beyond the spaces directly above 30 31

Cf. Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), pp. 293–296. Cf. Menke: Vokalwerk (see note 22), Appendix A, p. 10. The highest paid baker’s apprentice at the time made 120 Marck Courant per year; 200 Marck Courant was the amount the Patriot set for the yearly upkeep of the virtuous orphan maidens in the “Frauenzimmer Academy”.

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301

(Fig. 4 continued)

and below the five lines of the staff ”,32 the ornamented, melismatic compositional style characteristic of baroque cantatas had to have put them beyond the abilities of singers, “who are not schooled in music.”33 Without a continuo instrument to provide the rhythmic and harmonic framing, a solo singer might not have been able to make much musical sense of her part. But owning and being musically literate on an instrument put yet more obstacles in the way of easy middle-class access to these pieces. And lastly, technical problems with the printed scores made them difficult to read.

32 33

Telemann: Harmonischer GOttes-Dienst (see note 23). Ibid.

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The pieces were printed double-sided for cost reasons: paper was very expensive.34 Unfortunately, that resulted in the notes and words on the page being obscured by shadows bleeding through the poor quality paper Telemann’s printer used. Physical quality and aesthetic appeal became for Telemann top priorities in his next publishing projects. Even before Harmonischer Gottes-Dienst was completed, he had begun planning two new works. The first was announced in December 1726 in the Staats- und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Correspondenten: a printing of “selected arias” for one singer and continuo, taken from the pre-sermon cantatas that would be performed in Hamburg’s main churches during 1727, “on spotless [sauber] paper.”35 The second was a meticulously-planned volume of cantatas with poetry and engravings by Johann Friedrich Armand von Uffenbach. Telemann first proposed the idea to Uffenbach in March of 1725 and sketched out further details in their correspondence over the next several years. Initially, the composer envisioned “half or a dozen sacred-moral cantatas that could be performed either in church or at private concerts.”36 His idée fixe with this project was that Uffenbach would embellish each cantata with an engraved emblem that allegorically illustrated its moral or liturgical theme.37 More than any other publishing project Telemann contemplated or executed, Uffenbach’s “beautiful cycle” would have been a sumptuous collector’s item. Indeed, Telemann was inspired to the project by several dedicated book collectors: Uffenbach himself, who amassed an enormous collection of books and artwork over his lifetime; and Brockes as well as Michael Richey, two Hamburg Patriots who left substantial libraries behind at the end of their lives.38 Brockes and Richey assured Telemann that “the Public would surely welcome” a collection of cantatas such as he envisioned.39 Telemann initially conceived it after Uffenbach sent him examples of allegorical illustrations Uffenbach himself had engraved for a collection of his own cantata poetry, dedicated to Duke August Wilhelm of Braunschweig–Lüneburg and his wife, entitled Poetischer Versuch, worinnen die Nachfolge Christi in Betrachtung seiner heilsamen Lehre und heiligen Lebens durch Sinn-Bilder erkläret, und zu einiem Harmonischen Kirchen-Jahrgange […] entworfen wird (1726).40 But if cost had been an obstacle to Bürger buying the Harmonischer GottesDienst cantatas, to whom did Telemann think expensively produced, engraved cantatas would sell? Again, there can be no definitive answer, however possibly Telemann 34 35 36 37 38 39 40

Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), p. 297. Cf. Hans Lenneberg: On the Publishing and Dissemination of Music, 1500–1850. Hillsdale, NY 2003. Menke: Vokalwerk (see note 22), Appendix A, p.11. Telemann, letter to Uffenbach of 4 October 1724. In: Telemann: Briefwechsel (see note 3), p. 219. See Telemann, letters to Uffenbach of 4 October 1724 and 12 March 1725. In: Ibid., pp. 215  f. and p. 219. Cf. Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2nd ed. Hamburg 1990. p. 430. Telemann, letter to Uffenbach of 12 March 1725. In: Telemann: Briefwechsel (see note 3), p. 219. Cf. Telemann, letter to Uffenbach of 4 October 1724. In: Ibid., pp. 215  f.

Telemann and the Career of the Cantata as a Consumer Good

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thought beautifully produced works with edifying poetry by a prominent patrician from an old family would appeal to other Bürger elites. In a 1723 letter to Uffenbach, Telemann had boasted that there was no place “in the world like Hamburg for enlivening the spirit and imagination of a person who works in the realm of music” because there, money, “’the life blood of all things’ [nervus rerum gerendarum] flows freely from local music-lovers’ [Liebhaber] hands.”41 Whatever the case, Telemann and Uffenbach’s joint undertaking became, not a small set of six or twelve sacred or moral cantatas as Telemann had originally proposed, but instead another sacred cantata Jahrgang. Telemann had the first engraved textbooks ready for sale to Hamburg congregants in December 1727. In letters to Uffenbach over the next twelve months, the composer alluded to that fact that the textbooks with engravings were not selling. The music was never printed, presumably because Telemann did not dare invest the money and time that would have been necessary. Instead, in the spring of 1729 Telemann returned Uffenbach’s plates with the engraved emblems, complaining bitterly that “all sorts of nonsense has been uttered criticizing these engravings, which I do not care to repeat. Suffice it to say that superstition, stupidity, and excessive cleverness can make a lot of noise.”42 His confidence that the Hamburg public would purchase sacred cantatas was gone. More than five years elapsed between Telemann’s publication of the original Harmonischer Gottes-Dienst cantata cycle and its sequel: Fortsetzung des Harmonischen Gottes-Dienstes (1731). In letters to Uffenbach and other friends, Telemann spoke proudly of the overall quality of this new work. In addition to the poetry by Tobias Henrich Schubart, Telemann was pleased with the improvements in the printing. In advertisements of the work and in its preface, he specifically mentions the use of high quality paper.43 Telemann also engraved the score himself, allowing him to monitor for typographical errors and to fit many more lines of music on each page. That innovation lowered his overall printing costs; it also had the benefit of making these cantatas easier simply to read from the score.44 [see figure 5] Conspicuous rhetorical shifts in the Fortsetzung’s preface suggest that Telemann did not expect local Bürger families to be a substantial portion of its audience. The print advertisements and the title page make no mention of household devotions nor of learning music. “Privat Andacht” is mentioned only once, in passing, in the preface.45 Instead the Fortsetzung cantatas are simply described as solo cantatas that 41 42

43 44 45

Telemann, letter to Uffenbach of 31 July 1723. In: Ibid., p. 213. “Man hat allerhand grünes und geles [sic] von diesen Kupfern geurtheilet welches ich aber für unnöthig finde, hier anzuführen; gnug: Aberglaube, Einfalt und Überklugheit können viel Lerm machen”; Telemann, letter to Uffenbach of 2 April 1729. In: Ibid., p. 231. Cf. Menke: Vokalwerk (see note 22), Appendix A, pp. 21–23. Cf. Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), p. 297. Georg Philipp Telemann: Vorwort. In: Fortsetzung des Harmonischen Gottes-Dienstes/ oder geistliche Cantaten […]. Hamburg 1731/32. International Scores Music Library Project. URL: http://imslp.org/wiki/Harmonischer_Gottesdienst_%28Telemann,_Georg_Philipp%29.[31. 03. 2016].

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Fig. 5: Georg Philipp Telemann: Fortsetzung des Harmonischen GOttes-Dienstes, 1731, Cantata for the Second Sunday after Epiphany

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(Fig. 5 continued)

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Fig. 6: Georg Philipp Telemann: Fortsetzung des Harmonischen GOttes-Dienstes, 1731, Title page

are suitable for all four vocal ranges, accompanied by one or more instruments. [see figure 6] Telemann again kept a narrow range for the vocal parts – avoiding highs and lows. Moreover, in several places in the Fortsetzung’s preface, Telemann seems to anticipate locals’ displeasure with his choice of unfamiliar musical symbols and typo­ graphy, and he chides them for it. For example, explaining his exclusive use of the treble clef (Violinen-Schlüssel) in the vocal line, Telemann observes that “almost all foreign musicians manage to use [the treble clef] in singing, and what is possible for

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them should not be difficult for a German.”46 Similarly, in explaining his opting for Latin typeface in place of Fraktur, which he had used in the original Harmonischer Gottes-Dienst, Telemann cites both aesthetic considerations and the fact that then “foreigners with limited facility with our language” could also read these pieces. By the later 1720s, Telemann had established outlets for his music with booksellers in London and Amsterdam as well as Leipzig, Berlin, Frankfurt, Nürnberg, and Jena. He deployed a wide network of friends and fellow musicians to market the Fortsetzung cantatas far beyond Hamburg.47

4 Conclusion Telemann certainly wanted and needed to make a profit on sales of his published works. But equally, he wanted them to be useful for their purchasers. His experiment to produce sacred cantatas for Liebhaber demonstrated the limits of the genre’s market appeal. Lutheran hymns, cherished and essential musical goods in Protestant households, embodied a Lutheran’s confessional identity in a way that sacred cantatas could not. But cantatas of all sorts amounted to no more than a small fraction of the total number of works (his own and others’) that Telemann made available to consumers over his long career.48 He exploited nearly every genre popular at the time – from hymns to opera arias to keyboard fantasies to string quartets – in an effort to stoke or satiate or reshape the spiking market for possessible music. Kate Van Orden, in Music and the Cultures of Print, states that “musical texts presume a musical performance” allowing printed music a “dual life”.49 But based on a reasonable surmise about what Telemann’s publics did with the pieces they purchased, his printed music served not only to occasion performances, but also to fix memories of sacred moments, both private and public, to enable learning, to occasion conversations and enhance conviviality, to physically adorn an interior or convey the good taste of their owner, and to fill out a collection. Telemann’s publics were similarly diverse and included women in ever-greater numbers. Women and their families required pieces from which they could learn the rudiments of music, and Telemann delivered them. In addition to his explicitly pedagogical publications, such as Der getreue Music-Meister (1728) and Singe-, Spiel- und General-Bass-Übungen (1733), he published dozens of collections of 46 47

48 49

Ibid. Index of Telemann’s Published Works. In: Telemann: Briefwechsel (see note 3), p. 124. Cf. Telemann, letter to Uffenbach of 23 February 1732. In: Ibid., pp. 233  f. – Also Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), p. 287. Zohn: Telemann in the Marketplace (see note 20), p. 277. Kate Van Orden (Ed.): Music and the Cultures of Print. New York, London 2000, pp. ix–xxi, at p. xi.

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Fig. 7: Sperontes: Singende Muse an der Pleiße, 1741–1744, Title Page

short, relatively easy pieces for voices or instruments or both. Women, “the best teachers of good comportment” in Der Patriot’s estimation,50 were also increasingly the orchestrators of social gatherings in which young men and women sought entertainment as well as edification in one another’s company. Strophic songs with lightly moralizing, quotidian themes like those in Sperontes’ Singende Muse an der Pleiße [figure 7], eventually met that market demand. It was one for which Telemann’s published vocal music for amateurs had paved the way.

50

Der Patriot (see note 11), III, Appendix, p. 433.

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Eingestreute Poesien: Arien, Kantaten und Opern in Romanen des frühen 18. Jahrhunderts Romane des Jahrhunderts zwischen 1650 und 1750, insbesondere deutsche, sind bunte, inhomogene, in ihrer ganzen Textur flirrende Forschungsgegenstände. Kupferstiche können dazu beitragen, obligatorisch sind sie nicht. Überschriften und Kapitelzusammenfassungen (wie sie die pikaresken Romane aufwiesen) sind eher selten; ostentative Gliederungen werden normalerweise nicht geliefert; hier werden in der Regel flüssig und schnell geschriebene Manuskripte in den Satz gebracht. Bunt gestalten sich die zahlreichen Texteinschlüsse: Briefe, Gedichte, Kantaten, Opern. Monologe und Dialoge können, mit Anführungsstrichen zum jeweiligen Zeilenanfang hervorgehoben, als Einfügungen oder Ausbrüche markant werden. Die Setzer benötigen meistens mindestens vier Typen: Fraktur für die deutschen Worte und Wortbestandteile (wie deutsche Kasusendungen an französischen Worten), Antiqua für die zahlreichen Lehnwörter – es heißt galant „excusiren“, wo es entschuldigen heißen könnte, und man benötigt Fraktur für die letzten drei Buchstaben. Man benötigt regulär zudem eine hervorgehobene Fraktur, die Schwabacher ist hier beliebt, etwa für Maximen und Moralien und einen zusätzlichen größeren Antiqua Font für die Fremdwörter in denselben. Ein standardisiertes Handlungsschema – das „Romanschema Heliodors“1 – gibt es nicht. Es wird zumeist verschachtelt erzählt. Nebenfiguren bieten ihre Lebensgeschichte gerne als lehrreiche Exempel an. Die Novelle sprengt die Rahmenhandlungen,2 die, wie Johann Leonhard Rost alias Meletaon in der Türckischen Helena (1710) festhält, eigentlich beliebig enden können.3 Die Lektüre lebt vom Rhythmus der Beschleunigungen, die mit dem spannenden novellistischen Erzählen kommen, und von den Momenten des Zeitstillstandes, 1

2

3

Dieses Schema visualisiert Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln u.  a. 1963, S. 25. Dirk Rose resümiert die kritische Debatte dazu in: Conduite und Text: Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin u.  a. 2012, S. 153–159. Ich ging der Frage nach der Bedeutung der Novelle in diesen Romanen ausführlich nach in: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710–1720. Amsterdam u.  a. 2001, S. 329, S. 478–488 und zusammenfassend S. 599–697. Dirk Rose verweist in: Conduite und Text (wie Anm. 1), S. 154, auf eine Staatsexamensarbeit von Georg Behütuns: Der Deutsche Roman an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Theorie und Praxis des Romanschaffens von Hunold – Menantes. Zulassungsarbeit für das Lehramt an Gymnasien. Zulassungsfach Deutsch. Würzburg 1975, dort S. 143, als die erste Untersuchung, die die „Novellensammlung“ als Konstruktionsschema einklagte. Das ist die Eröffnung in: Meletaon [d.  i. Johann Leonhard Rost]: Die türckische Helena. 1710, unpaginierte Leservorrede.

https://doi.org/10.1515/9783110572810-016

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dort, wo ariose Monologe sich in die Länge ziehen oder ganze Opern und Kantaten eingefügt sind. Das alles ist in deutschsprachigen Romanen verstärkt der Fall, weitaus deutlicher als in französischen und englischen, ohne dass sich dafür eine einfache Erklärung geben lässt. Der Roman als Objekt, aus dem man sich auf der Suche nach schönen Textpassagen und Komplimenten bedienen kann – insbesondere als studentischer, auf die Conduite als entscheidender Karrierekunst ausgerichteter Leser – ist ein Teil der Antwort.4 Das bürgerliche weibliche Pendant dieses Adressatenkreises lässt sich auf dieselben modischen Angebote ein und wird mit einer eigenen Produktion, derjenigen „asiatischer“ Heldinnen, hervorgehoben angesprochen.5 Dieser Roman des Modenangebots benötigt die verschiedenartigen Einschübe mehr denn ein Roman, der sich im urbanen London oder Paris vorwiegend als narrativer Zeitvertreib verkauft. Ein spezifisches Legitimationsdefizit des heroischen Romans wird an selber Stelle anzusprechen sein: Es schafft Raum für einen Roman, der sich der einfachen generischen Zuweisung entzieht; es legitimiert einen bunten Roman, der jederzeit ein anderes Argument für sich hat als das soeben angegriffene. Der Roman wahrer Historie ist Teil des Ausweichmanövers, in dem sich behaupten lässt, dass man hier am wenigsten einen Roman (geschweige denn einen in der Nachfolge des Amadís) liest. Der wahre Geschichte für sich urbar machende Roman lebt vom Beleg der Ereignisse, vom Einschluss des Dokuments, und gerade ein solches wollen in der Regel die Opern, Kantaten und Arien in einer Kultur sein, die mit solchen Inszenierungen denkwürdige Momente herstellt und die Inszenierungen gerne mit Textdrucken später noch fixiert. Die nachfolgenden Kapitel sollen Einblicke in das Wie? eingestreuter Arien und Kantaten geben. Wann werden sie eingestreut, was leisten sie dort, wo sie eingestreut werden? Wie werden sie textlich integriert? Welchen Zwecken auf Seiten der Leser dienen sie dabei? Das vierte und die letzten beiden Kapitel werden dabei dezidierter auf die historischen Linien ausgerichtet sein.

1 Ein unwahrscheinlicher Repräsentationsakt: Celanders Verkehrte Welt (1718) Celanders Verkehrte Welt oder Satyrischer Roman (1718) ist am ehesten ein kaum zu vermarktender, in seiner Konstruktion antiquierter Roman, der von Autor und Verleger mit dem Geruch des skandalösen Romans ausgestattet wird und dabei ein wenig spektakuläres Reformangebot formuliert. Man liest hier keinen wirklichen

4

5

Eingehend gingen Florian Gelzer und Dirk Rose diesen Anforderungen nach; Gelzer in: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland, 2 Bde. Berlin u.  a. 2007 und Rose in: Conduite und Text (wie Anm. 2). Siehe zum weiblichen Publikum dieser Romane die jüngst erschienene Studie von Katja Barthel: Gattung und Geschlecht. Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700. Berlin u.  a. 2016.

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Skandalroman, auch wenn das Pseudonym und die Rekurse auf Christian Friedrich Hunolds Satyrischen Roman (1706) die skandalöse Saite anschlagen. Von „Celander“ hatte man 1709 und 1715 die zwei Teile seines Verliebten Studenten gelesen. Unter den deutschen Studentenromanen des frühen 18. Jahrhunderts war das vielleicht der pikanteste Titel. Das 1718 erneut verwendete Pseudonym sucht keinen Rekurs auf diese Titel und das, obwohl ihr Autor im Strauß mit Johann Leonhard Rost alias Meletaon begierig gewesen war, seinem nom de plume eine sukzessive Produktion zuzuordnen. Meletaon hatte diesen ersten Celander im eigenen Roman als „Leander“ verstümmelt und ihm mit der Aufdeckung des Pseudonyms gedroht, sollte er je wieder von sich hören lassen: […] ausser etliche Predigten aus Postillen, [hat er nichts geschrieben] dann mon Frere muß wissen, daß er ein Theologus, der schon etlichsmalen geprediget, er hat erstlich auf der Universität Giessen, und dann in Halle studiret, ja wo mir recht, auch in Leipzig, doch habe mir sagen lassen, daß er an dem letztern Orte mehr Zeit mit Depauchiren, als mit Studiren zu gebracht, sein Name aber ist, wie leichtlich zu erachten, aus dem Griechischen hergeholet. Das dachte ich gleich, erwiederte Gerano, daß es ein Griechischer Name, und nun kenne den Auctorem selbsten, ist es nicht wahr, er ist eine kleine Person, und unweit Franckfurt zu Hause, es soll mich selbsten bedüncken, als ob ich ihn in Halle gekannt. […] Es zeigete hierauf Amando dem Gerano etliche Passagen, darinnen sich Leander sehr vergaloppiret, und erzehlete weiter, wie er sich mit diesem Pasquill renommiret, daß er sich bey Hohen und Niedern in grosse Ungnade gesetzet, daß er auch schwehrlich in seinem Vaterlande eine Employ zu hoffen, weilen er in seiner Scarteque Leute von Extraction angetastet, die ihme doch unter die Arme greiffen, und zu einem Dienst verhelffen können, so aber wird er nun wohl einen DorffSchulmeister, oder einen Herrn Johannes abgeben müssen, der kaum genug Brod zu essen.6

Der Celander des Jahres 1718 sieht, anders als der, mit dem Meletaon sich herumschlug, nach vorne, als ob er noch nie einen Roman geschrieben hätte – doch bei Gefallen gerne einen zweiten vorlegen werde: Weil auch die Abwechselung einem jeden angenehm, so verspreche mit ersten mit einem Asiatischen Staats-Roman aufzuwarten, damit der hochgeneigte Leser erkennen möge, daß ich nichts mehr suche, als iederzeit mit aller Eherebietung zu seyn   Dessen| Den 3. Decembr.| 1717.| ergebenster| CELANDER.7

Das Imprint „Cöln bei Pierre Marteaux“ nutzten Verleger in der Regel für Titel, die sie ungern unter dem eigenen Namen publizieren wollen – Raubdrucke oder skandalöse Ware, oder aber (und das ist hier der Fall) lahme Titel, denen sie so zumindest den Geruch der brisanten Produktion schenken konnten.8 Der brisante „satirische Roman“, der den Markt beherrschte – derjenige Hunolds, der 1706 auf den Markt gekommen war und seitdem mehrfach wieder aufgelegt 6 7 8

Meletaon [d.  i. Johann Leonhard Rost]: Schau-Platz der galanten und gelährten Welt. 2 Bde. Nürnberg 1711, Bd. 1, Bl. 5r/v. Celander: Die verkehrte Welt. Cölln 1718, Bl. a7r. Ausführlich zum Imprint Marteaus: Karl Klaus Walther: Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer. Köln, Leipzig 1983; sowie Simons: Marteaus Europa (wie Anm. 2).

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wurde, lebte vom persönlichen Angriff. Hunold hatte sich in ihm im Heldendoppelpack vermarktet: Selander rückte als Personifikation in der Romanhandlung Hunolds unstatthafte Amour zu Hamburgs Opernsängerin Rischmüller in ein vorteilhafteres Licht. Ihm zur Seite stand Tyrsates, der ihre Rivalin, die Conradi, als Prostituierte bloßstellte. Ganz wie Menantes in seiner Vorrede 1706 will der Celander des Jahres 1718 sich gegen alle verwahren, die in seinem Roman wahre Begebenheiten ent­ decken wollen. Bei Hunold war das 1706 nichts als Farce, die offene Einladung zum großen Entdeckungsspiel.9 Im Roman des Jahres 1718 liest man dagegen nichts, was so recht skandalös erst wird, wenn man neben den gegebenen Namen die wahren setzen kann. Der Autor stellt einleitend klar, dass er bei der klassischen Typensatire bleibt, und sie ist durchsichtig: Es stellet dieser Roman gleich als in einem Spiegel, die vornehmsten Laster zur Beschau-und Abschreckung dar. Vinoso giebt einen Schwelger, Amante einen Wollüstigen, Ludoso einen Spieler, Brouillante einen Balger, und der Graf Rieux einen solchen Menschen ab, der in allen seinen verderblichen Begierden nachhenget. Der eintzige Tarystes ist allein bemühet, der Tugend ein reines Opffer anzubrennen, und daher suchet er auch seine Unterweisungen die Irrenden auf den rechten Weg zu ziehen.10

Tarystes, der später laufend Tarsytes heißt – jedoch eben nicht, wie bei Menantes: Tyrsates – ist der Hofmeister des jungen Grafen Rieux. Mit seinem Zögling reist er nach Rom. Frankreich wäre das nähergelegene Ziel einer Bildungsreise gewesen, die Niederlande die probate Alternative in Zeiten außenpolitischer Spannungen, London die zukunftsweisende Entscheidung, doch passt Rom hier gut für alles Folgende: Gleich in der ersten Herberge ist es Vinoso, ein Trinker, der den Lehrer den Machtverlust fürchten lässt.11 Tarsytes kann den Zögling zwar später, was dieses Laster anbetrifft, noch nachdenklich stimmen mit der Obduktion des Dahingerafften,12 doch ist Rieux zu diesem Zeitpunkt längst allen anderen Lastern verfallen, von denen das schlimmste die ausschweifende Liebe ist, bei der sich der Zögling in ein Netz banaler Intrigen verstrickt. Schüler und Lehrer begegnen sich bald mit der politischen Klugheit, die Christian Thomasius empfahl. Auf dass das nicht unvermerkt bleibt, erklärt Celander, wie der Leser hier zu werten hat: Tarsytes, so seinen Theil von des Grafen Reden glaubete, lobete dessen Entschliessung, und stellete sich, als wenn er recht wohl damit zufrieden, in der That aber gedachte er Rom bald zu verlassen, und auf solche Weise eine Bekanntschafft zu trennen, die ihm nicht gelegen war. Also war einer über den andern, und obwohl der Mund heuchelte, so fluchte doch das Hertz; „Dieses ist auch eben die vornehmste Mode der Welt, da heist es, sein Diener hinten, sein Diener vorne, da das Hertze doch mehr zu schaden, als der falsche Mund zu dienen suchet. Da weiß nun keiner, wem er trauen soll […].  9

10 11 12

Benjamin Wedel: Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schriften. Cöln 1731. Dazu auch mein zweiteiliger Aufsatz: „Christian Friedrich Hunold alias Menantes“. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 13 (2005), S. 6–29 und 14 (2006), S. 8–30. Celander: Die verkehrte Welt (wie Anm. 7), Bl. a6v–a7r. Ebd., S. 1–3. Ebd., S. 147.

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Wiewohl nun der Grafe und sein Hoffmeister sich verstelleten, so war doch ein mercklicher Unterscheid zwischen diesen beyden: Tarsytes verstellete sich aus einer guten Absicht, damit er den Grafen von den Lastern ziehen, und zur Tugend führen möchte. Der Grafe aber suchte durch seine Verstellung der Tugend zu schaden, und sich von seinem Hoffmeister loß zu machen, dessen Fleiß und Eyfer er doch mit keinem Guthe ersetzen können.13

Rieux weiß den unbequemen Lehrer wenig später in die türkische Sklaverei zu praktizieren. Der gelangt nach Afrika, wird auf dem Sklavenmarkt verkauft, zu seiner äußersten Erniedrigung weit unter seinem Marktwert, doch beginnt hier eine bürgerliche Aufstiegsgeschichte, in der sich der Hofmeister zur rechten Hand seines Herren emporarbeitet. Heimlich verliebt sich Tarsytes zudem in die Tochter des Brotgebers, die schöne Zaime. Es ist dies der Punkt, an dem die Vorsehung eingreift: Allah fordert den türkischen Kaufmann im Traum auf, eine weitere Mekka-Reise auszustatten, diesmal zugunsten der Tochter. Ihr soll er Tarsytes zur Seite zu stellen. Die junge Dame ist zum Glück so „verschlagen“ wie der gewesene Hofmeister. Schweren Herzens verspricht sie, sich zu fügen, und triumphiert dabei heimlich. Alles geht glatt. Tarsytes kann das Schiff auf hoher See in seine Gewalt bringen. Alkohol ist an Bord, dem die muslimische Mannschaft zuspricht. In weiteren Wirren wird sogar die Galeere befreit, auf der sich der ehemalige Zögling wiederfindet. Zaime ist jetzt seine Gefangene – so ihre charmante Feststellung. Zeit für eine Arie, mit der Tarsytes seine Beziehung zu ihr galant klärt. Ich zitiere extensiv, da sich eine Arie durchaus nicht so einfach auf ein türkisches Schiff bringen lässt – es sei denn, es werden alle besonderen Bedingungen erklärt und plausibilisiert: Tarsytes […], welcher recht vergnüget geruhet, erwachte […], und weil ihm die verbindlichen Reden seiner geliebten Zaime die Nacht über im Schlafe recht angenehme Träume verursachet hatten, so sonn er darauf, sich davor erkenntlich zu erweisen, bald fiel ihm ein, daß sie gesaget, ihre Freyheit wäre dahin, und sie gehörete ihm als eigen zu, und deswegen verfertigte er einige Verse, darinnen er sich ihr Gegengefangener und Sclave nannte. Als er nun seine poetische Arbeit vollendet, da verließ er das Lager, und besahe die Galeere; er fand alles noch in gutem Stande, sowohl auf seiner, als der eroberten, wovon ihm der Lieutnant auf das gegebene Zeichen Nachricht brachte. Nach eingenommenem Bescheide frug er denselben, ob nicht einige auf der Galere wären, so mit der Music umzugehen wüsten? Der Lieutenant gab zur Antwort, daß drey unter den Erlöseten wären, welche wohl singen und dabey trefflich auf Violinen spielen könten. Tarsytes hörete solche Antwort sehr gerne, denn er hatte sich vorgenommen, seiner Zaimen eine Lust zu machen, und ihr die aufgesetzten Verse bey der Mahlzeit vorsingen zu lassen, doch betrübete es ihn auch nicht wenig, daß er keine Violinen bey der Hand hatte, und darum sagte er zu dem Lieutenant: Werther Freund, eure Nachricht ist mir sehr lieb, doch gehet es mir dabey ziemlich nahe, daß ich keine Violinen anzuschaffen weiß. Gnädiger Herr, versetzte der Lieutenant, sie dürffen deswegen nicht traurig seyn, die erwehnten Musicanten haben verschiedene Instrumenten, und darunter Violinen, bey sich, weil der in dem Treffen gebliebene Türckische Capitain nicht selten selbige vor sich kommen und zur Belustigung spielen ließ, auch ihnen zu dem Ende aus Italien gute Instrumente angeschaffet hatte. Tarsytes hatte nun, was er begehrete, und stieg er mit dem Lieutenant in die Chaluppe, und fuhr nach der eroberten Galere. Daselbst ließ er die Musicanten zu sich in die Cajute kommen, gab 13

Ebd., S. 430  f.

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ihnen seine gemachten Verse, und befahl ihnen, selbige in Music zu bringen, damit sie bey der Mittags-Mahlzeit könten abgesungen werden. Die Musicanten waren froh, daß sie Gelegenheit hatten, ihrem Erlöser zu dienen, und säumeten sich deswegen nicht lange, sondern streckten [!] allen Fleiß daran, das Aufgetragene bester massen zu verrichten. Indem nun Tarsytes die Galere besichtigte, und sich eine Verzeichniß von der darauf befindlichen Munition, und anderen Kriegs-Sachen, als Canonen, Musqueten, Flinten und dergleichen, weil sie als eine zum Raub ausgeschickte Galere, keine Wahren führete, aufsetzen ließ, worüber einige Stunden verstrichen waren, hatten sie ihre Arbeit gantz fertig gemacht, so daß sie, als Tarsytes wieder zu ihnen in die Cajute kam, eine glückliche und ihm wohlgefällige Probe ihrer Geschicklichkeit vor ihm ablegten, und davor die Versicherung von ihm erhielten, daß er ihren Fleiß mit aller Erkenntlichkeit belohnen wollte, damit sie nicht Ursache zu klagen haben sollten, daß sie einen Undanckbahren aufgewartet. Die Musicanten, so gebohrene Italiener waren, erwiederten mit der grösten Ehrerbietung, daß er gar nicht nöthig hätte, eine Vergeltung zu erwehnen, viel weniger zu thun, weil sie ihm ohne dem mit Leib und Leben verbunden wären […]. Des bescheidenen Tarsytes tugendhafftes Gemüthe kunte diese rechtmäßigen Lob-Reden, weil grosse Leute niemahls die Gewohnheit haben, sich in das Angesichte loben zu lassen, nicht länger anhören, und deswegen sagte er nur, sie möchten sich fertig machen, mit ihm nach seiner Galere zu fahren, weil es bald Essens-Zeit seyn würd. So gleich nahmen sie ihre Instrumente zur Hand, stiegen mit ihm in die Chaluppe […].14

Man rudert auf das Leitschiff. Es werden die hochrangigen Gäste verschiedener europäischen Nationen erwähnt, die mitsamt dem Grafen Rieux von Tarsytes befreit wurden – zehn Gäste geben der Aufführung damit den passenden Rahmen: Als nun zum zweyten mahle aufgetragen wurde, da traten die Musicanten, weil es Tarsytes so angeordnet hatte, in die Cajute, und liessen zu iedermanns Verwunderung sich mit ihren Instrumenten hören; Welche wohl eingerichtete Music ihnen desto verwunderlicher vorkam, ie weniger sie sich eingebildet hatten, solche geschickte Leute auf der See anzutreffen. Nach einigen Stücken nahmen sie des Tarsytes Verse vor, und sung einer mit hellem Tenor, unter einer sanfften Musiqve, solche folgender gestalt ab: 1. Mein Kind, ist deine Freiheit hin,   Und bist du nun gebunden So wisse, daß mein Hertz und Sinn   So viel an dir gefunden, Daß ich, wie geht es immer zu? Gefesselt bin, gleich als wie du. 2. Ich dencke stets mit Lust daran,   Wie ich zum Sclaven worden, Sonst wehrt man sich, so viel man kann,   Vor diesen schlimmen Orden; Wann aber Lieb und Schönheit will, So heist es: Halt gezwungen still. 3. Wohl! ich will dir auch jederzeit,   Mein Leben, treu verbleiben; Die angenehme Dienstbarkeit   Soll mir die Zeit vertreiben. Dem Sclaven geht es immer wohl, Der thut was er verrichten soll.

14

Ebd., S. 795–797.

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4. Weil wir nun auserwehltes Hertz,   In Kett- und Banden gehen, So werden wir gar keinen Schmertz;   In unserer Liebe sehen; Denn, wenn zwey Hertzen einig seyn, So weiß man nichts von Angst und Pein. Die schöne Zaime sahe ihren geliebten Tarsytes nach Endigung der Arie recht liebreitzend an, und sagte: Mein werther Schatz, nun bezahlet ihr dasjenige mehr als doppelt, wodurch ich gestern meine Zuneigung zu euch an den Tag legete; Aber wartet nur, ich will euch mit gleicher Müntze belohnen, und das ebenfals unvermutheter Weise.15

Eine türkische Musik wird zur Gegengabe – doch nicht zu einer gleichgestalteten, denn Zaime kann mit den türkischen Instrumenten die Europäer einen Moment lang vor einem neuen Schlachtengetümmel erschrecken lassen, bevor diese begreifen: es ist nicht minder Musik. Das ausführliche Zitat illustriert Verschiedenes: Wir befinden uns hier nicht einfach in einem opernähnlichen Roman, in dem die Beteiligten wie selbstverständlich nach ausgestandener Gefahr zum Gesang anheben können – es gibt solche, und auf sie wird zurückzukommen sein. Wir befinden uns in einem Roman, der Realität des 18. Jahrhunderts simuliert. Dazu gehört, dass eben nicht selbstverständlich ist, dass es hier zu einer Arienaufführung kommt. Man muss Glück haben, wenn einem da italienische Virtuosen zur Verfügung stehen. Die gesamte Aufführung muss geplant sein. Die Musiker müssen eine Musik zum Text setzen und das kostet sie einige Stunden – indes auch nicht mehr. Der Kunde von Ehre sollte bezahlen, auch wenn er soeben als Lebensretter agierte. Die Arie ist hier nicht Teil einer persönlichen Kultur – das war allenfalls das Dichten, sondern Teil einer kommerziellen, doch immer noch weitgehend akzidentiellen und zugleich omnipräsenten Konzertkultur. Die bezeigte Kunst lebte von ihrer Mehrdeutigkeit. Tarsytes antwortete mit seinen Versen einem mehrdeutigen Liebesgeständnis. Seine vorherige Sklaverei münzte er galant in eine neue um. All dies erlaubte eine liedhafte Arie ohne große Metaphorik – ohne „barocken Schwulst“, um das mit einem späteren Begriff zu sagen. Das Ende des Romans ist schnell erzählt: Der junge Graf kommt in einem Kampf ehrenvoll ums Leben. Eine Frau lässt er unverheiratet zurück, doch findet sich ein Versorger, was es dem erbenlosen alten gräflichen Vater nahelegt, den Hofmeister an die vakante Sohnesstelle zu setzen. Mit der Bekehrung der Zaime macht sich Tarsytes zudem in der Christenheit einen Namen, und sein türkischer Schwiegervater stattet die „verschlagene“ Tochter endlich auch noch mit einem willkommenen Erbe aus. All dies schafft keinen Roman latenter Skandale, wie ihn Menantes mit seinem Satyrischen Roman vorlegte (in dem es nebenbei übrigens auch eine Entführung des Helden durch türkische Piraten gab).16 All dies nähert sich vielmehr dem verspro-

15 16

Ebd., S. 798–800. Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Satyrischer Roman. Hamburg 1706, S. 224–235.

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chenen „asiatischen“ Roman an – doch lebt der von dunklen Geheimnissen wahrer Identitäten in der Tiefe des antiken und exotischen Raums, in den keine Zeitungshistorie je vordrang. Celanders Roman ist eher eine bürgerliche Aufstiegsgeschichte mit jeder Menge detailversessener bürgerlicher Wunscherfüllung nach aristokratischem Vermögen, in denen die gesungen dargebotene Arie die Krönung ist.

2 Die Vergegenwärtigung des Moments: Michael Erich Francks Adelphico (1715) Ein zweiter, gegenüber dem Roman Celanders von über 800 Seiten, mit nur 152 Sei­ten vergleichsweise kurzer Roman, der im 20. Jahrhundert einige Jahre lang als Musterroman des frühen 18. Jahrhunderts im Raum stand, ist Des glückseeligen Ritters Adelphico Lebens- und Glücks-Fälle. In einem Liebes-Roman der Galanten Welt vorgestellet von Melisso (Christian Erlang [i.e. Erlangen] 1715). Herbert Singer notierte ihn 1966 ohne eine tiefere Analyse als wohl den einzigen Roman, der das von ihm skizzierte Gattungsschema des „galanten Romans“ als ein „ganz reines Beispiel“ aufweise.17 Stimmte Singers Heliodor zugeschriebenes Formschema, so müsste der Roman von zwei Liebenden handeln, die getrennt werden, in der Mitte des Romans kurz zusammenkommen, erneut getrennt werden, um dann nach allen Belastungsproben ein festliches Beilager zu feiern. Josef Erhard und Adolf Haslinger notierten 1973, dass die Dinge anders liegen.18 Singer übersah den Schlüssel, der klärte, dass man hier den Roman eines gewissen Michael Erich Franck (1691–1721) las, der einen Studienfreund mit der Erzählung offenbar (teilweise) wahrer Ereignisse ein Hochzeitsgeschenk machte (ein Roman, von dem er sich übrigens in einem zweiten, mit mehr Freiheit verfassten noch selben Jahres distanzierte).19 Hier wird offenbar am Rande des Skandals erzählt, mit dem Angebot, diesen galant zugunsten des Helden zu wenden. Adelphico ist zu Beginn der Ereignisse sechzehn Jahre alt, von fränkischem Adel, ausnehmend wohl gestaltet und in allen ritterlichen Exerzitien vom Reiten und Tanzen bis hin zum Fechten gewandt. Amoene, deren Liebe er als erstes auf sich zieht, ist gleichaltrig, ebenfalls ausnehmend wohl gestaltet, und begleitet ihren Vater auf einen freundschaftlichen Familienbesuch. Eine erste Kantate wird hier wie in der Verkehrten Welt als Ausklang eines Mittagessens geboten. Amoene begreift nicht sogleich, was da mit ihr geschieht. Ein Knabe von zwölf Jahren wird von zwei „Fleutedouces“ (Flûtes douces, Blockflöten) begleitet. Die Kantate ist nach

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Herbert Singer: Der galante Roman. Stuttgart 1966, S. 53. Josef Erhard u. Adolf Haslinger: Wer ist Melisso, der Autor des Adelphico. In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Bern u.  a. 1973, S. 449–465. Siehe die Vorrede zu Melissus [d.  i. Michael Erich Franck]: Rachgierigen Fleurie. Franckfurt u.  a. 1715.

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Abb. 1: Melissus [i.e. Michael Erich Franck], Des glückseeligen Ritters Adelphico Lebens- und Glücks-Fälle (Christian Erlang: Lorberischer Buchladen, 1715), S. 6–8.

der aktuellen Mode komponiert20 – eine Oper en miniature mit einem Wechsel von Arien und Rezitativen, einem Gefühlsumschwung und einer moralische Pointe. An der speziellen Moral hat Amoene nicht das geringste Interesse; ihrem Gegenüber, Adelphico, passt sie umso mehr ins Konzept. Er plant einen Gymnasialaufenthalt in Coburg und hat darum nichts dagegen, dass alle Gewalten der Erde „Amors Pfeil zerschmeißen“. Der Nil soll „das Brennen, das man Liebes-Brunst muß nennen“, löschen, auf dass Ergötzen in das Herz des Sängers und Zuhörers einziehe. Das Rezitativ setzt mit einem kleinen Spiel der Götter nach. Die zweite Arie sagt sich von Venus los, da kommt das Rezitativ mit einem Einwand: Manchmal muss man aber doch in Engels-Armen ruhen. Der Einwand wird sogleich abgelegt. „Ich sage aber dieses zum Bescheid: Daß besser sey die Einsamkeit.“ Die moralische Pointe ist ambivalent, doch, wie sich zeigt, mit erzählerischem Weitblick formuliert: Der „falschen Liebe“ wird der Untergang gewünscht, und von ihr wird Amoene soeben ergriffen. Die Abbildung 1 (siehe oben) zeigt das Druckbild mit seinen Einrückungen und Auszeichnungen der Partien bis hin zur Aufführung der Da-capo-Arien. Die Kantate gewinnt in der Reproduktion des Romans einen dokumentarischen Wert, zu dem die festgehaltenen Begleitumstände beitragen. Einige Seiten später folgt ihr bereits die nächste: Das Essen ist geendigt, man begibt sich auf einen Spaziergang, die jungen Leute kommen an einem Garten vorbei, in dem ein junger 20

Siehe zur Evolution der Kantate um 1700 Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u.  a. 2005, S. 129–160.

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Mann – dem Schlüssel zufolge niemand anders als der Autor des Romans – zur Laute singt. Amoene fällt, da man diese Kantate zu Ende gehört hat, in Ohnmacht. Es ging nun um das diamantene Herz eines Amanten, der die ihm darin angetragene Liebe nicht erwidert. Adelphico weiß Amoene ins Leben zurückzuholen, wird dabei jedoch auch unter vier Augen mit ihrem Liebesgeständnis konfrontiert. Was bleibt ihm anders, als Treue zu schwören. Die Eltern lassen dem Paar in den nächsten Tagen einsame Momente, in denen „korallenrote Lippen“ immer wieder „unzertrennlich aneinanderhängen“. An Adelphicos Entschluss, erst einmal die höhere Schule zu besuchen, kann das nichts ändern. Da setzt ein zweiter Handlungsstrang ein: Cassandre, der Bruder Amoenens, war im Krieg vermisst, und taucht nun auf, um Vater und Schwester zu begrüßen. Er wird später Aspasie, Adelphicos Schwester, heiraten, doch hat er nun erst einmal einen Rittmeister Feraldo bei sich, der unverzüglich um Amoene wirbt. Sie zeigt sich interessiert und beobachtet, wie Adelphico das nimmt. Statt Eifersucht zu zeigen, bleibt er ruhig, was sie kurzfristig verbittert, dann jedoch zur Entscheidung für Feraldo bewegt; vorausgesetzt, der kündigt bei der Armee in Thago (Gotha). Was nach dem angeblichen Schema aller galanten Romane nicht hätte geschehen dürfen, ist geschehen: Die erste Liebesbeziehung ist abgehakt; hier wird nicht um Tugend und Belohnung ganz am Ende gerungen. Mit Statterie wiederholt Adelphico denselben Beziehungskonflikt, da bringt Musano, eben Franck der Autor, den Freund schließlich mit der zukünftigen Gemahlin zusammen, doch müssen da noch immer zwei Jahre vergehen. Diesmal jedoch steht alles besser, denn diesmal wirbt Adelphico und gewinnt glücklich. Kantaten durchwirken diesen Roman. Die erste findet sich auf den Seiten 6 bis 8. Die zweite, jene, die Amoene mit einer Ohnmacht quittiert, folgt auf den Seiten 13 und 14. Die dritte ist auf den Seiten 48 und 49 untergebracht, die vierte auf den Seiten 56 bis 57, die fünfte auf den Seiten 63 bis 65, die sechste auf den Seiten 68 bis 69. Der größte Textabschnitt liegt zwischen ihr und der siebten auf den Seiten 134 bis 136. Die achte Kantate beschließt den Roman und ist, als eine ausgemachte Hochzeitskantate weit länger, auf den Seiten 148 bis 153 platziert. Die lange unmusikalische Strecke im Mittelfeld birgt eingeschobene novellistisch exemplarische Geschichten Dritter wie die um Fermont, Helene und Heroald. Ersterer ist deutscher Soldat und verliebt sich auf Landau, der großen Festung des Spanischen Erbfolgekriegs, in die Französin Helene. Ihr macht gleichzeitig Heroald den Hof, auch deutscher Soldat, im Rang überlegen, was die Französin wankelmütig werden lässt. Fermont fordert Heroald zum Duell und nimmt ihn gefangen, doch werden aus den redlichen Deutschen Freunde, die sich gegen das französische Frauenzimmer verbünden, das am Ende leer ausgeht und blamiert dasteht. Das hat erstens nichts weiter mit der Haupthandlung zu tun, es ist zweitens bemüht skandalös, ohne dabei über eine schöne Propagandakonstellation hinaus zu gelangen. Welchen Platz hätte eine Kantate in dieser Binnennovelle einnehmen sollen? Welchen Moment hätte sie dokumentieren und feiern sollen?

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Dass die Noten auch in diesem Roman fehlen, scheint nicht als Manko auf. Man erhält in den regulären Kantatenabdrucken ebenfalls so gut wie nie Notenbeigaben. Die Musik ist das Flüchtige, der poetische Gedanke ist dagegen das Stete, das nach einer spontanen Inszenierung ruft. Die Kantate spiegelt im gelingenden Moment alles wider, was den Moment auszeichnet. Menschlichen Beziehungen schenkt sie Gegenwart, an die man sich zurückerinnern kann, und hier entfaltet der Adelphico als Hochzeitsgabe gemeinsamer Erinnerungen eine kleine Überproduktion.

3 Ariose Prosa und opernähnliche Erzählkunst: die englische Cynthia (1687) und Menantes’ Europäische Höfe (1705) Cynthia, „[d]one by an English Hand“, kam erstmals 1687 in London in den Handel und interessierte die Forschung bislang nicht. Dies ist die Eröffnung: From forth a Desart and unfrequented Wood, in the East Parts of Albion, abutting to the Sea, issued out a Woman, and seated herself upon a Carpet of Sweet Flowers, embroidered there by the Hand of Nature: She resembled Diana, the Beautiful Huntress of the Woods […].21

Eine Wüstenei, ein von Menschen nicht besuchter Wald – das östliche England liegt im Hintergrund, ein Küstenstreifen vor uns. Eine Frau tritt aus diesem Hintergrund heraus und setzt sich nicht auf den Rasen, sondern auf etwas, das („a Carpet of Sweet Flowers“) auf den ersten Blick eher an eine Bühnendekoration denken lässt, dann jedoch („embroidered there by the Hand of Nature“) der Natur kunstvoll zurück­ erstattet wird. Die Dame, die vor unseren Augen Platz nahm, lässt sich Zeit. Sie sieht umher und erregt („it was impossible for the most confident Soul to make a Resistance“) ein ihr unsichtbares Publikum rund um uns. Die Plätze, die ihr Blick einzeln durchwandert, erscheinen ihr leer („she had search’d every vacant Place with her Eye“), und erst da will sie anheben, und nun erfahren wir, in welcher bebenden Tonlage: From her Eyes darted a Lustre, mingled with a Vivacity so penetrating, and therewith so charming, that it was impossible for the most confident Soul to make a Resistance. This prodiguous Creature, after she had search’d every vacant Place with her Eye, fearing to be over-heard, with a troubled and low Voice she began as followeth[.]22

Eine Klage hebt an. Sie macht sich Vorwürfe, die Vorzüge des nun verschollenen Orsa­mus nicht genügend gewürdigt zu haben. Nun muss sie annehmen, dass ein Schiffsunglück ihn ihr entriss („Unfortunate Orsamus, by thy Absence; Miserable Cynthia, by thy Folly“). 21 22

Cynthia with the tragical Account of the unfortunate Loves of Almerin and Desdemona […] done by an English Hand. The fifth edition [1687]. London 1709, S. 1. Ebd.

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Kaum aber ist die Klage beendet, da verklingen ihre Worte („these Words took a Farewell from her Mouth“), und es bricht aus dem Hintergrund ein Mann hervor, reich angezogen. Er hält inne, setzt sich dann aber zu ihr. Ihre Liebe zu Orsamus scheitert erst in diesem Moment: Scarce had these Words took a Farewell from her Mouth when from an adjacant Part of the Wood issued out a Man, richly apparelled, and bent his Steps directly to the Place where she sate. Her Eyes had no sooner found him out but with excess of Grief she uttered these Complaints, ‘O cruel Heavens! Do you take a Pleasure in tormenting submitting Innocence, that you Conduct this Monster, the Enemy of my Content, and Fatal Disturber of my Quiet […]. Now farewel my Poor Orsamus […].’23

Der Unbekannte reagiert auf den Umschwung ihrer Emotionen mit angemessener Zurückhaltung. Er entbietet Komplimente und erweist sich als Abgesandter ihres Vaters: By this time the unknown Person had lessened the distance that parted ’em, courting her with many Complements; and seating himself by her Side he accosted her with this Discourse: ‘Madam, said he, your Father expects you with Ardency, and is in fearful Apprehensions […].’24

Zur Erwiderung kommt es nicht, denn nun tritt aus dem Hintergrund wieder jemand hervor – ein Mann, der beide Sitzende erschauern lässt: Sein Gesicht ist bleich, seine Bewegung majestätisch, so die Anweisungen. Warum springen die Sitzenden nicht auf? Warum erhält der Neuankömmling Zeit, mit einigen Posituren uns eine Charakterdarstellung zu geben? Als er zu seinem Part anhebt, verändert sich die Stimmung seines Gesichtes. Er wirft sich der Dame zu Füßen und spricht sie als die Ursache aller seiner Leiden an. Da erkennt sie nach mehreren Stimmungswechseln, dass es Orsamus sein muss: This Fair Unknown was preparing for a Reply, when they were disturbed with a Noise from the Neighbouring Thicket; and casting their Eyes about to understand the Cause of that Surprizal, when behold there rushed out a Man whose unexpected Appearance was quickly become their Astonishment: His Visage was Pale, and coloured with Grief […] his Gesture Noble, every Action Becoming, and all Majestick. He set his Face with a Rapture of Joy he suddenly cast himself at her Feet, embracing her Knees with a strange Emotion of Spirit: ‘O my Devine Princess, said he, Beautiful Cause of all my Misfortunes, and Cruel Original […].’ All this time a wavering Colour often went and came in her Cheeks […]: ‘Gods!’ Said she, ‘Is this Orsamus himself I see before me?’ ‘Yes’, replied he, it is Orsamus.25

Der Leser sitzt offenbar inmitten eines Publikums, das wie ein Meer vor der Heldin liegt. Der Autor weiß um die Wirkung der Heldin auf dieses Publikum. Zu eigenartigen Verweilmomenten kommt es zwischen den Redebeiträgen – Töne müssen erst verklingen, bevor der Nächste wagen kann, etwas zu sagen. Die Beteiligten nehmen 23 24 25

Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3  f.

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Posituren ein, bevor sie sprechen und verharren in diesen, wenn neue Protagonisten hinzutreten. Wäre hier eine Theateraufführung skizziert, so könnte man auf die Benennung der Tonlagen verzichten. Hier ist eher eine Oper zu Papier gebracht – instrumentale Übergänge brauchen Zeit. Es ist dies ein opernähnliches Erzählen, das sich in zahlreichen Romanen um 1700 findet – prominent etwa zu Beginn Der europäischen Höfe Liebes- und HeldenGeschichte, die Hunold alias Menantes 1705 mit politischer Historie füllt. Insbesondere hat die eröffnende Königsmarck-Affäre das Zeug zum Skandal. Auf der Opernbühne sieht alles anders aus. Drucktypen wechseln. Die Hervorhebungen der Fraktur setze ich hier in kursive Antiqua – erneut eine Klage: So bricht denn der Himmel abermahl mit seinen Strahlen herein, und vergnügt viele tausend Augen und Gemüther, die an den Purpurfarbenen Blicken der aus dem Meer hervorsteigenden Sonnen bey kühlen Morgen-Stunden eine angenehme Weide geniessen; und meine Seele sucht nichts als finstere Schatten, da die Sonne ihrer Zufriedenheit so schmertzlich untergegangen. Wo ich hinsehe, muß ich die Wunderwercke der Natur an diesen neu-begrünten Sträuchen und dem bunden Schmeltz-Werck manichfacher Blumen betrachten, welches überall durch gantz ungemeine Schönheit den stoltzen Triumph gleichsahm bezeichnen wil, den es über die rauhe Winters-Zeit als den Feind seiner Anmuth erhalten. Nur meine Vergnügung wil niemahls wieder neu werden […].26

Der Wechsel der Drucktype bringt die Beobachtersicht: Hier hielte die unglückseelige Arione in ihren Klagen innen; und die äussersten Affecten, die vor Wehmuth und Zorn in ihrem Gemüthe auffstiegen, banden ihre schönen Lippen dergestallt, daß sie vor allzuhefftiger Regung kein Wort weiter vorzubringen vermochte […].27

Die Heldin wechselt zwischen den Emotionen hin und her, stumm, bevor sie zu erneuter Klage anhebt. Dann wieder bricht sie ab. Der Gehörsinn des Lesers ist gefordert. Die Musik des Waldes, der annehmlichste Klang der Nachtigallen, leitet die nächste Szene ein: Nein Nein, Arione, fieng sie von neuen an, beschuldige dem Himmel keiner Ungerechtigkeit […] sein Grimm ist nicht ohne Ursach gegen dir entbrandt; und Hermiontes hat durch dein Verschulden erblassen müssen, weil du ihn nicht als den Himmel geliebet. Hierauff legte sie die Hände unter ihre Wangen, und hörte in diesem einsamen Lust-Walde, wo sie das Gedächtnis ihres entseelten Hermiontes ehrete, dem annehmlichsten Klange der Nachtigallen mit auffmercksamen Ohren zu.28

Der Leser des 18. Jahrhunderts war an dieser Stelle offenbar nicht darüber erstaunt, dass die Heldin eine bis hier hin unerwähnt gebliebene Dienerin neben sich hat, die ihr die Laute reichen kann – Helden dieses Standes haben eine Dienerin bei sich, das 26 27 28

Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Der europæischen Höfe Liebes- und HeldenGeschichte [1705]. Hamburg 1715, S. 1  f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5.

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ändert nichts an ihrer Einsamkeit.29 Hervorgehobener Druck ist nun entbehrlich, die Leser haben sich darauf eingestellt, die Stimme des Erzählers von den Beiträgen der Heldin zu unterscheiden. Es folgt eine erste Arie mit kokettem Echo: […] und wie schmertzlich ist das vorige Frohlocken der Nachtigallen in die Sterbe-Lieder meines Hermiontes verkehret worden! Sie ergriffe hierauf die Laute, welche ihre getreue Selinde allezeit muste bey sich führen, so offt sie bey noch frischer Morgen-Röthe diese Gegend besuchte; und weil sie, was hohen Personen gemein, auch einen hohen Geist bey sich führete, der unter vielen edlen Wissenschafften auch die Poesie vollkommen liebte: so hatte sie ihre Gedancken in dieser Aria entworffen, welche sie mit beweglicher Stimme in die Laute sunge: 1. Entfliehe du getreue Seele,   Dein wehrter Geist verlangt nach dir, Und in der finstren Grabes-Höle   Bricht deine Sonne neu herfür: Denn daß sich Seel und Seel umfasset, Geschicht, wenn Arion erblasset           Echo. Ohn’ erblasset.30

Die Heldin will an die Vereinigung der Liebenden im Tod denken, doch das Echo verhöhnt sie mit gegenläufigen Glückversprechungen über vier Strophen hinweg. Bliebe Arione einen Moment länger, sie würde die Auflösung ihres Unglücks erhalten. Unmotiviert darf sie indes nicht entschwinden. Der heitere Klang der sich ankündigenden Szene lässt sie traurig davonstürzen. Eine kleine Symphonie der Vögel und des Echos überbrückt den Szenenwechsel; die Flöten der Vögel weichen den Hörnern der Jagdgesellschaft: Die sonst leutseelige Printzessin würde ihren erbitterten Gedancken weiter nachgehangen haben, wenn sie nicht ein starcker Schall von Wald und Jäger-Hörnern darinnen gestöret. Dieser muntere Klang durchdrang die Lufft dergestalt, daß man ihn von ferne gar eben hören kunte; und Arionens weit herüm schwebende Sinnen wurden in einem Augenblick mit solchen Nachdruck zusammengebracht, daß sie jähling in die Höhe fuhr […]. Sie begabe sich demnach ohne Säumniß zu der ohn weit haltenden Karossen, und eilte gantz ungedultig über ihren unterbrochenen Zeit-Vertreib mit Fräulein Selinden wieder dem Schlosse zu. Indessen erfüllte die Wald-Music die gantze Gegend; und das Echo antwortete an statt des wehmüthigen Zuruffes auf Arionens Klagen itzo so erfreut, daß es schiene als hätte es an dem angenehmen Wechsel der Lust und Traurigkeit einen gleichmäßigen Antheil […].31

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Zu allem, was man sich an Dienern, Equipage und Verhalten während der Romanlektüre stets hinzudenken muss, siehe Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen. Berlin 1728, und Ders.: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren. Berlin 1733. Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Der europæischen Höfe, S. 5  f. Ebd., S. 8  f.

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Hunold schreibt nach dem Geschmack der Oper, für die er in Hamburg arbeitete.32 Rezitative und Arien wechseln einander ab, Szenenwechsel bringen Stimmungswechsel. Die zweite Szene wird im Verlauf durch den Zorn einer zurückgewiesenen Dame kippen: Graf Silibert von Cremarsig (Regismarc, Königsmarck) wird die ihn verzweifelt liebende Adina kühl behandeln, und sie wird ihren wie seinen Untergang in einer wilden Szene vorwegnehmen. Der Roman verlässt nach diesem Eingang den Operngestus. Das kantable Erzählen bestimmt ihn, wo immer sicherzustellen ist, dass die Historie eine tragende Emotion gewinnt. Für eingefügte Arien schafft das nebenbei Raum. Romane können passagenweise opernähnlich erzählen. Sie können ermüdend erklären, wieso jetzt eine Kantate folgt. Sie können Opernstoffe aufnehmen (und durch Binnennovellen und Hintergrundgeschichten strecken). Das tut Talanders, sprich August Bohses, Doris (1696). Die Vorlage war 1680 in Hamburg als Doris oder der königliche Sclave inszeniert worden. Colombinis Lybische Talestris (1715) erinnerte in ihrer Vorrede an die Leipziger und Weißenfelser Opernaufführungen. Viele Romane werden im Gegenzug zu Opern umgearbeitet, etwa der Amadis,33 die Asiatische Banise,34 der Telemach35 oder der Don Quixote.36 Mehrere Romane bieten Opern vollständig im Text an. Der Leser erhält das „Opern-Buch“ mit all seinen Arien und Rezitativen, Akten und Szenen und Regieanweisungen: Mit Talanders

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Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Die über die Liebe triumphierende Weißheit, oder Salomon, in einem Singe-Spiel auf dem grossen Hamburgischen Schau-Platze vorgestellet. Hamburg 1703, und Ders.: Der gestürtzte und wieder erhöhte Nebucadnezar, König zu Babylon […]. In einem Singespiel auf dem Grossen Hamburgischen Schau-Platze vorgestellet. Hamburg 1704. Amadigi di Gaula. Opera. Da rappresentarsi nel’Regio Teatro di Hay-Market. Amadis of Gaul. An opera. London 1715. Siehe zu den verschiedenen Opernbearbeitungen Bernhard Jahn: Das Libretto als literarische Leitgattung am Ende des 17. Jahrhunderts? Zu Zi(e)glers Roman Die Asiatische Banise und seinen Opernfassungen. In: Eleonore Sent (Hg.): Die Oper am Weißenfelser Hof. Rudolstadt 1996, S. 143–196. Calypso and Telemachus, an Opera. Written by Mr. Hughes. The musick compos’d by Mr. Galliard. London 1712. – Carlo Sigismondo Capece: Telemaco. Dramma per musica […] da rappresentarsi nella sala dell’illustrissimo signor Federico Capranica nel carnevale dell’anno 1718. Roma 1718. – Deutsch: Calypso oder Sieg der Weißheit über die Liebe. Hamburg 1727. – Zudem als Tragödie in Versen: Simon Joseph Pellegrin: Télémaque, tragédie, representée pour la premiere fois […] le jeudy sixième decembre. Paris 1714. Apostolo Zeno, Pietro Pariati: Don Chisciotte in Sierra Morena. Wien 1719. – Nach dem Text von Apostolo Zeno und Pietro Pariati, übersetzt von Johann Samuel Müller: Don Quixotte in dem Mohren-Gebürge auf dem berühmten Hamburgischen Schau-Platze in einer Opera, vorgestellet von dem hochberühmten Kays. Vice-Capellmeister Conti auf gegenwärtige Opera verfertigte Composition. Hamburg 1722. – Zuvor nach dem Text von Apostolo Zeno und Pietro Pariati und zur Musik von Francesco Conti: Don Chisciotte In Sierra Morena: Drama Per Musica da rappresentarsi Nel Famosissimo Theatro Di Braunsuiga Nella fiera d’inverno del’anno 1720. Don Quixotte Jn Dem Mohren-Gebürge: Jn einer Opera vorgestellet auf dem grossen Braunschweigischen Theatro in der Lichtmessen-Messe Anno 1720. Wolffenbüttel 1720.

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Arsinöe (1687) kauft man eine Stratonica-Oper,37 mit Zieglers Banise (1689) eine Mars-Venus-Cantate sowie eine Heraclius-Oper.38 Joachim Meiers Römerin Lesbia (1696) bietet eine eigene komische Oper,39 Pallidors Salomo 1712 ein dreiaktiges bukolisches „Sing-Spiel“ Jakob und Rahel.40 Verglichen mit den Opernabdrucken im Roman erweisen sich die Kantaten, zumal die Arien, als kleine Form. Sie kommen ohne Inszenierungen aus, können einen Sänger oder eine Sängerin und hinzutretende Instrumentalisten beanspruchen, doch auch allein vom Helden zur Laute gesungen werden. Oft handelt es sich um eine mehrstrophige Arie. Zwischen 1710 und 1730 ist jedoch insbesondere die opernähnliche Kleinform der Kantate beliebt, jene Form, die Arien und Rezitative abwechselt und Raum für einen Stimmungsumschwung schafft.

4  Generische Grenzen – das Angebot in seiner vorübergehenden Breite Der Literaturgeschichtsschreibung ist nur bedingt eine Wissenschaft der Literatur in ihrer historischen Konstitution.41 Wäre sie es, so müssten wir fast ausschließlich in ihrer Zeit wissenschaftsrelevante Publikationen für die „Literatur“ des frühen 18. Jahrhunderts erachten. Sie sind die frühe Neuzeit hindurch Literatur per defini­ tionem. Unser Interesse an Romanen, Gedichten und Dramen (und daneben an allem, was in einem „weiten“, „modernen“ Literaturbegriff über dieses neue Kernfeld hinaus verfasst wurde) verdankt sich historisch betrachtet einem ebenso komplexen wie fruchtbaren Traditionsbruch, der sich zwischen 1700 und 1850 in Schritten inein­ ander greifender Win/Win-Situationen vollzieht: Die Wissenschaften trennen sich von ihrem eigenen zunehmend virulenten Rezensionswesen – ohne dabei die Rolle des Rezensenten einzubüßen. Der breite Buchmarkt, die Belles Lettres, die nationale Dichtung sind Mitte des 18. Jahrhunderts erst einmal keine natürlichen Rezensionsgegenstände der Literaturdebatte. Das indes war gleichzeitig ihr Vorteil im Angebot, jetzt Felder der viel breiteren öffentlichen Beachtung durch wissenschaftliche Fragen aufzuwerten und in einer Kooperation mit geeigneten Autoren zu reformieren. Die 37 38 39 40 41

Talander [d.  i. August Bohse]: Die unglückselige Princessin Arsinöe [1687]. Nürnberg 1714, S. 445–509. Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Die asiatische Banise [1689]. Leipzig 1716, S. 636–695. Joachim Meier von Perleberg: Das galante Rom oder Catulli des edlen Römers und Poeten Liebes-Geschichte. Cölln 1714, S. 1164–1252. Pallidor [d.  i. Georg Christian Lehms]: Der weise König Salomo. Hamburg u.  a. 1712, S. 387– 407. Siehe zu den größeren historischen Linien meine beiden Aufsätze: Von der Respublica Literaria zum Literaturstaat? Überlegungen zur Konstitution des Literarischen. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 26 (2015), S. 291–330; und: Verlagerte Problemhorizonte und produktive Problemlösungen. Alternativen zur Epochengeschichte. In: Daniel Fulda u. Jörn Steigerwald (Hg.): Um 1700 als Epochenschwelle zwischen Öffnung und neuer Schließung. Berlin u.  a. 2016, S. 46–69.

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Literaturdebatte griff in Märkte und in ein eher debattenloses Konsumverhalten ein. Die „literarischen“ Gattungen ersetzen auf dem Weg ins 19. Jahrhundert die „poetischen“: Der Roman kommt ins Spektrum, Opern, Kantaten, Oratorien, Ballette fallen heraus. Die internationalen Belles Lettres werden zur Nationalliteratur im neuen Gattungsschema zusammengestrichen. Pierre Daniel Huets Traktat zum Ursprung der Romane überlagert ab den 1770er-Jahren die Debatten, auf die noch Gottsched, Bodmer und Breitinger drangen, mit neuen Fragen nach den tieferen kulturellen Gründen auffälliger, von nun an zu interpretierender Fiktionen.42 Die Literaturgeschichte als Dachwissenschaft bringt am Ende ihre eigenen Fragen nach der Leistung für die jeweilige Nationalliteratur ein und forderte eine laufende Urteilsrevision, in der sich neu austariert, wer welchen öffentlichen Einfluss gewinnt. Dieser Intervention verdanken wir den Roman, das Drama und das Gedicht als historisch – so die Entschärfung und Neuschärfung – brisante Interpretationsgegenstände des Schulunterrichts wie der Literaturpreise, die bevorzugt an diskutable zukunftsweisende Werke gehen – brisant ist dabei nicht mehr der skandalöse Roman des frühen 18. Jahrhunderts, so der einschneidende Teil der Reform. Die Suche Herbert Singers nach dem Roman der galanten Ära des Frührokoko, nach dem Roman zwischen Barock und Aufklärung blieb in der Logik der von der Literaturwissenschaft adoptierten Diskussionen auf das zentrale Werk der Epoche ausgerichtet. Hunolds Liebenswürdige Adalie von 1702 diente sich als formvollendetes Werk dieser zu füllenden Position an. Interpretieren ließ sich die Adalie nicht wirklich – sie ist in der Sicht des 20. Jahrhunderts eher seichte Unterhaltungsbelletristik. In ihrer Konstruktion weist sie indes ein dem Experten vertrautes poetologisches Schema auf, das sich von Heliodor in den Barockroman verfolgen lässt: Die nächste Epoche, so der Befund von hier aus, bricht mit dieser Produktion. Mit dem Romanmarkt in seiner spezifischen Breite, wie sie sich um 1700 entfaltete, hat das so wenig zu tun wie mit dem Umgang, den Romane auf dem Markt um 1700 fanden. Niemand diskutierte hier die Kontinuität des Heliodor’schen Konstruktionsschemas. Titelblätter und Vorreden differenzieren um 1700 das – im Moment mit um die 20 jährlichen Titeln – eher schmale Angebot aus. Poetologisch erstreckt sich das Zentrum nach oben in das hohe Heroische und nach unten in eine satirische Niederung. Zwischen beiden poetischen Polen steht seit dem frühen Druck die Novelle, die Erzählung einer Begebenheit zum Exempel. Das Romanangebot entfaltet sich diesem poetologischen Zentrum gegenüber in ironischen Brechungen des Ausgriffs in die „wahre Historie“, mit Titeln, die beteuerten, man lese hier nur einen Roman, und gegenläufigen, die alles andere als Roman sein wollten. Auf beiden Seiten blieb weiter zu differenzieren zwischen öffentlicher und privater Historie. Die private, die im herben Fall nur von den Betroffenen zu entdecken war, musste

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Pierre Daniel Huet: Traitté de l’origine des romans. Vorrede zu [Marie-Madeleine Pioche de La Vergne Comtesse de La Fayette:] Zayde, histoire espagnole. Paris 1670.

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Abb. 2: Das Romanangebot im frühen 18. Jahrhundert, Spartenschema zum Ausgriff des poetologischen Zentrums in die Historie43

mehr Genüsse des Romans versprechen, wollte sie auch unentschlüsselt noch gelesen werden, und steht deswegen zumeist den poetologischen Erzähloptionen näher (s. Abbildung 2). Kantaten finden sich in diesem Spektrum prononciert oben in der heroischen Produktion. Das hat vor allem damit zu tun, dass der heroische Roman im 17. Jahrhundert weitgehend den Weg ging, den auf dem Gebiet des Dramas die Tragödie in Richtung Oper ging. Kantaten kommen daneben im Schema linksseitig vor, wo der heroische Roman zur Schablone wird. Rechts, wo die Romanabsage zelebriert wird, verbietet sich dagegen jede Poesie weitgehend – und mit ihr die Kantate wie die Oper. Die Zukunft der Kantate im Roman ist, verkürzt, mit der Zukunft des gesamten Schemas gegeben. Es implodiert im Lauf des 18. Jahrhunderts. Die Seitenflügel werden mit ihren reellen wie vorgeblichen Ausgriffen in die wahre Historie skandalös und ‚niedrig‘. Gefragt ist das Werk, das hohe Kunst sein will, ein Werk, mit dem ein Künstler, ohne daraus einen Hehl zu machen, gottgleich eine Realität schafft, die als ein Entwurf der Welt zu diskutieren und zu interpretieren ist. Hier schneidet die Kantate notorisch schlecht ab. Welche Diskussionsangebote unterbreiteten je Kantaten oder Opern in Romanen? Waren sie nicht immer gerade dort inseriert, wo die Diskussion unterbunden und der schöne Moment in seinem schönen Schein verewigt werden sollte? Die literaturhistorische Perspektive insistiert auf der Literatur als Feld der reinen Textualität, so die Bereinigung, die die Literaturdebatte durchführt.

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Erstveröffentlicht in: Simons: Marteaus Europa (wie Anm. 2), S. 194.

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5 „Ich habe mich so sehre darein verliebet“ – der Verweis auf Moden im Bereich der Poetik Einen institutionalisierten sekundären Diskurs über Romane (und Kantaten in Romanen) gibt es im frühen 18. Jahrhundert nicht. Experten für Poesie verweisen darauf, dass der Roman in seiner Prosa erst einmal zur Historie gehört, allenfalls ein mangelhaftes Prosaepos sein könne. Literaturhistoriker, sprich Autoren der Historia Literaria, sind mit der Debatte wissenschaftlicher Bücher befasst, nicht mit fingierter Wahrheit. Sucht man eine Auseinandersetzung um den Roman und die Poesie in ihm, findet man sie nicht im sekundären Diskurs, sondern im primären – in Romanen selbst, in ihren Vorreden und, was Opern und Kantaten anbetrifft, dort, wo diese in Romane integriert werden. 1715 kommt in Kopenhagen bei Hieronymus Christian Paulli Colombinis Lybische Talestris in den Handel. Wem das nicht schon mit dem Titel und dem Titelkupfer klar ist, dem eröffnet die Vorrede, dass dieser Roman der Oper folgt, die man 1709 in Leipzig und davor in Weißenfels aufführte. Menantes ließ in seinem ersten Roman die jungen Helden, die der Weißenfelser Uraufführung beiwohnten, galant darüber tuscheln, wie schlecht es hier den Männern erging, die von einer Dame ob ihrer Liebe in den Tod gestürzt wurden.44 Heinrich Anselm von Ziegler hatte den Text verfasst45 und die Handlung dabei vom Böhmischen Mägde-Krieg des Jahres 736 in das operatische asiatische Genre verlegt, das für Exzesse der Macht und Willkür prädestiniert war, und das in jeder Inszenierung die schöneren Kostüme erlaubte. In düsteren Vorgeschichten liegen Identitäten höchster Protagonisten verborgen. Unter falschen Identitäten fliehen zu müssen, ohne den Schutz der adligen Abstammung Gefahren durchstehen müssen, und als Frau in männlicher Rolle zu überleben, sind Standards im Genre, das besonders auf die Leserin zielt. Talestris, Prinzessin von Barcan, wird von Rhodope und deren Gatten König Pelopidus in Lybien aufgezogen. Nach dem Tod Rhodopes machen der jungen Dame der Ziehvater Pelopidus und sein Sohn Philotas den Hof. Sie aber entschließt sich, mit Geschlechtsgenossinnen eine eigene Burg zu verteidigen und alle Freier eine Klippe hinabzustürzen. So geschieht es auch mit Philotas, den indes die Göttin Diana rettet. In Frauenkleidern kann er wenig später von der Angebeteten verkannt deren

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Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Die verliebte und galante Welt. 2 Teile [1700]. Hamburg 1715, Teil 1, S. 141. In Leipzig tauschte man einige deutsche Arien gegen italienische aus, der Komponist war – in Abwesenheit Telemanns – Johann David Heinichen; vgl. Elisabeth Frenzel: H. A. von Zigler als Opernlibrettist. Die lybische Talestris – Stoff, Textgeschichte, literarische Varianten. In: Euphorion 62 (1968), S. 278–300; vgl. Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720). 2. Bde. Freiburg i.Br. 2009.  Bd.  1, S.  390–451; Bd.  2, S.  976  f. S. auch Bernhard Jahn: Eine Poetik in Romanform: Colombinis Die Lybische Talestris (1715) nach Heinrich Anshelm von Ziglers gleichnamigen Libretto. In: Dieter Martin u. Karin Vorderstemann (Hg.): Die europäische Banise: Rezeption und Übersetzung eines barocken Bestsellers. Berlin u.  a. 2013, S. 35–50.

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Abb. 3: Die Oper im Roman: Colombini, Die lybische Talestris (Copenhagen: H. Chr. Paulli, 1715), Titelblatt und Frontispiz

Vertraute(r) werden. Mit ihr gerät er in Gefangenschaft, als König Pelopidus die Burg einnimmt. Man bereitet die Widerspenstige und ihre Dienerin schließlich für ein Sonnenopfer vor. Das Opfer misslingt, alles entdeckt sich und endet glücklich. Einen Roman kann das nicht füllen und auf dem in die Historie ausgreifenden Romanmarkt sollte man mehr riskieren. Das Spiel mit den Wahrheiten, die der Leser eventuell entschlüsseln muss, ist obligatorisch. Seine „poëtischen Einfälle“ rechtfertigt Colombini im selben Atemzug in einer Mischung aus Unsicherheit und Nonchalance im oben skizzierten Schema: Ich lege demselben einen Roman vor die Augen, welcher in wenig erdichteten Historien bestehet, sondern meistentheils die Wahrheit zum Grunde hat. Ob sie aber aus der alten oder neuen Zeit hergeholet seyn, mag man selbst errathen. Die Gelegenheit dazu hat uns eine ehemals in dem galanten Weissenfelß gespielte Opera gegeben, so eine der berühmtesten Federn voriger Zeiten verfertiget hat. Warum ich aber einen völligen Roman daraus gemacht, ist aus solchen Ursachen geschehen, die zu nennen, ich denjenigen Respect verletzen würde, so einer vornehmen Person schuldig. […] Ich habe darinnen die Historie, so in der Opera selbst mit allen Umständen nicht hat angeführet werden können, etwas, weitläufftiger beschrieben, und selbige nach dem Goût Roman-Lesenden

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hin und wieder mit Briefen und Poëtischen Einfällen versehen. Sollte die Schreib-Art nicht einem jeden Satisfaction thun, so hat sie es doch, wider Vermuthen, der Haupt-Person, und die mich am meisten encouragiret, gethan. Ich werde solches auch nicht praetendiren, weil ich wohl weiß, wie weit sich die Ohnmacht meiner Kräffte erstrecket. Daß ich unter andern auch einige Cantaten angehencket, habe deswegen gethan, weil verspühret: Daß sie heutiges Tages sehr Mode werden, und mir auch einige schon deswegen vorgegangen. Der geneigte Leser urtheile von dem gantzen Wercke zum besten, so wird vor solche Gefälligkeit höchst obligiret leben| Desselben| Ergebenster Colombini46

Der historische Ausgriff geschieht in novellistischen Seitenhandlungen, die unter eigenen Überschriften initiiert werden. Kantaten durchsetzen den Roman neben Poesien in den verschiedensten Liedformaten und neben Briefen und großgedruckten Maximen. Ein „Sing-Spiel“ von Seite 366 bis 406 krönt die abschließende Hochzeit zwischen Philotas und Talestris. All das will (das indizieren die Kopfzeilen) dabei nur der „Erste Teil“ des (nicht weitergeführten) kompletten Romans sein. Die Poesie beschäftigt eingehender im Inneren des Romans. Hier tut sich der alte Scandor hervor, der den Mut hat, als weiser Ratgeber dem Pelopidus auch dann noch die Wahrheit zu sagen, wenn der verliebt auf Abwege gerät. Vor besagtem „Sing-Spiel“ erwägt Scandor, dass dergleichen Poesien viel kritisiert werden, insbesondere von Poeten, die selbst weit Schlimmeres produzieren. In der anschließenden Reflexion geht es um all die Dinge, die sich in Logen insgeheim ereignen, und um die Opern-Sängerinnen, die einer eigenen Form der Prostitution nachgehen. Beides liest sich wie Romanen der letzten Jahre entnommen: In Menantes’ Satyrischem Roman entdeckte Tyrsates das Tagebuch der Conradi, die akribisch notierte, in welchem Umfang sie sich für Geschenke mit sexuellen Dienstleistungen erkenntlich zeigte. Was sich in den Logen so Gefährliches abspielte, las man dagegen 1711 in Johann Leonhard Rosts/Meletaons Schau-Platz der galanten und gelährten Welt. Eine Gruppe von Studenten hatte dort das Pläsir, durch einen Spalt in der Wand in die Nachbarloge spähen zu können, in der eine Dame auf dem Schoß ihres Amanten für eine Unruhe sorgte, der weder der Mann noch der Stuhl gewachsen waren.47 Kantaten durchziehen auch den Schau-Platz der galanten und gelährten Welt. Meletaon rechtfertigt sie als eine Materie, in die er sich gar zu sehr „verliebt“ hat, nachdem er Neumeister, Menantes und die ‚Neukirchsche Sammlung‘ las.48 Erneut erfolgt eine nonchalante Wendung: Lob sucht er, in Sachen Poesie nur ein Liebhaber, mit dieser Materie nicht: [U]nd bitte, mir nicht als einen sonderbahren Eigensinn auszurechnen, daß ich viele Cantaten untergestreuet, als wie bereits in andern Romanen gethan, ich habe mich so sehre darein verliebet, da ich des galanten Herrn Menantes, und des unvergleichlichen Herrn Neumeisters edirte Cantaten gelesen, daß ich gar zu gerne diese delicate Art der Poesie lernen, und gute Einfälle finden möchte. […] Über dieses, habe keine andere Lehr-Meister, als die Schrifften des gedach46 47 48

Colombini: Die lybische Talestris. Copenhagen 1715, Bl. 6r–7v. Meletaon: Schau-Platz der galanten und gelährten Welt (wie Anm. 6), Bd. 1: S. 46–48. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte. 7 Bde. Leipzig u.  a. 1695–1727.

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ten Herrn Menantes, Neumeisters und des berühmten Herrn Benjamin Neukirchs, deßwegen ich mich nach ihrem Muster richten, das Übrige aber auf das Glücke ankommen lassen muß. Auf Schulen sind mir keine Reguln der Poesie fürgeschrieben worden, und auf Universitäten habe niemalen ein Collegium Poëticum gehöret, weilen wegen der Anweisung zu eigensinnig, dahero ist es wol möglich, daß bisweilen über den parnassum, gestolpert, und irre gegangen, wie einem jedweden begegnet, der auf unbekandten Weegen wandeln will. Ich begehre mein Lebtag kein Poet zu werden, indeme die Lorbeer-Cräntze ziemlich gemein und vor wenige Thaler zu erkauffen, sondern wann ich ja einen Vers schreibe[,] geschiehet es zu meiner eigenen Lust, dahero mich auch niemand einen hinckenden Pritsch-Meister, oder einen altvätterischen Hanns Sachsen schelten kann. Will aber ein Nasen-weiser Klügling meine Poesie tadeln, so vergönne ich ihme die Mühe von Hertzen gerne, dann ich weiß, daß sich wol die besten Poeten müssen tadeln lassen, ja ich habe unlängst einen Anonymum angetroffen, der sich die Freyheit genommen, den fürtrefflichen Herrn von Hofmanns Waldau zu censiren und ihme gar viele Fehler vorzulegen, die doch in einer blossen unnöthigen Critic bestanden, worüber der Autor selbst einen Fehler begangen, da er andere verbieten wollen. Es haben zwar unterschiedliche gute Poeten eines und das andere in den Hofmanns Waldauischen Schrifften angemercket, doch erklären sie selbige vor den Kern der guten Poesie, indeme sie wol wissen, daß man ungefehr fehlen, hingegen aber auch eine gute Arbeit machen kann.49

Einen dritten Roman – nun von markantem Bemühen um Professionalität – bringt in diesem Spektrum Georg Christian Lehms, alias Pallidor, in Nürnberg 1710 bei Sigmund Froberg in den Handel: Absalon und Thamar. Die „Staats- Lebens- und Helden-Geschichte“ ist auf der Oberfläche ein heroischer Roman biblischer Geschichte. Man liest hier gleichzeitig einen asiatischen Roman mit inszenierten Umstürzen aller Affekte. Der Darmstädtische Hofbibliothekar inszeniert sie mit der Schulung der Oper. Novellistisch eingestreute aktuelle Geschichten dürfen nicht fehlen. Der Leser muss selbst bedenken, wo er entschlüsseln will, doch wird der Autor ihm demnächst klarere Hinweise geben: Endlich überlasse noch dieses eines jeden Plaisir zuglauben, ob theils in Israelitische Namen eingekleidete Personen nur eine blosse geschichte ausmachen, so sich vor diesen begeben, oder mit den neuern Zeiten eine Gleichheit habe, obligire mich aber in dem vierdten Theile oder dem weisen König Salomon, der als der letzte von der merckwürdigen Historie des Heldenmüthigen Davids auf nächste Messe folgen wird, ein mehres zu erwehnen.50

1712 wird Pallidors Der weise König Salomo bei Wiering in Hamburg erscheinen mit den versprochenen Hinweisen auf Entschlüsselungen. Die Poesie ist für Lehms, alias Pallidor, Berufsalltag. Kritik muss er dessen ungeachtet nonchalant abschütteln. Andere Nationen kritisierten schon den Lauf der Sonne, da müssen große Autoren Gelassenheit zeigen:

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Meletaon: Schau-Platz der galanten und gelährten Welt (wie Anm. 6), Bd. 1: Bl. 5r–6r. Pallidor [d.  i. Georg Christian Lehms]: Absalon und Thamar. Nürnberg 1710, Bl. b4v.

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[I]ndem aber ihre raisons öffters so lächerlich, als der Fluch gewisser Völcker über die Sonne, und wohl ein scharffsinniger Lohenstein, geistreicher Talander, und galanter Menantes ihre Stiche fühlen müssen, kan ichs endlich auch leiden, daß sie mich nicht verschonen.51

Den Poeten von Beruf verärgert, dass ein Rivale ihn bestahl und sich dabei unfähig zeigte, auch nur Arien und Rezitative ordentlich zu scheiden. Lehms kann in diesem Wettbewerb mit der ganzen Rezeption punkten, die Komponisten seinen Poesien erwiesen. Dass Darmstadts Hofkomponist Christoph Graupner Musik zu seinen Texten schreibt, versteht sich.52 Doch fand er auch die Beachtung eines M. H. in Leipzig. Die Auslassung des Namens kommt hier einer devoten Verneigung gleich. Melchior Hoffmann53 wird er offen benennen, wenn er sich sicher sein kann, dass dieser es als Ehre empfindet, so das Signal im Raum, in dem Anonymität zur gewahrten Conduite gehört. Zu den Kantaten kommen die übrigen Einstreuungen vor allem von Moralia: Im übrigen hoffe, die vielfach eingemischten Moralia werden nicht allen mißfallen, welches ich mir auch von den beygefügten Cantaten, so in den ersten Theilen bey manchen Aprobation gefunden, versprechen will. Die ersten hat der berühmte Hessen-Darmstädtische Capellmeister, Monsieur Graupner seiner galanten Composition gewürdiget, und dem jetzigen wird ein längst bekannter Virtuose in Leipzig Namens M. H. so meine schlechte Poesie bereits in vielen Begebenheiten mit seinen musicalischen Gedancken beehret, und dessen florissantes Collegium Musicum sich die gröste Hochachtung allhier zugezogen, erst die rechte Seele geben, von dem einstens in einer Untersuchung der berühmtesten Componisten Teutschlands mehr gedencken werde.54

Die Erwägungen aller drei Autoren werfen Licht auf die spezifische Konsistenz dieses kaum poetologischen, geschweige denn literaturhistorischen Diskurses. Die Kritik muss hinter den Fans anstehen, und eine einzige befriedigte Liebhaberin seiner Arbeit kann einem Autor alles Glück schenken, das er sucht. Nicht um den Beitrag zur Literaturgeschichte geht es, sondern um die Moden jetzt, um eine Position gegenüber denen, die die Mode bestimmen, und um den ‚Geschmack‘, den die Liebhaber teilen. Colombini wollte „nach dem Goût Roman-Lesende[r] hin und wieder mit

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Ebd. Bl. a8r/v. S. zu Lehms und Graupner: René Schmidt: The Christmas Cantatas of Christoph Graupner (1683–1760). Diss. Denton, Texas 1992, sowie Michael Maul: ‚Daß die Poësie die beste und schlimste Wissenschaft sey‘ – Neues zum frühen Schaffen von Georg Christian Lehms. In: Ursula Kramer (Hg.): Musikalische Handlungsräume im Wandel. Christoph Graupner in Darmstadt zwischen Oper und Sinfonie. Mainz 2011, S. 181–208 und Ders.: Vom Ansbacher Hof ins Leipziger Opernhaus. Telemannns ‚Narzissus‘ (1709): Eine Fallstudie zur ‚bürgerlichen‘ Bearbeitungs­ praxis höfischer Libretti. In: Carsten Lange, Brit Reipsch (Hg.): Komponisten im Spannungsfeld von höfischer und städtischer Musikkultur. Hildesheim u.  a. 2014, S. 83–100, hier: S. 87. Georg Melchior Hoffmann, geboren um 1679 in Bärenstein im Osterzgebirge, nach anderen Angaben 1685 in Scheibenberg, gestorben am 6. Oktober 1715 in Leipzig, war Organist und Musikdirektor an der Neukirche in Leipzig und leitete von 1704 bis 1714 als Nachfolger von Georg Philipp Telemann das dortige Collegium Musicum sowie die Oper am Brühl. Pallidor: Absalon und Thamar (wie Anm. 50), Bl. b4r/v.

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Briefen und Poëtischen Einfällen“ dienen. Das betraf gerade die Kantate: „Daß ich unter andern auch einige Cantaten angehencket, habe deswegen gethan, weil verspühret: Daß sie heutiges Tages sehr Mode werden, und mir auch einige schon deswegen vorgegangen.“ Nonchalant setzte er jeder Kritik gegenüber nach: „Sollte die Schreib-Art nicht einem jeden Satisfaction thun, so hat sie es doch, wider Vermuthen, der Haupt-Person, und die mich am meisten encouragiret, gethan“. Das las sich bei Meletaon ähnlich, im Ton allenfalls etwas süffissanter: „Ich begehre mein Lebtag kein Poet zu werden, indeme die Lorbeer-Cräntze ziemlich gemein und vor wenige Thaler zu erkauffen“. Derb war dem nachzusetzen: „dahero mich auch niemand einen hinckenden Pritsch-Meister, oder einen altvätterischen Hanns Sachsen schelten kann“. Hunold hatte 1704 seinen Der thörichte Pritschmeister oder schwermende Poete, in einer lustigen Comödie in den Druck gegeben55 – und auch mit diesem satirischen Schlag den primären Interaktionsraum gegenüber jedem sekundären behauptet – jedem Diskurs, der sich in eigenen Medien des Sekundären respektive einer ganz eigenen Diskursform der Kritik vom primären Feld entfernt. Lehms agierte deutlich mit dem Selbstanspruch des Hofpoeten, doch war auch er um Nonchalance bemüht – um eine fundamentale Abweisung aller Kritik. Der Verweis auf die Trendsetter gehörte hierher wie der Verweis auf die Sonne, die über alle Kritik erhaben bleibt. Lohenstein, Talander und Menantes schrieben nicht Poesie- oder Literaturgeschichte. Sie standen mit ihren Attributen „scharffsinnig“, „geistreich“ und „galant“ erneut viel mehr für Identität im Feld der Moden und Geschmäcker, die sie einzeln ansprachen.

6 Arie und Kantate als Freiräume mitten im bedrohten Freiraum des Romans Was bis hierhin zu sagen war, erklärt nur bedingt, warum Arien, Kantaten und Opern (als prestigeträchtigere Langform) gerade den deutschsprachigen Roman um 1700 eroberten. Einige spezifische Bedingungen lassen sich vorab aus grundlegenden komparatistischen Bemerkungen ziehen: Romane französischer Sprache richteten sich, soweit sie in Frankreich publiziert wurden, um 1700 primär auf das heimische Publikum aus – eine Ware des engen Austauschs, der sich mit dem Spiel der Entschlüsselungen unter Schablonen des Romans gut vereinbaren ließ. Die weitaus europäischere fran-

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Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Der thörichte Pritschmeister oder schwermende Poete, in einer lustigen Comödie Wobey zugleich eine Critique über eines Anonymi Überschriften, SchäfferGedichte und unverschämte Durchhechelung der Hofmanns-Waldauischen Schrifften. Auf sonderbare Veranlassung, allen Liebhabern der reinen Poesie zu Gefallen ans Licht gestellet. Coblenz 1704.

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zösischsprachige Produktion wurde dagegen seit den 1660er-Jahren von den Exilverlegern der Niederlande für das europäische Publikum in den Handel gebracht, und hier verboten sich Schlüsselromane wie kompliziertere Romanoberflächen mit ihrer Offenheit für den schönen Schein der Poesie. Leser der Fremde würden nicht Pariser Zirkel unter Tupfern der charakteristischen Andeutungen wiederentdecken. Die Realität im Roman in der Ferne nochmal zu erschaffen, wird ein neuartiges Erzählziel, das für Poesie in Romanen aus den Niederlanden nur noch wenig Platz lässt. Londons Markt orientierte sich am internationalen französischen, blieb jedoch auf London ausgerichtet – noch war Englisch außerhalb Großbritanniens kaum lesbar. Der schöne Schein antiquierter Romane verlor hier gegenüber dem harten Parteienstreit, in dem die Autoren weit direkter auf Tuchfühlung zu Angegriffenen gingen. In der Atalantis Delarivier Manleys gibt es 1709 Intrigen in großen Novellen und hunderten kleiner Verleumdungen, jedoch keine Kantaten. Die deutschsprachige Belletristik entfaltete sich seit Beginn des Buchdrucks dezentral und lokal. Leipzig, Halle und Jena bildeten dank der studentischen Kunden eigenständige Märkte. Hamburger und Nürnberger Verleger kamen hinzu mit einem eigenen urbanen Publikum und mit Kontakten in die heimkehrende protestantische Studentenszene. Ging es um die Oper, so setzten die Höfe Maßstäbe. Die weltliche Kantate entwickelte sich dagegen als die kleinere Form bis in das Private hinein. Die Kantaten weisen dabei, und das zeigte sich mit den eingangs angesprochenen Romanen, eine markante Brauchbarkeit auf: Ein gekonntes Kompliment, ein erlesener Brief machten Eindruck; eine Kantate dagegen inszenierte und fixierte die Gegenwart in einer viel größeren Demonstration der Macht über den Moment. Der Roman wird hier zum Fundus schöner Muster wie der Briefsteller und die Anleitung zur Poesie. In allen drei Gattungen profilieren sich nach 1700 die berühmtesten Romanautoren, wenn sie nicht noch obendrein private Kurse in Poesie und Beredsamkeit geben. Kantaten und Opern waren im selben Moment umstritten – genauso wie der Roman. Das sprach im breiten Austausch zwar gegen sie. Es stärkte jedoch die Möglichkeiten der Konfrontation und der Subversion dort, wo es galt, immer neue Moden zu kreieren und gegen die breite Öffentlichkeit zu behaupten. Was den Roman anbetrifft: Er war seit dem Amadís im Herzen diskreditiert und hatte dabei seinen eigenen Ahnen, das heroische Artusepos, mit unmöglich gemacht. Offenkundig war nach dem Don Quixote (1605/15) keine hohe Produktion mehr denkbar, die nicht jenem Pathos verfiel, das den irrenden Ritter den Verstand verlieren ließ. Fehlte der Gattung die heroische Option, dann fehlte ihr jede Chance, noch weiter Muster hervorzubringen. Das Trümmerfeld ließ zwar die satirischen Antipoden, die Novelle und die skandalösen Flügel der Romannegation obigen Schemas blühen. Das jedoch war aus gelehrter Perspektive kaum erträglich. Dem heroischen Epos hätte die Kopfposition im Schema gegenüber aller „niederen“ Prosa gebührt, so die Kritik, die nach 1699 mehrfach gegen Fénelons Telemach in Anschlag gebracht wird – dem Roman, der gerade feierte, dass das neue heroische Epos im Roman und

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seiner Prosa endete.56 (Nicht ohne Grund beginnen sofort die – scheiternden – Arbeiten an Versfassungen des Telemach.)57 Dass die Poesie sich überlebt hatte, blieb im selben Zusammenhang eklatant. Die Deutschen Acta Eruditorum feiern 1715 die Prosaübersetzung der Ilias Homers mit Eingeständnissen des Überdrusses an aller Poesie: Unter die Dinge, die nicht lang seyn müssen, wenn sie gefallen sollen, gehört heutiges Tages auch die Poetische Arbeit. Die meisten Leser werden gleich müde, wenn sie eine Stunde lang Verse gelesen, und viele haben nicht einmahl eine so lange Geduld. Wenn ein Bogen enge gedruckt ist, wird er offt bloß darum weggelegt, weil man die Zahl der Zeilen nicht übersehen kan. Das macht, die meisten Poeten haben nicht die Meinung vor sich, daß sie etwas gutes schreiben. Der Pegasus ist zum Reit-Pferde geworden, das man alle Tage auf den Gassen siehet, und also begehrt es niemand, der ein besseres kriegen kan. Der Unschuldige muß offt des Schuldigen mit entgelten, und weil mancher Leser bey Leichen und Hochzeiten durch etliche zwantzig in Reimen gezwungene Bogen gemartert worden, denckt er hernach überall, wo er Verse sieht, ein Stück von Meister Lollingern zu erblicken. Geräth man auch gleich über etwas gutes, so wird einem doch auch dabey die Zeit bald lang; weil unsere Natur in der gebundenen Schreib-Art nicht Veränderung genug findet: oder weil man überhaupt die Dinge, die mehr vor die Phantasie als vor den Verstand gehören, ehe überdrüssig zu werden pflegt. Ein Poete, der sich zeigen will, thut am besten, wenn er, wie Sempronius in den Collegiis Practis der Herren Juristen eingeführt wird, seine Sachen kürtzlich anbringt.58

Das Desiderat schöner Poesie blieb. Die Ära, die die Poesie am Ende sah, sehnte sich nach wenig so sehr wie nach einer gelingenden Poesie, und so drucken die deutschen Acta (anders als das irgendein Nachfolger auf dem wissenschaftlichen Rezensionssektor noch tun kann) selben Jahres, 1715, Brockes’ Bethlehemitischen Kindermord ab.59 Nicht für eine Rezension, sondern um des poetischen Genusses willen, der auch dem wissenschaftlichen Leser gestattet bleiben muss. Die Poesie floriert im Legitimationsdefizit und dabei kommen gerade die Kantate, das Oratorium und die Oper zum Zuge. Vielleicht lässt sich dieses Paradox durch die Wendung erhellen, die in den 1670er-Jahren in London die Weichen für die Oper als den Ersatz des heroischen Dramas stellte: Am 7. Dezember 1671 wurde in Londons Dorset Garden – zuerst anonym, doch geriet bald George Villiers, der zweite Herzog von Buckingham, als

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[Rez.:] François Fénelon: Telemaque. Amsterdam 1717. In: Deutsche Acta Eruditorum 52 (1718), S. 297–304. Die erste englische Versversion scheiterte unvollendet: [Anonymus]: The Adventures of Telemachus. In English verse. London 1712. Besser gedieh die Übersetzung in Blankvers durch John Ozell: The Adventures of Telemachus, the Son of Ulysses. In ten books […] With the Adventures of Aristonus. Written by the Archbishop of Cambray. Done from the New French Edition. London 1715. Die deutsche Versübersetzung folgte lange nach der Prosaübersetzung durch August Bohse des Jahres 1700: Benjamin Neukirch: Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca […] aus dem Französischen des Herrn von Fénelon in deutsche Verse gebracht. 3 Teile. Ansbach 1727–1739. [Rez.:] Homer: L’Iliade. Paris 1714. In: Deutsche Acta Eruditorum 29 (1715), S. 371. [Rez.:] Barthold Heinrich Brockes: Verdeutschter bethlehemitischer Kindermord. Cölln 1715. In: Deutsche Acta Eruditorum 43 (1716), S. 491–500.

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der zentrale Autor ins Visier60 – ein heute fast postmodern anmutendes Stück aufgeführt: Das Rehearsal bringt die Inszenierung einer Tragödie auf die Bühne. Ein Double John Drydens inszeniert im Stück eine typische Dryden-Tragödie: Wir sehen Britanniens erstem poet laureate zu, wie er sein Stück bis zum pathetischen Unsinn verwirrt. Für Dryden und seine Mitstreiter wurde die Persiflage zum Wendepunkt. Auf die Schnelle gewann hier die Prosakomödie; wenig später sollte jedoch die Oper die vakante Position der Tragödie einnehmen. Was an der Tragödie unakzeptabel sein sollte, war in der Oper Pflicht. Die Gattung der inszenierten Affekte brauchte unglaubliche Wendungen, eine übersteigert gekünstelte Sprache, nahezu groteske Gebärden. Kastraten schlüpften in die Rollen großer historischer Helden. Opernsängerinnen wurden Stars vorbei an allen moralischen Einwänden. Die Probleme der Verstragödie waren die Probleme des arthurischen Versepos. Eine der Oper vergleichbare Alternative zum Roman gab es dagegen nicht. Das uneigentliche Schreiben mutierte zu dieser Alternative: Es ist gleichgültig, welche Unwahrscheinlichkeiten Hunold in seinen Europäischen Höfen riskiert; irrelevant, welche Sprache er verwirrten einsamen Heldinnen zur Laute in den Mund legt. Es geht in den Europäischen Höfen nicht wirklich um das, was da auf Romanseiten wie auf einer Opernbühne inszeniert wird, sondern um ein Spannungsverhältnis zwischen dieser Inszenierung und einer Hintergrundgeschichte, über die Leser als Teilhaber des öffentlichen Klatsches verfügen können. Hunold agiert in diesem Spannungsverhältnis galant, und das heißt in seinem Fall gerade nicht durchgängig skandalös, sondern immer wieder bereit, in einer musterhaften Dienstbarkeit die Guten zu entlasten und die Bösen zu belasten und dabei auf sein eigenes Fortkommen im Einvernehmen mit den Lesern zu achten. Hannovers Regenten konnte er in keinem Schlüsselroman vernichten. Aber eine Gegengeschichte mit operatischen Übersteigerungen konnte er im Einvernehmen mit den Lesern inszenieren. Sie mag nicht wahr sein, aber Menantes den Hals retten und den Lesern noch immer eine ausgesucht schöne Lektüre bieten – und sie wird unmittelbar als solche gefeiert.61 Im Satyrischen Roman, der im nebenliegenden privaten Feld den Autor die größeren Wagnisse eingehen lässt, erhält die Sprache, die sich längst verbietet, ihren Raum nur noch in Distanzierungen. Selander und Tyrsates müssen zwischen Jena und Leipzig in einem Gasthof einkehren. Der Wirt kann ihnen nicht sofort ein Zimmer zuweisen und führt sie ersatzweise zu den allgemeinen Aufenthaltsräumen. Im ersten sitzen kartendreschend und rauchend nicht etwa Soldaten, sondern Studenten aus Jena. Die beiden Helden halten es dort nur kurz aus. Den zweiten Raum haben Leipziger Studenten in Beschlag genommen, Gecken der Galanterie, die sich kaum aus

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Als Mitautoren werden Samuel Butler, Martin Clifford und Thomas Sprat gehandelt; vgl. Felix Lindner: Einleitung. In: The Rehearsal. Heidelberg 1904 (Englische Textbibliothek, Bd. 9), S. i–iv. Siehe die Helden in Meletaon: Schau-Platz der galanten und gelährten Welt (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 236  f.

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dem Austausch von Komplimenten herauswinden können. „Frantzösische Liedgen“, „Arien aus Opern“ trällern sie, während sie sich um ihren Teint bemühen: Inzwischen sich nun welche in der Schule der überflüssigen Höfligkeit mit unsern beyden Cavalieren exercirten, giengen welche in der Stuben auf und nieder, und sangen theils ein Frantzösisches Liedgen, theils eine verliebte Arie aus der Opera; Ein anderer stund vor dem Spiegel, und raufte sich mit einem kleinen Balbier-Instrument die Haare aus dem Barte, worüber sich unsere beyden Cavaliers zum höchsten verwunderten, weil diese junge Herr schon vorhin mehr einen Milch- als Männlichen Bart hatte. Ob sich nun seine Inclination beschweret, es möchten aus den Milch- mit der Zeit rechte Haare und ihre zarte Haut dadurch im Gesicht incommodirt werden, konten sie mehr muhtmassen als wissen. Was sie aber das Lachen zu verbeissen noch stärcker nöhtigte, war, daß noch ein anderer, gleichsam unvermerckt, einen Brief aus der Taschen zog, und wenn er solchen geküßt, die Augen geschwind und furchtsam auf sie wendete, ob sie auch solches wahrgenommen.62

Beim weiteren Gang durch das Gasthaus passieren die beiden Freunde eine Tür, hinter der sich ein ganzer Liebesdiskurs entspinnt. Nicht zwei Protagonisten sind hier ineinander verwickelt; ein Einzelner simuliert den ganzen Austausch, und lässt sein Talander-Exzerpt fallen, als er, vom Lachen vor seiner Tür aufgeschreckt, aus dem Zimmer stürzt: Tyrsates und Selander fiengen hier erschrecklich an zu lachen; und der andächtige Amant wurde so beschämt und verwirrt, Leute so nahe bey sich zu wissen, daß er über Hals und Kopf fort lief, und sein gantz Concept von Complimenten liegen ließ, welches sie hernach bey Eröffnung der Thür fanden, und ein Excerpten-Buch von allen Complimenten aus des Herrn Talanders Romanen in die Hände kriegten.63

August Bohse, Talander, steht heute zwar als der Begründer des galanten Romans im Raum, Hunold, Menantes, als sein Schüler. Die Beziehung ist jedoch offenkundig vielschichtiger. Die Sprache Talanders erntet hier heimlich den Spott – jenseits des Gecken, der offenbar nicht in der Lage ist, seine eigenen Komplimente in jeder Situation zu erfinden. Tyrsates muss einige Szenen später sich der Verführung professionell vorgetragener Arien erwehren. Die verführerischste Opern-Sängerin Hamburgs bietet sich ihm im Gesang an: Unter währendem Thee-Trincken sang sie die verliebtesten Arien, und suchte dadurch, den bey so viel hundert andern Menschen verspührten natürlichen Trieb zu reitzen; Allein bey der Stimme dieser bezauberten Sirene, welche den gefährlichen Schwantz immer im Wasser versteckt haben, verstopfte hier ein anderer Ulysses seine Ohren, der zwar mit dem Munde lachte, im Hertzen aber alle ihre Anfälle verspottete; Und dieses war nicht so wohl der Grösse seiner Tugend, als einem natürlichen Widerwillen zu zuschreiben, mit einer solchen eine Vereinigung der Lebens-Geister einzugehen, die fast alle Tage eine andere Mixtur liebte. Er saß neben ihr auf dem Stuhl, da sie, um das Letzte zu ihrer Befriedigung anzuwenden, ihren Kopf auf seine Achseln legte, und diese Arie sang:

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Menantes [d.  i. Christian Friedrich Hunold]: Satyrischer Roman. Hamburg 1706, S. 49. Ebd., S. 56.

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  Kan mich nicht das Glück vergnügen,   In des Liebsten Arm zu liegen,    Ach so letzt mich auch kein Kuß.   Seufzer speisen, Thränen trincken,   Ist ein Schiff, das im Versincken,    Sich nur immer qvälen muß. Bey Wiederholung der ersten Zeilen aber kehrte sie die Augen und den Verstand der Worte auf ihn, und repetirte also:   Kan mich nicht das Glück vergnügen,   In Tyrsates Arm zu liegen,    Ach so letzt mich auch kein Kuß. Tyrsates machte ihr lächelnd ein Douceur: Wie er nicht glauben könne, daß so viele Glückseeligkeit auf ihn gehe, und gab ihr zum Recompens der genommenen Mühe einen Kuß; Aber eben, weil es nicht mehr als ein Kuß, und er ihrer Intention nicht näher kommen wolte, antwortete sie aus heimlicher Erbitterung: Sie sollen sich auch nichts draus machen, und ich habe es nur aus Schertz gesungen.64

Der Raum des Uneigentlichen ist hier die gesichtswahrende Rettung – eine Da-capoArie kann eine ernsthafte Aussage sein, sie kann aber auch nur eine Da-capo-Arie sein, so die Dame, da sie abblitzt. Hunolds zweites alter ego im Roman wagt sich selbst auf das poetische Terrain abseits der Kantate mit düsteren Versen der Vergänglichkeit65 – so massiv fällt 1706 die schöne Sprache durch, gerade da sie die Macht hat, jeden Schwächeren zu verführen und an dieser Stelle nicht verführen soll. Hier geht es um eine tiefere Liebe der Gleichgesinnten. 1713 knüpft Selamintes’ Närrischer und doch beliebter Cupido an den Satyrischen Roman Hunolds an. Hamburgs Opernhaus liefert eine Szene, die im Ansatz aus Hunolds Roman gestohlen ist,66 was indes weniger als Plagiat missverstanden werden sollte, denn als galante Geste der Verteidigung. Hinter Selamintes steht möglicherweise67 Christoph Gottlieb Wend, dessen Libretti Georg Philipp Telemann, Johann Mattheson und Reinhard Keiser vertonten. Mit dem Satyrischen Roman teilt der Närrische und doch beliebte Cupido gleich zu Beginn die Neubewertung der Sprache Talanders: Selamintes kritisiert für sie den heute nur noch bibliographisch

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Ebd., S. 90  f. Vgl. die poetischen Passagen ebd., S. 96–111 und 146–153. Ich verglich die Passagen ausgiebig in: Marteaus Europa (wie Anm. 2), S. 333–338. Wolfgang Hirschmann: „Ein Zwydorn von einem Sachsen und Schlesier“ – Materialien zu Christoph Gottlieb Wend. In: Peter Wollny (Hg.): Die Oberlausitz – eine Grenzregion der mitteldeutschen Barockmusik. Beeskow 2007, S. 73–86; Ders.: Art. Wend(t), Christoph Gottlieb, Pseudonym Selimantes. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Personenteil. 2., neubearb. Ausg. hg. von Ludwig Finscher. Bd. 17: Vin–Z. Kassel u.  a. 2007, Sp. 762  f.;. Christian Seebald: Libretti vom ‚Mittelalter‘. Entdeckungen von Historie in der (nord)deutschen und europäischen Oper um 1700. Tübingen 2009; Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Tübingen 2005, S. 37, S. 276 (insb. Fußnote 7) und S. 418.

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nachweisbaren Roman eines Rivalen, Behemenus,68 der alles unternahm, um galant zu sein. Behemenus französelt, „daß es Mühe kostet, zu entscheiden, ob er ein Teutscher oder Frantzose, oder ein Zwitter sey“. Metaphern lassen sich herbeizitieren und mit einer einzigen rhetorischen Frage als Rückfall in einen obsoleten Roman Talanders vernichten: Insonderheit stellet er seine Heroinen recht galant vor; der enge Circkel (spricht er von der Helene,) hält so viel bezaubernde und liebreitzende Annehmlichkeiten in sich, daß es zu admiriren; die mit Lilien und Rosen bestreuete Wangen können wohl ein Felsen-hertz charmiren; die Purpur-rothe Lippen, und funckelnde Augen mögen diamantene Sinnen erweichen (soll gewiß heissen emolliren) und die güldene Haare NB. sind capabel den allerstärckesten zu fesseln. Denn kommen die alabasternen Brüste, und zarte Schnee-weisse Hände und so weiter; Heisset das nicht Redens-Arten und Beschreibungen aus dem Herrn Talander und andern gestohlen? Ist dieses nicht eine heilige Oratorie? Wenn der Herr Autor solche schöne Sachen auf die Kantzel brächte, wie würden die tummen Bauren erstaunen!69

Die Alternative ist gleichwohl nicht der Roman neuartiger Nüchternheit, sondern die Übersteigerung der Poesie in der Kantate und ein ausgiebiges Hantieren mit einem uneigentlichen schönen Sprechen. Der Närrische und doch beliebte Cupido liest sich wie eine Umsetzung des anonymen Raisonnements über die Romanen, das 1708 auf das gleich gestaltete Raisonnement über die Historie und deren Gebrauch hin auf den Markt kam.70 Das Raisonnement über die Romanen empfahl den Autoren galanter Romane eine Mischung zwischen dem heroischen und dem satirischen Roman. Wenn hohe Recken nicht mehr zur Wahl standen, dann standen doch immer noch galante junge Vorbilder im Raum, die lächerliche Gegenspieler ausstechen konnten. Die Helden des Närrischen und doch beliebten Cupido müssen bei Damen ihrer Wahl bestehen. Ihre Konkurrenten werden auf lächerliche Repräsentanten der Laster reduziert und unterliegen (Kantaten werden hier als Liebesgeständnisse überreicht). Großartige Sprache wagen die Helden nur im Konsens über den wahren Geschmack. Daferno ist in seine Klavierschülerin verliebt. Als die Freunde ihn bitten, die Dame zu beschreiben, bleibt ihm nur die Kunst Talanders, von der er sich im selben Moment distanziert:

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Der angegriffene Roman Der liebliche und doch kriegerische Cupido oder ein galanter Roman von unterschiedlichen Liebesavantüren in Niedersachsen (Hamburg: Liebezeit 1711) ist nicht mehr überliefert, wohl aber unter demselben Pseudonym Behmenus: Poetisches Cabinet, In sich halten allerhand geist- und weltliche Gedichte […] nebst einer abgenöthigten Defension wider den albernen Selamintes. Franckfurt 1715. Dieser Roman wiederum wurde rezensiert in: Neue Bibliothec oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern und allerhand zur Gelehrsamkeit gehörenden Sachen 46 (1715), S. 494–499. Selamintes [d.  i. Christoph Gottlieb Wend]: Der närrische und doch beliebte Cupido. Leipzig u.  a. 1713, Vorrede, Bl. )(4r/v. Der Ausgangspunkt war hier das Raisonnement über die Historie und deren Gebrauch. Nebst der Historie des Augusti aus dem Italiänischen (1707), die Erweiterung das Raisonnement über die Romanen (1708), vgl. auch Simons: Marteaus Europa (wie Anm. 2), S. 427–431.

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[So] muß ich denn wohl den Herren zu gefallen, einen phantasirenden Elb-Schwaan abgeben, schertzte Daferno, und ihre blonde Haare in güldene Stricke, ihre muntere und lebhaffte Augen in himmlische Sterne, und ihre Blicke in feurige Liebes-Pfeile, die gleichsam auß des Cupidos Köcher geborget sind, verwandeln. Imgleichen auß ihrem unvergleichlichen Munde ein bepurpurtes Rosen-Thal, aus den wohlgebildeten Augenbrauen liebliche Regenbogen, auß ihren Wangen ein schimmerndes Milch-und-Purpur-Meer, und auß ihrer wohlproportionirten Brust ein wallendes Schnee-und Feuer-Gebürge machen?71

In einer späteren Szene begegnet er seiner Amalia in Anwesenheit des Rivalen. Seine Gefühle muss er – nur ein Clavierlehrer im adeligen Haushalt – verbergen, doch sollte er gerade jetzt Flagge zeigen. Da man ihn bittet, seine Kunst zu demonstrieren, erlaubt ihm eine Strophenarie all das zu singen, was zu sagen sich verbietet: Er phantasirte eine Weile, und erwieß durch seine angenehme Einfälle, daß er für keinen Schüler auf diesem Instrumente zu halten. Nachgehends vereinbahrte er seine bezaubernde Stimme mit den wohlklingenden Seyten, und setzte insonderheit durch folgende Arie, so er mit einer sehr anmuthigen Art herauß brachte, die auffmercksame Amalia in eine entzückte Verwunderung:   Des Alterthumes grauer Schimmel    Schickt Glut und Andacht Himmel an:    Hab ich denn unrecht nun gethan,   Daß ich dem schönsten Angesichte,   Als einem Anmuths-reichen Himmel, Den schuld’gen Opffer-Dienst in stiller Brunst verrichte?   Die Rosen, so Aurora mahlet,    Zeigt deiner Wangen Purpur-Beet,    Der Sonnen-Glantz, so hier auffgeht,   Bezeichnen die entflammten Augen,   Damit dein heitrer Himmel strahlet, Ach könte ich darauß auch Lebens-Blicke saugen!   Getrost! Der Himmel trägt Erbarmen,    Wenn das Gebeth die Wolcken bricht    Vielleicht, daß auch mein Himmels-Licht,   Das meine Brust entzückt verehret,   Mitleiden träget mit mir Armen! Denn wo die Gottheit wohnt, bleibt niemand unerhöret! Die reine und überauß rare Stimme, die anzügliche Manieren, und die beweglich Geberden, so Daferno hören und sehen ließ, rühreten dieses artige Fräulein in dem Innersten des Hertzens, und sie verlohr vollends alles, was sie noch von ihrer Freyheit übrig hatte.72

Es ist dies eine für den Roman des frühen 18. Jahrhunderts charakteristische Situation. In der schwierigen Lage, die sich auftut, da selbst Talanders Sprache nicht mehr das Muster geben darf, bleiben die Freiräume noch immer dort, wo gar keine andere Kunst möglich ist – in der Arie, in der die Musik den Affekt einfordert, mitten im Roman. 71 72

Selamintes: Der närrische und doch beliebte Cupido (wie Anm. 69), S. 113  f. Ebd., S. 150–152.

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7  Nachsatz: Das Ende der Kantate im Roman Ich zitierte extensiv aus Romanen des frühen 18. Jahrhunderts poetische Texte und Passagen, in denen diese thematisiert wurden. Hier wurde, das sollte deutlich werden, weder eine Poetik entfaltet noch Literaturgeschichte geschrieben. Hier wurden eher Freiräume ausgekostet und Kritik in einem Einverständnis aller, die Geschmack in diesen Dingen hatten, abgewehrt. Das Poetische und der Roman waren nicht über jede Kritik erhaben. Ganz im Gegenteil: Autoren suchten hier Gattungen vollendeter Legitimationsdefizite auf, denn hier allein ließ sich – nur mehr im Einverständnis mit den eigenen Lesern – wie es beliebte weiter agieren. Im Freiraum herrschte dabei alles andere als Konsens und Frieden, sondern Konkurrenz. Das lag nicht am Überangebot, in dem Neulinge sich kaum noch Gehör verschaffen konnten. Die Verleger suchen im frühen 18. Jahrhundert nach Nachschub. Mit Mühe gewinnen sie ein Dutzend neue Titel pro Jahr, die die Leserinnen und Leser samt und sonders verschlingen. Das Problem ist vielmehr der Raum der Moden, der hier kollektiv bespielt wird. In ihm wird, anachronistisch formuliert, der Hormonüberschuss sexueller Potenz spürbar – ein Spiel, in dem einige zu Vorbildern avancieren und andere sich vorsichtig und mehr oder weniger geschickt im jeweiligen Windschatten platzieren auf der Suche nach dem Leser, der Leserin, nach Fans, nach „Liebhabern“ solcher Materien. Mitte des 18. Jahrhunderts dringt die Literaturdebatte in die Felder des Romans, der Kantate und der Oper ein, durchaus nicht mit einer Abwertung, sondern mit der revolutionären Aufwertung eines kaum bestehenden Feldes diskutabler nationaler historischer Leistung. Das Ergebnis ist radikal: Romane, die einen Beitrag zur Geschichte des Romans schreiben, ersetzen wenig später die Romane des frühen 18. Jahrhunderts, die jetzt allenfalls noch der Belletristik Erfolgsrezepte vererben können. Es beginnt im selben Moment die massive Relativierung aller Urteile über Romane bisher. Erst im historischen Abstand, so das Machtinstrument des Literaturkenners, lässt sich klarer erkennen, was überdauern wird in einer Geschichte, die Literaturhistoriker gerade zu diesem Zweck schreiben und laufend revidieren – so unser Angebot der diskursiven Beherrschung des Raums, wie er um 1700 noch bestand, damals als Gegenstand der Moden und der frechen Verhöhnung aller Kritik. Die Frage nach dem literaturhistorischen Urteil erübrigt das nicht. Die gattungstheoretische Perspektive Herbert Singers erbrachte zwar einen epochalen Musterroman, dem das breite Angebot radikal untergeordnet wurde – der Breite des Marktes und dem Umgang in ihm ließ sich damit jedoch nicht begegnen. Wenn wir alternativ Opern, Kantaten und Arien in Romanen des frühen 18. Jahrhunderts die Berechtigung in einem eigenen epochalen „Literaturbegriff“ zugestehen, dann gewinnen wir zwar die Chance, im damit einsetzenden Epochenkonstrukt Andersartiges unserer Wahl ausmachen zu können. Das entscheidend Andersartige wird dabei negiert bleiben. Das einschneidend Andersartige ist, dass hier gerade nicht einfach nur eine andere Ästhetik bestand, eine andere Poetik, ein anderer Literaturbegriff, in dem Opern und

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Kantaten einen in der größeren historischen Perspektive vollkommen irregulären Platz gewannen. Das einschneidend Andersartige ist, dass wir uns hier außerhalb unserer Literaturdebatte befinden in einem Feld, in dem so recht gar nichts von dem gemacht wird, was der Literaturhistoriker einer Auseinandersetzung mit Literatur für würdig erachtet. Im Roman des 18. Jahrhunderts überlebten Arie und Kantate noch eine Weile in Titeln wie Murantes’ Der in letzten Zügen liegende Cupido: oder, Das fatal- und unglückliche Lieben (1747).73 Im bürgerlichen Leben benötigte man sie noch in den 1770er-Jahren gedruckt und auszuteilen auf Begräbnissen und Hochzeiten. Romanautoren tangierte das jedoch nicht mehr. Die Kantate überlebte ins 20. Jahrhundert hinein mit dem historischen Recht, das ihr die akademische Musikwissenschaft einräumte, als Gattung der E-Musik weit außerhalb des Romans und der weiteren Literaturproduktion. Die spannende Frage bleibt für den deutschsprachigen Roman des frühen 18. Jahrhunderts, was Kantaten und Opern in ihm ermöglichten. Welche Lesegenüsse sie bereiteten? – gerade, da dieselben Genüsse offenbar vollendet fragwürdig erschienen. Die spannende Frage ist im selben Moment, wie sich Romanautoren positionierten, wenn sie auf diese Zutaten ihrer Romane zu sprechen kamen, mitten in einem eher primären Diskurs mit Liebhabern, mit persönlich gebundenen Fans, mit Widersachern und mit angeblichen Idolen. Melissus, Meletaon und Colombini spielen an dieser Stelle nicht das Spiel Gottscheds, Bodmers und Breitingers, noch weniger eines, das unsere Literaturgeschichte schreiben will – diese ist eher ein Gegendiskurs.

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Murantes: Der in den letzten Zügen liegende Cupido, oder das fatal- und unglückliche Leben. Franckfurt u.  a. 1747. Dieser Text steht Celanders Verkehrter Welt (1718) in der Mischung aus einer eher privaten, im niederen europäischen aristokratischen Milieu angesiedelten Geschichte und einer asiatischen Haupthandlung nahe. Vgl. Nina Berman: German Literature on the Middle East: Discourses and Practices, 1000–1989. Ann Arbor 2011, S. 132. Kantaten kommen in Murantes’ Roman auf den Seiten 22  f., 66  f. und 288–299 vor.

Abbildungsnachweise

Michael Maul Abb. 1–2 (S. 52 f.): Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur: 8 P GERM II, 6281. PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/ purl?PPN593299787 Abb. 3–5 (S. 65–67): Russische Nationalbibliothek St. Petersburg. Abb. 6–7 (S. 70 f.): Universitätsbibliothek Leipzig, Signatur: Rep. VI 16b (Leihgabe Leipziger Stadtbibliothek). Wolfgang Miersemann Abb. 1 (S. 77): Privatbesitz. Abb. 2–3 (S. 91 f.): Franckesche Stiftungen zu Halle, Bibliothek, Signa­tur: 27 F 6 [2]. Klaus Pietschmann Abb. 1 (S. 102): Libretti der musikgeschichtlichen Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. PURL: http://daten.digitale-sammlungen. de/0004/bsb00049050/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=00049050& seite=1 Notenbeispiele 1a–c (S. 104) und 2 (S. 106): Istituto Italiano Antonio Vivaldi, Venedig. Herbert Schneider Abb. (S. 135): Bibliothèque Nationale de France, Gallica. http://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/btv1b90102201/f1.item Bernhard Jahn Notenbeispiel (S. 177): Georg Philipp Telemann, Kammerkantaten. Hg. v. Steven Zohn. Kassel: Bärenreiter, 2011. Steven Zohn Fig. 1 (S. 251): Georg Philipp Telemann, Der getreue Music-Meister (1728/29). Fotomechanischer Neudruck der Original-Ausgabe 1728 nach dem Exemplar der Musikbibliothek der Stadt Leipzig. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1980.

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Abbildungsnachweise

Fig. 2 (S. 252): Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur: 8 P Germ III, 4129. PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/ purl?PPN671180673 Examples 1–2 (S. 253–255): Georg Philipp Telemann, Kammerkantaten. Hg. v. Steven Zohn. Kassel: Bärenreiter, 2011. Hansjörg Drauschke Notenbeispiele (S. 286 f.): „Die Ihr Gottes Gnad versäumet“: Übertragung des Autors nach der genannten Quelle. „Salvate il mio sposo“: Übertragung des Autors nach dem Exemplar der Niedersächsischen Staats- und Universitäts­bibliothek Göttingen, Signatur: 8 Mus VII, 144. Notensatz vom Autor. Ann Le Bar Fig. 1 (S. 295): http://imslp.org/wiki/6_Trio_Sonatas_(Telemann,_Georg_Philipp) Fig. 2 (S. 297) und 4 (S. 300 f.): http://imslp.org/wiki/Harmonischer_Gottesdienst_ %28Telemann,_Georg_Philipp%29 Fig. 3 (S. 298): Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur: 8 H E RIT I, 11391. http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN659420163 Fig. 5–6 (S. 304–306): http://imslp.org/wiki/Harmonischer_Gottesdienst_%28 Telemann,_Georg_Philipp%29 Fig. 7 (S. 308): http://imslp.org/wiki/Singende_Muse_an_der_Pleisse_%28Scholze,_ Johann_Sigismund%29 Olaf Simons Abb. 1 (S. 317): Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: P. o. germ. 809. http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb10113623-1 Abb. 2 (S. 326): Grafik des Autors. Abb. 3 (S. 328): Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: P. o. germ. 1438 s. http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb10121061-6

Personenregister

Acquaro Graziosi, Maria Teresa  125 Addison, Joseph  171 Ahlefeldt, Benedict von  266  f., 269, 272, 274  f. Albert, Heinrich  14  f. Albinoni, Tomaso  124 Albrici, Vincenzo  124 Alischer, Sebastian  18 Amalie Wilhelmine von Königsmarck 272 Amthor, Christoph Heinrich  248 Andrea de Melo de Castro  111 Anna Maria Dorothea von Mecklenburg 19 Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel  13, 260, 263 Ariosti, Attilio  269  f. Arndt, Johann  203  f. Axmacher, Elke  132  f. August der Starke (Friedrich August I. von Sachsen) 179 August von Sachsen-Weißenfels  20, 82 August Wilhelm von BraunschweigLüneburg 302 Ausonius, Decimus Magnus  4 Bach, Carl Philipp Emanuel  178, 209 Bach, Johann Christoph Friedrich  188 Bach, Johann Ludwig  132 Bach, Johann Sebastian  17, 29, 36, 51, 93, 122, 236, 242, 285 Bachelier, J. 138–141, 156–159 Badia, Carlo Agostino  232 Bamberg, Johann Philipp  47  f. Barberini, Urbano  110 Barthel, Katja  310 Baselt, Bernd  46

Bassani, Giovanni Battista  270 Baumgarten, Alexander Gottlieb  193  f. Bayreuther, Rainer  44, 193 Beccau, Joachim  6 Beck, Dorothea  76, 78 Beer, Johann  28 Beh(e)menus 338 Behütuns, Georg  309 Berman, Nina  341 Bermingham, Ann  288  f. Bernhard, Christoph  17  f. Bernier, Nicolas  138, 141–144, 151  f., 155–157, 159–161, 163–165 Bigaglia, Diogenio  236 Birke, Joachim  80, 123, 126, 131, 179, 182  f., 185 Birnbaum, Johann Abraham  236 Blamont, François Colin de  138 Blanken, Christine  268 Bodmer, Johann Jakob  171, 325, 341 Böddecker, Philipp Friedrich  35, 48 Böhm, Georg  30 Böhme, Erdmann Werner  28  f. Böning, Holger  171  f. Boguslawski, J. von  192 Bohse, August (Talander) 27, 323  f., 331  f., 336–339 Bokemeyer, Heinrich  59 Bononcini, Giovanni  111, 134, 149, 151, 232, 270 Bontempi, Giovanni Andrea  18, 124 Bopp, August  35, 39 Borgstedt, Thomas  131 Bourgeois, Thomas-Louis  146, 157, 159–161, 163–165 Bousset, Jean-Baptiste de  157, 159–161, 164  f.

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Boxberg, Christian Ludwig  65  f., 85 Brausch, Paul  23, 182 Brecht, Martin  204 Breitinger, Johann Jakob  171, 325, 341 Bressand, Friedrich Christian  260  f. Brockes, Barthold H(e)inrich  15  f., 25, 29, 31, 205, 239, 268, 270, 273–275, 283, 292–296, 302, 334 Bronner, Georg  6, 34, 258  f. Brossard, Sébastien de  134, 142, 159  f., 162–165 Brown, Christopher Boyd  296 Brunet de Molan  149, 159–161, 163–165 Buch, Hans-Joachim  54 Buek, Friedrich Georg  268  f. Bunners, Christian  126, 133, 207, 224 Buonaccorsi, Giocamo  110 Busch, Gudrun  89 Butler, Samuel  335 Caldara, Antonio  124, 129 Campra, André  141, 145  f., 150  f., 157, 159–161, 163–165 Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 248 Capece, Carlo Sigismondo  323 Capricornus, Samuel  35, 46 Carissimi, Giacomo  124 Carpzov, Benedict  62 Casaubon, Isaac  171 Celander  310–316, 341 Cervantes Saavedra, Miguel de  326, 333 Cesarini, Carlo Francesco  112, 127, 233  f. Chirico, Teresa  111  f. Christiane Wilhelmine von Sachsen  28 Christian von Sachsen-Eisenberg  28  f. Christian von Sachsen-Weißenfels  69

Personenregister

Christina von Schweden  114, 125 Clemens XI.  117  f. Clérambault, Louis Nicolas  141–143, 146–148, 150, 157–161, 163–165 Clifford, Martin  335 Clostermann, Annemarie  296 Col(l)in de Blamont, François  152, 155, 159  f., 162 Colombini  323, 327–329, 331  f., 341 Conermann, Klaus  1  f., 80, 84, 118, 123  f., 127, 130, 182, 190, 199  f. Conradi, Mademoiselle  266, 278, 312, 329 Conti, Francesco Bartolomeo  236, 323 Couperin, François  178 Courbois, Philippe  159–161, 163–165 Crescimbeni, Giovanni Mario  125, 237 Czornyi, Peter  188 Dach, Simon  14  f., 126 Dalferth, Ingolf Ulrich  213  f. Danchet, Antoine  145, 150  f., 157 Dathe, Andreas  267  f. Dedekind, Andreas Christian  29 Dedekind, Constantin Christian  20, 80, 82, 190 Defoe, Daniel  326 Della Valle, Daniela  117 Destouches, André Cardinal  159  f. Didier, Béatrice  139, 142 Di Scanno, Teresa  136–138, 142, 155 Döring, Detlef  68 Dorothea van der Nath  267 Drauschke, Hansjörg  5, 13  f., 100, 122  f., 127  f., 174, 232, 238, 259  f., 264  f., 270–272, 274–276, 279, 281 Dreyer, Johann Matthias  249 Dryden, John  335 Du Bos, Jean-Baptiste  136 Dubowy, Norbert  237 Duntz, Georg Eberhard  47  f.

Personenregister Ebert, Johann Arnold  249 Eckgh, Sigismund Engelbert Christian von  265–268, 280 Edelmann, Moritz  21 Elferen, Isabella van  131 Elisabeth Christina (röm.-dt. Kaiserin) 111 Elmenhorst, Hinrich  30–32 Emans, Reinmar  124, 182, 257 Emanuele d’Astorga  107, 236 Erdmann, Gottfried  63–65, 92–94 Erhard, Josef  316 Erlebach, Philipp Heinrich  45–47 Erler, David  23 Ernst-Ludwig I. von SachsenMeiningen 132 Eschenbach, Gunilla  7, 128, 173, 237  f., 245, 256, 278 Fabricius, Werner  54 Fago, Francesco Nicola  270 Falletta, Martina  45 Fasch, Johann Friedrich  120 Feind, Barthold  262, 270 Fénelon, François  326, 333  f. Fick, Monika  180 Fischer, Johann  232, 257 Fleischhauer, Günter  130, 172  f., 236, 256 Fleming, Paul  84 Flittner, Johann  217 Flood, John F. 18 Föcking, Marc  257, 274 Förster, Christoph  233 Francisque, Mr. 158 Franck, Johann Wolfgang  30 Franck, Michael Erich (Melissus) 316–319, 341 Franck, Salomon  31 Francke, August Hermann  90, 202, 204 Frauenholtz, Johann Christoph  41, 45 Freitag, Christoph  18

347 Frenzel, Elisabeth  327 Freschi, Domenico  100 Freylinghausen, Johann Anastasius  211  f., 223–225 Friedrich I. (König von Preußen) 121 Fuhrmann, Martin Heinrich  209  f. Fuzelier, Louis  141, 151, 157–159 Galliard, John Ernest  323 Ganter, Gabriele  38 Gasparini, Francesco  127, 270 Gellert, Christian Fürchtegott  179  f. Gelzer, Florian  310 Georg I. (König von England) 121 George Villiers, 2. Herzog von Buckingham  334  f. Gerber, Christian  210 Gerber, Ernst Ludwig  39, 246 Gerhard, Johann  203  f. Gervais, Charles-Hubert  155, 158–160, 162, 165 Geyer, Helen  232 Gianturco, Carolyn  238  f. Giay, Giovanni Antonio  234 Gille, Gottfried  55 Giovani, Giulia  103 Gisander siehe Schnabel, Johann Gottfried Glaser, Johann Wendelin  36 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig  175 Glöckner, Andreas  285 Göhler, Albert  124 Goodman, Katherine R. 243 Gottsched, Johann Christoph  3  f., 16, 69, 169, 171, 179, 183, 185–188, 193  f., 197, 199  f., 234  f., 240, 243, 248, 258, 325, 341 Gräfe, Johann Friedrich  188, 234 Grandval, Nicolas Racot de  143, 151, 159  f., 162–165 Graun, Carl Heinrich  188  f., 232, 234  f. Graun, Johann Gottlieb  232

348

Graupner, Christoph  36, 259, 275, 285, 331 Graupner, Friedrich  59 Greber, Jacob  232, 257 Gregg, Edward  112 Gregori, Lorenzo  270 Greschat, Martin  204 Griffin, Thomas Edward  110, 116 Grimm, Jacob  219  f. Grimm, Wilhelm  219  f. Groh, Heinrich  69 Gryphius, Andreas  130 Gryphius, Christian  82, 130, 190 Guarini, Battista  20 Günther, Johann Christian  248 Guido, Antonio  158 Guyot de Merville  158 Händel, Georg Friedrich  41, 44, 103, 108, 111, 116, 128  f., 147, 175, 188, 198, 232, 234, 236  f., 259, 264, 275 Häußinger, Ernst  45 Hagedorn, Friedrich von  249 Hall, Joseph  171 Haller, Albrecht von  240, 248 Hamann (der Ältere), Johann Georg(e) 13, 120, 207, 241–243, 248 Hammerschmidt, Andreas  277 Harasim, Clemens  285 Harris, Ellen T. 108, 237 Harris, Tim  112 Haslinger, Adolf  316 Hasse, Johann Adolph  188, 197, 232, 234 Hasse, Nikolaus  19 Haßler, Hans Leo  13 Haufe, Eberhard  173, 243 Hedinger, Reinhard  43 Heidenreich, David Elias  14, 19  f., 27, 50, 55  f., 65, 72, 80, 82, 133 Heidrich, Jürgen  126, 209 Heiduk, Franz  81, 85  f., 88, 95

Personenregister

Heigel, Julian  7, 90, 202  f., 206, 209, 211, 225 Heine, Georg  89  f. Heinichen, Johann David  69, 232–234, 236, 257, 262, 285, 327 Helbig, Johann Friedrich  213, 216–218, 220–222, 225  f. Heliodor  309, 316, 325 Henrici, Christian Friedrich (Picander) 122, 178, 237 Herder, Johann Gottfried  192, 198–201 Heustreu, Philipp Christian  27 Hiller, Fridrich Cunrad  38–40, 42  f. Hiller, Johann Adam  196–198, 200 Hinden, Lea  99, 107, 111 Hinsch, Hinrich  273 Hirsch, Emanuel  204 Hirschmann, Wolfgang  5, 7, 16, 202  f., 337 Hobohm, Wolf  75  f., 78, 130, 132, 232 Hölzlein, Johann Laurentius  40 Hoffmann, Melchior  285, 331 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian  88, 118, 130, 329  f., 332 Holman, Peter  103 Homer 334 Horaz  139, 194, 199 Horn, Wolfgang  234, 285 Houdar de La Motte, Antoine  141 Huet, Pierre Daniel  325 Hughes, John  323 Hunold, Christian Friedrich  2, 4, 7, 14–17, 19  f., 26, 29, 31, 33  f., 66, 69, 84, 86, 88, 121–123, 125  f., 129–131, 133, 169, 173  f., 176, 183–185, 200, 215  f., 226, 235, 237  f., 245, 256, 258, 262, 268, 276–279, 283  f., 286, 309, 311  f., 315, 321–323, 325–327, 329–332, 335–337 Hurlebusch, Conrad Friedrich  188, 232, 234

Personenregister Ihlenfeldt, Thomas  259 Innozenz XII. 113 Isabella Maria Giron, Duchessa d’Uzeda 110 Israel, Karl  16 Jacobi, Christian Gotthilf  120 Jacquet de La Guerre, Elisabeth  142, 159–161, 163–165 Jahn, Bernhard  5, 129, 132, 284, 323, 327, 337 Jauernig, Reinhold  33 Jaumann, Herbert  3 James II. (König von England) 111  f. Johann Adolph I. von SachsenWeißenfels  27, 62 Johann Georg I. von Sachsen  17 Johann Georg II. von Sachsen  19 Johann Georg III. von Sachsen  27, 61 Johann Georg von SachsenWeißenfels 95 Johann Wilhelm von Sachsen-Jena  28, 32 Jommelli, Niccolò  48  f. Joncus, Berta  237 Käfer, Johann Philipp  36, 40  f., 47 Karl VI. (röm.-dt. Kaiser) 280, 282 Keiser, Reinhard  7, 13–15, 29  f., 33, 122–124, 126–129, 173  f., 232  f., 237–239, 244, 256–287, 337 Kessler, Johann Jacob  36 Kettner, Friedrich Ernst  95 Kevorkian, Tanya  296 Kimmich, Dorothee  175 Kirchhoff, Gottfried  23 Kirkendale, Ursula  108, 116, 118 Kittel, Caspar  14 Klausnitzer, Ralf  5 Klein, Otto  82

349 Knüpfer, Johann Magnus  30–34 Knüpfer, Sebastian  33, 55  f., 61, 72 Koch, Johann Wilhelm  36 Koch, Klaus-Peter  127, 238, 256 König, Ingeborg  188 König, Johann Ulrich (von) 248, 262, 266–268, 274  f. Kongehl, Michael  23–25, 27 Kopitzsch, Franklin  302 Kopp, Anna  269, 275 Kopp, Georg  267–269, 275 Koselleck, Reinhart  8 Kraft, Günther  40 Kraft, Stephan  264, 272 Krause, Christian Gottfried  16, 188, 193–195, 200 Kremer, Joachim  6, 35, 39, 42, 44  f., 268 Kress, Johann Albrecht  35 Kretzschmar, Hermann  257  f. Kreutzer, Hans Joachim  122 Krieger, Adam  14, 82 Krieger, Johann  25  f. Krieger, Johann Philipp  20, 27, 39, 61  f., 64, 68, 72  f., 76, 78, 94–96 Krogh, Torben  267 Krüger, Ekkehard  38 Krummacher, Friedhelm  35  f., 50  f., 54, 56, 59, 68, 257  f. Küster, Konrad  132 Kuhnau, Johann  21–23, 27, 285 Kurtzrock, Theobald Joseph von  266, 280  f. Kusser, Johann  35 La Bruyère, Jean de  172 La Coste, Louis de  158 La Grange  141, 157  f. Lalli, Domenico  101, 107 Lampe, Ute  34 Lange, Johann Christian  90 Lauterwasser, Helmut  45

350

Lavocat, Françoise  117 Le Bar, Ann  7  f., 120, 130, 238, 257  f., 260 Lehmann, Georg  57  f. Lehms, Georg Christian (Pallidor) 256, 324, 330–332 Lemaire, Louis  159  f., 162–165 Lemene, Francesco de  124 Lemer, Gaetano  111 Lenglet du Fresnoy, Nicolas  138, 156 Lersner, Achilles Augustus von  248 Lessing, Gotthold Ephraim  180 Lesure, François  123  f. Liebhold(t) 45 Lindner, Felix  335 Lippold, Johann Georg  32–34 Lischka, Manfred  28 Lölkes, Herbert  188, 191, 262 Löscher, Valentin Ernst  88, 204 Löwenstern, Matthäus Apelles von  18  f. Lohenstein, Daniel Casper von  130, 331  f. Lorber, Richard  232, 234 Lorenz von Adlershelm, Christian  57  f., 72, 93 Louis de Bourbon, Duc de Bretagne  110, 114 Ludwig XIV. (König von Frankreich) 114 Lüis, Johann  7, 279 Lütteken, Laurenz  188, 190, 193, 201, 294 Lully, Jean-Baptiste  138, 154 Luppius, Andreas  88  f. Luther, Andreas  68 Luther, Magdalena Anna, geb. Strungk 68 Luther, Martin  213, 216, 293, 296 Märker, Almuth  57 Märker, Michael  51, 54

Personenregister

Magdalena Sibylla von HessenDarmstadt 44 Magg, Johann Friedrich  35 Maggi, Carlo Maria  124 Mancini, Francesco  103, 115, 127, 236 Manley, Mary Delarivier  326, 333 Marcello, Benedetto  232, 234, 236 Mari, Michele  114, 132 Maria Aurora von Königsmarck  128, 256, 263–265, 270, 272  f., 284, 321 Marie-Madeleine Pioche de La Vergne, Comtesse de La Fayette  325  f. Marini, Carlo Ambrogio  124 Marks, Paul F. 193 Martens, Wolfgang  171 Martin, Beate  39 Martus, Steffen  8 Marx, Hans Joachim  112, 265 Mattheson, Johann  17  f., 21  f., 30, 37–39, 47, 122, 126, 169, 171  f., 176, 181, 207–211, 231  f., 234, 245, 258–260, 262, 264–266, 269–272, 275, 280, 282–285, 337 Maul, Michael  5, 33, 36, 51, 54, 56, 58, 61  f., 68  f., 85, 92, 94, 123, 256, 285, 327, 331 Mayer, Johann David  41–43 Meier, Joachim  126, 209  f. Meier von Perleberg, Joachim  324 Melante siehe Telemann, Georg Philipp Meletaon siehe Rost, Johann Leonhard Melissus siehe Franck, Michael Erich Melosio, Francesco  124 Menantes siehe Hunold, Christian Friedrich Mencke, Johann Burchard  86, 96 Mencke, Otto  86 Mendelssohn, Moses  192 Menesson 159 Menke, Werner  23, 240, 295, 300, 302  f. Merwald, Günter  81

Personenregister Merzbacher, Dieter  87, 184 Michael, Tobias  54 Miersemann, Wolfgang  6, 50, 75  f., 87, 89, 94  f., 123, 126 Mizler von Kolof, Lorenz Christoph 234 Molter, Johann Melchior  232 Montéclair, Michael Pignolet de  141  f., 148, 150, 155, 157–160, 162–165 Morhof, Daniel Georg  214  f., 222, 226 Morin, Jean-Baptiste  135, 138, 141, 144  f., 152, 155, 157–161, 163–165 Morselli, Antonio  100  f. Motz, Georg  210  f. Mouret, Jean-Joseph  143, 159–161, 163–165 Müller, Heinrich  19, 221–225 Müller, Johann Samuel  323 Murantes 341 Nauwach, Johann  14 Navarre, M. de  145 Neukirch, Benjamin  86, 88, 118  f., 329  f., 334 Neumeister, Erdmann  2, 4–6, 14–16, 19  f., 25, 27, 29  f., 36, 39, 43, 50  f., 54–56, 61–66, 68  f., 73–96, 118  f., 121–126, 129–133, 169, 174, 179, 183–188, 197, 200, 215, 227, 238, 256, 262, 278, 293, 329  f. Neumeister, Johanna Elisabeth, geb. Meister 68 Neunhertz, Johann  63  f., 94 Neuß, Georg Leonhard  45 Nicolai, Friedrich  189–192, 196  f. Nicolai, Johann Michael  35, 46 Niefanger, Dirk  2, 171 Niggemann, G. 38 Nigito, Alexandra  99 Oehler, K. Eberhard  39 Öhm-Kühnle, Christoph  44

351 Olearius, Johann Gottfried  82 Opitz, Martin  2, 14  f., 126 Ottenberg, Hans-Günter  178 Ottoboni, Antonio  122, 128 Over, Berthold  5, 113, 116, 118, 122, 127, 131, 133, 262, 278 Ozell, George  334 Pachelbel, Johann  37 Pallidor siehe Lehms, Georg Christian Pamphilj, Benedetto  107  f., 111–113, 127 Pariati, Pietro  323 Pellegrin, Simon Joseph  323 Peranda, Gioseppe  18 Perrault, Charles  3 Peter I. (russischer Zar) 264 Peters, Günter  8 Petersen, Johann Wilhelm  89 Peucer, Johann Nicolaus  47 Pez, Johann Christoph  47, 232, 257 Pfuhl, Abraham  232 Philipp V. (König von Spanien) 110, 114, 116 Philippe II., Charles Duc d’Orléans  134  f., 151, 158  f. Philippi, Johann Ernst  69 Picander siehe Henrici, Christian Friedrich Pietschmann, Klaus  5 Pignatelli, Stefano  103, 114–116 Pindar  2, 139  f. Pirckheimer, Willibald  170  f. Pistocchi, Francesco Antonio  123, 270 Poetzsch-Seban, Ute  50, 78  f., 125  f., 132 Pohle, David  19  f., 55, 69, 72 Pollarolo, Carlo Francesco  124, 128 Postel, Christian Heinrich  13, 31, 123, 127, 238, 260  f. Praetorius, Johann Philipp  248 Preti, Girolamo  103, 107

352

Quenstedt, Johann Andreas  204 Quinault, Philippe  154 Raguenet, François  134 Rambach, Johann Jacob  1, 90, 202–208, 213, 216–221, 225–227 Rameau, Jean-Philippe  142, 159  f., 162 Ramler, Karl Wilhelm  188–193, 195  f., 198, 201 Rasch, Rudolf  124 Rathey, Markus  32, 62 Rathje, Jürgen  29, 33 Reinwald, Eberhard  265  f. Reitz, Johann Henrich  42 Renger, Johann Gottfried  90 Reul, Barbara M. 120 Richey, Michael  239, 302 Richter, Karl  175 Richter, Sandra  170  f. Riedel, Uwe  81, 83 Riemer, Johann  82  f., 86 Riepe, Juliane  261 Rischmüller, Anna  266, 278, 312 Rist, Johann  43 Robert  141, 157  f. Roberts, John H. 265 Roche, Daniel  288 Roger, Estienne  123  f., 232 Rohmer, Ernst  175 Rohr, Julius Bernhard von  131  f., 322 Rolli, Paolo  111 Romanus, Franz Conrad  243 Rosa, Alberto Asor  125 Rose, Dirk  87, 126  f., 129, 200, 256, 309  f. Rosenmüller, Johann  51, 54  f. Rossi, Luigi  124 Rost, Johann Leonhard (Meletaon) 237, 309, 311, 329  f., 332, 335, 341 Rotermund, Hans-Martin  204 Rotth, Albrecht Christian  28, 82  f., 204  f.

Personenregister

Rousseau, Jean-Jacques  196  f., 201 Rousseau, Jean-Baptiste  136–145, 152–159 Roy, Pierre Charles  145, 157 Rumohr, Henning von  267 Ruspoli, Francesco Maria Marescotti 116–118 Sachs, Hans  330, 332 Sardelli, Federico Maria  103 Sarro, Domenico  116 Sartori, Claudio  111 Sauder, Gerhard  199 Scarlatti, Alessandro  110–112, 122  f., 127–129, 151, 232, 234, 237, 270 Schabalina, Tatjana  63  f., 93 Schade, Herwarth von  88, 95 Scheibe, Johann Adolph  172, 174–176, 200, 235  f., 240, 244–247, 256 Scheibel, Gottfried Ephraim  209 Schein, Johann Hermann  84 Scheitler, Irmgard  1, 3, 17, 20, 23, 31–33, 43, 51, 65, 68, 78–80, 122  f., 126, 132, 182  f., 199–201, 256, 317 Schelle, Johann  55–59, 62–64, 69, 72, 90, 92–94 Scherffer von Scherffenstein, Wenzel 19 Schering, Arnold  33 Schieferdecker, Johann Christian  259 Schirmer, David  17  f., 190 Schlögl, Rudolf  6 Schmeizel, Martin  34 Schmidt, Gustav Friedrich  261 Schmidt, René  331 Schmitz, Eugen  14, 99, 108, 187, 232, 238, 257  f. Schnabel, Johann Gottfried  237 Schneider, Conrad Michael  40 Schneider, Herbert  3 Schneider, Ute  171 Schober, Anna Maria  266

Personenregister Schöllkopf, Wolfgang  43 Scholze, Johann Sigismund (Sperontes) 237, 240, 308 Schröder, Dorothea  264, 272 Schubart, Tobias He(i)nrich  303 Schürmann, Georg Caspar  261 Schürmann, Johann Georg  132 Schütz, Heinrich  51, 54, 69 Schwartzkopf, Theodor  46 Scudéry, Madeleine de  129 Sdzuj, Reimund B. 204 Sebastiani, Johann  25 Seebald, Christian  337 Seiffert, Max  76, 78, 94  f. Selamintes/Selimantes siehe Wend, Christoph Gottlieb Senger, Jacob  48 Seré, Monsieur de  159 Shakespeare, William  22  f. Sicul, Christoph Ernst  22 Simon, Johann Caspar  36 Simons, Olaf  7, 121, 309, 311, 324, 326, 338 Singer, Herbert  309, 316, 325, 340 Smart, Sara  261 Smeed, John William  171 Sontum, Anna Elisabeth  279 Sophie Charlotta von SachsenEisenach 29 Sophie Marie von SachsenEisenberg 29 Spada, Giovanni Battista  103 Spagna, Arcangelo  33 Speer, Daniel  36 Spener, Philipp Jacob  209 Sperontes siehe Scholze, Johann Sigismund Spitta, Philipp  76, 78 Sprat, Thomas  335 Stampiglia, Silvio  100  f. Stearns, Peter N. 290  f. Steele, Richard  171

353 Steiger, Marga  33 Steigerwald, Jörn  129  f. Stein, Fritz  34 Steinheuer, Joachim  138 Steude, Wolfram  50  f., 80, 123, 133 Stiefel, Eberhard  39 Stockhorst, Stefanie  2, 4 Stölzel, Gottfried Heinrich  232, 239 Störl, Johann Georg Christian  35–44, 46  f. Stollberg, Arne  180 Stoppe, Daniel  173, 178  f., 243  f., 248  f., 252 Stoy, Georg Christoph  38 Strattner, Georg Christoph  46 Stricker, Augustin Reinhard  232 Strohm, Reinhard  101, 116 Strungk, Nikolaus Adam  61  f., 65  f. Stuck, Jean-Baptiste (Batistin) 134  f., 141, 148  f., 151, 155–157, 159–161, 163–165 Sulzer, Johann Georg  193, 195–197, 200  f. Talander siehe Bohse, August Talbot, Michael  105, 108, 231  f. Telemann, Georg Philipp  8, 15  f., 23, 37, 39, 45  f., 51, 126, 132, 172–177, 188  f., 231  f., 235–259, 285, 288  f., 294–308, 327, 331, 337 Telonius, Michael  29 Theophrast  170  f., 179 Thibault 157 Thiemich/Thymich, Johann Paul  61 Thiemich/Thymich, Magdalena Sophie 62 Thiemich/Thymich, Paul  27, 32, 60  f., 63–66, 69, 85, 93  f. Thomas, Günter  39 Thomasius, Christian  131, 203 Thomasius, Jacob  27, 56–61 Tilgner, Gottfried  74–76, 79, 96

354

Till, Dietmar  200 Titius, Erhard  21 Treiber, Richard  36 Tscherning, Andreas  18  f. Tunley, David  136–138 Uffenbach, Johann Friedrich Armand von  239, 289, 302  f. Uhse, Erdmann  86 Ullrich, Hermann  39 Uz, Johann Peter  175 Van-Effen 158 Van Orden, Kate  307 Vencato, Anna  100  f. Vergil 121 Viswanathan, Ute Maria Suessmuth  75, 78, 81  f., 84–86, 88, 200 Vivaldi, Antonio  99–109 Vockerodt, Gottfried  204  f., 207  f. Voigt, Friedrich Wilhelm  36 Voltaire (François-Marie Arouet) 136 Voss, Steffen  122 Vries, Jan de  288, 290 Wächtler, Johann Christian  170 Waldberg, Max von  54, 87, 95  f. Walliser, Wolfgang Friedrich  38 Walther, Karl Klaus  311 Walther, Johann Gottfried  233  f. Wedel, Benjamin  312 Wehrend, Anja  6  f. Weichmann, Christian Friedrich  295 Weise, Christian  16, 20–23, 25–27, 29, 82  f., 123, 131, 190, 215, 217  f.

Personenregister

Weißmann, Ehrenreich  43 Weisz, Jutta  199 Welter, August Samuel  41, 46 Wend, Christoph Gottlieb (Selimantes/ Selamintes?) 337–339 Wentzel, Johann Christoph  28, 32–34 Werner, Rolf  47 Weydner, Philipp Gottfried  42  f. Wich, Cyril  265, 270, 272 Wich, John  265, 270 Wieland, Christoph Martin  170 Windfuhr, Manfred  215 Wockenfuss, Peter Laurentius  30 Wohlfarth, Dorothee  48 Wolff, Christian  203 Wollny, Peter  22, 50  f., 56, 58, 93, 272 Wright, Josephine R. B. 103 Zannoni, Angelo  103 Zappi, Giovanni Battista Felice  237 Zedler, Johann Heinrich  170, 181, 199 Zelle, Karsten  175 Zeno, Apostolo  323 Ziegler, Christiana Mariana von  242  f., 248, 251 Ziegler, Caspar  50–55, 82  f., 199 Zi(e)gler und Kliphausen, Heinrich Anselm von  323  f., 327 Zimmermann, Joachim Johann Daniel  172, 175  f., 236, 244, 248  f., 253–255 Zohn, Steven  5, 8, 172, 231, 242, 246, 257, 262, 294, 300, 302  f., 307