Die Jugendjahre Karls V.: Lebenswelt und Erziehung des burgundischen Prinzen 9783412213657, 9783412205256

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Die Jugendjahre Karls V.: Lebenswelt und Erziehung des burgundischen Prinzen
 9783412213657, 9783412205256

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Anna Margarete Schlegelmilch Die Jugendjahre Karls V.

Beihefte zum Archiv für kulturgeschichte In Verbindung mit Karl Acham, günther Binding, Egon Boshof, wolfgang brückner, kurt düwell, helmut neuhaus, gustav adolf lehmann, Michael Schilling Herausgegeben von

klaus herbers HEFT 67

Die Jugendjahre Karls V. Lebenswelt und Erziehung des burgundischen Prinzen

von

Anna Margarete Schlegelmilch

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Miniatur aus: Remy Dupuys, La tryumphante et solennelle Entrée de Monsieur Charles en Bruges (1515); Ausschnitt. Wien, ÖNB, Cod. 2591. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Dargestellt ist ein Beitrag der Italiener zum Einzug des Herzogs von Burgund; vgl. dazu im Text S. 479. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20525-6

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In memoriam Dieter Hägermann 1939–2006

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VII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Dank ............................................................................. IX Einleitung: Die Jugendjahre Karls V. (1500–1520), ein wenig behandelter Abschnitt im Leben des Kaisers ........... 1. 2. 3. 4.

Zu Themenwahl, Aufbau und Zielsetzung der Arbeit .................... Darstellung und Gewichtung der Jugendjahre Karls V. in der biographischen Literatur ............................................................... Quellen und Forschungsstand ....................................................... Die Hauptthese .............................................................................

1 1 5 9 16

Lebenswelt und Erziehung des burgundischen Prinzen I. 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2.

Frühe Jahre im Bannkreis des burgundischen Hofes und seiner Tradition ...................................................................... 18 Der burgundische Hof der Margarete von Österreich als Erziehungsmilieu ...................................................................... 18 Die Rolle der Familie ..................................................................... 51 Der Vater ....................................................................................... 56 Die Mutter .................................................................................... 68 Maximilian und Margarete ............................................................ 83 Der Prinz und die Dynastie ........................................................... 120 Nostre maison de Bourgongne – noz maisons d’Autrice et de Bourgongne: Das „Haus“ als früher Erfahrungsbereich des Prinzen .................... 120 Eine „unfreie Jugend“: Der Prinz als Spielball im europaweiten Machtkampf dynastischer und politischer Interessen ..................... 135

II. Die formale Erziehung des burgundischen Prinzen ........................ 1. Zur Prinzen- und Adelserziehung an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ...................................................... 2. Eine traditionelle Erziehung für den jungen Prinzen ..................... 3. Der Gouverneur und der pedagogus ............................................... 3.1. Der Gouverneur: Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres............ 3.2. Der pedagogus: Adrian von Utrecht ................................................ Exkurs: Anfänge und Grundzüge der Devotio moderna ...............................

159 161 166 203 204 251 254

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Der Prinz in der Sicht seiner Zeitgenossen ..................................... 1. Die Porträts ................................................................................... 2. Der Prinz und Thronfolger im Blickpunkt: Beobachtungen und Berichte ......................................................................................... 2.1. Das Kind und der Heranwachsende ............................................... Exkurs: Ludovicus Marlianus, die verborgene Quelle des Petrus Martyr...... 2.2. Der junge Herrscher ...................................................................... 3. Le roi est mort: Es lebe der Erbe! – Die Rolle Karls im Rahmen der königlichen Leichenbegängnisse von 1507 und 1516 ............... 3.1. Das burgundische Leichenbegängnis Philipps des Schönen............. 3.2. Die burgundischen Leichenfeiern für Ferdinand von Aragon.......... IV. Das Ende einer langen Vormundschaft: Zur Emanzipation des Herzogs von Burgund und ihren Begleitumständen ................. 1. Der schwierige Prozeß der Loslösung ............................................. 2. Inauguration und joyeuses entrées: Das Land feiert seinen seigneur naturel ............................................................................... 2.1. Der Akt der Emanzipation Karls und sein Regierungsantritt als Herzog von Burgund am 5. Januar 1515 ....................................... 2.2. Die Inaugurationsreisen ................................................................. Exkurs: Karl V. – ein Nachfahre des Herkules? ........................................... 3. Vom Mündel zum Vormund .......................................................... 3.1. Erste Kontakte zwischen Karl und seinem Mündel, dem Infanten Ferdinand ...................................................................................... Exkurs: Der „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon ................................ 3.2. Von einschneidenden Sofortmaßnahmen des Vormunds zur zukunftsträchtigen „Rochade“ ....................................................... 3.3. Das Vorgehen Karls im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt

318 319 327 328 338 342 355 360 368 385 385 433 433 437 493 497 497 504 522 544

Resümee und plus ultra ..................................................................... 588 Quellen- und Literaturverzeichnis .............................................................. 629 Abbildungsverzeichnis und -nachweis ........................................................ 643 Orts- und Personenregister ......................................................................... 644

Vorwort und Dank

Am Anfang stand das Projekt „Europäische Geschichte an der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit“, mit dem das Institut für Geschichte der Universität Bremen vom Wintersemester 2000/2001 bis zum Wintersemester 2001/2002 unter der Leitung von Prof. Dr. Franklin Kopitzsch einen Beitrag leistete zu dem Jubiläumsjahr, in dem an vielen Orten, in vielfältigen Veranstaltungen und einer Fülle von Publikationen an den 500. Geburtstag Karls V. erinnert wurde. Für mich ergab sich aus der eingehenden Beschäftigung mit der Gestalt dieses zunächst so fremden, fernen Kaisers das Thema meiner Magisterarbeit. Dem Vorschlag meines akademischen Lehrers Prof. Dr. Dieter Hägermann, auch meine Dissertation im Forschungsbereich „Karl V.“ anzusiedeln, begegnete ich anfangs mit gewisser Skepsis, denn mir stellte sich die Frage, ob nicht zu allen erdenklichen Aspekten der Herrschaft dieses Kaisers bereits alles gesagt sei von Berufeneren, die ihre Forschertätigkeit über Jahrzehnte Karl V. gewidmet haben. Doch ich fand meine „Nische“ mit einer Untersuchung zu den in der Literatur kaum behandelten Jugendjahren des späteren Kaisers. Das Thema stieß auf große Zustimmung bei Prof. Hägermann, der die Betreuung der Arbeit übernahm, ihren Fortgang mit wissenschaftlicher Neugier begleitete und mit Humor die aufgespürten skurrilen Hintergründe der Geschichte kommentierte. Als Prof. Hägermann völlig unerwartet am 30. März 2006 verstarb, stand ich vor der Aufgabe, die weit fortgeschrittene Arbeit ohne innere Brüche zu Ende zu führen. In dieser schwierigen Phase war es sehr beruhigend zu wissen, daß Prof. Kopitzsch, der schon in die Vorgespräche zur Themenwahl einbezogen und als Zweitgutachter vorgesehen war, mir weiterhin seine Unterstützung zusicherte, obwohl er inzwischen einem Ruf nach Hamburg gefolgt war. Deshalb gilt ihm zuallererst mein herzlicher Dank. Frau Prof. Dr. Cordula Nolte möge es mir daher verzeihen, wenn ich sie an zweiter Stelle nenne, obwohl ich gerade ihr ganz besonderen Dank schulde. Als Nachfolgerin Prof. Hägermanns auf dem Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters übernahm sie ab 2007 die diffizile Aufgabe der Begleitung meiner Dissertation in der Endphase und anschließend die Begutachtung. Frau Prof. Noltes immer mit Verständnis gepaarte Kritik erwies sich als sehr hilfreich und machte es möglich, daß ich mein Promotionsvorhaben in angemessener Zeit zu einem guten Ende bringen konnte. Aufrichtig dankbar bin ich auch Herrn Prof. Dr. Hans Kloft und Herrn Dr. Jan Ulrich Büttner (beide Institut für Geschichte der Universität Bremen) für nützliche Auskünfte und ihren Einsatz als Mitglieder der Prüfungskommission, ferner meinen Korrekturlesern, die sich ohne Zögern mit fachlichem Interesse und großer Sorgfalt meiner umfangreichen Arbeit annah-

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Vorwort und Dank

men: Dr. Wilfried Grauert und Dr. Gerhard Knoll (†) (beide Bremen) sowie Dr. Bernhard Wessels (Bremerhaven). Es soll nicht vergessen werden, daß die Dissertation nur verfaßt werden konnte dank der hervorragenden Kooperation mit der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, insbesondere der Fernleihabteilung, da der weitaus größere Teil der benötigten, z.T. seltenen Werke von auswärts beschafft werden mußte. Alle, die sich jemals einer wissenschaftlichen Aufgabe größeren Umfangs gewidmet haben, kennen deren Nebenwirkungen auf das engste Umfeld, die Familie. Meinem Mann Gunther Schlegelmilch, OStR i.R., kann ich es daher nicht hoch genug anrechnen, daß er nicht nur als Korrekturleser einsprang, sondern daß er vor allem die Geduld aufbrachte, über mehrere Jahre „Keyzer Karel“ als eher ungeliebten Hausgenossen zu ertragen, dessen Präsenz ständig spür- und sichtbar war. Der jungen Generation, unserem Sohn und seiner Frau, Dres. Ulrich und Sabine Schlegelmilch (Würzburg), verdanke ich weit mehr als die tatkräftige technische Unterstützung, mit der sie mein Manuskript in eine wohlformatierte Druckvorlage zu verwandeln halfen. So wichtig dies für jemand ist, der noch aus dem Zeitalter der mechanischen Schreibmaschine stammt, so war es doch für mich ungleich wesentlicher, daß ich über Jahre stets auf Verständnis, moralischen Rückhalt, Gesprächsbereitschaft und Teilhabe an den Erfahrungen der Jüngeren beim „Büchermachen“ bauen durfte. Zusätzlich übernahm unser Sohn mit höchster wissenschaftlicher Akribie die zeitaufwendige Durchsicht meiner umfangreichen Arbeit. Ich danke meinem Lektor von Herzen für die immer harmonische Zusammenarbeit und für seine nie erlahmende Geduld. Am Ende des langen Weges vom Manuskript zum Buch stand die Aufnahme meiner Arbeit unter die Beihefte zum „Archiv für Kulturgeschichte“; dem Herausgeber der renommierten Reihe, Herrn Prof. Dr. Neuhaus (Erlangen), möchte ich an dieser Stelle meinen besonderen Dank aussprechen. Mein Dank gilt aber auch all denen, die hier nicht namentlich aufgeführt werden können, die ihr Interesse am Gedeihen des „Karel“ bekundeten und nie am Gelingen meines Unternehmens zweifelten. Bremen, im August 2010

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Einleitung: Die Jugendjahre Karls V. (1500–1520), ein wenig behandelter Abschnitt im Leben des Kaisers

1. Zu Themenwahl, Aufbau und Zielsetzung der Arbeit Angesichts der selbst für ausgesprochene Spezialisten unter den Historikern kaum noch überschaubaren Literatur zu dem großen Themenkreis „Karl V.“ scheint es zunächst gewagt, diesen Veröffentlichungen eine weitere hinzufügen zu wollen. Mit der Wahl des Themas für die vorliegende Arbeit rückt jedoch ein Lebensabschnitt des späteren Kaisers in das Zentrum der Untersuchung, der als Forschungsgegenstand bisher wenig oder eher peripher berücksichtigt worden ist: die Jugendjahre Karls V. zwischen 1500 und 1520. Zu den ersten beiden Jahrzehnten im Leben des Herrschers liegen – neben Aufsätzen zu Einzelaspekten – nur zwei größere ältere Arbeiten von Walther und Delfosse vor, die beide aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts stammen und aus der Göttinger Schule Karl Brandis hervorgegangen sind.1 Im Hinblick auf diese Ausgangslage fiel die Entscheidung nicht schwer, die frühen Lebensjahre des Kaisers zum Gegenstand einer größeren Untersuchung zu machen, zumal die genannten Arbeiten, auf die im Folgenden noch zurückzukommen sein wird, sich in ihren Schwerpunkten und Zielsetzungen deutlich von meinem Konzept unterscheiden. Ausgehend von der unstrittigen Tatsache, daß die Jugendjahre Karls V. in die Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit fielen, soll hier untersucht werden, inwieweit diese „Jugend zwischen den Zeiten“ und insbesondere die Erziehung des Prinzen im Zeichen und unter dem Einfluß des für Übergangs- oder Schwellenzeiten so charakteristischen geistigen Spannungsfeldes standen – zwischen überliefertem, im Bewußtsein der Zeitgenossen noch lange weiterwirkendem Gedankengut und neu hinzutretenden Erkenntnissen und Ideen, die althergebrachte Überzeugungen und Wertvorstellungen nur allmählich in den Hintergrund zu drängen vermochten, ohne sie jedoch völlig auszulöschen.2

1 2

Andreas Walther, Die Anfänge Karls V., Leipzig 1911; Leo Rudolf Delfosse, Die Jugend Karls V., Diss. masch. Göttingen 1923. Vgl. dazu Skalweit 1982, 15. Dort setzt sich der Autor mit Jacob Burckhardts Renaissancebegriff auseinander, und unter Bezug auf Burckhardts Vorlesung über die „letzten Jahrhunderte des Mittelalters“ stellt er fest: „Er [Burckhardt] wußte, daß keine neue Epoche eine ältere völlig verdrängt, daß sie noch immer viele Züge des Zeitalters weiterträgt, aus dem sie hervorgewachsen ist.“ (15 Anm. 12)

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Einleitung

Es war ein schwieriger, langwieriger Prozeß, in dem schließlich das „Moderne“ die Oberhand gewann über die Tradition, ein Prozeß, der in den Köpfen, im Bewußtsein der Zeitgenossen ablief, den der Einzelne in seiner Lebensspanne mitvollziehen mußte, wenn auch je nach Alter, lokalen Gegebenheiten, Bildungsgrad und sozialer Stellung in unterschiedlichem Maße, mehr oder weniger schnell. Karl V., in eine solche Schwellenzeit hineingeboren, konnte sich dem hier angedeuteten Prozeß des Wandels ebenso wenig entziehen wie seine Zeitgenossen. Wenn der Herrscher von zweien seiner Biographen im Untertitel ihrer Werke einmal als „der letzte Kaiser des Mittelalters“,3 das andere Mal aber als „Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit“4 bezeichnet wird, so kommt trotz der unterschiedlichen Zuordnung in beiden Epitheta die Bedeutung zum Ausdruck, die der Epochengrenze bzw. Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit – je nach Standpunkt des Autors – für Leben und Wirken des Kaisers beigemessen wird. Daß die von Schorn-Schütte vorgenommene Zuordnung heute die Rassows weitgehend verdrängt hat, ist vor allem ein Ergebnis der in den Jahrzehnten seit dem Erscheinen von Rassows Werk mit vermehrter Intensität geführten und noch immer aktuellen Diskussion zur „Epochenfrage“. Diese Diskussion auf theoretischer Ebene hier fortzusetzen, würde eine Akzentverschiebung innerhalb meiner Untersuchung bedeuten; auf wesentliche Erkenntnisse aus diesem Forschungsgebiet kann ich daher nur zurückgreifen und sie an gegebener Stelle in meine Argumentation einbeziehen. Um dem Thema gerecht zu werden, muß es zunächst darum gehen, die Kräfte und Einflüsse in Umfeld und Erziehung Karls aufzudecken, die auf den jungen Prinzen in der empfänglichsten, bildsamsten Phase seines Lebens einwirkten, die ihn in seiner Entwicklung lenkten und – das sei mit einiger Vorsicht gesagt – in mancher Hinsicht wohl auch prägten.5 Daß wir bei unserer Suche auf Mittelalterliches, Weiterwirkendes ebenso stoßen werden wie auf Ideengut, in dem sich die „neue Zeit“ ankündigt, versteht sich von selbst nach dem, was über das Spiel widerstreitender Kräfte im Spannungsfeld von Schwellenzeiten bereits gesagt wurde. Der hier untersuchte Lebensabschnitt Karls V. läßt sich in vier Hauptphasen unterschiedlicher Länge gliedern, deren zeitliche Grenzen durch äußere Ereignisse markiert werden:

3 4 5

Peter Rassow, Karl V. Der letzte Kaiser des Mittelalters, Göttingen 21963. Luise Schorn-Schütte, Karl V., Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 2000. Vorsicht halte ich hier für geboten, da eine Prägung den Charakter des Endgültigen, Starren hat; zudem sollte man über einigermaßen gesicherte Kenntnisse von der Natur, von den Anlagen des so Geprägten verfügen, um zwischen Prägung und spontan auftretenden Zügen unterscheiden zu können. Gerade diese Kenntnisse fehlen für die „Person Karl V.“ weitgehend. Vgl. unten, Abschnitt 3 der Einleitung.

Zu Themenwahl, Aufbau und Zielsetzung der Arbeit

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1. Von 1500 bis 1506. 2. Von 1507 bis 1514: Der frühe Tod von Karls Vater, Philipp dem Schönen, im September 1506 bedingte die Übernahme der Vormundschaft für Karl und drei seiner Schwestern durch Maximilian I., der sie bis zur Emanzipation des Enkels an seine Tochter, Erzherzogin Margarete von Österreich, delegierte. 3. Von 1515 bis 1516: Am 5. Januar 1515 wurde Karl mündig gesprochen und trat die Nachfolge seines Vaters als Herzog von Burgund, Graf von Flandern etc. an. Im Januar 1516 fiel mit dem Tode Ferdinands von Aragon das spanische Erbe an Karl. 4. Von 1517 bis 1519/20: Im September 1517 begann mit Karls Ankunft in Spanien die erste kurze Phase seiner Herrschaft über Kastilien und Aragon, die 1519, nach dem Tode Maximilians I., mit seiner Wahl zum Römischen König und Kaiser und seinem Aufbruch zur Krönung in Aachen 1520 zu Ende ging. Am Anfang meiner Untersuchung soll der burgundische Hof zu Mecheln, an dem Karl aufwuchs, als Erziehungsmilieu dargestellt werden, ein Hof, der im frühen 16. Jahrhundert in seiner Weltsicht und seinen Wertvorstellungen noch stark mittelalterlich geprägt war. Zu den dort gewahrten Traditionen mußten die mit Humanismus und Renaissance sich ausbreitenden veränderten Sichtweisen vom Menschen und vom Menschen in der Welt ebenso in Widerspruch geraten wie die höchst beunruhigenden Forderungen nach einer tiefgreifenden Reform der Kirche und – im politischen Bereich und unter humanistischem Einfluß – einer Revision des Herrscherbildes sowie des traditionellen Verständnisses von Herrschaftsausübung. Es gilt nun zu eruieren, wie weitgehend Karls Erziehung noch der mittelalterlichen Tradition verhaftet blieb, oder ob und in welchem Maße auch neue geistige, politische und religiöse Strömungen und Moralvorstellungen Zutritt zur höfischen Welt Burgunds erlangten. Besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf die Menschen zu richten, auf die Familienmitglieder und die Erzieher im weitesten Sinne, die den Heranwachsenden in dieser Lebensphase begleiteten und lenkten, die ihm erste Wertmaßstäbe vermittelten, die gegebenenfalls aber ihren Einfluß auf den Prinzen auch zur Verfolgung politischer Ziele nutzten. In den beiden ersten Kapiteln der Untersuchung (I und II) wird somit dem Aspekt der Erziehung des jungen Prinzen – wiederum im weitesten Sinne – Vorrang eingeräumt. In diesen Themenkomplex einbezogen wird auch die politische Lehrzeit Karls nach der Emanzipation, „l’apprentissage politique“,6 in der der junge Herzog und König, zunächst noch weitgehend gelenkt, zu selbständigem Handeln und zur Übernahme von Verantwortung hingeführt wurde. 6

Ernest Gossart, der diesen Begriff prägte, verwendete ihn als Titel einer Studie zu dieser Lebensphase des jungen Herrschers, die seinem biographischen Werk im Anhang beigefügt ist (1910, 163–213).

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Einleitung

Bereits ab 1506 begann man sich an den europäischen Höfen für die Person des Prinzen zu interessieren, der in relativer Abgeschiedenheit in Mecheln heranwuchs und erst ab 1515 häufiger öffentlich in Erscheinung trat. Dem Bild, das den Zeitgenossen von dem jungen Karl vermittelt wurde, ist das dritte Kapitel dieser Arbeit gewidmet. Das vierte Kapitel gilt den Ereignissen, denen sich Karl in dichtgedrängter Folge in den Jahren 1515–1518 stellen mußte: der Emanzipation, dem spanischen Erbfall und der damit verbundenen Übernahme der Vormundschaft über seine Geschwister Ferdinand und Katharina. Als Karl 1519 in den Wahlkampf um die Würde des Römischen Königs und Kaisers eintrat, bedeutete dieser Schritt das Ende seiner Jugendjahre. Die Persönlichkeitsentwicklung des Neunzehnjährigen war zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht abgeschlossen. Wie einige Ausblicke (in Kapitel III) zeigen, brachten die 1520er Jahre einen außerordentlichen Zuwachs an Reife: Karl, der Erwählte Römische Kaiser, war erwachsen geworden. Anläßlich seiner Emanzipation bzw. seiner Wahl zum Nachfolger seines Großvaters Maximilian wurden dem jungen Herrscher zwei Schriften gewidmet: die Institutio Principis Christiani des Erasmus von Rotterdam und die Monarchia Universalis seines Großkanzlers Mercurino di Gattinara. Obwohl beide häufig im Zusammenhang mit Karls Auffassung von Herrschaft und Kaisertum erwähnt werden, gibt es keine Hinweise darauf, daß er sich mit den Konzepten des niederländischen Humanisten oder des hochgebildeten piemontesischen Juristen und Politikers in dem hier untersuchten Zeitraum auseinandergesetzt oder sie sich zu eigen gemacht hat. Daher wird auf die beiden programmatischen Schriften nur im Schlußkapitel („Resümee und plus ultra“) eingegangen. Ziel dieser Arbeit ist es mithin nicht, die Jugendjahre Karls V. kontinuierlich nachzuzeichnen. Die vier genannten Hauptphasen dieses Lebensabschnitts sollen vielmehr als komplexe Wirkungsfelder von beherrschenden Faktoren gesehen werden. Wo der Wirkungsbereich dieser Faktoren über Karls Person hinausreicht, werden sie in Exkursen in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Diese Art des Vorgehens, bei der die Chronologie der Ereignisse und Entwicklungen gleichsam das Gerüst bildet, bedingt vielfach Rückgriffe, Ausblicke und auch „Schnittmengen“. Das angestrebte Ergebnis ist ein Gesamtbild der Jugend und Erziehung Karls V., das aussagekräftig genug ist, um die meiner Arbeit zugrundeliegende Hauptthese zu stützen, wie sie in Abschnitt 4 dieser Einleitung formuliert ist.

Darstellung der Jugendjahre Karls V. in der biographischen Literatur

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2. Darstellung und Gewichtung der Jugendjahre Karls V. in der biographischen Literatur Einen ersten Zugang zu meinem Untersuchungsgebiet fand ich über die kritische Auseinandersetzung mit der umfangreichen biographischen Literatur zu Karl V., wie sie von der zweiten Hälfte bzw. den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis heute von Historikern verschiedener Nationalität vorgelegt worden ist, wobei die neueste mir bekanntgewordene und ausgewertete Arbeit aus dem Jubiläumsjahr 2000 stammt. Es soll hier nur kurz darauf verwiesen werden, daß das Erscheinen der frühen biographischen Arbeiten zu Karl V. in engem Zusammenhang steht mit der ungefähr gleichzeitigen Öffnung der Archive in mehreren europäischen Ländern in den 1840er Jahren. Erst die Freigabe und die darauf folgende, bis heute nicht vollendete kritische Erschließung des ungewöhnlich reichen Quellenmaterials lieferten die Grundlage für ernstzunehmende Biographien des Kaisers und für monographische Studien. Den Anfang meiner Untersuchung bildete die Auswertung der wichtigsten im deutschen Sprachraum entstandenen Biographien, der umfassenden Arbeiten von Hermann Baumgarten, Karl Brandi, Peter Rassow, Otto Habsburg, Ferdinand Seibt und Alfred Kohler sowie des biographischen Abrisses von Luise Schorn-Schütte.7 In diesen Biographien sind den Jugendjahren Karls mehr oder minder umfangreiche Kapitel gewidmet, die ein in den wesentlichen Zügen übereinstimmendes Bild vermitteln von den Gegebenheiten, unter denen der Prinz am burgundischen Hof seiner Tante Margarete von Österreich aufwuchs. Auffallend an diesem wohl harmonisierenden Gesamtbild ist der blasse, schwache Eindruck, den Karl, die eigentliche Hauptperson in dem Ensemble, hinterläßt. Nur für kurze Augenblicke tritt er hervor, bei öffentlichen Anlässen und den großen Inszenierungen höfischer Zeremonien, und auch dann kaum als Person, sondern als der künftige Herrscher. Seine Gestalt gewinnt erst in der Zeit um seine Emanzipation, um 1514/15, an Konturen, als er beginnt, sich als Handelnder zu profilieren. Den Kapiteln zur Jugend des Prinzen kommt in den Biographien eine eher hinleitende Funktion zu: hinleitend auf die zentrale Lebensphase des Kaisers, in der seine Persönlichkeit und seine Entscheidungen – etwa ab 1530, verstärkt in 7

In der Reihenfolge ihres Erscheinens: Hermann Baumgarten, Geschichte Karls V., 1, Stuttgart 1885; Karl Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 1 [1937], München 71964; 2, München 1941, ND Darmstadt 1967; Peter Rassow, Karl V. Der letzte Kaiser des Mittelalters [1957], Göttingen 21963; Otto Habsburg, Karl V., Wien/München 1967; Ferdinand Seibt, Karl V. Der Kaiser und die Reformation, Berlin 1990; Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 1999; Schorn-Schütte 2000 (wie Anm. 4).

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Einleitung

den 1540er Jahren – die Geschicke nicht mehr nur Europas bestimmten. Aus dieser Funktion heraus erklärt sich die Gewichtung der Fakten in den entsprechenden Abschnitten: Die Erziehung des Prinzen und seine Vorbereitung auf das Herrscheramt werden eher summarisch behandelt.8 Die beiden Schwerpunkte hingegen, die sich in allen genannten Darstellungen abzeichnen, sind zum einen die höchst verwickelten familiären Verflechtungen der Häuser Burgund, Habsburg und Trastámara sowie die Folge der „dynastischen Zufälle“ mit ihren oft tragischen Begleitumständen, Zufälle, die „Karl von Gent“ erst zum Erben eines Weltreiches machten, und zum anderen die Einbeziehung des jungen Prinzen in das politische Kalkül und in das Kräftespiel der großen europäischen Mächte vom zartesten Alter an. Der aus den deutschsprachigen Biographien gewonnene Überblick über die Darstellung der frühen Jahre Karls V. bedurfte einer Ergänzung, denn ihre Verfasser, vor allem die älteren unter ihnen, die ihre Wurzeln noch im 19. Jahrhundert hatten, gelten als Vertreter der mitteleuropäischen Interpretationslinie der Geschichtsschreibung zu Karl V.; im Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit standen das Reich und Karls Rolle in der Geschichte der Reformation. Bei den Historikern hingegen, die sich der südeuropäischen Interpretationslinie verpflichtet sehen, ist das Hauptinteresse auf Spanien, im Zusammenhang damit auch auf die Neue Welt, auf Italien und den Mittelmeerraum gerichtet.9 Aus dieser Perspektive betrachtet, ergeben sich für die Jugendjahre Karls und ihre biographische Aufarbeitung zusätzliche Gesichtspunkte. Von mir berücksichtigt wurden die Werke folgender Biographen mit vorwiegend südeuropäischer Orientierung: Ernest Gossart, Roger B. Merriman, Royall Tyler, Manuel Fernández Álvarez, Fernand Braudel sowie der umfangreiche, die gesamte Lebensspanne des Kaisers abdeckende Aufsatz von Mia J. Rodríguez-Salgado.10 8

Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht Brandis Kaiserbiographie dar, in der der Verfasser dem „Werden einer Persönlichkeit“ auch für die frühen Jahre des burgundischen Prinzen mit Behutsamkeit nachspürt und durchaus eingesteht, daß er zu vielen offenen Fragen nur Vermutungen äußern kann. 9 Bei den neueren Arbeiten, insbesondere im Werk Kohlers, in Ansätzen aber auch schon bei Habsburg, dem Verfechter des Paneuropa-Gedankens, glaube ich den Versuch feststellen zu können, die beiden Interpretationslinien zusammenzuführen und sich ergänzen zu lassen. Dies steht im Einklang mit der von verschiedenen Seiten betonten Notwendigkeit zu internationaler und interdisziplinärer Kooperation der Forschung zu Karl V. Richtungsweisend sind hier die bedeutenden Ausstellungen des Jubiläumsjahres und die dazu erschienenen Katalogbände (Kat. Bonn 2000; Kaiser Karl V. und seine Zeit [Kat. d. Ausst. Schweinfurt, Bibl. Otto Schäfer, 12.3.–11.6.2000 / Bamberg, Hist. Museum, 15.7. bis 15.10.2000], Bamberg 2000); vgl. außerdem Kohler/Haider/Ottner 2002. 10 Ernest Gossart, Charles-Quint, roi d’Espagne, Brüssel 1910; Roger B. Merriman, The Rise of the Spanish Empire in the Old World and in the New, 3: The Emperor [1925], ND

Darstellung der Jugendjahre Karls V. in der biographischen Literatur

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Eine Sonderstellung nimmt im Rahmen der hier relevanten Historiographie Belgien ein: Mit der Entstehung eines souveränen Königreichs Belgien 1830/31 entwickelte sich ein belgisches Nationalbewußtsein, das eine intensive Beschäftigung mit der eigenen Geschichte auslöste. Das historische Burgund, in dem vor allem Flandern eine so bedeutende Rolle spielte, rückte in das Zentrum des Interesses. Der Zugang zu den Archiven, auch im benachbarten französischen Lille, eröffnete neue Möglichkeiten, den Spuren der großen Söhne des Landes nachzugehen, unter denen „Karl von Gent“ zweifellos einer der größten war. Beredtes Zeugnis von dem Enthusiasmus, mit dem man ans Werk ging, legt Alexandre Hennes zehnbändige Histoire de la Belgique (1858–1860) ab, die er in völlig überarbeiteter Form bereits 1865 erneut vorlegte. 1907 folgte die Histoire de Belgique von Henri Pirenne. Nicht zu übersehen ist auch Louis Gachards Artikel Charles-Quint in der belgischen Biographie nationale (1872), der mit über 430 Spalten Buchformat hat. Erwähnung verdient auch die frühe Arbeit von Théodore Juste, die viel facettenreicher ist, als ihr Titel Charles-Quint et Marguerite d’Autriche vermuten läßt. Karl V. wird – wie es Royall Tyler formuliert – „ein flämischer Nationalheros“.11 Die genannten Werke konnte ich ebenfalls auswerten; mit ihrer belgisch- oder besser: flämisch-nationalen Sichtweise fügten sie dem Untersuchungsmaterial eine neue Komponente hinzu.12 Es bleiben noch die beiden biographischen Arbeiten zu erwähnen, die sich explizit mit den Anfängen bzw. der Jugend Karls V. befassen:13 Andreas Walthers Buch ist aus seiner Dissertation über die burgundischen Zentralbehörden unter Maximilian I. und Karl V. (Leipzig 1909) hervorgegangen und basiert auf akribischen Studien der Akten vor allem des Archivs von Lille. Dementsprechend verfügt der Verfasser über außerordentliche Detailkenntnisse zu innerburgundischen New York 1962; Royall Tyler, The Emperor Charles the Fifth, London 1956, dt.: Kaiser Karl V., Stuttgart 1959; Manuel Fernández Álvarez, Charles V., London 1975, dt.: Imperator Mundi. Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Stuttgart und Zürich 1977; Fernand Braudel, Charles Quint, témoin de son temps 1500–1558, in: F. B., Écrits sur l’histoire, 2, 1966, dt.: Karl V. Die Notwendigkeit des Zufalls, Frankfurt/ Main 21994; Mia J. Rodríguez-Salgado, Karl V. und die Dynastie, in: Hugo Soly (Hg.), Karl V., 1500–1558, und seine Zeit, Köln 2000, 27–111. 11 Tyler 1959, 53 innerhalb einer Passage zum Verhältnis der beiden Volksgruppen im heutigen Belgien zu ihrer burgundischen Geschichte. 12 Alexandre Henne, Histoire de la Belgique sous le règne de Charles-Quint, 1, Brüssel/Paris 1865; Henri Pirenne, Histoire de Belgique, 3: De la mort de Charles le Téméraire à l’arrivée du Duc d’Albe dans les Pays-Bas (1567) [1907], Brüssel 41953; Louis Prosper Gachard, Art. Charles-Quint, in: Biographie nationale 3 (Brüssel 1872) 523–960; Théodore Juste, Charles-Quint et Marguerite d’Autriche. Étude sur la minorité, l’émancipation et l’avénement de Charles-Quint à l’Empire (1477–1521), Brüssel/Leipzig 1858. 13 Walther 1911; Delfosse 1923. Vgl. auch S. 1.

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Einleitung

Angelegenheiten, zu den großen Familien Burgunds, zu den einflußreichen Persönlichkeiten am Hofe, zu den Parteiungen und Querelen innerhalb des Landes: Man erfährt viel über das Umfeld des Prinzen, jedoch wenig über Karl selbst. Karl Brandi, der offensichtlich Walthers gründliche Arbeit sehr schätzte und sie häufig zitiert, charakterisiert das Buch als Studie „über die für Karls Regierungsanfänge maßgebenden Persönlichkeiten“14 und damit treffender als der vom Autor gewählte Titel. Der einzige Abschnitt, in dem Karl selbst im Mittelpunkt steht, umfaßt nur gut 11 Seiten am Schluß des Buches, als Teil des großen Kapitels zu Chièvres.15 Leider hebt sich gerade dieser Abschnitt in seiner schwülstigen Diktion und seinen verschwommenen Versuchen der Psychologisierung von der sonst sehr klaren Darstellungsweise Walthers so stark ab, daß er dem heutigen Leser nur schwer zumutbar ist.16 Da die Dissertation L. R. Delfosses einer der beiden Beiträge mit unmittelbarem Bezug zu meinem Thema ist, führe ich sie hier an. Brandi erwähnt diese Arbeit, doch immerhin die eines seiner Schüler, im Gegensatz zu der Walthers an keiner Stelle seiner so überaus detaillierten Hinweise in den „Quellen und Erörterungen“, dem 2. Band seiner Karls-Biographie. Delfosse – Flame aus Gent, wie er ausdrücklich betont – hatte sich zum Ziel gesetzt, „das historische Wissen vom Werden der Persönlichkeit Karls V. und vom Sinn seines inneren Lebens nach verschiedenen Seiten zu berichtigen und zu erweitern“.17 Großen Raum nimmt dabei die Geschichte Juanas von Kastilien, der Mutter Karls, ein, da sie „in bezug auf die Wesensgestaltung und Lebensstimmung des Kaisers die grösste Bedeutung hat“.18 Das zweite Anliegen des Autors war es, „die Ansicht, die Königin Juana von Castilien sei niemals geisteskrank gewesen, mit ausführlicher Beweisführung zu begründen suchen“ und damit „eine angeblich historische Tatsache in das Reich der Legende zu verweisen“.19 Ein Viertel der Arbeit besteht aus Anlagen, die sich ausschließlich auf die Situation Juanas beziehen.20 Eine erhebliche Rolle 14 Brandi 1941, 29. 15 Walther 1911, 201–212: „Das Werden der Persönlichkeit Karls V.“. 16 Viktor Ernst kommt in seiner Besprechung des Werkes (in: Historische Vierteljahrschrift 16 [1913] 308) zu einer ähnlichen Bewertung. Dort heißt es am Ende: „Nach dieser eingehenden Beschäftigung mit den Personen, unter deren Einfluß Karl V. heranwuchs, würde man wohl für die Entwicklung der Hauptperson selbst, nämlich eben Karls V., etwas mehr erwarten, als es der Verfasser am Schluß seines Werkes zu geben vermag, zumal wenn man die etwas schwerblütige Psychologie abzieht, in die das Ergebnis gehüllt ist. Nur ‘in die Vorhöfe des Persönlichen’, nicht ‘über die Schwelle des Heiligen’ werden wir in den ‘Anfängen Karls V.’ geführt.“ 17 Delfosse 1923, 1. 18 Delfosse 1923, 1. 19 Ebd. 20 Ebd. 76–101.

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spielt Juana außerdem in dem Abschnitt „Spanien, das Mutterland“.21 Damit tritt eine entschiedene Gewichtsverlagerung innerhalb der Arbeit ein zu Lasten der eigentlichen Themenstellung. Daher enttäuscht Delfosses Dissertation und erweist sich für meine Materialsammlung als wenig tauglich. Das Gesamtbild, das sich aus der hier aufgeführten biographischen Literatur von der Jugend Karls V. ergibt, wurde in einem zweiten Arbeitsschritt einer Analyse unterzogen, um Details herauszufiltern. Dabei galt besondere Aufmerksamkeit der Frage, wo ein Autor Zusatzinformationen liefert, wo sich Abweichungen von anderen Darstellungen oder gar Widersprüche ergeben. So kam eine Fülle von Einzelheiten zutage, die in einer großangelegten Biographie fast unbemerkt bleiben, die aber an Bedeutung gewinnen, wenn sich die Darstellung auf einen Lebensabschnitt beschränkt. – Der nächste Arbeitsschritt war das Aufspüren der Quellen, aus denen die Biographen ihre Kenntnisse gewonnen haben.

3. Quellen und Forschungsstand Unter dem Titel „Ein Blick 500 Jahre zurück: Bilanz und Defizite einer ‚endlosen‘ Forschungsgeschichte“ leitet A. Kohler den von ihm 2002 mitherausgegebenen Aufsatzband mit einem Überblick über das bisher in der Forschung zu Karl V. Geleistete ein.22 Ihrer grundlegenden Bedeutung entsprechend nimmt darin die Entwicklung der Quellenforschung seit dem 19. Jahrhundert breiten Raum ein. Kohler stellt hier den sich mit der Erschließung der Korrespondenz und der Akten des Kaisers aus den Archiven vor allem in Brüssel, Wien, Besançon, Paris und Simancas ständig erweiternden Kenntnisstand dar, beginnend mit der ersten Darstellung Karls V. in der neueren deutschen Geschichtsschreibung in Rankes Werk „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839), das noch allein auf den venezianischen und englischen Gesandtschaftsberichten fußt, und mit dem von Ranke angeregten Projekt einer Edition der Reichstagsakten. Durch den unermüdlichen Einsatz zunächst einzelner Forscher wie Karl Lanz, Charles Weiss und Louis P. Gachard entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten bedeutenden Quellensammlungen und -editionen, nachdem bereits 1839 Le Glay die Korrespondenz zwischen Maximilian I. und Margarete von Österreich veröffentlicht hatte. Es war die „große Zeit der Originaldokumente“,23 in der auch Karls V. autobiographische Aufzeichnungen, die Commentaires, wieder21 Delfosse 1923, 49–59. 22 Kohler 2002. 23 Tyler 1959, 364. Ebd. 364–369 findet sich eine Aufstellung der wichtigen gedruckten Quellen zu Karls Regierungszeit, nach Ländern geordnet. Einen Überblick über die wechselvolle Geschichte der Quellen und Archivbestände gibt Tyler 362 f.

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entdeckt und veröffentlicht wurden. Baumgarten war es wohl, der im Zuge der Studien zu seiner Biographie Karls V. die Bedeutung gerade der im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv lagernden umfangreichen Bestände an kaiserlicher Korrespondenz erkannte und auf deren Edition drängte. Seit 1912 ist man nunmehr in Wien mit der Erschließung eines wesentlichen Teilbestandes, der sog. Familienkorrespondenz Ferdinands I., beschäftigt, von der im Jahre 2000 der 4. Band erschienen ist.24 Baumgartens eigene Forschungen zur Korrespondenz Karls V. wurden von seinem Schüler Karl Brandi fortgesetzt; auf die vorzügliche Leistung des Brandi-Schülers Andreas Walther bei der Auswertung des ehemaligen Burgundischen Zentralarchivs in Lille wurde bereits hingewiesen. Eine bisher in ihrer Art nicht übertroffene, europaweite „konzertierte Aktion“ stellten die Archivstudien Brandis und seines etwa zehn Kollegen umfassenden Mitarbeiterstabes dar. Zwischen 1930 und 1942 wurden die Ergebnisse in den „Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen“ vorgelegt; sie bildeten darüber hinaus das Fundament für Brandis große Karls-Biographie, deren 2. Band, „Quellen und Erörterungen“, sich auch heute, mehr als 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, als unerschöpfliche Fundgrube für den Historiker erweist. Brandis Arbeit wurde ab 1969 mit dem „Konstanzer Projekt“ unter der Leitung von Horst Rabe und Heide Stratenwerth fortgesetzt. Bis 1999 wurden dort 100.000 Briefe aus der Politischen Korrespondenz Karls V. erfaßt und mit modernsten Methoden archiviert. Mit Hilfe der Datenverarbeitung erstellte Korrespondenzverzeichnisse sollen einem größeren Forscherkreis den Zugang zu einem Teil der Dokumente über das Internet ermöglichen.25 Dieser knappe Abriß zur Entwicklung und zum derzeitigen Stand der Quellenforschung zu Karl V. soll zwei grundsätzliche Schwierigkeiten verdeutlichen: die Überfülle des erhaltenen Materials einerseits und die sich dennoch immer aufs neue als schwierig erweisende Annäherung an Karl als Person andererseits. Namhafte Biographen Karls V. haben fast ausnahmslos als ein wesentliches Hindernis der Forschung die „schier unendliche Quellenfülle“ benannt, „deren Erschließung und Edition und somit Verfügbarkeit von jeher eine kaum zu bewäl-

24 Bisher sind ca. 1500 Briefe Ferdinands an Familienmitglieder, darunter an hervorragender Stelle an Karl V., gedruckt. Christopher F. Laferl, einer der Mitarbeiter an der Edition, hat berechnet, daß bei Beibehaltung des jetzigen Arbeitstempos (etwa 14 Briefe pro Jahr) die restlichen 7800 Stücke bis 2558 erschlossen sein dürften – 1000 Jahre nach dem Tode Karls V. (Kohler 2003, 26). 25 Rabe (Hg.) 1996. In diesem detaillierten Forschungsbericht haben Rabe und seine Mitarbeiter Zielsetzung und Vorgehensweise des gesamten Projektes ebenso vorgestellt wie Forschungsergebnisse in Form von Einzelstudien zu Teilbereichen der Herrschaft Karls. Vgl. auch http://karl-v.bsz-bw.de/index.htm.

Quellen und Forschungsstand

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tigende Aufgabe darstellten“.26 Von den seltenen Ausnahmefällen der Einzeledition von Dokumenten abgesehen, können Quellenforschung und -edition dieses Umfangs heute nur von Forscherteams, eingebunden in Institute oder Projekte, erfolgversprechend durchgeführt werden, wie es im Grunde schon die Arbeitsweise Brandis und seiner Kollegen beweist. Nun „erfolgen Quellenpublikationen [jedoch] nicht um ihrer selbst willen“, wie schon Baumgarten kritisch bemerkte;27 ihren eigentlichen Sinn erfüllen sie erst, wenn sie dazu beitragen, bisher offene Fragen der Forschung zu klären. – Als einzeln arbeitende, dazu stark ortsgebunden Historikerin weiß ich den Wert der Editionen zu schätzen, ohne die ich diese Arbeit nicht hätte in Angriff nehmen können. Auf die wesentlichsten der von mir ausgewerteten gedruckten Quellen gehe ich im folgenden ein. Informationen zu den ersten Lebensjahren Karls finden sich vor allem in den umfangreichen Werken der spanischen Hofchronisten, von denen mir in Neuausgaben bzw. Nachdrucken folgende zur Verfügung standen: (1) das bis 1525 reichende Opus Epistolarum des Petrus Martyr de Angleria. In diesem frühen Zeugnis rückt Karl ab 1504, nach dem Tode der Königin Isabella und der Veröffentlichung ihres Testaments, vermehrt in den Blickpunkt als präsumtiver Erbe der spanischen Reiche, nachdem der ferne Prinz, der in den Niederlanden heranwuchs, zuvor wenig Beachtung gefunden hatte; (2) die Crónica del Emperador Carlos V des Alonso de Santa Cruz, eine bis zum Jahr 1551 führende Biographie des ihm persönlich bekannten Kaisers, die Santa Cruz noch als dessen Cosmógrafo mayor verfaßte, ehe er unter Philipp II. Hofchronist wurde; (3) die Historia de la vida y hechos del Emperador Carlos V des Prudencio de Sandoval. Als Coronista Philipps III. und in dessen Auftrag begann Sandoval sein Werk vermutlich im Jahre 1600; bereits 1603 ging es in Druck. Sandoval und wahrscheinlich mehrere Mitarbeiter griffen auf wohl schon länger gesammeltes archivalisches Material zurück.28 Für die drei genannten Quellen gilt, daß die spanischen Historiographen vorwiegend Informationen aus bestenfalls zweiter Hand liefern. Nur Petrus Martyr, der Zeitgenosse dieser Jahre, kann ab 1517, nachdem Karl in Spanien eingetroffen ist, eigene Zeugnisse beisteuern. Im Jahre 1506, nach dem frühen Tode seines Vaters, Philipps des Schönen, richtete sich die Aufmerksamkeit ausländischer Diplomaten in erhöhtem Maße auf Karl, dessen Thronfolge in Spanien, wenn auch noch nicht gesichert, doch immer wahrscheinlicher wurde. Die Beobachtungen der venezianischen Vertreter fanden ihren Niederschlag in den berühmt gewordenen und viel zitierten Gesandtschaftsberichten. Zuerst ab 1839 von Eugenio Alberi veröffentlicht, erlebten auch diese Dokumente eine Neuauflage in überarbeiteter und chronologisch geordneter Form, 1970 vorgenommen durch Luigi Firpo.29 Neben den Venezianern waren es vor allem die englischen Diplomaten, die ausführliche Berichte über das politische Geschehen auf dem Kontinent an den Hof Heinrichs VIII. 26 Kohler 1999, 18 f. 27 Baumgarten 1885, IV. 28 Petrus Martyr; Sandoval; Santa Cruz. Zu den verwendeten Ausgaben vgl. das Quellenverzeichnis. 29 Firpo 1970.

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sandten. In der umfangreichen Sammlung Letters and Papers, Foreign and Domestic, of the Reign of Henry VIII finden sich etliche Dokumente mit Bezug auf Karl V. und seine nächste Umgebung. Unter dem Titel English Calendars zusammengefaßt bildeten die Originale dieser Schriftstücke bis weit in das 19. Jahrhundert eine der Hauptgrundlagen für die Forschung zur Regierungszeit des Kaisers.30 Im Original einsehen konnte ich Alfonso Ulloas La vita dell’ invittissimo Imperator Carlo Quinto in der Venezianer Ausgabe von 1573, nach Brandis Urteil eine „annalistische Sammelarbeit nach guten zeitgenössischen Vorlagen“.31 Eine Quelle besonderer Art sind weiterhin die von Gachard in drei Bänden herausgegebenen Berichte verschiedener Mitglieder des burgundischen Hofes über die Spanienreisen Philipps des Schönen und Karls V. Es handelt sich dabei um außerordentlich anschauliche Schilderungen, in denen viele Details erwähnt werden, die ein professioneller Chronist vermutlich übergangen hätte.32 Eine herausragende Leistung der modernen spanischen Geschichtsforschung stellt die fünfbändige Sammlung der Korrespondenz Karls aus den Jahren 1516–1558 dar, von seinem Herrschaftsantritt in Spanien bis zu seinem Tode in Yuste. Unter der Leitung von M. Fernández Álvarez wurde das umfangreiche Material aus den spanischen Archiven zwischen 1973 und 1981 als Corpus Documental de Carlos V ediert.33 Die von Le Glay, Lanz, Gachard und Bauer herausgegebenen bedeutenden Korrespondenzsammlungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts34 dienten mir als wesentliche Quellen für Karls Jugendjahre in den Niederlanden.35 Diese frühen Sammlungen erfuhren eine bedeutende Ergänzung durch die Edition eines 1983 im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv entdeckten Konvoluts von Briefen Karls an den Infanten Ferdinand (I.) aus den Jahren 1514–1517. Danila Cole Spielman und Christiane Thomas haben damit eine Primärquelle ersten Ranges zu Karls Vormundschaft für den jüngeren Bruder erschlossen.36 Aus der burgundischen Heimat Karls stammen zwei schöne Quellen, die einen Eindruck vermitteln von den Festlichkeiten anläßlich der Emanzipation des jungen Herzogs im Jahre 1515: La tryumphante et solennelle entree faicte sur le nouvel et ioyeux advenement de... monsieur Charles prince des Hespaignes archiduc daustrice duc de Bourgongne... en sa ville de

30 Die erste Edition übernimmt noch den alten Titel: John Sh. Brewer, James Gairdner (Hgg.), Calendar of letters, foreign and domestic, relating to the reign of Henry VIII, 22 Bde., London 1862–1932. Brewers Arbeit wurde von Robert H. Brodie fortgesetzt; seine Neuausgabe wurde hier benutzt: Brodie 1920. 31 Ulloa 1573. Zit.: Brandi 1941, 18 f. m. Anm. 1. 32 Voyages I–III. 33 Hier benutzt: Bd. 1 für die Jahre 1516 bis 1539 (im folgenden: CDCV I). 34 Le Glay 1839; Lanz 1844; Gachard 1859; Bauer 1912. 35 Es sollte schon an dieser Stelle angemerkt werden, daß sich unter der „Familienkorrespondenz“ keine rein privaten Briefe finden, wie sie gerade im Hinblick auf diese Arbeit hätten aufschlußreich sein können. Es handelt sich vielmehr um den Briefverkehr Ferdinands I. mit seiner engeren und weiteren Familie in politischen Angelegenheiten. Eine ganz persönliche Bemerkung oder Frage ist die Ausnahme darin. Vgl. Kohler 2003, 25. 36 Spielman/Thomas 1984.

Quellen und Forschungsstand

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Bruges, lan mil 5 ce[n]s et xv le xviiie iour dapvril... redigee en escript par maistre Remy du puys37 und eine heute unter dem Titel Lofzangen ter eere van keizer Maximiliaan en zijn kleinzoon Karel den Vijfde geläufige Sammlung von Texten, Musik und Holzschnitten aus Antwerpen.38 Nur in wenigen Punkten als hilfreich dagegen erwies sich eine sprachlich bearbeitete und inhaltlich gekürzte Schulausgabe des Volksbuches De heerlijke en vroolijke daden van keizer Karel, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu diente, die Erinnerung an den großen Kaiser in Belgien wachzuhalten. Die schlichten Erzählungen setzen erst mit Begebenheiten ab 1521 und somit zu spät für meine Belange ein.39 Daß auch außerhalb der engsten Heimat Karls Eintritt in den Kreis der erwachsenen Fürsten gebührend und in zeittypischer Weise gefeiert wurde, bezeugt eine vorzügliche literarische Quelle: das allegorisch-mythologische Festspiel Voluptatis cum Virtute disceptatio des Wiener Schottenabtes und bedeutenden Humanisten Benedictus Chelidonius, das anläßlich des Wiener Fürstentages 1515 zur Aufführung kam.40 Im Reich war Karl vor seiner Wahl zum Römischen König 1519 wenig bekannt; erst in der Polarisierung des Wahlkampfes erlangte er als Gegenkandidat des französischen Königs eine gewisse Popularität, die sich anläßlich seiner Krönung zu Aachen 1520 steigerte. So findet sich bezeichnenderweise keines der bedeutenden Archive auf dem Boden des Alten Reiches, wo Karl auch in seinen späteren Jahren keine feste Residenz hatte. Wenn dieser letzte „Reisekaiser“ residenzähnliche Orte für längere Aufenthalte bevorzugte, so lagen sie in der flämischen Heimat oder in Spanien. In Deutschland, dem Kerngebiet des Reiches, weilte er vorwiegend zu Reichstagen – oder er führte Krieg. Daher sind seine Regierungsjahre hier in erster Linie durch die Reichstagsakten41 dokumentiert, wenn auch die eine oder andere Stadt in ihrer Chronik einen Aufenthalt des Kaisers vermerkt und, so wird wenigstens vermutet, in den Archiven einiger Adelsfamilien noch unveröffentlichte Quellen ruhen. Im Gegensatz zu der bis heute populären Gestalt seines Großvaters, Maximilians I., des „letzten Ritters“,42 blieb Karl für die Deutschen vorwiegend der „Spanier“ auf dem Kaiserthron, ein ferner Kaiser, „in dessen Reich die Sonne nicht unterging“. Vor allem aber prägte er sich dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen ein als der – katholische – Kaiser, vor dem Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms seine Lehre verteidigte. Die stark protestantisch geprägte deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat nicht wenig zu dieser einseitigen Sichtweise beigetragen. Angesichts dieser Quellenlage in Deutschland stellten daher die von Alfred Kohler bzw. Inge Wiesflecker-Friedhuber bear-

37 Benutzt wurde der Nachdruck von 1850 (im folgenden: Dupuys). Vgl. Quellenverzeichnis. 38 Lofzangen (Faksimileausgabe; vgl. Quellenverzeichnis). 39 Daden van keizer Karel. Das Volksbuch erschien erstmals 1674; die Antwerpener Neuausgabe o.J. stammt vermutlich von 1912. 40 Chelidonius 1515. Für den Hinweis und die Überlassung des Textes und darüber hinaus für das immer wieder bekundete Interesse am Fortgang meiner Arbeit danke ich ganz herzlich Prof. Dr. Claudia Wiener, München. 41 In geringem Umfang wurden A. Kluckhohns und A. Wredes Editionen der „Deutschen Reichstagsakten“ für die Zeit Karls V. (im folgenden: RTA I–II) benutzt. 42 Noch Baumgarten schrieb von „unserem Maximilian“ (1885, 9).

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beiteten Sammlungen „Quellen zur Geschichte Karls V.“43 und „Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit“44 eine wertvolle Hilfe dar. Unter dem Titel „Der Großkanzler Kaiser Karls V. zieht Bilanz“ legte Ilse Kodek unlängst die Übersetzung der Autobiographie Mercurino Gattinaras aus dem Lateinischen vor;45 damit konnte eine Lücke in meiner Materialsammlung geschlossen werden, denn der von Carlo Bornate besorgte Abdruck der lateinischen Fassung46 war mir nicht zugänglich. Als Quellen zur weiteren Erhellung des geistigen Umfelds, in dem Karl heranwuchs, diente mir neben einigen kleineren pädagogischen Schriften des Erasmus von Rotterdam vor allem seine Institutio Principis Christiani.47 Ebenso einbezogen wurde eine neue Edition von Olivier de La Marches Le Chevalier délibéré,48 des Buches, das Karl ein Leben lang begleitete.

Was bisher zur Problematik der Quellenfülle und ihrer Edition sowie zu den allein für einen Ausschnitt aus der Biographie Karls V. auszuwertenden Materialien gesagt wurde, könnte vermuten lassen, daß sich Kohlers eingangs zitierte Worte von der „endlosen Forschungsgeschichte“ allein auf diesen Komplex bezögen. Daß dem nicht so ist, betont Kohler selbst nicht nur in dem genannten Aufsatz, sondern auch in der Einleitung zu seiner großen Biographie Karls V., wenn er auf die zahlreichen Fragenbereiche hinweist, die noch wenig aufgearbeitet sind – trotz über 150-jähriger intensiver Forschung, trotz der großen Zahl monographischer Arbeiten zu Einzelaspekten, trotz – oder wegen – der Fülle an Quellen: Zu den wenig erforschten Bereichen zählt Kohler auch „verschiedene Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung Karls“,49 die er leider – bis auf die Frage nach Karls Religiosität – nicht näher spezifiziert, und weist damit auf das zweite erhebliche Problem hin, das sich der Forschung bei der „biographischen Annäherung“ (Kohler) an die Persönlichkeit des Herrschers stellt. Einen bedeutenden Beitrag zu diesem Thema stellt ein Aufsatz von Heinrich Lutz dar, den er „Karl V. – Biographische Probleme“ überschrieb.50 Ebenfalls von dem Mißverhältnis zwischen der Fülle des biographischen Materials und den daraus bisher gewonnenen Erkenntnissen zur Person des Kaisers ausgehend, zeigt er in einer scharfsinnigen 43 Im folgenden: QSKV. (vgl. Quellenverzeichnis). 44 Im folgenden: QSMI. (vgl. ebd.). 45 Kodek 2004. An dieser Stelle möchte ich Frau Dr. Martina Fuchs, Institut für Geschichte der Universität Wien, herzlich für die Zusendung des quasi druckfrischen Bandes danken. 46 Historia vite et gestorum per dominum magnum Cancellarium Mercurino Arborio di Gattinara, in: Miscellanea di storia italiana, ser. 3, 17 (1915) 231-585. 47 Institutio Principis Christiani. Die Erziehung des christlichen Fürsten. In der eingeleiteten und annotierten Übersetzung von Gertraud Christian, in: Erasmus ed. Welzig 111–357. 48 La Marche ed. Carroll. 49 Kohler 2002, 16 f.; ders. 1999, 22 f. 50 Lutz 1979.

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Analyse, immer gestützt auf konkrete Beispiele aus Quellen und Literatur, die Faktoren auf, die eine Annäherung an die Persönlichkeit Karls verhindern oder zumindest erschweren.51 Zwischen dem Erscheinen von Lutz’ Aufsatz und Kohlers hier genannten Arbeiten liegt ein gutes Vierteljahrhundert intensiver Forschung; die Persönlichkeit des Kaisers aber, die sich auch seinen Zeitgenossen eher verschloß als erschloß, entzieht sich immer noch weitgehend dem forschenden Blick der Historiker.Wenn ich gerade auf dieses weitgehend ungelöste Problem hier näher eingehe, so deshalb, weil der Bezug zu meiner eigenen Fragestellung unübersehbar ist: Im Rahmen einer Untersuchung, in deren Mittelpunkt die Jugend und Erziehung eines Menschen stehen, wäre es nur konsequent, dem Einfluß der vorgefundenen Rahmenbedingungen auf die Persönlichkeitsentwicklung nachzugehen. Damit aber stehe ich vor der gleichen Schwierigkeit, wie Kohler und Lutz sie beschrieben haben: Auch für die Jugendjahre Karls gilt, daß der Blick auf seine Person weitgehend verstellt ist. Hier sind es die Gestalten seiner Erzieher und Berater mit ihren Wertvorstellungen und beherrschenden Ideen, hinter denen der junge Prinz vielfach verborgen bleibt. Es gilt deshalb, Momente aufzuspüren, in denen er aus ihrem Schatten heraustritt und als Persönlichkeit sichtbar wird. Diese „Momentaufnahmen“ erlauben jedoch m.E. nur vorsichtige Aussagen zur 51 Die von Lutz und Kohler genannten Ursachen können hier nur kurz referiert werden: Lutz hebt hervor, daß viele zeitgenössische Zeugnisse, die zunächst den Anschein der Objektivität erwecken, immer im Kontext ihrer politischen Bedeutung zu sehen sind; das gilt in besonderem Maße auch für die Gesandtenberichte aus Karls frühen Jahren. Anderen Darstellungen wiederum liegt eine moralische Erzählabsicht zugrunde: In naiven Schilderungen von Begebenheiten aus seinem Alltagsleben kommt dem Kaiser zunächst Vorbildfunktion zu, es setzt aber auch bereits seine Verherrlichung ein. Hier sei nochmals auf die „Volksbücher“ verwiesen, die bis ins 20. Jahrhundert in adaptierter Form Schullektüre in Belgien waren. Von den politischen Gegnern Karls in Europa, insbesondere von französischer Seite, wird man kaum eine objektive Charakterisierung des Kaisers erwarten dürfen, ebenso wenig wie von den zwangsläufig parteiischen Quellen zu Fragen von Glaubensspaltung und Reformation. In schriftlichen Zeugnissen und politischen Entscheidungen des Kaisers tritt, mit reiferen Jahren zunehmend, die Person hinter der „Sache“ (Lutz) noch weiter zurück. Es ist der Kaiser, die Institution, nicht der Mensch Karl, der sich äußert und handelt. Die Selbstdarstellung dieser „Institution“ ist nach Kohler das Haupthindernis, das einem Vordringen zur Person Karls im Wege steht: Unter meisterhafter Nutzung der frühneuzeitlichen Medien, die schon Maximilian I. und Margarete v. Österreich einzusetzen wußten, wird einer immer breiteren Öffentlichkeit ein Bild davon vermittelt, wie der Kaiser gesehen zu werden wünscht. Diese Beispiele der Selbstdarstellung, ob sie nun in Flugschriften und Werken der bildenden Kunst, in vom Kaiser in Auftrag gegebenen Chroniken oder in den Berichten der Hofchronisten von herausragenden Ereignissen erhalten sind, haben über Jahrhunderte nicht nur der „gedechtnus“ des Kaisers bei seinen Völkern gedient, sondern sie waren und sind auch unter den Quellen, aus denen die Historiker schöpfen.

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Persönlichkeitsentwicklung Karls. Sie zum Ausgangspunkt einer nur scheinbar profunden Psychologisierung zu machen, wie Walther und Delfosse es versucht haben, halte ich für gewagt. Eine wertvolle Ergänzung zu den spärlichen Zeugnissen zur Person des jungen Karl stellen die zahlreichen Bildnisse des Prinzen dar, die vorwiegend im Auftrag Margaretes von Österreich am burgundischen Hof geschaffen wurden. Darüber hinaus erlauben einige der Porträts Aussagen zur Stellung des Kaiserenkels aus der dynastischen Perspektive des Hauses Burgund-Österreich.

4. Die Hauptthese Nach der Auswertung der mir zugänglichen Quellen, von Biographien und zahlreichen monographischen Arbeiten zum Themenbereich „Jugend und Erziehung Karls V.“ glaube ich folgende These vertreten und ihre Tragfähigkeit durch meine Ausführungen belegen zu können: Die Erziehung Karls war vorwiegend die traditionelle, vom überkommenen Ritterideal geprägte eines Herzogs von Burgund. Wenig wurde er auf seine weitaus größeren Aufgaben als Herrscher über ein Reich aus Völkern verschiedener Sprachen, Herrschafts- und Lebensformen vorbereitet. Die einflußreichen Erzieher wie auch die ersten Berater des vaterlosen bzw. elternlosen jungen Fürsten gehörten der Großvätergeneration an, so daß von ihnen eine auf neue Ziele gerichtete Lenkung kaum erwartet werden konnte. Die erstaunlich „modern“ anmutenden Ratschläge des Erasmus von Rotterdam in seiner Institutio Principis Christiani wurden dem jungen Herzog 1515 anläßlich seiner Mündigkeitserklärung gewidmet – zu spät, um noch im Sinne des Erasmus wirklich wirksam werden zu können, der sich für eine Erziehung von Geburt an aussprach. Mercurino Gattinara indes, Großkanzler Karls V. von 1518–1530, vertrat mit seinem Konzept der Monarchia Universalis als Herrschaftsform für ein Weltreich nie gekannten Ausmaßes eine Vorstellung von „Weltherrschaft“, die tief in mittelalterlichem Denken verwurzelt war und von der Voraussetzung einer die Oikumene umspannenden respublica Christiana ausging. In einer Epoche, in der sich Nationalstaaten ebenso herauszubilden begannen wie Ansätze zu frühabsolutistischer Herrschaft, in der die christliche Welt sich im Glauben spaltete, konnte einer Monarchia Universalis keine zukunftsweisende Bedeutung zukommen. Wägt man die Kräfte gegeneinander ab, die während seiner Jugend und in seiner Erziehung auf Karl V. einwirkten und zur Ausbildung seiner Auffassung von Herrschaft wesentlich beitrugen, so hat mindestens bis etwa 1530, bis zum Tode Gattinaras und Margaretes von Österreich, Rassows Terminus vom „letzten Kaiser des Mittelalters“ seine volle Berechtigung. Erst mit der wachsenden Eigenständigkeit Karls, mit der Befreiung vom übermächtigen Einfluß der älteren, dem

Die Hauptthese

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Mittelalter verhafteten Generation, begann er in die neue, in seine eigene Zeit hineinzuwachsen, wenn er auch „immer noch viele Züge des Zeitalters weitertrug, aus dem er hervorgewachsen war“ – um es mit einer Abwandlung des eingangs zitierten Burckhardt-Wortes zu sagen.52

52 Vgl. S. 1 Anm. 2.

I. Frühe Jahre im Bannkreis des burgundischen Hofes und seiner Tradition

1. Der burgundische Hof der Margarete von Österreich als Erziehungsmilieu Als im Januar 1495 der Vorvertrag zu einem doppelten Heiratsbündnis zwischen den Häusern Trastámara und Habsburg-Burgund unterzeichnet wurde, verfolgten die Vertragspartner, der Römische König Maximilian I. und das spanische Königspaar Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, damit eindeutig gemeinsame politische Ziele: die Einkreisung Frankreichs durch eine „große Koalition“ seiner Nachbarn, d.h. Spaniens und der burgundischen Niederlande,1 sowie – wiederum gegen Frankreich gerichtet – die gegenseitige Unterstützung bei der Wahrung der jeweils eigenen Interessen in Italien. Dem Vertrag durch ein „ewiges Freundschaftsbündnis“ weiteres Gewicht zu verleihen scheint vergleichsweise einfach gewesen zu sein gegenüber dem Aushandeln der gegenseitigen Erbansprüche der künftigen Ehepartner, denn Stärkung und möglicher Machtzuwachs der eigenen Dynastie waren zusätzliche Anliegen – keineswegs nur des Österreichers: Vor allem die Spanier scheinen darauf gehofft zu haben, daß ihr Erbprinz in Zukunft nicht nur Kastilien und Aragon unter seiner Herrschaft vereinigen würde, sondern daß ihm über seine Gemahlin auch das burgundischniederländische Erbe zufallen könnte.2 Daß einer ihrer noch ungeborenen gemeinsamen Enkel einmal Herrscher über diese weiten Reiche und die spanischen Besitzungen in der Neuen Welt sein würde, konnten sie nicht ahnen; noch weniger konnten sie vorhersehen, durch welche Verkettung „dynastischer Zufälle“ ihm dieses Erbe zufallen würde. Zunächst mußte jedoch der Vorvertrag in die Realität umgesetzt werden: Am 5. November 1495 wurden die Ehen zwischen Maximilians Sohn Philipp und Juana, der zweitältesten Tochter der Katholischen Könige, sowie zwischen Maximilians Tochter Margarete und dem spanischen Thronfolger Juan per procuram geschlossen.3 Im Oktober 1496 traf die siebzehnjährige Juana in den Niederlan1 2 3

Fast zeitgleich, am 31. März 1495, schlossen sich der Römische König, Spanien, der Papst, Mailand und Venedig in der „Heiligen Liga“ gegen Frankreich zusammen. Vgl. Kohler 1999, 36 f. Die Vertragsurkunde Maximilians und des Franciscus de Rojas als Vertreter der spanischen Könige über die Doppelheirat findet sich (in dt. Übersetzung aus dem Lat.) in QSMI. 61–65, Nr. 14. Tamussino 1995, 51.

Der burgundische Hof der Margarete von Österreich

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den ein, die gleichaltrige Margarete erreichte Spanien im Frühjahr 1497. Beide begegneten ihren ebenso jugendlichen zukünftigen Gatten erstmals kurz vor der Trauung. Margaretes Ehe war nur von kurzer Dauer, denn bereits Anfang Oktober 1497 starb der spanische Erbprinz. Sein früher Tod war nur der erste in der Reihe der oben erwähnten „dynastischen Zufälle“: In rascher Folge trafen drei weitere Todesfälle in der jungen und der jüngsten Generation das spanische Königshaus schwer, so daß die Sorge um die Zukunft der Dynastie wuchs.4 So richteten sich alle Hoffnungen auf Juana, als ihr, als der zweitältesten Tochter Isabellas und Ferdinands, im Juli 1500 die Rolle der Thronfolgerin zufiel, zumal aus ihrer Ehe mit Erzherzog Philipp bereits zwei Kinder hervorgegangen waren: 1498 kam die Tochter Eleonore in Brüssel zur Welt, und – aus dynastischer Sicht wesentlich bedeutsamer – am 24. Februar 1500 wurde in Gent der ersehnte erste Sohn des Paares geboren: Karl. Nach spanischem Brauch mußten die Cortes, die Stände der beiden Königreiche, die Thronfolger noch zu Lebzeiten der Herrscher bestätigen, ihnen ein gewisses Mitspracherecht bei der Regierung einräumen und ihnen huldigen. In berechtigter Sorge um die Sicherung der Erbfolge drängten die Katholischen Könige auf baldiges Erscheinen des Thronfolgerpaares in Spanien.5 Auch erschien ihnen wichtig, daß Philipp, der Landfremde, sich rechtzeitig mit den Reichen vertraut machte, über die er in Zukunft an der Seite seiner Frau herrschen sollte.6 Erst im Spätherbst des Jahres 15017 brachen Philipp und Juana zu 4

5 6

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Zum Zeitpunkt von Juans Tod erwartete Margarete ein Kind. Die Angaben darüber, ob dieses Kind, ein Mädchen oder ein Knabe, im Dezember 1497 tot zur Welt kam oder gleich nach der Geburt starb, sind widersprüchlich. Vgl. Tamussino 1995, 72 f. Für kurze Zeit galt dann Isabella, die älteste Tochter der Katholischen Könige, die mit König Manuel von Portugal verheiratet war, als Thronerbin. Sie starb aber bereits 1498 bei der Geburt ihres Sohnes Miguél. Dieses Kind, auf das sich Spaniens Hoffnung richtete und das von den Cortes als Erbe anerkannt wurde, starb am 20. Juli 1500 mit noch nicht einmal zwei Jahren. Eine erste Notiz dazu in Petrus Martyr, epist. 215 (p. 400–401 W., 29. Juli 1500). Welcher Art diese Herrschaftsbeteiligung Philipps sein sollte, ist nicht klar ersichtlich, zumal die Rechtslage in Kastilien und Aragon verschieden war. Darin liegt wohl z.T. die Ursache der schweren Konflikte zwischen dem Erzherzog und Ferdinand von Aragon in den Jahren 1504–1506. Lt. Kohler 1999, 39 am 31. Oktober; lt. Henne 1865, 8 am 4. November. Aufschluß über die Herkunft der unterschiedlichen Daten liefert die von Gachard besorgte Edition der zeitgenössischen Reiseberichte. Die Relation du premier voyage de Philippe le Beau en Espagne en 1501, par Antoine de Lalaing, Sr. De Montigny vermerkt (Voyages I 126): Mondit signeur et madicte dame sa femme [d.h. Philipp der Schöne und Juana], l’an d’humaine salvation XVe et ung, quatriesme jour de novembre, partirent de leur ville de Bruxelles [...]; Gachard ergänzt dazu (ebd. Anm. 5): „Ils avaient quitté Malines, où ils laissèrent leurs enfants, le 31 octobre 1501. (Compte premier de Simon Longin, maître de la chambre

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Frühe Jahre im Bannkreis des burgundischen Hofes und seiner Tradition

dieser mehrfach verschobenen Huldigungsreise auf, nachdem Juana sich von der Geburt ihres dritten Kindes, Isabella (geb. am 18. Juli 1501 in Brüssel), so weit erholt hatte, daß sie den Strapazen der Reise gewachsen schien. Für die Zeit seiner und Juanas Abwesenheit, deren Dauer schwer abschätzbar war, hatte Philipp Vorsorge getroffen: Die Statthalterschaft in den Niederlanden (lieutenance générale) vertraute er Graf Engelbert von Nassau an, dem er einen Rat erfahrener Minister zur Seite stellte, die schon Maximilian gedient hatten und mit allen Staatsgeschäften vertraut waren.8 Als Aufenthaltsort seiner drei kleinen Kinder bestimmte Philipp Mecheln und übergab sie der Obhut der Herzoginwitwe von Burgund, der dame douairière von Cleve-Ravenstein und des Großkanzlers.9 „Herzoginwitwe von Burgund“ lautete der offizielle Titel der Margarete von York, einer Schwester des englischen Königs Edward IV. Sie war die zweite Frau Karls des Kühnen gewesen10 und lebte, nachdem ihr Gatte 1477 bei Nancy gefallen war, bis zu ihrem Tode 1503 am burgundischen Hof. Selbst kinderlos geblieben, erzog sie ihre Stieftochter Maria von Burgund, dann deren Kinder, die Halbwaisen Philipp und Margarete von Österreich, um gegen Ende ihres Lebens noch einmal die Verantwortung für Philipps Kinder, ihre Stief-Urenkel, mitzutragen. Madame la Grande wurde sie auch genannt, und darin kommen die Verehrung und die Liebe zum Ausdruck, die ihre Zöglinge ihr entgegenbrachten. Anne de Bourgogne war die Witwe des Adolphe de Clève, Herrn von Ravenstein, eines der letzten Abkömmlinge Philipps des Guten, und somit Repräsentantin einer der vornehmsten Familien des Landes. So entsprach die Wahl der Personen, denen Philipp sein Land und seine Kinder anvertraute, den Vorstellungen der edelsten Geschlechter Flanderns, der „Familien von Geblüt“, die es als ihr Vorrecht ansahen, der Dynastie als Regenten und Vormünder zu dienen.11 Weshalb bestimmte Philipp nun, daß die Kinder nach Mecheln übersiedeln sollten, obwohl die erzherzögliche Familie bis zu diesem Zeitpunkt zunächst in Brüssel, dann in Gent residiert hatte? In Brüssel hatte das junge Fürstenpaar im alten Herzogshof, dem „Hof von Brabant“, gelebt. Dort wurde Eleonore, das erste Kind, geboren, dort wurde sie mit großer Prachtentfaltung und unter dem

aux deniers du duc Charles de Luxembourg et des princesses ses sœurs, du dernier octobre 1501 au 31 décembre 1502, aux archives de Lille.)“ 8 Henne 1865, 7. 9 Ebd. 8. 10 Nach Tyler 1959, 49 war sie die dritte Frau Karls des Kühnen. Maria von Burgund entstammte danach dessen zweiter Ehe mit Isabella von Bourbon. Jurewitz-Freischmidt 2000 nennt im Anhang (Stammtafel des Hauses Burgund) die drei Gemahlinnen Karls des Kühnen: Catherine de France, Jeanne [?] de Bourbon, Margaret of York. 11 Brandi 1964, 29.

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Jubel der Bevölkerung in St. Gudula getauft,12 dort wurde der erste „Wiegenhaushalt“ eingerichtet, dessen Leitung, nach eifersüchtigem Wettstreit unter mehreren Damen von Adel, Anne de Beaumont zugesprochen wurde, die als eine der Ehrendamen die junge Fürstin in die Niederlande begleitet hatte; auch sie war vornehmer Abkunft, aus der Familie der Könige von Navarra. Bereits nach einem Jahr verlegte Philipp seine Residenz nach Gent, in die alte Hauptstadt Flanderns, wo die Familie im Prinsenhof, einem „spätmittelalterlichen Wasserschloß von mäßigem Umfang“,13 Wohnung nahm. In diesem Schloß wurde „Karl von Gent“,14 wie das Kind im Volksmund genannt wurde, am 24. Februar 1500, dem 12 Die Prinzessin wurde, auf Wunsch ihres Großvaters und Paten Maximilian, auf den Namen Eleonore getauft, zur Erinnerung an seine eigene Mutter, Eleonore von Portugal. Eine ausführliche Schilderung der Tauffeierlichkeiten findet sich bei Moeller 1895, 7–10. Moeller greift dabei auf den Bericht des langjährigen burgundischen Hofchronisten und -dichters Jean Molinet zurück. 13 Lahnstein 1979, 46. Der Prinsenhof war schon zur Zeit Philipps II. im Verfall begriffen, wie Lahnstein (48) durch ein Zitat des zeitgenössischen Chronisten Bartholomäus Sastrow belegt. Heute erinnern nur noch Mauerreste und der Straßenname „Prinsenhof“ an die Geburtsstätte Karls V. 14 Der Name „Karl“ tritt bei den Habsburger Vorfahren nicht auf. Mit der Namensgebung wurde ganz bewußt Bezug genommen auf den burgundischen Urgroßvater Karl den Kühnen und die glanzvolle Epoche Burgunds, ehe es 1477 an Frankreich zurückging. So war diese Namensgebung Programm, und es ist bekannt, wie lange Karl dieses Programm verfolgte, das ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde, nämlich die Rückgewinnung des Herzogtums. Bereits bei der Namenswahl von Karls Vater Philipp hatten dessen Eltern, Maria von Burgund und Maximilian, an die burgundische Tradition angeknüpft. Daß die Namen Karl und Philipp seit Generationen im französischen Königshaus üblich waren, war Maximilian zweifellos klar, ebenso, daß die Familie Karls des Kühnen einer Nebenlinie der Valois entstammte. Damit bedeutete die Namenswahl für den Enkel aber mehr als nur die Fortsetzung einer burgundischen Tradition: Sie dokumentierte Maximilians Überzeugung von der Ebenbürtigkeit des Hauses Österreich-Burgund mit den Valois und verlieh somit auch dem Anspruch auf das Herzogtum Burgund erhöhtes Gewicht. Der spanische Chronist Prudencio de Sandoval betont um 1600 die Verwandtschaft Karls mit dem (ehemaligen) französischen Königshaus: Diéronle el nombre de Carlos en memoria de su bisabuelo Carlos de Valoys, duque de Borgogna (Sandoval 18). Sandoval gibt auch einen Grund dafür an, daß Philipp seinem Sohn bereits anläßlich der Taufe den Titel eines Herzogs von Luxemburg verlieh: [...] su padre le dió el Estado de Lucemburg con titolo de duque, como lo habían tenido los Césares, sus pasados, el emperador Sigismundo, el emperador Carlos, cuarto de este nombre, y Wincislao, reyes de Bohemia y Césares famosísimos (ebd.). Geht man davon aus, daß diese Interpretation der Titelverleihung aus spanischer Sicht zumindest teilweise den damit verbundenen Intentionen entspricht, was angesichts Maximilians langjährigem Streben nach der Kaiserkrone durchaus wahrscheinlich ist, so kommt darin die hohe Erwartung zum Ausdruck, die sich auf den Neugeborenen richtete – eine Erwartung, der gerecht zu werden für den Heranwachsenden eine schwere Hypothek sein sollte.

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Tag des Apostels Matthias, geboren.15 Getauft wurde er am 7. März in der Kirche St-Jean (heute St-Bavo bzw. St. Baafs) – Anlaß zu Festlichkeiten, wie die Stadt sie noch niemals gesehen hatte.16 Weshalb aber bestimmte nun Philipp Mecheln zum Aufenthaltsort seiner Kinder, obwohl auch Erasmus von Rotterdam, der wahrlich viele Städte kennengelernt hatte, Gent über alle Maßen pries?17 Zwei Gründe waren ausschlaggebend: Philipp selbst war in Mecheln aufgewachsen. In den politisch unruhigen Jahren, als der Prinz noch unmündig war und Maximilian sich und seinen Kindern nach dem Tode Marias von Burgund das niederländische Erbe erkämpfen mußte, als die großen Städte wie Gent und Brügge von ihm abfielen und rebellierten, war Mecheln der Dynastie immer treu verbunden geblieben, so daß der Kaiser später dem Stadtwappen die Devise in fide constans hinzufügen ließ.18 Wenn Philipp nun für die Zeit seiner Abwesenheit und der Unmündigkeit seines Sohnes ähnliche Unruhen befürchtete, so wußte er seine Kinder in Mecheln sicher aufgehoben. Vor allem aber hatte dort im Hôtel de Bourgogne oder Keyzerhof Margarete von York – Madame la Grande – ihren Witwensitz. In deren geräumiges Stadthaus, den alten Hof des Bischofs von Cambrai, weder Palast noch Schloß, zog der „Wiegenhaushalt“ ein. Lahnstein spricht von einem „spätgotischen, etwas düsteren Bau von bescheidenem Umfang, aber behaglich eingerichtet“.19 Der Keyzerhof lag in einem ruhigen Winkel, wo man nichts von der Geschäftigkeit der Stadt spürte. Das Viertel der Handwerker erstreckte sich entlang des Flüßchens Dyle, auf dem ein lebhafter Warenverkehr herrschte. Unter den 15 Verschiedene Autoren, u.a. Lahnstein (1979, 46) und Tamussino (1995, 80) kolportieren die höchst unwahrscheinliche Geschichte von dem angeblich dramatischen Verlauf von Karls Geburt, wonach seine Mutter während eines Balles von den Wehen überrascht wurde und ihren ersten Sohn in einem Nebengelaß des Festsaals zur Welt brachte. Moeller (1895, 11 Anm. 1) verweist diese Geschichte in das Reich der Legenden, wie sie im Volksbuch Heerlijke daeden van Keizer Carel weite Verbreitung fanden. Daß man bei Hofe sehr wohl auf die Geburt vorbereitet war, belegt Moeller mit dem Hinweis auf zwei Einträge in Archives du Nord, B 2169, fol. 58 u. 136: „dès le 7 février, Philippe le Beau écrit à l’abbé d’Anchin pour demander une relique, l’anneau dit de la Vierge, à l’usage des femmes en couches [...] et héberge à Gand pendant quinze jours deux religieux porteurs de cette relique.“ 16 Z.T. sehr detaillierte Berichte über die Tauffeier in Gent und die fröhlichen Feste in anderen Städten, u.a. in Nürnberg, wo sich Maximilian aufhielt, finden sich bei verschiedenen Autoren: Santa Cruz 2; Sandoval 17 f.; Gachard 1872, 524; Moeller 1895, 11; Lahnstein 1979, 46 f.; Tamussino 1995, 80 f. 17 Ich glaube nicht, daß man in der ganzen Christenheit eine Stadt findet, die mit Gent den Vergleich aushält an Umfang und Macht, was seine [!] öffentlichen Einrichtungen betrifft und die Natur ihrer Einwohner (zit. bei Lahnstein 1979, 46). 18 Moeller 1895, 34. 19 Lahnstein 1979, 53.

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sechzehn Zünften waren alle Gewerbe vertreten, die zur Deckung des täglichen Bedarfs der Bürger erforderlich waren; einige der wichtigsten, wie die Gerber, Glocken- und Kanonengießer und Tuchmacher arbeiteten auch für den Export. Die Handwerker lebten dort, wo sie auch arbeiteten: in schmalen, hohen und spitzgiebligen Holzhäusern an den Kais der Dyle. Zentrum des Handels war der Marktplatz, um den sich die wenigen Steinhäuser der Stadt gruppierten: das alte Rathaus, die Tuchhalle und das Schepenhuis (Schöffenhaus). Letzteres verdient eine besondere Erwähnung, denn dort hatte seit 1473 der Groote Rat (la Cour suprême de justice) als höchstes Gericht der Niederlande seinen Sitz: eine der wenigen Zentralbehörden in einem Land, dessen Kommunen an weitgehende Selbstverwaltung gewöhnt waren. Entsprechend selten wurde das Gericht, das sich aus einem Präsidenten und vierzehn Beratern zusammensetzte, eingeschaltet. War aber die Reihe an Mecheln, die Versammlung der Generalstände, der Vertreter des ganzen Landes, auszurichten, so war man auf die Gastfreundschaft des Karmelitenordens angewiesen, der Räumlichkeiten im Kloster zur Verfügung stellte. Eine vermehrte Bautätigkeit setzte in der Stadt erst ab 1507 ein, als Margarete von Österreich sich in Mecheln niederließ und es zu ihrem Regierungszentrum machte. Damals kauften oder erweiterten Persönlichkeiten, die in Verbindung zum burgundischen Hofe standen, ihre hôtels. Dies waren allerdings keine Adelspaläste, wie man sie anderenorts vorfindet, sondern eher geräumige Herbergen, Höfe eben wie im alten Burgund, wie in Dijon, die aus einem Wohntrakt und zwei Seitenflügeln bestanden, in denen die Pferdeställe und Remisen untergebracht waren. Baumaterial war roter Backstein, allenfalls verziert mit Mauerkronen aus weißem Stein. So war Mecheln eine eher beschauliche Stadt, beschützt von festen Mauern, als die „burgundischen Kinder“ dort eine Heimstatt fanden, eine Stadt, in der man nur ein einziges ehrgeiziges Bauvorhaben verfolgte, und das schon seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert: die Vollendung der Sint-Rombautskatedraal mit ihrem gewaltigen Turm, der schließlich zum Wahrzeichen der Stadt wurde.20 In völliger Abgeschiedenheit vom Leben und Treiben in der Stadt verbrachten die „burgundischen Kinder“ Eleonore, Karl, Isabella und – ab 1505 – Maria ihre ersten Jahre. Bereits im Oktober 1500, als sich die Notwendigkeit abzeichnete, daß Philipp und Juana sich nach Spanien begeben müßten, hatte der Erzherzog für den Kinderhaushalt seine Anordnungen getroffen: Ein Maître de la chambre aux deniers wurde benannt, der für die finanziellen Aufgaben zuständig war, d.h. für die Bezahlung des Erziehungs- und Dienstpersonals.21 Einen detaillierten Plan 20 Sehr anschauliche Beschreibungen des alten Mecheln bei Moeller 1895, 35–40; Lahnstein 1979, 53–57; Tamussino 1995, 128. 130–133. 21 Walther 1911, 103 f.

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zur Aufgabenverteilung innerhalb des Kinderhaushalts hinterließ Philipp, ehe er im Spätherbst 1501 gemeinsam mit Juana die erste Spanienreise antrat. Insgesamt 93 Personen standen den Kindern in den verschiedensten Funktionen zu Diensten – wie Moeller betont, handelte es sich dabei um das unbedingt erforderliche Personal.22 Die Gesamtleitung des Haushalts als gouverneur de la maison übergab Philipp zunächst Henri de Witthem, Herrn von Beersel, einem der treuesten Anhänger Maximilians, zudem Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies.23 1506 ging dieses Amt an Charles de Croy, Fürst von Chimay, über.24 Der umfangreiche Haushalt war für die fürstlichen Kinder in ihren ersten Lebensjahren wohl kaum von Bedeutung. Wichtig waren die Frauen, die die Kleinkinder liebevoll umsorgten und ihnen die Mutter ersetzten: die Ammen und Kinderfrauen. Eleonore und Karl hatten schon in Brüssel bzw. in Gent, wie es in adligen und sogar in wohlhabenden Familien des Bürgertums noch bis in das 19. Jahrhundert üblich war, ihre Ammen und Kinderfrauen. Meistens handelte es sich dabei um die Ehefrauen einfacher Hofbediensteter: Eleonores Amme beispielsweise war mit einem Pferdeknecht des Erzherzogs verheiratet. Auch wenn das Leben der Eltern der „burgundischen Kinder“ weniger unstet verlaufen wäre, wenn sie nicht die meiste Zeit auf langen Reisen zwischen Spanien und den Niederlanden hätten verbringen müssen25 und wenn Juana von ihrer psychischen Disposition her in der Lage gewesen wäre, sich ihren Kindern mehr zu widmen, so wäre doch die Versorgung und Pflege der Kleinkinder wie auch die Erziehung der Heranwachsenden, den Usancen entsprechend, delegiert worden.26 Karl und seine Schwestern sind von den schlichten, mütterlichen Frauen jedenfalls so liebevoll umsorgt worden, daß sie ihnen zeitlebens dankbar blieben: In den Rechnungsbüchern von Lille ist ausgewiesen, daß Josine, eine der Kinderfrauen, bis 1515 Anrecht auf eine tägliche Mahlzeit in Eleonores Haushalt hatte und daß ihr danach Karl eine jährliche Pension von 150 Livres aussetzte.27 Für Charles Minne, den Sohn seiner eigenen Amme Barbe Servels, übernahm Karl die Patenschaft 22 23 24 25 26

Moeller 1895, 17: „le personnel strictement nécessaire“. Ebd. 15. Gachard 1872, 525. Moeller 1895, 24 nennt sie „oiseaux voyageurs“. Dazu R.A. Müller 1995, 36 (über „Hof-Hierarchie als Sozial-Modell“): „Soziologisch betrachtet war es [das höfische Zusammenleben] auch kein ‚Familienleben’ im bürgerlichen Sinn. Fürst und Fürstin besaßen meist einen eigenen Hofstaat und eigene Appartements, sahen sich oftmals nur zu den Mahlzeiten und Festen. [...] Das Verhältnis zu und der Kontakt mit den Kindern war überaus formal und zeitlich eingeschränkt, die Erziehung delegiert.“ 27 Archives du Nord B 3351, fol. 14 (Moeller 1895, 14 m. Anm. 1; der dortige Verweis auf Inventaire A.D.N. 1895, 373 führt nicht auf das Dokument über die gewährte Pension).

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und bat 1540 seine Schwester Maria, damals Statthalterin der Niederlande, für ihn zu sorgen, d.h. vermutlich, ihm eine Anstellung am Hof zu verschaffen, mit der Begründung: sa mère m’a servye neuf mois de long de première nourrice de lait.28 Nach Barbes Tod im Jahr 1554 ließ Karl ihr ein Grabmal im Chor der Kirche St. Gudula errichten,29 eine gewiß außergewöhnliche Ehrung für eine Amme und ein Zeichen tiefer Dankbarkeit noch zu einem Zeitpunkt, als sich Karls eigenes Leben bereits dem Ende zuneigte. Zwischen den beiden ältesten der Kinder, Eleonore und Karl, die nur ein Altersunterschied von 1¼ Jahren trennte, entstand im Laufe der frühen Jahre ein so enges Verhältnis wie zu keinem der anderen Geschwister: Sie wuchsen beinahe wie Zwillinge auf und teilten oft – der Einfachheit halber – die gleiche Wiege, wie das Kindermädchen Josine später gestand. Eleonore blieb stets Madame ma meilleure Sœur für Karl30 und begleitete ihn schließlich, gegen Ende beider Leben, ins spanische Exil. Kontakt zu ihren Eltern hatten die Kinder von Mecheln kaum. Wohl war Philipp 1502 allein aus Spanien in die Niederlande abgereist, angeblich dringender Regierungsgeschäfte wegen, als er aber dort – nach fast einem Jahr – endlich eintraf, hielten ihn seine Aufgaben und wohl nicht zuletzt ein recht bewegtes Leben am Brüsseler Hof fest. Juana hatte ihn nicht begleiten können: Sie mußte in Spanien die Geburt ihres vierten Kindes abwarten. Am 10. März 1503 brachte sie in Alcalá de Henares ihren zweiten Sohn, Ferdinand, zur Welt. Erst im April 1504 traf sie dann in den Niederlanden ein. Das Neugeborene blieb auf Wunsch der Katholischen Könige in Spanien.31 Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß Ferdinand, den Vorstellungen seiner Großeltern entsprechend, als Spanier aufwachsen und von Kindheit an mit der Sprache und Kultur des Landes vertraut 28 29 30 31

Brandi 1941, 72 (nach dem Original in Wien). Moeller 1895, 14. Ebd. 18. Rodríguez-Salgado 2000, 30. Daß das Kind Ferdinand in Spanien verblieb, wie es die meisten Autoren darstellen, scheint mir sehr wahrscheinlich in Anbetracht der körperlichen und seelischen Verfassung seiner Mutter zu diesem Zeitpunkt und außerdem wegen der Strapazen einer stürmischen Seereise, die selbst für Erwachsene stets mit Lebensgefahr verbunden war. Dazu Fagel, ein ausgewiesener Kenner der niederländischen Geschichte (2003, 35): „Ferdinand war nämlich erst drei Jahre zuvor [d.h. vor 1521] in den Niederlanden angekommen, nachdem er seit seiner Geburt am 10. März 1503 die ersten 15 Jahre seines Lebens in Spanien verbracht hatte.“ Sutter in seiner verdienstvollen Einleitung zu Bucholtz’ „Geschichte der Regierung Ferdinand des Ersten“ formuliert sehr scharf (1971, 17*): „In Ferdinand, dem Zweitgeborenen, besaßen die Katholischen Könige nunmehr ein Faustpfand, das sie behielten, als es ihnen [...] nicht mehr möglich war, ihre Tochter Juana, die sich nach ihrem Gemahl verzehrte, zur Absicherung gegenüber dessen Politik in Spanien zurückzuhalten.“

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werden sollte, nachdem Philipp und Maximilian es bereits 1501 strikt abgelehnt hatten, Karl, den Erstgeborenen und möglichen Erben der spanischen Reiche, zur Erziehung nach Spanien zu geben.32 In diesem Zusammenhang gesehen erscheint die Aussage einzelner Autoren, Ferdinand habe sich bis 1507 in Mecheln aufgehalten bzw. seinen Vater nach Spanien begleitet, wenig glaubwürdig, wobei zusätzlich ins Gewicht fällt, daß nur eine der hier ausgewerteten Quellen, Francesco Guicciardinis Storia d’Italia, Ferdinand in diesem Zusammenhang erwähnt.33 Petrus Martyr de Angleria und die spanischen Chronisten Santa Cruz und Sandoval aber 32 Sutter 1971, 17*: „Bei den Verhandlungen, welche der Reise Juanas und Philipps des Schönen nach Spanien [d.h. 1501] vorausgingen, hatte Karl bereits eine wichtige Rolle gespielt, indem die Katholischen Könige [...] den Vorschlag gemacht hatten, ihren Enkelsohn zur Erziehung nach Spanien zu senden.“ Ähnlich Rodríguez-Salgado 2000, 30: „Isabella und Ferdinand wünschten, nun [d.h. 1501] Karl in ihre Obhut zu nehmen, damit er am spanischen Hof aufwachsen und auf seine zukünftige Rolle als König von Spanien vorbereitet werden könne. Philipp lehnte dies jedoch ab: sein Nachkomme sollte allein im burgundischen Geist erzogen werden.“ Das gibt im Wesentlichen die Auffassung wieder, die Gossart 1910, 5 (für das Jahr 1502) vertritt : „les rois catholiques firent des instances pour que leur petit-fils Charles, destiné, lui aussi, à régner en Espagne, vînt résider près d’eux. Mais Philippe et Maximilien tenaient de leur côté, à former ce prince, à le diriger, à disposer de lui [...]“. Nach Gossart (ebd. 6) sollen die Katholischen Könige sogar bereit gewesen sein, Karl das Königreich Neapel zu übertragen, falls man ihnen seine Erziehung überließe. 33 Juste 1858, 29: „Quant à Ferdinand, il avait, comme on sait, accompagné son père en Espagne“; Seibt 1990, 37: „Während Ferdinand, der jüngere Bruder, vierjährig von Mecheln nach Spanien gebracht wurde [...]“. Die Aussagen beider Autoren könnten zurückgehen auf Francesco Guicciardinis Formulierung: In questo stato adunque e in tanta sospensione delle cose, fu il primo movimento dell’anno mille cinquecento sei la partita di Fiandra del re Filippo per passare per mare in Spagna [...] Però imbarcato con la moglie e con Ferdinando suo secondogenito, prese con venti prosperi il cammino di Spagna [...] (Storia d’Italia 7,2 = p. 636 Seidel Menchi). Guicciardini war erst ab 1511 florentinischer Gesandter in Spanien; seine Arbeit an der Storia begann er nach Beendigung seiner politischen Laufbahn 1538. Als Quellen dienten ihm Berichte früherer Gesandter; wo diese fehlten oder Lücken aufwiesen, zog er sehr unterschiedliche Materialien heran. Felix Gilbert schreibt dazu in seinem einleitenden Aufsatz zur Turiner Ausgabe von 1971, CXVI: „Dove il sussidio dei carteggi degli ambasciatori gli mancava [...], il Guicciardini ricorreva ad altre fonti di informazione di diverso genere e anche di diverso valore [...]“. Naheliegender scheint mir jedoch, daß die Angaben bei den genannten Autoren auf A. Le Glay zurückgehen (Le Glay 1839, 2, 433): „En avril 1507 elle [Marguerite] était à Louvain, et le 7 juillet suivant elle faisait son entrée solennelle à Malines où un palais magnifique [!] lui fut assigné pour habitation avec ses jeunes pupilles Charles, Marie, Isabelle, Léonore et Catherine d’Autriche. Quant à Ferdinand, fils puîné de Philippe-le-Beau, on l’envoya en Espagne pour être élevé à la cour de son aïeul maternel.“ Diese Zeilen erscheinen wenig zuverlässig, zumal hier auch Katharina genannt wird, die – erst am 14. Januar 1507 geboren – sich mit Sicherheit nicht am Hof von Mecheln befand.

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liefern dafür ebenso wenig Anhaltspunkte wie der sehr detaillierte Bericht über die zweite Spanienreise Philipps und Juanas in der „Collection des Voyages des Souverains des Pays-Bas“. Nach Juanas Ankunft im Frühjahr 1504 hielt sich das Erzherzogspaar gemeinsam fast zwei Jahre in den Niederlanden, vorwiegend in Brüssel, auf, ohne daß uns Nachrichten über Besuche in Mecheln oder überhaupt über Begegnungen mit den Kindern überliefert sind.34 Alle Autoren sind sich darin jedoch einig, daß diese Zeit vor allem geprägt war durch wilde Eifersuchtsausbrüche Juanas und heftige Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Mit dem Tod Isabellas von Kastilien am 25. oder 26. November 1504 ergab sich eine neue politische Situation, die die Anwesenheit des Thronfolgerpaares in Spanien dringend erforderlich machte. Wiederum mußte die Reise wegen einer Schwangerschaft Juanas aufgeschoben werden. Im September 1505 wurde in Brüssel Maria geboren, die sogleich – wie schon erwähnt – dem kleinen Haushalt in Mecheln zugesellt wurde. Bevor das Paar sich Anfang Januar 150635 auf die Reise begab, nicht ahnend, daß es keine Wiederkehr geben würde, hatte Philipp Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, die Statthalterschaft über die burgundischen Länder übergeben und sein Testament gemacht – letzteres war jedoch eine übliche Vorkehrung vor dem Antritt weiter, gefährlicher Reisen. Auch war die Dauer des Aufenthalts in Spanien ungewiß, denn die Auseinandersetzungen zwischen Philipp, der unmittelbar nach Isabellas Tod den Titel eines Königs von 34 Nur Delfosse (1923, 17) erzählt, daß Karl seiner Mutter lauschte, wenn sie zu ihrem Trost Lieder auf dem Klavichord spielte. Leider gibt er seine Quelle nicht an. Es ist möglich, daß diese etwas sentimentale Geschichte wiederum auf das Volksbuch De heerlijke daden van keizer Karel zurückgeht. 35 Allein Sandoval (27) datiert die Abreise des Paares auf Januar 1505. Bei diesem Chronisten ist Vorsicht geboten hinsichtlich der Jahresangaben. So gibt er (20) Karls Ankunft in Spanien mit 1518 (statt 1517) an. Andere Jahresangaben sind korrekt, da er sie vermutlich nicht von früheren Autoren, sondern aus Urkunden übernommen hat, z.B. 1500 als das Geburtsjahr Karls, 1504 für den Tod Isabellas, 1506 für den Tod Philipps. Die Abweichungen gehen m.E. vor allem darauf zurück, daß zu Karls Lebzeiten in seinen verschiedenen Ländern unterschiedliche Jahresanfänge galten – eine Tatsache, die der Historiograph offensichtlich nicht ausreichend berücksichtigte. Zu den Jahresanfängen in den Ländern Karls: Grotefend 1991, 11–14. Andere Unstimmigkeiten in den Passagen zu Karls frühen Jahren, z.B. zur Übergabe der Vormundschaft an Margarete, lassen sich dadurch erklären, daß in Spanien wenig über Karl bekannt war, ehe er dort eintraf. Vgl. Sandoval 19 f.: contando el reino, imperio o vida de Carlos V [...], escribiré, si bien sumariamente, lo que tocare a los reinos de Castilla [...], porque sería demasiado silencio callar lo que sucedió desde el año de mil y quinientos hasta el de mil y quinientos y diez y ocho [!], que Carlos vino a reinar en España. Unmittelbar anschließend beruft er sich hinsichtlich seiner Angaben auf Jerónimo de Zurita, der ausführlich über die Jahre von 1504 (Tod Isabellas) bis 1516 (Tod Ferdinands von Aragon) geschrieben habe.

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Kastilien und León angenommen hatte, und Ferdinand von Aragon um die testamentarischen Verfügungen der Königin waren bereits voll entbrannt.36 Nach der Ankunft in Spanien gegen Ende April konnten die Streitfragen keineswegs befriedigend gelöst werden; in den folgenden Monaten legte Juana ein derart exzentrisches Verhalten an den Tag, daß die Frage immer drängender wurde, ob sie wegen ihres Geisteszustandes von der Regierung ausgeschlossen werden müsse – wie es die Klausel bezüglich ihrer Regierungsunfähigkeit im Testament ihrer Mutter vorsah. Der plötzliche Tod Philipps nach einer kurzen fiebrigen Erkrankung am 25. September 1506 in Burgos setzte den Untersuchungen, die zur Lösung dieses Problems beitragen sollten, ein – wenn auch nur vorläufiges – Ende. Maximilian erhielt erst am 23. Oktober die Nachricht vom Tode seines Sohnes – er befand sich auf dem Wege nach Italien. Außer seiner Trauer um Philipp belasteten den Römischen König die Sorgen um die Zukunft der Enkel und die zahlreichen offenen Konfliktfelder: um den immer wieder die Niederlande bedrohenden Geldrischen Krieg, um die ungeklärten Beziehungen zu Frankreich und England, wie sein Sohn sie hinterlassen hatte, um die spanische Thronfolge und die stets leeren Kassen. Inzwischen hatte Chièvres die Generalstände nach Mecheln einberufen, wo am 18. Oktober Philipps Testament eröffnet wurde. Es stellte sich heraus, daß er weder die Vormundschaft für seine Kinder noch die Regentschaft geregelt hatte, wobei er vermutlich davon ausgegangen war, daß im Falle seines Todes die Stände nach ihrem alten Gewohnheitsrecht darüber befinden würden. Er hatte lediglich verfügt, daß seine beiden Söhne all seine Länder erben sollten, mit der Auflage, jeder ihrer Schwestern 200.000 Ecus zu zahlen. Der spanische Großvater, Ferdinand von Aragon, zeigte sich tief bekümmert und beteuerte sein lebhaftes, aber wohl wenig ehrliches Interesse am Wohlergehen der Kinder.37 Der französische König Ludwig XII. wie auch Heinrich VII. von England sandten Kondolenzschreiben und boten mit bewegten Worten jede mögliche Hilfe für Philipps Kinder an, wobei sie ihre eigenen politischen Interessen ziemlich unverhüllt einfließen ließen.38 Die Generalstände beschlossen jedoch, 36 Die hier wesentlichen Bestimmungen in Isabellas Testament, das sie 6 Wochen vor ihrem Tode aufsetzte, waren folgende: 1. Ferdinand von Aragon sollte die alleinige Regentschaft über Kastilien übernehmen im Falle von Juanas Abwesenheit, ihrer Regierungsunwilligkeit oder -unfähigkeit. – 2. Diese Regentschaft Ferdinands sollte erst enden, wenn der Enkel Karl 20 Jahre alt war. – 3. Philipp wurde völlig übergangen; Isabella, die seine Politik und vor allem sein Verhalten gegenüber Juana mißbilligte, erwähnte ihn nicht in ihrem Testament. Vgl. Sandoval 26; Henne 1865, 24; zum diesbezüglichen Briefwechsel zwischen Philipp und Ferdinand von Aragon: Santa Cruz 13 f. 37 Henne 1865, 49. 38 Auszüge aus den Briefen beider Herrscher Henne 1865, 47–49. Wenn Walther 1911, 76 zu den Hilfsangeboten schreibt: „Die Könige von Frankreich und von England beeilen sich, Chièvres auszusprechen, wie tief sie der Tod Philipps bekümmere, wie sehr er auf ihre

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die Situation ohne fremde Hilfe zu klären: Man kam überein, die Amtsträger, die Philipp eingesetzt hatte, vorerst weiter ihre Aufgaben wahrnehmen und die Dame von Ravenstein weiter über das Wohl der Kinder wachen zu lassen. Eine Delegation unter der Leitung von Chièvres wurde am 16. November 1506 zu Maximilian entsandt, um ihm als dem nächsten Verwandten die Vormundschaft für die „burgundischen Kinder“ und die Regentschaft anzutragen. Maximilian übernahm die Verpflichtungen zunächst; da es sich aber sehr rasch herausstellte, daß er ihnen wegen seiner häufigen Abwesenheit von den Niederlanden nicht gerecht werden konnte, bestellte er mit Ernennungsurkunde (lettres patentes) vom 18. März 1507 seine Tochter Margarete zu seiner Stellvertreterin, zunächst nur für die Zeit seiner Abwesenheit. Am 27. März traf Margarete aus Savoyen in Löwen ein.39 Die offizielle Anerkennung durch die Generalstände als Generalstatthalterin der Niederlande und als Vormund der „burgundischen Kinder“ erfolgte mit der feierlichen Vereidigung Margaretes in Brüssel am 22. April 1507. Margarete lebte von nun an „in der Überzeugung, sie sei zur Regentin ernannt worden“.40 Dies stellte sich jedoch als gravierender Irrtum heraus: Erst am 18. März 1509 fertigte Maximilian die definitive Bestallungsurkunde aus, und selbst diese sprach der Regentin die volle Autorität nur für die Zeit seiner Abwesenheit zu.41 Für den Handlungsspielraum Margaretes in den Jahren ihrer Regentschaft war es sicher entscheidend, daß sie eng an die Beschlüsse des Conseil privé gebunden war, wenn auch als dessen „Haupt“.42

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väterliche Hilfe für die burgundischen Kinder rechnen könne. Nur, so schreibt der König von England, müsse er sich vor Frankreich hüten, dem nie zu trauen sei. Ludwigs XII. Ritterlichkeit aber war aufrichtig und tätig; auf seine Veranlassung legte Karl von Geldern die Waffen nieder“, so ist es zweifellos richtig, daß Ludwig die (vorübergehende) Einstellung der geldrischen Feindseligkeiten erwirkte. Das mag durchaus einer ritterlichen Haltung entsprungen sein, die Achtung vor dem Toten und Schutz der Waisen gebot: Nicht nur burgundische Prinzen, sondern auch ihre französischen Vettern wurden im Geiste des mittelalterlichen Ritterideals erzogen. Ob es sich um persönliche Aufrichtigkeit des Königs handelte, sei in Anbetracht der weiteren politischen Entwicklung dahingestellt. Nach ihrer ersten kurzen Ehe mit dem spanischen Thronfolger Juan wurde Margarete gedrängt, sich wieder zu verheiraten. Ihr zweiter Gemahl, Philibert von Savoyen, verstarb aber bereits am 10. September 1504 – ähnlich plötzlich wie später ihr Bruder Philipp. Auch diese zweite Ehe war kinderlos geblieben. Walther 1911, 77 belegt dies mit einem Zitat aus einem Brief Margaretes an Ferdinand von Aragon vom 21. April 1507: Ya creo v.a. sabra, como yo soy venjda a entender en el govjerno del estado del señor prjncipe Don Carlos vostro njeto por mandado del rey mi señor y padre. Ebd. Walther weist (ebd.) auf einen Brief an Liechtenstein von 1509 hin: S.M. habe verordnet das Regiment, nämlich Frau Margarete als Haupt, und dazu 12 Herren meist vom Orden; die sollen regieren und handeln. Ein langer Auszug dieses Briefes des Cyprian von Serntein, des Hofkanzlers Maximilians, vom 3. April 1509 ist wiedergegeben in QSMI. 172–175

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Unmittelbar nach ihrer Ernennung, 1507, ließ sich Margarete in Mecheln nieder. Sie erwarb den Hof des Jean (oder Jérôme) Lau(we)rin, Herrn von Watervliet, der dem Hôtel de Bourgogne, in dem die Kinder lebten, direkt gegenüberlag, und ließ ihn von Antoon und Rombout II. Keldermans sowie von Guyot de Beaugrant umbauen und nach ihren Vorstellungen ausgestalten. Es entstand kein monumentaler Palast, wohl aber ein geräumiges Palais, das schon nach außen hin zeigte, in welcher Weise sich in der Hausherrin Sinn für Tradition und Aufgeschlossenheit gegenüber den Formen einer neuen Zeit vereinigten. Das Hôtel de Savoye – den Namen wählte Margarete ganz bewußt43 – gilt vielen, vor allem seiner Fassade wegen, als der erste Renaissancebau in Brabant, wenn nicht sogar als der erste nördlich der Alpen: ein Bau, den Lahnstein „ein wenig streng und steif noch“ nennt, während er ausdrücklich den wohlproportionierten Innenhof lobt;44 die Höfe, „halb gotisch noch, offen und licht“, hebt auch Brandi in seiner knappen Beschreibung hervor.45 Am treffendsten hat wohl Tamussino das Palais charakterisiert: „[...] ein typisches Bauwerk der Übergangszeit, das den Stil der späten brabantischen Backsteingotik und den der Frührenaissance zu einem harmonischen Ganzen vereinte“.46

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Nr. 50. Die entsprechende Passage lautet: Ferrer so fug ich euch zu vernemen, das kay. [mt.] einen kurzen abschaidt gemacht hat, und hat ihr mt. verordnet das regiment, nemlichen frauen Margarethen fur das haubt und 12 herrn vom orden und auch sonst die geschicktesten, so ir mt. gefunden hat, und die sollen regieren und handlen. M.E. ist es von entscheidender Bedeutung, wer die Mitglieder des Rates auswählte. Bei Henne (1865, 54) heißt es: „Elle y installa son conseil, composé des hommes les plus éminents du pays [...]“; nach Henne suchte Margarete also selbst ihre Berater aus, unmittelbar nach ihrer Vereidigung. Auf die Einschränkung von Margaretes Entscheidungsfreiheit bei der Erziehung Karls, z.B. durch die Ernennung Chièvres’ zum Gouverneur des Prinzen im Jahre 1509 (worauf A. Walther in diesem Zusammenhang hinweist) wird an gegebener Stelle näher eingegangen. Pirenne (1953, 75) beurteilt Margaretes Situation entschieden positiver: „Jamais aucune gouvernante n’eut une liberté plus complète et jamais aussi aucune n’accepta plus franchement et plus allègrement les responsabilités de sa charge.“ „Herzoginwitwe von Savoyen“ war nur einer der vielen Titel Margaretes. Wenn sie mit der Namenswahl ihres Hofes diese Bindung an Savoyen betonte, so ist darin ein Zeichen ihrer unverbrüchlichen Liebe zu Philibert, ihrer Eigenständigkeit und ihrer festen Entschlossenheit zu sehen, sich niemals wieder zu verheiraten, obwohl ihr Vater sie lange Zeit drängte, dem Werben Heinrichs VII. von England nachzugeben. Vgl. Tamussino 1995, 134. Lahnstein 1979, 53. Brandi 1964, 38. Tamussino 1995, 134; dort auch Hinweise auf die heutige Gestalt des Gebäudes: Im 17. Jahrhundert wurde das Hôtel de Savoye durch eine Explosion halb zerstört. Heute, restauriert und von Renaissancegärten umgeben, dient der Hof als Justizgebäude. An der Decke des ehemaligen Thronsaales ist noch das Wappen von Savoyen zu sehen.

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Zu den großen, auf Repräsentation angelegten Schloßbauten der Renaissance und noch mehr des Barock gehört im allgemeinen eine Hofkirche oder doch wenigstens eine reich ausgestattete Schloßkapelle. In Mecheln dagegen feierte der Hof die Messe zusammen mit anderen Gläubigen in der nahen Parochialkirche von St. Peter, in deren Sprengel beide hôtels lagen.47 Das einzige Zugeständnis an die fürstlichen Mitglieder der Gemeinde bestand im Bau einer luftigen Galerie, die vom Hôtel de Savoye oben über die Straße hinweg den direkten Zugang zur Kirche gestattete. Mit ihrer Tante und ihren engsten Begleitern nahmen die Kinder auf einer Empore an der Messe teil. Der Hofklerus gehörte zum fürstlichen Haushalt und unterstand direkt dem grand chambellan. Wie an anderen Höfen unterschied man zwischen der grande und der petite chapelle. An der Spitze der grande chapelle stand der Hofkaplan oder Hofprediger, dem bei Hohen Messen weitere Kapläne assistierten. In Mecheln fiel dem Hofkaplan aufgrund der geschilderten Situation die zusätzliche Aufgabe zu, alle Messen in der Pfarrkirche zu zelebrieren. Desgleichen waren die Sänger und Musiker der grande chapelle verpflichtet, an der Gestaltung der Gottesdienste in St. Peter mitzuwirken. Die petite chapelle hingegen diente allein den geistlichen Bedürfnissen der fürstlichen Familie. Ein Schloßkaplan und Beichtväter waren die eigentlichen Seelsorger am Hofe. Sie – und eine kleine Zahl von Sängern – zelebrierten für Margarete und auch für die Kinder die Frühmesse in den jeweiligen Privatkapellen, die direkt mit den fürstlichen Appartements verbunden waren.48 Das Innere des Palastes mit den Amts- und Wohngemächern der Regentin war mit erlesenem Geschmack eingerichtet, worüber die erhaltenen Inventare Auskunft geben, wenn auch von der ursprünglichen Ausstattung selbst nichts die Zeiten überdauert hat. Die Inventare vermitteln nicht nur eine Vorstellung von der Einrichtung der Privaträume Margaretes, von den Tapisserien, dem kostbaren Mobiliar und den kunstreich gestalteten Geräten des täglichen Gebrauchs, sondern sie verzeichnen auch die Werke aus ihrer umfangreichen Gemälde- und Skulpturensammlung, in der Darstellungen der Familienmitglieder zahlreich vertreten waren. Ihren über Mecheln und den engsten Umkreis des Hofes weit hinausreichenden Ruhm verdankte die Sammlung aber den Werken der älteren niederländischen Meister wie Rogier van der Weyden, Hans Memling und Jan van Eyck, dessen heute in der Londoner National Gallery befindliche „Arnolfinische Hochzeit“ als das wohl bedeutendste Gemälde aus Margaretes Besitz gilt. Hieronymus Bosch war mit einer „Versuchung des heiligen Antonius“ vertreten.49 47 R.A. Müller 1995, 22 verweist darauf, daß es sich hierbei in Mecheln nicht um einen Einzelfall handelte, „daß die Hofkirche auch parochiale Stadtpfarrkirche sein mochte.“ 48 Moeller 1895, 47 f. 49 Wenn Habsburg (1967, 68) die Ausstattung des Palais folgendermaßen begründet: „Niederländische Tapisserien und Gemälde sollten zur Bildung der Kinder beitragen und ihren

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Wie die Gestaltung des Palais verrät aber auch die Bildergalerie etwas davon, in welcher Weise Margarete Tradition und Moderne zu verbinden wußte: Ihrem eigenen Kunstgeschmack entsprachen insbesondere die Werke der sog. „Romanisants“, einer Gruppe niederländischer Maler, die versuchten, die einheimische Malweise mit der Formenwelt und der Thematik der italienischen Renaissance zu verbinden. Zum Kreis dieser Künstler gehörte auch Barend van Orley, der Hofmaler (peintre en tître) Margaretes.50 Im Laufe ihrer Regentschaft nahm Margarete weitere Hofmaler in ihren Dienst und förderte deren Schaffen.51 In Auftrag gab sie vor allem Familienbildnisse, unter denen die ihrer „burgundischen Kinder“ und der „Kindeskinder“ besondere Erwähnung verdienen. Für die Herzoginwitwe von Savoyen selbst nahm gewiß das Porträt des unvergessenen Philibert eine Sonderstellung ein, aber auch die spanische Verwandtschaft war im Bilde gegenwärtig. Margarete selbst wurde vom frühen Kindesalter an in allen Lebensphasen porträtiert, wobei der größte Teil der Bilder in der Zeit ihrer Regentschaft entstand.52 Hofbildhauer war Konrad Meyt aus Worms, dessen Werke bei Dürer auf seiner Reise in die Niederlande 1520–21 höchste Bewunderung hervorriefen. Seine wohl bekanntesten Arbeiten sind Büsten Margaretes und Philiberts von Savoyen sowie die Statuen der Grabmäler zu Brou. Auch eine Büste des jungen Karl wird ihm zugeschrieben.

Kunstsinn wecken“, so ist das m.E. eine Interpretation, die weder dem Kunstsinn der Regentin noch der Denkweise der Epoche gerecht wird, abgesehen davon, daß die Kinder keineswegs in diesen Räumen lebten. 50 Sehr ausführlich und kenntnisreich zu den Malern im Umfeld des Hofes Strelka 1957, 23–28; danach offensichtlich Tamussino 1995, 171–173. Strelka verweist zudem (ebd. 191) auf etliche Mechelner Inventare. – Bei Le Glay 1839, 2, 468–489 finden sich ebenfalls Inventare zu Margaretes Haushalt: „Quelques fragments d’inventaires des livres, objets d’art et lingerie de luxe qui composaient son mobilier. De ces pièces [...] plusieurs sont entièrement écrites de sa main, quelques-unes ont été corrigées ou annotées par elle“, merkt der Herausgeber dazu an. Im 1. Teil der Verzeichnisse ist der Bestand von Margaretes Bibliothek aufgelistet, Handschriften, die nach den Farben ihrer Einbände geordnet sind. Der 2. Teil umfaßt Goldschmiedearbeiten, Gemälde, Statuen, Spiele, Kuriositäten und diverse Kunstgegenstände. Es folgt eine weitere Liste von Gemälden und Statuen, die am 17. Juli 1516 in Margaretes Gegenwart aufgestellt wurde; am Folgetag wurden Tapisserien, Wandbehänge und andere Textilien inventarisiert. Von Margarete selbst stammt ein Verzeichnis kostbarer „Haushaltswäsche“ mit detaillierter Beschreibung der einzelnen Stücke. Wesentlich scheint m.E. das Datum dieser Inventur: Nach Karls Emanzipation 1515, bei dem gespannten Verhältnis zu Karl wie zu Maximilian, war Margaretes Situation ungewiß; Statthalterin war sie seit 1515 nicht mehr. So war es nur verständlich, daß sie sich einen Überblick über ihren persönlichen Besitz verschaffen wollte. 51 Strelka 1957, 24–28; Tamussino 1995, 171–176. 52 Strelka 1957, 158 f. Anm. 66 gibt eine Übersicht der wesentlichen Porträts Margaretes.

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In den Privaträumen der Regentin befand sich auch ihre Bibliothek, die um 1530 etwa 370 bis 400 Bände umfaßte – eine für die damalige Zeit überaus beachtliche Zahl. Zum größten Teil handelte es sich dabei um kostbar gebundene Handschriften, während Drucke noch kaum vertreten waren. Die Werke, die Margarete hier zusammengetragen hatte, waren verschiedenster Herkunft: teils ererbt, teils aus Savoyen mitgebracht, teils in den Niederlanden erworben. Persönliche literarische Vorlieben lassen sich aus dem Bücherbestand nicht erkennen; Autoren der klassischen Antike waren – in französischen Übersetzungen – ebenso vertreten wie Werke religiöser Natur, daneben auch Chansons de geste, Chroniken und Romane.53 Am Wohnsitz der Kinder, auf der anderen Seite der Straße, befand sich die hochberühmte Librairie de Bourgogne. Moeller hat den Bestand beider Bibliotheken einem sehr kritischen Vergleich unterzogen:54 In der burgundischen Bibliothek dominierte die französische Literatur des Mittelalters; es gab nur fünf Bücher in der Landessprache, dem thiois oder flamand. Verschiedene Chroniken, Fabeln und vor allem Ritterromane à la mode machten den Rest aus. Ansatzpunkt von Moellers Kritik ist das völlige Fehlen von Drucken in der burgundischen Bibliothek: Er schreibt es der Routine zu (gemeint ist wohl die traditionell starre, bürokratische Verwaltung), die den Hof regierte, daß man in der Bibliothek den Eindruck gewinnen konnte, als ob der Buchdruck noch nicht erfunden worden sei: Ein Katalog weist noch 1536 unter den 680 verzeichneten Werken nur zwölf Drucke nach. Dabei übersieht Moeller, daß die Librairie de Bourgogne (wie Büchersammlungen an anderen Höfen auch) nicht nur Bibliothek im heutigen Sinne, sondern gleichzeitig Schatzkammer war. Jede der dort gesammelten Handschriften, selbst noch eine Abschrift vielfach kopierter Texte, war durch ihre Schrift, ihre künstlerische Ausgestaltung und oft auch durch ihren Einband ein Unikat und damit ein Wertgegenstand, der sorgsam gehütet wurde. Gerade dieses Einzigartige jeder Handschrift entbehrten die gedruckten Bücher – darüber konnte auch die Gestaltung der Drucke nicht hinwegtäuschen, die sich noch lange am Vorbild der Handschriften orientierte. Moellers viel weitergehende Kritik am Bestand beider Mechelner Bibliotheken richtet sich gegen den 53 Tamussino (1995, 194) ist dem Verbleib der Bibliothek nachgegangen: Zunächst wurde sie Maria von Ungarn vererbt, dann von Philipp II. nach Brüssel verbracht, wo sich noch heute in der Bibliothèque Royale zahlreiche Stücke erhalten haben. Die kostbarsten Handschriften sind allerdings, oft auf Umwegen, in andere Bibliotheken gelangt, so z.B. die Très Riches Heures du duc de Berry in das Musée Condé in Chantilly, der Codex aureus in den Escorial. Einige der bedeutendsten Handschriften mit direktem Bezug zum Mechelner Hof gehören heute zur Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, z.B. La Couronne margaritique und L’Entrée de Bruges. 54 Moeller 1895, 90 f.

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Inhalt der vorhandenen Werke – wohl in der Überzeugung, daß mit dem modernen Medium des gedruckten Buches auch zeitgemäße, neue Ideen am burgundischen Hof Einzug gehalten hätten. Mit Sicherheit vermittelten die Bücher, die den fürstlichen Kindern als erste Lektüre zur Verfügung standen, ihnen kein Bild von der Realität ihrer eigenen Zeit. Die französisch-burgundischen Ritterromane des 14. und 15. Jahrhunderts, die, wie wir wissen, besonders auf den jungen Karl eine nachhaltige Wirkung ausübten, waren bereits zu ihrer Entstehungszeit Anachronismen: Eingekleidet in ein zeitgenössisches Gewand hielten sie Geist und Ideale einer vergangenen Epoche wach und verhalfen ihnen zu einem langen Nachleben. Huizinga spricht in diesem Zusammenhang von einem „Traumland, das sich das spätere Mittelalter schuf, in dem man alles mit dem schönen Schein alter, phantastischer Ideale umkleidete“, und fährt dann fort: „Das ist der Zug, der die französisch-ritterliche Kultur seit dem zwölften Jahrhundert mit der Renaissance verbindet: die betonte Kultivierung des schönen Lebens in den Formen eines Heldenideals. [...] Das ganze aristokratische Leben des späteren Mittelalters, man denke an Frankreich und Burgund [...], ist der Versuch, einen Traum zu spielen. Immer denselben Traum, von den alten Helden und Weisen, vom Ritter und der Magd, von den einfachen und vergnügten Schäfern. Frankreich und Burgund spielen das Stück noch immer auf alte Weise [...].“55

Sich durch die Lektüre eines fesselnden Buches in ein zeitlich oder räumlich fernes Traumland versetzen zu lassen, der Phantasie freien Lauf zu lassen und den Alltagshorizont zu überschreiten, ist Bereicherung für jeden Leser, gleich welchen Alters. Problematisch wird es jedoch, wenn für den Leser die Grenzen zwischen Traumland und Wirklichkeit verschwimmen, wenn er Fiktion und Realität nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermag, wie es wohl bei Karl, zumindest in seinen frühen Jahren, der Fall war. Als er 1517 nach Spanien aufbrach, hatte der junge König zehn Handschriften im Gepäck, darunter Oliviers de La Marche allegorisches Gedicht Le Chevalier délibéré, das Buch, das ihn ein Leben lang begleiten sollte und mit dem sich noch der alte Kaiser in seinen letzten Lebensjahren in Yuste intensiv beschäftigte. Der Verfasser, vom Pagen am Hofe Philipps des Guten in höhere Hofämter aufgestiegen, hatte an der Seite Karls des Kühnen in der Schlacht von Nancy gekämpft. Nach dessen Tod war de La Marche als treuer Anhänger der Burgunder in den Dienst Maximilians getreten und später eine Zeitlang Lehrer Philipps des Schönen gewesen. Sein Hauptwerk, der Chevalier délibéré, entstand etwa sechs Jahre nach dem Tod Karls des Kühnen. Dieses Werk war gleichsam eine Botschaft aus einer vergangenen Epoche, die den jungen Karl über vier Generationen hinweg erreichte und ihn in die Welt der großen Herzöge von Burgund, ihrer Kämpfe und Ideale zurückversetzte, deren Erbe er sich früh 55 Huizinga 1975, 50.

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verpflichtet fühlte. Der „fest entschlossene Ritter“, der zum Leitbild Karls wurde, mit dem er sich in seinen frühen Jahren identifiziert zu haben scheint, durchzieht die Welt als Pilger auf der Suche nach Erlösung. Geleitet von Tugenden in allegorischem Gewand, in Versuchung geführt und in Kämpfe verwickelt durch gleichermaßen verbrämte Gestalten, lernt der Ritter sich gegen alle Anfechtungen zu wappnen, seinen Frieden mit den Lehren der Kirche und mit Gott zu machen, das Leben als Pilgerschaft von dieser Welt in eine andere zu begreifen, um eines Tages im Vertrauen auf Gottes Gnade sterben zu können.56 Vielleicht wäre der Einfluß des Chevalier délibéré auf den Heranwachsenden geringer gewesen, wenn in seiner Erziehung ein Gegengewicht zu dieser Traumwelt bestanden hätte. Mit Guillaume de Croy aber wurde ihm 1509 ein „Gouverneur“ gegeben, der – aus burgundischem Adel stammend und fast gleichaltrig mit Karls Großvater Maximilian57 – sich bei der Bildung und Lenkung des Prinzen am Leitbild des burgundischen Ritters orientierte. Ohne an dieser Stelle vorgreifen zu wollen, läßt sich bereits feststellen, daß sich für Karl in seinen frühen Jahren die täglichen Unterweisungen in ritterlichen Fertigkeiten, das Umfeld des burgundischen Hofes und die Traumwelt des Ritterromans ohne Bruch zusammenfügten, was dazu führte, daß er – und hier kann man Andreas Walthers Urteil nur zustimmen – zu einem „Fremdling in seiner Zeit“ wurde.58 In gleichem Maße, wie Moeller die Lektüre Karls kritisiert, mißbilligt er auch die der jungen Prinzessinnen. Er schließt sich damit der Auffassung des großen spanischen Humanisten Vivés an, der im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden wirkte und bereits als Zeitgenosse seiner Geringschätzung dieser lebensfremden, schwülstigen Literatur Ausdruck verlieh, indem er denjenigen Frauen und Mädchen, die Gefallen fanden an Ritter- und Liebesromanen, wünschte, daß sie das Lesen verlernten. Es sei besser für sie, illiterat zu sein, als sich an derart „frivoler“ Lektüre zu ergötzen, an Büchern, die er nur als pestiferi bezeichnen konnte.59 Für die Jugend, die Mädchen eingeschlossen, forderte er humanistische Bildung. Auch in diesem Punkt weiß sich Moeller eins mit Vivés, wenn er anhand des Kataloges feststellen muß, daß die Werke der großen klassischen Autoren in der Bibliothek nicht im Original, sondern nur in französischen Übersetzungen des 14. Jahrhunderts vorhanden waren, die Moeller als „véritables

56 C.W. Carroll betont in der Einleitung zu seiner Ausgabe (La Marche 4–11), daß das Werk de La Marches bereits zu seiner Entstehungszeit anachronistisch war. 57 Maximilians eigene Beiträge zum Genre des Ritterromans bzw. -epos, die (auto-)biographisch angelegten Werke Weißkunig und Theuerdank, wurden erst ab 1505 geplant und etwa ein Jahrzehnt später handschriftlich ausgearbeitet. Vgl. Rupprich 1969, 52 f. 58 Walther 1911, 212. 59 Moeller 1895, 89.

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travestissements“ charakterisiert.60 Während es Moeller im Rahmen einer Biographie bei diesem kritischen Urteil beläßt, geht Huizinga im letzten Kapitel seines „Herbst des Mittelalters“, das er „Das Kommen der neuen Form“ überschreibt,61 dem langwierigen Prozeß nach, in dessen Verlauf der „aufblühende Humanismus“ schließlich den „Geist des absterbenden Mittelalters“ ablöst und in dessen Kontext auch die oben erwähnten Übersetzungen zu sehen sind. „Nicht wie eine plötzliche Offenbarung“ ist der Humanismus „über alle gekommen“ – so Huizinga, sondern: „Mitten im Garten des mittelalterlichen Denkens, zwischen dem üppig fortwuchernden alten Bestand, ist der Klassizismus ganz allmählich emporgewachsen. Zu Anfang ist er nur ein rein formales Element der Phantasie. Die große Neubeseelung wirkt erst später, und selbst dann sterben Geist und Ausdrucksformen, die wir als die überlebten, mittelalterlichen anzusehen gewohnt sind, noch nicht ab.“

Was mit dem Bemühen eines Gelehrtenkreises um reines Latein und klassischen Satzbau begann, führte zu einem regelrechten Wettstreit unter den frühen französischen Humanisten, der gelegentlich „vollendete Karikaturen antiker Prosa, ebenso geschraubt wie naiv“ hervorbrachte. Auch wenn man Französisch schrieb, bediente man sich nun dieses schwülstigen Stils. Dazu bemerkt Huizinga: „Die Begriffe »rhétorique, orateur, poésie« repräsentieren für die Geister in Frankreich um 1400 die Antike schlechthin. Sie erblicken die beneidenswerte Vollkommenheit des Altertums vor allem in einer gekünstelten Form. [...] Hier beginnt, was sich alsbald zu jener lächerlichen Latinisierung des edlen Französisch auswachsen sollte, die Villon und Rabelais mit ihrem Spott geißeln.“62

Huizinga verdeutlicht diese Entwicklung durch zahlreiche literarische Beispiele von unfreiwilliger Komik; damit wird Moellers abschätziges Urteil über die frühen Übersetzungen der Klassiker verständlich, die in dieser Form wohl kaum geeignet waren, junge Leser mit der Literatur der Antike vertraut zu machen. Vor Moellers Kritik hat daher allein das Bestand, was bis heute die Bedeutung beider Bibliotheken ausmacht: ihr Reichtum an Meisterwerken illuminierter Handschriften von unschätzbarem künstlerischem Wert.63 Mit der Ansiedlung ihres Hofes in Mecheln gab die Regentin den siebzehn niederländischen Provinzen, die alle über besondere Privilegien und unterschied60 61 62 63

Moeller 1895, 90. Huizinga 1975, 462–479 (Zitat: 462). Ebd. 468 f. Es soll in diesem Kontext noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die Miniaturmalerei am Hofe Margaretes weiter gepflegt wurde, daß von Gerard Horebout, ab 1515 im Hofdienst, illuminierte Handschriften gestaltet wurden (vgl. Anm. 53), in denen er „Renaissancetendenzen in der Buchmalerei durchsetzte“ (Strelka 1957, 28).

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liche Rechtsprechung verfügten und die zudem von verschiedenen Nationalitäten mit verschiedener Sprachzugehörigkeit bewohnt wurden, erstmals ein politisches Herrschaftszentrum. Wie bereits oben gesagt, war Mecheln zuvor schon Sitz des höchsten Gerichts. Brüssel war noch weit davon entfernt, Hauptstadt eines Landes zu sein, das nicht einmal über einen einheitlichen Namen verfügte:64 Es war die „‚prinzelijke stad‘ der Adelspaläste, der Grandseigneurs und Vliesritter“,65 aber keineswegs die Hauptstadt auch nur der Provinz Brabant: Diesen Rang nahm Löwen ein,66 das die erste Universität der Niederlande beherbergte und bald die bedeutendsten Gelehrten Europas anzog. Geistliches Zentrum war Cambrai mit dem Sitz des Bischofs. Gent gewann seine Bedeutung durch den Einfluß seiner reichen Zünfte. Das einstmals so stolze flandrische Brügge mußte seinen Rang an das aufstrebende brabantische Antwerpen abtreten.67 Als Maximilian 1507 seine 27jährige Tochter als „Gouvernante“ einsetzte, hätte er keine bessere Wahl treffen können: Für Margarete sprachen nicht nur ihre Persönlichkeit und ihre unbedingte Loyalität gegenüber dem Hause HabsburgBurgund, sondern auch die Tatsache, daß sie bereits eine „politische Lehrzeit“ hinter sich hatte. Von ihrem dritten Lebensjahr an hatte sie als petite reine am französischen Hof gelebt und war dort auf die Aufgaben einer Königin vorbereitet worden; während ihrer Ehe mit dem spanischen Erbprinzen hatte sie Einblick in die Regierungsweise der klugen Königin Isabella gewonnen; eine aktive politische 64 Nach dem Verlust des alten Herzogtums Burgund mit seiner Hauptstadt Dijon an Frankreich blieb der Name „Burgund“ dennoch erhalten für die Gebiete, die unter der Herrschaft des Hauses Burgund standen, auch dann noch, als mit Maria von Burgund die direkte Linie ausgestorben war. Der gemeinsame Name „Burgund“ war lange Zeit – außer dem Herrscher – das einzige Bindeglied ganz unterschiedlicher Provinzen. In der Literatur finden sich, was zuweilen verwirrend ist, die verschiedenen Landesnamen nebeneinander und oft gegeneinander austauschbar. Walther (1911, 34) weist darauf hin, daß die Italiener und Spanier bis weit in das 16. Jahrhunert hinein von Flandern sprachen, wenn sie das burgundische Reich meinten. Henne leitet sein Werk mit einer Aufzählung der unterschiedlichen Landesnamen ein: „On les [sc. les provinces des Pays-Bas] appelait [...] les Pays de par deçà (par deçà les monts) ou les Pays de par delà (par delà le Rhin); puis c’étaient tantôt les Pays d’en bas; quelquefois la Flandre ou le Brabant; d’autres fois la basse Allemagne; enfin, mais plus rarement, la Belgique“ (1865, 1). 65 Tamussino 1995, 127. 66 Henne 1865, 2. 67 Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen Flanderns und Brabants führten zu entgegengesetzter politischer Orientierung, d.h. zur Unterstützung der frankreichfreundlichen Adelspartei am Hofe durch Flandern, das seine Tuchindustrie durch englische Importe gefährdet sah, und zur Unterstützung der englandfreundlichen Gruppierung um Margarete durch Brabant, dessen Häfen auf den Englandhandel angewiesen waren. Margaretes politische Entscheidungen während Karls Minorität waren ganz wesentlich durch diesen Interessenkonflikt mitbestimmt.

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Rolle hatte sie erstmals als Herzogin von Savoyen übernommen, als sie erreichte, daß der Halbbruder Herzog Philiberts, der sog. Grand bâtard René, allen Einfluß am Hof verlor und sie als „erster Minister“ ihres lebenslustigen, den Regierungsgeschäften wenig zugeneigten Gemahls das kleine Herzogtum mit großer Umsicht leitete. Ihre Berater, ihr „Kabinett“, hatte sie sorgfältig ausgewählt: nicht nach hoher Geburt, sondern nach ihren Fähigkeiten und ihrer Einsatzbereitschaft. Mehrere ihrer damaligen Berater, die fast alle aus der Franche-Comté68 stammten, folgten ihr später nach Mecheln, darunter insbesondere der gebürtige Piemontese Mercurino Gattinara und der Jurist Jean de Marnix, der bis zu Margaretes Tod als Sekretär in ihrem Dienst blieb. Damit erfuhr die ohnehin schon große burgundische Faktion am Hofe erhebliche Verstärkung. Während ihrer ersten Regentschaft in den Niederlanden (1507–1515, bis zur Mündigkeit Karls) stand Margarete jedoch vor ungleich schwierigeren Aufgaben, die bereits mit der Besetzung der Ämter begannen. Dabei hatte die Regentin keineswegs freie Hand bei der Wahl ihrer Berater: Sie mußte nicht nur das Wohl des Landes bedenken, sondern gleichermaßen die Privilegien des alten burgundischen Feudaladels, der hohen Geistlichkeit und der Städte beachten und sich mit den oft spontanen politischen Entschlüssen Maximilians auseinandersetzen. Die Männer, die ihr bei ihrer Einsetzung als Hofrat zur Seite gestellt wurden, entstammten den vornehmsten und mächtigsten Familien des altburgundischen Feudaladels: Sie waren princes du sang, wobei dieser Kreis nicht mehr, wie ursprünglich einmal, nur Verwandte des Herrscherhauses einschloß. Sie hatten das althergebrachte Recht, als conseillers et chambellans in beratender und verhandelnder Funktion an der auswärtigen Politik beteiligt zu werden. Etliche von ihnen lebten ständig am Hofe, andere reisten nur zu wichtigen Sitzungen aus der Provinz an. Während für diese Mitglieder des Adels die Mitwirkung an der Regierung Ehrenamt war, bedeutete sie für den zweiten Stand der conseillers Staatsdienst als Beruf im heutigen Sinne. Akademisch ausgebildete Juristen, im humanistischen Geist erzogen, die dem niedrigen Adel oder dem gehobenen Stadtbürgertum entstammten, gehörten als maîtres des requêtes zu diesem Kreis der Berater. Der bedeutendste unter ihnen war am burgundischen Hof Mercurino Gattinara, der später zum Großkanzler Karls V. aufstieg. Wie Walther darlegt, bahnte sich während der Regentschaft Margaretes unter den Beratern bereits eine „Verschiebung der Stände“ an,69 d.h. „daß die

68 Dieser Teil Burgunds, die Freigrafschaft, war nach der Einziehung des Herzogtums Burgund beim Reich verblieben. 69 Walther 1911, 66; sehr kenntnisreich und detailliert ebd. 66–74 zur Entwicklung der einzelnen burgundischen Verwaltungs- und Regierungsorgane, fußend auf Walthers Forschungen zu den „Burgundischen Zentralbehörden“ (1909).

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Bedeutung der genannten drei Stände70 in den fortlaufenden Verhandlungen der äußeren Politik in umgekehrtem Verhältnis steht zu der sozialen Vornehmheit.“ Mit dieser Entwicklung, die sich während der frühen Regierungsjahre Karls V. fortsetzte, haben wir ein Charakteristikum der Schwellenzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit vor uns, wie es sich im politischen Bereich herausbildete: Der allein auf hohe Geburt und die damit verbundenen Privilegien gegründete Einfluß des Feudaladels auf die Außenpolitik des Herrschers geht allmählich zurück, während Ratgeber, die sich durch Bildung und Ausbildung, durch ihre Fähigkeiten und ständige Einsatzbereitschaft auszeichnen, in den engsten Beraterkreis vorrücken.71 Mit einem Beratergremium aus stark an das Land gebundenen Feudalherren, die verständlicherweise auch ihre eigenen Interessen zu wahren gedachten, wäre ein Weltreich, wie es Karl V. zufiel, nicht zu regieren gewesen; für diese Aufgabe waren nur Männer geeignet, die bereit waren, sich als Staatsdiener im besten Sinne des Wortes ganz ihrem Amt zu verschreiben. Damit begann in dem hier behandelten Zeitabschnitt ein gesellschaftlicher und politischer Entwicklungsprozeß von großer Tragweite; er vollzog sich in Burgund ohne gewaltsame Ausschaltung des Adels. Gerade Margarete gelang es, befähigte Adlige am Hof zu halten und sie, zusammen mit Männern ihres Vertrauens aus dem „zweiten Stand“, als Mitglieder des conseil privé zu ihren engsten Beratern zu machen. In diesem Gremium, das man als die Vorstufe eines Kabinetts bezeichnen könnte, wurden nicht nur Entscheidungen von größerer Tragweite gefällt, sondern auch die stets anfallenden, wenig spektakulären Aufgaben regelmäßig erledigt. Chef des conseil privé war ab 1508 Jean Le Sauvage, später wohl – die Angaben schwanken – Mercurino Gattinara.72 Der Adel, der über die Räte hinaus in vielfachen Funktionen im Dienste des Hofes stand, hing, je nach eigener Herkunft, Interessenlage oder politischer Einstellung, drei verschiedenen Parteiungen an: den frankreichfreundlichen burgundischen Nationalisten, deren Haupt Guillaume de Croy, Herr von Chièvres, war, den Befürwortern einer englandfreundlichen Politik um Margarete und Gattinara, oder den kastilischen Nationalisten, Anhängern Philipps des Schönen, 70 Walther bezieht den „dritten Stand“ der Räte, die Sekretäre, die er als „praktisch gebildet“ bezeichnet, in seine Ausführungen ein; unter ihnen waren aber durchaus auch Akademiker, insbesondere Juristen wie der bereits genannte Marnix. 71 Damit setzte sich im Bereich der großen Politik das Prinzip durch, das für die inneren Angelegenheiten Burgunds, insbesondere die Finanzverwaltung, bereits eine lange Tradition hatte: In den Zentralbehörden waren Finanzbeamte tätig, die auf Grund ihrer Kompetenz ernannt wurden und die für einen kontinuierlichen Geschäftsgang sorgten. 72 Nach Walther 1911, 88 f. hatte Maximilian 1508 Gattinara dazu ernennen wollen, scheiterte aber am Widerstand der „niederländischen Herren“. An anderer Stelle (74. 101. 199) spricht Walther von Gattinara jedoch als Inhaber dieses Amtes.

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die nach dessen Tod in die Niederlande geflohen waren. Jede dieser Faktionen versuchte möglichst viel Einfluß auf den heranwachsenden jungen Herrscher zu gewinnen und ihn zur Erreichung der eigenen Ziele zu benutzen. Wenn gerade im Hinblick auf die Einflußnahme auf Karls Person und auch auf seinen eigenen Entscheidungsspielraum nach seinem Regierungsantritt den politischen Gremien sowie den Interessengruppen am Mechelner Hof hier viel Raum gegeben wurde, so soll darüber nicht außer Acht gelassen werden, daß der „Hof“ nicht nur aus Politikern bestand, sondern daß das hôtel eine nicht minder wesentliche Rolle spielte. Dieser größere und – im Vergleich zum Keyzerhof – so ungleich lebhaftere Haushalt gehörte, in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen, zum Umfeld der fürstlichen Kinder mit seinen zahlreichen Gästen, mit dem regen diplomatischen Verkehr und mit der ganz besonderen Ausstrahlung, die ihm die ständige Anwesenheit von Malern, Bildhauern, Literaten und Kunsthandwerkern verlieh. Dieser Hof der Regentin entsprach in seinem Aufbau dem, was Rainer A. Müller als „idealtypisch“ für frühneuzeitliche Fürstenhöfe bezeichnet: Er bestand aus zwei Personengruppen mit deutlich getrennten Aufgaben, nämlich einmal aus dem „Hofstaat“, der für alles zuständig war, was im weitesten Sinne die persönliche Betreuung des Fürsten und seiner Familie betraf, und zum anderen aus den Staatsorganen, auf deren wichtigste oben bereits eingegangen wurde.73 Damit wird die Doppelfunktion des Hofes als Regierungssitz und als fürstlicher Haushalt klar hervorgehoben.74 Innerhalb der verschiedenen Aufgabenbereiche des Hofstaats folgte die Vergabe von den höchsten und verantwortungsvollsten Ämtern bis zu den niedrigsten Dienstbotentätigkeiten einer streng hierarchischen Ordnung, in der nicht nur zwischen „gens de qualité“ und „gens du commun“ unterschieden wurde,75 sondern diese beiden Gruppen darüber hinaus einer bis in Feinheiten geregelten Binnendifferenzierung unterlagen. Demgemäß konnte die Gesamtleitung des fürstlichen Haushalts nur einem Mann aus hohem Adel als Hofmarschall (grand bzw. premier chambellan) anvertraut werden, ebenso wie das Amt des Hofkämmerers (chambellan), dem die Verwaltung der fürstlichen Finanzkammer sowie die der fürstlichen Güter und Domänen oblag.76 Auch das département de la chambre, das für den 73 R.A. Müller 1995, 18. 74 In der französischsprachigen Literatur wird meistens zwischen „hôtel“ und „conseil“ unterschieden. 75 Moeller 1895, 50. 76 Zu den Aufgaben der Finanzkammer gehörten u.a. auch die Führung und ständige Kontrolle der Personallisten sowie die tägliche Bezahlung aller im Hofdienst Tätigen durch den maître de la chambre aux deniers, wie es seit alten Zeiten üblich war: „Au XVIe siècle [...] la societé conservait toujours, dans ses formes extérieures, l’empreinte tenace d’un régime tant de fois séculaire. Cette puissance de l’habitude explique seule comment un prince de

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unmittelbaren Dienst an der Person des Fürsten zuständig war und dem die Leibärzte ebenso zugeordnet waren wie die Kammerdiener, stand unter der Leitung eines Adligen, wie noch aus der deutschen Bezeichnung „Kammerherr“ abzulesen ist. Allein das Hofküchenamt, obwohl für die tägliche Versorgung des Hofes, für die Planung von Banketten und die Beschaffung von Delikatessen einer der wichtigsten Bereiche des fürstlichen Haushalts, wurde meistens einem Bürgerlichen übertragen. Mit dem Selbstverständnis des Adels vertrug es sich nicht, sich mit dem täglichen Geschäft des Wirtschaftens zu befassen. „Wirtschaften“ bedeutete hier nun nicht nur die Bereitung der Mahlzeiten mit einem vom Mundkoch bis zur Küchenmagd wiederum hierarchisch aufgebauten Stab, es umfaßte die Vorratshaltung ebenso wie Zukäufe vom Markt der Stadt und – für den Historiker von besonderem Interesse – die peinlich genaue Buchführung über Rechnungen, Wareneingänge und -ausgabe. Aus derartigen Mechelner Manualen geht hervor, daß an der Mittagstafel im Hôtel de Savoye etwa 150 Personen täglich teilhatten.77 Diese Zahl gibt jedoch nicht Auskunft darüber, wieviele Angehörige des Hofstaats tatsächlich im Palais lebten: Zahlreiche Bedienstete wohnten in der Stadt, langfristig dem Hof verbundene Adlige hatten sich eigene hôtels bauen lassen; Gäste, durchreisende Landedelleute und auch langjährige ehemalige Mitglieder des Hofstaats hatten ebenfalls ihren Platz bei der einzigen größeren Mahlzeit des Tages. Die Tischordnung folgte streng der Hierarchie innerhalb des Hofstaates: Am Tisch von „Madame“ zu sitzen bedeutete Herrschernähe und höchste Auszeichnung. Daß an diesem Tisch zuerst serviert wurde, versteht sich von selbst. Die „Verschiebung der Stände“, wie sie sich unter der Herrschaft Margaretes im Kreis ihrer politischen Berater anbahnte und im Verwaltungsbereich längst vollzogen war, die Aufhebung oder zumindest Öffnung der Standesschranken bei entsprechender Fähigkeit und Leistung, hatte sich auf die hierarchische Ordnung des hôtel noch nicht ausgewirkt. Hier galten wie seit Jahrhunderten weiterhin die Privilegien der hohen Geburt – nicht nur in der Tischordnung, sondern auch bei der Ausstattung mit Ämtern. Entgegen Margaretes sonstiger Aufgeschlossenheit gegenüber Strömungen und Erfordernissen einer neuen Zeit lebte im Bereich ihres Haushalts der alte burgundische Hof in kaum veränderter Form weiter. Gerade das hôtel aber, nicht der conseil privé oder die Amtsstuben der Finanzverwaltung, war die Lebenswelt, das tägliche Umfeld der „burgundischen Kinder“. So wuchsen sie auf mit Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Ordnung, die vielerorts bereits an Gültigkeit verloren hatte – man denke nur an die selbstbewußten BürChimay ou un comte de Nassau ne trouvait rien d’humiliant à recevoir, comme le premier domestique venu, des gages comptés en sols et par jour [...]“ (Moeller 1895, 45). 77 Damit entsprach die Größe des Mechelner Hofes der eines mittleren Fürstenhofes des 16. Jahrhunderts, für den R. A. Müller (1995, 30) einen Hofstaat von 100–170 Personen festgestellt hat. Wie an anderen Höfen vergrößerte sich der Hofstaat jedoch in der Folgezeit.

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ger der aufstrebenden Städte. Wenn Karl V. noch 1545 für seinen Madrider Hof eine Ordnung als verbindlich erklärte, die etwa 100 Jahre zuvor für den Haushalt seines Urgroßvaters aufgestellt worden war und deren Anpassung an veränderte Verhältnisse hauptsächlich in der Übersetzung vom Französischen ins Spanische bestand, so kann man darin durchaus eine Anknüpfung an die gelebte und erlebte Tradition am Mechelner Hof sehen. Ein für jeden Fürstenhaushalt der Zeit unentbehrliches Requisit war ein wohlbestückter Marstall. So gehörten zum Hof der Regentin wie auch zum Kinderhaushalt umfangreiche Stallungen für Reit- und Jagdpferde sowie Lasttiere als wesentliches département des Haushalts, das dem grand et premier écuyer d’écurie unterstellt war. Dieses Amt – wohl als „Hofstallmeister“ zu übersetzen – gehörte zu den angesehensten am Hofe. Margarete, eine begeisterte Reiterin, die schon in Savoyen häufig mit ihrem Gemahl zur Jagd ausgeritten war und später gern Maximilians Einladungen folgte, ihn auf Jagdausflügen zu begleiten, hatte, ebenso wie ihr junger Neffe, einen Oberjägermeister in ihrem Dienst, der den übrigen Hofjägern wie auch dem gesamten Forstwesen vorstand. Dem Schutz der Haushalte diente jeweils eine Leibgarde (garde de corps); die Leibgarde am Keyzerhof bestand aus fünfzig Bogenschützen unter einem capitaine.78 Margarete galt als sparsame Wirtschafterin, die die Ausgaben des Hofes kontrollierte und darauf achtete, daß nichts verschwendet wurde. Nur bei den glänzenden Hoffesten wurde an nichts gespart. Bei diesen Festen spielte die berühmte Mechelner Hofmusik79 zu den würdevollen burgundischen Tänzen auf, die den Tänzern in ihren prunkvollen Gewändern nur sehr gemessene Bewegungen gestatteten. Die Regentin wachte darüber, daß bei den Festen wie auch im Alltag stets formvollendetes Betragen und höfische Haltung gewahrt blieben. Ungezügeltes Treiben, wie es an anderen Höfen der Zeit gang und gäbe war, wie es bei den Festen ihres Bruders in Brüssel üblich gewesen war und wie es Philipps Gefolge auch, zum Abscheu des einheimischen Adels, in Spanien eingeführt hatte, war am Hof Margaretes unvorstellbar.80 Margaretes eigenes untadeliges Verhalten und 78 Moeller 1895, 50. 79 Auf die Pflege des Musiklebens am Mechelner Hof wird an späterer Stelle im Zusammenhang mit dem Mäzenatentum Margaretes eingegangen. 80 1525 erließ die Regentin eine Hofordnung (règlement pour l’entretenement et conduite de sa maison), in der der geregelte Tagesablauf, die Rangordnung am Hofe, Fragen des Zeremoniells und vor allem des moralischen Betragens, der guten Sitte im Detail festgelegt sind. Strelka (1957, 22 Anm. 49) verweist darauf, daß sich in Ghislaine De Booms häufig zitierter, mir leider nicht zugänglicher Biographie (Marguerite d’Autriche-Savoie et la Pré-Renaissance, Paris/Brüssel 1935) eine Zusammenstellung der wesentlichsten Punkte findet. – Die berühmt gewordene Hofordnung Karls V. von 1545, die, auf den Wiener Hof übertragen, dort das „spanische Zeremoniell“ über Jahrhunderte bestimmte, geht auf die Ordnung zurück, die Olivier de La Marche für den Hof Karls des Kühnen abfaßte. Sie

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die Klugheit, mit der sie ihren Hof leitete, trugen ihr das hohe Lob Baldassare Castigliones ein, der sie in seinem Libro del Cortegiano (1528) anderen Herrschern der Zeit als Beispiel empfahl: Vedete madonna Margarita, figliuola di Maximiano imperatore, la qual con tanta prudenzia e giustizia insino a qui ha governato e tuttor governa il stato suo...81 Gute Sitte und höfische Umgangsformen galten selbstverständlich nicht nur im Hôtel de Savoye, sondern auch im Keyzerhof der „burgundischen Kinder“. Eine bessere Erziehung auf diesem Gebiet hätte ihnen nicht zuteil werden können als durch den täglichen Umgang mit Margarete, die ihnen vorlebte, was sie von anderen erwartete. Ein Problem konnte die Regentin trotz der vorbildlichen Leitung des Hofes und bei aller Sparsamkeit während ihrer Statthalterschaft nie dauerhaft lösen: die ständige Finanznot, in der sie sich trotz beträchtlicher Einkünfte82 ständig wiederfand. Zusätzlich zu den Einnahmen aus ihren Ländern und Herrschaften erhielt sie noch eine Pension, die Maximilian ihr zahlte, und auch die Stände ihrer Provinzen übersandten regelmäßig „freiwillige Geschenke“.83 Die Kosten der Hofhaltung aber stiegen; ebenso wuchs mit den Jahren der Aufwand für Karl, Kosten, die der „Kinderhaushalt“ nicht mehr deckte; der Geldrische Krieg verschlang große Summen, und vor allem war Maximilian in fortwährender Geldnot, wie zahlreiche Briefe aus der Korrespondenz zwischen Vater und Tochter bezeugen.84 Das alles führte dazu, daß Margarete selbst nur knapp dem Bankrott entging. Wenn

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diente als unmittelbare Vorlage für die Relacion de la orden de servir que se tenia en la casa del emperador don Carlos, nuestro señor, el año de 1545. Vgl. Brandi 1941, 66. p. 257 Ghinassi. Eine dt. Übers. bei Strelka 1957, 22. Margarete verfügte über ein beträchtliches Witwengut aus ihren beiden Ehen; ab 1509 wurde ihr, dank Gattinaras unermüdlicher Verhandlungen mit Maximilian, ein Teil des burgundischen Erbes zur Nutzung auf Lebenszeit zugesprochen, v.a. die Franche-Comté. Strelka 1957, 22. Als Beispiele seien hier nur einige Briefe angeführt: Le Glay 1839, 1, 60 Nr. 43 (Maximilian an Margarete, 10.6.1508); 61 f. Nr. 44 (ders. an Margarete und die gens de ses finances, 10.6.1508: Er benötigt 10.000 Goldgulden für Truppen in Burgund); 95 f. Nr. 78 (Maximilian an Margarete, 24.10.1508: Die brabantischen Städte sollen sofort ihren Anteil an den von den Ständen bewilligten 60.000 oder 70.000 Gulden schicken, damit er die Söldner bezahlen kann, die gegen Geldern gekämpft haben); 145–149 Nr. 120 (Maximilian an Margarete, 25.5.1509: Er hat einen Gerichtsbeamten mit der Begleichung der Schulden Philipps beauftragt, Margaretes conseil privé soll die Angelegenheit zur Zufriedenheit regeln); 205–211 Nr. 156 (Maximilian an Margarete, 2.11.1509: Er schuldet seinen Soldaten den Sold für zwei Monate, sie drohen seinen Dienst zu verlassen); 211 f. Nr. 157 (Maximilian an Margarete, 2.11.1509: Margarete und die Finanzkammer sollen seine Restschuld bei Seigneur de Reux [vermutl. Rœu(l)x] bezahlen); 394 Nr. 302 (Margarete an Maximilian, undatierte minute [vermutl. Mai/Juni 1510]: Monseigneur, voyant que les aydes fauldron à ce Noël prouchain, j’ay advisé, par l’advis de vostre privé conseil, de faire assembler les Estatz en général pour leur demander continuacion desdites aydes sans lesquelles

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die Regentin trotz der immer wieder prekären finanziellen Situation des Hofes als großzügige Förderin der Künste hervortrat, so war dies einerseits dem Einsatz ihres Privatvermögens zu verdanken, andererseits hatte sie jedoch, wie bereits erwähnt, zahlreiche Künstler in den Hofdienst genommen, für deren Bezahlung die Finanzkammer aufkam. Die oben zitierten Worte Castigliones aus dem Cortegiano betonen also nur die eine Komponente, die den Hof zu Mecheln vor anderen zeitgenössischen Residenzen auszeichnete; die andere, für uns heute bedeutsamere, war seine herausragende kulturelle Bedeutung. Margarete war nicht nur der Mittelpunkt einer gebildeten, an allen Künsten interessierten Hofgesellschaft, sondern sie zog vor allem Künstler und Gelehrte an ihren Hof, die dem Kreis stets neue Impulse gaben, so daß das kulturelle Leben in der Residenz nicht in der Pflege überkommener Werke und Werte stagnierte, sondern durch die ständige Auseinandersetzung mit neuen Ansätzen, Sicht- und Denkweisen in Kunst, Literatur, Musik und Wissenschaft diesen zum Durchbruch verhalf und zu ihrer größeren Verbreitung beitrug. So entstand im Hôtel de Savoye einer der ersten „Musenhöfe“ nördlich der Alpen, der den Vergleich mit den italienischen „Damenhöfen“ der Zeit in Mantua, Ferrara und Urbino nicht zu scheuen brauchte.85 Mecheln erwies sich als idealer Nährboden für eine neue kulturelle Blüte in den burgundischen Ländern. Spürt man den Ursachen nach, so richtet sich der Blick zunächst rückwärts, auf die seinerzeit unvergleichliche Stellung des alten Herzogtums Burgund und seiner Hauptstadt Dijon um die Mitte des 15. Jahrhunderts, wo politische Macht und Reichtum von Herrschern und Adel nach außen hin sichtbar wurden in prachtvollen Bauten und Kunstwerken, in reichem literarischem Schaffen – ermöglicht durch das Mäzenatentum eines in ganz Europa berühmten glanzvollen Hofes.86 Diese hervorragende Stellung gründete aber nicht allein auf Macht und Reichtum: Man sollte nicht übersehen, daß das alte Burgund, vor allem das Herzogtum und die Freigrafschaft, dazu weite Teile des „Mittelreiches“, das Karl der Kühne neu errichten wollte, seit Römerzeiten nicht nur Grenzland zwischen romanisch-kelnous ne sçaurions vivre); 398 f. Nr. 305 (Margarete an Maximilian [vermutl. Juni 1510]: Dringende Bitte um Bewilligung des Zusatzhaushalts für Karl). 85 Strelka 1957, 20. R.A. Müller (1995, 43) verweist darauf, daß oft gerade die kleineren Höfe, deren Rolle in der großen Politik eher unbedeutend war, sich zu „Musenhöfen“ entwickelten. Dieses trifft weniger für Mecheln als für die kleineren deutschen Residenzen v.a. des 18. Jahrhunderts zu. Die weitreichende Bedeutung von Kulturpflege und Mäzenatentum an den „Damenhöfen“ ließe sich durch zahlreiche Beispiele belegen; weitaus seltener aber dürften Mäzenatentum, Liebe zur Kunst, Diplomatie und Politik so sehr Hand in Hand gegangen sein wie bei Margarete von Österreich. 86 Daß der blendende Glanz des alten Burgund auch seine dunklen Seiten hatte und wie beides, Licht und Schatten, das Lebensgefühl der Menschen bestimmte, hat Johan Huizinga in wohl unübertrefflicher Weise erfaßt und dargestellt in seinem „Herbst des Mittelalters“.

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tischer und germanischer Sprache und Kultur, sondern auch Durchzugsland und Land der Begegnung war;87 wenn man von der damaligen Gewichtung innerhalb Europas ausgeht, darf man wohl von der Mitte oder dem Herzen des Kontinents sprechen. In welch hervorragender Weise gerade Begegnungen und Mischungen von Kulturen in einer Synthese von Elementen etwas Neues und oft Einzigartiges hervorbrachten, ließe sich vielfach belegen; stellvertretend für andere Regionen seien hier nur das Rheinland und Oberitalien genannt. Mit der Verlagerung des politischen und wirtschaftlichen Schwerpunktes in den Norden des verbliebenen Herrschaftsgebietes verlagerte sich auch das kulturelle Zentrum – was allerdings ohne die Persönlichkeit Margaretes wohl kaum so nachhaltig in Erscheinung getreten wäre. Zehn frühe Jahre am französischen Hof und ihre weitere Erziehung durch Margarete von York, das zeitweilige Leben in Spanien und Savoyen, weite Reisen durch Europa schon in jungen Jahren hatten ihr eine hervorragende Bildung und einen weiten Horizont vermittelt. War das Fundament ihrer Bildung auch die traditionelle französisch-burgundische Kultur, so war sie doch stets aufgeschlossen gegenüber allem Neuen auf geistigem und künstlerischem Gebiet. Ihre wohl tiefe und echte Frömmigkeit engte ihren Blick nicht ein;88 sie war ihr zugewachsen in der Zeit nach dem Verlust ihres geliebten Gemahls Philibert und fand ihren bewegendsten Ausdruck in beider Grabkirche zu Brou, nahe Bourg-en-Bresse. Margaretes erster Titel innerhalb einer langen Reihe war der einer Erzherzogin von Österreich; Österreicherin war sie jedoch gewiß nicht – soweit man zu ihrer Zeit überhaupt schon von einer österreichischen Nationalität sprechen kann. Sicher war sie Habsburgerin; vor allem aber war sie Burgunderin, nicht nur ihren Titeln – Herzogin von Burgund und Gräfin von Burgund [d.h. der Freigrafschaft] – und ihren schwer erkämpften Besitzungen nach, sondern auch der Sprache wegen: sie sprach nur Französisch. La langue bourguignonne89 wurde Sprache des Hofes und der Verwaltung, weitgehend auch der Gerichtsbarkeit. Karl V., in diesem Sprachmilieu aufgewachsen, führte diese Tradition – außer in Spanien – an seinem Hofe fort. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung der Niederlande flämischer Muttersprache war, lernte Margarete das thiois, von einigen

87 Vgl. auch Habsburg 1967, 37–40. 88 Margarete erkannte mit kritischem Blick die Mißstände in der Kirche und deren Reformbedürftigkeit. Ihre Wertschätzung Adrians von Utrecht und des Erasmus von Rotterdam kann als weiteres Indiz für ihre Aufgeschlossenheit auch in religiösen Fragen dienen. 89 Als im 17. Jahrhundert in Löwen der erste Lehrstuhl für französische Literatur eingerichtet wurde, nannte man ihn chaire de langue bourguignonne. Der erste Lehrstuhlinhaber verfaßte eine Grammatik der französischen Sprache, erschienen in Löwen 1689, unter dem Titel Manuductio ad linguam Burgundicam (nach Moeller 1895, 70 Anm. 1).

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notwendigen Formeln abgesehen, niemals,90 und obwohl sie als im Lande geborene princesse naturelle anerkannt und geschätzt wurde, sah man in ihr nie eine flamande.91 Ihren Gedanken und Gefühlen verlieh sie seit ihren Mädchenjahren in französischen Gedichten Ausdruck,92 und so lag ihr die Förderung der französischen Literatur denn auch besonders am Herzen, die in der Zeit ihres Mäzenatentums eine beachtliche Entwicklung erfuhr, die hier nur angedeutet werden kann. Jean Molinet, Margaretes erster Hofchronist und als solcher heute noch gelegentlich mit seinem historiographischen Œuvre zitiert, war auch ihr erster Hofdichter, hatte aber dieses Amt schon unter mehreren burgundischen Fürsten bekleidet. In seinen höchst gekünstelten, schwülstigen, um Wortspielereien gerankten Huldigungsgedichten für Mitglieder des Herrscherhauses lebt der Stil der rhétoriqueurs noch einmal auf, ehe er aus der Mode kommt.93 1504, noch in Savoyen, trat Jean Lemaire in Margaretes Dienst. Von ihm stammt La Couronne Margaritique, die „Perlenkrone“, als Trauergedicht entstanden nach dem Tode Philiberts. Auf das traditionelle Beiwerk von Allegorien, Symbolen und Akrostichen kann Lemaire noch nicht verzichten, aber es bildet nur noch den kunstreich gestalteten Rahmen für „Figuren, die Fleisch und Blut haben und mitunter recht realistisch wirken“.94 Von Lemaires historiographischer Tätigkeit im Dienste der Häuser Österreich, Kastilien und Burgund (ab 1507) sind nur wenige Zeugnisse erhalten;95 in engem Bezug dazu stehen aber Gedichte des poète en titre auf Ereignisse im Herrscherhaus. Sein bis heute bekanntestes Werk ist eigentlich ein poetischer Scherz in frischer, natürlicher Sprache: L’Épître de l’Amant vert. Der Dichter läßt den „grünen Liebhaber“ einen Abschiedsbrief an seine ferne Herrin schreiben, wobei man am Hofe natürlich wußte, daß der „Liebhaber“ das Lieblingstier Margaretes war, ein grüner Papagei, der während der Abwesenheit 90 Moeller 1895, 70 Anm. 1. 91 Pirenne 1953, 74: „Pour les Belges [...] elle était et elle resta toujours une étrangère. C’est bien à tort que Michelet a vu en elle une Flamande. [...] Elle ignorait aussi complètement le flamand que l’allemand.“ 92 Strelka 1957, 56. Drei Gedichtsammlungen, die sog. Albums poétiques, wurden lange Zeit Margarete zugeschrieben. Inzwischen gilt ihre Autorschaft nurmehr für einige der Gedichte als gesichert, während die übrigen von Mitgliedern ihres höfischen Zirkels stammen. Für zwei der albums dieser Sammelhandschriften gibt es zeitgenössische Vertonungen. 93 Huizinga führt im „Herbst des Mittelalters“ zahlreiche Beispiele aus Molinets Werken an. Die Quintessenz seiner Wertung ist in folgenden Sätzen zu sehen: „Die Kunststücke, denen Molinet unter den Zeitgenossen seinen Ruf als geistreicher Rhetoriker und Poet verdankt, erscheinen uns wie die letzte Entartung einer zum Untergang reifen Ausdrucksform“ (1975, 460). 94 Strelka 1957, 40. 95 Auf Lemaires Beschreibung der Leichenfeier für Philipp den Schönen, enthalten in der Chronique de 1507, wird in Kapitel III ausführlich eingegangen.

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seiner Herrin von einem Hund verschlungen worden war. Der Erfolg des „Briefes“ veranlaßte den Dichter, den grünen Liebhaber ein zweites Mal schreiben zu lassen, diesmal aus dem Elysium – „eine Parodie von Dantes Komödie, wenn auch eine wohlmeinend verehrungsvolle, deren Humor mit Spott nichts gemein hat“96 – ein neuer Ton, neue Bezüge tauchen erstmals in der höfischen französischen Literatur auf. Aus dem umfangreichen Werk Lemaires sei hier nur noch sein Troja-Roman Singularités de Troye erwähnt, in dem er die rechtmäßige trojanische Abkunft des Hauses Habsburg-Burgund nachweist97 und damit ein „wissenschaftlich“ fundiertes Argument für einen Zug gegen die Türken liefert, die sich des trojanischen Erbes in Griechenland und Kleinasien bemächtigt hatten. Es bleibt noch anzumerken, daß Lemaire in dem Mechelner Kreis der erste war, der in seinem Werk nicht nur auf die Inhalte klassischer lateinischer und auch griechischer Texte Bezug nahm, sondern der auch versuchte, sich die Formen antiker Dichtung anzueignen.98 Wenn Lemaire somit als ein Bindeglied zwischen der älteren französischen Literaturtradition und dem Gedankengut und den Ausdrucksformen des Humanismus gelten kann, so sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Maximilian selbst zweifellos zu den Wegbereitern des Humanismus in den Niederlanden gerechnet werden darf. Er, der nicht im burgundischen Kulturkreis aufgewachsen war, versuchte bereits 1481 – Margarete war gerade ein Jahr alt – einen der damals berühmtesten Humanisten, Rudolf Agricola, als Erzieher für seine Kinder zu gewinnen. Agricola lehnte ab. Alle Pläne für Margaretes Erziehung zerschlugen sich ohnehin bereits im darauffolgenden Jahr durch ihre Auslieferung nach Frankreich.99 Sie erwarb ihre Lateinkenntnisse erst nach ihrer Rückkehr in Mecheln, 96 Strelka 1957, 44 f. 97 Besonders im 15. und 16. Jahrhundert hatten an allen bedeutenden Höfen Europas die Chronisten die Aufgabe, das jeweilige „angestammte“ Herrscherhaus bis zu seinen trojanischen Vorvätern zurückzuverfolgen. Aus einer Zusammenschau dieser Stammtafeln ließ sich ablesen, daß die christlichen Fürsten alle vom gleichen Stamme waren, was den Zeitgenossen in Anbetracht der vielfältigen familiären Verbindungen der eigenen Epoche einleuchtete. Somit hatten alle christlichen Fürsten ebenso wie die Habsburger das Recht, nicht nur die Pflicht, den Türkenzug anzutreten. Vgl. dazu jetzt Kellner 2007. 98 Strelka widmet Lemaire und seiner Bedeutung für die Entwicklung der französischen Sprache und Literatur ein ganzes Kapitel (1957, 39–51). 99 Nach dem frühen Tode Marias von Burgund ließen die Generalstände, die die Vormundschaft über die Prinzessin beanspruchten, Maximilian, dem Fremden, so wenig Handlungsspielraum, daß er nicht einmal über das Schicksal seiner einzigen Tochter befinden konnte. Er mußte sich dem Beschluß der Stände beugen, als – nach dem Friedensschluß der Stände mit Frankreich (Arras, 1482) – seine Tochter als „Preis des Friedens“ (Brandi 1964, 31) mit dem Dauphin, dem späteren Karl VIII., verlobt und unverzüglich zur Erziehung nach Frankreich gegeben wurde.

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wo ihrem Bruder Philipp unter der Leitung seines geistlichen Erziehers, des Erzbischofs von Besançon Franz von Busleyden, eine humanistische Erziehung zuteil wurde. So folgte Margarete durchaus einer Familientradition, als sie später Adrian von Utrecht, den bedeutenden Humanisten und Theologen, zum „geistlichen Erzieher“ ihres Neffen auswählte. Als Dekan der Universität Löwen hatte Adrian bereits 1502 die Bekanntschaft des Erasmus von Rotterdam gemacht, dessen Beziehungen zum Mechelner Hof jedoch erst ab etwa 1512 zu datieren sind.100 Adrian wie Erasmus standen damals schon in höchstem Ansehen, weit über die Gelehrtenkreise hinaus; sie überragten die zahlreichen niederländischen Humanisten ihrer Zeit, deren Namen heute nur noch Fachleuten geläufig sind,101 die aber alle miteinander in Verbindung standen und dadurch ein „Netzwerk“ (Strelka) bildeten, das seine Knotenpunkte in Löwen und vor allem in Mecheln hatte. Für eine landesweite Verbreitung klassischen Bildungsguts war durch dieses „Netzwerk“ gesorgt; darüber hinaus aber setzten sich gerade die bedeutendsten Vertreter für eine humanistische Lebenshaltung ein, die, über philologische Studien hinaus, eine charakterliche Ausrichtung des Menschen auf die Prinzipien von Gerechtigkeit, Toleranz, Frieden, Freiheit der Forschung102 und Frömmigkeit anstrebte, Bestrebungen, die besonders bei Erasmus zur Verbindung antiken und christlichen Gedankenguts im Sinne eines „christlichen Humanismus“ führten, einer Lebens- und Geisteshaltung, die in den Niederlanden bis heute nachwirkt. Der hohe Ruf der niederländischen Humanisten, ihre vielfältigen Beziehungen zum Hof und damit auch die Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Politik, (da, wie bereits gezeigt, Mitglieder des Hofstaats, auch des Keyzerhofs, gleichzeitig zur gebildeten Gesellschaft um die Regentin gehörten): all dieses zog auch ausländische Humanisten an, wie den Spanier Vivés, der 1512 in die Niederlande kam und später Erzieher der Prinzessin Mary von England wurde. Die Freundschaft des Erasmus führte Thomas Morus, den Erzbischof von Canterbury und 100 Auf Erasmus’ Verhältnis zu Karl V. nach 1515 wird an späterer Stelle eingegangen. 101 Strelka nennt (1957, 61 f.) die wichtigsten Namen und geht ebd. auf die nachhaltig wirkenden Verbindungen ein. Hier soll nur auf Hieronymus Busleyden hingewiesen werden, dessen Name heute noch in Mecheln gegenwärtig ist: Im Hof van Busleyden, einem der prächtigsten Palais des 16. Jahrhunderts, befindet sich heute das Stedelijke Museum und hält die Erinnerung wach an den Juristen und Minister, der sich nicht auf Studien zum römischen Recht beschränkte, sondern selbst neulateinische Gedichte verfaßte, v.a. aber in Löwen das „Kollegium der drei Sprachen“ (Latein, Griechisch, Hebräisch) gründete. 102 Es ist dies ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt im Hinblick auf die in dieser Zeit sich herausbildenden modernen Naturwissenschaften, die sich durch ihr empirisches Vorgehen von der hergebrachten „Naturphilosophie“ abzugrenzen begannen. Freiheit der Forschung war jedoch auch vonnöten im Bereich der (heute sog.) Geisteswissenschaften, denn leicht konnte es in vorreformatorischer Zeit durch (In-)Fragestellungen zu Konflikten mit der Lehrmeinung der Kirche kommen.

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späteren Lordkanzler Heinrichs VIII., zeitweilig nach Mecheln; die erste Ausgabe seiner Utopia wurde 1516 vom Drucker der Universität Löwen besorgt.103 Zum Zentrum humanistischer Gelehrsamkeit wurde Mecheln allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als die Erziehung der „burgundischen Kinder“ abgeschlossen war und ihre Wege sich bereits getrennt hatten, als zudem 1515 mit Karls Emanzipation das Ende nicht nur von Margaretes Vormundschaft, sondern auch das ihrer ersten Regentschaft gekommen war. Schon 1518 aber erhielt Margarete eine neue Aufgabe, als Ferdinand, der fünfzehnjährige „spanische“ Bruder Karls, an den Mechelner Hof geschickt wurde, um – nach der offiziellen Version – unter der Ägide seiner Tante seine bisherige spanische Erziehung durch eine niederländische bzw. burgundische zu vervollkommnen. Ihm erschloß sich die geistige Welt der Humanisten vor allem durch die Schriften des Erasmus, dem er große Verehrung entgegenbrachte. Margarete, 1515 ihrer politischen Aufgaben (vorerst) entbunden, blieb die erste Dame des Landes und Mittelpunkt des kulturellen Lebens. Als Mäzenin förderte sie ab etwa 1520 insbesondere die neulateinische Dichtung, die in Johannes Secundus einen herausragenden Vertreter hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Lateinische als Gelehrtensprache in den Niederlanden bereits etabliert, wobei gerade die Humanisten aus den nördlichen Landesteilen diese Entwicklung gefördert hatten, um mit ihren Kollegen aus dem frankophonen Süden in einer gemeinsamen Sprache kommunizieren zu können. Daß Mecheln nicht nur Gelehrte und Künstler anzog, sondern daß vom burgundischen Hof auch eine starke Ausstrahlung ausging, läßt sich besonders im geistigen Leben und Schaffen am österreichisch-habsburgischen Hof noch unter Maximilian sowie später am Wiener Hof Ferdinands I. nachweisen.104 In noch stärkerem Maße prägten Austausch und befruchtende Wechselwirkung das Musikleben der Zeit, was wohl z.T. auf die größere Mobilität der Musiker zurückzuführen ist. Am burgundischen Hof hatte die Musikpflege eine lange Tradition, die bis zu Philipp dem Guten zurückreichte, der die burgundische Hofkapelle stiftete. Eine gründliche musikalische Ausbildung gehörte seither zur Erziehung aller Fürstenkinder des Hauses. Maximilian, selbst ein begeisterter 103 Auch im England Heinrichs VIII., der selbst als einer der gebildetsten Männer seiner Zeit galt, waren die Beziehungen zwischen dem Hof und Humanisten in hohen politischen Positionen äußerst eng, wobei Morus’ Amt als Erzbischof von Canterbury gerade unter Heinrich VIII. durchaus als ein politisches gesehen werden sollte. 104 Strelka 1957, 103–152 stellt sehr detailliert die Einflüsse des Mechelner Humanistenkreises auf die literarische Entwicklung v.a. in Wien dar, zeigt Wechselwirkungen auf und verfolgt Einflußlinien, die sich bis in andere, spätere Kulturzentren Europas nachweisen lassen.

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Musikliebhaber, ließ seine beiden Kinder im Spiel mehrerer Instrumente unterrichten, und Margarete wiederum legte die musikalische Ausbildung Karls und seiner Schwestern in die Hände ihres berühmten Hoforganisten Henri Bredemer. Musik war Bestandteil des täglichen Lebens am burgundischen Hofe. Ausführende waren vor allem die Mitglieder der grande chapelle, die zu Margaretes Zeit 27–29 Mitglieder hatte, und der petite chapelle mit 7–9 Musikern. Sie gehörten dem fürstlichen Haushalt an und hatten in erster Linie für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste, von der öffentlichen Hohen Messe bis zur privaten Frühmesse der fürstlichen Familienmitglieder, zu sorgen. Am burgundischen Hof war aber seit jeher Bedarf nicht nur an geistlicher Musik. Die Hofgesellschaft ließ sich abends von weltlicher Musik unterhalten, Feste verlangten einen musikalischen Rahmen, und nicht selten wurde am Hof auch getanzt. Das Repertoire der Musiker mußte alles umfassen, von einfachen chansons über Instrumentalkompositionen bis zur großen, feierlichen Messe, wie sie bei fürstlichen Hochzeiten oder Leichenbegängnissen erklang. Von den Komponisten wurde die gleiche Vielseitigkeit erwartet wie von den Ausführenden. Die bedeutendsten Meister der Zeit, von denen die meisten übrigens aus Burgund stammten, waren an den europäischen Höfen höchst gefragt. Manch einer von ihnen läßt sich bald in Italien, dann in Spanien, in den Niederlanden oder an einem der österreichischen Höfe nachweisen. Margarete gelang es, einige der berühmtesten Musiker zumindest eine Zeitlang an ihren Hof zu binden, unter ihnen auch Heinrich Isaac. Josquin Desprez, von vielen als der bedeutendste Komponist seiner Zeit eingeschätzt, stand zwar nicht im Mechelner Hofdienst, komponierte aber für Margarete.105 Ihr Lieblingskomponist war Pierre de la Rue, der vor allem geistliche Musik hinterließ, darunter allein über 30 Messen, von denen eine mit dem Titel O gloriosa Margaretha der Heiligen und der Regentin gleichermaßen gewidmet ist: eine Verbindung der geistlichen mit der profanen Sphäre, wie sie auch in der Malerei und der bildenden Kunst der Renaissance nicht selten auftritt.106

105 Auf dem Gebiet der Musik hat sich in der hier behandelten Epoche – wie in den anderen Künsten – ein starker Wandel vollzogen. Strelka (1957, 30) spricht von einer „Übergangszeit, in der Altes neben Neuem sich zeigt“ und nennt Desprez „einen der Hauptträger der Revolutionierung in der Musik jener Zeit“. Als Laie auf dem Gebiet der Musik- und Kompositionstheorie kann ich dies nur referieren und die Vermutung äußern, daß unter der „Revolutionierung“ die Einführung der frühen Polyphonie zu verstehen ist. 106 Als Beispiel für eine derartige Aufhebung der Grenzen zwischen religiösen und weltlichen Inhalten in der Malerei bis hin zur Verschmelzung zu einem neuen Ganzen kann hier ein Gemälde herangezogen werden, das unter Margaretes Förderung entstand: Einer ihrer Hofmaler, im Stil Barend van Orley verwandt, porträtierte Margarete – in ihrer Tracht als Renaissancefürstin – als Heilige Magdalena und „verlieh [auch anderen Heiligenbildern] nicht nur die Tracht, sondern auch die Gesichtszüge von Personen des Hofes“ (Strelka

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Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden, daß die hohe Blüte, zu der die Künste und die Gelehrsamkeit am burgundischen Hof Margaretes gelangten, ganz wesentlich an die Person der Regentin gebunden war, stärker noch als an die materielle Förderung, die ihnen zuteil wurde. Mit Margarete war – ein Glücksmoment der Geschichte – der richtige Mensch zur rechten Zeit am rechten Ort. Zunächst noch die kulturelle Tradition Burgunds pflegend, aus der sie kam, wandte sie ihr waches Interesse dem Neuen zu, das sich schließlich dem Alten, Überlebten gegenüber durchsetzte, wobei Altes und Neues zunächst nebeneinander bestanden. Sie war fromm, aber nicht von jener mittelalterlichen Frömmigkeit um des „Himmelslohns“ im Jenseits wegen; für die Aufgaben, die sich ihr in dieser Welt stellten, setzte sie ihre eigenen Gaben wie Intelligenz, Mut, Vernunft, Aufgeschlossenheit und Weitblick ein, und was sie bewirken wollte – nicht zuletzt in ihrem Eintreten für den Frieden – stand im Einklang mit den Idealen des christlichen Humanismus, wie Erasmus sie formulierte. Gerade aus ihrer Förderung der Künste, aus ihrem Sinn für die schöne Form in allen Lebensbereichen spricht die Bejahung des Diesseits, ja Freude am Leben. Ihr Weitblick, ihre Aufgeschlossenheit ermöglichten eine erste Überwindung sozialer Barrieren: wie sie schon in Savoyen ihre Berater nach ihren Fähigkeiten ausgewählt hatte, so konnten am Mechelner Hof Männern aus bescheidensten Verhältnissen hohe Ehren zuteil werden, wenn sie es verdienten. Die besten Beispiele dafür sind Adrian von Utrecht und Erasmus.107 Von dieser Öffnung des Hofes für Begabungen aus dem Lande mag es auch herrühren, daß die Bürger der Städte vermehrt auf den Hof schauten und ihn als Vorbild zu betrachten begannen. Damit war der Weg bereitet für eine fruchtbare Wechselwirkung. Wie weit sich die Ausstrahlung des großen Hofes allerdings auf die heranwachsenden Kinder im benachbarten Keyzerhof auswirkte, konnte bis soweit nur punktuell erwähnt werden und ist im Folgenden näher zu untersuchen.

2. Die Rolle der Familie Die Frage, welche Rolle die Familie für Karl V. während seiner Kindheit und Jugend gespielt hat, führt unmittelbar in den für die Karls-Forschung am wenigsten zugänglichen Bereich: in die Privatsphäre des Kaisers. Die Schwierigkeit der 1957, 26). Vgl. ebd. 158 f. Anm. 66 eine kleine ikonographische Übersicht weiterer Darstellungen religiösen Inhalts, in die das Bild Margaretes einbezogen ist. 107 Strelka 1957, 20–22 und Tamussino 1995, 173 f. weisen auf das Tagebuch Albrecht Dürers hin, das die Aufzeichnungen seiner Reise in die Niederlande 1520–1521 enthält. Aus ihnen geht hervor, wie stark Dürer von der Achtung und Ehre beeindruckt war, die dort einem Künstler entgegengebracht wurden: Er war als „Herr“ behandelt worden.

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biographischen Annäherung an Karl, wie sie mit Bezug auf die Arbeiten von H. Lutz und A. Kohler in der Einleitung angesprochen wurde, tritt hier in aller Deutlichkeit zutage, allerdings – so möchte man sagen – mit umgekehrten Vorzeichen: Während für die späteren Jahre des Kaisers die unüberschaubare Quellenfülle, die „Inszenierungen“ und die Institution den Blick auf die Person verstellen, mangelt es für die frühen Jahre, besonders für die Zeit zwischen 1500 und 1506, an zuverlässigen Quellen, die einen Eindruck von der Person des kleinen Prinzen vermitteln könnten.108 Wohl liegt einiges Material zur Organisation des Wiegenbzw. Kinderhaushalts wie auch zu dessen Personal vor; ferner taucht der Name Karls in Verfügungen seines Vaters und in Erbfolgeverträgen auf – zur Person des Prinzen aber, zum Verhältnis der Eltern zu diesem Sohn und dessen Geschwistern fehlen Quellen weitgehend. Spärlich und nicht immer zuverlässig sind die Angaben der spanischen Chronisten, soweit sie die frühen Jahre Karls betreffen. Es sind sekundäre Quellen, aus der Ferne und z.T. – wie das Werk Sandovals – aus erheblichem zeitlichen Abstand für den Hof verfaßt, deren Inhalte aber trotz darin enthaltener Unstimmigkeiten noch in neuesten Arbeiten begegnen. Mit der nötigen Skepsis betrachtet, können sie dem Quellenmangel etwas abhelfen und lassen zudem die spanische Sichtweise erkennen. Deutlich reicher fließen die Informationen ab 1507, als Karl nach dem Tode seines Vaters dessen Nachfolge als Herzog von Burgund und Prinz von Kastilien antrat. Es sind dann allerdings vielfach öffentliche Anlässe, in deren Mittelpunkt Karl stand, und Zeremonien, an denen er teilnahm, die von Hofhistoriographen und Diplomaten, gelegentlich auch von anonym gebliebenen Beobachtern ausführlich dokumentiert wurden.109 Ihre Aufmerksamkeit wandte sich nun auch vermehrt der Person des Thronerben zu. Die m.E. ergiebigste und dabei außerordentlich lebensvolle Quelle für die Knabenjahre Karls V. stellt der zwischen 1507 und 1519 geführte Briefwechsel zwischen Margarete von Österreich und Maximilian I. dar; er gewährt zumindest punktuelle Einblicke in das Leben und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der „Ersatzfamilie“ Karls. 108 Der Begriff „Familie“ wird im Folgenden stets im heutigen Sinne des Wortes verwendet; auch um 1500 war dieser Gebrauch durchaus bekannt, wenn die Zeitgenossen unter familia auch vorwiegend den gesamten Haushalt, die familiari eines Herrschers verstanden. 109 Es liegen allerdings auch schon Schilderungen der Festlichkeiten anläßlich der Taufe Karls vor: Santa Cruz 2; Sandoval 17 f.; Jean Lefebvre, Histoires de Hainaut 76, 24 (Edition: Gachard 1842, 357–360), danach Gachard 1872, 524. Wohl auf Gachard basiert Moeller 1895, 10. Über seine Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies vgl. Gachard 1872, 524; Kervyn van Lettenhove 1907, 71. Dabei steht das Zeremoniell allerdings im Vordergrund. Der Täufling bzw. der kleine chevalier waren dabei von geringerem Interesse als das Taufgewand, die kostbaren Geschenke oder die Ordenskette.

Die Rolle der Familie

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Im vorhergehenden Abschnitt sind bereits in großen Zügen die Umstände dargelegt worden, die dazu führten, daß die Sorge für Karl und drei seiner Schwestern sowie die Erziehung dieser Kinder in noch weit höherem Maße delegiert werden mußten, als es für Fürstenkinder ohnehin üblich war, und schließlich Margarete von Österreich und Maximilian zufielen. Daher stellt sich die Frage, ob Philipp und Juana, die „Zugvögel“, überhaupt eine Rolle spielen konnten im Leben Karls und seiner Mechelner Schwestern oder ob allein ihre häufige Abwesenheit dies von vornherein ausschloß. Eine Übersicht über die Reisetätigkeit der Eltern verdeutlicht, daß allenfalls die ältesten der Kinder eigene Erinnerungen an Vater und Mutter gehabt haben dürften, selbst wenn man das erstaunliche Gedächtnis sehr junger Kinder für einzelne, aus der Sicht Erwachsener oft völlig belanglose Ereignisse in Betracht zieht: Juana und Philipp brachen am 4. November 1501 von Brüssel aus erstmals nach Spanien auf; Mecheln hatten sie bereits am 31. Oktober verlassen.110 Eleonore war damals fast 3 Jahre alt, Karl 1¾, Isabella kaum ein Vierteljahr. Philipp kehrte am 9. November 1503 allein in die Niederlande zurück. Juana traf im April 1504 dort ein. Es wird angenommen, daß die Kinder während des Aufenthalts der Eltern bzw. des Vaters in den Niederlanden des öfteren einige Zeit am Brüsseler oder am Genter Hof verbrachten. Zuverlässige Nachrichten darüber scheinen nicht vorhanden zu sein.111 Ob Karl sich später dieses Zusammenseins mit den Eltern erinnerte, bleibt unbekannt. Karls Memoiren, die Commentaires, die ohnehin kaum Persönliches preisgeben, setzen erst mit dem Jahre 1515 ein und enthalten – von einer Ausnahme abgesehen – keine Reminiszenzen seiner Kinderund Jugendjahre. Der Kaiser verrät nicht, welche Rolle die Familie für ihn in den frühen oder auch in späteren Jahren gespielt hat. Der gemeinsame Aufbruch der Eltern zur zweiten Spanienreise erfolgte am 7. Januar 1506. Damals war Eleonore also etwas über 7 Jahre alt, Karl noch nicht ganz 6, Isabella 4½ und Maria ein gutes Vierteljahr alt – sie kann sich der Eltern mit Sicherheit nicht erinnert haben. Bereits am 25. September verstarb Philipp in Burgos im Alter von nur 28 Jahren. Den Kindern wurde die Nachricht von ihrem damaligen Gouverneur Charles de Croy, Fürst von Chimay, überbracht. In einem Brief an Maximilian schrieb der Fürst am 7. Oktober 1506:

110 Voyages I 126 Anm. 5. 111 Das Itinerar Karls V. setzt erst mit dem 1. September 1506 ein. Da die Aufenthalte des Prinzen von L. Gachard anhand der im Archiv von Lille erhaltenen Rechnungsbücher der conseillers et maîtres de la chambre aux deniers de monseigneur l’archiduc d’Autriche, etc. rekonstruiert wurden, wären diese Besuche bei den Eltern ohnehin nicht verzeichnet worden, weil keine Rechnungen für Kost und Übernachtungen o.dgl. zu begleichen waren. Karls Itinerar von 1506 bis 1531 ist publiziert in Voyages II 3–51.

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Sire, [...] je leur ay dit l’unfortune, dont ilz ont mene deul selonc leur anfance, et plus que ne pansois, et antre aultre chose qu’ilz ont bien affaire d’un leal père que vous, et qu’il faut que le soyes deux foix.112

Wie die Kinder die Nachricht aufnahmen, läßt sich daraus nicht recht ablesen. Am ehesten dürfte Eleonore, die ein wenig frühreife Älteste, die Bedeutung der Worte erfaßt haben. Karl und den jüngeren Schwestern wird man – vielleicht Margarete? – später, ihrem wachsenden Verständnis entsprechend, Fragen nach dem Vater beantwortet haben. So plötzlich und unfaßbar die Todesnachricht die Erwachsenen traf: Man sollte nicht übersehen, daß die Kinder an die Abwesenheit der Eltern gewöhnt waren, daß sie – für die Zeitbegriffe kleiner Kinder – schon sehr lange fort waren. Ob die Kinder gefragt haben, ob die Mutter nun zurückkehre – man weiß es nicht. Auch hier muß man davon ausgehen, daß man den Kindern nur sehr allmählich begreiflich machen konnte, daß die Mutter so krank sei, daß sie nie wiederkommen könne. Gewiß haben die Geschwister aber schon bald von der Geburt ihrer „spanischen“ Schwester Katharina (geb. am 14. Januar 1507) erfahren. Auf den Alltag der „enfants abandonnés“113 hatte der Tod des Vaters zunächst keine Auswirkungen: Dank der weisen Entscheidung der Generalstände114 blieben alle für den Kinderhaushalt verantwortlichen Personen vorläufig im Amt, so daß die Geschwister auch weiterhin von den ihnen seit Jahren vertrauten Menschen in der gewohnten Umgebung umsorgt wurden. Nach etwa einem halben Jahr traf dann Margarete aus Savoyen ein,115 und damit begann ein neuer Abschnitt im 112 Chmel 1845, 260 f. Nr. CCIV; in sprachlich modernisierter Fassung zitiert bei Moeller 1895, 21. 113 Moeller ebd. 114 Vgl. oben 29. Ungewöhnlich war die Entscheidung insofern, als generell alle Ämter mit dem Tode des Souveräns erloschen, was nur konsequent war, da zumindest die höheren Amtsträger auf die Person des Herrschers vereidigt waren. In diesen Zusammenhang gehört ein Brief vom 4. Oktober 1506, den der noch von Philipp eingesetzte Rat an den Gouverneur von Béthune richtete: Er enthält die Todesnachricht sowie die Aufforderung, die Mitglieder der Generalstände des Artois für den 15. Oktober nach Mecheln zu entsenden (Voyages I 555 f., appendice XXXVI): [...] Vous requérons aussi escripre à diligence à messieurs des estas [...], que au XVe jour de ce mois ilz soient devers nostre très-redoubté seigneur monseigneur l’Archiducq, prinche de Castille, etc., pour aidier à adviser à touttes choses nécessaires pour le bien et sallut de mondit seigneur et ses pays, comme le cas le requiert, sans retraicte. 115 Cauchies 2003, 215 f. geht in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die Funktion ein, die Margarete von Maximilian übertragen wurde: „Le 28 mars 1507, l’acte souvent cité comme capital en la matière [d.h.: la délégation d’une véritable fonction gouvernementale à la duchesse Marguerite] ne fait de Marguerite qu’un «procureur général» de son père. Deux années s’écouleront encore avant que la princesse se voie investie des pleins pouvoirs d’une «régente et gouvernante générale», comme la dénommeront les lettres patentes décisives.“ Vgl. auch oben 29 f. Anm. 42.

Die Rolle der Familie

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Leben der Kinder. Auf den siebenjährigen Karl kamen allerdings schon sehr bald ungewohnte Pflichten zu: Wieviel das Kind verstand, als am 7. Oktober 1506 bei der Versammlung der Generalstände zu Mecheln in seiner Gegenwart das Testament des Vaters eröffnet wurde,116 sei dahingestellt. Seine Anwesenheit dürfte eine reine Formsache gewesen sein. Am 19. Juli 1507 mußte Karl der Totenmesse in der Kollegialkirche St. Rombaut beiwohnen und vor der großen Gemeinde erstmals einen aktiven Part übernehmen, als er offiziell als Nachfolger seines Vaters zum Grafen von Flandern und Herzog von Burgund proklamiert wurde.117 Von diesem Zeitpunkt an brachte es der neue Status des jungen Prinzen mit sich, daß ihm zunehmend zusätzliche Aufgaben, darunter öffentliche Auftritte, abverlangt wurden, d.h., daß er schrittweise und sorgfältig auf den Tag vorbereitet wurde, an dem er die Regierungsgeschäfte selbst übernehmen würde. Diese Hinführung auf das Amt des Herrschers fügte sich ohne inneren Bruch den Vorkehrungen an, die Philipp zu Lebzeiten für Karl getroffen hatte. Diese mit Bedacht von Philipp in den Jahren 1501 und 1505 verfügten Anordnungen erfordern über die bloße Erwähnung hinaus eine nähere Betrachtung, denn sie liefern in der Tat den einzigen wirklich faßbaren Nachweis dafür, daß Philipp – auch in Abwesenheit und über seinen Tod hinaus – als Vater eine wesentliche Rolle im Leben der burgundischen Geschwister spielte, daß ihre friedliche, behütete Kindheit im sicheren Mecheln zumindest für die ersten Jahre seiner Vorsorge zu verdanken war. Vorsorge für das Land und für die Familie entsprachen gewiß den konventionellen Pflichten eines Herrschers, der sich auf eine längere Abwesenheit einrichtete und einer ungewissen Zukunft entgegenreiste. Im Falle Philipps möchte ich jedoch darüber hinaus in seinen Maßnahmen auch die persönliche Sorge des Vaters erkennen. Ihm dürften einige Parallelen bewußt gewesen sein, die sich zwischen den Ereignissen seiner eigenen Kinder- und Jugendjahre und der Situation ergaben, in der sich vor allem sein Erbe Karl befand. Um aufzuzeigen, welche Erfahrungen dem Sohn erspart bleiben sollten, ist ein Rückblick auf die von Unruhe, Unsicherheit und dramatischen Ereignissen geprägte Jugendzeit des Vaters angezeigt.118 116 Cauchies 2003, 216 f.; daneben Henne 1865, 50. 117 Auf die Totenmesse für Philipp wird später im Zusammenhang mit anderen Zeremonien eingegangen, bei denen Karl ebenfalls im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand. 118 Für die Aufarbeitung dieses Zeitabschnitts erwies sich Cauchies’ neu erschienenes Werk zu Philippe le Beau (2003) als sehr hilfreich. Obwohl Henne und Pirenne als belgische Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Philipp einen Platz in der Geschichte ihres Landes einräumten und das vielfältige Miteinander und Gegeneinander von Vater und Sohn seinen Niederschlag in der großen Maximilians-Biographie Hermann Wiesfleckers gefunden hat, liegt mit Cauchies’ Veröffentlichung die erste Gesamtbiographie des „letzten Herzogs von Burgund“ vor. Bei der Arbeit von R. Perez Bustamante und J.M. Calderon

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2.1. Der Vater Die Anfänge waren vielversprechend, denn in den Niederlanden war die Freude groß, als mit Philipp am 22. Juni 1478 in Brügge ein prince naturel von burgundischem Blut zur Welt kam, das erste Kind der überaus populären Maria von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen. Seine Eltern verliehen ihm schon früh den Titel eines Comte de Charolais, den bereits Philipp der Gute und Karl der Kühne getragen hatten, wenn es sich auch zum Zeitpunkt der Titelverleihung an Philipp um einen rein symbolischen Akt handelte: er unterstrich den burgundischen Anspruch auf das Charolais, das sich zwischen 1477 und 1493 in französischer Hand befand. Margarete von York, die Witwe Karls des Kühnen, die sich zeitlebens mit dem Haus Burgund identifizierte und nie nachließ, dessen Ansprüche zu verfechten, dürfte nicht geringen Einfluß auf die Wahl des Titels für den Stiefenkel genommen haben. Philipp selbst verfuhr später ganz ähnlich, als er seinen Sohn Karl bereits bei dessen Taufe zum Herzog von Luxemburg erhob; in diesem Titel verbanden sich burgundisches Erbe und habsburgische Erwartungen.119 Maximilian hielt sich in den ersten Lebensjahren seines Sohnes nur selten in Brügge auf. Er hatte die „burgundische Sache“, d.h. die Sicherung des Erbes seiner Gemahlin und der gemeinsamen Kinder, zu seiner eigenen gemacht und verteidigte sie an den Grenzen zu Frankreich und in Geldern, schlug auch Unruhen im Lande nieder. So war die frühzeitige Aufnahme Philipps in den Orden vom Goldenen Vlies wohl auch als Schutzmaßnahme für das Kind gedacht, dem die Ordensritter im Ernstfall zu Treue und Unterstützung verpflichtet waren. Daher wurde der noch nicht Dreijährige bereits 1481 zum Ritter geschlagen. Aus dem

Ortega, Felipe I (1506), Palencia 1995 handelt es sich im wesentlichen um eine Darstellung des kurzen Lebensabschnitts, den Philipp in Spanien verbrachte (vgl. Cauchies 2003, VIII). Cauchies will Philipp als einer geschichtlichen Persönlichkeit gerecht werden, die er als Prototyp derjenigen sieht, die von der Historiographie ignoriert und nur in ihrer Beziehung zu anderen, vielleicht Bedeutenderen, gesehen werden: Philipp somit als Sohn Maximilians I. und Vater Karls V. Für Philipp kommt hinzu, daß er als Gemahl Johannas der Wahnsinnigen mehr Beachtung fand als in jeder anderen Hinsicht: „Philippe de Habsbourg, dit le Beau: [...] voilà le prototype du «personnage historique» souvent ignoré, oublié, voire délibérément sous-estimé sinon méprisé, ou encore confondu, dans l’historiographie. [...] Il n’est pas un chaînon manquant, il est un chaînon omis“ (ebd. VII). 119 Philipp der Gute hatte das Herzogtum Luxemburg 1441/42 für Burgund erworben. Mit dem Haus Luxemburg verband sich für die Habsburger vor allem die Erinnerung an die Kaiser Karl IV. (1346–78) und Sigismund (1410–1437), die beide ihre Töchter mit Mitgliedern des Hauses Österreich verheiratet hatten: mit Rudolf IV. von Habsburg bzw. Herzog Albrecht von Österreich.

Der Vater

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Orden wählte denn auch Philipp später seine engsten Berater,120 und so nimmt es nicht wunder, daß er seinen Sohn ebenfalls sehr früh, bereits 1501, in die Gemeinschaft der Ritter aufnehmen ließ. Während der häufigen Abwesenheit Maximilians waren Philipp und seine zwei Jahre jüngere Schwester Margarete zunächst in sicherer Obhut bei der Mutter und Margarete von York, bis die behütete, friedliche Kinderzeit ein jähes Ende fand, als Maria von Burgund am 27. März 1481 nach einem Reitunfall verstarb. Noch auf dem Totenbett hatte sie ihre Kinder als Erben eingesetzt und Maximilian zum Regenten und Vormund bis zur Volljährigkeit des Sohnes bestimmt. Damit hatte sie bewußt – wohl ihrer eigenen bitteren Erfahrungen nach dem Tode Karls des Kühnen eingedenk – die Privilegien des Adels und der Generalstände in diesen Fragen übergangen, ohne allerdings die schwerwiegenden Folgen für Maximilian und die Kinder vorherzusehen. Denn während es für die Generalstände keinen Zweifel an den Rechten Philipps gab, beurteilten sie die Position Maximilians anders: Die Mehrheit der Abgeordneten setzte durch, daß er, der Fremde, nur dem Namen nach Regent sein durfte, während ab dem 5. Juni 1483 ein Regentschaftsrat aus Mitgliedern der Generalstände und des hohen Adels in Wahrheit die politischen Richtlinien bestimmte. Ab 1483 mußte der noch nicht fünfjährige Philipp der Forderung der flandrischen Städte nach seiner Inauguration als Graf von Flandern folgen und sich mit joyeuses entrées in den Hauptorten seiner Grafschaft feiern lassen. Der Knabe geriet zunehmend zwischen die Fronten des Machtkampfes, der sich zwischen Maximilian einerseits und den Generalständen und dem Adel andererseits entspann und der sein nächstes Lebensjahrzehnt überschatten sollte. Der Regentschaftsrat beanspruchte für sich la cure, charge et conduite des affaires d’icellui notre pays et conté de Flandres, tant qu’il nous plaira.121 1494 setzte man den jungen Grafen als Geisel in Gent fest und zwang ihn, politische Entscheidungen, die der Rat in seinem Namen fällte – darunter auch solche, die sich gegen seinen Vater richteten –, mit seinem Siegel zu bestätigen.122 Der Rat versuchte ferner, in die Erziehung Philipps einzugreifen: Als „belgischer Prinz“ sollte er heranwachsen, dem „österreichischen“ Einfluß Maximili120 Pirenne 1953, 60 f.: „Ces chevaliers de la Toison d’or, les Croys, les Berghes, les Lalaing, forment son entourage habituel. Il les laisse appliquer sous son nom leur programme politique, organiser une monarchie tempérée par l’intervention constante d’un conseil formé de seigneurs indigènes et par l’intervention intermittente des États généraux.“ 121 Zitiert nach Cauchies 2003, 11. 122 Cauchies verweist (2003, 11 Anm. 34) auf eine Ordonnanz für den conseil de Flandre vom September 1483, die Maximilian völlig außer Acht läßt und sich allein bezieht auf mijn gheduchte heer de hertoghe Phelips, grave van Vlaendren als den einzig legitimen Herrscher Flanderns.

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ans und dem der allemands in dessen Umgebung entzogen werden.123 Die Sorge der Räte, ihr prince naturel könnte durch ausländische Erzieher seinem Volk entfremdet werden, war völlig unbegründet: Schon 1481, noch zu Lebzeiten Marias von Burgund, wurde Josse de Lalaing, ein Ritter des Ordens, zum ersten „adligen Lehrer“ Philipps berufen; ihm folgte als „geistlicher Erzieher“ Franz von Busleyden, damals Propst von Lüttich und später (ab 1498) Erzbischof von Besançon. Ab 1484 war auch Olivier de La Marche neben seinem Amt als Hofmeister (maître d’hôtel) und seiner Tätigkeit als Chronist und Literat für den Unterricht des Prinzen zuständig. De La Marche, der dem Hof und seinem Schüler sehr verbunden war, widmete Philipp seine Mémoires. Philipp erhielt damit unter der Anleitung burgundischer Herren eine Erziehung, die ihn gezielt auf das Amt eines Herzogs von Burgund vorbereitete, das ihn zum Zeitpunkt seiner Mündigkeit erwartete. Die Richtlinien der Erziehung seines Sohnes bestimmte Maximilian – im Rahmen seiner Möglichkeiten – und ebenso die Auswahl der Lehrer. In diesem Bereich konnte er seine Position als Vormund behaupten, was ihm 1482 für seine Tochter Margarete nicht gelungen war: Damals mußte er sich schweren Herzens den Bedingungen des Friedens von Arras fügen (23. Dezember 1482), die von den Generalständen mit Frankreich ausgehandelt worden waren. Den Preis hatte – wie bereits erwähnt – Margarete zu zahlen. 1485 trat nach militärischen Erfolgen Maximilians eine vorübergehende Entspannung ein, die zur Anerkennung seiner Position und zur Freilassung Philipps führte. Die Ruhe im Lande war von kurzer Dauer, denn schon 1488 kam es unter der Führung Gents erneut zum Aufstand, in dessen Verlauf der inzwischen (1486) zum Römischen König gekrönte Maximilian über ein Vierteljahr in Brügge eingekerkert wurde. Es war wohl dem Eingreifen Friedrichs III. und nicht zuletzt dem Aufmarsch kaiserlicher Truppen an den Grenzen zu verdanken, daß die schmachvolle Gefangenschaft des Königs beendet und seine Rechte anerkannt wurden.124 Während dieser dramatischen Phase der Auseinandersetzungen war Philipp in relativer Sicherheit in Mecheln; er wurde allerdings verschiedentlich von Maximilians Getreuen, Albert von Sachsen und Christoph von Baden, an stärker befestigte Orte verbracht. Seine Erziehung lag weiterhin in den Händen des frankophilen Franz von Busleyden, dem Maximilian aber von 1487 an als „adligen Erzieher“, als gouverneur et premier chambellan, Jean, seigneur de Berghes et de Walhain, voranstellte, einen treu burgundisch gesinnten Adligen mit politischen Sympathien für England, der schon Karl dem Kühnen 123 Cauchies 2003, 12. 124 Durch einen Waffenstillstand zwischen Maximilian und Karl VIII. von Frankreich, geschlossen in Frankfurt am 22. Juli 1489, wurden nicht nur die kriegerischen Handlungen zwischen beiden (vorläufig) beigelegt, sondern auch den rebellischen flämischen Städten die französische Unterstützung entzogen, was sie zum Einlenken bewegte.

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als Ratgeber gedient hatte.125 Daneben sollte man den Einfluß Margaretes von York auf den Heranwachsenden nicht unterschätzen, die, ihrer Herkunft entsprechend, Burgunds politische Hinwendung zu England, z.T. durch persönliche Missionen, voranzutreiben bemüht war. Die Ursachen für Philipps oft kritisierte Unentschlossenheit, für seinen Wechsel der Allianzen, dürften nicht zuletzt auf die gegensätzlichen politischen Positionen zurückzuführen sein, die ihm in seinen Erziehern begegneten. Im letzten Jahr der Minorität Philipps gab es durch den sog. „Brautraub“126 erneut Anlaß zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Römischen König und dem König von Frankreich, an deren Ende der am 23. Mai 1493 geschlossene Friede von Senlis stand, mit dem das Verhältnis zwischen Frankreich und Burgund vertraglich geregelt und für längere Zeit auf eine stabile Grundlage gestellt wurde. Aus dem umfangreichen Vertragswerk seien nur die wesentlichen Punkte genannt: (1.) Margarete wurde zu ihrem Vater zurückgeleitet. (2.) Teile ihrer Mitgift (das Charolais, die Franche-Comté, das Artois) wurden zurückerstattet, wobei Souveränitätsrechte bei der französischen Krone verblieben, was besonders für den Bereich der Jurisdiktion von erheblicher Bedeutung war.127 (3.) Das Herzogtum Burgund stand nicht zur Disposition.128 Das Jahr 1493 war für den Römischen König wie für den jungen Grafen von Flandern über den Friedensschluß hinaus insofern bedeutsam, als ihre politischen Positionen zumindest nominell gestärkt wurden: Friedrich III. starb, und 125 Berghes stand später im Dienst Margaretes und unterstützte – dann als Gegenpart zu dem frankophilen Guillaume de Croy – ihre englandfreundliche Politik. 126 Obwohl den Vertragsparteien im Allgemeinen von vornherein klar war, welch geringes Gewicht Verlobungen und Heiratsverträgen von Fürstenkindern beizumessen war, sah sich Maximilian in diesem Falle vom französischen König in doppelter Weise betrogen: Karl VIII. hatte Maximilians Braut, Anne de Bretagne, „geraubt“, mit der der Römische König seit 1490 per procuram verbunden war. Die Heirat Karls VIII. und der Erbin der Bretagne (1493) hatte die Zurücksendung der verschmähten Margarete zur Folge, die – seit 1482 Braut Karls VIII. und „petite reine“ – als künftige Königin von Frankreich gegolten hatte. 127 Bis zum 22. Juni 1498, dem 20. Geburtstag Philipps, hatte Frankreich das Recht, im Artois Garnisonen zu unterhalten. Dann sollte der junge Herzog als Lehnsmann der französischen Krone dem französischen König huldigen und damit dessen Souveränität über Flandern, das Artois und das Charolais anerkennen. 1499 leistete Philipp den geforderten Eid, da ihm keine andere Wahl blieb, wollte er nicht sein Land einem französischen Angriff aussetzen. Erst 1521 konnte Karl V. Flandern und das Artois aus dem Geltungsbereich der französischen Jurisdiktion herauslösen. 128 Die „burgundische Frage“ gehörte zu dem Komplex ungelöster Interessenkonflikte, die nur allgemein unter choses qui ne sont apointies et decidees par ceste paix zusammengefaßt wurden und über die sich der französische König und Philipp (nicht Maximilian!) „in freundschaftlicher Weise oder auf rechtlichem Wege“ einigen sollten. S. dazu Cauchies 2003, 22 f.

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Maximilian trat de facto seine Nachfolge als Kaiser im Reich an, wenn ihm auch der Titel Romanorum Imperator electus erst 1508 vom Papst zuerkannt wurde. Im gleichen Jahr 1493 wurde Philipp als Fünfzehnjähriger für majorenn erklärt und in seinen Ländern als Duc de Bourgogne mit festlichen entrées begrüßt. Frieden im Innern des Landes herzustellen und zu sichern, das Wiedererstarken der Wirtschaft nach den langjährigen Wirren zu fördern und Frieden nach außen zu wahren, wurden die wesentlichsten Anliegen des jungen Herzogs, der zur Erreichung dieser Ziele auch die wichtigsten politischen Kräfte des Landes mit heranzog. So räumte er den Generalständen das Recht ein, über Krieg und Frieden mitzuentscheiden. Insgesamt beruhte Philipps politisches System auf einem Kompromiß zwischen den Rechten des Fürsten und denen des Adels und der Provinzen.129 Dem jungen Herzog stand als wichtigstes beratendes Gremium der conseil ducal zur Seite, dessen vierzehn Mitglieder in der Mehrzahl dem einheimischen Adel entstammten.130 Darunter waren Männer wie Engelbert von Nassau, Guillaume de Croy und Jean de Berghes, die mehreren Generationen des Hauses Burgund dienten. Die Frage, welchen Anteil an den politischen Entscheidungen Philipps dieser Rat hatte, bewegte schon die Zeitgenossen und beschäftigt Historiker noch heute. Den in Deutschland wenig bekannten und kaum übersetzbaren Beinamen Philippe Croit-conseil ersann Olivier de La Marche für seinen Prinzen; wenn dieser Beiname von anderen gelegentlich als Spottname verwendet wurde, entsprach dies ganz und gar nicht der Intention de La Marches, der dem so jung an die Regierung Gekommenen den guten Rat gab: [...] je conseille bien que vous leur [à vos sujets] devez demander conseil et ayde pour vos grans affaires conduire et soustenir.131 Auch wenn de La Marche in Anspielung auf den wichtigsten der Ratgeber, Guillaume de Croy, gelegentlich Croÿ conseil schrieb, so war dies in keiner Weise abschätzig gemeint. Andere Zeitgenossen, unter ihnen Molinet, hielten es ebenfalls für ein Zeichen von Klugheit, wenn ein unerfahrener junger Herrscher sich mit umsichtigen, weisen Ratgebern132 umgab. Mit seinem conseil, der realiter die Richtlinien der Politik bestimmte, und in Abstimmung 129 Äußerst bemerkenswert ist es, daß der junge Herzog bei seiner ersten Rundreise durch das Land den Städten und Ständen nur die Privilegien erneuerte, die unter Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen erteilt worden waren. Das „Große Privileg“, das man 1477 seiner schutzlosen Mutter oktroyiert hatte, war er nicht bereit wiederaufleben zu lassen. In Sorge um den inneren Frieden lenkten die Kommunen ein. 130 1494 waren nur zwei Deutsche und drei Burgunder (Bourguignons de Bourgogne) unter den Räten. Engelbert Graf von Nassau-Dillenburg war zwar deutscher Abkunft, zählte aber aufgrund seines bedeutenden Feudalbesitzes in Brabant nicht zu den Ausländern. 131 Zitiert aus de La Marches Mémoires (hg. v. H. Beaune u. J. d’Arbaumont, Paris 1883) bei Cauchies 2003, 57. 132 Ebd. 58: „gens «prudents», sages“.

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mit den Generalständen führte Philipp die Niederlande zu innerem Frieden und stabilen Verhältnissen zurück. Das Land erwartete darüber hinaus von seinem Herrscher und seiner Regierung nach den vielen vorhergegangenen Kriegen mit ihren wahrhaft verheerenden Auswirkungen dauerhaften Frieden mit den Nachbarn, und das hieß in erster Linie Frieden mit Frankreich, aber auch mit dem Handelsrivalen England.133 Als Philipp und Juana (Abb. 1–2) die Vorbereitungen für die erste Spanienreise trafen, herrschten innere Stabilität und Friede mit den Nachbarn.134 Damit beides erhalten blieb, galt es Vorsorge zu treffen, ebenso wie für die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder. Auf die Anordnungen, die Philipp 1501 wie 1505 traf, wirkten sich zweifellos die oben geschilderten bitteren Erfahrungen aus, die er – selbst früh ein „enfant abandonné“ – bis zu seiner Emanzipation hatte machen müssen. Seine Kinder, vor allem seinen Erben Karl, wollte er vor Ähnlichem bewahren. Entscheidendes Mitspracherecht bei den Verfügungen hatte selbstverständlich der conseil; 1501 sind offensichtlich auch Juana und Mitglieder ihres spanischen Gefolges zu den Beratungen hinzugezogen worden.135 Die Punkte, die 1501136 wie 1505 berücksichtigt wurden, sind die gleichen, so daß sie hier gemeinsam behandelt werden können und lediglich auf Unterschiede in der Ausgestaltung eingegangen wird. 1. Innerer und äußerer Friede mußten gewährleistet, Recht und Ordnung aufrechterhalten, die Generalstände in Absprache mit dem Kanzler, damals Thomas de Pleine (oder Plaine), seigneur de Maigny, und den Räten einberufen werden: Kurz, alle Regierungsgeschäfte mußten auch während der Abwesenheit Philipps in gewohnter Weise von dem Statthalter und den ihm beigegebenen Räten weitergeführt werden. 1501 fiel dieses Amt Engelbert von Nassau zu, der es bis zu seinem Tode 1504 ausübte. Nassau, der bereits als Mitglied des conseil genannt wurde, hatte als dessen Chef den Herzog schon seit 1496 bei dessen gelegentlicher Abwesenheit vertreten. Ab 1506 hatte Guillaume de Croy, der langjährige 133 Philipps Bemühungen, friedliche Beziehungen zu beiden großen Mächten herzustellen oder zu wahren, brachten ihn mehr als einmal in scharfen Gegensatz zur Politik seines Vaters. Als roy pazifique [!] zitiert ihn Wiesflecker 1977, 304: ein Rückgriff auf Lalaing, den Autor des Premier Voyage (vgl. dessen Vorrede in Voyages I 123 f.). Cauchies (2003, 148) nennt den Herzog „courtier de la paix“. 134 Zwischen Maximilian I. und Ludwig XII. waren zudem bereits seit einiger Zeit Verhandlungen über eine Verlobung des noch nicht einjährigen Karl mit Claude de France geführt worden mit dem Ziel, „ewigen Frieden“ zwischen Frankreich und Habsburg-Burgund zu garantieren. Der Abschluß der Verträge (Schlußfassung durch Philipp im Dezember 1501 in Blois unterzeichnet) sicherte aber wenigstens vorübergehend den Frieden und gewährte den Vertragspartnern eine Atempause, die sie für andere Unternehmungen nutzten. 135 Cauchies 2003, 135. 136 Voyages I 345–372 (Ordonnanz vom 1. November 1501; Archives du Nord).

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Ratgeber Philipps, das verantwortungsvolle Amt inne; er wurde später, bis zu seinem Tode 1521, der engste Vertraute Karls V.137 Mit diesen Maßnahmen und der Einsetzung erprobter und vertrauenswürdiger einheimischer Adliger in das höchste Amt diente Philipp seinem Sohn ebenso wie dem Land. Der Prinz sollte nicht wie einst sein Vater zwischen die Fronten von Parteikämpfen geraten. Die Statthalter würden zu verhindern wissen, daß eine Gruppierung sich des Erben bemächtigte und ihn – wie ehemals Philipp während seines Zwangsaufenthalts in Gent – als Instrument gegen den Vater benutzte. 2. Karl und seine Schwestern sollten an einem sicheren Ort, von Vertrauenspersonen behütet, friedlich aufwachsen können. Dazu war Mecheln ausersehen, wo Margarete von York ihren Witwensitz hatte. In der Literatur wird die Entscheidung für diese Stadt generell damit erklärt, daß Philipp selbst dort einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Allein bei Cauchies findet sich der Hinweis, daß Philipp ursprünglich vorgesehen hatte, den Kinderhaushalt in Gent zu installieren, ein Vorschlag, der von den Gefolgsleuten Juanas unterstützt wurde: War doch Gent „la cabeza de Flandes“, und Friede herrschte im Land.138 Die Ratgeber aber, „les gens prudents“, vertrauten nicht auf die Loyalität der aufrührerischen Genter und setzten sich für Mecheln ein. Mit der Leitung des Gesamthaushalts als Gouverneur wollte Philipp ursprünglich Markgraf Christoph von Baden betrauen, den Vetter Maximilians, der ihm in den unruhigen Jahren rettend zur Seite gestanden hatte. Der Markgraf aber war Ausländer (allemand) und daher in den Augen der Ratgeber nicht für das Amt geeignet. In Henri de Witthem, seigneur de Beersel, einem Ordensritter, der schon unter Maximilian an der Niederschlagung der inneren Unruhen beteiligt gewesen war, wurde ein Gouverneur gefunden, dessen Loyalität man sich sicher sein konnte. Er hatte das Amt bis 1506 inne, als ihm Charles de Croy, prince de Chimay, nachfolgte. Die ausdrückliche Sorge für die Kinder übertrug der Erzherzog der Anne de Bourgogne, dame douairière von Rave(n)stein. Margarete von York übernahm es gern, auch über diese Generation burgundischer Kinder zu wachen, ohne allerdings ein offizielles Amt zu bekleiden. Der chambre stand ab 1501 Anne de Beaumont aus dem Gefolge Juanas vor.139 Wie aus dem Gesagten hervorgeht, waren die entscheidenden Positionen im Kinderhaushalt mit treu burgundisch gesinnten Personen besetzt. Daher ist es 137 Am 26. Dezember 1505 wurde Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, durch ein Ernennungsschreiben Philipps zum lieutenant général des Pays-Bas et de Bourgogne berufen. Das Schreiben, das detailliert alle Rechte und Pflichten des Statthalters aufführt, ist wiedergegeben in Voyages I 491–493 (appendice I). 138 Cauchies 2003, 135 (nach dem Geschichtswerk J. de Zuritas). 139 Moeller 1895, 15–17 resümiert die wesentlichen Funktionen und die damit beauftragten Personen für den Kinderhaushalt von 1501 unter „Maison des princes enfants“.

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umso bemerkenswerter, daß bei Moeller auch einige Spanier aufgeführt sind, die wohl auf Drängen Juanas und ihrer Gefolgsleute eingesetzt wurden: Einer von zwei Kaplänen war Spanier, ebenso einer der beiden Ärzte wie einer der zwei Apotheker.140 Sicher waren dies keine leitenden Funktionen, aber immerhin solche, bei denen es um das seelische wie das körperliche Wohl der Kinder ging. Damit sollte gewiß auch dem Mißtrauen der Spanier gegenüber den flamencos vorgebeugt werden. Mit der Einsetzung Beersels wie Chimays als Gouverneure hatte Philipp beiden die Aufgabe übertragen, einerseits selbst als Erzieher der Kinder tätig zu sein, andererseits aber auch geeignete Lehrer einzustellen. Karl sollte eine „burgundische“ Erziehung bekommen; darin waren sich Philipp, sein conseil und auch Maximilian einig. Ein Eingriff in die Erziehungspläne des Vaters von seiten der Generalstände, wie in Philipps Kindheit geschehen, war nicht zu befürchten. Auch Karl war ein prince naturel, und zum Herzog von Burgund sollte er erzogen werden. Die Gefahr eines Eingreifens bestand von anderer Seite: War nicht Karl seit seinem ersten Lebensjahr auch der mögliche Erbe der spanischen Reiche? Mußte er nicht in angemessener Weise, und zwar in Spanien, auf diese Aufgabe vorbereitet werden? Seit 1501 hatten die Spanischen Könige wiederholt darauf gedrängt, daß Karl zur Erziehung nach Spanien geschickt werden solle. Dem widersetzte sich Philipp mit Unterstützung Maximilians. Der künftige Herzog von Burgund sollte seinem Geburtsland nicht entfremdet werden durch eine Erziehung nach den Maßgaben Ferdinands von Aragon, des ohnehin ungeliebten Schwiegervaters. Wie Juana sich gegenüber dieser Frage verhielt und ob sie zu Beratungen hinzugezogen wurde, scheint nicht überliefert zu sein. Nach dem Tode Isabellas von Kastilien (1504) drängte Philipp zum Aufbruch nach Spanien, um der Dynastie Habsburg-Burgund das Erbe zu sichern.141 In dieser Situation jedoch versuchte Ferdinand Tochter und Schwiegersohn von Spanien fernzuhalten, während er erneut verlangte, daß Karl endlich nach Spanien kommen solle, zumal sich in den Niederlanden niemand um dessen Erziehung kümmere und die Eltern sich nur dem Müßiggang und dem Amüsement hingäben.142 Philipp ließ sich nicht beirren und traf alle Vorkehrungen für die Zeit seiner Abwesenheit:

140 1895, 16. 141 Eile war geboten, denn Ferdinand von Aragon war schon in Verhandlungen mit dem französischen König eingetreten, um eine zweite Ehe mit dessen Nichte, der 18jährigen Germaine de Foix, einzugehen, von der er sich einen männlichen Erben erhoffte. Damit wären alle bisherigen Nachfolgeregelungen für die spanischen Reiche hinfällig geworden. 142 Cauchies 2003, 176 (nach einem Brief des G. Gómez de Fuensalida vom 27.7.1505).

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Devant que le roy de Castille se partist de ses païs d’embas, il ordonna et disposa de ses affaires, assavoir: que monseigneur le duc Charles, prince de Castille, son filz, et aussi trois de ses seurs demoureroient en la ville de Malines jusques à son retour ou qu’il en ordonneroit aultrement, et illecq [...] seroient gardez songneusement de leurs personnes et aussi instruits ès toutes bonnes meurs et sciences, chascun à son advenant, sy qu’en fait a esté, au très-grand honneur et louange de ceulx qui en ont eu la charge, et espécialement monseigneur le duc Charles est tout enclin à pluseurs vertus telles qu’il affiert à prince et roy de son auctorité: car, en son eage de VII ans, il veult apprendre et entendre lettres en latin et à jouer de tous instrumens et bastons invasibles et deffensibles autant que grand prince ou povre gentilhomme en peult savoir.143

Wenn in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen wird, daß Philipp nur zum Herzog von Burgund erzogen und eine Vorbereitung auf die Übernahme des väterlichen Erbes vernachlässigt wurde,144 so wiederholte sich dieser „Erziehungsfehler“ bei seinem Sohn Karl durch Philipps Instruktionen in eklatanter Weise. Nur muß bei einer vergleichenden Wertung bedacht werden, daß Maximilian 1483 nicht Herr seiner Entschlüsse war, sondern daß er seine Anordnungen zur Erziehung seines Sohnes weitgehend den Forderungen des Regentschaftsrates anpassen mußte. Zudem war zu diesem frühen Zeitpunkt nicht vorherzusehen, daß Philipps Herrschaftsbereich sich eines Tages bis nach Spanien ausweiten würde. Als Philipp über die Erziehung seines Sohnes befand, war die Ausgangssituation eine völlig andere: Der Herzog von Burgund war als König von Kastilien soeben im Begriff, das spanische Erbe seines Sohnes zu sichern, und wenn er auch eine „spanische Erziehung“ Karls ablehnte, hätte er mit mehr Weitsicht doch die zukünftige Stellung des Sohnes berücksichtigen müssen. Er selbst aber war und blieb in erster Linie Herzog von Burgund – nicht ohne Grund nennt ihn Cauchies im Untertitel seiner Biographie „le dernier duc de Bourgogne“. Dieses Selbstverständnis stand im Einklang mit den Vorstellungen seiner burgundischen conseilleurs, die, fast alle schon in fortgeschrittenem Alter, sich Veränderungen ohnehin wenig geneigt gezeigt haben dürften. So waren der Einfluß des Vaters und die Rolle, die er für den heranwachsenden Sohn spielte, erheblich bedeutsamer, als sich zunächst vermuten läßt: Er sorgte im Ansatz dafür, daß die „Idee Burgund“ mit ihren traditionellen Werten an Karl weitergegeben wurde; umgesetzt wurden 143 Voyages I 461 (Deuxième voyage). 144 Explizit bei Cauchies 2003, 245: „Son éducation, ses manières, sa cour étaient essentiellement bourguignonnes, c’est-à-dire organisées et vécues dans l’optique des seuls Pays-Bas, héritiers de ce nom de Bourgogne entretenant le souvenir du berceau dynastique perdu. Il ne pouvait être question, à Gand, à Malines ou ailleurs encore entre mer du Nord et Rhin, de se référer pour l’enfant puis adolescent à l’Empire, aux Allemagnes, ou encore au patrimoine lointain, autrichien (les Erbländer), de la souche paternelle. Par ailleurs, on ne pouvait déjà imaginer, au temps de cette jeunesse, qu’il faudrait un jour prendre en compte les Espagnes.“

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seine Vorstellungen in der Folgezeit durch die erzieherischen Einflüsse Guillaume de Croys, der Ordensritter und Margaretes von Österreich. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Geschicke des Landes und die Lenkung des jungen Prinzen bis zu seiner Emanzipation spielten ferner die letztwilligen Verfügungen Philipps, wie er sie am 26. Dezember 1505 in Brügge niederlegte. Dieses Testament – es wurde bereits erwähnt145 – regelte nur die Aufteilung seiner Länder und seines Besitzes unter die Söhne sowie die finanzielle Ausstattung der Töchter, ließ jedoch die so wesentlichen Fragen nach der Vormundschaft für die Kinder und nach der Regentschaft offen.146 Denjenigen Historikern, die in dieser Unterlassung ein weiteres Zeichen der Leichtfertigkeit und Unbedachtheit des jungen Herzogs sehen, der sich nicht ausreichend um die Zukunft seiner Kinder sorgte, ist zweierlei entgegenzuhalten: (1.) Die zehnjährigen Kämpfe, die Philipps Jugend überschattet hatten, wurden in erster Linie dadurch ausgelöst, daß Maria von Burgund die althergebrachten Rechte des Adels und der Generalstände nicht berücksichtigt hatte, als sie in ihrem Testament Maximilian zum Regenten und Vormund der Kinder bestimmte. (2.) Ein so entscheidendes Dokument wie das Testament ging zweifellos nicht auf einen einsamen Entschluß Philipps zurück: Philippe Croit-conseil kann es nur in Abstimmung mit seinen Räten abgefaßt haben, wobei nicht übersehen werden sollte, daß die conseilleurs ausnahmslos dem Adel, also einer der interessierten Parteien angehörten, die es als ihr Privileg betrachteten, über die Besetzung der offenen Positionen mitzuentscheiden. Somit darf das Testament in der vorliegenden Form durchaus als weise Vorsorgemaßnahme angesehen werden, die dem Land Wirren und den fürstlichen Kindern die Verwicklung in Machtkämpfe ersparte. Neben dem Testament Philipps soll hier ein anderes von ihm initiiertes Dokument nicht unerwähnt bleiben:147 Antonio Rodríguez Villa, Biograph Juanas und langjähriger Bibliothekar der Real Academia de la Historia in Madrid, entdeckte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Beständen der Bibliothek einen Brief, der vermutlich die erste Unterschrift des jungen Karl trägt, der zum Zeitpunkt der Ausfertigung noch nicht vier Jahre alt war. Nach der Veröffentlichung des Briefes durch Rodríguez Villa setzte sich Peter Rassow 1927 in einem kurzen Aufsatz mit der inhaltlichen Einordnung und mit der Frage nach der Echtheit 145 Vgl. oben 28. 146 Das Testament findet sich in Voyages I 493–496 (appendice II); der Abdruck bei Cauchies 2003, 265–267 legt ebenfalls die von Gachard benutzte Kopie aus dem 17. Jahrhundert (in Privatbesitz) zugrunde. Das Original befindet sich in Wien, HHStA, Familienurkunden 902/1–2. 147 Die Verlobungen und Heiratsverträge, die für Karl zwischen 1500 und 1506 geschlossen wurden, ohnehin meistens von vornherein „lettres mortes“, können an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, denn sie dürften kaum Einfluß auf das Kleinkind gehabt haben.

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der Unterschrift auseinander.148 Der Brief, wohl nach Philipps Diktat von einem Sekretär in klarer Kanzleischrift abgefaßt, ist an Ferdinand von Aragon gerichtet; das Datum ist leider unvollständig: De Bruselas ha [en claro]de enero de quinientos y quatro. Nach vielen einleitenden Höflichkeitsformeln bittet das Kind Karl den spanischen Großvater, die Mutter kommen zu lassen, weil der Vater sich ohne sie sehr einsam fühle: [...] suplicandole quanto humildemente puedo mande que venga la princesa mi señora, por que el principe mi señor se halla muy solo sin de ella [...]

Dieses rührende Briefchen eines Kindes, das den „geliebten Bruder“, den Infanten Ferdinand, grüßen und den Großvater wissen läßt, daß die Schwestern Eleonore und Isabella wohlauf sind, erweckt zunächst den Eindruck, daß es privaten Charakters sei. Der Aufbewahrungsort in der Real Academia läßt aber darauf schließen, daß es sich um ein Schriftstück handelt, dem erhebliche politische Bedeutung beigemessen wurde. Das wird verständlich, wenn man sich die Situation vergegenwärtigt, in der es Philipp geraten schien, seinen Sohn einzuspannen, wohl wissend, daß er selbst mit einem Brief an Ferdinand von Aragon sein Ziel nicht erreichen würde. Juana war nach Philipps Abreise 1502 in Spanien zurückgeblieben, um die Geburt ihres vierten Kindes, des Infanten Ferdinand (geb. 10. März 1503), abzuwarten. Schon vor der Geburt gab Juanas Verhalten zu großer Besorgnis Anlaß, weil nichts sie bewegte „außer dem brennenden Verlangen nach ihrem Gemahl“.149 Auch nach Ferdinands Geburt besserte sich der Zustand der jungen Mutter nicht, was die ohnehin kränkelnde Königin Isabella außerordentlich bedrückte.150 Die Königin ließ ihre Tochter in die Burg von Medina del Campo bringen und unter die Aufsicht des don Juan de Fonseca, des Bischofs von Córdoba, stellen, um so zu verhindern, daß Juana mitten im Winter allein aufbrach. Schließlich mußte Zwang angewendet werden: Die Burgtore wurden zugesperrt, so daß ein Entkommen unmöglich wurde. Juana reagierte darauf wie „eine vor Wut rasende punische Löwin“ – so der höchst bildhafte und später häufig zitierte Vergleich des Petrus Martyr.151 Gleichzeitig teilt Petrus Martyr mit, daß Juana zuvor einen Brief Philipps empfangen habe, in dem ihr Gemahl seinen dringenden Wunsch äußerte, sie möge so bald wie möglich zu ihm kommen. War Juana nicht ohnehin bereits fest entschlossen, sich auf die Reise zu machen, so gab gewiß dieser Brief 148 Rassow 1927 (m. einer Abbildung des Briefschlusses mit der fraglichen Unterschrift). 149 Petrus Martyr, epist. 152 (i.e. 252; p. 418 W., 4.1.1503). 150 Petrus Martyr, epist. 254 (p. 419–420 W., 10.3.1503). 151 Petrus Martyr, epist. 267 (p. 427 W., 19.12.1503): tanquam punica Leena, in Rabiem accensa. Brouwer 1995, 37 f. schildert anschaulich – auf den Briefen des Petrus Martyr basierend – die dramatischen Szenen, die sich auf der Burg abspielten.

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den Ausschlag, und so erklärt sich auch ihr Verhalten, als sie an der Ausführung ihres Vorsatzes gehindert wurde.152 Dieser Brief hat – wohl wegen der Vermutung, daß damit eines der seltenen privaten Schriftstücke vorliege und wegen der darin geäußerten, oben zitierten Bitte – die Aufmerksamkeit der Biographen geweckt und wird vielfach erwähnt.153 Der Inhalt des Briefes wird in den Biographien allenfalls referiert; nur M. de Ferdinandy vermutete eine weiterreichende Bedeutung. Die Ungereimtheiten, die das Schriftstück enthält, werden nicht angesprochen.154 Die eigentliche Frage im Zusammenhang mit dem Brief jedoch lautet m.E.: Weshalb erschien Juanas Anwesenheit in den Niederlanden Philipp plötzlich so dringend erforderlich, daß er ihre Abreise durch den Brief des Sohnes beschleunigen wollte? In einem sind sich die Autoren einig: Es war nicht die Sehnsucht nach Juana, die ihn leitete. Über seine „Einsamkeit“ wußte er sich hinwegzutrösten – das war auch in Spanien bekannt. Wollte er die Gemahlin dem Einfluß ihrer Eltern entziehen? Nach allem, was man über das gespannte Verhältnis zwischen den spanischen Königen und dem Schwiegersohn weiß, käme diese Begründung eher in Betracht. Es bietet sich wohl eine noch weitergehende Deutung an: Man war in den Niederlanden wie in Spanien sehr genau darüber informiert, was am jeweils anderen Hofe vor sich ging. So wußte Philipp, daß Ferdinand von Aragon zu der fraglichen Zeit in Süditalien mit der Lösung der dortigen Probleme beschäftigt und Isabella bereits sehr krank war. Sollte die Königin plötzlich ster152 Im März 1504 konnte Juana von Laredo aus endlich aufbrechen; am 14. April traf sie in den Niederlanden ein. 153 Ferdinandy 1966, 107; Tamussino 1995, 101; Brouwer 1995, 37 f.; Fernández Álvarez 2000, 113; Cauchies 2003, 159. 154 Folgende Ungereimtheiten fallen bei näherer Betrachtung auf: (1.) Es ist anzunehmen, daß die meisten der oben genannten Autoren das Original des Briefes nicht kannten, sonst könnten sie nicht von einem „freundlichen Brief“ Philipps an Juana (Tamussino) sprechen und außer acht lassen, daß der von Karl unterzeichnete Brief an Ferdinand von Aragon gerichtet war. (2.) Einige Schwierigkeiten bereitet die Datierung: Petrus Martyr erwähnt den Brief am 19. Dezember 1503, im Brief selbst fehlt das Tagesdatum; ersetzt man die Leerstelle durch Kalendas, so kann der Brief frühestens am 14. Dezember 1503 geschrieben worden sein. Diese Einsetzung ist aber wenig befriedigend, da das Datum insgesamt in Spanisch angegeben ist. (3.) Die Echtheit der Unterschrift ist gelegentlich angezweifelt worden. Insbesondere Brandi (1941, 73) meinte aus den ungelenken Schriftzügen Io el rey herauslesen zu können, eine Unterschrift allerdings, die unsinnig wäre, wenn der Enkel an den König schreibt. Selbst Philipp bezeichnete sich zu Lebzeiten Isabellas nicht als rey. Bei einiger Vertrautheit mit den ersten Schreibversuchen junger Kinder kann man in dem Schriftzug durchaus das mühevoll gemalte „C“ – nach links geöffnet – erkennen, während die restlichen Buchstaben nur ansatzweise lesbar sind. Es ist Rassow zuzustimmen, der annimmt, daß man Karl seinen Namenszug auf gesondertem Blatt vorschrieb und das Kind versuchte, die Vorlage nachzumalen.

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ben – dies geschah ein knappes Dreivierteljahr später – und Ferdinand abwesend sein, war das Verhalten der Cortes und der Granden hinsichtlich der Stellung Juanas (und Karls) schwer vorhersehbar, kaum kalkulierbar war vor allem Juanas Verhalten in einer derartigen Situation. Juana bei sich in den Niederlanden und damit unter seiner Kontrolle zu haben, schien Philipp unabdingbar. Schließlich ging es um das spanische Erbe seines Sohnes, der den Brief damit gewissermaßen in eigener Sache unterzeichnete. Mit dieser Interpretation läßt sich auch der Fundort des Kinderbriefes unter den politisch relevanten Dokumenten erklären. Dieser Brief ist der einzige mir bekannte Fall, in dem der Prinz von Kastilien den jungen Sohn in voller Absicht für seine Zwecke einsetzte. Ein Familienvater im bürgerlichen Sinne war Philipp gewiß nicht, aber während wir keinerlei Zeugnisse für irgendwelche emotionalen Bindungen zwischen Juana und ihren burgundischen Kindern haben, zeugen die Briefe des Vaters davon, daß er zumindest gelegentlich an sie dachte.155 In Augenblicken höchster Not, so während der stürmischen Seereise 1506, als es die Niederländer unter erheblichen Verlusten an die englische Küste verschlug, gedachte Philipp in einem flehentlichen Gebet seiner Kinder.156

2.2. Die Mutter In weit höherem Maße als ihr Gemahl Philipp „der Schöne“ ist Juana Gegenstand des Interesses der Chronisten, späterer Historiker und selbst von Romanautoren gewesen: Die Frau, die „vor Liebe wahnsinnig wurde“, die über fast fünf Jahrzehnte als Gefangene erst des Ehemannes und des Vaters, später des Sohnes als rechtmäßige Erbin der spanischen Reiche ausgeschaltet wurde, ist vielfach als Opfer romantisch verklärt worden; man hat versucht, Aufschluß über die Art ihrer Geisteskrankheit zu gewinnen oder diese schlichtweg zu leugnen.157 Ob Juana in den Jahren bis 1506 eine wie auch immer geartete Rolle im Leben ihrer Kinder spielte, bleibt im Dunkeln. Weder in Berichten der Zeitgenossen 155 Vgl. den Auszug aus einem Brief Philipps an den Grafen von Nassau (Toledo, 26. Mai 1502) in Voyages I 380 (appendice V). 156 Voyages I 416. Der Herausgeber, L. Gachard, unterstützt die Darstellung des unbekannten Verfassers durch einen Bericht des venezianischen Gesandten Vincenzo Quirini an den Dogen (Falmouth, 30. Januar 1506). Quirini hatte seine Informationen von einem Mitglied aus Philipps Entourage erhalten. 157 Unter den Biographen hat man sich weitestgehend auf die Diagnose „Schizophrenie“ geeinigt, was insgesamt mit dem Krankheitsbild übereinstimmt, wie es in Handbüchern der Psychiatrie beschrieben ist. Für riskant halte ich es allerdings, wenn ein Historiker ein Fallbeispiel aus der Psychoanalyse auf Juana überträgt (Ferdinandy 1966, 317–321 Anm. 21. 39. 59. 63. 96). Auf eine (ältere) psychiatrische Stellungnahme zu Juanas Erkrankung verweist Cauchies 2003, 237 Anm. 97.

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noch in Briefen sind Zeugnisse überliefert, die darauf hinweisen, daß sie wenigstens in Gedanken bei ihren fernen Kindern weilte. Ebenso wenig weiß man über die Begegnungen mit den Mechelner Kindern während Juanas kurzer Aufenthalte in den Niederlanden. Dies ist umso erstaunlicher, als die Spanischen Könige sich bereits ab 1498 durch persönliche Abgesandte ständig über das Verhalten und die Lebensumstände ihrer Tochter informieren ließen, da sie keine Nachrichten von Juana selbst erhielten und alles, was sie aus anderen Quellen erfuhren, Anlaß zu großer Sorge gab. Ab 1500 stand Juana zudem als Thronfolgerin im Zentrum des Interesses der politischen Beobachter, denen ihr zunehmend bizarres Verhalten reichlich Stoff zur Berichterstattung bot. Die „Launen“ der jungen Erzherzogin und die dramatischen Szenen zwischen Philipp und seiner Gemahlin blieben der Hofgesellschaft nicht verborgen und fanden ihren Niederschlag auch in den spanischen Chroniken, v.a. bei dem Zeitgenossen Petrus Martyr. Man könnte mutmaßen, daß diese Ereignisse das Interesse an Juanas Verhältnis zu ihren Kindern überlagerte – oder daß es ein solches Verhältnis nicht gab,158 wenn man von ihrer besonderen Beziehung zu Katharina einmal absieht, die, nach dem Tode Philipps geboren, bis zu ihrer Heirat mit dem König von Portugal (1525) das Schicksal ihrer in der Burg von Tordesillas eingeschlossenen Mutter teilte.159 Im folgenden soll aufgezeigt werden, in welchem Maße die m.E. unzweifelhafte psychische Erkrankung von Juana Besitz ergriff und damit die offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber ihren Kindern erklärt werden kann. Juana wurde 1479 in Toledo geboren. Kastilien und Aragon, eben erst in Matrimonialunion vereinigt, hatten keine feste Hauptstadt; erst allmählich wurde Valladolid zum bevorzugten Aufenthaltsort des Hofes. Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon waren Reiseherrscher, wie es noch ihr Enkel Karl V. sein sollte. Das Land war im Inneren noch keineswegs befriedet und das Königspaar daher stets unterwegs von einem Brennpunkt zum anderen. Die fünf Kinder des Paares wuchsen an wechselnden, ruhigen Orten im Hinterland auf, in den königlichen Schlössern und Burgen von Toledo, Segovia und Ávila. Isabella von Kastilien war eine sehr gebildete Frau, deren Gemäldesammlung, vor allem Bilder zeitgenössischer flämischer Meister, einen bedeutenden Ruf genoß, die italienische Humanisten an ihren Hof zog – Petrus Martyr war einer 158 Fernández Álvarez 2000, 230–242 schildert die zahlreichen Begegnungen Karls V., der Kaiserin Isabella, der Kinder des Paares und der Enkel mit Juana in späteren Jahren. Seine Darstellung läßt darauf schließen, daß sich nach dem ersten „Pflichtbesuch“ des jungen Herrschers 1517 in Tordesillas eine gewisse affektive Bindung des Kaisers an seine Mutter entwickelte, daß Juana sogar in der Gegenwart der Familie, besonders der Enkel, kurzzeitig auflebte. 159 Selbst über Juanas Verhältnis zu dem Infanten Ferdinand ist kaum etwas bekannt, obwohl er zeitweilig in ihrem Haushalt lebte.

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von ihnen – und die eine ausgezeichnete Hofkapelle unterhielt. Es gab eine reichhaltige Bibliothek mit Werken klassischer lateinischer, aber auch zeitgenössischer italienischer und spanischer Autoren sowie religiösem Schrifttum. Als Mäzenin großzügig, duldete die Königin in der Hofhaltung jedoch keinen unnötigen Aufwand.160 Ihren Kindern, auch den Töchtern, ließ Isabella eine gute Erziehung angedeihen:161 die Heilige Schrift, fromme Legenden und Texte der Kirchenväter bildeten die Grundlage der literarischen Unterweisung; Juanas lateinische Sprachkenntnisse wurden sogar von Vivés gelobt. Französisch allerdings, die Sprache des feindlichen Nachbarn, wurde am spanischen Hof nicht gelehrt, so daß Juana die „burgundische“ Sprache erst in den Niederlanden erlernen mußte. Selbstverständlich erhielten die spanischen Königskinder Musikunterricht; von Juana ist bekannt, daß sie eine gute Klavichordspielerin war. Die Unterrichtsstunden, kindliche Spiele und Vergnügen teilte Juana mit ihren beiden jüngeren Schwestern Maria und Katharina. Überschattet wurde das Dasein der Heranwachsenden durch die Anfälle rasender Eifersucht, mit denen Königin Isabella, die kluge, sonst so klar denkende Herrscherin, auf den donjuanismo ihres Gemahls reagierte, die häufig in tätliche Angriffe auf die jeweiligen Favoritinnen ausarteten. Es war auch kein Geheimnis, daß Ferdinand einige seiner Bastarde protegierte. Eine weitere psychische Belastung stellten für Juana die regelmäßigen Besuche bei der Großmutter mütterlicherseits dar, bei denen das junge Mädchen die Königin begleiten mußte: Diese Großmutter, Isabella von Portugal, war nach dem Tode ihres Gemahls in Wahnsinn verfallen und verbrachte den größten Teil ihres Lebens, von 1454 bis zu ihrem Tode 1496, abgeschlossen von der Außenwelt in der Burg von Arévalo. In Juana verdichteten sich die unseligen Veranlagungen von Mutter und Großmutter und ließen sie zu Juana la Loca werden, wobei äußere Faktoren den Ausbruch wie den Verlauf ihrer Krankheit zweifellos auslösten und beeinflußten. 160 Fernández Álvarez 2000, 53: „[... aunque] la Reina impusiera un tono de austeridad en los suyos personales – y en especial, en sus trajes y en sus joyas.“ Hierzu fügen sich die Bemerkungen des Antoine de Lalaing, der während der ersten Spanienreise seine Verwunderung über die schlichte, vergleichsweise armselige Tracht der Katholischen Könige ausdrückt (Voyages I 176): Des habillemens du roy et de la royne je me tais, car ilz ne portent que draps de laine. Et Monseigneur [d.h. Philipp] avoit une robbe de satin brochiet violet et une robbe de velour violet plaine de drap d’or. A lendemain, Monseigneur avoit une robbe de satin noir plaine de martres de sables, et Madame une robbe de drap d’or plaine de satin cramoisy. 161 Der Erziehungsplan, der damals für den Erbprinzen Juan aufgestellt wurde, galt als so vorbildlich für die Zeit, daß ihn Karl V. als Richtschnur für die Erziehung seines Sohnes Philipp (II.) übernehmen ließ; vgl. Fernández Álvarez 2000, 56. Die Ratschläge, die Karl seinem Sohn 1543 erteilte, und Aussagen über dessen lange vernachlässigte Erziehung lassen allerdings Zweifel an der tatsächlichen Durchsetzung des Erziehungskonzepts aufkommen. Vgl. unten 622–625.

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Im August 1496 stach von Laredo aus eine stattliche Flotte in See, die Juana und ein großes Gefolge in die Niederlande zu ihrem künftigen Gemahl bringen sollte. Königin Isabella, in großer Sorge um die sensible, ja labile Sechzehnjährige,162 war herbeigeeilt, um die letzten Tage vor der Ausfahrt mit ihrer Tochter an Bord zu verbringen. Die Brautfahrt Juanas stand indes unter schlechten Vorzeichen: Schwere Stürme verschlugen die Flotte nach beträchtlichen Verlusten auf die Insel Walcheren, wo man auf den Empfang kaum vorbereitet war. Immerhin war Margarete von York zur Begrüßung erschienen. Der Bräutigam hingegen ließ auf sich warten, und auch seine Schwester Margarete erschien erst nach zehn Tagen, um die junge Schwägerin bei ihrem Einzug in die neue Heimat zu begleiten.163 Am 14. September 1496 hielt Juana ihren festlichen Einzug in Antwerpen, der die Niederländer durch seinen fremdartigen Pomp in Erstaunen versetzte.164 Erst einen Monat später traf Philipp ein, der sich seit Mai des Jahres mit Maximilian und anschließend in dessen Auftrag in Süddeutschland und Tirol aufgehalten hatte. Die junge Prinzessin war von der ersten Begegnung an dem schönen Prinzen verfallen, der ihre Gefühle zunächst erwiderte – ein Strohfeuer von seiner Seite allerdings. Am 20. Oktober wurde das Paar in der kleinen Gemeinde Lierre in Brabant durch Henri de Berghes, den Bischof von Cambrai, getraut. Die großen Städte schienen einander mit prachtvollen Festlichkeiten und glänzenden Turnieren zu Ehren des Grafen von Flandern und seiner spanischen Frau überbieten zu wollen; Juana aber, in „austeridad“ aufgewachsen, fühlte sich von der ungezwungenen, lauten Fröhlichkeit und der Zurschaustellung höfischen Prunks abgestoßen. 162 Petrus Martyr, epist. 173 (p. 381 W., 10.12.1496). Fernández Álvarez erwähnt (2000, 119), daß die Prinzessin bereits früh nach Auseinandersetzungen mit den Eltern die Nahrung verweigerte, in „Hungerstreik“ trat. 163 Vielleicht wurzelte in diesem nach hochgespannten Erwartungen so enttäuschenden Empfang das bald aufkeimende Mißtrauen Juanas gegenüber den „beiden Margareten“? Es gelangten Gerüchte nach Spanien, daß die beiden Frauen schon kurz nach Karls Geburt Juana das Leben schwermachten. Die Spanischen Könige ließen daher ihren Gesandten Erkundigungen einziehen. Der Diplomat scheint jedoch nichts Näheres in Erfahrung gebracht zu haben. Vgl. Cauchies 2003, 132. 164 Juste (1858, 5) schildert das exotische Schauspiel: „La fille des rois catholiques, vêtue de drap d’or et la tête découverte, chevauchait sur une mule à la mode d’Espagne; elle était accompagnée de seize nobles dames et d’une matrone également montées sur des mules; venaient ensuite les pages, les ambassadeurs, les clairons. Ce n’était pas tant la pompe que la singularité de ce cortége qui frappait le peuple: le nord et le midi de l’Europe se rapprochaient avec étounement.“ Eine Folge von Illustrationen bei Blockmans 2000, 275–279 veranschaulicht den Einzug Juanas in Brüssel; sie sind einer Handschrift mit einer kurzen lateinischen Beschreibung des Ereignisses entnommen, die vermutlich von der Stadt in Zusammenarbeit mit der Rhetorikerkammer und der Lukasgilde erstellt wurde. Die sechzig erhaltenen Blätter bewahrt das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin.

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Zu Zwistigkeiten zwischen den Eheleuten kam es bereits nach wenigen Monaten. Juana, die selbst unter dem grauen nördlichen Himmel litt, machte Philipp dafür verantwortlich, daß zahlreiche ihrer Landsleute, die mit der Flotte Margarete nach Spanien geleiten sollten, den harten Winter nicht überlebten.165 Das anfängliche Fehlen einer gemeinsamen Sprache dürfte Mißverständnisse erheblich begünstigt haben. Dann blieb Philipp mit der jährlichen Zahlung von 20.000 Dukaten an Juana im Verzug, zu der er sich im Ehevertrag verpflichtet hatte – eine Beleidigung der stolzen Spanierin, die sich inmitten des höfischen Prunks armselig und fehl am Platze fühlte. Ob sie sich aus eigenem Antrieb von dem geselligen Treiben fernzuhalten begann oder ob wirklich Philipp sie davon ausschloß, um ungestört seinen Vergnügungen und Liebesabenteuern nachgehen zu können, bleibt unklar. Letztere Version gelangte nach Spanien. Seine junge Frau begann nicht nur ihr Äußeres zu vernachlässigen. Wesentlich gewichtiger war, daß die in strenger Glaubensobservanz erzogene Prinzessin ihre religiösen Pflichten nicht mehr wahrnahm. Die Katholischen Könige, zutiefst beunruhigt, entsandten den Dominikaner Tomás de Matienzo zur Berichterstattung an den burgundischen Hof. Juana begegnete ihm mißtrauisch und abweisend. Sie war weder bereit, über ihre Sorgen zu sprechen, noch den Eltern zu schreiben – da es nichts zu schreiben gebe –, noch ihren religiösen Pflichten nachzukommen und etwa die Beichte abzulegen. Monatelang versuchte der Dominikaner vergeblich auf die junge Frau einzuwirken. Erst nach der Geburt ihres ersten Kindes im November 1498 begann sie, dem Mönch von der Geringschätzung, die den Spaniern am Hofe entgegenschlug, von ihren Geldsorgen – sie konnte ihre spanische Dienerschaft nicht bezahlen –, von ihrem Heimweh zu erzählen und davon, daß bei dem Gedanken an die Eltern des Weinens kein Ende sei. Ursache dafür war wohl kaum allein die Sehnsucht nach Vater und Mutter; in die Zuneigung mischte sich das Gefühl, von den Nächsten verlassen, wahrhaft verraten und in eine feindselige Welt verkauft worden zu sein. Dazu registrierte sie gewiß selbst, daß die – nicht unbegründete – Eifersucht, die sie in höchst aggressiver Form an der Mutter beobachtet hatte, auch von ihr Besitz ergriff.166 165 Petrus Martyr, epist. 175 (p. 382 W., 29.4.1497): ex his, qui Ioannam comitati sunt. boreali frigore concreti et fame maiori ex parte consumpti sunt. 166 Rodríguez Villa 1874, XII–XIV veröffentlicht einen Brief Juanas (bei Fernández Álvarez 2000, 58 leider undatiert wiedergegeben), in dem diese sich auf die Exzesse der Eifersucht bezieht, von denen ihre Mutter mit der Zeit geheilt wurde, und in dem sie die Hoffnung ausspricht, daß es auch ihr mit Gottes Hilfe gelingen wird, ihre Eifersucht zu überwinden: [...] y no solo se halla en mí esta pasión, mas la Reina, mi señora, a quien dé Dios gloria, que fue tan eçelente y escogida persona en el mundo, fue así mismo celosa, mas el tiempo saneó a S. A., como plazerá a Dios que hará a mi [...]. Die Formulierungen wie die grammatischen Formen erlauben den Schluß, daß der Brief nach dem Tode Isabellas geschrieben wurde.

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Die Erzherzogin war erst 19 Jahre alt, als sie am 24. Februar 1500 ihr zweites Kind, Karl, den ersehnten Erbprinzen, zur Welt brachte. Was im Lande frenetischen Jubel auslöste und mit tagelangen Festen begangen wurde, fand in der Mutter keinen Widerhall. Johan Brouwer, der Biograph Juanas, schreibt dazu, daß „die Mutter des Kindes [während der Festlichkeiten] verdrießlich zurückgezogen in ihren trostlosen Gemächern saß“, was ein spanischer Bischof ihren Eltern mitteilte.167 In dem ausführlichen Bericht von der Taufe Karls ist sie mit keinem Wort erwähnt, wohl aber die beiden Taufpatinnen, die „beiden Margareten“.168 Wenn das Ansehen Juanas in den Niederlanden auch nach der Geburt des Erbprinzen nicht wuchs, so gab die junge Mutter den übermächtigen burgundischen Beratern ihres Gemahls die Schuld daran, die es bewußt hintertrieben.169 So waren es mit Sicherheit auch die neuen beunruhigenden Nachrichten, die neben der politischen Notwendigkeit das Spanische Königspaar bald nach dem Tode des jungen Miguél (20. Juli 1500) auf das Erscheinen der Thronfolger drängen ließen. Vermutlich spielte bei dem immer wieder geäußerten Wunsch, den kleinen Karl zur Erziehung nach Spanien zu senden, zumindest von Seiten Isabellas der Gedanke eine Rolle, daß der mögliche Erbe der spanischen Länder dem Einfluß seiner Mutter entzogen werden sollte. Die Königin erkannte frühzeitig, vielleicht als erste, wie es um die seelische Gesundheit ihrer Tochter bestellt war: Sie wußte am besten um die erbliche Belastung Juanas und beobachtete die Anzeichen abnormen Verhaltens mit wachsender Sorge. Während Juanas Aufenthalt in Spanien zwischen 1502 und 1504 wurde für Isabella zur Gewißheit, daß sie nicht nur hija de loca, sondern auch madre de loca war.170 Das Testament Isabellas vom 12. Oktober 1504 läßt – nur leicht verklausuliert – erkennen, wie die Königin die Regierungsfähigkeit ihrer Tochter einschätzte. Bis zur Abfassung dieses Testamentes häuften sich die Anzeichen in den Jahren 1501 bis 1504, die Isabella veranlaßten, Ferdinand von Aragon für den Fall ihres Todes zum Regenten zu bestimmen (devia regir e governar e administrar), und zwar anstelle der Tochter (la reyna verdadera e señora natural proprietaria), falls diese durch ihre Abwesenheit die Herrschaft nicht wahrnehmen könne oder nicht regieren wolle

167 Brouwer 1995, 24 f., leider, wie so häufig, ohne Quellenangabe. 168 Sandoval 17 f. 169 Cauchies 2003, 125 (nach der Korrespondenz des Gesandten Fuensalida). 170 Diese Formulierung wird oft zitiert, so auch (nach L. Suárez Fernández) von Cauchies 2003, 233.

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oder könne (no quisiere o no pudiere entender en la governaçion).171 Diese Regelung sollte gelten, bis Karl das 20. Lebensjahr vollendet hatte.172 Die Streitigkeiten zwischen Philipp und Juana wurden, wie an einigen Beispielen gezeigt, durchaus nicht immer durch die Eifersucht der jungen Frau ausgelöst, wie es häufig dargestellt wird. Anders als das spanische Königspaar, das trotz allen häuslichen Unfriedens nie das große gemeinsame Anliegen der Einigung Spaniens aus den Augen verlor, beharrten die Thronerbin und ihr frankophiler Gemahl auf unvereinbaren politischen Standpunkten, wobei Juanas Position weniger politisch als vielmehr persönlich motiviert war: Sie sah in jeder Geste der Annäherung an Frankreich, in Philipps Wunsch nach „Frieden um jeden Preis“ einen feindlichen Akt gegen ihr Heimatland, persönlich gerichtet gegen ihre Eltern, die großen Könige, und damit gegen sich selbst. So konterkarierte sie, im Wesentlichen durch Verweigerung, politische Pläne Philipps. Daher versagte sie ihre Unterschrift unter dem Vertrag zur Verlobung Karls mit der französischen Königstochter, weil er ein Abkommen Philipps mit dem französischen König, dem Feind ihrer Eltern, darstellte. Daher brüskierte sie während des Frankreichaufenthalts zu Beginn der ersten Spanienreise das Königspaar, als sie sich weigerte, von der Königin einige Münzen für die Kollekte bei einer Messe anzunehmen: Sie sah darin ein Zeichen der Vasallität. Mochte Philipp auch der Erste Kronvasall des französischen Königs sein – für Juana kam eine derartige Geste der Unterwerfung nicht in Betracht.173 Die langsame Rundreise des Thronfolgerpaares durch Spanien glich einem wahren Triumphzug, dessen Höhepunkt die feierliche Zeremonie der Anerkennung und Vereidigung Juanas als Prinzessin von Asturien und Erbin der kastilischen Krone durch den hohen Adel und die Cortes in der Kathedrale von Toledo darstellte (27. Mai 1502). Philipp, legítimo marido der Thronerbin, wurde als landfremder Miterbe, als „prince cohéritier“ (Cauchies) darauf vereidigt, das Land zu gegebener Zeit entsprechend den dort geltenden Gesetzen und Gebräuchen zu regieren. Damit trug Philipp nun den Titel eines Prinzen von Kastilien, den er unmittelbar nach dem Tode Miguéls angenommen hatte, zu Recht.174 171 Bereits nach dem „Skandal von Medina del Campo“, als sich im Land die Ansicht durchzusetzen begann, Juana habe den Verstand verloren, sollen die Cortes ihrer Königin nahegelegt haben, eine derartige Klausel in ihr Testament aufzunehmen: Brouwer 1995, 38. 172 Cauchies 2003, 161. Petrus Martyr, epist. 276 (p. 431 W., 19.11.1504) gibt die o.g. wesentlichen Punkte des Testaments wieder. Ein Kodizill vom 23. November 1504 bezieht sich auf Philipp, dem man als Landfremdem, der mit der Sprache, den Gesetzen und Sitten des Landes nicht vertraut war, nicht den nötigen Gehorsam entgegenbringen würde. 173 Fernández Álvarez 2000, 98 f. (nach L. de Padilla). 174 Einen sehr anschaulichen, ausführlichen Bericht von der Rundreise, den Festlichkeiten und Zeremonien gibt der Augenzeuge Antoine de Lalaing. In einem gesonderten Abschnitt

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Obwohl das Ehepaar während dieser Monate offensichtlich in seltener Eintracht lebte, war für Philipp mit der Anerkennung und Vereidigung auch im Königreich Aragon der Zweck der Reise erfüllt, und er drängte auf eilige Heimkehr, wobei er trotz des inzwischen ausgebrochenen Krieges zwischen Frankreich und Spanien wieder den Landweg nehmen wollte.175 Selbst die Vorhaltungen seiner Schwiegereltern, insbesondere Isabellas, konnten ihn nicht an der Abreise hindern. Er ließ seine schwangere Frau, der die Reise nicht zuzumuten war, in der Obhut ihrer Mutter zurück.176 Am 19. Dezember 1502 nahm Philipp non sans grands regrets von den Spanischen Königen und von seiner Frau Abschied, die in tiefem Schmerz zurückblieb.177 Einen realistischen Eindruck von den Anzeichen der tiefen Depression Juanas vermitteln die Briefe des Petrus Martyr, in denen auch die Sorge der Königin um ihre Tochter anklingt.178 Mit der Geburt des Infanten Ferdinand schien für seine Mutter endlich das Hindernis gefallen zu sein, das sie so lange abgehalten hatte, Philipp in die Niederlande zu folgen. Das Kind hat offensichtlich in ihren Plänen keine Rolle gespielt. Als Isabella ihr dennoch die Abreise verwehrte, verschlechterte sich der Zustand Juanas derart, daß die Königin ihre eigenen Ärzte hinzuzog. Deren Bericht deckt sich weitestgehend mit den Aufzeichnungen des Petrus Martyr:179 Juana schlief schlecht, aß wenig, oft geht er auf die Vereidigung in Zaragoza ein und erläutert dabei die besonderen Klauseln, die die Anerkennung Juanas ermöglichten, denn für Aragon galt das Recht der weiblichen Erbfolge nicht (Voyages I 174–180. 240 f.). Die spanischen Chronisten gehen nur sehr knapp auf die Ereignisse ein: Santa Cruz 6 f.; Sandoval 20 f. 175 Als Grund gab er an, daß er den Generalständen versprochen habe, nach längstens einem Jahr zurückzukehren. Ferner spielten die schweren Verluste eine Rolle, die sein niederländisches Gefolge unter den ungewohnten klimatischen Verhältnissen durch eine Fieberepidemie erlitten hatte; auch sein engster Ratgeber, Franz von Busleyden, war der Krankheit zum Opfer gefallen (vgl. Brouwer 1995, 31 f.). 176 Voyages I 242. 177 Ebd. 245. Zur Intervention Isabellas und ersten Reaktion Juanas auch Petrus Martyr, epist. 249 (p. 417 W., 20.9.1502): durum est Reginae haec audire, durius multo ardenti uxori, quae simplex est foemina, licet a tanta muliere progenita: gemit, collachrimatur. Santa Cruz 7 zählt die Bedenken der Spanischen Könige wie auch die Gründe für Philipps eilige Abreise auf und beschreibt die Abschiedsszene: [...] y así se despidió de los Reyes Católicos y de la Princesa Doña Juana su mujer con muchas lágrimas de entrambos. Sandoval 24 f. erwähnt die Abreise Philipps erst unter den Ereignissen des Jahres 1504, nach dem ausführlichen Bericht über die Taufe des Infanten Ferdinand (22–24), wobei es wohl nur dem sehr aufmerksamen Leser auffällt, daß der Vater nicht erwähnt wird. 178 Hier besonders epist. 152 (i.e. 252; p. 418 W., 4.1.1503). 179 epist. 254 (p. 419–420 W., 10.3.1503) beschreibt Juanas Zustand folgendermaßen: [...] nil sentire videtur, de viro tantum solicita, desperato vivit animo, vivit obducta fronte, diu noctuque cogitabunda nec verbum emittit unquam, nisi stimulata, atque id: si quando est, molestum. ubi primum | pepererit, & diffidere cum Gallis desierint, discedendi ad maritum copiam

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gar nichts, und war infolgedessen sehr mager. Von tiefer Trauer erfüllt, weigerte sie sich oft zu sprechen. Auch ihr sonstiges Verhalten ließ darauf schließen, daß sie von Sinnen war (trasportada). Sie reagierte weder auf freundlichen Zuspruch noch auf Zwang oder Einjagen eines Schreckens, was wohl darauf hindeutet, daß die damaligen Ärzte bereits eine Art von „Schocktherapie“ einsetzten.180 Was die Ärzte nicht beim Namen nennen, ist das auslösende Moment dieser Krankheit; Petrus Martyr spricht es aus: de viro tantum solicita. Die Naturphilosophie seiner Zeit liefert dem Humanisten die Erklärung für die eigentliche Ursache der turbulentia, der geistigen Verwirrung der Prinzessin: Hier war das Gleichgewicht zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, also dem Menschen, durch den übermächtigen Einfluß des finsteren Saturn gestört: qua pervicax Saturnus humor trahit ea tendit.181 Die Königin, deren Gesundheitszustand sich durch die Auseinandersetzungen mit der Tochter besorgniserregend verschlechterte, ließ die Kranke auf die Burg La Mota in Medina del Campo bringen.182 Was sich dort abspielte, wurde bereits geschildert. Im März 1504 war endlich der Weg frei in die Niederlande, wo Juana von ihrem Gemahl freundlich empfangen wurde. Nirgends findet sich ein Hinweis darauf, daß die Kinder zu einem Wiedersehen mit der Mutter nach Brüssel geholt wurden, wie man es normalerweise erwarten würde. Vielleicht wollte Philipp sich zunächst einen Eindruck von der Verfassung seiner Frau verschaffen, um den Kindern gegebenenfalls die Begegnung mit einer Mutter zu ersparen, die den Verstand verloren hatte. Man darf also davon ausgehen, daß Karl und seine Schwestern nicht Zeugen der rasenden Eifersuchtsszenen waren, die sich kurz nach Juanas Ankunft abspielten. Juana entdeckte, daß Philipp sich keineswegs in Einsamkeit nach ihr verzehrt hatte, sondern eine schöne, blonde flämische Geliebte hatte. Corde rabido – so Petrus Martyr – soll Juana sich mit einer Dienerin zum Hause der Niederländerin begeben haben, sie vehement attackiert, pollicetur, aliter nanque, minime id fieri potest se ostendit, quia mari ac terris sit Hispania undique a Gallis circumvallata. id non longe abesse insinuat, quin sint foedus inituri, quiescat animo interea filiam hortatur, rogatque nec maternis pellecta blanditiis, nec auri gemmarumve cumulis oblatis exhilaratur, infoelix arbori suae fructus. 180 Der Bericht der Hofärzte an den König vom 6. Juni 1503 (erhalten in der Bibliothek der Spanischen Historischen Akademie) findet sich auszugsweise und in deutscher Übersetzung bei Brouwer 1995, 36; Fernández Álvarez 2000, 109 f. gibt kürzere Auszüge in spanischer Sprache wieder. 181 Alle Zitate aus Petrus Martyr, epist. 254 (p. 419–420 W., 10.3.1503). Vgl. auch Ferdinandy 1966, 284–289 zu verschiedenen Formen der „saturnischen Erkrankungen“ in der Familie Karls V. 182 Isabella war zu diesem Zeitpunkt zu der Überzeugung gelangt, daß Juana völlig den Verstand verloren hatte. Dies belegt ein Brief an ihren Gesandten Fuensalida, auszugsweise wiedergegeben bei Fernández Álvarez 2000, 114.

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ihr das Gesicht zerkratzt und das prächtige Haar bis auf die Kopfhaut haben abschneiden lassen.183 Santa Cruz berichtet ausführlich von dem Geschehen und versäumt es nicht, Philipps Reaktion drastisch zu schildern: [...] el Príncipe Don Felipe se fué á la Princesa y la trató muy mal de palabra, diciéndole muchas injurias y aun dicen haber puesto las manos en ella, lo cual sintió mucho la Princesa Doña Juana, y cayó luego mala en una cama perdido casi todo el juicio.184

Etwa von diesem Zeitpunkt an soll Philipp ein Journal angelegt haben, in dem die Verhaltensweisen Juanas registriert wurden.185 Diese Aufzeichnungen ließ er den Spanischen Königen überbringen. Sie gaben vermutlich den letzten Ausschlag für die Abfassung von Isabellas Testament. Zwischen den Eheleuten kam es in der Folge immer wieder zu heftigen Szenen, wobei auch Juana tätlich wurde, so daß Philipp sie gelegentlich einsperren ließ. Rückzug in dunkle Räume, völlige Absonderung und Hungerstreik wechselten mit rasenden Wutausbrüchen. Nach dem Tode Isabellas und der Eröffnung ihres Testamentes begann der Machtkampf um die Krone Kastiliens zwischen Philipp, der sich sofort zum König hatte ausrufen lassen, Ferdinand und Juana, die von ihrem Vater zur Königin proklamiert worden war. Ein Netz von Intrigen wurde gesponnen, in dem jeder der Beteiligten wechselweise mit jedem paktierte und Juana, je nach Interessenlage, einmal für geistig völlig gesund, dann wieder für wahnsinnig erklärt wurde. Die neue Königin verhielt sich dabei völlig unberechenbar, schrieb Briefe, die alsbald durch andere widerrufen wurden, leistete oder verweigerte Unterschriften – je nachdem, wie es um das Verhältnis zu Philipp bestellt war. Philipp kannte das einzige Mittel, seine Frau gefügig zu machen, und nutzte es: Sonst wäre wohl nicht im September 1505 Maria als fünftes Kind des Paares geboren worden. Die Unberechenbarkeit Juanas zeigte sich auch auf der zweiten Spanienreise: Während des schweren Sturms, der die Flotte schließlich nach England verschlug, bangten alle um ihr Leben, nur Juana blieb ruhig und gelassen – ähnlich, wie sie später während der tödlichen Erkrankung Philipps Ruhe und Umsicht bewahrte und ihren Mann umsorgte. Als Philipp und seine Begleitung die Gastfreundschaft des englischen Hofes genossen, weigerte sich Juana zunächst, nach Windsor zu 183 Petrus Martyr, epist. 171 (i.e. 271; p. 430 W., 26.6.1504): vultu flammas evomenti, dentibus frendens, percussisse dicitur flavam, Philippo gratam, caesariem ad cutem abradi illi praecepit. Diese dramatische Schilderung der Vorfälle ist allerdings mit gebührender Vorsicht zu bewerten, da der Autor nicht Augenzeuge war, sondern nur wiedergibt, was er gehört hat (dicitur). Dennoch sind die Zeilen immer wieder als authentische Quelle benutzt worden. 184 Santa Cruz 12. Auch dieser Chronist weist darauf hin, daß er die Begebenheit nur aus zweiter Hand schildert (dicen). Sandoval, ein Jahrhundert später Chronist Philipps III., schweigt über die Ereignisse von Brüssel ebenso wie über die von Medina del Campo. 185 Tamussino 1995, 102 f.

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kommen, obwohl sie dort von ihrer Schwester Katharina sehnlichst erwartet wurde.186 Das Beisammensein mit der Schwester konnte Juanas Schwermut nicht vertreiben. Schon am folgenden Tag zog sie weiter nach Exeter, wo der Graf von Arundel sie aufnahm.187 Nach anderen Quellen begab sie sich nach Falmouth, wo die Flotte sich sammeln sollte. Cauchies mutmaßt sogar, daß Philipp seine Frau dorthin schickte.188 Alle Autoren stimmen darin überein, daß Juana damals eine Phase tiefer Schwermut durchlitt, nicht sprach und nicht aß, niemanden in ihrer Nähe duldete und ihr Äußeres vernachlässigte – drei Monate lang, bis die Flotte auslief.189 Die letzte Phase des Machtkampfes um die Krone von Kastilien kann hier nur in ihren Grundzügen angesprochen werden. Philipp und Ferdinand waren die Akteure; Juana, oder vielmehr ihre geistige Gesundheit und damit Regierungsfähigkeit, stand im Zentrum des Geschehens. Nach ihrer Landung in La Coruña wurde das Königspaar von den Bürgern der Stadt freudig und ehrerbietig empfangen, man huldigte ihnen und erkannte sie als Herrscher an. Der Landessitte entsprechend sollten darauf Philipp und Juana ihrerseits als Könige von Galizien vereidigt werden. Philipp leistete den Eid ohne Zögern, Juana aber weigerte sich. Auch durch Bitten der beschämten und verblüfften Bevölkerung ließ sie sich nicht bewegen, so daß nur der Charme des gerade vereidigten Königs von Galizien die Situation retten konnte.190 Man hat ihre Weigerung dahingehend gedeutet, daß sie nicht ohne die Zustimmung ihres Vaters handeln wollte.191 Trotz des Vertrages von Salamanca,192 der im November 1505 zwischen Ferdinand und 186 Katharina von Aragon war mit dem ältesten Sohn Heinrichs VII., Arthur, Prince of Wales, vermählt gewesen, aber bereits seit 1502 verwitwet. Sie blieb in England und heiratete 1509 Arthurs jüngeren Bruder, Heinrich VIII. 187 Fernández Álvarez 2000, 123. 188 2003, 183. 189 Zu den Vorkommnissen in England Voyages I 423 f.; Santa Cruz 18; zum Verhalten und Gemütszustand Juanas Petrus Martyr, epist. 299 (p. 441 W., 4.4.1506): Catherina, Ioannae Reginae soror, [...] sorori semper astat, sororem amplectitur, solatur, comitatur. Ioanna vero Regina, blanditias abnuit universas, tenebris gaudet, ac solitudine, fugit omne commertium, varia sunt de successibus murmura. – Der König von England nutzte die Zeit von Philipps unfreiwilligem Aufenthalt auf der Insel – manche sprechen von „Gefangenschaft“ – für seine politischen Ziele: So wurden Verhandlungen zu einem Heiratsvertrag Karls mit der englischen Königstochter Mary geführt, obwohl Karl zu diesem Zeitpunkt noch mit Claude de France verlobt war, und Philipp wurde der für die Niederlande nachteilige Intercursus malus quasi aufgezwungen, ein Vertrag, den Philipp aber nie unterschrieb. 190 Voyages I 432 f. 191 Wiesflecker 1977, 298. 192 Eine erste Edition des Vertrages vom 24. November 1505, ins Französische übertragen, veröffentlicht Cauchies 2003, 251–264.

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den Abgesandten Philipps geschlossen wurde und in dem die Herrschaftsverhältnisse sowie die Erbansprüche Karls geregelt worden waren, herrschte tiefes Mißtrauen zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn. Philipp zog mit seinem Heer von Galizien ins Landesinnere, Begegnungen mit Ferdinand lange ausweichend. Mit höchstem Befremden beobachtete die Bevölkerung, daß Juana alle Damen ihres Gefolges entließ und nur eine Waschfrau in ihrem Dienst behielt, als sie ihren Mann auf dem beschwerlichen Ritt begleitete und ihn wie eine Sklavin bediente: [...] et en tel estat alloit auprès de son mary par les champs, en la compagnye de dix ou aucunne fois de vint mil hommes, seulle femme, sans compagnye: qui estoit chose bien derraisonnable à véoir une telle dame et royne de tant de beaulx et bons royaulmes sans compagnye de femme.193

Die kastilischen Granden, die sich von der Herrschaft des unsicheren Philipp mehr Vorteile versprachen als von der des listigen, autoritären Aragonesen, versuchten beide Könige gegeneinander auszuspielen. Philipp, der roy pacifique, strebte durchaus nach Verständigung mit dem Schwiegervater; durch einen schlauen Schachzug Ferdinands wurde eine militärische Auseinandersetzung vermieden. Mit dem Vertrag von Villafávila (27. Juni 1506) wurde nach außen hin Einigkeit erzielt,194 die Intrigen nahmen damit jedoch kein Ende: Geheimverträge und Widerrufe beweisen, daß Ferdinand seine Ansprüche keineswegs aufgegeben hatte. Juanas Verhalten schwankte in dieser Zeit derartig zwischen Schwermut und heftigen Wutausbrüchen, daß Philipp seine Frau, die erneut schwanger war, von der Öffentlichkeit fernhalten mußte, worauf sich sofort das Gerücht verbreitete, sie werde gefangengehalten.195 Ferdinand zog sich tatsächlich nach dem Abschluß des Vertrages in sein Königreich zurück, um bald darauf nach Neapel abzureisen, während sich die neuen Könige von Kastilien nach Valladolid begaben, um die Erbhuldigung der Cortes entgegenzunehmen (12. Juli 1506).196 193 Voyages I 459. Der unbekannte Autor des Berichtes über die zweite Spanienreise, der sonst sehr diskret ist und sich bis dahin nicht kritisch zum Verhalten Juanas geäußert hat, spricht hier (458 f.) in deutlichen, kraftvollen Worten seine Ansicht aus über die jalouzie, die rage d’amours der Königin, ohne die Untreue und die Leichtfertigkeit Philipps zu verschweigen, die er aber auf die „schlechte Gesellschaft“ zurückführt, die ihn bei Hofe umgibt. Der Bericht über den merkwürdigen Zug Juanas durch das Land inmitten des Heeres wird bestätigt durch eine Depesche Quirinis vom 2. Mai 1506 (s. ebd. 459 Anm. 2). 194 Ferdinand sollte sich danach ganz aus Kastilien zurückziehen und die Herrschaft dort an Philipp und Juana abtreten: Wiesflecker 1977, 299. 195 Einen ausführlichen Überblick über die mehr als verworrene Gesamtlage gibt Wiesflecker ebd. 296–301. 196 Die spanischen Chronisten und der Berichterstatter der zweiten Spanienreise vermerken dazu keine besonderen Vorkommnisse; Wiesflecker (1977, 301) erwähnt, daß die Verei-

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Etappenweise zog das Paar nach Burgos,197 wo es am 7. September eintraf. Am 16. September erkrankte Philipp an einem heftigen Fieber, dem er am 25. September erlag.198 Wiesflecker hat die Situation nach Philipps Tod so knapp wie möglich zusammengefaßt: „Juana gebärdete sich nach dem Hinscheiden des Gemahls völlig verwirrt, schwankte zwischen Ausbrüchen maßloser Trauer und völliger Teilnahmslosigkeit, wies jede Regierungstätigkeit zurück und sagte nur, ihr Vater werde alles in Ordnung bringen. Auch der Regentschaftsrat unter Jiménes vermochte den Widerstreit der Parteien und das allgemeine Chaos kaum zu bändigen. Die meisten wünschten König Ferdinand zurück, die anderen forderten Maximilian oder Karl. Das Land drohte in Anarchie zu versinken, und Ferdinand dachte zunächst nicht daran, zurückzukehren.“199

„Nächtliche Irrfahrten mit einer Leiche“ überschreibt Brouwer ein umfangreiches Kapitel seiner Biographie Juanas. Dieser – kurze – Abschnitt im Leben der Königin hat wohl die Phantasie der Nachwelt am stärksten beflügelt, hat Mitleid mit der Unglücklichen geweckt und Romanciers wie auch spanische Maler des 19. Jahrhunderts zu wildromantischen Darstellungen inspiriert.200 Selbst in den knappen und für einen Zeitzeugen doch eher sachlich-distanzierten Beobachtungen des Petrus Martyr teilt sich etwas von der düsteren Dramatik des Geschehens mit.201 Während dieser Irrfahrt mußte Juana nolens volens eine Ruhepause in digung Philipps „beinahe am Starrsinn seiner Gemahlin gescheitert wäre“, die es nicht für richtig hielt, daß ein Niederländer Spanien regieren sollte. Wiesflecker bezieht sich dabei auf die Berichte des venezianischen Gesandten Quirini. Tamussino schildert die Ereignisse des Tages ebenfalls (1995, 119), leider an dieser Stelle ohne Quellenangabe: Nach ihrer Darstellung ließ Juana vor dem Einzug in die Stadt Philipps Standarte vernichten, um so deutlich zu machen, wer über Kastilien herrschen sollte. 197 Petrus Martyr berichtet von einem weiteren Fall eigentümlichen Verhaltens der Königin (epist. 311 [p. 446 W., 7.9.1506]): Sie weigerte sich, in das Dorf Cójeces einzuziehen, das eine Burg hatte, da sie fürchtete, dort eingekerkert zu werden. Weder gutes Zureden noch harte Worte brachten sie dazu, in Cójeces zu übernachten. Die ganze Nacht über ritt sie auf offenem Feld vor dem Dorf umher. 198 Brouwer 1995, 78–81 gibt in deutscher Übersetzung den Bericht des Hofarztes G. de la Parra wieder; dieser Arzt wurde hinzugezogen, als Philipps niederländische Leibärzte keinen Rat mehr wußten. Er spricht sich eindeutig gegen eine Vergiftung als Todesursache aus – ein entsprechendes Gerücht hatte sich schnell verbreitet. 199 Wiesflecker 1977, 303, nach den Voyages. Den Zustand und das Verhalten Juanas beschreibt auch Petrus Martyr, epist. 317. 319 (p. 448–449 W., 29.11./19.12. 1506). 200 Zit.: Brouwer 1995, 88. Zwei Beispiele dieser düsteren Historienbilder gibt Fernández Álvarez (2000, neben S. 97). 201 Petrus Martyr geht in fast einem Dutzend Briefe auf die einzelnen Stationen des Leichenzuges zwischen Burgos und Tordesillas ein; es handelt sich um die Briefe 323, 327, 330, 331, 334, 338, 348, 350, 358, 362 und 366, geschrieben zwischen dem 24. Dezember 1506 und dem 11. Oktober 1507 (p. 450–456. 459. 461–463 W.).

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Torquemada einlegen, wo im Januar 1507 ihr letztes Kind, Katharina, zur Welt kam. Im April 1507 ließ Ferdinand die Tochter in die Burg von Tordesillas bringen – für den Rest ihres Lebens, für 48 Jahre: Reginam Ioannam filiam, in oppidum Tordesillas, in Doriae fluminis ripa situm eminenti, iam tandem Rex genitor perduxit, ibi acturam putamus, quicquid ei superest vitae saturnia solitudine contentam.202

Sandoval schreibt Juanas Verzicht auf die Herrschaft und ihren Rückzug aus der Welt in die Abgeschiedenheit von Tordesillas ihrem eigenen Entschluß zu: La reina doña Juana, o por dolor o falta de juicio, viéndose sin marido, non quiso reinar. Retiróse a la villa de Tordesillas, donde pasó toda la vida, que fueron casi cincuenta años...203

Dort in Tordesillas sah sie 1517 ihre beiden ältesten Kinder, Karl und Eleonore, wieder, die sie zwölf Jahre zuvor in Mecheln zurückgelassen hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, ob sie in den dazwischenliegenden Jahren jemals an ihre Kinder gedacht hat oder sie zu sehen gewünscht hat. Fernández Álvarez glaubt annehmen zu dürfen, daß Juana bei ihrer ersten Rückkehr nach Spanien (1502) vertrauliche Gespräche mit ihrer Mutter führte, in denen die fernen Kinder eine Rolle spielten.204 Möglich ist dies natürlich, jedoch nicht zu beweisen. Der spanische Historiker geht m.E. bei seiner Annahme zu sehr von Erfahrungen aus dem Familienleben unserer Zeit aus, wo die Erlebnisse mit den Kindern schier unerschöpflichen Gesprächsstoff für Mütter und Großmütter liefern. Was wußte Juana überhaupt von ihren Kindern, die sich von Geburt an in der Obhut des Wiegenpersonals befanden? Schon für die frühen Jahre konstatiert Ch. Moeller: „l’archiduchesse [...] ne fut guère en état de s’occuper longtemps de ses enfants.“205 Hätte man nicht erwarten können, daß Juana nach Philipps Tod das, was ihr geblieben war, ihre Kinder, hätte bei sich haben wollen, wie es die „normale“ Reaktion einer

202 Petrus Martyr, epist. 410 (p. 478 W., 30.3.1509). 203 Sandoval 29. 204 2000, 103 f. Die noch weitergehende Annahme des Autors, Juana habe für Isabella ein Bild der drei Kinder aus den Niederlanden kommen lassen, entbehrt jeder Grundlage und entpuppt sich als schmückendes Detail: Er bezieht sich eindeutig auf das bekannte Triptychon, das Eleonore, Karl und Isabella nach der Bildunterschrift im Alter von 4 bzw. 2½ Jahren, Isabella mit 1 Jahr und 3 Monaten zeigt. Es wurde – darin sind sich die Kunsthistoriker einig – 1502 im Auftrag Margaretes von einem in Mecheln ansässigen Maler, vermutlich dem sog. Meister der St. Georgs-Gilde, geschaffen. Im Mechelner Inventar von 1515/16 ist es unter den Bildern aufgeführt, die in der Bibliothek hingen: s. Le Glay 1839, 2, 483. Heute befindet sich das Bild im Kunsthistorischen Museum Wien. 205 Moeller 1895, 13.

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Mutter gewesen wäre, die Trost, Aufgabe und Zukunft in ihren Kindern gesehen hätte? Moeller gibt eine klare Antwort darauf: „[...] le premier souci de toute mère eût été de recueillir les épaves de son bonheur, en rassemblant sous son aile les enfants dispersés aux deux extrémités de ses États. Jeanne n’y songe même pas.“206

Mutter, toute mère, ist Juana selbst in den ersten Jahren ihrer Ehe nicht gewesen. Später existierten die Kinder offensichtlich nicht für sie – und für die Mechelner Kinder existierte die Mutter ebenso wenig wie die „spanischen“ Geschwister. Von Karl weiß man, daß er bereits als Sechsjähriger Briefe an die spanischen Granden unterzeichnete; von kindlichen Briefchen an die Mutter oder die Geschwister ist nichts bekannt, jedoch auch nichts von Briefen der Mutter an die Kinder in den Niederlanden. Dabei waren Juanas intellektuelle Fähigkeiten durch ihre psychische Erkrankung keineswegs beeinträchtigt: Sie konnte stundenlange Befragungen und Gespräche durchstehen, ohne eine einzige unsinnige Antwort zu geben,207 verfiel danach allerdings wieder in Tatenlosigkeit und dumpfes Brüten, Zeichen ihrer inertia. Auch Petrus Martyr war Zeuge „lichter Momente“ Juanas und urteilt: Ingenio pollet et memoria haec nostra regina. Quaecumque non ad feminam modo, sed ad magnum attinet virum, accute sentiat: caret distintina (!), executivam abiicit.208 Die wenigen Beispiele für Handlungen Juanas sind negativer Art: Sie verweigerte, sie widerrief – noch nach Philipps Tod widerrief sie alles, was er angeordnet hatte, machte alle Privilegien, die er vergeben hatte, hinfällig. Dann fiel sie in ihre „paralysie totale du vouloir“209 zurück, gleichgültig gegenüber dem Chaos, das im Lande ausbrach: Der Vater sollte kommen und Ordnung schaffen. Saturn hatte nach Petrus Martyr endgültig seine Herrschaft über die Königin angetreten und sie zugrundegerichtet: est Saturno adeo pessundata.210 Verfolgt man Juanas Entwicklung, so wird deutlich, daß sie wahrlich nicht erst nach dem Tode Philipps wahnsinnig wurde, wie so oft behauptet wird.

206 Moeller 1895, 31. 207 Brouwer (1995, 68, nach J. de Zurita) führt als Beispiel an, daß der Admiral von Kastilien 1506 sich an zwei Tagen etwa zehn Stunden lang mit ihr unterhielt. Philipp hatte damals die Isolierung oder Entmündigung seiner unberechenbaren Frau erreichen wollen. Dem wollten die Granden nicht ohne Überprüfung stattgeben. Aus seinen Gesprächen mit der Königin konnte der Admiral als Vertreter des Adels jedoch nur schließen, daß Juana geistig völlig gesund sei. 208 epist. 350 (p. 459 W., 5.7.1507). Distintina ist wohl als (span.) distintiva zu lesen, also etwa: „Sie nimmt zwar... genau wahr, vermag aber keine Entscheidungen zu treffen.“ 209 Moeller 1895, 30. 210 epist. 331 (p. 453 W., 30.3.1507).

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2.3. Maximilian und Margarete Madame, ma tante et ma bonne mère! Je me recommande très humblement à votre bonne grace et pourtant que Vous aies plaisir de notre plaisir, je vous fay savoir, comme notre grantpère nous a venu visiter, de quoy nous avons un grant joye, comme mon cousin le Vous dira plus à plain, et à tant, madame ma tante et ma bonne mère, je prie à Dieu, qu’il Vous donne bonne vie et longue et accomplissement de se que Votre ceur désire. Votre humble niepce et fille Leonor.211

Was könnte die Rolle der beiden Menschen, die anstelle der leiblichen Eltern die Sorge für die Mechelner Kinder übernahmen, besser verdeutlichen als dieses Briefchen der damals etwa zehnjährigen Eleonore? Das Kind hatte eine große Freude erlebt, eine Unterbrechung des wohlgeordneten Alltags, und mußte sich jemand mitteilen: der Tante, der guten Mutter – und das ist hier sicher nicht als Floskel zu verstehen, wie sie im Briefverkehr des Adels üblich war –, von der Eleonore wußte, daß sie die Freuden der Kinder teilte. Ursache der großen Freude war der Besuch des Großvaters, ein seltenes Ereignis in diesen Jahren. Trotz der wohlgesetzten Worte Eleonores möchte ich davon ausgehen, daß es sich um eine spontane und daher als Quelle umso wertvollere Äußerung handelt. Von Spontaneität und Zuneigung ist auch der Briefwechsel zwischen Margarete und ihrem Vater geprägt. Selbst wenn gelegentlich Verärgerung, zeitweise sogar Anzeichen von Enttäuschung und Bitterkeit auf seiten Margaretes spürbar werden, was bei den vielfältigen Problemen über die Jahre nicht ausbleiben konnte, war das gute Verhältnis nie grundsätzlich und auf Dauer in Frage gestellt. Wie angesichts Maximilians europaweiter Ambitionen nicht anders zu erwarten, nehmen seine Kriegszüge und politische Erwägungen in der Korrespondenz erheblichen Raum ein, ebenso wie die finanziellen Nöte, die den Kaiser und seine Tochter unablässig bedrängten. Bemerkenswert aber ist das gegenseitige Vertrauen, auch die Offenheit, mit der Maximilian politische und militärische Probleme darlegt. Daran läßt sich ablesen, welche Wertschätzung er Margarete als seiner Statthalterin entgegenbrachte. Was Vater und Tochter darüber hinaus verband, war die Sorge für und um die vier ihnen anvertrauten Kinder, die Maximilian in seinen Briefen immer wieder „unsere gemeinsamen Kinder“ nennt: les 211 Ein – leider undatiertes – Briefchen Eleonores an Margarete, heute im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv; wiedergegeben nach Brandi 1941, 75 f. Der Brief kann frühestens 1508 geschrieben worden sein, als sich Maximilian erstmals nach Philipps Tod für kurze Zeit in den Niederlanden aufhielt. Le Glay (1839, 2, 439) erwähnt, daß die Mechelner Kinder ihrer Tante von Zeit zu Zeit schrieben, und fährt fort: „Nous avons une lettre tracée par Charles d’Autriche à l’âge de huit ans. Déjà l’écolier avait la main ferme et sûre.“ Leider fehlen jegliche Angaben zu Inhalt und Fundort des Briefes. Außer dem oben zitierten Exemplar konnte ich kein weiteres Belegstück ausfindig machen.

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nostres communs enfans oder auch nos très chiers et très amez enfans, nos petis enffans. Margarete schrieb dem Vater von kleinen alltäglichen Begebenheiten oder besonderen Ereignissen im Leben der Geschwister, von Problemen mit dem sich ständig vergrößernden Haushalt und von den Krankheiten der Kinder – von all dem, was eine Mutter dem abwesenden Vater mitteilen würde. Maximilian seinerseits ging auf ihre Briefe ein, fragte nach, gab auch Ratschläge; ihm lag die Sicherheit der Kinder besonders am Herzen, und das gewiß nicht nur aus Sorge um den Fortbestand der Dynastie. In Anbetracht der Stellung Karls als Erbe blieb es nicht aus, daß Maximilian in seinen Briefen Persönliches mit Tagespolitik oder auch weitgespannten Plänen verknüpfte und seinem Enkel schon bald kleinere Verpflichtungen diplomatischer oder repräsentativer Art übertrug. Untersucht man den umfangreichen Briefwechsel unter dem Aspekt, was er über Karls Kindheit und Jugend aussagt, so kristallisieren sich verschiedene Themenkomplexe heraus: (1.) herausragende Ereignisse und – meistens gemeinsame – Erlebnisse, die den Alltag der Mechelner Kinder unterbrachen; (2.) Berichte über Erkrankungen der Kinder; (3.) einige, allerdings wenige, Informationen zur Erziehung, zu Karls ersten Lehrern, zu den jungen Edelleuten und den filles d’honneur, die mit Karl und seinen Schwestern aufwuchsen; (4.) der Kinderhaushalt, später in erster Linie der wachsende Haushalt Karls, im Hinblick auf die personelle Besetzung und vor allem die Finanzierung; (5.) politische Anlässe, soweit Karl direkt involviert war; dazu zählt auch die zunehmende Übertragung von Aufgaben an den Erzherzog; (6.) einige Familienangelegenheiten im weiteren Sinne. Großen Raum nimmt (7.) die Darlegung und das Abwägen der Heiratspläne für die Kinder ein, der Grenzbereich zwischen Familienangelegenheiten und dynastisch-politischem Kalkül. Aus dem Briefwechsel, der sich über die Jahre 1507 bis Ende 1518 erstreckt,212 sollen hier zunächst die Informationen herangezogen werden, die den Zeitabschnitt bis etwa 1514 erhellen, bis zu dem Jahr also, in dem sich der Kinderhaushalt auflöste und sich mit Karls bevorstehender Emanzipation das Verhältnis zu Margarete entscheidend wandelte. Ergänzendes Material zu diesen Jahren liefern u.a. das von Gachard erstellte Itinerar Karls V.213 sowie die Ergebnisse der Quellenforschung, die vor allem in den Arbeiten von Charles Moeller und Andreas Walther ihren Niederschlag gefunden haben. 212 Der letzte Brief Maximilians in der Sammlung (Le Glay 1839) ist vom 26. Dezember 1518 aus Wels datiert; dort starb der Kaiser am 12. Januar 1519. 213 Voyages II 3–51, hier 3–32. Das Itinerar basiert für die hier untersuchten Jahre auf den Rechnungsberichten des Pierre Boisot, den Philipp der Schöne am 24. Juli 1506 zum maître de la chambre aux deniers de l’archiduc Charles ernannte und der in dieser Funktion am 11. November 1507 von Karl bestätigt wurde. Die entsprechenden Dokumente befinden sich in den Archives du Nord in Lille.

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Das Itinerar weist nach, daß Karl sich zwischen September 1506 und September 1508 ausschließlich in Mecheln aufgehalten hat, bzw. die kleine Residenzstadt allenfalls tageweise, u.U. zu einem kurzen Besuch im nahen Brüssel, verlassen haben kann. In den ersten Monaten nach dem Tode Philipps des Schönen, im Herbst 1506, setzte bereits der Machtkampf um Karls spanische Thronfolgerechte ein, geführt von den beiden Großvätern. Ferdinand von Aragon, der damals noch auf einen leiblichen Erben aus seiner zweiten Ehe hoffte, verfocht Juanas und seine eigenen Rechte, während Maximilian den unmündigen Karl vertrat.214 In diesem Zusammenhang ist ein Kapitel in der Crónica des Alonso de Santa Cruz sehr aufschlußreich, in dem auf einen Schriftwechsel zwischen dem sechsjährigen Thronanwärter und dem Herzog von Alba ausführlich eingegangen wird.215 Offensichtlich war der Anstoß dazu von beunruhigenden Berichten der Gesandten Mr. de Beure (vermutlich der Gesandte Veyré, der schon in Philipps Diensten gestanden hatte) und Micer Andrea (Maximilians Vertreter Andrea de Burgos) ausgegangen. Wer nun in den Niederlanden im Namen Karls die Schriftstücke abfaßte, in denen er seine Rechte formulierte und die Loyalität der Spanier einforderte, geht aus der Crónica nicht hervor; Karl jedenfalls unterzeichnete die Briefe. Maximilian war zu diesem Zeitpunkt nicht in den Niederlanden; die Staatsgeschäfte lagen in den Händen Guillaume de Croys und des Regentschaftsrates. Alba erwies sich in seinen Antworten als geschickter Diplomat: Er gab zu erkennen, daß er das Spiel durchschaute, in dem man sich des Kindes bediente. In seiner Antwort an Karl berücksichtigte er dessen Jugend, sicherte ihm seine Rechte auf die Thronfolge zu und gab die Schuld an den Differenzen zwischen Ferdinand, Juana und Karl allein den Diplomaten, denen er seine Ansicht von der Angelegenheit in gesonderten Schreiben mitteilte. In dieser Episode deutet sich die Gefahr an, daß Parteien am Hofe die Abwesenheit Maximilians ausnutzen und das Kind Karl, vielleicht sogar im Glauben, dessen Interessen zu dienen, zu Handlungen veranlassen konnten, deren Konsequenzen der Sechsjährige nicht einmal ahnte. Maximilian erinnerte sich nur zu gut daran, in welcher Weise man seinen jungen Sohn Philipp gegen ihn selbst im politischen Kampf benutzt hatte, und er wußte auch, daß er selbst während der Minorität Karls nur selten in den Niederlanden würde präsent sein können: Als seine Stellvertreterin vor Ort kam nur seine Tochter Margarete in Frage, auf deren 214 Der anonyme niederländische Berichterstatter der zweiten Spanienreise schildert höchst anschaulich die wirren Zustände in Kastilien nach Philipps Tod, als sein niederländisches Gefolge in wilder Flucht das Land verließ, viele spanische Anhänger Philipps in die Niederlande flohen und die Mehrzahl der kastilischen Granden wieder auf die Seite Ferdinands überging (Voyages I 453 f.). Zur Situation in Spanien nach Philipps Tod wie auch zu den Reaktionen Ferdinands und Maximilians s. auch Wiesflecker 1977, 303–306. 215 Santa Cruz 22–25.

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Loyalität gegenüber dem Vater, dem Neffen, dem burgundischen Erbe und den Interessen des Hauses Österreich unbedingt Verlaß war. Bis zu Margaretes Eintreffen hat es offensichtlich im Haushalt der Kinder keine besonderen Vorkommnisse gegeben; der Tageslauf der Geschwister war wohlgeordnet; unter der bewährten Leitung des Fürsten von Chimay und der Anne de Beaumont war ihnen eine ruhige Zeit vergönnt. Der Kaiser aber traute dem Frieden nicht, er blieb besonders dem französischen Nachbarn gegenüber immer mißtrauisch. Daher befürwortete er 1507, kurz nach dem Amtsantritt Margaretes, ausdrücklich die Übernahme von fünfzig zusätzlichen Bogenschützen, die Philipp in Spanien gedient hatten, in den Haushalt Karls. Sie wurden zum persönlichen Schutz Karls und Margaretes abgestellt und sollten beide bei jedem Ortswechsel begleiten.216 Nach der kurzen Pause des Einhaltens unmittelbar nach Philipps Tod war die Gefahr an den Grenzen zu Frankreich und von geldrischer Seite her in der Tat wieder gewachsen. Vermutlich hatte sich Ludwig XII. zuvor durch sein ritterliches Verhalten gegenüber den verwaisten Kindern erhofft, selbst als deren Vormund eingesetzt zu werden und damit den jungen Herzog von Burgund in seinem Sinne lenken zu können.217 Wie schon Ludwig XI. kam es auch diesem französischen 216 Le Glay 1839, 1, 4 f. Nr. 2 (30.6.1507). Es sei in diesem Zusammenhang auf die Uneinheitlichkeit der Datierungen hingewiesen, die Le Glay (ebd. XII) erläutert: Im allgemeinen folgt die Datierung dem style de Cambrai mit dem Jahresbeginn zu Ostern, vor allem wenn es sich um Briefe Margaretes handelt. Zahlreiche Briefe Maximilians dagegen sind nach dem römischen Kalender (style de Rome) mit dem Jahresbeginn am 1. Januar datiert. Der Kaiser scheint seine Briefe jeweils nach dem ortsüblichen Kalender datiert zu haben. Mit dem Problem der Ordnung und Datierung der Briefe setzt sich Andreas Walthers kritische Besprechung einer Veröffentlichung von Hubert Kreiten auseinander (Walther 1908). Walther weist auf die Schwierigkeiten hin, die die Ordnung der ca. 20.000 zum großen Teil undatierten Dokumente verschiedenster Art aus den burgundischen Archiven von Lille, Dijon, Brüssel und Den Haag im 19. und noch am Anfang des 20. Jahrhunderts darstellte. Nach Walther hat die Arbeit Kreitens nur unwesentliche Fortschritte gebracht, obwohl er es dem Bearbeiter dennoch hoch anrechnet, daß er die Sammlung um 89 Stücke erweitert hat. W. selbst hat eine Neudatierung zahlreicher Briefe versucht und sie z.T. sehr ausführlich begründet. Eine Übersicht gibt er am Ende seiner Besprechung (269–285). Zur Verwendung des französischen bzw. römischen Stils ebd. 258 Anm. 2. – Die zahlreichen Ungereimtheiten, die sich aus der von Le Glay vorgenommenen Anordnung der Briefe ergeben, haben meine Auswertung des Briefwechsels nicht unerheblich erschwert. Immer wieder wurde zeitaufwendiges Abgleichen mit dem Itinerar Karls, den Werken der belgischen Historiker etc. nötig. Soweit es von mir angeführte Briefe betrifft, füge ich die Neudatierung nach Walther an 2. Stelle hinzu. 217 In diesen Zusammenhang gehört auch die lange kolportierte Behauptung, Philipp habe seine Kinder dem französischen König anvertraut, gegen die sich Le Glay (1839, 2, 433 433 Anm. 1) wendet: „Du Bellay, et après lui la plupart de nos historiens, prétendent que Philippe, par son testament, avait chargé Louis XII de diriger tout ce qui concernait

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König in erster Linie darauf an, Maximilians Einfluß auszuschalten.218 Als dieser Plan scheiterte, setzten die Feindseligkeiten erneut ein. Für Margarete begann daher ihre Regentschaft mit der schweren Bürde des immer wieder aufbrechenden geldrischen Konflikts, der von Frankreich geschürt wurde.219 Schon bald sah sich Maximilian gezwungen, die Tochter vor weiteren „bösen Absichten“ des französischen Königs zu warnen: le roy de France n’a pas intention de chaingier son maulvais vouloir envers nous.220 Der Franzose hatte zusätzlich die Einwohner von Arras, das noch unter französischer Feudalherrschaft und Gerichtsbarkeit stand, gegen Habsburg-Burgund aufgewiegelt.221 Außerdem machte sich Unruhe in Luxemburg breit, und die Stadt Gent sah die Gelegenheit gekommen, die 1477 erzwungenen und von Philipp nicht erneuerten Privilegien wiederum zu fordern. Damit nicht genug, wurde die junge Regentin mit weiteren Schwierigkeiten konfrontiert: Chièvres und der einflußreiche Adel, die bis zu ihrer Amtsübernahme die l’education de son fils, et que ce roi avait désigné M. de Chièvres pour remplir auprès du jeune prince les fonctions de gouverneur. Rien n’est moins prouvé que cette assertion. Personne encore n’a pu montrer la clause dont il s’agit dans le testament de Philippe-le-Beau [...]“ Vermutlich gingen die Behauptungen auf die Hilfsangebote in den Kondolenzschreiben zurück, auf die u.a. Henne 1865, 48 hinweist: „[...] dans ses lettres de condoléance à Marguerite d’Autriche, le cardinal d’Amboise déclara que son maître était prêt à traiter les enfants du feu roi comme ses propres enfants.“ – Schon Niccolò Tiepolo, venezianischer Gesandter am Hofe Karls V., berichtet 1532: Gugliemo di Croy signore di Chièvres [...] fu eletto a governatore de Carlo per insinuazione di Luigi XII. (Firpo 1970, 59). Das seinerzeit sehr verbreitete Werk des Antoine Varillas, La Pratique de l’éducation des princes [1684], dürfte die Überzeugung genährt haben, daß aufgrund von Philipps Testament Ludwig XII. zum Vormund Karls bestimmt war und daß es auch der französische König war, der Chièvres einsetzte. Im Argument du Premier Livre (Varillas 1691, unpag.) heißt es: La disposition de Charles d’Autriche Fils aîné de l’Archiduc est laissé par Testament à Loüis Douze Roy de France pour des raisons qui ne peuvent être plus justes ni plus pressantes, et Loüis donne en ce point une marque de moderation qui n’a qu’un seul exemple dans l’Antiquité en la personne d’Ildegerge Roy de Perse. Il nommé Chiévres pour Gouverneur du jeune Prince, sans avoir aucun égard qu’il préjudicioit aux interêts de la Monarchie Françoise. Hier spricht der historiographe de France, als der Varillas seine Widmungsepistel an Ludwig XIV. (!) unterzeichnet. 218 Diese Auffassung finde ich bestätigt durch einen Hinweis bei Pirenne (1953, 71): Danach ließ Ludwig XII. am 14. Oktober 1506 dem kurz zuvor ernannten und dem französischen König völlig ergebenen Bischof von Lüttich, Érard de la Marck, die Weisung zukommen „[de] tendre afin que le roi des Romains n’entre ès pays de son fils.“ 219 Sehr detailliert zu den verschiedenen Phasen des Geldrischen Krieges Wiesflecker 1977, 280–288; ders. 1981, 320–329. 220 Le Glay 1839, 1, 7–9 Nr. 4 (24.8.1507). 221 Dazu Le Glay (1839, 1, 7 Anm. 1): „Le 21 juillet 1507, Louis XII avait signifié aux habitants d’Arras de ne point reconnaître Maximilien pour maimbour des jeunes princes de Castille, promettant de les soutenir s’ils étaient inquiétés à ce sujet.“

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Geschicke des Landes gelenkt hatten, legten ihr und ihren Beratern aus Savoyen gegenüber eine ausgesprochen ablehnende bis feindselige Haltung an den Tag, und die Generalstände wollten ihr weder Gelder noch Truppen für den Krieg gegen Geldern bewilligen, den sie als eine Angelegenheit des Hauses BurgundÖsterreich betrachteten.222 Die Regentin ließ dennoch Truppen ausheben, um die schwachen niederländischen Abwehrkräfte zu stärken, und hoffte, die dafür erforderlichen Mittel durch eine Erhöhung der Herdsteuer einzutreiben.223 Wie zu erwarten, verweigerten die Städte ihre Zustimmung, so daß Margarete einen weiteren Versuch unternahm: Am 20. Juli 1508 bat sie in einer feierlichen Sitzung die Generalstände erneut um Hilfe, dieses Mal unterstützt von dem achtjährigen Karl, dem Herzog von Burgund, der eine kleine Ansprache halten mußte; soweit bekannt, war es seine erste öffentliche Rede und ist daher hier erwähnenswert. Der Chronist Jean Lemaire de Belges hat zwar nicht die Worte des Kindes, aber seinen Eindruck von dessen Auftritt wiedergegeben: Karl erhob sich und bat die Versammlung, dem Ansuchen der Regentin zuzustimmen, [par une petite harangue] plus entendue par les gestes de son visage que par la sonorité de sa voix puérille, mais toutesvoyes en telle sorte qu’il devoit bien souffire au peuple.224 Von der regelmäßigen Teilnahme an derartigen Versammlungen oder an Sitzungen des conseil blieb Karl vorerst verschont; diese Pflichten wurden ihm erst von Chièvres auferlegt, nachdem dieser 1509 Gouverneur des Prinzen geworden war. Nachdem die Generalstände der Regentin schließlich finanzielle Unterstützung gewährt hatten, setzte Margarete alles daran, dem Land den ersehnten Frieden zu verschaffen. Es gelang ihr, den widerstrebenden Vater davon zu überzeugen, daß von einem Friedensschluß mit Geldern, der freilich nicht ohne eine Übereinkunft mit Frankreich zu erreichen war, der Zusammenhalt der Provinzen und damit der Fortbestand der Niederlande abhing. Maximilian, der inzwischen in Trient den Titel des Erwählten Römischen Kaisers erlangt hatte (4. Februar 1508), begab sich in die Niederlande, überließ die Verhandlungen mit dem französischen Gesandten, Kardinal d’Amboise, aber seiner Tochter, die sich als äußerst fähige Diplomatin erwies. Am 10. Dezember 1508 wurde in der Grenzstadt Cambrai der Friede mit Geldern geschlossen und in der dortigen Kathedrale feierlich beschworen.225 In den Vertrag war auch Erzherzog Karl, vertreten durch 222 Karl der Kühne hatte die Rechte auf Geldern von Herzog Arnout von Geldern gekauft; das Herzogtum wurde an Burgund angeschlossen, womit sich viele Gelderner und der Enkel des alten Herzogs nicht abfinden wollten. 223 Nach Pirenne 1953, 77 erfolgte die entsprechende Anordnung am 24. Juni 1508. 224 Gachard 1872, 525; paraphrasiert auch bei Henne 1865, 59 f. 225 Daß in den Wochen, die dem Vertragsabschluß vorausgingen, bereits Vorverhandlungen zu einer europaweiten Allianz geführt wurden, blieb streng geheim. Es handelte sich bei der Liga von Cambrai um die sog. Erste Heilige Liga, ein kurzlebiges Bündnis zwischen

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Maximilian I., mit eingebunden. Die Ratifikation des Friedensvertrages erfolgte durch Maximilian am 26. Dezember 1508 in Brüssel. Charles d’Egmont, der Herzog von Geldern, schloß sich nur auf Druck der französischen Diplomaten dem Abkommen an. Tatsächlich sollte sich der Friede als wenig dauerhaft erweisen, als nicht mehr als ein kurzer Waffenstillstand: „Die Unterschriften der Vertragsurkunden waren noch nicht trocken, da nahm der rebellische Herzog den gewohnten Kleinkrieg schon wieder auf.“226 Die Überfälle häuften sich, als der Kaiser im Frühjahr 1509 die Niederlande wieder verließ. 1511 konnte man von offenem Krieg sprechen, und Margarete erschien die Lage so bedrohlich, daß sie ihrem Vater mitteilte, daß sie Karl und seine Schwestern, die sich in Brüssel bzw. Antwerpen aufhielten, unverzüglich in das sichere Mecheln geleiten lassen wollte, das die Kinder dann bis zur Rückkehr der Regentin nicht mehr verlassen sollten, da Margarete niemandem mehr traute. Die treuen Mechelner aber hatten – wie schon früher – versprochen, die burgundischen Kinder zu schützen.227 Der nicht endenwollende Konflikt sollte ab 1513 nochmals eine erhebliche Rolle spielen, in dem Zeitabschnitt, der Karls Emanzipation vorausging; 1515 gehörte er zum „burgundischen Erbe“ des jungen Herzogs, der erst 1528 ein vorläufiges Ende herbeiführen konnte. Margarete hatte vom Beginn ihrer Vormundschaft an dafür gesorgt, daß die Kinder in Mecheln in ruhiger Abgeschiedenheit aufwachsen konnten. In den ersten Jahren wurden sie gemeinsam unterrichtet, es wurde aber auch für kindliches Spiel und Unterhaltung gesorgt: Die Rechnungsbücher von Lille zeigen sogar, welche Spielzeuge angeschafft wurden. Schon vor Margaretes Ankunft sind dort Ausgaben für ein Puppenbettchen für Isabella228 ebenso verzeichnet wie eine Summe pour faire regarnir le cheval que le comte palatin donna au prince.229 Aus der Angabe kann man schließen, daß es sich um ein hölzernes Pferdchen Ludwig XII., Ferdinand von Aragon, Maximilian I. und Papst Julius II. gegen die Republik Venedig und deren Ausdehnung auf der Terra ferma, wobei alle Beteiligten ihre eigenen Interessen in Italien im Auge hatten. 226 Wiesflecker 1981, 324. Henne 1865, 97 schreibt zur Situation von 1510: „le traité de Cambrai [...] était à peu près pour tous une lettre morte.“ 227 Le Glay 1839, 1, 423–425 Nr. 322 (Ende Juli–Anfang August 1511; nach Walther Ende Juli). Vgl. Voyages II 10 (Itinerar): danach endete Karls Brüsseler Sommeraufenthalt bereits am 16. Juli 1511. Einige Tage scheint er zwischen Mecheln und Antwerpen, wo sich Margarete vermutlich aufhielt, hin und her transportiert worden zu sein; vom 17. Juli 1511 bis zum 20. April 1512 war der Prinz in Mecheln. Auch am 3. August 1513 wurde der Hof aus Sicherheitsgründen nochmals von Brüssel nach Mecheln verlegt, vgl. Voyages II 12. Dazu auch Walther 1911, 115. 228 Archives du Nord B 3462 (état journalier für 1505), zit. in Inventaire A.D.N. 1895, 98: „20 sols pour ung lict aux poupées de madame Isabeau“. 229 Zitiert bei Moeller 1895, 43 (nach Archives du Nord B 2191, fol. 315 [1505]).

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gehandelt haben muß, das restauriert wurde. Karl besaß zu diesem Zeitpunkt, 1505, noch zwei weitere Holzpferde, die ihm der Kaiser und ein Freund seines Vaters geschenkt hatten. Für die Prinzessinnen ließ Margarete einen bunt bemalten Wagen anfertigen und für das gemeinsame Vergnügen der Kinder im Winter einen Eissegler,230 ein Gefährt, das sich noch heute in den Niederlanden großer Beliebtheit erfreut. Wie für die Bevölkerung von Mecheln, so stellten die wiederkehrenden Feste im Jahreslauf auch für die burgundischen Kinder eine willkommene Abwechslung dar. Das größte Mechelner Stadtfest war seit 1302, jeweils am Mittwoch nach Ostern, die Peisprocessie (Friedensprozession), auch Ommegang van mijn her sint Rommoud genannt. Ursprünglich hatte es sich dabei um einen Buß- und Bittgang gehandelt, mit dem der Stadtpatron Rumoldus (Sint Rombaut) um Hilfe gegen Feinde gebeten wurde. Bis ins 16. Jahrhundert wurden die Reliquien des Heiligen in der Prozession mitgeführt. Als im 15. und 16. Jahrhundert „lebende Bilder“ sich großer Beliebtheit zu erfreuen begannen, veränderte auch der Ommegang seinen schlichten Charakter. Die Zünfte wetteiferten um die Darstellung von Szenen aus der Bibel, später auch aus der Mythologie, die auf Wagen aufgebaut und im Umzug durch die Stadt geführt wurden. In der Alten Tuchhalle am Großen Markt wurde das Onze-Lieve-Frow-Spel über die Himmelfahrt Mariae vor einem großen Publikum aufgeführt, das von weither nach Mecheln geströmt war.231 Für die Jahre 1507, 1511 und 1512 bezeugt Karls Itinerar ausdrücklich die Teilnahme des Prinzen an den Festlichkeiten; die Stadtväter von Mecheln, die einen großen Teil der Unkosten für den Ommegang trugen, luden am Festabend zum Diner. Unter den Gästen waren 1507 Karl, seine Schwestern und Margarete,232 1511 der Erzherzog und seine Schwestern; 1512 war nur Karl eingeladen. Für die Jahre 1508–1510 sowie für 1513 und 1514 geben die Rechnungsbücher keine derartigen Hinweise; durch Abgleichung des Itinerars mit dem Festkalender läßt sich aber erschließen, daß Karl auch in diesen Jahren am Mittwoch nach Ostern stets in Mecheln weilte. Eine Ausnahme gab es erst 1515, als er nach seiner Emanzipation vielerorts festlichen Einzug als Herzog von Burgund hielt und offensichtlich in Terminnot geriet. Welche Bedeutung das Fest hatte, wird jedoch daraus ersichtlich, daß Karl als König von Kastilien 1516 der Mechelner Prozession beiwohnte233 und die Gelegenheit nutzte, mit seiner Tante und Eleonore, die als einzige der Schwestern noch in den Niederlanden lebte, zusammenzutreffen. 230 Tamussino 1995, 147. 231 Ebd. 147 f. 232 Pirenne 1953, 75; dies lag noch vor der offiziellen Einsetzung Maximilians als Vormund und Margaretes als seiner Stellvertreterin am 22. April 1507. 233 Ab 14. März 1516 trug Karl den Titel „König von Kastilien“; kaum zwei Wochen später, vom 25.–27. März, besuchte er Mecheln (Voyages II 17 Anm. 2).

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Der Namenstag des Stadtpatrons wurde am ersten Sonntag im Juli gefeiert: Die Kermisprocessie oder der Ommegang van Sint Rombout in midtzomer übertraf mit der Zeit sogar an Pracht die Osterprozession. 1507 verband man den glanzvollen Einzug Margaretes mit dem Fest zu Ehren des Stadtheiligen; bei diesem damals sehr herzlichen Empfang von vrouwe Margrieten war der siebenjährige Herzog selbstverständlich anwesend.234 Wie vielerorts im nördlichen Europa hatte sich auch in den Niederlanden die germanische Sitte des Sonnwendfeuers erhalten, wie so mancher heidnische Brauch im christlichen Sinne umgewidmet: Am Vorabend des 24. Juni entzündete man Feuer „en l’honneur de monsieur saint JeanBaptiste“.235 Dieses fröhliche Fest mit Musik und Tanz stellte natürlich besonders für die Jugend eine große Attraktion dar. Aus dem Itinerar geht hervor, daß Karl 1514 in Brüssel und 1515 in Den Haag mitfeierte, wobei er 1515, während seiner Inaugurationsreise durch das Land, das Feuer selbst entzündete. Vermutlich hat er auch in früheren Jahren häufiger an dem Fest teilgenommen, doch nur für das Jahr 1512 gibt es dafür die Bestätigung in Form eines Berichtes der englischen Diplomaten Young und Wingfield an ihren König, Heinrich VIII. Ihr Brief hat unter Historikern einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, da er einer der seltenen Augenzeugenberichte ist, der einen wenn auch flüchtigen Eindruck von dem jungen Erzherzog in einem eher privaten Ambiente vermittelt: The 2[4th] of this month the Emperor came to Brussels, and sent for them [the diplomats; A.S.], and we found him ready to ride, and [my] Lady, his daughter, with my Lord Prince and his sisters w[ere] without the palace gate, where a great fire was made in [the] honour of St. John, and the Emperor had the collar of St. G[eorge] about his neck. [...] He [the Emperor; A.S.] then rode two leagues to his bed past 8 o’clock. [The diplomats; A.S.] were then summoned to the great hall where they had a conversation with my Lady, whom they find a perfect friend. In that while the Prince and his sisters and the young folk danced, and betwixt 9 and 10 they made an end, and then we departed.236

Wenige Tage zuvor hatte Sir Robert Wingfield dem englischen König geschildert, welchen Eindruck Karl und seine Schwestern auf die französischen Botschafter gemacht hatten: [The Emperor; A.S.] gave audience to the French ambassadors [...] and there was also the Prince and his three sisters, [the sight] of whom [as I deem] was neither much pleasant or comforta[ble to] the said ambassadors; for, blessed be God, they be all right fair and [tall], and go right up upon there joints and limbs.237 234 Tamussino, Margarete, 149. 235 Gachard in Voyages II 13 Anm. 2. 236 Brodie 1920, 574 f. Nr. 1252 (27.6.1512). Die meisten Dokumente der Sammlung sind in Form von Regesten veröffentlicht; bei dem hier angeführten Brief liegt eine Mischung aus Regest und Zitat (abstract and extract) vor. Eckige Klammern bezeichnen Ergänzungen im beschädigten Original. 237 Brodie 1920, 572 Nr. 1241 (19.6.1512).

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Man fragt sich, weshalb den Franzosen der Anblick der Kinder, die als hübsch, groß und gerade gewachsen beschrieben werden, wenig Entzücken, sondern eher Unbehagen bereitete. Dem Interesse des französischen Königs hätte es natürlich eher gedient, wenn seine Gesandten Philipps Erben schwächlich und kränklich gefunden hätten und wenn insbesondere Karl den Eindruck erweckt hätte, als würde ihm kein langes Leben beschieden sein. Margarete indes dürfte, wie eine leibliche Mutter, ihrer Freude an ihren schönen Kindern Ausdruck verliehen haben, wie aus einem Antwortbrief Maximilians hervorgeht: Je suis bien jouieux de ce que Vous trouvez nos communs enffans si beaux et qu’ils demandoient après moi; dîtes leur que je viendrai bientôt.238 Im Juli 1508 kam Maximilian erstmals nach dem Tode Philipps wieder in die Niederlande, wo er sich bis zum Frühjahr 1509 aufhielt; während dieser Zeit residierte er vorwiegend im Schloß von Lierre. Allein die Länge des Aufenthalts läßt erkennen, daß es sich nicht nur um einen Besuch bei der Familie handelte. Wie eng für Maximilian oft Angelegenheiten, die dem ersten Anschein nach rein privaten Charakter hatten, mit politischen Fragen und Entscheidungen verknüpft waren, zeigen einige Ereignisse des Jahres 1508: Im Februar kündigte Maximilian der Tochter einen wichtigen Besucher an, der auch Karl zu sehen wünschte.239 Es handelte sich um den Kämmerer des spanischen Kardinals von Santa Croce, Bernardino de Carvajal, des päpstlichen Legaten in den Niederlanden. Dieser Kämmerer sollte mit äußerster Zuvorkommenheit empfangen werden, so daß er dem Legaten einen vorteilhaften Bericht liefern könne. Zweck des Besuches war die Darlegung einiger kirchlicher Angelegenheiten, wobei großer Wert auf Karls Gegenwart gelegt wurde. Was zunächst befremdlich erscheint – denn der Prinz war erst acht Jahre alt – findet später eine Erklärung: es handelte sich vermutlich um Vorgespräche zur „Konfirmation“ der Kinder.240 Ein weiterer Brief Maximilians informierte Margarete vom baldigen persönlichen Erscheinen des Legaten, der Karl kennenlernen und mit der Regentin bestimmte Angelegenheiten, die das Wohl und die Ehre des Prinzen betrafen und seinem Nutzen dienten, erör238 Zitiert bei Brandi 1941, 76 und in deutscher Übersetzung bei Tamussino 1995, 151. Aus dem Inhalt möchte ich schließen, daß die Zeilen 1507 oder 1508 geschrieben wurden und sich auf einen Brief Margaretes beziehen, in dem sie ihre ersten Eindrücke von den Kindern schildert. Dazu würde sich die Ankündigung vom baldigen Besuch Maximilians sinnvoll fügen. 239 Le Glay 1839, 1, 38 f. Nr. 27 (24.2.1507). Nach römischem Kalender 1508; das Jahr endete nach dem style de Cambrai am 22. April. 240 In den französischen Texten wird stets der Begriff confirmation gebraucht, der in Deutschland in den Wortschatz der protestantischen Kirche übergegangen ist. Unter confirmation ist in unserem Zusammenhang die Firmung, vielleicht verbunden mit der Erstkommunion, zu verstehen.

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tern wollte.241 Im September 1508 traf der Kardinal in Mecheln ein. Als legatus a latere war er mit allen Rechten eines Stellvertreters des Papstes ausgestattet, und entsprechend war der Empfang, den ihm die Stadt bereitete. Am 14. September, dem Tag der Kreuzerhöhung, fand ein Pontifikalamt in St. Rombaut in Gegenwart des Kaisers, seiner Regentin, des Erzherzogs und des gesamten Hofes statt.242 Im Oktober, zwischen dem 12. und dem 27. des Monats, feierte Carvajal mit Karl und seinen Schwestern in Mecheln die „Konfirmation“, ehe er abreiste, vermutlich mit dem Ziel Cambrai, wo im November die Verhandlungen begannen. Karl hatte auf Drängen Margaretes zur Firmung nach Mecheln kommen müssen, wo sich die Prinzessinnen aufhielten.243 Im Übrigen weilte er im September und Oktober 1508 wochenlang bei seinem Großvater in Lierre,244 der die Gelegenheit nutzte, seinen très chier et très amé fils und vermutlichen Erben besser kennenzulernen. Auch in Antwerpen, wo der Kaiser der Regentin vor dem Aufbruch nach Cambrai Instruktionen gab, wollte er auf Karls Gesellschaft nicht verzichten. Auf einem Flußschiff reisten Tante und Neffe in die lebhafte Stadt – ein gewiß eindrucksvolles Erlebnis für den „Kleinstädter“ Karl.245 Von Mitte November 1508 bis Mitte Januar 1509 blieb Karl in Mecheln, d.h. während der 241 Le Glay 1839, 1, 64 Nr. 47 (18.6.1508). Den ersten der hier erwähnten Briefe schrieb Maximilian drei Wochen nach seiner Proklamation zum Erwählten Römischen Kaiser in Trient. Die schon 1496 einsetzenden und immer wieder gescheiterten Bemühungen Maximilians um die Kaiserkrönung und den damit verbundenen Romzug ebenso wie den Verlauf der Kaiserproklamation schildert Wiesflecker 1981, 6–15. Im Rahmen dieser Vorgänge kam dem Kardinal von Santa Croce eine wesentliche Rolle zu. Er war von Julius II. zu Maximilian entsandt worden, um den Römischen König von seinen Krönungsplänen abzubringen und ihn u.U. für einen Ausgleich mit Frankreich zu gewinnen. Bei der Feierlichkeit in Trient war der „kaiserfreundliche Legat“ (ebd. 12) nicht anwesend, da er noch keine Weisung des Papstes erhalten hatte, der den Titel des Romanorum Imperator electus aber am 12. Februar 1508 bestätigte. Bei den Fragen, die der Kardinal mit der Regentin zu erörtern wünschte, kann es sich durchaus darum gehandelt haben, welche Konsequenzen das Fehlen der Kaiserkrönung für den mutmaßlichen Nachfolger, also Karl, haben könnte: Maximilian war nur als Römischer König gesalbt und gekrönt, einen zweiten Römischen König konnte es neben ihm nicht geben. Die gleiche Situation wiederholte sich für Karl und seinen Bruder Ferdinand, der zunächst nur Stellvertreter des Erwählten Römischen Kaisers Karl im Reich sein konnte; Römischer König wurde er erst 1531, nachdem Karl V. 1530 in Bologna zum Kaiser gekrönt worden war. Sehr wahrscheinlich hat der Kardinal Margarete auch die Pläne des Papstes für eine Annäherung an Frankreich dargelegt, die sich wenige Monate später auf die Verhandlungen von Cambrai auswirken und im Zusammenschluß der Heiligen Liga manifestieren sollten. 242 Moeller 1895, 41 f. 243 Le Glay 1839, 1, 91 f. Nr. 74 (8.10.1508). 244 Vgl. Voyages II 6 (Itinerar). 245 Le Glay 1839, 1, 93 f. Nr. 76 (12.10.1508).

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Hauptphase der Verhandlungen und des Vertragsabschlusses war er dort auf jeden Fall in Sicherheit.246 Ab Mitte Januar 1509 verzeichnet das Itinerar des Prinzen ständige Ortswechsel: Bis zum März 1509, als der Kaiser die Niederlande wieder verließ, bereiste er gemeinsam mit dem Enkel das Land. Mancherorts gab es festliche entrées, so in Termonde und in Gent, und die Rechnungsbücher weisen nach, daß der Neunjährige an etlichen Soupers und Banketten teilnahm. Am 6. Februar 1509 wurde Karl in Brüssel in Gegenwart des Kaisers von den Gesandten des englischen Königs der ordre de la Jarretière (Hosenbandorden) verliehen – im Anschluß wurde natürlich ein Festbankett für die Diplomaten gegeben.247 Vermutlich um dieses Ereignis zu feiern, aber auch, um den Prinzessinnen und sich selbst eine Freude zu machen, lud Maximilian sie zu einem festlichen Mahl nach Brüssel ein. In diesen Monaten des Zusammenseins entdeckte Maximilian, der leidenschaftliche Jäger, zu seiner Freude, daß sein Enkel diese Vorliebe zu teilen begann, wie erste diesbezügliche Einträge in Lille nachweisen. Von diesem Zeitpunkt an taucht der Vermerk „l’Archiduc fut à la chasse“ häufiger in den Anmerkungen zum Itinerar auf. Auch nach seiner Abreise verfolgte der Kaiser aus der Ferne die Fortschritte des Enkels in den ritterlichen Sportarten; er war hocherfreut darüber, daß der Prinz – bei aller Verschiedenheit der Temperamente Maximilians und Karls – nicht „aus der Art geschlagen“ war. An Margarete schrieb er den – wohl wegen seiner drastischen Ausdrucksweise – immer wieder zitierten Satz: Nous fumes bien jeuyeulx que nostre filz Charles prenne tant de plésir à la chasse; aultrement on pourra pensé qui fust bastart.248 Ferner riet er, Karl nach Ostern, wenn das Wetter milder sei, nach Antwerpen oder Löwen zu schicken, wo er an der frischen Luft die Zeit mit Reiten verbringen solle, um seine Gesundheit zu festigen und recht kräftig zu werden. Daß Karl ab 1509 seine Neigung zur Jagd entdeckte, geht zweifellos nicht nur auf den Einfluß des Großvaters, sondern auch auf den seines neuen Gouverneurs und premier chambellan Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, zurück, auf dessen Besitzungen in Héverlé und Val-Duc der Erzherzog schon Anfang September 1509 jagte.249 246 Nach Tamussino (1995, 145) hielt sich auch Maximilian damals zumindest zeitweise in Mecheln auf, beobachtete genau, was in Cambrai geschah, und war gewiß nicht untätig. 247 Es handelte sich hier um den unter befreundeten oder verwandten Herrschern allgemein üblichen Austausch der Hausorden. Bei seinem eher unfreiwilligen Englandaufenthalt hatte Philipp der Schöne 1506 dem damaligen Prince of Wales, dem späteren Heinrich VIII., den Orden vom Goldenen Vlies verliehen und seinerseits den Hosenbandorden empfangen; s. Voyages I 124. 248 Le Glay 1839, 1, 241 f. Nr. 182 (24.2.1509; Walther: 28.2., style de Rome: 1510). 249 Am 18. März 1509 hatte Maximilian Chièvres das Amt übertragen, nachdem Charles de Croy, Fürst von Chimay, aus Altersgründen nur noch für den Haushalt der Prinzessinnen

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So reich an ungewohnter Abwechslung und neuen Eindrücken die Jahre 1508 und 1509 für die Kinder aus dem stillen Keyzerhof, und besonders für Karl, waren, so brachten sie auch große Sorge und Ängste für Margarete, ihre „gute Mutter“, denn alle Kinder erkrankten zweimal schwer: 1508 überstanden alle, glücklicherweise ohne bleibende Schäden, die Masern. Es grenzt an ein Wunder und spricht für die robuste Konstitution der Kinder und ihre gute Pflege, daß sie alle eine Pockenerkrankung überlebten. Karl hielt sich mit seiner Tante im Spätherbst 1509 in Brüssel auf, als Margarete aus Mecheln die Nachricht von der schweren Krankheit der drei Mädchen erreichte. Heilmittel gegen die Pocken gab es nicht, aber man wußte um die hohe Ansteckungsgefahr. Daher blieb Karl in Brüssel,250 doch die Isolierung kam zu spät, und der Prinz erkrankte noch heftiger als seine Schwestern. Aus Margaretes Briefen geht hervor, daß sich mehrere Ärzte um die Kinder bemühten, doch erst am 25. November konnte sie dem spanischen Großvater, dem sie stets vom Ergehen der Enkel berichtete, mitteilen, daß Karl außer Gefahr sei. Maximilian hegte übrigens ein tiefes Mißtrauen gegenüber Ärzten, die aus dem „feindlichen Lager“ kamen und sich um eine Anstellung am burgundischen Hof bemühten. So warnte er seine Tochter im April 1509 und nochmals im Juli des gleichen Jahres vor einem venezianischen Arzt, maître Libéral, den sie auf keinen Fall in die Nähe Karls und seiner Schwestern kommen lassen sollte.251 Nach seiner Genesung blieb Karl noch bis zum 4. März zur Erholung in Brüssel. Im Frühjahr 1510 konnte Margarete ihrem Vater endlich die beruhigende Nachricht zukommen lassen, daß der Prinz und seine Schwestern wieder bei guter Gesundheit seien.252 In den folgenden Jahren, 1510–1513, verbrachte Karl die Sommermonate in Brüssel; wie ein Schüler in den Ferien erholte er sich dort von dem strengen Pflichtprogramm, das ihm von Chièvres auferlegt wurde. In Brüssel konnte er im Wildpark seinen Lieblingsbeschäftigungen, der Jagd und dem Reiten, ausgiebig nachgehen. Auch die waldreichen Besitzungen Chièvres’ boten dem Prinzen verantwortlich bleiben wollte. 250 In einem Brief vom 29. Oktober 1509 berichtete Margarete ihrem Vater von der Erkrankung der Mädchen und von den Maßnahmen, die sie zum Schutze Karls getroffen hatte (Le Glay 1839, 1, 202 f. Nr. 153). 251 Le Glay 1839, 1, 129 f. Nr. 109 (7.4.1509); 172 Nr. 130 (30.7.1509). Dieses Mißtrauen und die Sorge um das Leben der Kinder stehen zweifellos im Zusammenhang mit dem plötzlichen Tod Philipps, um den sich 1506 sofort Gerüchte entwickelt hatten: Am häufigsten wurde Ferdinand von Aragon bezichtigt, den Schwiegersohn durch Auftragsmord mit Gift beseitigt zu haben, während Maximilian auf dem Konstanzer Reichstag 1507 öffentlich verkündete, sein Sohn sei einem Giftanschlag des französischen Königs zum Opfer gefallen. Dazu Wiesflecker 1976, 92. 252 Le Glay 1839, 1, 394 Nr. 302 (undat. minute; Walther: 21.5.1510).

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oft Gelegenheit, seine Reit- und Schießkünste zu vervollkommnen. Schon 1511 nahm er in Tervueren an einem Schützenfest teil;253 in den folgenden Jahren soll er sogar mehrmals Schützenkönig geworden sein.254 Die englischen Diplomaten Heinrichs VIII. hatten im Juni 1512 einmal die Gelegenheit, dem Prinzen beim Scheibenschießen zuzuschauen und lobten seine Geschicklichkeit: [He] handled his bow right well favourdly.255 Bei einem der Jagdausflüge Karls ereignete sich ein tödlicher Unfall: Am Pfingstmontag 1514 erschoß der Prinz im Wald von Tervueren einen Mann mit der Armbrust. Chièvres, der Zeuge des Unglücks war, beeilte sich festzustellen, daß der Getötete, ein Handwerker aus dem Ort, ein Trunkenbold „in schlechter Verfassung“ gewesen sei. Margarete legte großen Wert darauf, daß Maximilian von ihr den wahren Hergang erfuhr, den Chièvres dem Kaiser noch bestätigen sollte. Karl, Margarete und die ganze Jagdgesellschaft waren äußerst betroffen; der Prinz bedauerte zutiefst, was er verursacht hatte. Der Regentin erschien der Vorfall wichtig genug, um ihn den politischen Fragen, die sie im gleichen Brief zur Sprache brachte, voranzustellen.256 Wie Karl diesen tragischen Vorfall und sein Schuldgefühl verarbeitet hat, ist nirgends überliefert. Zu dem Zeitpunkt, als sich das Jagdunglück ereignete, war der Haushalt der Kinder bereits in Auflösung begriffen: Die jüngste der Schwestern, Maria, verließ Mecheln im Mai 1514; sie war seit zwei Jahren mit Ludwig von Ungarn verlobt und sollte vor der Eheschließung einige Zeit in Wien verbringen, um ihre Erziehung zu vervollkommnen. Isabella, seit 1514 Christian von Dänemark per procuram angetraut, begab sich im Juni des folgenden Jahres in ihre neue Heimat. Für Karl war das letzte Jahr vor seiner Emanzipation angebrochen. Das Jahr 1512 253 Gachard in Voyages II 10 Anm. 1. 254 Moeller 1895, 64. 255 Brodie 1920, 576 Nr. 1258 (29.6.1512). 256 Le Glay 1839, 2, 155 f. Nr. 498 (minute, Mai 1513; Walther: 5.6.1514). Obwohl noch in neuesten Arbeiten (z.B. bei Rodríguez-Salgado 2000, 44) der Jagdunfall nach Le Glays Angabe auf 1513 datiert wird, ist Walther Recht zu geben: Margaretes Brief kann frühestens vom 5. Juni 1514 stammen, falls er noch am Tag des Unfalls abgefaßt wurde. Das Pfingstfest 1514 fiel auf den 4. und 5. Juni. Da mir zusätzliche, in Walthers Argumentation nur angedeutete Quellen nicht zugänglich waren, mußte der weitere Inhalt des Briefes zur Klärung beitragen: Margarete bestätigte dem Kaiser die Ankunft der dänischen Gesandten in Antwerpen, die Isabellas Vermählung mit Christian von Dänemark per procuram vollziehen sollten. Diese Gesandtschaft war der Regentin vom Kaiser in einem Brief vom 30. April 1514 angekündigt worden (Le Glay 1839, 2, 383 f. [appendice 6]). Der Ehevertrag war am 29. April 1514 von Maximilian und den dänischen Gesandten in Linz ausgefertigt worden. Walthers Datierung ist außerdem mit Karls Itinerar vereinbar, das für Juni 1514 Brüssel als Aufenthaltsort angibt. Tervueren liegt am Rande der heutigen Großstadt Brüssel.

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hatte den Geschwistern, oft auch zusammen mit der Tante und dem Großvater, noch einmal gemeinsame Freuden und Erlebnisse beschert, obwohl die inneren Verhältnisse der Niederlande – einschließlich der bedrückenden finanziellen Not – wie auch die undurchschaubare außenpolitische Situation eigentlich dagegen gesprochen hätten. Die Kinder waren jetzt alt genug, um an einigen harmlosen Karnevalsvergnügen teilnehmen zu dürfen. Dazu zählten auch kleine Theateraufführungen. Da Mecheln kein Hoftheater besaß, amüsierte man sich über Schwänke, die von Wandertruppen aufgeführt wurden, so 1512, als die Truppe von Béthune vor den fürstlichen Kindern auftrat. Laurent Vital, der später Karl auf seiner ersten Spanienreise begleitete und dem wir darüber einen außerordentlich lebendigen Bericht verdanken, gehörte dem Kinderhaushalt bereits seit 1504 als einfacher Kammerdiener an. Schon früh offenbarte er sein Talent als Autor von hübschen Possen in ungekünstelter Sprache und brachte sie als „Impresario“ mit Laiendarstellern aus dem Haushalt zur Unterhaltung der Kinder zur Aufführung.257 Auch 1513 gab es während der Karnevalszeit einen Mummenschanz: Die Rechnungsbücher von Lille verzeichnen exakt, wieviel dabei für die Kostüme aufgewendet wurde.258 Die größte Freude bereiteten den Mechelner Kindern jedoch die meistens nur kurzfristig angekündigten Besuche des Großvaters. Wenn den Kaiser Verhandlungen oder militärische Unternehmungen in die Nähe des burgundischen Hofes führten, versäumte er es nie, einige Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Daß Maximilian mit seiner ungebrochenen Unternehmungslust, seinem Einfallsreichtum und seinem Charme diese Zusammenkünfte für die Kinder zu ganz besonderen Erlebnissen werden ließ, steht außer Zweifel. Der politische Anlaß für Maximilians Reise in die Niederlande war im Jahre 1512 wiederum der ungelöste Konflikt mit Geldern.259 Seine Enkelkinder hatte er seit über drei Jahren nicht gesehen, und so ist es nicht verwunderlich, daß er mit ihnen, vor allem mit Karl, möglichst viel Zeit verbringen wollte. Gleich nach seiner Ankunft traf er Karl in Brüssel, ehe er am 9. Juni nach Mecheln weiterreiste, wo ihn die drei Mädchen empfingen. Moeller, dem das (seinerzeit nicht edierte) Itinerar Eleonores und unedierte Briefe in Lille zur Verfügung standen, beschreibt minutiös den 257 Archives du Nord, B 2207, fol. 288: Zahlung von 10 Livres an Vital und seine Gefährten lesquels ont joué pluisieurs jeuz de personnaiges et bonnes farses durant les quaresmeaulx (des Jahres 1508; zit. nach Inventaire A.D.N. 1881, 319; vgl. Moeller 1895, 62). 258 Archives du Nord, B 2229, fol. 262: Zahlung anläßlich einer certaine montmerie [= mommerie] que mondit seigneur [Charles] fist ledit jour [6.2.1513] et avec luy mesdames ses seurs für l’or et façon d’avoir bordé tout alentour quatre manteaux de thoile crespé faiz à la mode d’Italie [...] (zit. nach Inventaire A.D.N. 1881, 333; s. auch Moeller 1895, 62 f.). 259 Maximilian verließ damals den Trierer Reichstag mitten in den Verhandlungen, um den Geldrischen Krieg nötigenfalls selbst zu führen; s. Wiesflecker 1981, 326.

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Ablauf von Maximilians zweitägigem Aufenthalt in Mecheln, beginnend mit dem gemeinsamen Gottesdienstbesuch über das Souper und Tanz im Garten am Abend; am zweiten Tag, Fronleichnam, wurde die Messe besucht, und Maximilian nahm an der Prozession teil. Den Abend vertrieb man sich mit Kartenspielen, wobei Chimay, damals Gouverneur der Prinzessinnnen, die Regentin ausdrücklich wissen ließ, daß der Kaiser den Mädchen Geld gegeben habe, um das sie spielen konnten.260 Vermutlich waren derart leichtfertige Sitten am sparsam geführten Hof Margaretes nicht üblich und daher bemerkenswert. Kaum hatte der Kaiser Mecheln mit dem Ziel Antwerpen verlassen, als er Karl und seine Schwestern nachkommen ließ. Zumal bei den Mädchen dürften die Schiffsreise und das lebhafte Treiben in der großen Handelsstadt nachhaltige Eindrücke hinterlassen haben, denn für sie war es die erste größere Reise ihres Lebens. Nach vier Tagen kehrten die Kinder nach Mecheln zurück.261 Dort erreichte sie bereits am 20. Juni die Einladung des Großvaters nach Brüssel, um den Park zu sehen und sich dort zu tummeln.262 Die „damoiselles“ der Prinzessinnen – wohl die jungen filles d’honneur, die mit ihnen erzogen wurden – waren ebenfalls eingeladen. Maximilian, wohl wissend, daß der Aufbruch des kleinen, ruhigen Hofes in die Sommerfrische einem Umzug gleichkam – natürlich mußten zumindest die persönlichen Bediensteten ihre Damen begleiten –, hatte, hier ganz Familienvater, die Organisation selbst in die Hand genommen: Schon am folgenden Tag sollten die Fuhrwerke und die Sänfte der Regentin pünktlich in Brüssel eintreffen, dazu die Leibwache. Einen Einblick in die Wohnverhältnisse im Brüsseler Schloß, die gewiß nicht den gängigen Vorstellungen von kaiserlichem Glanz entsprachen, vermittelt Maximilians Lösung der Frage der Unterbringung seiner Gäste: Den jungen Damen stellte er seine eigenen Räume zur Verfügung, während er sich selbst für die Zeit des Besuchs nach Vilvorde und in die Umgebung Brüssels, vermutlich nach Tervueren, ausquartierte. Schon zwei Tage nach Erhalt der Einladung waren die Prinzessinnen auf dem Weg nach Brüssel, wo sie drei Wochen, bis zur Abreise des Kaisers, verbringen durften. Wie sehr sich Maximilian auf seine Enkelinnen freute, läßt sich daraus ablesen, daß er ihnen am 22. Juni schon auf halbem Wege, bis Vilvorde, entgegenkam. Man reiste zu Pferde, denn auch die Damen waren ausgezeichnete Reiterinnen.263 Reiten und 260 Moeller 1895, 65 Anm. 1. 261 Nach dem Itinerar (Voyages II 11) dauerte der Aufenthalt in Antwerpen vom 13.–16. Juni 1512. Karl war am 12. Juni von Brüssel nach Mecheln zurückgekehrt. 262 Le Glay 1839, 2, 12 f. Nr. 392 (20.6.1512). 263 Zur Art des höfischen Reisens liefert Moeller ein anschauliches Bild (1895, 58 f.): „Le cheval fesait donc partie intégrante de l’éducation des demoiselles de qualité, et il convenait surtout à une princesse d’être une écuyère accomplie, capable de figurer dignement aux côtés du souverain. Quand la cour se déplaçait, en effet, la plus grande partie du personnel

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Jagen dürften einen großen Teil des Zeitvertreibs der Brüsseler Sommergäste ausgemacht haben; von Margarete ist bekannt, daß sie seit ihrer Jugend Jagdausflüge liebte; die Prinzessinnen wurden des öfteren von ihrem Gouverneur, dem Fürsten von Chimay, zur Jagd auf seinen Besitz in Héverlé eingeladen.264 Maximilian erlegte in seinen Wäldern um Tervueren einen Hirsch, von dem er das beste Stück sogleich nach Brüssel schickte. Die Einladung Margaretes zum gemeinsamen Wildessen am folgenden Tag nahm er freudig an.265 Obwohl Karl sich zu der Zeit ebenfalls in Brüssel aufhielt, scheint er an der Familientafel gefehlt zu haben. Wir haben hier den seltenen Fall vor uns, daß die Quellen es ermöglichen, eine lebhafte Vorstellung von einem Intermezzo aus den gemeinsamen Jugendjahren der Mechelner Geschwister zu gewinnen, wobei allerdings auffällt, daß Karl zwar gelegentlich erwähnt wird, aber völlig im Hintergrund bleibt. Nichts wird gesagt über seine eventuelle Beteiligung an dem geselligen Treiben der jungen Mädchen, und auch in den Briefen des Großvaters stehen seine „petites et très chières, très amées filles“ im Mittelpunkt. Der schöne Schein einiger unbeschwerter Sommerwochen im Kreise der Familie trügt allerdings, soweit es den Kaiser und die Regentin betrifft.266 Gewiß hatten sie beide ihre Freude an den „gemeinsamen Kindern“, für Margarete jedoch, die était monté, les dames sur leurs haquenées, et rien ne ressemble autant à la cour en voyage alors qu’un cirque actuel en tournée de représentation.“ Das Mitführen der Sänfte dürfte in diesem Fall also als reine Vorsichtsmaßnahme betrachtet werden, für den Fall, daß jemand erkrankte oder einen Unfall erlitt. 264 Moeller 1895, 64. Das Itinerar Karls belegt, daß er im Mai 1514 gleichzeitig mit den Schwestern Eleonore und Isabella Jagdgast Chimays war. 265 Le Glay 1839, 2, 13 Nr. 393 (22.6.1512); 14 Nr. 394 (23.6.1512). 266 Walthers mehrfach geäußerte Kritik an Charles Moellers Biographie der Eleonore bezieht sich vermutlich darauf, daß in dem genannten Werk die politischen Ereignisse zwar nicht unerwähnt bleiben, hinter der äußerst anschaulichen Schilderung der Jugendjahre der Prinzessin und der kulturgeschichtlich aufschlußreichen Darstellung des Ambientes, in dem sie aufwuchs, aber deutlich zurücktreten (Walther 1911, 3: „Und Moeller hat uns (in einem Buch mit dem inadäquaten Titel: „Éléonore d’Autriche“) den burgundischen Hof zur Zeit der Jugend Karls V. geschildert in dem nachsichtig lächelnden Ton, wie man sich unterhält mit Hofgeschichten des ausgehenden Ancien Régime. Das ist alles sehr irreführend.“; ders. 1908, 280: „vor allem aber Charles Moeller, Éléonore d’Autriche, [...] diese farbenreiche und instruktive, und doch so irreführende Schilderung des burgundischen Hofes während der Jugend Karls V.“). Karl Brandi, Walthers Lehrer, urteilt im 2. Band seiner Karlsbiographie ganz anders: „Über die Jugend Eleonores hat Ch. Moeller, Éléonore d’Autriche et de Bourgogne, reine de France (Paris 1895), ein ganz aus den Quellen geschöpftes und doch durchaus lebendiges Buch verfaßt, das auch für Karls frühe Jahre sehr aufschlußreich ist, weil alle höfischen und rein persönlichen Dinge darin liebevoll behandelt werden, aber auch weil das Verhältnis zu dem um ein gutes Jahr jüngeren Bruder dauernd ein enges war. [...]“ (1941, 71).

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mehrfach auf das Kommen des Vaters gedrängt hatte, ergab sich endlich durch das mehrwöchige Zusammensein die Gelegenheit, die drückenden politischen Fragen zur Sprache zu bringen. Unter der Vielzahl der ungelösten Probleme war keines, das nicht mittelbar oder unmittelbar mit dem derzeitigen oder künftigen Wohl Karls, mit der Wahrung seines Erbes oder – über ihn – mit der Zukunft der Dynastie verflochten war. Auf Margarete, die ihre Aufgaben als Vormund und als Regentin sehr ernst nahm, lastete die Verantwortung schwer, und sie erhoffte sich Rat und Unterstützung von ihrem Vater. Maximilian waren die Interessen seines Enkels und seines Hauses alles andere als gleichgültig, doch glaubte er sie in den Niederlanden bei der Tochter in guten Händen, während er selbst sie bei Verhandlungen und in Verträgen mit auswärtigen Mächten, auf Reichstagen und den Schlachtfeldern Europas verteidigte. Ein Überblick über die vielfach miteinander verzahnten Probleme, wie sie sich im Frühjahr und Frühsommer 1512 darboten, ist damit unerläßlich, auch wenn Karl selbst dabei kaum in Erscheinung tritt.267 Drei Probleme, die den Hof und die Situation in den Niederlanden ganz unmittelbar betrafen, bedrängten die Regentin täglich: 1. Die Verheerungen im Lande, die die geldrischen Überfälle, aber auch die marodierenden und brandschatzenden eigenen Landsknechte anrichteten, deren Sold seit langem ausstand, führten zu Unruhe in der Bevölkerung. Die Finanzen der Niederlande waren nach Jahren des Krieges völlig erschöpft, das Vertrauen in die Regierung, d.h. besonders in die Regentin, dahingeschwunden. Nur die von Geldern am stärksten bedrohten Provinzen, allen voran Holland, waren noch bereit, Unterstützung zu gewähren. 2. Die allgemeine Finanznot blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Etat der Kinder. Seit der Abtrennung von Karls Haushalt von dem seiner Schwestern im Jahre 1509 wurden die ständig wachsenden Kosten für den Hof des Prinzen zum jahrelangen Streitpunkt zwischen dem Kaiser und seiner Regentin.268 Im Etat von 267 Die Darstellung wird nicht unerheblich auch an dieser Stelle durch die unterschiedliche Datierung in den Werken der maßgeblichen Historiker erschwert. Die Ursache dafür liegt zweifellos wiederum in der inkonsequenten Verwendung des „alten“ und des „neuen“ Kalenderstils in der Correspondance als wesentlicher Quelle. Henne und selbst noch Wiesflecker setzen z.B. Ereignisse des Frühjahrs 1513 für das Jahr 1512 an. Walther 1908 hat hier wertvolle Arbeit hinsichtlich der Neudatierung geleistet, indem er insbesondere undatierte minutes und Briefe in gewohnt akribischer Manier inhaltlich auf verborgene Hinweise zur Datierung untersuchte. 268 Der Streit um die Finanzierung des Kinderhaushalts hat eine lange Vorgeschichte, auf die Moeller verweist als Teil der „cabale flamande“ zwischen Philipp und Juana (1895, 12 f., nach einem langen Briefwechsel mit den Katholischen Königen): Philipp hatte entschieden, daß der Haushalt der Töchter aus Juanas Vermögen bestritten werden sollte, während er für die Söhne eintreten wollte. Bezeichnenderweise wurden die Abmachungen schon 1499 getroffen, als das Paar nur erst eine Tochter hatte. Seit Beginn der Vormund-

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1509 waren nur die führenden Positionen berücksichtigt, viele Titel waren offen. Zahlreiche Anwärter drängten auf Aufnahme in den Haushalt; Maximilian selbst legte immer wieder in seinen Briefen der Tochter die Anstellung bestimmter, meistens bewährter Adliger und Bediensteter verschiedenen Ranges aus Philipps oder seinem eigenen Haushalt nahe, ohne sich um deren Einplanung zu kümmern. Mehrfach kündigte er der Tochter die Aufstellung eines Etats an (Mai 1509, Februar 1510), bevor Margarete die Initiative ergriff und ihrerseits einen Plan erstellte. Es galt schließlich die Ansprüche auch der zahlreichen Adligen zu befriedigen, die im Hofdienst standen oder für die Interessen des Hauses HabsburgBurgund gegen Geldern kämpften und auf deren Unterstützung man bei der Bewilligung der Hilfsgelder durch die Generalstände angewiesen war. Wieder wartete die Regentin vergeblich auf eine Entscheidung des Kaisers. Der Haushaltsplan, den Maximilian schließlich ausfertigte, fand nicht die Zustimmung der betroffenen Adligen. Im März 1512 stellte die Regentin eigenmächtig einen état à demi an auf und veröffentlichte ihn, ohne die Einwilligung des Kaisers einzuholen. Am 1. April 1512 trat dieser Haushaltsplan in Kraft und behielt bis zum Regierungsantritt Karls Gültigkeit. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter war durch die Entscheidung Margaretes für einige Zeit erheblich getrübt, denn Maximilian konnte es nicht verwinden, daß er übergangen worden war.269 3. Das auf die Dauer vielleicht bedrückendste Problem war der Machtkampf der Parteiungen an ihrem eigenen Hof, in den sich Margarete verstrickt sah. Seit 1509 hatte sich um Chièvres, den einflußreichen Gouverneur Karls, eine Frankreich zugeneigte Gruppe gebildet, die der englandfreundlichen Politik Margaretes feindselig gegenüberstand. Der Kreis der Berater, die die Regentin unterstützten, wurde immer kleiner, wie sie dem Vater gegenüber beklagte.270 Berghes und der zeitweise umstrittene Sekretär Maroton blieben die treuen Stützen der Regentin. schaft war der Haushalt Karls dann ein Streitpunkt zwischen Margarete und Maximilian. Walther 1911, 104 Anm. 1 bezieht sich auf ein Schreiben Gattinaras, wenn er schreibt: „September 1507 meint Maximilian, Prinz Karl solle keinen eigenen Hofhalt haben, sondern zu Margarete gezogen werden und gewöhnlich bei ihr essen.“ 269 Le Glay 1839, 1, 498 Nr. 374 (13.3.1511; style de Rome: 1512). Sehr ins Detail gehend zu den Kontroversen um den Haushalt des Prinzen Walther 1911, 103–106. Die Zuspitzung des Konfliktes läßt sich in der Correspondance verfolgen; es seien hier nur einige Briefe aufgeführt, in denen dies besonders deutlich wird: Le Glay 1839, 1, 275 f. Nr. 209 (31.5.1510); 398 Nr. 305 (undat. minute; Walther: Juni 1510); 322 Nr. 241 (31.8.1510); 357 Nr. 270 (22.12.1510); 497 Nr. 373 (13.3.1511; style de Rome: 1512). Auch nach der Aufstellung des Etats waren die finanziellen Probleme keineswegs gelöst, wie weitere Briefe beweisen: ebd. 2, 219 Nr. 552 (Mitte November 1513); 161 Nr. 500 (30.12.1513). Ferner geben die Beilagen zu Walther 1911 Aufschluß über die Engpässe im Haushalt, so S. 217 f. (Beil. 6 f.: Briefkonzepte Margaretes vom 30.7. und 2.8.1513). 270 Le Glay 1839, 1, 423–425 Nr. 322; undatiert; Walther: Ende Juli 1511).

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In den Plänen Margaretes zur Annäherung an England spielte die bereits 1506 von Philipp vorverhandelte Verlobung Karls mit Mary, der Schwester Heinrichs VIII., eine ganz erhebliche Rolle. Während Chièvres die Heirat mit allen Mitteln zu verhindern suchte, drängte der englische König auf raschen Vollzug. Eine dritte Partei am Hof bildeten die kastilischen Adligen, die als Anhänger Philipps – und Gegner Ferdinands von Aragon – nach 1506 in die Niederlande geflohen waren und von denen einige einflußreiche Positionen in Karls Haushalt erlangt hatten bzw. mit diplomatischen Aufgaben betraut worden waren.271 Als Gegengewicht zu den Vertretern Kastiliens entsandte Ferdinand von Aragon – auch im Namen Juanas – zwei aragonesische Adlige in die Niederlande: don Juan d’Aragon, seinen eigenen Enkel, den Sohn eines Bastards, des Erzbischofs von Zaragoza, und den Comendador Juan de Lanuza. In einem Brief vom 16. Februar 1513 betonte Maximilian allerdings, daß die Entsendung der Diplomaten auf seine ausdrückliche Bitte hin erfolgt sei und daß Margarete die Aragonesen zu wichtigen Beratungen hinzuziehen solle. Im Interesse des gemeinsamen Enkels wollte der Kaiser Ferdinand von Aragon künftig als loyalen Bruder betrachten: Car puisque congnoissons par expérience que nostredit bon frère nous est loyal frère, sommes désormais délibéré vivre avec luy comme bon et loyal frère, sans luy riens céler de nos affères, ains en iceulx user de son bon advis et conseil, comme commun père d’ung mesme filz et hoir...272

Damit hatte Maximilian im Grunde einem dringenden Wunsch seiner Tochter entsprochen, die bereits im August 1512 zu einem Zusammenwirken beider Großväter zum Wohle Karls geraten hatte:

271 Zu nennen sind hier drei herausragende Vertreter Kastiliens: Dr. Pedro Ruíz de la Mota trat im Frühjahr 1508 als Rat und Erster Almosenier in Karls Haushalt ein und wurde aus den burgundischen Finanzen besoldet. Er hielt sich aber fast ständig am Hof des Kaisers auf, der ihn als Gesandten einsetzte (Walther 1911, 80. 112). Ende 1509 traf Alonso Manrique, Bischof von Badajoz, am burgundischen Hof ein, wo er zu Ratssitzungen in spanischen Angelegenheiten hinzugezogen wurde. Als Rat und Erster Kaplan Karls erhielt er ab 1511 eine Pension (ebd. 112). Die schillerndste Gestalt unter den Spaniern war don Juan Manuel, ehemals ein enger Vertrauter Philipps, der in diplomatischen Missionen eingesetzt wurde und in der Konfrontation Karls mit Margarete vor der Emanzipation des Prinzen eine entscheidende Rolle spielen sollte. 272 Le Glay 1839, 2, 92 f. Nr. 452 (16.2.1512; style de Rome: 1513). In dem Brief, in dem Maximilian seine Tochter bittet, die Adligen wohl zu empfangen und ständig in Karls Nähe zu halten, verwendet der Kaiser die Namensform de La Micha – Maximilians eigenwillige Orthographie oder ein Übertragungsfehler bei der Edition? De Lanuza (dessen Name häufig auftaucht) wohl richtig bei Walther 1911, 13 (vgl. bereits dens. 1908, 281 mit Hinweis auf den Fehler).

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Monseigneur, que n’estes point mal meu si désirés vous entretenir avec le roy d’Aragon et conduyre voz affères de son sceu et consentement; car il est en voulenté de vous assister de tout son povoir pour le commun bien de monseigneur mon nepveu [...].273

Auch aus dieser gedrängten Darstellung dürfte deutlich werden, in welchem Maße der burgundische Hof in das Zentrum politischer Interessen rückte und wie stark die Aufmerksamkeit und die Versuche der Einflußnahme sich auf die Person des Erzherzogs zu richten begannen, je näher der Zeitpunkt seiner Mündigkeit kam. Margarete wußte, daß der Kern aller Probleme in der Schlüsselstellung Frankreichs zu suchen war. Nur wenn diese untergraben wurde, konnte man auf eine Besserung der Zustände hoffen. Die Ressourcen des Herzogs von Geldern waren genauso erschöpft wie die der Niederlande: Er bezahlte seine Truppen mit französischen Ecus. Wurde ihm die Unterstützung durch Frankreich entzogen, war er zum Frieden gezwungen. In der Folge würden die Generalstände bereit sein, der Finanznot der Regentin abzuhelfen, zumal dann Forderungen auf Übernahme von Kriegskosten entfielen. Eine Schwächung Frankreichs würde gleichzeitig Chièvres und seine Anhänger an Rückhalt verlieren lassen. Die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung hatte die Regentin aufgegeben. Ihre Verhandlungen mit Charles d’Egmont hatten nichts bewirkt. Der Plan Maximilians, wohl auf das Drängen Chièvres’ zurückgehend, Frieden durch eine Heirat der Prinzessin Isabella mit Charles d’Egmont zu stiften, war 1510 nicht über einen Vertragsentwurf hinausgediehen und an der Vorsicht Maximilians und dem Mißtrauen beider Vertragspartner gescheitert.274 Auch eine Eheverbindung Eleonores mit Anton, Herzog von Lothringen, wurde zeitweilig erwogen, ebenfalls auf Chièvres’ Anregung, womit die französische Bedrohung von dieser Seite her verhindert werden sollte, aber gleichzeitig die Einbeziehung in einen frankophilen Block gegeben war.275 Der Friedensschluß von Cambrai hatte kaum eine Atempause gewährt; die Liga von Cambrai, längst brüchig geworden, hatte aus der realistischen und frankreichfeindlichen Sicht der Regentin nie eine Lösung auf Dauer sein können. Einer nach dem anderen verließen die Koalitionspartner das Bündnis, sobald es ihren eigenen Interessen gedient hatte oder durch die Veränderung der Machtver-

273 Le Glay 1839, 2, 20 Nr. 400 (12. od. 15.8.1512; Walther: 12. od. 13.8.1512). 274 Le Glay 1839, 1, 279–281 Nr. 212 (10.6.1510). Isabella war damals neun Jahre alt. Die Verlobung par parole sollte stattfinden, wenn die Prinzessin zwölf, die Eheschließung vollzogen werden, wenn sie sechzehn Jahre alt war. Keinesfalls sollte Isabella vor der Heirat nach Geldern geschickt, sondern im Grenzort Bois-le-Duc von den geldrischen Deputierten anerkannt werden, um dann unter die Obhut von Großvater und Tante zurückzukehren. Die wesentlichen Klauseln des Vertrags in Le Glay 1839, 1, 281 f. Anm. 2. 275 Le Glay 1839, 2, 204–207 Nr. 543 (Sept. 1513; Walther: Ende August 1510).

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hältnisse in Europa eine Neuorientierung geraten schien.276 So war es das Hauptanliegen der Regentin während des gemeinsamen Sommeraufenthalts 1512, auch den Kaiser zum Beitritt zu der neuen „Heiligen Liga“ zu bewegen, die sich bereits ab 1511 zu formieren begonnen hatte: Papst Julius II., Spanien, Venedig, die Eidgenossen und England verbündeten sich gegen Frankreich.277 Dem Kaiser wurde der Beitritt offengelassen. Wie aus der Aufzählung der Bündnispartner ersichtlich, war von der alten Liga von Cambrai nur noch Maximilian an der Seite der Franzosen geblieben, mit denen er im Frühjahr 1512 nochmals Siege gegen Venedig errang. Es war wohl weniger die Bündnistreue des Kaisers, die ihm den Seitenwechsel erschwerte, sondern sein Festhalten an einer Italienpolitik, von der er sich die Wiederherstellung Reichsitaliens und das endliche Gelingen seines Romzugs mit dem Höhepunkt der Kaiserkrönung versprach.278 276 Ein chiffrierter Brief John Stiles an Heinrich VIII. (Brodie 1920, 158 f. Nr. 345) vom 23. Januar 1510 informiert bereits über erste Absichten Ferdinands von Aragon, sich mit dem englischen König, Maximilian und dem Prinzen von Kastilien aufgrund der ohnehin vorhandenen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen enger zu verbünden sowie den Papst und den König von Portugal in das Bündnis einzubeziehen. Insbesondere nach der Einigung zwischen Ferdinand und Maximilian über die Regierung Kastiliens bis zu Karls Mündigkeit war für die Allianz eine solide Grundlage vorhanden. Alle Vereinbarungen sollten streng geheim getroffen werden, um sie vor dem französischen König zu verbergen: Dessen bedeutende Position in Italien war für Maximilian, Ferdinand und den Papst der tiefere Grund sich zu verbünden. 277 Der Papst verließ das alte Bündnis zuerst, nachdem er mit französischer Hilfe Teile der Romagna und der Emilia für den Kirchenstaat zurückerobert hatte. Das Ziel der von ihm initiierten neuen Liga war die „Befreiung Italiens von den Barbaren“, womit in diesem Falle die Franzosen gemeint waren, die in den päpstlichen Gebieten mit außerordentlicher Grausamkeit gewütet hatten. Noch am 2. Juni 1512 prangerte Julius II. das Vorgehen der französischen Truppen und ihrer Heerführer in einem Brief an Ludwig XII. mit scharfen Worten an (Brodie 1920, 568 Nr. 1224; Regest d. lat. Orig.): „Ravenna has witnessed horrible cruelties perpetrated by French soldiers worse even than the Turks. [...] They have treated Ravenna worse than Turks – a most ancient city, always held in great veneration by Popes and Emperors. [...] They have broken their word, and St.-Severin [einer der Heerführer] gave up the city to plunder, boasting he would serve others in the same way.“ Ein weiterer Beweggrund für den Papst, mit Frankreich zu brechen, war die Einberufung des Konzils von Pisa durch oppositionelle Kardinäle – auf Weisung des französischen Königs. In einem Brief des Ammonius an Erasmus von Rotterdam (Brodie 1920, 477 Nr. 933 [8.11.1511]) nennt der Absender als Urheber des Schismas den Kardinal von Santa Croce, denselben Carvajal, der die Mechelner Kinder konfirmiert hatte. Julius II. versuchte 1512 der drohenden Kirchenspaltung durch die Einberufung eines Laterankonzils entgegenzuwirken. 278 Die Auseinandersetzungen in und um Italien mit wechselndem Kriegsglück und zeitweiligem Ausscheren von Verbündeten sind ein Thema für sich. Hier können nur die Ereignisse berücksichtigt werden, die sich direkt auf die Entwicklung der niederländischen Verhältnisse auswirkten. Als zeitgenössische Quelle kann für die Jahre 1490–1521 Francesco Guicciardinis Storia d’Italia [zuerst 1561] herangezogen werden; sehr ausführlich

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Bevor Margarete auf den Vater einwirken konnte, hatte Ende Mai 1512 Heinrich VIII. in Übereinstimmung mit seinem Schwiegervater Ferdinand von Aragon an den Kaiser appelliert, der Heiligen Liga beizutreten und seine Aufgabe als Beschützer der römischen Kirche wahrzunehmen. Heinrich, der sehr wohl wußte, daß Maximilian den Gedanken an einen Kreuzzug nie aufgegeben hatte, ließ sehr geschickt einfließen, daß zunächst mit vereinten Kräften die Kirche gegen ihre Feinde verteidigt werden müsse, ehe ein Zug gegen die Ungläubigen ins Auge gefaßt werden könne.279 Heinrich war seinerseits bereit, Maximilian und der Regentin mit finanziellen und militärischen Mitteln gegen Geldern beizustehen: Am 19. Juni 1512 konnte Maximilian seiner Tochter mitteilen, daß ein englisches Kontingent in der Bretagne gelandet war und Brest eingenommen hatte.280 Aus den Berichten der englischen Diplomaten an ihren König geht hervor, daß Margarete seit Anfang Juni mit ihnen in laufenden Verhandlungen stand und die Zusage finanzieller Unterstützung für zunächst vier Monate erhalten hatte – als Darlehen, denn der englische König wußte: The Emperor is very poor.281 Maximilians Beitritt zur Heiligen Liga stand auch Mitte Juli noch aus. Er hatte Brüssel verlassen, und seine Tochter mußte die englischen Gesandten immer wieder vertrösten.282 Untätig war der Kaiser indes nicht gewesen. Schrittweise hatte er seinen Beitritt zur Heiligen Liga in die Wege geleitet: Im April 1512 hatte er einen Waffenstillstand mit Venedig geschlossen, der bis Januar 1513 hielt. Im Juni des gleichen Jahres löste er sich aus dem Bündnis mit Frankreich. Nachdem auch Wiesflecker 1981, 44–53 unter der Überschrift „Der große europäische Krieg um Italien“. Sehr erhellend für Einzelfragen, besonders auch hinsichtlich der Schwierigkeiten der Bündnispartner miteinander, vor allem mit Maximilian, sind die bei Brodie 1920 veröffentlichten Briefe und Dokumente, von denen etliche auch als Abstracts ihren lebendigen Charakter unmittelbarer Zeugnisse nicht eingebüßt haben. 279 Brodie 1920, 561 f. Nr. 1215 (29.5.1512, Heinrich VIII. an Maximilian, Regest d. lat. Orig): „They (Aragon and he) were, however, recalled from this project [d.h. von den Vorbereitungen für einen Kreuzzug] by appeals from the Pope whose cities were invaded by the French with more than Turkish cruelty; and he therefore decided with the King of Aragon to take up arms in defence of the Church. Now the foes of the Church, perceiving that their crimes have leagued Christendom against them pretend that they are seeking peace. Believing that under this pretence they only meditate fraud and further war, he begs the Emperor, as principal protector of the Holy Roman Church, to join the most Holy League to avenge her.“ 280 Le Glay 1839, 2, 12 Nr. 391 (19.6.1512). Es soll sich dabei um 8000 Mann gehandelt haben; Heinrich VIII. plante bereits, selbst mit 100.000 Mann überzusetzen (s. Brodie 1920, 570 Nr. 1233). 281 Brodie 1920, 569 f. Nr. 1229 (7.6.1512). 282 Brodie 1920, 591 Nr. 1289 (Young und Boleyn an Heinrich VIII., Brüssel 11.7.1512): Have no hope in my Lady’s promises, seeing the inconsistency of the Emperor in going up to Cologne, and his running from place to place without any hope of return.

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die Schweizer Mailand erobert und die Franzosen zum Rückzug über die Alpen gezwungen hatten, kamen die Verbündeten der Heiligen Liga im August in Mantua zusammen, um die Neuordnung Italiens in Angriff zu nehmen: So konnten die Medici nach Florenz zurückkehren, und mit Mailand wurde Massimiliano Sforza belehnt, der Sohn des Lodovico il Moro, der zuvor einige Zeit als enfant d’honneur und Jugendgefährte Karls am Hof zu Mecheln gelebt hatte. Die Niederlage der Franzosen in Italien hatte sich auf die Situation der Niederlande günstig ausgewirkt, da Charles d’Egmont nun mit weniger Unterstützung durch Frankreich rechnen mußte. In Brüssel wartete Margarete immer noch auf eine Entscheidung des Kaisers; in ihren Briefen drängte sie auf sein Kommen.283 Maximilian suchte seine Tochter aus der Ferne zu beruhigen und sie seiner Unterstützung zu versichern: [...] et tenès vous sceure que je ne vous abandonneray point, ne aussy mes enffans et les subjectz de par delà, mais suis délibéré de me trouver en personne tous jours ou lieu où la nécessité le requerra, et à tout aultres choses metre ordre pour avoer une bonne fin du affaere de Geldres, à la service et prouffit de mes chiers enffans et bons subjetz [...].284

Für die Regentin war der entscheidende Punkt des noch vom Kaiser zu ratifizierenden Abkommens, daß Karl als Prinz von Kastilien in die Allianz mit England, Aragon, Kaiser und Papst eingebunden wurde, aber weder er noch seine Länder in den geplanten Krieg gegen Frankreich verwickelt werden durften; ein neuer Krieg war den geplagten Provinzen nicht zuzumuten und hätte den Verlust jeglichen Rückhalts für Karl und die Regentin in den Niederlanden nach sich gezogen. Ihre Forderung nach strikter Neutralität konnte sie durchsetzen und im Wesentlichen auch aufrechterhalten, als es 1513 zum Krieg Heinrichs VIII. und des Kaisers gegen Frankreich kam. Das Jahr 1512 war für kriegerische Unternehmungen bereits zu weit fortgeschritten; die Niederwerfung Gelderns mit englischer Hilfe plante der Kaiser für das folgende Jahr. Im November 1512 schloß er zunächst das noch ausstehende Abkommen mit Julius II. und trat damit der Heiligen Liga bei, deren Ende aber bereits im Februar 1513 durch den Tod des Papstes besiegelt wurde. Giovanni de’ Medici, der am 11. März 1513 als Leo X. die Kathedra Petri bestieg, setzte die offensive Politik seines Vorgängers nicht fort. Sein Bestreben war es, die Großmächte möglichst mit diplomatischen Mitteln aus Italien zu vertreiben, um danach die christlichen Mächte in einem Zug gegen die Türken zu vereinen. Fast zeitgleich mit dem Wechsel im Pontifikat hatte sich die Lage in den Niederlanden erneut verschärft: Der Winter war ungenutzt verstrichen und die 283 Le Glay 1839, 2, 47–52 Nr. 418 (14.10.1512); 52 f. Nr. 419 (ca. 14.10.1512; Walther: 18.10.1512). 284 Le Glay 1839, 2, 381 (appendice 4; 11.9.1512).

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Verhandlungen mit England nicht zum Abschluß gebracht, als das Brandschatzen und Marodieren sich vorwiegend gegen die Orte zu richten begann, die Margarete noch Unterstützung gewährt hatten. Am 12. Februar 1513 ersuchte Margarete die Generalstände um finanzielle Hilfen für das Heer, um das Land besser schützen und vor einem weiteren Krieg bewahren zu können. Sie appellierte an die Ehre und den Stolz der Niederländer, die seit über 700 Jahren ihren Fürsten zur Seite gestanden und alle verjagt hätten, die sie hätten unterjochen wollen. Wie schon früher einmal, trat Karl zur Bekräftigung ihres Appells vor die Stände hin und bat sie, dafür zu sorgen, daß er während seiner Minorität keines seiner Länder verlöre.285 Diesmal ließen die Generalstände sich nicht erweichen; ihr Widerstand gegen eine Fortsetzung des Geldrischen Krieges wuchs, sie forderten Frieden um jeden Preis. Die Empörung der Bevölkerung regte sich gegen die Regentin und machte sich in Schmähschriften Luft, die in der Nacht vom Karfreitag (25. März 1513) an den Kirchentüren angeschlagen wurden. Der Brief Margaretes, wohl um den 28. März geschrieben, ist ein Hilferuf an den Vater, den sie bittet, schnell zu kommen: Monseigneur, nostre peuple desdits Estas est d’une si maulvaise nature, que il ne me semble point que il soit conduysable en manière quelconque, si ce n’estoit au moyen de vostre venue, qu’est toujours plus que nécessaire [...] Monseigneur, pour ce que le peuple m’a trouvé tousjours conforme à vostre désir et preste à vous obéir de mon povoir, tant en cest affaire de Gheldres que aultres choses, il commence, par l’enhort d’aucuns maulvais espritz, comme il fait à croire, à murmurer sur moy, disant que je ne demande que la guerre et les destruyre, comme vous avés fait çà devant, et plusieurs aultres maulvaises parolles tendans toutes à commocion de peuple; et que pys est, la nuyt du vendredy saint s’avancèrent secrètement de planter aucuns billietz ès portes de l’esglise de ceste ville, à ma dérision et contemnement [...] Par quoi, Monseigneur, povés assés comprendre l’extrémité desdits affaires. Si vous supplie, Monseigneur, très humblement avancer vostredite venue [...]286

Die Unsicherheit, die nach der Auflösung der Heiligen Liga hinsichtlich der Formierung neuer Allianzen bestand, hatte Maximilian vermutlich endlich bewogen, seine Entscheidung für das Bündnis mit England nicht länger hinauszuschieben. Er bat die Regentin, den Vertrag zu den zuletzt mit Heinrich VIII. ausgehandelten Bedingungen in aller Eile abzuschließen.287 Am 5. April 1513 wurde das Offen285 Henne 1865, 116 f. setzt die Ereignisse mit 1512 ein Jahr zu früh an; der gleiche Irrtum ist ihm für das Geschehen um die Verhaftung des Juan Manuel im Januar 1514 unterlaufen. Es kann sich auch hier nur um eine Folge der unterschiedlichen Datierungen der Quellen nach vieux bzw. nouveau style handeln; vgl. Walther 1911, 120 Anm. 1. 286 Le Glay 1839, 1, 504–507 Nr. 380 (undat. minute, vom Hg. unter 1511 eingeordnet; Walther: ca. 28.3.1513, was mit den Angaben im Brief selbst und den Osterdaten übereinstimmt). 287 Brodie 1920, 771 Nr. 1679 f. (zwei Briefe Maximilians an Margarete, 16.3.1513).

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Frühe Jahre im Bannkreis des burgundischen Hofes und seiner Tradition

sivbündnis zwischen dem Kaiser und dem englischen König, in das der Prinz von Kastilien ausdrücklich eingeschlossen war, die sog. Liga von Mecheln, vertraglich festgelegt.288 Das Bündnis, das Frankreich und Venedig mit dem gemeinsamen Ziel der Rückeroberung der Lombardei im März geschlossen hatten, dürfte die Entschlußfassung der Mechelner Vertragspartner nicht unerheblich beeinflußt haben. Das Vorhaben der vereinigten Venezianer und Franzosen wurde allerdings durch die vernichtende Niederlage vereitelt, die ihnen die Eidgenossen bei Novara beibrachten (6. Juni 1513). Für Ludwig XII. endete damit sein militärisches Engagement in Italien; erst sein Nachfolger Franz I. nahm die aggressive Italienpolitik wieder auf und hatte sich dann mit Maximilians Nachfolger, Karl V., auseinanderzusetzen. Am 30. Juni landete Heinrich VIII. in Calais, der einzigen Bastion, die England von den Eroberungen des Hundertjährigen Krieges geblieben war. Der erst 22jährige König gestaltete die folgenden drei Wochen zu einer Demonstration seiner Macht und seines Reichtums; mit Banketten, Turnieren und glanzvollen Auftritten wußte er die ausländischen Diplomaten zu beeindrucken, die das Geschehen und die Kriegsvorbereitungen aufmerksam verfolgten. Neben der erneuten Niederlage der Franzosen verfehlte das machtvolle Auftreten Heinrichs VIII. nicht seine Wirkung auf Charles d’Egmont: am 31. Juli 1513 schloß er einen vierjährigen Waffenstillstand mit der Regentin, dem auch der Kaiser zustimmte.289 Inzwischen, am 19. Juli, war Maximilian in den Niederlanden eingetroffen. Schon am folgenden Tag bat er seine Tochter, mit Karl in Brüssel zu bleiben und auch die Prinzessinnen dorthin kommen zu lassen, sobald er nach ihnen schickte. Dieses Mal ging es nicht um einen unbeschwerten Sommeraufenthalt: Die Vorbereitungen für den Kriegszug gegen Frankreich waren in vollem Gange, und der Kaiser ließ die Tochter wissen, daß die nächsten Tage schon neue Dispositionen erfordern könnten.290 Die Antwort Margaretes, schon am Folgetag abgefaßt, drückt die Freude und Erleichterung aus, die sie über das Kommen des Vaters empfand, das sie mit dem Neffen und den Nichten erwartete: Monseigneur, j’ay esté si joieuse que de chose qui m’eust sceu advenir en ce monde; car 288 Ferdinand von Aragon, dessen Beitritt zum Zeitpunkt des Schreibens gesichert schien, schloß am 1. April 1513 einen Sonderfrieden mit Frankreich – zur herben Enttäuschung und Verunsicherung Maximilians (s. dazu das Schreiben Heinrichs VIII. an den Diplomaten Sir Edward Ponynges bei Brodie 1920, 785 Nr. 1724). 289 Der Vertrag wurde am 10. August 1513 veröffentlicht. Die Hauptorte Brabants und Hollands hatten ihn ebenfalls besiegelt. Die Stände Brabants drückten ihren Dank durch eine Gabe von 20.000 Livres an die Regentin aus, die sich ihrerseits beeilte, alle fremden Hilfstruppen zum Abzug und zum Eintritt in den Dienst Heinrichs VIII. zu bewegen (n. Henne 1865, 143). 290 Le Glay 1839, 2, 179 Nr. 514 (20.7.1513).

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la chose que plus ay de piéçà désiré c’est vous veoir [...]291 Im gleichen Schreiben informiert sie den Kaiser, daß der conseil den Waffenstillstand mit Geldern in der von Maximilian akzeptierten Form angenommen habe und sie in den nächsten Tagen die Zustimmung auch der Deputierten erwarte. Sie vergaß jedoch auch nicht – eine private Notiz am Rande – den Vater zu fragen, welches Quartier sie in Brüssel für ihn vorbereiten lassen solle. Der Kaiser wünschte alles in gewohnter Weise arrangiert zu haben, legte aber Wert darauf, daß Karl im Nachbarzimmer untergebracht würde.292 Den Wunsch der Tochter, ihm entgegenzureisen, lehnte er allerdings ab.293 Die Engländer hatten zu dieser Zeit bereits mit der Belagerung von Thérouanne begonnen.294 Das Zusammentreffen von Vater und Tochter fand am 27./28. Juli in Brüssel statt; am 29. schloß sich eine gemeinsame Wallfahrt nach Hal an, wie es vor dem Kriegszug wohl angebracht erschien. In Hal müssen die beiden den Entschluß gefaßt haben, die Kinder wieder einmal in Mecheln in Sicherheit zu bringen, denn schon am nächsten Tag teilte Margarete dem Vater mit, daß sie die Geschwister von der bevorstehenden Abreise informiert habe. Es fehlte nur an der nötigen Begleitung, denn es war kein Geld vorhanden, die Verlegung der Offiziere und Bogenschützen zu bezahlen.295 Der Kaiser reagierte prompt und versprach, sogleich die nötigen Gelder anweisen zu lassen. Die jungen Edelleute, Karls Jugendgefährten, sollten ebenfalls nach Mecheln zurückkehren.296 Als Geleitschutz schickte Maximilian noch 30 seiner eigenen Hellebardiere.297 Die Sorge des Kaisers, daß sich seine Gegner des Enkels bemächtigen und ihn als Geisel in erpresserischer Absicht einsetzen könnten, muß sehr groß gewesen sein: er hatte Ähnliches bereits erleben müssen. Am 3. August erfolgte die Übersiedlung der Geschwister und ihrer Gefährten, obwohl Margarete am Tag zuvor noch nicht wußte, wie sie den Umzug des gesamten Haushalts finanzieren sollte.298

291 Le Glay 1839, 2, 181 f. Nr. 516 (21.7.1513). 292 Le Glay 1839, 2, 182 f. Nr. 517 (23.7.1513). 293 Walther 1911, 216 (Beilage 5; 21.7.1513). 294 Margarete hatte Kenntnis davon, auch von Einzelheiten zum Stand der französischen Seite, und schickte dem Vater entsprechende Botschaften (Le Glay 1839, 2, 238 f. Nr. 561 (undat. minute; Walther: 22./23.7.1513). 295 Walther 1911, 217 (Beilage 6; 30.7.1513). 296 Namentlich erwähnt wird der junge duc de Zaxssen; dabei muß es sich um Johann von Sachsen gehandelt haben, den Sohn des Gouverneurs von Friesland, der von 1511–1514 mit Karl am Hof von Mecheln erzogen wurde. Vgl. Moeller 1895, 56. 297 Le Glay 1839, 2, 190 f. Nr. 525 (1.8.1513). 298 Walther 1911, 217 f. (Beilage 7). Nach dem Itinerar (Voyages II 12) blieb Karl vom 3. August bis zum 6. Oktober 1513 in Mecheln.

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Der Kaiser zog inzwischen mit einer kleinen Truppe burgundischer Lehnsleute nach Thérouanne – sein Kontingent umfaßte nur etwa 1000 Mann: Wegen der Neutralität der Niederlande hatte er keine Verstärkung aus den Provinzen anwerben dürfen. Am 10. August traf er mit Heinrich VIII. zusammen. Maximilian war keineswegs als „Söldner“ oder Condottiere des englischen Königs ins Feld gezogen: Als erfahrener Heerführer übernahm er die Leitung des Feldzuges und erwies sich gegenüber Heinrich VIII. als „Lehrer der Kriegskunst“. Schon am 16. August bestanden die vereinigten Truppen unter Führung des Kaisers bei Guinegate siegreich ihre erste Bewährungsprobe, am gleichen Ort, wo der junge Maximilian 1479 einen ersten Triumph über eine französische Übermacht errungen hatte. Vor Thérouanne änderte er die Belagerungstaktik so erfolgreich, daß die Festung sich am 23. August ergab. Anschließend zogen die beiden Herrscher nach Lille, wo sich auch Margarete auf Wunsch ihres Vaters eingefunden hatte, jedoch nicht nur, um an den glänzenden Siegesfeiern teilzunehmen. Bis Mitte Oktober zogen sich die Verhandlungen hin, die folgende Punkte betrafen: (1.) eine Bestätigung der Liga von Mecheln mit dem Ziel, im folgenden Jahr den Krieg gegen Frankreich wiederaufzunehmen, (2.) die Festsetzung der Heirat Karls mit Mary von England für 1514, und (3.) die Unterzeichnung eines für die Niederlande äußerst vorteilhaften Handelsvertrages. Heinrich VIII. unterschrieb die Verträge nicht nur als König von England, sondern auch als Rex christianissimus, König von Frankreich: Am 23. September hatte sich die Stadt Tournai nach einem Artillerieangriff ergeben und war von Heinrich für England in Besitz genommen worden. Als ebenso kurzlebig wie die genannten Verträge sollte sich Heinrichs französisches Königtum erweisen; von Bedeutung für Karl, seine weitere Erziehung und sein Verhältnis zu Margarete sollte ein Punkt sein, der schon am 12. und 13. September erörtert wurde, woran sich die Dringlichkeit der Angelegenheit erkennen läßt: Margarete war es nicht verborgen geblieben und hatte sie zuweilen mit Bitterkeit erfüllt, daß Karl ihrer Leitung entglitten war. Von den einander feindlichen Gruppierungen am Hofe war bereits die Rede: Chièvres aber, das Haupt der „französischen Partei“,299 der sich die Kastilier aus Gegnerschaft zu Ferdinand von Aragon angeschlossen hatten, hatte als Gouverneur seinen Einfluß auf seinen Zögling auszubauen gewußt und war dessen engster Vertrauter geworden, so daß er Karl leicht von seinen politischen Zielen überzeugen konnte, die denen der Regentin entgegengesetzt waren. Die Kastilier hatten ebenso leichtes Spiel bei ihrem Prinzen, den sie in die ihnen nützliche Richtung zu lenken versuchten – im Hinblick auf den Tag, an dem er König von Kastilien sein würde; waren sie doch diejenigen 299 Diese Gruppe um Chièvres wird in der Literatur häufig, so auch bei Walther, als „die Burgunder“ oder als „burgundische Nationalisten“ bezeichnet; dabei handelt es sich um die seigneurs, den alten Feudaladel mit seinen vielfältigen familiären Verflechtungen mit Frankreich.

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gewesen, die unter Philipp neben den niederländischen Amtsträgern am meisten profitiert hatten. Ferdinand von Aragon hatte seit geraumer Zeit versucht, eine Entfernung Chièvres’ und seiner Anhänger aus der Umgebung Karls zu erwirken, wie der englische Agent Spinelly seinem König vom Hofe Margaretes mitteilte: The ambassador of Aragon is endeavouring to remove Chièvres and his adherents from their places about the Prince, so as to replace them by persons agreeable to his master, and to drive Don Juan Manuel from the Court.300

Der König von England war ebenso wie Ferdinand von Aragon, Margarete und der Kaiser in höchstem Maße daran interessiert, den künftigen Herrn der Niederlande und Kastiliens, vielleicht beider spanischer Reiche, auf der „richtigen“ Seite zu wissen. Die Zeit, noch Einfluß auf ihn zu nehmen, wurde knapp, denn nach Landessitte wurden die Herzöge von Burgund mit fünfzehn Jahren für mündig erklärt. Von diesem Zeitpunkt an konnte der junge Fürst seine Berater selbst auswählen. Welche Macht dem conseil eines Fünfzehnjährigen damit in die Hand gegeben wurde, war allen bewußt. Schon ein Brief Maximilians an den Enkel in Mecheln ließ keinen Zweifel an der Einstellung des Kaisers zu Frankreich und an den Erwartungen, die er in den Erben seiner Politik setzte: [...] je vous tiens assez averti [...] de la bonne victoire tant du rencontre des ordonnances de France, que de la prinse de la cité de Thérouenne, que moy et mon bon frère le roy d’Engleterre nostre allyé avons nagaires eu allencontre des François anchiens et aincores naturelz ennemis de nostre maison de Bourgogne. Et pour ce que estes maintenant avec tous voz pays neutres, néantmoins j’espère bien avec nostredit bon frère procéder oultre, et tellement abaisser au moins pour X ans l’orgueil desdits François, et aussi les entreprinses que journellement font sur nous comme en Gheldres, Luxembourg et ailleures, et paravanture conquester les pays que de droit apartiennent à nostredite maison, et aprez vous ainsi monstré le chemin, remetterons à vous, pour vaillanment vous deffendre, comme ont fait passé C ans noz prédécesseurs.301

Wie erfreulich das Zusammentreffen des Kaisers und des englischen Königs in Lille verlief, wie man den Sieg feierte und nur Karl dabei fehlte, führte Margarete dem Neffen vor Augen. Heinrich wünschte, den Prinzen zu sehen, den künftigen Schwager und Verbündeten.302 Am 6. Oktober brach Karl zu seinem ersten „Staatsbesuch“ auf, nicht etwa nach England, wie man gelegentlich lesen kann, sondern in die gerade für England eroberte Stadt Tournai, eine Enklave auf französischem Boden, nahe der niederländischen Grenze. Der Kaiser war bereits abgezogen, als der Erzherzog in Tournai am 10. Oktober dem englischen König erstmals begegnete: der schmächtige, blasse und zurückhaltende Knabe dem statt300 Brodie 1920, 771 Nr. 1683 (18.3.1513). 301 Walther 1911, 218 f. (Beilage 8: Briefkonzept, Anfang September 1513). 302 Ebd. 219 (Beilage 9: Briefkonzept, vermutlich 13.9.1513).

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lichen, glänzend auftretenden Herrscher, der sich aber dem jungen Verwandten gegenüber durchaus jovial gab. Ein Aufenthalt in Lille schloß sich an (13.–19. Oktober), bei dem auch Margarete zugegen war. Fast vierzig Jahre später leitete Karl seine Memoiren, die Commentaires,303 mit der Erwähnung dieses Ereignisses ein und markierte damit das Datum, das für ihn selbst als sein Eintritt in das politische Leben galt. Aus den knappen, unpersönlichen Worten läßt sich allerdings nicht erkennen, welchen Eindruck die Begegnung auf den Knaben gemacht hat: Nach der Eroberung dieser Stadt [Thérouanne] begann man die Belagerung von Tournay, das kurze Zeit darauf sich gleichfalls ergab. In Folge dieses Ereignisses begab sich der Erzherzog Karl, des Kaisers Enkel, nach Tournay, welches sich damals im Besitz des Königs Heinrich befand, und nach Lille, wo derselbe seine erste Zusammenkunft mit diesem König hatte, bei welcher unter andern [!] über dessen Volljährigkeitserklärung unterhandelt und dieselbe beschlossen wurde. Dies hatte im Jahre 1515 statt, worauf er sofort in den genannten Staaten als Landesherr anerkannt wurde.304

Über das künftige gouvernement de la personne des Prinzen wurde in Lille bis zur Abreise des englischen Königs am 17. Oktober verhandelt; zwei Tage später wurde die neue Ordonnanz publiziert. Danach sollten der Kaiser, der englische König und Ferdinand von Aragon jeder eine vornehme Persönlichkeit als Vertreter ihrer Interessen bei der Erziehung des Prinzen bestimmen. Die drei Delegierten sollten gleichberechtigt sein und im Rang eines premier chambellan stehen; jeder von ihnen sollte einen Schlüssel zum Zimmer Karls erhalten, wo jeweils einer von ihnen schlafen sollte. Alle drei sollten sich ferner ständig in der Nähe des Prinzen aufhalten und an allen geheimen Ratssitzungen teilnehmen. Der Vorsitz über dieses „Triumvirat“ wurde Margarete zugesprochen. Maximilian beauftragte den Pfalzgrafen Friedrich von Baiern; in Abstimmung mit Ferdinand von Aragon setzte die Regentin als dessen Vertreter Juan de Lanuza ein; Heinrich VIII. wurde durch den Herrn von Ysselstein repräsentiert.305 Dem Prinzen können die bevor303 Erhalten nur in einer portugiesischen Übersetzung aus dem Jahre 1620. Auf dieser Fassung basiert die französische Ausgabe durch J. Kervyn van Lettenhove (wieder abgedruckt bei Madariaga 1969, 169–267). Ich benutze im folgenden die deutsche Fassung von L. Warnkönig (Kervyn van Lettenhove 1862). 304 Kervyn van Lettenhove 1862, 4. Der letzte Satz der Passage, ungeschickt formuliert oder übersetzt, kann sich nur auf die Emanzipation Karls beziehen. 305 Walther 1911, 116–119; dort auch weitere Details zu der Ordonnanz. – Mit Floris Graf Egmond, Herrn von Ysselstein, bestimmte Heinrich VIII. zwar einen Niederländer zu seinem Vertreter, der jedoch dem englandfreundlichen Kreis um Berghes angehörte und als „Insider“ über genaue Kenntnis der Verhältnisse am burgundischen Hof verfügte. Er entstammte einer jüngeren Linie des Hauses Egmont, deren Herrschaft 1486 von Maximilian zur Grafschaft erhoben worden war, als Gegengewicht zur älteren Linie, die die Herzöge von Geldern stellte. Ysselsteins Besitz lag in Holland, der vom Englandhandel abhängigen Provinz der Niederlande. Im Mai 1514 nannte Heinrich VIII. den Grafen ausdrücklich in

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stehenden schwerwiegenden Veränderungen in seinem Haushalt, mehr noch, in seinem ganz persönlichen Umfeld, nicht unbemerkt geblieben sein. Dennoch sind wir über seine Reaktion darauf nicht unterrichtet. Margarete aber, die die Verhandlungen in Abwesenheit des Kaisers – natürlich in ihrem Sinne – zu Ende geführt hatte, sah sich den Protesten der Burgunder und der Kastilier ausgesetzt, die sich in der Person Dr. Motas direkt an den Kaiser wandten. Obwohl die Regentin ihrem Vater die neue Ordonnanz unmittelbar nach deren Erarbeitung hatte zukommen lassen, hatte er bisher nicht dazu Stellung genommen. Sie bat ihn nunmehr, nichts in der Sache zu entscheiden, bevor er nicht ihre Version der Angelegenheit gehört hätte.306 In einer Rechtfertigungsschrift gegenüber Chièvres hob die Regentin hervor, daß die Maßnahmen getroffen werden müßten, um Karl dem Einfluß derjenigen zu entziehen, die durch unwahre und unloyale Berichte, die Jugend und Unerfahrenheit des Prinzen ausnützend, ihn gegen diejenigen aufbrächten, die nur Liebe und Zuneigung für ihn empfänden. Insbesondere richteten sich die Vorwürfe gegen die spanischen Flüchtlinge, die Haß gegen Ferdinand verbreiteten. Margarete selbst fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt und in ihren Motiven mißverstanden, zumal sie – ihren Worten nach – nur gemäß dem Auftrag des Kaisers verhandelt und gehandelt hatte.307 In einem streng vertraulichen Schreiben an Hans Renner, den Sekretär Maximilians, unterstützte sie Anfang November 1513 das dringende Anliegen Ferdinands von Aragon, don Juan Manuel, den Anführer der Kastilier am Hofe, aus der Umgebung des Prinzen zu entfernen, zu dessen Bestem und im Interesse der Eintracht und der Allianz von Kaiser und König – damit sie nochmals gemeinsam gegen Frankreich vorgehen könnten.308 Diese letzten Versuche Margaretes, die Kontrolle über den Prinzen wiederzugewinnen, waren zum Scheitern verurteilt; zu weit waren ihr die Zügel entglitten. Auch die – mit Zustimmung des Kaisers vom 10. Januar 1514 erwirkte – Verhaftung des Juan Manuel am 17. des gleichen Monats verfehlte ihr Ziel und sollte mit ihren Nachwirkungen auf Margarete zurückfallen. einer Liste niederländischer Adliger, die er in seinen Dienst nehmen wollte; vgl. Walther 1911, 17. 138. 306 Le Glay 1839, 2, 210 f. Nr. 547 (29.10.1513). Der Widerstand der Burgunder und der Kastilier gegen Margarete, die 1513 in gutem Einvernehmen mit Ferdinand von Aragon stand, hatte sich bereits seit März d. J. verstärkt. Der Kastilier Diego de Castro, „Sekretär für die spanische Zunge“ am Hofe, versuchte durch sein Intrigieren für Frankreich die politischen Pläne der Regentin zu durchkreuzen. Margarete ließ ihn verhaften (am oder vor dem 11. Juli 1513, denn von diesem Datum liegt ein Protokoll über ein Verhör de Castros vor); vgl. Walther 1911, 114 Anm. 4. 307 Walther 1911, 221–224 (Beilage 12). Die Rechtfertigungsschrift geht auf zwei Konzepte zurück, die die Regentin Ende Oktober 1513 abfaßte. 308 Ebd. 224 f. (Beilage 13).

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Das Jahresende 1513 und der Verlauf des folgenden Jahres ließen fast ausnahmslos alles zusammenbrechen, was die Regentin im Laufe ihrer Amtszeit aufgebaut hatte: Bereits im Herbst, nachdem der Kaiser und der englische König abgezogen waren, begannen trotz des auf vier Jahre vereinbarten Waffenstillstands die geldrischen Übergriffe erneut, wiederum mit französischer Unterstützung. Die Finanzen der Niederlande waren so zerrüttet, daß die Soldaten nicht bezahlt werden konnten. Man begann sogar der Regentin zu unterstellen, daß sie die Hilfsgelder der Engländer zu ihrem eigenen Profit genutzt hätte, wie sie in einem Brief an den Vater verbittert und verletzt beklagte.309 Die mit so viel Mühe verabschiedete neue Ordonnanz zeigte keine Wirkung auf die Erziehung Karls. Chièvres’ Einfluß blieb so groß, daß Heinrich VIII. im Juni 1514 geäußert haben soll, die neuen Erzieher Karls hätten nicht mehr Einfluß, als ob sie in Rom wären.310 Besonders hart dürfte die Regentin der völlige Wandel in den außenpolitischen Verhältnissen getroffen haben: Die „Dreieinigkeit“, wie Maximilian sein Bündnis mit den Königen von England und von Aragon einmal genannt hatte, zerbrach, eben das Vertragswerk, das in voller Übereinstimmung mit Margaretes eigenem politischen Konzept gestanden hatte und das durch Karls englische Heirat bekräftigt werden sollte. Maximilian hatte im Oktober 1513 noch einmal einen Kriegszug gegen Venedig unternommen, wobei er zunächst gemeinsam mit den spanischen Truppen Ferdinands einen glänzenden Sieg bei Vicenza errang (7. Oktober 1513). Ein Vermittlungsversuch Leos X., den die bedrängten Venezianer zu Hilfe gerufen hatten, scheiterte, so daß der Krieg fortgesetzt und Maximilians Armee an den Rand des Zusammenbruchs gebracht wurde. Der Kaiser wie auch Ferdinand von Aragon waren im Grunde kriegsmüde, beide begannen die Last der Jahre zu spüren. Eine Lösung schien sich mit einer erneuten Annäherung an Frankreich anzubieten, dem zeitweiligen Verbündeten Venedigs. Die darauf gerichteten Verhandlungen mit Ludwig XII. wurden streng geheimgehalten: Man mußte Rücksicht auf den englischen Bündnispartner nehmen. Ludwig XII. machte ein verlockendes Angebot in Form eines Doppelheiratsvertrages, der die Häuser Habsburg-Burgund, Trastámara und Valois verbinden und Frieden schaffen sollte: Der Infant Ferdinand sollte Renée, die Tochter Ludwigs, heiraten, während Ludwig selbst Maximilians Enkelin Eleonore zur Gemahlin nehmen wollte. Als Renées Mitgift stellte er ein „Königreich Lombardei“ in Aussicht.311 Kaum waren diese Verhandlungen in ihr erstes Stadium getreten, als Ludwig den englischen 309 Le Glay 1839, 2, 216–219 Nr. 552 (Mitte November 1513). 310 Walther 1911, 123 (nach der Korrespondenz Heinrichs VIII. mit Margarete in den Archives du Nord, Lille. Die von Walther angeführten Portefeuille-Signaturen der dortigen Missivenbestände sind nicht mehr gültig und werden deshalb im folgenden fortgelassen). 311 Der Plan des französischen Königs zu einer Heiratsverbindung mit dem Hause Maximilians war nicht neu: Bereits im Frühjahr 1511 schrieb der Kaiser von einer möglichen Ehe

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König davon in Kenntnis setzte. Heinrich VIII. sah sich betrogen und wandte sich dem Franzosen zu: Zunächst kam es zu Verhandlungen über eine Rückgabe Tournais an Frankreich, der Festung also, die der Kaiser und seine Regentin gern weiterhin zur Grenzsicherung unter einer englischen Besatzung gesehen hätten;312 dann, im August 1514, löste er die langjährige Verlobung seiner Schwester Mary mit Karl, um sie, gegen ihren ausdrücklichen Willen, mit dem 52jährigen französischen König zu vermählen.313 Margaretes Mißtrauen gegenüber Frankreich war stets wach geblieben. Seitdem Ferdinand von Aragon den Kaiser durch seinen Sonderfrieden mit Frankreich (1513) getäuscht hatte, traute sie auch ihm nicht mehr völlig und warnte den Vater eindringlich. Sie muß zudem geheime Informationen über das Eheprojekt für den Infanten und Renée gehabt haben. Gerade angesichts dieser möglichen neuen Verbindung war das Festhalten Maximilians an dem englischen Bündnis unbedingt erforderlich. Die Regentin wußte nur zu gut, daß es in ihrem Umfeld viele gab, denen an einem Ende der Freundschaft mit England gelegen war und die dies zu erreichen hofften, indem sie Zwietracht zwischen Maximilian, Ferdinand und Margarete säten und damit das Auseinanderbrechen der „Dreieinigkeit“ beförderten, die den Niederlanden Schutz gewährte. Ihre Warnungen an den Kaiser finden konzentrierten Ausdruck in einem Satz: Monseigneur, entre le roy catholique et France il y a de grandes montaignes, et entre France et Angleterre est la mer; mais entre ses pays et France n’y a point de séparation; et vous scavés la grande et invétérée inimitié que les François portent à ceste maison.314 Das Zustandekommen der englisch-französischen Eheschließung bedeutete für sie mithin mehr als das Scheitern eines weiteren habsburgischen Heiratsprojektes.315 Es stellte das Ende der jahrelangen politischen Bestrebungen der Regentin dar, die weit über den bloßen Abschluß von Bündnissen hinausgingen, die aller Erfahrung nach nur auf Zeit angelegt waren; ihr Ziel war eine dauerhafte Bindung an England durch die Verbindung der beiden Dynastien. Die offene Auflehnung Karls gegen Margarete im letzten Jahr seiner Minorität erweckte den Anschein, als habe sie auch als Vormund versagt und Chièvres auf ganzer Linie den Sieg davongetragen. Wäre das der Fall gewesen, so wäre Renées mit Karl (Le Glay 1839, 2, 378 f. [appendice 2; 23.3.1511]). Zu dieser Zeit stand Maximilian noch an der Seite Frankreichs gegen Venedig. 312 Erst 1518, im Vertrag von London, erfolgte die Rückgabe, für die Franz I. 600.000 Goldkronen zu zahlen bereit war (Juste 1858, 114 Anm. 1; ausführlich dazu Pirenne 1953, 94). 313 Tamussino 1995, 164. 314 Le Glay 1839, 2, 225–229 Nr. 555 (24.2.1514), hier 227. 315 Auf die zahlreichen Heiratsprojekte für Karl, z.T. auch für seine Geschwister, auf die Hintergründe und die Ursachen des Scheiterns wird an späterer Stelle eingegangen.

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Margaretes erster Regentschaft nicht schon so bald die zweite gefolgt: Zwar setzte Karl sie nicht, wie gelegentlich behauptet wird, schon 1517, vor seinem Aufbruch nach Spanien, wieder als Statthalterin ein, sondern gestand ihr zunächst nur beratende Funktion in einem Regentschaftsrat zu, erweiterte aber ihre Kompetenzen schrittweise bis zur erneuten Übertragung des Amtes 1519:316 ein Beweis des Vertrauens und der Anerkennung ihrer Fähigkeiten gegenüber der Frau, die ihm nicht nur die Mutter ersetzt hatte, sondern stets für seine Rechte und seine Länder eingetreten war. Die Fülle der Details aus den Jahren 1506–1514, die hier ausgebreitet wurde, widerlegt die oft geäußerte Behauptung, daß über die frühen Jahre Karls V. wenig bekannt sei. Weitere Einzelheiten werden das Bild ergänzen, wenn in den folgenden Abschnitten die Jugend des Prinzen unter anderen Aspekten als dem seines familiären Umfelds betrachtet wird. Man darf sogar behaupten, daß sich über Karls Jugend, insbesondere dank der Korrespondenz des Kaisers und seiner Tochter, mehr in Erfahrung bringen läßt als über die frühen Jahre anderer Herrscher, die oft durch nachträgliche Legendenbildung verklärt worden sind. Von wem kann man im Allgemeinen etwas über Ereignisse in der frühen Jugend, über den Alltag und die Erlebnisse von Kindern erfahren? Üblicherweise sind es die Eltern, die mit ihren Erzählungen, mit Briefen, Tagebüchern oder mit Bildern die Erinnerung an die Kindheit bewahren, bei den Heranwachsenden wachhalten und über die Erwachsengewordenen an die nächste Generation weitergeben. Unter diesem Gesichtspunkt kommt der Correspondance herausragende Bedeutung zu, denn hier liegen uns nicht die geschönten Berichte von Hofhistoriographen oder die kritischen von Diplomaten vor, wobei letztere im Regelfall nur die sorgfältig inszenierten offiziellen Auftritte zu Gesicht bekamen. Wie bereits am Anfang dieses Abschnitts gesagt wurde, haben wir in der Correspondance eher, soweit es um die Kinder geht, die Briefe von Eltern vor uns. Damit ist auch die Rolle definiert, die Margarete und Maximilian in der Jugend Karls und seiner Schwestern spielten. Als sie die gemeinsame Verantwortung für die Kinder übernahmen, war Margarete eine junge Frau, gleichaltrig mit Juana; Maximilian war mit 47 Jahren beileibe noch kein „alter“ Großvater. Der Erzherzogin waren eigene Kinder versagt geblieben; Maximilian hatte man Sohn und Tochter während ihrer Kindheit weitgehend oder ganz entzogen. Beide hatten 1506/07 nicht gezögert, die Vormundschaft für die „burgundischen Kinder“ zu übernehmen; über dieses Amt, diese rechtlich fixierte Stellung wuchsen sie hinaus in die Rolle der Eltern: Aus den „enfants abandonnés“ wurden ihre communs enfans.

316 Ausführlicher dazu unten 427–432.

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Wenn A. Walther nach einer Erklärung sucht, „weshalb Maximilian wie Margarete nicht den geringsten Einfluß auf den Knaben [Karl] ausgeübt haben“317 und L. Delfosse diese Frage wörtlich und kritiklos übernimmt,318 so muß man die Gegenfrage stellen, was sich die Autoren unter der Einflußnahme auf Kinder vorgestellt haben. Sie beginnt zu Hause, in der Familie, mit den Gegebenheiten des täglichen Lebens. Nach den Erfahrungen, die Maximilian und Margarete gemacht hatten, galt ihre vordringliche Sorge der Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit ihrer Schützlinge. Ruhe und Sicherheit gewährleistete der Keyzerhof in Mecheln in den ersten Jahren und auch später in Krisenzeiten, Geborgenheit die vertrauten Personen in der täglichen Umgebung, nicht zuletzt Margarete selbst, die schnell die Zuneigung der Kinder gewann. Alle Veränderungen im Haushalt wurden mit dem Vater abgestimmt. Das gemeinsame Aufwachsen von vier Geschwistern ließ eine Familienatmosphäre entstehen, wie sie an Fürstenhöfen der Zeit eher selten war. Bis 1509 wurden die älteren der Schwestern mit Karl gemeinsam unterrichtet; als die Haushalte getrennt wurden und Karl seine eigenen Lehrer erhielt, blieben die Geschwister dennoch im Keyzerhof unter einem Dach vereint. Adlige und Fürsten wandten sich an den Kaiser mit dem Ersuchen, ihre Söhne und Töchter an den Mechelner Hof zur Erziehung schicken zu dürfen. Der Kaiser traf eine sorgfältige Auswahl und empfahl dann der Regentin die Aufnahme der geeignetsten jungen Menschen in den Haushalt des Prinzen bzw. der Prinzessinnen. So hatte Karl zu seiner Gesellschaft stets etliche adlige Altersgenossen um sich, die z.T. an seinem Unterricht teilnahmen, vor allem aber zusammen mit ihm in allen ritterlichen Fertigkeiten unterwiesen wurden und untereinander wetteiferten. Mit den Prinzessinnen wurden die filles d’honneur erzogen. Wenn Poensgen schreibt, daß „Karl [...] das zwar sorgfältig beobachtete, aber letztlich doch äußerst einsame Dasein eines präsumtiven Erben mehrerer gewichtiger Throne Europas führen mußte“,319 so entspricht dies nicht dem Bild, das die Quellen vom Leben der Kinder am Hof von Mecheln zeichnen. Von dem guten Ruf, den der kleine Hof weithin genoß, war bereits ausführlich die Rede, auch davon, daß die Regentin auf einen geregelten Tageslauf und gute Sitte nicht nur in ihrem eigenen, sondern auch im Haushalt der Kinder achtete. So hatte Margarete im Einvernehmen mit Maximilian äußerst günstige Rahmenbedingungen für Karl und seine Schwestern geschaffen. Wenn dennoch gelegentlich von „umsorgten Vollwaisen“320 die Rede ist, so erweckt dies den Eindruck, als hätte man es bei dem leiblichen Wohlergehen belassen. Derartige 317 Walther 1911, 206. 318 Delfosse 1923, 19. 319 Poensgen 1960, 174. 320 Lahnstein 1979, 47.

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Formulierungen gehen von einer Vorstellung höfischen Familienlebens aus, die sich am Leitbild der gutbürgerlichen Familie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientiert, die aber keineswegs der Realität entsprach.321 Margarete sorgte dafür, daß neben den täglichen Pflichten der Kinder frohes Spiel, Musik und gemeinsame kleine Unternehmungen nicht zu kurz kamen. Es lag in Karls Stellung als Erbe begründet, daß insbesondere für ihn das Maß an Verpflichtungen schon sehr bald, spätestens ab 1509, erheblich wuchs. Darin ist ein Teil seiner Erziehung, seiner Vorbereitung auf den Tag seines Herrschaftsantritts zu sehen. Mehr Zuwendung als viele ihrer adligen Altersgenossen erfuhren die Mechelner Kinder fast täglich schon durch Margaretes liebevolle Fürsorge,322 und an der Anteilnahme und der herzlichen Zuneigung des Großvaters konnte kein Zweifel sein, wenn er auch nur selten gegenwärtig war. Demonstrative, gar öffentliche Beweise der Zuneigung sind allerdings eine Errungenschaft des späten 20. Jahrhunderts und gewiß nicht zu erwarten in einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der sich selbst nächste Angehörige in der Höflichkeitsform anredeten. Karl, den zeitgenössische Beobachter als scheu, zurückhaltend und schweigsam schildern,323 fiel es sicher nach der langen Abwesenheit Maximilians jedes Mal schwer, sich an den temperamentvollen, spontan agierenden Großvater zu gewöhnen; auch Maximilian mußte sich stets aufs neue bemühen, Zugang zu dem verschlossenen Enkel zu finden – und wenn es über die Jagdleidenschaft war, die beide teilten. Kühl oder gar abweisend war Maximilian Karl gegenüber sicher nicht.324 321 Vgl. dazu R.A. Müller 1995, 36. 322 Selbst als Karl schon weitgehend ihrem Einfluß entzogen war, im Juni 1514, ließ die Sorge der „guten Mutter“ um die Gesundheit des Prinzen nicht nach: Bei den Festlichkeiten zu Isabellas Vermählung per procuram in Brüssel hatte Karl vermutlich zu viel getanzt, sich vielleicht erhitzt, so daß er am folgenden Tag erkrankte. Fast zwei Wochen hielt das Fieber an, bevor Margarete dem Vater die erleichternde Mitteilung machen konnte, daß der Prinz fieberfrei war (Le Glay 1839, 2, 265 Nr. 577 [25.6.1514]). Zwischen dem 13. und dem 25. Juni informierte sie den Kaiser mehrfach über den Zustand seines Enkels. Seit dem Tode Philiberts und Philipps infolge plötzlicher fiebriger Erkrankungen saß die Angst tief, daß Karl ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. 323 Auf die gegensätzlichen Temperamente von Großvater und Enkel wurde bereits hingewiesen, vgl. oben 94. Auch bei der ersten Begegnung Karls mit Heinrich VIII. bemerkten die Berichterstatter den Kontrast zwischen dem zurückhaltenden jungen Prinzen und dem selbstsicheren, jovialen englischen König; vgl. oben 111 f. Da aus dem Kreis der Familienmitglieder m.W. keine Aussagen zu Karls Wesen bekannt sind, kann nur auf die Beobachtungen und Schilderungen von Außenstehenden, vorwiegend von Diplomaten, zurückgegriffen werden, die ihn allerdings vor allem bei öffentlichen Auftritten erlebten. Auf das Bild, das sich die Zeitgenossen nach diesen Darstellungen von dem Prinzen machten, wird in Kapitel III eingegangen. 324 Royall Tyler schreibt in seiner Biographie Karls V. (1959, 30): „Diese kühle Haltung des deutschen Großvaters ist vielleicht einer der Gründe für Karls Schwierigkeiten mit deut-

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Karl hat sich zwar nicht über sein Verhältnis zu seinem Großvater geäußert, man kann aber mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß er ihn bewundert hat als den glänzenden Ritter und großen Jäger, als Heerführer, der Schlachten geschlagen und viel von der Welt gesehen hatte. Die Regentin hat vor allem durch ihr Beispiel erzieherisch gewirkt mit ihren festen Grundsätzen, ihrer Verläßlichkeit, ihrem Mut zu Entscheidungen, für die sie die Verantwortung und manchmal den Groll des Vaters tragen und ertragen mußte, aber auch mit ihrer Aufgeschlossenheit und ihrer Freude an geselligem Umgang, an Kunst und Musik. Der Einfluß, den sie auf die Mädchen ausgeübt hat, mag zunächst stärker und direkter gewesen sein als der auf den Neffen, denn welcher heranwachsende Knabe orientiert sich am Beispiel einer Frau! Erst als Erwachsener vermochte Karl zu würdigen, welche Bedeutung Margarete für seine Jugend gehabt hatte. Zunächst aber mußte er sich von ihrem Einfluß freimachen, wie sich Heranwachsende von den Eltern lösen und sich neue Vorbilder suchen, an denen sie sich orientieren – gerade diese Lösung von Margarete ist ein Indiz dafür, daß die Tante auch für ihn den Platz der Mutter eingenommen hatte. Die zunehmende Dauer der Abwesenheit Karls von Mecheln läßt sich auch nicht allein mit wachsenden Verpflichtungen erklären. Waren es anfangs wenige Wochen, die er in der „Sommerfrische“ in oder nahe Brüssel verbrachte, so blieb er schließlich vier (1513), dann sieben Monate (1514) fort. Die räumliche Trennung vom Ort der Kindheit kann als Zeichen für die gewachsene innere Distanz stehen. Zwei Leitmotive, die während der Jugendjahre Karls für ihn an Bedeutung gewannen und die auf den direkten Einfluß Maximilians und Margaretes zurückgehen, verließen ihn zeitlebens nicht mehr: Das Bewußtsein, einer der bedeutendsten Dynastien Europas anzugehören, was nicht nur Privileg, sondern in erster Linie eine Verpflichtung bedeutete, der sich alles Persönliche unterzuordnen hatte, und das Festhalten an Burgund, dem alten Burgund Karls des Kühnen, wenn nicht als politischer Realität, so doch als der eigentlichen geistigen Heimat, als nuestra patria, wie er es noch seinem Sohn ans Herz legte.

scher Art und deutscher Sprache, die er niemals ganz überwand.“ Auf die mangelnde Sprachbegabung Karls, die sich nicht nur beim Erlernen des Deutschen zeigte, wird noch zurückzukommen sein; es sollen auch mögliche Ursachen angesprochen werden, die gewiß nicht in der Person des Großvaters lagen.

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3. Der Prinz und die Dynastie 3.1. Nostre maison de Bourgongne – noz maisons d’Autrice et de Bourgongne: Das „Haus“ als früher Erfahrungsbereich des Prinzen Vray est que après Dieu ayant chier sur toutes choses notre lignie et honneur... – mais, Monseigneur, là où je penseray que vostre honneur et [!] bien touche et celui de ceste maison...325 Diese beiden Zitate aus Briefen Maximilians und Margaretes, ausgewählt aus einer Vielzahl weiterer Belege, verdeutlichen, welche Rolle für beide das „Haus“ und, damit verknüpft, die Ehre spielten, wobei aufgrund der starken Identifikation mit der Dynastie die Ehre der Person und die Ehre des Hauses untrennbar waren. Deutlicher als Maximilian kann man nicht ausdrücken, welchen Rang die Dynastie für ihn einnahm. Zweifellos sahen es Großvater und Tante als Teil ihrer Aufgabe als Vormünder an, dem voraussichtlichen Erben und zukünftigen Haupt der Dynastie das Bewußtsein von deren Bedeutung schon in frühen Jahren zu vermitteln und ihn so auf seine Stellung als Chef des Hauses vorzubereiten. Auch den Prinzessinnen mußte rechtzeitig nahegebracht werden, was ihre Zugehörigkeit zum Hause Österreich-Burgund bedeutete und welche Pflichten für sie damit verbunden waren. Nur durch die beiden nächsten Angehörigen, denen der Dienst für das Haus lebenslange Aufgabe war, konnte in der neuen Generation ein entsprechendes Bewußtsein geweckt und gehegt werden. Die Erzieher der Kinder konnten ihre Zöglinge zwar in gleichen Geiste lenken und beeinflussen, als Außenstehenden fehlte ihnen aber das in jeder Erziehung so wesentliche Moment der Identifikation. Die Aufgabe einer dynastischen Erziehung fiel wegen der seltenen Anwesenheit Maximilians im Wesentlichen seiner Tochter zu. Ich möchte davon ausgehen, daß neben dem ständigen persönlichen Einfluß Margaretes das von ihr in Mecheln geschaffene Ambiente erheblich dazu beitrug, den Kindern im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen zu führen, daß der engste, überschaubare Kreis der Familienmitglieder nur Teil der größeren Einheit des Hauses war, dessen Dimensionen sie erst mit den Jahren erfassen konnten. Besser als jedes andere Medium waren Bilder geeignet, das Verständnis der jungen Kinder zu wecken, wobei es sicher ein besonderes Anliegen Margaretes war, durch altersgerechte Erklärungen dieses Verständnis zu erweitern und zu vertiefen.

325 Le Glay 1839, 2, 337 Nr. 633 (Schreiben Maximilians an Margarete über die Ehen Marias mit Ludwig von Ungarn und Isabellas mit Christian von Dänemark, 1.1.1516); ebd. 228 Nr. 555 (Margarete an Maximilian mit Bezug auf das Eheprojekt für Renée von Frankreich und den Infanten Ferdinand und den damit vorprogammierten Bruch der Allianz mit England, 24.2.1514).

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Als die Regentin nach ihrer Übersiedlung nach Mecheln ab 1507 den Umbau des alten Lau(we)rinschen Hofes zum Hôtel de Savoie in Angriff nahm, wurde auch der Wohnbereich neu gestaltet, und zwar in einer Weise, wie es den Erfordernissen des burgundischen Hofzeremoniells entsprach. So entstand eine Flucht von Räumen, die eröffnet wurde von der première chambre, dem Raum, der den bei Hofe zugelassenen gentilhommes offen stand; daran schloß sich die Bibliothek an, zu der nur ein kleiner Kreis von Vertrauten Zugang hatte. Die folgenden Gemächer waren der eigentliche Privatbereich Margaretes. Während der Zeit, die hier im Blickpunkt steht (also bis 1515) und die sich mit der ersten Phase des Umbaus deckt, waren die damals schon zahlreichen Gemälde aus Margaretes Besitz auf alle Räume des Appartements verteilt, so daß die Sammlung keineswegs Museumscharakter hatte und die Kinder bei ihren häufigen Besuchen im Hôtel de Savoie gewissermaßen unter den Augen der Familie aufwuchsen. Das von Le Glay veröffentlichte, allerdings nicht vollständige Inventar gibt Aufschluß darüber, mit welchen Familienmitgliedern die Kinder durch die Bildnisse vertraut blieben oder bekannt wurden.326 Für die „enfants abandonnés“ dürfte es gerade anfangs von erheblicher Bedeutung gewesen sein, daß die Eltern nicht ganz aus ihrem Gesichtskreis verschwanden, sondern wenigstens im Bilde präsent blieben: Zu Margaretes Sammlung gehörten mehrere Porträts Philipps des Schönen, ein Bildnis Juanas sowie ein Doppelporträt des Paares. Die Familie war weiter vertreten durch mehrere Darstellungen Maximilians und Margaretes (Abb. 4–5) – darunter von ihr auch solche, die sie mit ihrem ersten Gemahl Juan zeigten –, ferner durch Bilder der Großmütter Maria von Burgund und Isabella von Kastilien; selbst von den Urgroßvätern Kaiser Friedrich III. und Karl dem Kühnen waren mehrere Porträts vorhanden; für die burgundische Linie reichten die Bildnisse sogar bis zu Johann Ohnefurcht und Philipp dem Guten zurück. Bemerkenswerterweise fehlte – laut Inventar – zu diesem frühen Zeitpunkt in der Sammlung ein Porträt des spanischen Großvaters Ferdinand von Aragon, mit dem Margarete trotz aller politischen Differenzen der Häuser stets im Briefwechsel stand.327 Für 326 Vgl. oben 32 Anm. 50; hier Le Glay 1839, 2, 474–484. Aus dem Inventar ist allerdings nicht für alle Bilder ersichtlich, in welchen Räumen sie hingen. Vgl. dazu auch Eichberger/ Beaven 1995, 224–248. Ein späteres Inventar aus den Jahren 1523/24, als der Umbau im Wesentlichen beendet war, und ergänzt bis 1530, dem Todesjahr Margaretes, hat H. Zimmerman veröffentlicht (1885, XCIII–CXXIII Nr. 2979). Ein Vergleich beider Inventare zeigt teilweise Überschneidungen, läßt aber auch Neuerwerbungen bzw. Aussonderung von Werken erkennen; insbesondere wird aus dem jüngeren Inventar ein bestimmtes Programm zur Hängung der Bilder deutlich. Schütz 2000, 59 hat diese und weitere Inventare ebenfalls herangezogen und nennt für Margaretes Sammlung der späteren Jahre „80 Bildnisse [...] – zumeist Porträts ihrer zeitgenössischen Verwandtschaft und politisch Verbündeter“. 327 Das Inventar von 1523/24 weist zwei Porträts des spanischen Herrschers aus. Da (nach Schütz 2000, 58) auch von Karl aus den Jahren zwischen 1517 und 1520 sowie zwischen

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Margarete selbst waren wohl die Darstellungen des unvergessenen Philibert von Savoyen von größter Bedeutung, die, in verschiedenen künstlerischen Medien ausgeführt, in allen Räumen sein Gedächtnis bewahrten. Die zahlreichen Porträts weiterer näherer und entfernterer Verwandter zeigten den Kindern darüber hinaus, daß sich die Familie – den Begriff „Haus“ möchte ich hier aus der Sicht der Kinder noch nicht verwenden – viel weiter spannte, als es ihren bisherigen Erfahrungen entsprach. Im Auftrag Margaretes wurden auch die burgundischen Kinder selbst häufig porträtiert; bereits 1502, als die junge Witwe sich nach ihrer spanischen Ehe in den Niederlanden aufhielt und die Eltern der Kinder in Spanien weilten, entstand in Mecheln ein Triptychon, das Karl, Eleonore und Isabella im Alter von 2½ und 4 Jahren, bzw. von einem Jahr und 3 Monaten zeigt.328 Von vermutlich gleicher Hand wurde 1508, ebenfalls in Mecheln, ein Diptychon geschaffen, das alle sechs Kinder Philipps und Juanas im Bilde vereinte – die Geschwister, die so nie zusammengetroffen sind, nie an einem Ort gemeinsam verweilten.329 Insbesondere Karl wurde im Laufe seiner Kinder- und Jugendjahre immer wieder von Margaretes Hofmalern porträtiert, wobei die Regentin von besonders gelungenen Bildnissen Kopien anfertigen ließ, die sie – vermutlich an andere Höfe – weitergab.330 Schon 1522 und 1529, als er vorwiegend in Spanien lebte, so gut wie keine Bildnisse erhalten sind, liegt die Vermutung nahe, daß das Herrscherporträt für den spanischen Hof dieser Zeit nicht die Bedeutung hatte wie bereits seit Generationen für die burgundischen Herrscher und vor allem seit Maximilian zunehmend für die Habsburger Dynastie. Die große Zeit spanischer Hofkunst gipfelte erst gut ein Jahrhundert später in Diego Velasquez’ Werken, der zum Hofmaler Philipps IV. berufen wurde. 328 Bei dem Triptychon handelt es sich ohne Zweifel um das Bild, von dem Fernández Álvarez (2000, 103 f.) annimmt, daß Juana es für ihre Mutter malen ließ; vgl. oben 81 Anm. 204. Wiedergegeben ist es u.a. bei Soly (Hg.) 2000, 28/29. 329 Der Infant Ferdinand kam 1518 erstmals in die Niederlande; vgl. oben 25 Anm. 31; 26 Anm. 33. Seine Schwester Maria traf er 1521 zum ersten Mal in Wien anläßlich seiner Hochzeit mit Anna von Böhmen in Linz (Rodríguez-Salgado 2000, 58). Die Schwestern Isabella und Katharina sind sich nie begegnet. Isabella starb bereits 1526, kaum daß Katharina der „Gefangenschaft“ in Tordesillas entkommen war, um den jungen König von Portugal, Johann III., zu heiraten. Das Diptychon ist u.a. abgebildet bei Soly (Hg.) 2000, 40/41. Es gehörte ehemals zum Bestand des Museo de Santa Cruz in Toledo und gilt heute als verschollen. Eichberger/Beaven 1995, 238 weisen auf ein Gruppenbild der vier Mechelner Kinder hin, das Margarete 1512 bei Pieter van Coninxloo bestellte. Keine der Beschreibungen in den Inventaren korrespondiert mit diesem Bild, so daß man davon ausgeht, daß es verschenkt wurde. 330 Schütz 2000, 59. Strelka 1957, 25 weist auf die wachsende Bedeutung der Gattung des Kinderbildnisses an den Höfen der Renaissance im Zusammenhang mit der steigenden Zahl von Heiratsverbindungen hin, die für fürstliche Kinder im zartesten Alter geschlossen wurden. Wenn Margarete also Bilder der Kinder weitergab, so kann dies durchaus

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die Tatsache, daß die Bemühungen der Künstler häufiger ihm als den Schwestern galten, muß den Knaben früh von seiner herausgehobenen Stellung in der Geschwisterreihe überzeugt haben. Die Hofmaler bemühten sich seit dem 15. Jahrhundert um immer größere Porträtähnlichkeit der Herrscherbildnisse; auch die hier besprochenen Kinderbildnisse sind keineswegs geschönt oder gar verniedlicht; die Künstler versuchten gleichzeitig – so K. Schütz – „der hervorragenden Stellung des Fürsten und seiner Familie in der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen“.331 Unter diesem letzteren Aspekt betrachtet gewinnen auch die oben erwähnten Darstellungen der Geschwister eine zusätzliche Dimension: Auf dem Triptychon weisen die Wappen über den Köpfen der Kinder auf ihre Abkunft und Titel hin; der zweieinhalbjährige Karl trägt Orden und Ordenskette vom Goldenen Vlies, sein gekröntes Wappen ist zusätzlich von einer Ordenskette umschlossen (Abb. 6). Ähnlich ist das Diptychon gestaltet, wobei der Künstler allerdings darauf verzichtet hat, Karl vor Ferdinand durch eine Ordenskette auszuzeichnen, die in diesem Falle dem großen gemeinsamen Wappen als Rahmen dient. Von diesen Attributen geht die eigentliche Botschaft der Kinderbildnisse aus: Hier wuchs eine neue Generation heran, die zwar ihre „hervorragende Stellung in der Gesellschaft“ zunächst ihrer Herkunft verdankte, die jedoch gleichzeitig den Fortbestand der vereinigten Häuser garantierte und in der sich Möglichkeiten der Erweiterung von Macht und Einfluß für die Zukunft bereits andeuteten. Insbesondere das 1508, nach Philipps Tod, entstandene Diptychon (Abb. 3) gewinnt damit an Aussagekraft als dynastisches Familienbild. Die Feststellung von Schütz, die hier zur Interpretation der Kinderbildnisse herangezogen wurde, verweist in erster Linie auf die großen dynastischen Familienbilder, die vom 16. Jahrhundert an neben den Porträts der einzelnen Herrscher zunehmend an Bedeutung gewannen und auf denen mehrere Generationen – auch verschiedener Zweige eines Hauses, auch lebende Angehörige der Dynastie neben bereits verstorbenen – vereint wurden. Was dem modernen Betrachter zunächst als überdimensioniertes Gruppenbild mehr oder minder weitläufig miteinander verwandter Vertreter eines Herrscherhauses erscheint, wußten die Zeitgenossen zu deuten: Hier präsentierte sich ein „Haus“ – um die damals bevorzugte Bezeichnung zu gebrauchen – als „Körperschaft“, die weit mehr darstellte als „die Summe ihrer Mitglieder“.332 War für den einzelnen ihrer Angehörigen die Zugehörigkeit zur Dynastie zunächst einmal eine Komponente auch im Lichte der habsburgischen Heiratspolitik gesehen werden, die sie trotz eigener negativer Erfahrungen unterstützte. 331 Schütz 2000, 57. 332 So Rodríguez-Salgado 2000, 40.

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der eigenen Identität und eine Verpflichtung zu unbedingter Loyalität gegenüber dem Haus, die Vorrang haben mußte vor innerdynastischen Querelen, so weist der gut gewählte Begriff der „Körperschaft“ aus dem Bereich des Rechtswesens auf die weit umfassendere Bedeutung der Dynastie hin: Sie stand für Rechtstitel, für alle gemeinsamen Rechte des Hauses auf Länder und Titel, und „diese Rechte währten ewig“. Rodríguez-Salgado paraphrasiert eine Passage aus einem Brief Philipps II., um diese Auffassung zu belegen: „Vollzieht sich das Leben des Einzelnen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens (tempus), so «lebt» die Dynastie als fiktive Person im Zeitalter der Engel (aevum); nur Gott besitzt die Ewigkeit (aeternitas).“333 Diesem dynastischen Prinzip verleihen die großen Familienbilder Ausdruck, indem sie die Herrschaft in der Gegenwart aus der Vergangenheit heraus ebenso legitimieren wie den Anspruch auf deren Fortdauer in der Zukunft. Die Dimensionen des Dynastiebegriffes, die sich hier öffnen, mußten dem jungen Karl zunächst verschlossen bleiben. Am ehesten wird sich ihm die zeitliche Ebene erschlossen haben; das Verständnis von der Dynastie als fiktiver Person, als Abstraktum jenseits der Koppelung an konkrete Repräsentanten dürfte nicht vor der Pubertät aufgekeimt sein. Zu einem früheren Zeitpunkt kann bei einem Heranwachsenden das erforderliche hohe Maß an Abstraktionsvermögen wohl nicht vorausgesetzt werden. Auch eines der bekanntesten und immer wieder reproduzierten Gemälde, das oft nur vage „Kaiser Maximilian I. mit Mitgliedern seines Hauses“ untertitelt wird,334 läßt nur eine Deutung im Sinne dynastischen Anspruchs und Programms zu (Abb. 7). Es gehörte allerdings nie zur Mechelner Sammlung, sondern wurde wohl 1515 von Maximilian bei Bernhard Stri(e)gel in Auftrag gegeben. Anlaß war der Abschluß des Doppelheiratsvertrages zwischen dem Erben der österreichischen Länder, d.h. zwischen dem Infanten Ferdinand oder Erzherzog Karl, und der Jagiellonin Anna von Böhmen sowie zwischen Ludwig von Ungarn und Maximilians Enkelin Maria. Zudem wurde Ludwig zwei Tage vor Abschluß dieser Verträge, am 20. Juli 1515, von Maximilian an Sohnes Statt angenommen.335 Das Gruppenbild zeigt sechs Personen: Die vordere Reihe bilden drei Knaben, links der Infant Ferdinand, in der Mitte Karl; das dritte Kind läßt sich zunächst vom Betrachter nicht identifizieren. Die beherrschende Gestalt des Bildes ist Maximilian (am linken Bildrand); eine Frauengestalt, Maximilian gegenüber (am rechten Bildrand), ist unterschiedlich gedeutet worden.336 Hinter dieser Frauengestalt steht, dem Kaiser zugewandt, ein junger Mann, über dessen Identität Einigkeit 333 Rodríguez-Salgado 2000, 40. 334 So in Soly (Hg.) 2000, 38 (Rodríguez-Salgado). 335 Wiesflecker 1981, 190 f. 336 Nach Pohl/Vocelka 1993, 107 soll es sich dabei um Margarete von Österreich handeln.

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unter den Kunsthistorikern herrscht: hier ist Philipp der Schöne, der Vater Karls und Ferdinands, in das Bild einbezogen, obwohl er zur Zeit von dessen Entstehung seit langem verstorben war. Zieht man Zeitpunkt und Anlaß der Schaffung des Gemäldes in Betracht, so kann es sich bei den bisher unsicher oder gar nicht identifizierten Personen nur um Maximilians erste Gemahlin Maria von Burgund und bei dem Knaben um seinen Adoptivsohn und Schwiegerenkel Ludwig von Ungarn handeln.337 Der Betrachter hat also wiederum kein Familienbild im heutigen Sinne vor sich. Hier sind dynastisches Denken und die weitreichenden politischen Pläne des Kaisers in das Medium des Bildes umgesetzt: Durch die Ehe Maximilians und Marias von Burgund wurden in der Vergangenheit die Häuser Habsburg und Burgund vereint; in Philipp verbanden sich beide; dessen Kinder Karl und Ferdinand, aus der Verbindung Habsburg-Burgunds mit dem spanischen Königshaus hervorgegangen, bedeuteten die Zukunft der Dynastien: Karl als präsumtiver Gesamterbe mit Herrschaftsschwerpunkten in der Mitte und im Westen Europas, Ferdinand durch seine Verlobung mit der Jagiellonin als möglicher Erweiterer der habsburgischen Herrschaft im Osten. Die Einbeziehung Ludwigs von Ungarn in die Reihe der künftigen Repräsentanten des Hauses deutet gleichfalls auf Maximilians Pläne für eine Ausdehnung der Macht- und Einfluß337 Diese Zuordnung trifft auch Hamann (Hg.) 1988, 384. Von dem Gemälde, das sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet, existiert eine Kopie aus der Schule Striegels, die um 1940 zum Bestand der Akademie in Budapest gehörte und 1969 in Brüsseler Privatbesitz war. Gezeigt wurde sie 1969 bei der Innsbrucker Ausstellung „Maximilian I.“. Ein wesentlicher Unterschied zum Original sind die eindeutigen Inschriften, die allerdings erst lange nach der Entstehung des Bildes hinzugefügt worden sein müssen. Über Maximilian steht: Maximilianus I. Imp. Archidux Austriae; über Maria: Maria Ducissa Burgundiae. Max.Uxor; über Philipp: Philippus. Hisp. Rex. I. Archidux Austriae; unter Ferdinand: Ferdinandus. I. Imp. Archidux Austriae; unter Karl: Carolus. V. Imp. Archidux Austriae; auf der von Ludwig gehaltenen Schriftrolle: Ludovicus Rex Hung. et Bohemiae. Vgl. Kat. Innsbruck 1969, 148 Nr. 553. Die anderslautenden Inschriften auf dem Original waren zeitweise übermalt. Auf Reproduktionen sind sie nur schwer lesbar und ohnehin von wenig Bibelkundigen nicht zu deuten. Sie weisen die Dargestellten als Mitglieder der heiligen Sippe aus; dazu Brandi 1941, 99: „alles mit biblischen Namen und in sonderbarer Nachahmung der Familie Jesu.“ Diese sonderbaren Inschriften sind aufgeführt bei Demus (Bearb.) 1973, 169 (zu Tafel 127). Eine einleuchtende Erklärung findet sich bei Kellner 2007, 348 f.: Unter dem Teilaspekt „Biblische Genealogien und genealogische Geschichtsschreibung“ zeigt die Verfasserin auf, wie die schon im 10. Jahrhundert entstandenen Graphiken zur Genealogia Christi, entwickelt aus den Abstammungslinien des Alten und Neuen Testaments, fortwirkten und wie die Genealogie Christi über das Prinzip der Sukzession geschichtlich »verlängert« werden konnte. Integriert wurden Linien von römischen Kaisern, die über Karl den Großen bis ins Spätmittelalter reichen konnten. Gerade daran läßt sich studieren, wie die biblischen Genealogien zum Modell der Darstellung von Amtssukzession und Genealogie wurden. Dieses ließ sich auf die Profangeschichte und damit auch auf die dynastische Geschichtsschreibung übertragen.

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sphäre nach Osten hin.338 Als einziges der Mechelner Kinder dürfte Maria, die kindliche Braut des jungen Ungarn, dieses Bild schon bald nach seiner Vollendung gesehen haben, denn nur sie war 1515 in Wien. Obwohl ein von der Komposition und Programmatik vergleichbares Bild für die Mechelner Sammlung nicht nachgewiesen ist, darf man davon ausgehen, daß sich die Aussage des Gemäldes völlig mit der Auffassung Margaretes deckte. Bei aller Zuneigung und mütterlichen Fürsorge sah sie die Erziehung der burgundischen Kinder vordringlich als eine Aufgabe im Dienste der Dynastie; als Regentin war sie in erster Linie Sachwalterin der Interessen des Kaisers und der Wahrung des habsburgisch-burgundischen Erbes. Ihr eigenes Leben, von Kindheit an durch die Belange des Hauses Österreich-Burgund bestimmt, und ihr trotz aller Enttäuschungen und Rückschläge ungebrochener Stolz auf dieses Haus können eine nachhaltige Wirkung auf die Kinder nicht verfehlt haben.339

338 In dem Katalog zur Ausstellung „De Habsburgers en Mechelen“ sind zwei Exponate abgebildet und kommentiert, die weniger bekannt sind, aber in ähnlicher Weise bezeugen, wie der dynastische Gedanke in Kunstwerke umgesetzt wurde: Ein Holzschnitt des Jacob Cornelicz van Amsterdam aus dem Jahre 1518 zeigt Maria von Burgund, Maximilian, Philipp den Schönen und Karl V., die Herrscher in vollem Ornat auf prächtig aufgezäumten Pferden. Über den Köpfen der Reiter sind ihre Länder und Würden durch die entsprechenden Wappen repräsentiert. Auch hier sind drei Generationen im Bilde vereint, die Wappen unterstreichen die gewachsene Bedeutung der Dynastie: Am Anfang steht das übersichtlich gegliederte, einfache Wappen des Herzogtums Burgund; Karls großes Wappen zeigt die Symbole seiner zahlreichen Länder, flankiert von den Säulen des Herkules und begleitet von seinem Wahlspruch Plus oultre (Kat. Mecheln 1987, 11 [Abb.] und 59 Nr. 9 [Erl.]). Ein zweites Ausstellungsstück (ebd. 106 f. und Abb. 221) zeigt die Allgegenwärtigkeit des dynastischen Gedankens selbst in kleinen Kunstwerken: Es handelt sich um eine Kamee (später zum Deckel einer Tabaksdose umgearbeitet), die die Büsten Maximilians, Philipps des Schönen, Karls sowie die seines Sohnes, Philipps II., im Profil zeigt. Karl, der einzige gekrönte Römische Kaiser unter ihnen, trägt den Lorbeerkranz nach Art römischer Imperatoren. Mit Philipp II. ist die vierte Generation in die Reihe der Herrscher aufgenommen. Nach seinem Bildnis, das ihn als Erwachsenen zeigt, kann die Kamee auf die Mitte des 16. Jahrhunderts datiert werden. 339 Welch bedeutenden Rang die Dynastie für Margarete hatte, läßt sich daraus erkennen, daß sie zwischen 1515 und 1523, als der Umbau ihres hôtel einigermaßen abgeschlossen war, ihre „aktualisierte“ Gemäldesammlung neu arrangieren ließ. Wo zuvor eher der Zufall gewaltet hatte, wurde nun ein klarer politischer Akzent gesetzt. Die première chambre wurde zu einer dynastischen Porträtgalerie; zusammen mit Bildern befreundeter Herrscher ergab sich so eine eindrucksvolle Demonstration der Bedeutung der Dynastie Habsburg-Burgund und ihrer Verbündeten, Porträts feindlich gesinnter Herrscher aber wurden entfernt. Die von der Zeit überholten Kinderbilder fanden einen neuen Platz in Margaretes privatem Bereich. Ausführlich zur Neuordnung der Sammlung Eichberger/ Beaven 1995, 225.

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Neben den Porträts der Mitglieder des Hauses dürften es vor allem genealogische Werke gewesen sein, die Karl frühzeitig lehrten, in dynastischen Bezügen zu denken. Es wurde an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, welche Bedeutung der Adel und insbesondere die regierenden Häuser möglichst weit zurückreichenden Genealogien beimaßen.340 Auch Margarete sammelte genealogische Werke: Das Inventar von 1523/24 verzeichnet deren elf, teils in Buch-, teils in Rollenform. Darunter war selbstverständlich die Genealogie des Kaisers, ferner die der Häuser Burgund und Savoyen sowie die der englischen und der französischen Königsfamilien.341 Zusätzlich schmückten genealogische Tafeln die Wände ihrer Bibliothek. Margarete bewahrte sich ein Leben lang dieses Interesse an den mehr als komplexen Verwandtschaftsbeziehungen ihres Hauses und fügte ihrer Sammlung noch 1527 eine „Généalogie abrégée de Charles V“ hinzu.342 Das Interesse an der Genealogie des Hauses teilte Margarete mit Maximilian, der sich allerdings nicht auf das Sammeln beschränkte, sondern Gelehrten seines Hofes Forschungsaufträge erteilte, selbst historisch-genealogischen Fragen nachging343 und dem es auch gelang, die verschiedenen Abstammungssagen der frühen Habsburger mit der – unter Friedrich III. vorherrschenden – Auffassung von der römischen Abkunft der Familie und der burgundischen Überlieferung zu harmonisieren, dazu den heiligen Leopold sowie weitere Heilige und Selige in der Verwandtschaft aufzuspüren.344 Der Kaiser führte in Österreich nach burgundischem Vorbild das Amt des Hofchronisten ein; einer dieser Geschichtsschreiber, 340 Vgl. oben 47 m. Anm. 97 zum Troja-Roman des Jean Lemaire. Rodríguez-Salgado 2000, 37 nennt als weiteres Beispiel Pedro Mexias Historia del Emperador Carlos V, die der Verfasser mit einer Stammtafel einleitet, die Karls Vorfahren bis über 1000 Jahre zurückverfolgt. Der gleichen Tradition sah sich Sandoval um 1600 verpflichtet: Seiner Historia stellte er die Genealogia des Kaisers voran (5–12), nicht ohne ausdrücklich zu betonen, daß es sich nicht um Fiktion, sondern um die lautere Wahrheit handele. Das hinderte ihn keineswegs, Karls Abkunft bis auf Adam zurückzuführen. 341 Eichberger/Beaven 1995, 244. 342 Das Werk (Paris, BNF, ms. fr. 5616) trägt den Titel: la Royale et tresanchienne lignée de la sacrée imperiale et catholique Majesté Charles cincquiesme, Roy des espaignes, etc., de très illustre prince Ferdinant Roy de Boheme, et de la très clere dame madame Marguerite, leur [t]ante Archducz daustrice ducz de Bourgoigne de brabant etc., et de tous aultres archiducz, ducs d’austrice, et contes de habsburg leurs progeniteur depuis environ deux mil ans encha par noms et ordre y escriptz, distingué en trois livres (Kat. Brüssel 1987, 156, hier zit. n. Eichberger/Beaven 1995, 244). Die Handschrift, verfaßt von Karls Sekretär Jean Franco, ist Margarete gewidmet und mit 27 Porträt-Medaillons geschmückt. Unter den Dargestellten ragt als einzige Frau Margarete hervor. 343 In mehreren Briefen bat er seine Tochter um Unterstützung bei der Beschaffung von genealogischen Unterlagen und Geschichtswerken: Le Glay 1839, 1, 277 Nr. 210 (31.5.1510); 344 Nr. 257 (27.10.1510); 368 Nr. 278 (31.12.1510). 344 Ausführlicher dazu Heinig 2003, 87; Noflatscher 2003, 358 f.

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Dr. Jacob Mennel, war vor allem mit der schriftlichen Fassung der genealogischen Forschungen befaßt und konnte 1518, nach etwa zwanzigjähriger Arbeit, dem Kaiser das Ergebnis in Gestalt der sechsbändigen Fürstliche[n] Chronick gen. Khaiser Maximilians geburtsspiegel präsentieren. Die rege Anteilnahme, die Margarete und Maximilian der Geschichte ihres Hauses und den verwandtschaftlichen Verbindungen zu anderen Herrscherfamilien entgegenbrachten, ist offensichtlich bei Karl früh auf Widerhall gestoßen. Möglicherweise kannte er auch schon in Mecheln die Abhandlung Oliviers de La Marche, seines bevorzugten Autors, zur Abkunft der Habsburger von den Trojanern – eine Vorstellung, die den Knaben fasziniert haben dürfte.345 Als Karl im September/Oktober 1508 mehrere Wochen bei Maximilian auf Schloß Lierre verbrachte, wird der Großvater die seltene Gelegenheit nicht versäumt haben, dem jungen Erzherzog von Österreich und Herzog von Burgund die Geschichte des Hauses und die Gestalten seiner bedeutendsten Vorfahren nahezubringen und damit seinen Sinn über Burgund hinaus auch auf das österreichische Erbe zu lenken. Hier mochte für den Kaiser auch die Erinnerung an seinen Sohn Philipp mitschwingen, der allzu lange nur auf Burgund fixiert geblieben war und dem er erst 1503, bei dem längeren gemeinsamen Aufenthalt in Tirol, ansatzweise die viel weiter gespannten Belange der Dynastie und der kaiserlichen Politik vermitteln konnte.346 Maximilian selbst hat zwei seiner Werke dem ältesten Enkel ausdrücklich zugeeignet: die lateinische Autobiographie Historia Friderici et Maximiliani, die der Kaiser für Karl diktierte, und eine prächtige Kopie der Handschrift des Weißkunig, die noch zu Lebzeiten des Großvaters für Karl angefertigt wurde.347 Innerhalb der von Maximilian initiierten Trilogie aus Theuerdank, Weißkunig und Freydal steht der Weißkunig der lateinischen Autobiographie des Kaisers inhaltlich am nächsten: Der Prosaroman in deutscher Sprache schildert zunächst die wesentlichen Ereignisse aus dem Leben Friedrichs III.; Geburt, Jugend- und Erziehungsgeschichte Maximilians bis hin zu seiner Verlobung mit Maria von Burgund bilden den zentralen Hauptteil, dem eine Darstellung der Kriegszüge von 1478 zur Rettung des burgundischen Erbes folgt. Geplant war, den hochfliegenden Plänen des Kaisers entsprechend, ein abschließender Teil, der 345 Für Tyler gibt es keinen Zweifel daran, daß der junge Prinz diese Abhandlung kannte (1959, 41): „mit dem gleichen Heißhunger [wie die Rittergeschichten de La Marches] verschlang er Oliviers Erzählungen über die Genealogie seines eigenen Vaters, Philipps des Schönen, auch wenn er nicht alles glauben mochte, was sie enthielten.“ 346 Voyages I 309–326 (Bericht über Philipps Aufenthalt in Tirol); ebd. 583 (Auszüge aus einem Brief Philipps an den Grafen von Nassau und den Kanzler vom 15. August 1503). Zum gemeinsamen Aufenthalt Maximilians und Philipps in Tirol auch Wiesflecker 1977, 262. 265 f. 347 Burke 2000, 411. Die Handschrift befindet sich jetzt in der ÖNB in Wien.

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dem Türkenkreuzzug und dem Triumph des Kaisers über die Ungläubigen mit der Eroberung Konstantinopels gewidmet sein sollte – dieses Kapitel mußte der Realität geopfert werden. Wie in allen Büchern der Trilogie tritt Maximilian auch hier nie unter seinem eigenen Namen auf, alle Personen des Romans tragen „ritterliche Masken“.348 Da der Kaiser in der Trilogie dem Leser und Betrachter der großformatigen Holzschnitte Hans Burgkmairs als siegreiche Verkörperung aller ritterlichen Tugenden begegnet und mit der Einkleidung seiner Biographie in die Form des Ritterromans an die große franko-burgundische Tradition anknüpft, kann leicht übersehen werden, daß Maximilians ursprüngliche Absicht eine Wiederaufnahme der Herrscherbiographien der römischen Antike gewesen war, in erster Linie mit Bezug auf die Autobiographien Caesars und des Augustus. Als Konzept dazu sollte die oben erwähnte lateinische Autobiographie dienen, der der bedeutende Humanist und poeta laureatus Conrad Celtis die künstlerische Form eines Heldengedichts verleihen sollte. Celtis’ früher Tod (1508) verurteilte diesen Plan zum Scheitern. Für unseren Kontext ist die anfängliche Intention Maximilians dennoch von Interesse, da fast ein halbes Jahrhundert später sein Enkel Karl V. seine Lebenserinnerungen ebenfalls nach dem Vorbild römischer Herrscherbiographien ausrichtete: Noch in Yuste beschäftigte er sich mit Caesars Commentarii belli Gallici, nachdem er bereits 1550 seinem Sekretär van Male aufgetragen hatte, die kaiserlichen Memoiren im Stil des Titus Livius, Caesars, Suetons und Tacitus’ abzufassen.349 Wenn J. Kervyn van Lettenhove, der erste Herausgeber der Erinnerungen Karls V., sie unter dem Titel Commentaires veröffentlichte, traf er damit genau die Intention des Kaisers.350 Der Titel der Karl von seinem Großvater zugeeigneten Prachthandschrift ist meisterhaft gewählt, denn der Weißkunig steht gleichermaßen für den siegreichen ritterlichen Helden in seinem weißglänzenden Harnisch wie für den weisen König, zu dem er sich entwickelt, für das Idealbild des guten Fürsten, wie es in den humanistischen Erziehungsschriften gezeichnet wird. So verband Maximilian mit der Übergabe des Werkes an seinen Erben zweifellos auch eine pädagogische Absicht.351 Während in der Trilogie der literarischen Werke Maximilians, ihrem verschlüsselten autobiographischen Charakter entsprechend, der Kaiser und seine Taten im Mittelpunkt stehen, kommt in der Trias der monumentalen Kunst348 Rupprich 1969, 52. In diesem Aufsatz weist der Autor zudem auf den hohen eigenen Anteil des Kaisers an den Werken hin, wenn er auch die Ausarbeitung und die künstlerische Gestaltung einem Kreis von Mitarbeitern übertragen mußte. 349 Male, epist. 5 (p. 13 R., 17.7.1550): Statui novum quoddam scribendi temperamentum effingere, mixtum ex Livio, Cæsare, Suetone et Tacito. Vgl. dazu Reiffenberg, ebd. XV. 350 Male nennt (epist. 5, p. 12 R.) das Werk Peregrinationes et expeditiones. Zur Entstehung und Überlieferung der Commentaires s. auch Brandi 1941, 51 f. 351 Vgl. M.F. Müller 2003a.

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werke, die in seinem Auftrag entstanden und in deren Gestaltung er immer wieder eingriff, der Dynastie hervorragende Bedeutung zu. Der „Ehrenbogen“ (auch „Ehrenpforte“ genannt), der „Triumphzug“ und das Grabdenkmal des Kaisers dienen einem gemeinsamen Ziel: Sie sind bestimmt, der Mitwelt und der Nachwelt das Haus Österreich-Burgund als die alle anderen überragende Dynastie, „die im aevum lebt“, in beeindruckender Größe vor Augen zu führen und Maximilian I. als ihr Haupt „in der Zeit“ zu glorifizieren. Um über den engsten Kreis des Hofes und des Adels hinaus eine Vielzahl von Menschen in seinem weiten Herrschaftsgebiet zu erreichen, wählte der Kaiser für den „Ehrenbogen“ und den „Triumphzug“ die modernsten Medien seiner Zeit, die Drucktechnik und den Holzschnitt, die bis dahin ungeahnte Möglichkeiten der Vervielfältigung und der Verbreitung eröffneten.352 Das gewaltige Grabdenkmal mit seinen überlebensgroßen Bronzestatuen steht den beiden anderen Kunstwerken als mediale Inszenierung nicht nach und erforderte schließlich zu seiner Errichtung den Bau einer Kirche von entsprechenden Dimensionen, wo es der Öffentlichkeit zugänglich war und heute noch ist. Die Arbeiten am „Triumphzug“ und am Grabdenkmal Maximilians wurden allerdings 1519 durch den unerwarteten Tod des Kaisers abgebrochen bzw. unterbrochen, so daß die zugrundeliegenden Gesamtkonzepte nie vollständig umgesetzt werden konnten. Die Präsentation des „Triumphzugs“ und die Aufstellung des Grabdenkmals in ihrer reduzierten Form verzögerten sich erheblich, so daß Karl beide Werke erst später kennengelernt haben kann. Die Hauptphase der Arbeiten am „Triumphzug“ – vor ihrer Unterbrechung – fiel zeitlich ohnehin zusammen mit Karls Herrschaftsantritt in Spanien; das Grabmonument fand seine Aufstellung in der auf Veranlassung Ferdinands I. dafür neu erbauten Innsbrucker Hofkirche erst in den letzten Jahren von Karls Kaisertum. Die langwierigen Vorarbeiten zum „Ehrenbogen“ begannen jedoch schon während seiner Mechelner Knabenjahre. Da Margarete lebhaften Anteil an der Entstehung des Werkes nahm, wie die Briefe des Kaisers bezeugen, in denen er seine Tochter auch um Verbesserungsvorschläge bat, kann man davon ausgehen, daß sie Karl mit den Entwürfen bekanntmachte.353 Erste Entwürfe für die „Ehren352 Bereits von 1498 an hatte Maximilian sich des neuen Mediums des Druckes häufig bedient: Bis 1513 ließ er seine Reichstagsausschreiben, Schreiben an die Stände sowie Newe Zeitungen (Berichte von den Kriegsschauplätzen) im Druck verbreiten. Vgl. Wagner 1969. 353 Le Glay 1839, 2, 341 Nr. 634 (Maximilian an Margarete, 18.1.1516): Nous vous avons puis aucun temps envoyé en painture la porte d’honneur que avons faite et conceute à celle fin que la corrigiez, augmentez ou diminuez de ce que vous sembleroit y estre bon, propice et duysable. Si vous requérons de rechief nous mander la correction et amendement que sur ce il vous semblera estre à faire, pour en aprez avoir en iceluy vostre adviz, la mectre et rédiger en belle et ample forme, telle que à perpétuité elle devra demourer pour nostre et vostre perpétuelle gloire; ebd. 374 Nr. 661 (an Margarete, 17.2.1518): ... nous vous envoyons par le pourteur de cestes nostre porte d’honneur, qui est parfaicte, plus belle et mieulx pourtraictre que celle que

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pforte“ müssen bereits vor 1512 vorgelegen haben, denn in diesem Jahr begann Dürer am Holzschnitt-Bogen zu arbeiten. Schon zuvor hat sich, wie archivalisch belegt ist, ein Exemplar in Miniaturtechnik auf Pergament in den kaiserlichen Sammlungen in Brüssel befunden.354 Bei dem starken Engagement des Kaisers für das Projekt ist es wahrscheinlich, daß er diese ersten Entwürfe seinem Enkel bei dem gemeinsamen Sommeraufenthalt 1512 zeigte und erklärte, so wie er Philipp einst in Innsbruck voller Stolz die Stammtafeln des Hauses vorgeführt hatte. Das Gesamtkonzept stammt von Johannes Stabius, der Römischen Kaiserlichen Maiestät hystoriographen und Poeten (wie er sich selbst bezeichnete); auf Wunsch Maximilians wurde später Willibald Pirckheimer hinzugezogen. Die künstlerische Umsetzung erfolgte hauptsächlich durch Dürer; ab 1514 war Altdorfer ebenfalls an dem gigantischen Projekt beteiligt, das aus 192 Holzschnitten zusammengesetzt wurde. Als Hauptphase der Entstehung, in der immer wieder Änderungen an Details vorgenommen wurden, sind die Jahre 1512–1515 anzusetzen: mit 1515 ist das Werk von Dürers Hand auf den Basen der äußeren Rundtürme datiert, wenn auch, wie aus den Briefen Maximilians hervorgeht, bis zum Druck 1517/18 noch etliche Verbesserungen eingearbeitet wurden. Ohne zu übertreiben darf man wohl behaupten, daß kein steinerner Triumphbogen, der jemals zu Ehren eines römischen Imperators errichtet wurde, an Fülle der Darstellungen, an allegorischen und symbolischen Bezügen und Verweisen sowie an Vielfalt architektonischer Elemente dem papierenen Kunstwerk des „Ehrenbogens“ gleichkam. Nicht eine singuläre militärische oder politische Großtat wird hier verherrlicht, nicht nur das Lebenswerk eines Einzelnen, des Kaisers: Hier wird der Triumph des Hauses Österreich gefeiert, das aus legendären Anfängen zu überragender Größe aufgestiegen ist. Maximilian, in kaiserlicher Majestät von Viktorien umgeben an höchster Stelle seines Stammbaums als Triumphator thronend, erscheint durch seine Taten in Krieg und Frieden und durch seine Herrschertugenden als einstweiliger Vollender eines gewaltigen, auf vielerlei Säulen gestützten Herrschaftsgebäudes, an dem künftige Generationen weiterarbeiten sollen – auch dafür gibt es Hinweise im Bildprogramm. Es soll im folgenvous avons parcidevant mandé, ainsi que verrez, saychant que y prendrez plaisir et consolacion; et vous requérons que, ou lieu d’icelle, vous nous vueillez renvoyer la première par cedit pourteur, et la mectre en la custode où est celle que présentement vous envoyons, affin qu’elle ne soit gastée en chemin. Bei dem zuletzt erwähnten Exemplar könnte es sich um dasjenige handeln, auf das Eichberger/Beaven 1995, 247 Anm. 155 hinweisen und das im Inventar vom 9. Juli 1523 (Paris, BNF, Cinq Cents de Colbert 128; Edition durch H. Michelant in: Bulletin de la Commission royale d’histoire, sér. 3, 12 [1871] 5–78. 83–136, hier 60) wie folgt beschrieben ist: Item, une aultre genealogie grande, nommee Porte d’honneur, en papier, donnee par le feu empereur Maximilien a Madame, estant en une grant custode de cuyr. Vgl. auch Zimmerman 1885, CXIX (Nr. 869). 354 M.F. Müller 2003b, 66.

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den der Versuch unternommen werden, das Werk einmal nicht aus kunsthistorischer Sicht oder mit Blick auf das zugrundeliegende Konzept der humanistischen Gelehrten zu interpretieren, sondern es mit den Augen des jungen Prinzen zu sehen.355 Er brachte die wesentlichen Voraussetzungen mit, um die Botschaft der „Ehrenpforte“ zu verstehen: Die Genealogie des Hauses und dessen Geschichte waren ihm ebenso vertraut wie die Sagen von der Abstammung der Habsburger und die entscheidenden Ereignisse aus dem Leben seines Großvaters. Eine gründliche Kenntnis der Heraldik muß ihm im Rahmen seiner ritterlichen Erziehung vermittelt worden sein. Um seine humanistische Bildung und seine Lateinkenntnisse hingegen war es eher dürftig bestellt, doch hätten sie ohnehin Feinheiten des Kunstwerks erschlossen, die das Verständnis des Heranwachsenden vermutlich überfordert hätten. Wie der heutige Betrachter wird der Knabe seine Blicke zunächst auf den zentralen Teil des Bildwerkes gerichtet haben, auf die hohe „Pforte der Ehre und der Macht“, durch die sich der Triumphzug des Kaisers und späterer Fürsten aus dem Hause Österreich bewegen sollte, sofern sie Maximilian an Herrschertugenden gleichkamen. Über der Pforte wächst, der Wurzel Jesse vergleichbar, der Stammbaum des Hauses Habsburg empor.356 Drei allegorische Frauengestalten, als Francia, Sicambria und Troia bezeichnet, stehen für die fernen, sagenhaften Ursprünge der Dynastie, die sich auf den grosmutigen Hector von Troia zurückführte.357 Karl, durch die Lektüre Oliviers de La Marche vorbereitet, verstand die allegorische Darstellung zu deuten und den legendären Weg der Trojaner nach355 Neben der erwähnten Miniaturausgabe dürfte er die wohl nach und nach übersandten frühen Fassungen der einzelnen Blätter zu Gesicht bekommen haben, en painture, wie Maximilian schrieb. Ein Vergleich des Bremer Exemplars (Bremen, Kunsthalle, Inv. Nr. 2565–2696), dessen Blätter aus drei verschiedenen Editionen stammen, mit der Wiedergabe eines Einzelblattes aus dem Bestand der Graphischen Sammlung Albertina in Wien bei Soly (Hg.) 2000, 48 zeigt, daß von den erläuternden Inschriften zu den Darstellungen eine deutsche und eine lateinische Version verfaßt wurden. Da weder Karl noch Margarete der deutschen Sprache mächtig waren, wird der Kaiser die lateinische Fassung in die Niederlande geschickt haben. 356 Wenngleich die Verwendung des Begriffes „Stammbaum“ nicht exakt wissenschaftlichen Kriterien entspricht, wird er hier dennoch wegen seiner Affinität zu der bildlichen Darstellung verwendet. Beate Kellner (2007, 149) verweist darauf, daß die Idee von der Abstammung Christi aus der „Wurzel Jesse“ (Vater Davids) in ihrer graphischen Umsetzung als „Baum Jesse“ bereits ab dem 11. Jahrhundert nachzuweisen ist. Diese Modellvorstellung eines „Stammbaums“ aus der Wurzel Jesse haben die Gestalter der Ehrenpforte aufgegriffen und für das Haus Habsburg adaptiert. 357 Für weniger bewanderte zeitgenössische und heutige Betrachter ist der Text des Johann Stabius eine wichtige Verständnishilfe. Dieser Text bildet, in fünf Kolumnen angeordnet, den Sockel der Ehrenpforte. Er verbindet Erläuterungen des Bildprogramms mit höchstem Herrscherlob.

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zuvollziehen, die über Pannonien, also Ungarn und Österreich, nach Sicambrien gelangten, sich fortan Franken nannten, ganz Gallien unterwarfen und dort als Merowinger und als erste künig zu Franckreich (Stabius) historisch faßbar werden. Mit den Merowingerkönigen, allerdings erst mit den getauften, also mit Chlodwig, beginnt der eigentliche Stammbaum der Habsburger, der über vier Reihen von Herrschern bis zu Karls Urgroßeltern Kaiser Friedrich III. und Eleonore von Portugal aufsteigt, wobei mit der Kaiserin die erste Frau unter den Vorfahren auftritt. An dieser Stelle wird der genealogisch bewanderte Prinz einen Augenblick gestutzt haben, um dann seinen Blick auf die majestätisch thronende Gestalt des Kaisers an der Spitze des Stammbaums zu richten: Mit dem Eintritt in die zeitgenössische Gegenwart ändert sich die Leserichtung innerhalb des Stammbaums von der Aszendenz zur Deszendenz, auch sind die weiblichen Mitglieder des Hauses aus den betreffenden drei Generationen vollzählig vertreten. So hat am Fuße des kaiserlichen Throns, auf halber Höhe, Maria von Burgund ihren Platz zur Rechten Maximilians; ihr gegenüber auf der linken Seite konnte Karl seine eigene Mutter, Johanna von Kastilien, entdecken. Sein früh verstorbener Vater, Philipp der Schöne, nimmt als einziger Sohn des Kaisers einen prominenten Platz inmitten des zweithöchsten Bildfeldes unmittelbar unter dem Thron des Herrschers ein. Auf gleicher Höhe, zur Rechten Philipps, unter dem Bild der Maria von Burgund, ist Margarete von Österreich dargestellt, die Tante und „gute Mutter“ Karls. In diesem Bildfeld zu Füßen des Kaiserthrons sah sich der Prinz auch mit seinem eigenen Bildnis konfrontiert: Die sechs Kinder Philipps stehen zu Seiten ihres Vaters, rechts die beiden Söhne, links die vier Töchter. Als der Prinz diese Darstellung etwa zwischen 1512 und 1515 zu Gesicht bekam, war ihm bewußt, daß er in nächster Zukunft nicht nur Herzog von Burgund, sondern auch König von Kastilien, vielleicht von ganz Spanien sein würde; eindringlicher aber als alle Worte und Belehrungen zeigte ihm das Bild seine eigene Nähe zum Kaiserthron. Kein anderes Mitglied des Hauses stand in der Erbfolge zwischen Maximilian und seinem erstgeborenen Enkel. Damit war Karl zwar nicht die Krone des Reiches, aber – nach menschlichem Ermessen – der Platz an der Spitze der Dynastie ebenso sicher wie die Herrschaft über die Besitzungen, deren Wappen, insgesamt über einhundert, den Stammbaum zu beiden Seiten flankieren. Karl, in der Heraldik bewandert, wird das System ihrer Anordnung sogleich durchschaut haben: Zur Rechten, vom Kaiser aus gesehen, ist repräsentiert, was zu erbschafft und altem herkumen der Österreichischen lande dienet, zur Linken die künigreich Hispania und Burgundt so dem haus Österreich mit heyrat zugefallen sein.358 Doch nicht nur alte Ansprüche, Erbschaften und Heiratsverbindungen mit anderen bedeutenden Häusern hatten den Aufstieg 358 Zitiert aus dem erläuternden Text des Johannes Stabius (nach Kat. Bremen 2003).

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der Casa d’Austria und Maximilians bewirkt. Der gewaltige Herrschaftsbereich mußte stets aufs Neue erfolgreich gegen Angriffe von außen geschützt und verteidigt werden, vor allem gegen die Franzosen, die der Kaiser in seinen Briefen immer wieder, allen vorübergehenden Bindungen zum Trotz, noz anciens et naturelz ennemys nannte. Während seiner gesamten Kinder- und Jugendjahre hatte Karl erfahren, wie der Großvater einen Kriegszug nach dem anderen führte, wie auch seinem eigenen Herzogtum Burgund trotz aller Friedensbemühungen der Regentin immer wieder Gefahr drohte. In 24 großformatigen Holzschnitten, die, unmittelbar über den beiden kleineren Seitenpforten des Ehrenbogens ansetzend, fast bis zu den vom Orden des Goldenen Vlieses bekrönten Renaissancegiebeln hinaufreichen, erkannte Karl den Bericht von den großen Taten des Kaisers, auf die sich dessen persönlicher Ruhm gründete. Hier kommt die Ehrenpforte ihrem Vorbild des antiken Triumphbogens am nächsten, denn 18 der 24 Darstellungen feiern den Kaiser als siegreichen Feldherrn. Den jungen Karl, der zum Ritter erzogen und früh im Gebrauch der Waffen unterwiesen wurde, dürften diese Schlachtenbilder mehr gefesselt und beeindruckt haben als die drei Szenen, in denen Maximilian als Friedensfürst und als „Bruder“ des englischen Königs gezeigt wird, mehr auch als die burgundische und die spanische Hochzeit und die eben sich anbahnende österreichisch-böhmisch-ungarische Doppelheirat. In dem erläuternden Text des Johannes Stabius wird zweimal hervorgehoben, daß die Ehrenpforte nicht allein der Verherrlichung Maximilians, sondern auch den künftigen Fürsten als Exempel dienen sollte, dem sie nacheifern mußten, um sich eines Tages würdig zu erweisen, durch die Ehrenpforte einzuziehen. Karl, als der voraussichtlich nächste in der Reihe der künftigen Fürsten, muß diese Worte auf sich bezogen haben als Aufforderung und Verpflichtung, die Ehre des Hauses als hohes Gut zu wahren und zu verteidigen, so wie er schon durch seine Erziehung und den Einfluß Maximilians und Margaretes darauf eingestimmt und vorbereitet war, den Dienst an der Dynastie und die Verteidigung seiner Länder als seine künftigen Aufgaben zu betrachten. Schwerer dürfte dem noch sehr jungen Prinzen die Vorstellung gefallen sein, einmal die würdige Nachfolge einer Persönlichkeit wie Maximilian anzutreten, von dessen Herrschertugenden und hervorragenden Begabungen die Szenen zeugen, die auf den äußeren Türmen der Ehrenpforte im Bilde festgehalten sind. Resümierend kann hier festgestellt werden, daß Maximilian und Margarete entgegen A. Walthers Auffassung sehr wohl erheblichen und nachhaltig wirksamen Einfluß auf Karl ausübten, indem sie ihm nicht nur mit Worten während der gesamten Zeit ihrer Vormundschaft ihre Wertvorstellungen vermittelten, sondern indem sie sein Denken und Trachten auf die Dynastie und seine Pflichten gegenüber dem Hause ausrichteten. Wohl hat Karl es nicht so prägnant formuliert wie sein wortgewandter Großvater, aber viele der Entscheidungen, die er später in

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eigener Verantwortung traf, beweisen, daß auch für ihn das Interesse des Hauses Vorrang hatte vor allen anderen Erwägungen. Die zahlreichen Stammbäume, die er im Laufe seines Lebens in künstlerischer Form gestalten ließ, bezeugen außerdem, in welchem Maße auch er seine eigene Identität aus seiner Zugehörigkeit zum Hause Österreich-Burgund definierte. Als Beispiel sei hier nur ein außergewöhnliches Exemplar herausgegriffen, das er für sein Brüsseler Palais fertigen ließ. Ob er selbst in irgendeiner Form an dem Konzept beteiligt war, konnte nicht festgestellt werden, doch scheinen sich darin die in Mecheln empfangenen Eindrücke gleichsam zu verdichten: Es handelt sich um eine Darstellung seiner väterlichen Linie, die mit Porträtmedaillons und Wappen illustriert ist, ergänzt durch lange erläuternde Textpassagen. Die Handschrift füllt vier Pergamentrollen und war wohl ursprünglich, auf Holz aufgezogen, als Schaustück zu einem Triptychon montiert – eine Art Porträt-Galerie en miniature.359

3.2. Eine „unfreie Jugend“: Der Prinz als Spielball im europaweiten Machtkampf dynastischer und politischer Interessen Kaum einer der Biographen Karls versäumt es darauf hinzuweisen, in welchem Maße der junge Prinz Zwängen und vielfältigen Anforderungen ausgesetzt war, wie von seiner Geburt an über ihn verfügt wurde, daß er eine „unfreie Jugend“ durchlebte.360 Viele der späteren Verhaltensweisen des Kaisers werden aus diesen Erfahrungen der frühen Jahre erklärt. Nach dem Tode Philipps des Schönen fielen dem sechsjährigen Herzog von Luxemburg dessen Titel zu: Prinz von Kastilien, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, von Lothier, von Brabant, etc.361 An einigen Beispielen wurde bereits gezeigt, welcher Art die Aufgaben waren, die sich daraus für den Prinzen 359 Brüssel, BR, Ms. 14569; s. darüber Eichberger/Beaven 1995, 244, eine Detailansicht des Triptychons ebd. 245. Das Entstehungsjahr des Kunstwerks ist leider nicht angegeben. Da es aber ausdrücklich für das Brüsseler Palais geschaffen wurde, halte ich eine Entstehung während seiner ersten Herrschaftsjahre für wahrscheinlich, weil der junge Herzog von Burgund und König von Kastilien damals dort residierte und ihn das eindrucksvolle Schaustück gleichzeitig in seiner Stellung als prince naturel vorführte und stärkte. 360 Brandi 1964, 14. 361 Henne 1865, 50. Der grand conseil hatte ihn sogar zum König von Kastilien proklamieren lassen wollen; Maximilian und Chièvres verhinderten dies, um nicht Streitigkeiten mit Kastilien heraufzubeschwören. Unter der heute weitgehend unbekannten Bezeichnung Lothier ist Niederlothringen zu verstehen: nach der Zweiteilung des karolingischen Lotharingien im Jahre 959 wurde für den südlichen Teil (Ober- oder Mosel-Lotharingien, das französischsprachige Gebiet um Metz, Toul und Verdun) der Name Lorraine üblich; dieses Territorium entsprach zur Zeit Karls V. dem Herzogtum Lothringen. Parallel zu dieser Namensgebung entstand für Niederlotharingien die Landesbezeichnung Lothier. Vgl. Michel Parisse, Art. Lothringen, in: Lexikon des Mittelalters 5 (1991) 2134–2137, hier 2134.

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während seiner Minorität ergaben: er hatte Briefe zu unterzeichnen, die in seinem Namen abgefaßt wurden,362 wurde in Verträge eingebunden, die er gegebenenfalls später einzuhalten hatte, mußte unter Chièvres’ Ägide ab 1509 an Sitzungen des Rates teilnehmen; ebenso wurden von ihm öffentliche Auftritte verlangt. Es waren weniger diese ersten Aufgaben, die entweder durch die Stellung Karls als Träger von Herrschaftstiteln bedingt waren oder der Vorbereitung auf seine künftigen Pflichten dienten, die die eigentlichen Zwänge dieser unfreien Jugend ausmachten, als vielmehr die Anstrengungen, das Kind und später den Heranwachsenden als Spielball oder – um ein weiteres Bild zu gebrauchen – als beliebig einsetzund verschiebbare Figur im großen Ringen um Macht und Einfluß zwischen den bedeutendsten Herrschern und Häusern Europas zu benutzen. Das trifft für die dynastische Politik Maximilians ebenso zu wie für die Versuche der rivalisierenden spanischen Parteiungen in den Niederlanden und das Bemühen der frankreich- bzw. englandfreundlichen Anhänger Chièvres’ respektive Margaretes, den Prinzen für die jeweiligen Interessen zu gewinnen, sich seiner Zustimmung zu versichern und die eigene Position damit zu festigen und quasi zu legitimieren. Anknüpfend an den vorhergehenden Abschnitt, in dem die Wurzeln von Karls später stark entwickeltem dynastischen Bewußtsein aufzuspüren versucht wurden, soll im folgenden die wechselvolle Rolle untersucht werden, die dem Prinzen als Heiratskandidaten im Dienste des Hauses zufiel. Bevor auf die Verlobungen Karls im Einzelnen eingegangen wird, erscheint es jedoch sinnvoll, das Allgemeingültige dem Einzelfall voranzustellen, d.h. die Grundzüge habsburgischer Heiratspolitik in ihrer besonderen Ausprägung durch Maximilian ebenso aufzuzeigen wie die Kernpunkte, die bei der Aufsetzung der Eheverträge berücksichtigt werden mußten, um damit die verschiedenen Heiratsprojekte und die politischen Zielsetzungen, die damit verknüpft waren, durchschaubarer zu machen. Die dynastische Heiratspolitik der Habsburger geht in ihren Anfängen zwar nicht auf Maximilian zurück, erreichte aber während seiner Regierungszeit einen ersten Höhepunkt, beginnend mit der spanischen Doppelheirat und fortgeführt mit der Verheiratung der vier burgundischen Enkelkinder, über die er – wenn auch mit der formellen Einwilligung des spanischen Großvaters – verfügen konnte, und des Infanten Ferdinand. Es war Maximilian in seiner Funktion als Haupt der Dynastie, der über die Zukunft der Enkel entschied, nicht der Großvater oder der Vormund – als solcher hätte er über Ferdinand kaum befinden können. Die streng hierarchische Ordnung innerhalb des Hauses verlangte von allen Mitglie362 Maximilian bat beispielsweise Margarete, ein Schreiben zugunsten des don Diégo de Soto Mayor, das er abgefaßt hatte, von Karl unterzeichnen zu lassen (Le Glay 1839, 1, 13 Nr. 7 [30.9.1507]). Bei anderer Gelegenheit sollten Karl und Margarete sich beim Papst für den Kardinal von Santa Croce verwenden (ebd. 82 Nr. 64 [19.9.1508]). In beiden Fällen bat der Kaiser aber um zusätzliche Unterschriften der Räte bzw. Margaretes.

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dern strikten Gehorsam gegenüber dem Oberhaupt. Soweit es Heiratsprojekte anging, hatten sich außer den direkt Betroffenen auch die Eltern und Vormünder junger Ehekandidaten seinen Vorstellungen zu fügen. Erhebliche Altersunterschiede zwischen den künftigen Ehepartnern lösten nur im Ausnahmefall Bedenken aus; die Persönlichkeit oder eigene Wünsche und Neigungen der Kandidaten hatten sich in jedem Fall der Pflicht gegenüber dem Haus unterzuordnen.363 Vordringliches Ziel der Heiratspolitik Maximilians war es, den Fortbestand der Dynastie zu sichern und durch eine hohe Zahl von Nachkommen „dynastischen Zufällen“, wie sie das spanische und sein eigenes Haus getroffen hatten, weitgehend vorzubeugen, ferner durch ein Netz verwandtschaftlicher Beziehungen zu anderen bedeutenden Geschlechtern stabile politische Verhältnisse zu schaffen. Zu verwirklichen waren derartige Konzepte selbstredend nur, weil die anderen europäischen Fürsten gleichermaßen in dynastischen Bahnen dachten und planten. So wurden die Heiratsverträge zu juristischen und diplomatischen Meisterleistungen, die nicht nur die Situation bei Vertragsabschluß, sondern alle erdenklichen zukünftigen Eventualitäten berücksichtigten. Voraussetzung für einen Ehevertrag zwischen zwei Häusern war eine – u.U. nur vorübergehende – gemeinsame politische Interessenlage, der durch die Vereinbarungen mehr Dauerhaftigkeit verliehen werden sollte. Für den Fall veränderter politischer Konstellationen und Zielsetzungen waren von vornherein Auflösungsklauseln ebenso Teil der Verträge wie Möglichkeiten zur Abwandlung unter Beibehaltung des Gesamtkonzepts. Dies traf besonders für solche Verträge zu, in denen die zukünftigen Ehepartner noch nicht namentlich festgelegt waren oder per verba de futuro ungeborene Kinder „verplant“ wurden.364 Je jünger die Heiratskandidaten bei Abschluß der Verträge waren, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß die Ehe aufgrund veränderter politischer Gegebenheiten oder auch durch Krankheit oder Tod nicht zustandekam. Spezielle Klauseln konnten in solchen Fällen „Schadensersatz“ zusichern.365 Ohne Zweifel spielten die Mitgift und die gegenseitigen Erbverträge eine der wesentlichsten Rollen in den Verträgen und bestimmten oft 363 Zum Gehorsam gegenüber dem Chef des Hauses s. Rodríguez-Salgado 2000, 42. 91. 364 So schloß Maximilian mit Georges d’Amboise, dem Stellvertreter des französischen Königs, und Philipp im Oktober 1501 u.a. einen Ehevertrag für eine Tochter Philipps mit dem gegenwärtigen oder dem zukünftigen Dauphin. Im Dezember 1501, während des Frankreichaufenthaltes des Erzherzogspaares, wurden die Vertragsbedingungen detaillierter ausgearbeitet: Innerhalb der nächsten 6 Jahre sollte la fille de Bourgogne, d.h. Eleonore oder Isabella, mit dem Dauphin verheiratet werden. Falls Philipp in der Zwischenzeit andere Heiratspläne entwickeln sollte, hatte er sie Ludwig XII. zu unterbreiten: die Prinzessin war für Ludwig „reserviert“. Vgl. Cauchies 2003, 146 f. 365 Weber 1982; dort auch (129–131) einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema „Heiratspolitik“.

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den schwierigsten, langwierigsten Teil der Verhandlungen. Maximilian, dessen zahlreiche Kriegszüge weniger der Eroberung weiterer Gebiete als vielmehr der Verteidigung oder Wiedergewinnung von Ländern dienten, auf die das Haus Österreich-Burgund „ewigwährende Rechte“ besaß, sah in den Heiratsverträgen eine Chance, die Ansprüche der Casa d’Austria vor allem auf das alte Herzogtum Burgund, das Herzogtum Mailand und das Königreich Neapel auf friedlichem Wege gegenüber Frankreich durchzusetzen.366 Das verweist auf einen Aspekt der dynastischen Heiratspolitik insbesondere Maximilians, in der Folge aber auch Karls V., der durch die Fülle der kriegerischen Ereignisse der Epoche überdeckt worden ist: Die engen verwandtschaftlichen Beziehungen sollten zum „ewigen Frieden“ zwischen den Häusern führen, zur Vorstufe eines „universalen Friedens der Christenheit“367 – einer der großen, idealistischen Entwürfe Maximilians, der ihn in den Augen zeitgenössischer und vor allem späterer Kritiker als Phantasten erscheinen ließ.368 Die Häufigkeit, mit der Maximilian und Margarete in ihrer Correspondance Heiratspläne für die Mechelner Kinder erörterten, beweist, daß sie die très chiers enffans immer auch aus dynastischer Perspektive sahen; wenn Maximilian die Geschwister, zwar selten und wohl halb im Scherz, nous [!] linages de Malines nannte, klingt darin diese Sichtweise an.369 Während für Karls jüngere Schwestern Isabella und Maria bereits die ersten für sie von Maximilian geschlossenen Heiratsverträge durch die Eheschließung

366 Abgesehen von der Idee, das mittelalterliche Reichsitalien wiederherzustellen, wofür er allerdings bei den Reichsfürsten keine Unterstützung fand, leitete Maximilian direkte Ansprüche seines Hauses auf Mailand aus seiner zweiten Ehe mit Bianca Maria Sforza ab. 1494 hatte er die Nichte des Herzogs Lodovico il Moro geheiratet, dem die Herrschaft 1500 von den Franzosen entrissen wurde und dessen Leben in französischer Kerkerhaft sein Ende fand. Neapel hingegen gehörte zum spanischen Erbe seiner Enkel: Philipp, ab 1500 Miterbe der spanischen Reiche, war damit auch Anwärter auf die Nachfolge in den von Spanien eroberten Teilen Unteritaliens gewesen. – Zu den Kämpfen zwischen Frankreich und Ferdinand von Aragon um Neapel ausführlich Wiesflecker 1977, 71–109. 367 Noflatscher 2003, 352. 368 Zur Kritik an Maximilians Person und Politik insbesondere durch die „kleindeutsche“ Geschichtsschreibung des 19. Jh.s: Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Seine Persönlichkeit und Politik, in: Kat. Innsbruck, 1 f. 369 Z.B. Le Glay 1839, 2, 176 Nr. 511 (17.7.1513). Die Formulierung zeigt außerdem, daß Maximilian eine Spaltung des Hauses in zwei Linien bereits in der Generation von Philipps „burgundischen“ und „spanischen“ Nachkommen als gegeben ansah, wenn die tatsächliche Trennung des österreichischen von dem spanischen Zweig der Casa d’Austria auch erst in der nächsten Generation vollzogen wurde und die beiden Linien sich in einer Weise neu formierten und schließlich wieder verbanden, die Maximilian nicht vorhersehen konnte: Karls Tochter Maria heiratete ihren Vetter, den Sohn Ferdinands I. und Nachfolger auf dem Kaiserthron, Maximilian II.

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besiegelt wurden,370 gelang es dem Kaiser zunächst nicht, für Eleonore, die älteste und daher aus dynastischer Sicht „wertvollste“ der Schwestern, einen ihrer Stellung entsprechenden Ehepartner zu finden.371 Karl hingegen, als künftiger Chef des Hauses Habsburg-Burgund und aller Voraussicht nach auch der spanischen Dynastie, war während seiner gesamten Jugendzeit Gegenstand wechselnder Eheprojekte, an die sich außer den rein dynastischen auch politische Erwartungen und Ziele knüpften: Von seinem ersten Lebensjahr bis zu seiner Emanzipation gab es nur wenige Monate, in denen er nicht verlobt war. Gelegentlich kam es sogar zur Überschneidung von Verträgen, so daß er zwei Bräute gleichzeitig hatte. Baumgarten, der die dynastischen Heiraten sehr skeptisch beurteilte, schrieb zur Situation des jungen Prinzen: „Fast jeder Wechsel der Politik brachte dem Unmündigen eine neue Braut. Ueberhaupt wurde er zehnmal verlobt, bis er wirklich heiratete. Aber die Persönlichkeit des so eifrig Umworbenen schien dabei nicht in Betracht zu kommen.“372

Dabei hat Baumgarten allerdings nicht berücksichtigt, daß nur die frühen Heiratsverträge für Karl von Maximilian, z.T. noch unter der Mitwirkung Philipps, geschlossen wurden und der Volljährige als Herzog von Burgund, als König von Spanien und noch als Römischer König und Erwählter Römischer Kaiser aus eigenen politischen Erwägungen oder denen seines conseil weitere Verlöbnisse einging, ehe er 1526 Isabella von Portugal heiratete; daß er also die dynastische Heiratspolitik, für deren Ziele er vom Kindesalter an eingesetzt worden war, auch fortführte, als er Herr seiner Entschlüsse geworden war.373 Verlobt war Karl mei370 Der frühere Plan, Isabella mit dem Herzog von Geldern zu vermählen, war nie bis zum Vertragsabschluß gelangt; vgl. oben 103 m. Anm. 274. 371 Es scheint Mangel an geeigneten Kandidaten geherrscht zu haben: Die jüngeren Schwestern waren mit dem König von Dänemark vermählt bzw. mit dem König von Ungarn verlobt; der Status Eleonores ließ nur eine ebenbürtige Heirat zu. Mit dem ihm eigenen drastischen Humor schrieb Maximilian der Tochter, daß er auf das Ableben einer von drei europäischen Königinnen warte, um Eleonore mit dem Witwer zu verheiraten (Le Glay 1839, 2, 299–301 Nr. 605 (undatiert; Walther: November 1515). Seine Hoffnung schien sich zu erfüllen, als die Königin von Polen verstarb und der Witwer, Sigismund I., sogleich um die Kaiserenkelin anhielt. Diese Ehe kam jedoch nicht zustande. Eleonore heiratete 1519 auf Geheiß Karls V. den König von Portugal. 372 Baumgarten 1885, 12. Seine Aussage trifft zwar generell den Kern der Situation, über die Zahl der Verlobungen scheint jedoch keine Einigkeit unter den Historikern zu herrschen: Während einige sogar zwölf gezählt haben wollen, haben meine Recherchen eine deutlich geringere Zahl ergeben. 373 Im Alter von neunzehn Jahren war Karl nach dem Tode beider Großväter Haupt der drei Dynastien Habsburg-Burgund und Trastámara. In dieser Eigenschaft verfügte er über die Heiraten von zwei seiner Schwestern und nahm früh ihm nahestehende Mitglieder des Hauses für die Dynastie in die Pflicht.

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nen Recherchen nach mit: (1.) Claude de France, (2.) Mary Tudor, der Schwester Heinrichs VIII., (3.) Anna von Böhmen,374 (4.) Renée de France, der jüngeren Tochter Ludwigs XII., (5.) Louise de France und (6.) Charlotte de France,375 zwei Töchtern Franz I. von Frankreich, und (7.) mit Mary von England, der ältesten Tochter Heinrichs VIII. Aus zwei Gründen bietet es sich an, an dem wechselvollen Verlauf der ersten Heiratsverhandlungen für Karl exemplarisch darzustellen, wie er – und seine kindliche Braut nicht minder – im Ringen um politische Vorteile, um den Gewinn an Macht und Einfluß benutzt wurden, wie Eheabsprachen, die u.U. immerhin über die Zukunft zweier Menschen und eventueller Nachkommen entscheiden konnten, nur als Alibi für realpolitische Ziele dienten: (1.) Die verschiedenen Stadien der Verhandlungen, die sich über etwa sechs Jahre erstreckten, sind außerordentlich reich dokumentiert, wobei das vorliegende Material Einblick in die unterschiedlichen Sichtweisen der beteiligten Vertragsparteien erlaubt.376 (2.) Fast alle Aspekte dynastischer Heiratspolitik, die in den allgemeinen Vorbemerkungen genannt wurden, treten hier in sehr konkreter Weise zutage. In einer Situation relativ guten Einvernehmens zwischen dem Römischen König und Ludwig XII. führten beide Herrscher schon im Herbst 1500 erste Vorverhandlungen über eine Heiratsverbindung des noch nicht einjährigen Karl mit der fast gleichaltrigen Claude de France, der ältesten Tochter des französischen Königs. Der französisch-burgundische Ehebund sollte „ewigen Frieden“ zwischen beiden Häusern gewährleisten; Spanien als Karls „Mutterland“ sollte in diesen Frieden eingeschlossen sein.377 Mit dieser Heirat schien – über Claudes Mitgift – ein Wiedergewinn des Herzogtums Burgund auf friedlichem Wege möglich; darüber hinaus ergaben sich Ansprüche auf die Bretagne;378 die französischen Besitzungen in Unteritalien wurden ebenso in Aussicht gestellt wie ein späterer 374 Der Heiratsvertrag ließ zunächst offen, welchem der beiden Brüder, Karl oder Ferdinand, Anna zur Gemahlin gegeben werden sollte. 375 Der Vertrag reichte über das Stadium von Vorverhandlungen nicht hinaus. 376 Auch eine relativ ausführliche Darstellung kann an dieser Stelle nicht alle Details berücksichtigen. Sehr eingehend behandelt diesen Themenkomplex Wiesflecker 1977, 84–109. 124–144. 272–277. Die älteren Arbeiten von Lanz (1857) und Juste (1858) sind mir von großem Nutzen gewesen, da sie viele verstreute und schwer zugängliche Quellentexte enthalten, dazu mit genauer Angabe der Fundstellen, was sie vor manchen anderen Veröffentlichungen des 19. Jh.s auszeichnet. 377 Die Abreden entsprachen auch den damaligen Wünschen der Spanischen Könige, da sie hofften, daß über Claudes Mitgift die spanisch-französischen Auseinandersetzungen um das Königreich Neapel zu einem friedlichen Ende gebracht werden könnten. Vgl. Cauchies 2003, 144 f. 378 Es handelte sich dabei um Ansprüche Claudes auf ihr mütterliches Erbe: Sie war die Tochter der Anne de Bretagne, die einst Maximilian „geraubt“ worden war.

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Rückfall des Herzogtums Mailand an Karls Linie. Seine eigene Belehnung mit Mailand war der vorläufige Preis, den Ludwig XII. von Maximilian für seine Einwilligung zu der Heirat verlangte. Maximilian ließ Philipps Gesandte weiter in der Sache verhandeln,379 schloß im Oktober 1501 den Vorvertrag von Trient und gab Philipp Vollmacht, im Dezember 1501 in Blois den Vertrag zu bekräftigen, obwohl er selbst die Absichten des Franzosen von Anfang an sehr skeptisch beurteilte. Philipp dagegen, bestärkt durch seinen frankophilen conseil, vertraute dem französischen König und verfolgte den großen Friedensplan weiter. Daß er bei den Verhandlungen seine Kompetenzen überschritt, führte zu einem schweren Zerwürfnis mit seinem Vater. Am 22. September 1504 schien man dem Ziel mit der Bekräftigung der Verträge von Blois nähergekommen zu sein: pax, unio, amicitia, foedus, confoederatio wurden besiegelt, die vollkommene Einigkeit der drei Herrscher Ludwig, Maximilian und Philipp auf ewige Zeiten beschworen: tamquam una anima in tribus corporibus [...] omni aevo et tempore duratura.380 Es wurde sogar eine Zusatzklausel in die Verträge aufgenommen, die besagte, daß das Herzogtum Burgund an Karl (oder, im Falle seiner Minorität, an Philipp) restituiert werden sollte, falls Ludwig XII. ohne männliche Erben stürbe. Die Rückgabe sollte auch erfolgen, falls die Ehe durch Verschulden des französischen Königs nicht zustandekäme.381 Philipp schien den Höhepunkt seiner politischen Erfolge erreicht zu haben, als die Spanischen Könige ihm mit einem Kompromißangebot entgegenkamen,382 mit dem sie ihm als Stellvertreter Karls die Herrschaft über das Königreich Neapel antrugen, unter der Voraussetzung allerdings, daß gleichzeitig Karl nach Spanien geschickt würde. Nachdem Ferdinand und Isabella aus den Verträgen mit Frank379 Am 10. August 1501 schlossen die Bevollmächtigten den Vertrag von Lyon. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde Franz von Busleyden, dem burgundischen Verhandlungsführer, von seinem französischen Gegenpart unmißverständlich mitgeteilt, daß das Herzogtum Burgund nicht Gegenstand der Verhandlungen sei: Eventuell geweckte Hoffnungen auf eine Restitution könnten nur auf das Mißverständnis eines Sekretärs zurückzuführen sein. S. Cauchies 2003, 145 Anm. 65. – Dem Vertrag von Lyon wurde eine Klausel hinzugefügt, die für den Fall des Todes eines der Verlobten vor dem Vollzug der Ehe die Erneuerung des Vertrages für weitere Kinder des Königs respektive des Erzherzogs vorsah; vgl. Juste 1858, 9 m. Anm. 3. 380 Zit. nach Cauchies 2003, 149. 381 Ebd. 149 f.; vgl. auch Juste 1858, 13. 382 Seit den Friedensverhandlungen von Lyon 1503, die Philipp als Bevollmächtigter der Schwiegereltern geführt und nicht zu ihrem Vorteil abgeschlossen hatte, war das ohnehin belastete Verhältnis zwischen ihm und den Spanischen Königen sehr getrübt. Ohne sich an die Abmachungen von Lyon zu halten, hatte Ferdinands General in Italien, der Gran Capitán Gonzalo Fernández, schon ab Mai 1503 Stadt und Königreich Neapel von den Franzosen zurückerobert. S. Cauchies 2003, 148.

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reich ausgeschieden waren, wollten sie sich Entscheidungen über das neapolitanische Erbe und Karls Zukunft vorbehalten und in ihrem Sinne beeinflussen.383 Karls Vater schien dem Vorschlag nicht abgeneigt, doch der Tod Königin Isabellas veränderte die Lage von Grund auf. Der Tag von Hagenau im April 1505 sollte mit der Ratifizierung des Friedensvertrages von Blois und der Belehnung Ludwigs XII. mit Mailand den feierlichen Abschluß jahrelanger Verhandlungen bilden. Bemerkenswert erscheint es, vor allem im Hinblick auf die folgenden Ereignisse, daß der französische König sich bei der Zeremonie durch seinen Statthalter, Georges d’Amboise, vertreten ließ, obwohl das „arrangement territorial“ in Italien eines seiner Hauptziele in dem Vertragswerk darstellte384 und ihm immerhin 200.000 Francs wert gewesen war,385 ein aus habsburgischer Sicht nicht unwesentlicher Aspekt des Abkommens. Der französische König aber entzog sich in Hagenau der persönlichen Eidesleistung; nicht in die feierlichen Eide einbezogen wurden die beiden verlobten Kinder, obwohl sie in den Verträgen erwähnt wurden.386 Für Philipp bedeutete es einen schweren Rückschlag hinsichtlich seiner Friedenspolitik und darüber hinaus eine persönliche Niederlage, als ihm ein Gesandter des französischen Königs in Valladolid die Nachricht überbrachte, daß Ludwig XII. am 21. Mai 1506 vor der Ständeversammlung in Tours in feierlicher Form die Auflösung der Verbindung seiner Tochter mit Karl und anschließend Claudes Verlobung mit dem Dauphin bekanntgegeben hatte. Maximilian aber sah sich in seinem Mißtrauen gegenüber den Franzosen bestätigt: Die Heiratsverträge waren von vornherein „lettres mortes“ gewesen – nichts als Worte, wie Ludwig XII. zu verstehen gab.387 Er hatte sich der durchaus üblichen Praxis bedient, durch eine vorübergehende verwandtschaftliche Bindung einen ebenso vorläufigen Frieden und damit Handlungsspielraum zur Verwirklichung eigener Pläne auf anderen Feldern zu sichern, wobei es in diesem Fall um die Belehnung mit Mailand und die französischen Interessen in Unteritalien ging. Ludwig XII. hatte den eklatanten Vertragsbruch von langer Hand vorbereitet: Bereits 1500 hatte er in einer geheimen Verpflichtung, die er 1504 erneuerte, festgelegt, daß Claude im Interesse Frankreichs niemand anders als den Dauphin Franz von Angoulême, Ludwigs

383 Cauchies 2003, 160. 384 Juste 1858, 15 erwähnt eine Zusatzklausel, die dem Vertrag in Hagenau angefügt wurde: Falls der französische König die Heirat Karls und Claudes verhindern sollte, würde seine Belehnung mit Mailand hinfällig. Das Herzogtum sollte in diesem Falle an Karl und seine Nachkommen übergehen. 385 Cauchies 2003, 147. 386 Ebd. 150. 387 Wiesflecker 1977, 275.

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Neffen, heiraten dürfe.388 Das zunächst geheimgehaltene Testament Ludwigs vom 31. Mai 1505 bekräftigte dieses neue Eheprojekt und begründete die Auflösung des bisherigen Vertrages mit der drohenden Einkreisung Frankreichs durch die gewachsene Macht der vereinigten Häuser Habsburg-Burgund und Spanien, wo inzwischen der Erbfall eingetreten war.389 Die Staatsräson hatte mithin Vorrang vor der persönlichen Ehre des Monarchen und vor seinem Eidbruch. Aus der Rückschau und in Kenntnis dieser vorbereitenden Schritte Ludwigs erweist sich seine Weigerung, Claude zur Erziehung an den Hof Maximilians zu geben,390 als weiteres Indiz seiner wahren Absichten. Um die Auflösung des Verlöbnisses öffentlich verkünden und vertreten zu können, veranlaßte Ludwig die Generalstände, ihn im Interesse des Landes zu bitten, seine Tochter nicht mit einem Ausländer zu vermählen, dem über die Mitgift französische Besitzungen zufallen würden. Diese „Bitte“ konnte Ludwig den Ständen nicht abschlagen.391 Gegen das Interesse des Landes zu handeln, hätte zudem den Bruch des Krönungseides bedeutet.392 Wie Wiesflecker unterstreicht schon Juste, daß damit die Schuld an dem Vertragsbruch von dem König auf die Stände abgewälzt wurde393 – ein raffinierter letzter Schachzug in der langen Vertragsgeschichte, der ihn von der Erfüllung nachteiliger Zusatzklauseln befreite, ihm die Vorteile aus den Abmachungen hingegen beließ. Für Karl jedoch ergab sich aus dem fehlgeschlagenen Eheprojekt eine politische Erblast, vor allem hinsichtlich der umstrittenen Besitzverhältnisse in Italien, die ihn während des ersten 388 Schon die erste geheime Verpflichtung vom 30. April 1500 schloß ausdrücklich die Wahrung des franko-bretonischen Erbes ein und sollte – gegen den Widerstand der Anne de Bretagne – eine Eingliederung des Herzogtums in das Königreich vorbereiten; s. Cauchies 2003, 145; vgl. Wiesflecker 1977, 132. Zum Widerstand der französischen Königin gegen die Heirat ihrer Tochter mit dem Dauphin s. Juste 1858, 13 Anm. 2. 389 Cauchies 2003, 150 f.; Wiesflecker 1977, 272 f. 390 Lanz 1857, 70 f. Anm. 13. Lanz erwähnt zusätzlich (81), daß Ludwig am 30. September und am 19. Oktober 1505 die Gardehauptleute auf die Bewachung der Prinzessin vereidigen ließ, die auf jeden Fall verhindern sollten, daß Claude außer Landes gebracht würde. 391 Wiesflecker 1977, 274 f. 392 Lanz 1857, 84. Den möglichen Bruch des Krönungseides führte Ludwig auch gegenüber Maximilian und Philipp zu seiner Entlastung an. – Chmel 1845, 230–233 veröffentlicht einen Brief Chièvres’, damals Generalstatthalter Philipps in den Niederlanden, an Maximilian. Am 19. Juni 1506 teilte er dem Kaiser mit, daß der französische König ihm, dem conseil von Flandern sowie den Städten, darunter Gent, Brügge und Ypern, Schreiben hatte überbringen lassen, die die Eheschließung des Dauphin mit Claude de France rechtfertigen sollten. Dem Kaiser übersandte Chièvres das Schriftstück in Kopie; darin heißt es u.a.: Par les dites copies verrez et cognoistrez de plus en plus le couraige et intencion du dit seigneur roy, qui charce tous moyens a lui possibles pour se justiffier touchant le mariage nagaires fait et solempnise de monseigneur de Vallois et madame Claude sa fille. 393 Wiesflecker 1977, 275; Juste 1858, 76.

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Jahrzehnts seiner Herrschaft im Reich vor immer neue Herausforderungen stellen sollte. Philipp „Croit-conseil“ konnte die Ränke des französischen Königs nicht vorhersehen. Umso signifikanter erscheint es daher, daß er am Anfang des Jahres 1506 während seines unfreiwilligen Englandaufenthalts in – allerdings nur mündliche – Heiratsverhandlungen für Karl und Mary von England, die Tochter Heinrichs VII., eintrat, was in Burgund gewisse Irritationen hervorrief, da zu jenem Zeitpunkt die französische Verlobung noch bestand.394 Es stellt sich die Frage, ob Philipp damals unter englischem Druck verhandelte, oder ob er die Brüchigkeit seiner Verträge mit dem französischen König auch angesichts der Hinwendung Ferdinands von Aragon zu Frankreich395 zu erkennen begann und daher eine neue Allianz anstrebte. Aus der Darstellung des Verlaufs der ersten Heiratsverhandlungen für Karl dürfte eines klar ersichtlich geworden sein: Die Persönlichkeiten der direkt betroffenen Hauptpersonen, der Ehekandidaten, spielten dabei nicht die geringste Rolle. Da es sich in diesem Fall um Kleinkinder handelte, blieben sie unberührt von dem Ränkespiel, in dem sie eingesetzt wurden, und wurden in ihrer Entwicklung dadurch nicht beeinträchtigt. Welche geradezu traumatischen Folgen fehlgeschlagene Eheprojekte bei Heranwachsenden hinterlassen konnten, beweist in unserem Zusammenhang das Beispiel Margaretes von Österreich, der verschmähten petite reine. In völlig anderer, aber nicht weniger nachhaltiger Weise sollte sich der zweite für Karl entworfene und nicht realisierte Heiratsplan auf das Leben und das spätere Verhalten der enttäuschten Braut Mary Tudor auswirken. Während der langen Verlobungszeit396 sind sich die jungen Brautleute zwar nie 394 Diese Vorgespräche versuchte die französische Seite allerdings später gegen Philipp zu verwenden und ihm seinerseits Vertragsbruch vorzuwerfen. Vgl. Lanz 1857, 84. 395 Ebd. 81. Der Ehevertrag Ferdinands von Aragon und der Germaine de Foix sicherte eventuellen Kindern aus dieser Verbindung Neapel zu; sollte die Ehe kinderlos bleiben, fiel Neapel an Frankreich. 396 Von den ersten mündlichen Absprachen im Januar 1506 bis zur Auflösung des Vertrags am 7. August 1514 vergingen immerhin gut acht Jahre. Nach dem Scheitern der französischen Verlobung griff Maximilian auf das von seinem Sohn initiierte englische Eheprojekt zurück (Le Glay 1839, 1, 20 f. Nr. 12 [4.12.1507]). Für Maximilian spielte neben der reichen Mitgift Marys die finanzielle und militärische Unterstützung eine wesentliche Rolle, die der englische König für die niederländischen Städte und Provinzen im Kampf gegen Geldern zu leisten bereit war (ebd. 74–78 Nr. 57 [23.7.1508]). Am 17. Dezember 1508 schloß Jean de Berghes als Bevollmächtigter des Kaisers den Verlobungsvertrag für Karl und Mary (ebd. 93 Anm. 2). Nach dem Tode Heinrichs VII. am 21. März 1509 trat dessen Sohn in die Verträge ein, die Maximilian im Mai d.J. ratifiziert vorlagen (ebd. 147 Nr. 120 [25.5.1509]). Aus den Berichten John Stiles an den englischen König geht hervor, daß Ferdinand von Aragon zunächst seine Zustimmung verweigerte (Brodie 1920, 5 Nr. 6 [26.4.1509]). Ferdinand machte seine Einwilligung von der Heirat seiner Tochter Katharina mit dem neuen englischen König Heinrich VIII. abhängig. Erst als dieser Ehe nichts

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begegnet, scheinen aber, wenn man einigen Andeutungen in Briefen Glauben schenken darf, eine gewisse Zuneigung zueinander entwickelt zu haben.397 Margaretes lebhaftes Interesse an Bildnissen der Familienmitglieder und am Zustandekommen dieser Ehe dürfte schon bald zu einem Austausch der Porträts der Verlobten geführt haben. G. Glück weist auf ein Bild des achtjährigen Karl hin, für das die Vermutung naheliegt, daß es an den englischen Hof gelangte: „Demselben niederländischen Künstlerkreis [verm. dem Kreis um Peter van Coninxloo, A.S.] gehört ein Bildnis an, das den jungen Prinzen als kleinen Jäger, mit einem Falken auf dem Arm, wiedergibt [...] Es ist die Zeit, da Karl seine erste öffentliche Rede vor den Ständen zu Löwen hielt, und ein ähnliches rundes Kindergesicht muß er in einem Bildnisse gezeigt haben, das im Herbst des folgenden Jahres 1508, als er schon mit der englischen Prinzessin Mary Tudor durch Stellvertretung getraut worden war, der Deutsche Lucas Cranach der Ältere bei seinem Aufenthalt in den Niederlanden malte und das leider verloren oder verschollen ist.“398

In Margaretes Sammlung war Karls englische Braut dreimal im Bilde vertreten. In der Bibliothek befand sich ihr Porträt, das im Inventar von 1515/16 so beschrieben wird: Un autre petit tableau de la semblance de madame Marye, seur du roy d’Angleterre, moderne de illuminure.399 Schon früh war die Regentin im Besitz einer Terracotta-Büste der Prinzessin, wahrscheinlich von Conrad Meit, die ihren Platz vermutlich in den Privaträumen Margaretes hatte.400 Für die première chambre weist noch das Inventar von 1523/24 ein Porträt Marys nach: Aultre petit tableau de la portraiture de madame Mairie d’Aingletterre, ayant une robbe de drapt d’or, les manches fendues, tenant une palme en sa main et ung bonnet noir sur son chief.401 mehr im Wege stand, erteilte Ferdinand seine Zustimmung zur Verlobung Karls mit Mary (ebd. 22 Nr. 22–24 [11.5.1509]; 23 Nr. 30 [14.5.1509]; 25 Nr. 39 [18.5.1509]). 397 Rodríguez-Salgado 2000, 61 Anm. 33 weist auf einen Brief Karls vom 18. Dezember 1508 hin, in dem er Mary als ma bonne compaigne anredet und als Vostre bon mary, Charles unterzeichnet (British Library, Ms. Cotton Galba B III 93). Es sind allerdings Zweifel erlaubt, ob es sich hier tatsächlich um die Formulierungen eines achtjährigen Kindes handelt oder ob der Text diktiert wurde. Ob es sich dabei um den Brief handelt, den Le Glay erwähnt, konnte nicht festgestellt werden (vgl. oben 83 Anm. 211); dem Kontext nach scheint er sich allerdings auf einen Brief Karls an Margarete bezogen zu haben. 398 Glück 1937, 165 f. Ob seitdem Nachforschungen zum Verbleib des Bildes zu Ergebnissen geführt haben, konnte nicht festgestellt werden. Das hier zum Vergleich herangezogene Porträt des Siebenjährigen befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien. Es ist beschrieben und wiedergegeben bei Demus (Bearb.) 1973, 63 (Kat.-Nr. 20, Abb. 38). 399 Le Glay 1839, 2, 477. 400 Der Besitz wird belegt durch den Rechnungsvermerk für eine Reparatur der Büste (Zahlungsbeleg vom 26. April 1510, Archives du Nord, B 203, fol. 66v): Eichberger 1996, 266 m. Anm. 28. 401 Zimmerman 1885, XCV (Nr. 39).

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Obwohl die Verlobung damals längst aufgelöst und Mary bereits in zweiter Ehe verheiratet war, reihte Margarete ihr Bild unter die Porträts der bedeutenden Persönlichkeiten im „Schauraum“ der Dynastie ein, gewiß ein Beweis dafür, wie sehr ihr dieses Heiratsprojekt am Herzen gelegen hatte und wie sie sein Scheitern bedauerte. Mary, die einige Jahre älter (geb. 1497) und als Mädchen ohnehin reifer war als Karl, scheint sich, vielleicht in alterstypischer Schwärmerei, in ihren fernen Prinzen verliebt zu haben. Schon im Frühsommer 1509 sandte sie ihm einen Ring, was Maximilian veranlaßte, Margarete zu bitten, Karl bei der Auswahl einer Gegengabe zu beraten.402 Der Prinz schickte daraufhin seiner Braut als Zeichen ihres Bundes ebenfalls einen Ring.403 Mit Heinrich VIII. vereinbarte Margarete, daß Mary 1510 zu einem Besuch in die Niederlande kommen sollte. Maximilian begrüßte den Plan und überließ es seiner Tochter, den Aufenthalt der „Prinzessin von Kastilien“ deren Status entsprechend würdig zu gestalten.404 Im Februar des darauffolgenden Jahres bestellte Maximilian den Wappenkönig vom Goldenen Vlies zum Ehrenkavalier für Mary, der ihr während ihres Aufenthalts zu Diensten sein sollte.405 Der so sorgfältig vorbereitete Besuch der Prinzessin in den Niederlanden kam nie zustande; einmal noch erkundigte sich Maximilian, weshalb er seit langem nichts mehr von den Plänen gehört habe und was der Grund für die Verzögerung sei.406 In den Briefen Margaretes findet sich keine Antwort auf diese Fragen, und danach war von einem Besuch Marys nicht mehr die Rede.407 Für Margarete muß das Ausbleiben der Prinzessin über politische-dynastische Erwägungen hinaus eine persönliche Enttäuschung gewesen sein. Sie korrespondierte mit dem jungen Mädchen, und ein erhaltener Antwortbrief Marys an ihre bonne tante läßt erkennen, daß sich zwischen beiden ein gewisser Grad von Vertrautheit eingestellt hatte.408 402 Le Glay 1839, 1, 169 Nr. 129 (30.7.1509). 403 Henne 1865, 91. 404 Le Glay 1839, 1, 221 f. Nr. 165 (14.12.1509). Anfang 1510 reiste erneut ein Abgesandter Margaretes an den englischen Hof, um über Marys Reise zu verhandeln, wie ein Bericht des englischen Diplomaten Thomas Spinelly belegt (Brodie 1920, 146 Nr. 325). 405 Le Glay 1839, 1, 240 Nr. 181 (28.2.1509; style de Rome: 1510). 406 Ebd. 290 Nr. 220 (23.6.1510). 407 Erst aus zwei späteren Briefen Margaretes läßt sich andeutungsweise entnehmen, daß der englische König die Reise seiner Schwester hintertrieben bzw. verhindert hatte: Maximilian hatte von Heinrich VIII. eine Erklärung für le retardement de madame Marie gefordert, was sich nur auf die Ereignisse vom Frühjahr 1510 beziehen kann. Gesandte überbrachten Margarete die Antwort des Königs, auf deren Inhalt die Regentin nicht eingeht (Le Glay 1839, 2, 119–125 Nr. 477 f. [März oder April 1513; Walther: Mitte April 1514; nur diese Datierung ergibt einen Sinn]). 408 Brodie 1920, 810 Nr. 1777 (13.4.1513).

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Mary wuchs zu einer vielgerühmten Schönheit heran, die selbst Erasmus von Rotterdam, der damals in England lebte, zu einer Eloge hinriß: Sed o terque quaterque felicem Carolum illustrissimum principem nostrum, qui talem sit sponsam habiturus. Nihil a natura fingi possit venustius, nihil absolutius; nec minus superat omnes bonitate prudentiaque quam forma.409

Im gleichen Tenor schrieb noch am 30. Juni 1514, kurz vor Auflösung der Verlobung, ein Gesandter Margaretes an die Regentin: „[... that he] has never seen so beautiful a lady. [...] She is very well brought up, and appears to love the prince wonderfully. [...] She is not tall, but is a better match in age and person for the prince than he had heard say.“410 Gewiß ist Karl das Lob seiner schönen Braut zu Ohren gekommen. Als man den Vierzehnjährigen bei Hofe einmal neckte, weil er seine Blicke allzu wohlgefällig auf Margaretes hübschen Hofdamen ruhen ließ, soll er beteuert haben, daß seine Gedanken allein bei seiner Lady Mary seien.411 Im Oktober 1513 war in den Verträgen von Lille und Tournai der Termin für die Hochzeitsfeierlichkeiten festgesetzt worden: sie sollten zwischen Karls 14. Geburtstag (24. Februar 1514) und dem 15. Mai d.J. auf englischem Boden, in Calais, stattfinden. Königin Katharina von England, Karls Tante, hatte ihre Anwesenheit ebenso zugesagt wie – selbstverständlich – Heinrich VIII., der unmittelbar anschließend von Calais aus mit einem Kriegszug gegen Frankreich beginnen wollte. Anfang des Jahres 1514 war Maximilian tief in die Kämpfe auf dem italienischen Kriegsschauplatz verwickelt und sah sich schließlich gezwungen, gemeinsam mit Ferdinand von Aragon einen Friedensvertrag mit Frankreich auszuhandeln.412 Als Margarete im Februar von den Verhandlungen erfuhr, die der Gesandte Ferdinands am Hofe Ludwigs XII. führte, versuchte sie in zahlreichen langen und sehr eindringlichen Briefen den Kaiser von dieser Wendung seiner Politik abzuhalten. Geradezu beschwörend stellte sie dem Vater vor Augen, was ein Bruch des Vertrages mit England für Karl und dessen Zukunft, für Maximilians eigene Politik, für das Land und nicht zuletzt für die Ehre des Kaisers und des Hauses bedeuten würde. Sie selbst war hilflos und ohne Order des Kaisers in dieser Situation nahezu handlungsunfähig. In den ersten dieser Briefe erinnerte die Regentin den Vater daran, als wie unzuverlässig sich Ferdinand von Aragon und der französische König als Bündnispartner erwiesen hätten, und sah voraus, daß sie den Kaiser im Stich lassen würden, sobald sie ihre Ziele erreicht hätten. Heinrich VIII. dagegen, der Maximilian und den Niederlanden bereits entschei409 Epist. 252 (vol. I p. 498–499 A., 6.2.1512); engl. Übers. bei Brodie 1920, 512 Nr. 1050. 410 Brodie 1920, 1307 Nr. 3041 (Gérard de Pleine an Margarete; Regest). 411 Ebd. 1263 Nr. 2924 (Richard Wingfield an Suffolk, 20.5.1514). 412 Vgl. oben 114.

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dende Hilfe geleistet hatte, werde immer ein verläßlicher Bundesgenosse bleiben.413 Am 13. März 1514 wurde trotz aller Überzeugungsversuche der Regentin der Waffenstillstand zu Orléans geschlossen. Margarete war fassungslos, als man ihr den Vertragsinhalt zur Kenntnis brachte, und besorgt, wie Heinrich VIII. das Vorgehen seines Verbündeten aufnehmen würde.414 Je näher der vereinbarte Hochzeitstermin rückte, umso mehr sah sich Margarete in Bedrängnis. Sie versuchte eine Verlängerung der Frist bis Ende Mai zu erwirken. Da aber für die Festlichkeiten in Calais wie auch für den anschließenden Kriegszug Heinrichs alle Vorbereitungen getroffen waren, fürchtete sie, ohne Maximilians persönliche Anwesenheit nichts erreichen zu können.415 Noch Mitte April war keine Entscheidung gefallen; Maximilians Ausweichen und Fernbleiben erhöhte das Mißtrauen des englischen Königs. Nachdem der Kaiser sich als unzuverlässiger Bündnispartner erwiesen hatte, wurden nun seiner Regentin, die die Pläne für die englische Heirat immer gefördert hatte, die Vertragsbedingungen von Tournai vorgehalten, die der Kaiser gebilligt und ratifiziert hatte. In zwei unmittelbar aufeinander folgenden Briefen drängte Margarete den Vater nochmals, den Heiratsvertrag für Karl nicht zu gefährden, obwohl die Zeit für eine termingerechte Einhaltung knapp wurde.416 Sie war auch bereit, mit Heinrich zu verhandeln, wenn Maximilian ein neues Hochzeitsdatum vorschlagen sollte. Noch einmal setzte sie alles daran, diese Heirat nicht scheitern zu lassen, indem sie dem Kaiser erneut die finanzielle Seite der Verträge ins Gedächtnis rief und den Schaden, der dem Land bei ihrer Nichteinhaltung entstehen mußte. Sie versuchte an Maximilians Ehrgefühl zu appellieren: Ein Vertragsbruch werde seine Ehre wie auch die des englischen Königs beschmutzen, Schimpf und Schande für alle Beteiligten in den Augen der gesamten Christenheit nach sich ziehen: 413 Le Glay 1839, 2, 221–229 Nr. 554 f. (14. u. 24.2.1514). Margarete hatte von Heinrich VIII. eine eigenhändig abgefaßte und besiegelte Zusicherung erhalten, daß er ohne ihr Wissen keine Friedens- oder Waffenstillstandsverträge mit Frankreich schließen werde und von ihrer Seite ein Gleiches erwarte (zit. ebd. 224 Anm. 2). 414 Le Glay 1839, 2, 245 f. Nr. 566 (undat. minute; Walther: nach Mitte März 1514). Der Waffenstillstand, auf ein Jahr geschlossen, galt für den französischen König, Ferdinand von Aragon, Maximilian und Karl sowie für Heinrich VIII., den man ohne sein Wissen in den Vertrag einbezogen hatte, wobei der Kaiser für ihn bürgte. Anfang April wurde das Dokument dem englischen König überbracht. Alle Vermittlungsversuche während der darauf folgenden diplomatischen Verwicklungen blieben Margarete vorbehalten. Zumindest in der Correspondance ist kein Schreiben Maximilians überliefert, das ihr Entscheidungshilfen hätte liefern können. Am 20. Juli mußte Margarete dem Kaiser mitteilen, daß Heinrich VIII. dem in seinem Namen geschlossenen Vertrag endgültig die Zustimmung verweigerte (ebd. 266–268 Nr. 578). 415 Le Glay 1839, 2, 117–119 Nr. 476 (28.3.1514). 416 Ebd. 119–125 Nr. 477 f. (Mitte April 1514; vgl. oben Anm. 407).

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Et que en cest affaire vous et moy vueillions garder nostre honneur et, sans varier, entretenir noz promesses, en eschevant tous les mauvais brouyts, lesquelz, à faulte d’icelles promesses, pourroient souldre à nostre déshonneur et le sien, actendu que le temps d’icelles solempnizacion est sceu et divulgué par toute chrétienté 417

– schließlich hatte ein „allzu enthusiastischer Chronist“ das Eheprojekt bereits als „vornehmste Verbindung und großartigste Hochzeit der ganzen Christenheit“ im Voraus gefeiert.418 Der vereinbarte Hochzeitstermin verstrich; Ende Mai mahnte Margarete den Vater noch einmal, an der „Dreieinigkeit“ mit Heinrich VIII. und Ferdinand festzuhalten;419 sie setzte sogar eine schwache Hoffnung darauf, daß der englische König ihr ein Darlehen gewähren könnte, falls Maximilian auf den Heiratsvertrag für Mary zurückkäme.420 Dies ist der letzte Hinweis in der Correspondance auf das ursprünglich von beiden Seiten und – als seltene Ausnahme – auch von den jungen Ehekandidaten favorisierte Heiratsprojekt.421 Hatte Ferdinand von Aragon dieses Scheitern der habsburgisch-burgundischen Verbindung mit der Tudor-Dynastie vorhergesehen? Hatte er geheime Informationen? War er durch seine undurchsichtigen Machenschaften und den ständigen Wechsel der Allianzen sogar mitverantwortlich? Bereits am 11. Januar 1513 (!) kritisierte Ferdinand in einem Schreiben an Pedro de Urea, seinen Gesandten am Kaiserhof, Maximilians neuerliches Vorgehen gegen Venedig, durch das Frankreichs Position in Italien gestärkt worden war, und ließ den Kaiser warnen. In Brodies Regest des Briefes heißt es: „If the King of France offers Madame Renée as security [...] Urea shall point out to the Emperor how little these offers are to be trusted. The marriage of Prince Charles with the King of England’s sister must not be broken off; or France will gain the King of England, to the detriment of Spain and the House of Burgundy.“422

417 Le Glay 1839, 2, 123 Nr. 478. 418 Rodríguez-Salgado 2000, 61 (ohne Quellenangabe). 419 Le Glay 1839, 2, 137 f. Nr. 489 (Ende Mai 1514). 420 Ebd. 255 Nr. 571 (29./30.5.1514). 421 Tyler 1959, 55 erklärt die Auflösung der Verlobung damit, daß Karls Räte einen weiteren Aufschub der Hochzeit verlangt hätten: eine m.E. wenig stichhaltige Begründung, da sie sich wohl kaum gegen feste Absichten des Kaisers, der Regentin und des englischen Königs hätten behaupten können. – Petrus Martyr, epist. 536 (p. 541 W., 2.[?]6.1514 [VI Non. Iun., verm. IV. Non. Iun. zu lesen]) konnte die Schuld am Scheitern des Eheprojekts nur bei Heinrich VIII. sehen, der auf einer Einhaltung des Termins bestanden hatte, während beide Großväter Karls zarter Gesundheit wegen eine Verschiebung der Hochzeit erwirken wollten. 422 Brodie 1920, 715 f. Nr. 1557 (Regest d. span. Orig.).

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Unter dem gleichen Datum schrieb Ferdinand an Ramon de Cardona, seinen Vizekönig von Neapel und Generalkapitän in Italien, im gleichen Tenor, deutete jedoch bereits weiterreichende Konsequenzen an: „The Emperor must take care not to break off the marriage engagement with the King of England’s sister; but if the King should propose another marriage it might be accepted and the Prince married to a French princess.“423

Der zweite Teil des Satzes mag zunächst überraschen, suggeriert er doch, daß Heinrich VIII. bereits damals andere Heiratspläne für seine Schwester gehabt haben könnte. Wie argwöhnisch Ferdinand die Absichten des französischen Königs verfolgte, läßt ein Satz aus einem Brief an Urea erkennen, den er etwa eine Woche nach seinem Waffenstillstandsabkommen mit Ludwig XII. verfaßte: „To sow dissension between the Emperor and Ferdinand, the King of France speaks of a certain marriage being arranged by him who was Cardinal of Santa Croce...“424

Demnach scheint – zumindest von französischer Seite – der Bruch zwischen dem Kaiser, seiner Regentin und dem englischen König und damit das Scheitern des Heiratsprojekts von langer Hand geplant gewesen zu sein. Diese Auffassung vertritt auch Juste: „[...] le projet de 1508 avait toujours excité la jalousie de la cour de France, et à tel point que, lorsque Louis XII fiança sa fille Claude avec François d’Angoulême, il déclara qu’il agissait ainsi parce que l’empereur Maximilien recherchait pour son petit-fils la main de la princesse d’Angleterre.“425

Ludwig schien somit sein Ziel erreicht zu haben, als am 7. August 1514 seine Eheschließung mit Mary vertraglich festgesetzt wurde. Einige Tage zuvor hatte die Prinzessin in Gegenwart eines Notars und mehrerer Zeugen eine Erklärung abgeben müssen, die besagte, daß sie gezwungen worden sei, dem Prinzen von Kastilien ihr Vertrauen zu schenken, und daß er sein Versprechen gebrochen habe, sie nach seinem 14. Geburtstag zu ehelichen.426 Am 10. Oktober wurde Mary dem französischen König angetraut und am 5. November zu Saint-Denis zur Königin von Frankreich gekrönt. Bereits am 1. Januar 1515 war sie Königin-Witwe. Wie sie es sich vor ihrer erzwungenen Verheiratung mit Ludwig XII. von ihrem Bruder ausbedungen hatte, traf sie nun ihre eigene Wahl: Ihr zweiter Ehemann wurde

423 Brodie 1920, 716 Nr. 1559 (Regest d. span. Orig.). 424 Ebd. 796 Nr. 1740 (verm. 7.4.1513, Regest d. span. Orig.). Kardinal Bernardino de Carvajal, im Auftrag des französischen Königs Hauptinitiator des schismatischen Konzils von Pisa, seines Amtes durch Julius II. enthoben, wurde 1513 von Leo X. wieder eingesetzt. 425 Juste 1858, 65. 426 Henne 1865, 177.

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Charles Brandon, den Heinrich VIII. zum Herzog von Suffolk erhob.427 Karl ist seiner ehemaligen Verlobten nur einmal begegnet: am Pfingstsonntag, dem 24. Mai 1520, als er auf seiner Reise zur Krönung in Aachen dem englischen König als erstem der europäischen Monarchen einen Besuch abstattete. Bei dem glänzenden Zusammentreffen der Fürsten in Canterbury war auch die Herzogin von Suffolk anwesend.428 In seinen Memoiren widmet der Kaiser diesem Staatsbesuch fünf Zeilen;429 die Begegnung mit Mary wird nicht erwähnt. In das folgenreichste dynastische Heiratsprojekt Maximilians, den Doppelheiratsvertrag für seine Enkel und die ungarischen Königskinder, war Karl von 1506 bis 1515 eingeschlossen. Der Kaiser verfolgte mit diesem Vertrag zwei Ziele: die Erneuerung alter Erbansprüche seines Hauses430 und ein durch dynastische Bande gefestigtes Bündnis der Länder im Osten Europas als Schutzwall gegen die Türken. Obwohl die Abmachungen für Karl, soweit sie seine Verheiratung betrafen, ohne Konsequenzen blieben, sollen sie hier nicht unerwähnt bleiben.431 Sie bestätigen nicht nur ein weiteres Mal, in welchem Maße über den Prinzen – und die übrigen involvierten Königskinder – verfügt wurde; in ihren Zielsetzungen und ihren vielfältigen Klauseln stellen sie darüber hinaus gleichsam die Quintessenz dynastischer Politik in reinster Form dar. Im März 1506 führten erste Verhandlungen zwischen Maximilian und Wladislaw II. von Böhmen und Ungarn bereits zu einem Doppelheiratsvertrag, in den der noch ungeborene ungarische Thronfolger per verba de futuro mit eingeplant war. Ludwig, der Erbprinz, kam 427 Brandon, ein Sohn der Amme Heinrichs VIII., stieg zum Stallmeister des Königs auf und wurde in den Adelsstand erhoben. 1513, während der Festlichkeiten in Lille, hatte er Margarete umworben. Le Glay (1839, 2, 437) bemerkt zu der wohl überhasteten, unüberlegten Eheschließung: „Marie d’Angleterre, jeune étourdie qui épousa Charles Brandon, lorsque les cendres de son royal époux étaient à peine refroidies [...]“. 428 Brandi 1964, 97. 429 Kervyn van Lettenhove 1862, 8. 430 Nach dem Aussterben der Luxemburger war die Herrschaft über Böhmen und Ungarn an Albrecht II. von Österreich (1438–39) gefallen. Vormund seines Sohnes Ladislaus Postumus (1440–1457) wurde Friedrich III., der Vater Maximilians. Nach Ladislaus’ Tode setzten sich zunächst nationale Könige durch: Matthias Corvinus in Ungarn, Georg Podiebrad in Böhmen. Jahrzehntelange Kämpfe endeten 1471 mit der Wahl Wladislaws von Polen zum König von Böhmen; 1490 wurde er nach einer Einigung mit Matthias Corvinus außerdem König von Ungarn. Friedrich III. gelang es noch 1491, im Frieden von Preßburg einen Erbvertrag mit Böhmen und Ungarn auszuhandeln, gegen den der einheimische Adel rebellierte. Ausländer, d.h. in diesem Falle Maximilian, waren von der Thronfolge ausdrücklich ausgeschlossen. 431 Aus diesem Grunde kann das vielleicht faszinierendste Projekt mit seiner bewegten Geschichte und seinen bis ins 20. Jahrhundert reichenden Folgen nur gestreift werden. Sehr ausführlich dazu und ebenso zu dem aus kulturhistorischer Sicht besonders reizvollen Sujet des Wiener Kongresses von 1515 Wiesflecker 1981, 154–204.

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noch im gleichen Jahr zur Welt. Für den Fall, daß Wladislaw vorzeitig sterben sollte, wurde Maximilian zum Vormund von dessen Kindern bestimmt.432 Die Neuausfertigung des Vertrages von 1507 spezifizierte die beiden Heiratsprojekte näher: Derjenige Enkel Maximilians, Karl oder Ferdinand, der einmal die Nachfolge in den österreichischen Ländern antreten würde, sollte Anna von Böhmen heiraten; eine der jüngsten Schwestern Karls, Katharina oder Maria, war für Ludwig von Ungarn bestimmt.433 So beweist gerade dieses Vertragswerk, daß man alle Eventualitäten, die die Zukunft bringen konnte, im Vorfeld zu berücksichtigen versuchte. Was die Einbeziehung Karls betrifft, so war er zwischen 1506 und 1515 fast stets mit zwei Prinzessinnen gleichzeitig verlobt: 1506, als der erste Vertrag mit Ungarn geschlossen wurde, bestand noch seine mariage mit Claude de France, während bereits Vorverhandlungen in England geführt worden waren, die Maximilian 1507 wieder aufnahm. Der bon mary seiner englischen Braut war zwischen 1508 und 1514 außer mit Mary auch mit Anna von Böhmen so gut wie verlobt, denn zu diesem Zeitpunkt war keineswegs sicher, welcher der beiden Kaiserenkel das Erbe in Österreich antreten würde. Im Frühjahr 1515, etwa zur gleichen Zeit, als in Preßburg um die endgültige Fassung des Doppelheiratsvertrages gerungen wurde, schlossen burgundische Diplomaten in Paris ein Ehebündnis für Karl und Renée de France, für eine Verbindung mit der Tochter Ludwigs XII. also, die der französische König Ferdinand von Aragon als Braut des Infanten in Aussicht gestellt hatte. Die Verhandlungen, die schließlich am 22. Juli 1515 in Wien zur Ausfertigung der Vertragsurkunde führten, waren äußerst schwierig. Immer neue Hindernisse und Streitpunkte forderten von Maximilian etliche Kompromisse.434 Die Präambel der großen Kaiserurkunde435 kündet von dem gemeinsamen Willen der Vertragspartner Maximilian, Sigismund von Polen und Wladislaw von Böhmen und Ungarn, durch Frieden, Eintracht und Freundschaft statt durch irgendwelche 432 Im Oktober 1507, also nach dem Tode Philipps, unterstellte Maximilian seine Enkel und deren Länder für den Fall seines eigenen Todes vice versa der Vormundschaft Wladislaws. 433 Die zehn Monate alte Katharina galt als die eigentliche Ehekandidatin. In Anbetracht der hohen Kindersterblichkeit wurde Maria als möglicher „Ersatz“ in den Vertrag einbezogen. 434 Hier seien nur die wesentlichen Streitpunkte aufgeführt, über die Einigung erzielt werden mußte: (1.) Ein Ausgleich mit den ungarischen Ständen, die die habsburgische Heirat verhindern wollten, mußte herbeigeführt werden. (2.) König Sigismund von Polen, der Bruder Wladislaws, verlangte eine Beilegung des Streits zwischen Polen und dem Kaiser um die Oberhoheit über den Deutschen Orden als Vorbedingung für seine Zustimmung zu dem Vertrag. (3.) Der Kaiser mußte darauf verzichten, Moskau durch ein Bündnis zu stärken; damit sollte ein Ende des Krieges des Großfürsten gegen Polen erreicht werden. 435 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Familienurkunden 970 A; vollständig wiedergegeben (dt. Übers. a. d. Lat.) in QSMI. 228–234 Nr. 68.

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Machenschaften für die Ehre, Würde, Vergrößerung und Erhaltung ihrer Königreiche und Völker einzutreten; ferner die Freundschaft durch Blutsverwandtschaft zu festigen und andere christliche Fürsten durch ihr Beispiel zum Abschluß von Friedensbündnissen anzuspornen, „damit die christliche Religion, gestützt auf die eigenen einträchtigen Kräfte und Waffen, sich selber zur Ehre, zur Erhaltung und zum Wachstum, ihren unbarmherzigen Feinden aber zum Schrecken und schließlich zum Untergang gedeihe.“

Zusammenfassend erklären die Herrscher den Zweck des Vertrages wie folgt: „Daher haben wir vor allem zu Gottes Lob und Ehre, zum nützlichen Wachstum der Religion, zum ewigen Frieden, zur Sicherheit und Erhaltung nicht so sehr unserer Königreiche, Herrschaften und Untertanen als vielmehr jener unserer Enkel und Kinder die folgenden Verträge abgeschlossen [...]“436

Nachfolgend werden die Verlöbnisse zwischen Maria und Ludwig einerseits sowie Maximilian und Anna andererseits in feierlicher Form kundgetan; es wird Wert auf die Feststellung gelegt, daß die „ausdrückliche wechselseitige Willenszustimmung“ der Verlobten, „soweit dies bei ihrem Alter möglich war“, eingeholt worden war.437 Dies galt auch für den Bund des Kaisers mit Anna, den er stellvertretend für einen seiner Enkel schloß. Innerhalb des folgenden Jahres sollte dann die endgültige Entscheidung zwischen Karl und seinem Bruder Ferdinand getroffen werden. Anna wurde dem Kaiser anvertraut und verbrachte die nächsten Jahre gemeinsam mit Maria in Wien und Innsbruck, wo beide ihre Erziehung vervollkommneten. Die Ehen sollten vollzogen und besiegelt werden, sobald die Verlobten das passende und rechtmäßige Alter erreicht hatten; zu diesem Zeitpunkt erst wurde auch die Mitgift fällig. 1521 fanden die Hochzeiten von Maria und Ludwig sowie von Anna und Ferdinand statt. Die Entscheidung darüber, welcher der beiden Enkel an Maximilians Stelle in den Vertrag eintrat, fiel in Spanien: Entgegen seiner ursprünglichen Absicht setzte Ferdinand von Aragon Karl als Erben der spanischen Reiche ein.438 Damit schien

436 QSMI. 229. 437 Es war üblich, die Heiratskandidaten vor Abschluß des Ehevertrages zu konsultieren, „da Zwangsheiraten manchen Zeitgenossen als ungesund galten und in peinlichen und ehrlosen Situationen zu enden drohten.“ (Rodríguez-Salgado 2000, 42). Die Zustimmung wurde jedoch selten verweigert, da die Betroffenen meistens sehr jung und an Gehorsam gewöhnt waren. Ein Brief Margaretes (Le Glay 1839, 2, 319 Nr. 619 [Dez. 1515]) bezeugt z.B. den Versuch, Eleonores Einwilligung zu ihrer Verheiratung mit Sigismund von Polen zu erlangen. 438 Ferdinand von Aragon starb 1516, im entscheidenden Jahr nach Abschluß des Wiener Vertrages.

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für den Infanten die Nachfolge in den österreichischen Ländern gesichert.439 Maximilian erlebte es nicht mehr, daß ein weiterer „dynastischer Zufall“ Ferdinand schon 1526 zusätzlich zu seinem Titel als König von Böhmen auch den des Königs von Ungarn brachte: In der Schlacht von Mohács fiel der junge Ludwig im Kampf gegen die Türken und ließ Maria als kinderlose Witwe zurück. Es waren die Erbklauseln des Wiener Vertragswerks von 1515, die Österreich, Böhmen und Ungarn unter einem Herrscher fortan vereinten und damit das Fundament der Donaumonarchie bildeten. Bei den Festlichkeiten in Wien im Juli 1515 war Karl nicht anwesend. Am 5. Januar war er – noch vor seinem 15. Geburtstag – im großen Ständesaal zu Brüssel für volljährig erklärt worden. Schon eine Woche später trat er seine Huldigungsreise als Herzog von Burgund an, die ihn, wie sein Itinerar belegt, durch das ganze Land führte und erst im Oktober für längere Zeit nach Brüssel zurückkehren ließ. „Fast jeder Wechsel der Politik brachte dem Unmündigen eine neue Braut“ – was H. Baumgarten440 für die frühen Jahre des Prinzen konstatierte, sollte auch die Heiratspläne Karls weiterhin bestimmen, nachdem er aus der Vormundschaft Maximilians und Margaretes entlassen war. Wie nicht anders zu erwarten, war der eben inaugurierte Herzog von Burgund bei allen Entscheidungen auf seine Räte angewiesen. Sein langjähriger Gouverneur Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, hatte sich Karls volles Vertrauen, sogar seine Zuneigung erworben; er war es, der die Richtlinien der Politik im Sinne der „alten Burgunder“ bestimmte. Pirenne hat diese frühe Herrschaftsphase Karls prägnant charakterisiert: „Chièvres, maître absolu de l’esprit du jeune prince, dominait maintenant son conseil et dirigeait sa conduite en opposition complète avec la politique autrichienne [...] Charles l’aimait et le venérait, et, après son inauguration, il n’agit que d’après ses conseils, s’effaçant devant lui et en laissant même recevoir à sa place les ambassadeurs étrangers [...] Dirigée par Chièvres, sa politique marque un nouveau retour à la politique nationale des premières années du règne de Philippe le Beau [...] comme sous Philippe le Beau encore, on voit se manifester dans la politique extérieure un rapprochement immédiat avec la France.“441

In diesem Lichte sind die Heiratsverträge zu sehen, die für Karl, auch er „Croitconseil“, geschlossen wurden: Schon im März 1515 verhandelte Heinrich von Nassau, ein enger Vertrauter Chièvres’ und persönlicher Freund Karls, mit Franz I., dem Nachfolger Ludwigs XII., über eine Heirat Karls mit der damals vierjährigen Renée de France. Der Vertrag sollte bekräftigen, daß die beiden jungen Herr439 Offiziell wurden die österreichischen Erbländer erst ab 1521 schrittweise von Karl V. an Ferdinand übertragen. 440 1885, 12. 441 Pirenne 1953, 82 f.

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scher, die im gleichen Jahr die Regierung angetreten hatten, die Beziehungen zwischen ihren Ländern auf eine neue Basis von Frieden und Freundschaft gründen wollten. Das bedeutete eine völlige Abkehr von der Politik Margaretes. Obwohl die Mitgift Renées keineswegs den Forderungen Karls entsprach,442 wurde der Vertrag am 24. März 1515 von seiner Gesandtschaft in Paris geschlossen und am 24. Juni von Karl in Den Haag vor französischen Diplomaten beschworen. Auch diesem Heiratsplan war nur kurze Dauer beschieden. Die Rückeroberung der Lombardei durch den französischen Sieg bei Marignano (13./14. September 1515) und der Tod Ferdinands von Aragon (23. Januar 1516) führten zu neuen Machtkonstellationen. Der spanische Erbfall ließ die alten Befürchtungen der Franzosen wieder aufleben, von den Niederlanden und Spanien unter einem gemeinsamen Herrscher von zwei Seiten bedroht zu werden. Das Mißtrauen wurde weiter geschürt durch eine Wiederannäherung der Niederlande an England. Heinrich VIII., der die Allianz zwischen Franz I. und Karl mit Argwohn beobachtete, versuchte das gute Verhältnis zu den Niederlanden wiederherzustellen, indem er eine Erneuerung der Handelsverträge von 1506 in Aussicht stellte. Diesem Angebot konnte selbst Chièvres sich nicht widersetzen, da der Englandhandel eine der Lebensadern der Niederlande war.443 Gleichzeitig verfolgte Karl vorläufig weiterhin seine Politik des friedlichen Miteinander mit Frankreich und ließ von Chièvres im Vertrag von Noyon (13. August 1516) einen neuen Heiratsplan festlegen: Karls neue Verlobte war die noch nicht einjährige Louise, die älteste Tochter Franz I. Der Preis, der von Karl für diese Verbindung verlangt wurde, war hoch: Er mußte auf seine Ansprüche auf Neapel verzichten. Als Louise schon bald verstarb, sollte an ihrer Stelle ihre jüngere Schwester Charlotte Karl versprochen werden. Dieser Plan gelangte jedoch über das Vorschlagsstadium nicht hinaus. Allein der große Altersunterschied zwischen Karl und seinen Verlobten444 ließ die drei französisch-burgundischen Eheprojekte als das erkennbar werden, was sie tatsächlich waren: Abkommen auf Zeit, die den Frieden sichern sollten, ganz besonders in der kritischen Phase von Karls Herrschaftsantritt in zwei Ländern. Der Tod Maximilians 1519 zog eine erneute Wende in den außenpolitischen Beziehungen nach sich: Karl und Franz I., die einander Frieden und Freundschaft geschworen hatten, wurden zu Rivalen im Kampf um die Kaiserkrone und schließlich zu erbitterten Feinden im Ringen um die Macht in Italien. Nach dem Verlust des französischen Verbündeten suchte Karl die Allianz mit England zu erneuern. Nicht zufällig war es der englische König, dem, wie erwähnt, noch vor 442 Karl hatte, wie schon sein Vater und Großvater in den früheren Heiratsverträgen mit Frankreich, die Restituierung Burgunds als Teil der Mitgift der Braut gefordert: „François Ier ne voulait donner que de l’argent, Charles réclamait des territoires“ (Henne 1865, 189). 443 Der Handelsvertrag wurde 1516 zunächst um 5 Jahre verlängert. 444 Selbst die Ehe mit Renée hätte erst in frühestens 10 Jahren geschlossen werden können.

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der Krönung in Aachen sein erster Staatsbesuch galt. Auch diese Wende in der Politik brachte Karl nochmals eine neue Braut, ehe er 1526 tatsächlich heiratete: 1522 hielt er um seine sechsjährige Kusine Mary Tudor an, die Tochter Heinrichs VIII. und Katharinas von Aragon.445 Heinrich stellte dem jungen Kaiser sogar die Krone Englands in Aussicht, falls er selbst ohne männlichen Erben stürbe. Diese enge Verbindung zu England konnte sich erst nach Chièvres’ Tod anbahnen, als Mercurino Gattinara, seit 1518 Großkanzler Karls und von jeher treuer Anhänger Margaretes, die Außenpolitik maßgeblich bestimmte. Das Hindernis, das auch den neuen Heiratsplan scheitern ließ, war wiederum der Altersunterschied zwischen den Verlobten. Noch am 24. Februar 1525, als das kaiserliche Heer bei Pavia die Franzosen schlug und Franz I. in spanische Gefangenschaft geführt wurde, bestand Karls zweite „englische Verlobung“. Heinrich selbst entband den jungen Verwandten schließlich von seinen Verpflichtungen, als der Druck der Cortes auf ihren König wuchs, sich endlich zu verheiraten und die Erbfolge zu sichern, bevor er sich auf weitere kriegerische Unternehmungen einließ. Ausgehend von der m.W. unangefochtenen Aussage Brandis, daß Karl eine „unfreie“ Jugend beschieden war, ist dieser Unfreiheit hier nachgegangen worden in dem Bereich, wo sie am deutlichsten zutage tritt: bei seinem Einsatz in dynastisch-politischen Projekten – nicht als Person, sondern als Spielball, der bei jedem Seitenwechsel Habsburg-Burgunds in den Bündnissen mit Frankreich oder England hin und her jongliert wurde.446 Für Karl, als er sich dessen bewußt wurde, konnte es nur bedeuten, daß der Kampf um seine Person, der sich am Mechelner Hof zwischen der „französischen“ Partei um Chièvres und der „englischen“ um Margarete abspielte, auf einem größeren Spielfeld fortgesetzt wurde. Die Bedeutung, die ihm in diesem Machtkampf zukam, kann sein Selbstbewußtsein gestärkt, aber auch Ängste geweckt haben, ob er den hohen Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, genügen könnte. Er hat sich dazu nicht geäußert. Gegen die Verfügungen, die für ihn und über ihn getroffen wurden, hat er m.W. nie rebelliert. Sie waren Teil seiner Pflichten gegenüber dem Haus, dem zu dienen ihm von Kindheit an anerzogen worden war. Poensgen447 spricht sogar von einem übersteigerten Pflichtbewußtsein Karls, das sich während seiner Jugend entwic445 Gelegentlich kommt es in der Literatur zu Ungereimtheiten und Verwechslungen hinsichtlich der beiden Prinzessinnen gleichen Namens unter den Verlobten Karls: Hier handelt es sich um die spätere Queen Mary I., in England wegen ihrer harten Rekatholisierungspolitik vielfach „Bloody Mary“ genannt. Sie wurde später die zweite Gemahlin von Karls Sohn Philipp (II.). 446 Das Projekt der ungarischen Doppelheirat, in das Karl „halb“ eingebunden war, nimmt eine Sonderstellung ein: Es war nicht durch einen Wechsel von Allianzen gefährdet und – schon wegen der Türkengefahr – auf Dauer angelegt. 447 Poensgen 1960, 175.

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kelte und fortan seine Handlungen wesentlich bestimmte.448 Überblickt man Karls Leben über seine Jugendjahre hinaus, so darf man behaupten, daß ihm, gleich seinem Großvater Maximilian, die Dynastie und die Ehre die höchsten Werte darstellten, denen nur Gott übergeordnet war. Diese „Werteskala“ zusammen mit dem Pflichtbewußtsein Karls ließen ihn auch nach seiner Emanzipation – zunächst noch als „Croit-conseil“, dann aufgrund eigener Entscheidungen – die dynastische Heiratspolitik fortsetzen, für seine eigene Person,449 aber ebenso für seine noch unverheirateten Schwestern Eleonore450 und Katharina, später für seine eigenen Kinder und Enkel. Als Haupt der drei vereinigten Dynastien verlangte er ebenso strikten Gehorsam selbst von seinen nächsten Angehörigen, wenn er ihnen politische Aufgaben im Dienste des Hauses oder der Regierung seiner Länder übertrug: So verfügte er über seinen Bruder Ferdinand, den er 1521 achtzehnjährig als seinen Stellvertreter im Reich zurückließ, über seine verwitwete Schwester Maria von Ungarn, die er zur Regentin der Niederlande in der Nachfolge Margaretes bestimmte; seine eigene Gemahlin, Kaiserin Isabella, mußte die Statthalterschaft in Spanien während der häufigen, oft jahrelangen Abwesenheit des Kaisers übernehmen; 1543 übertrug Karl diese Aufgabe seinem einzigen legitimen Sohn, dem sechzehnjährigen Philipp (II.). Insgesamt verfuhr Karl in seiner dynastischen Politik rigider als sein Großvater. Maximilian akzeptierte zumindest in einem Fall den hartnäckigen Wider-

448 In Margarete und Maximilian, in seinen Erziehern Chièvres und Adrian von Utrecht hatte er von Kindheit an, als junger Herrscher auch in Mercurino Gattinara, Persönlichkeiten um sich, denen Pflichterfüllung gegenüber der Dynastie oder einer übernommenen Aufgabe höchstes Gebot war. Wenn sich mit der Person Maximilians gemeinhin nicht die Vorstellung von einem Pflichtmenschen verbindet, so weist Noflatscher (2003, 355) darauf hin, daß der Kaiser während des höfischen Alltags ein harter, akribischer Arbeiter war, der selbst während der Mahlzeiten diktierte und bis in die Nacht verhandelte. 449 Auch seine eigene Heirat mit Isabella von Portugal war zunächst nur eine Pflichtehe aus dynastisch-politischen Erwägungen: Um die Einheit der Iberischen Halbinsel auch für die Zukunft zu gewährleisten, setzte er die lange Tradition spanisch-portugiesischer Verbindungen fort. 450 1517 verbot Karl seiner Lieblingsschwester eine Liebesheirat mit Friedrich von Baiern, dem als Pfalzgraf bei Rhein angesehensten der weltlichen Kurfürsten: Unter streng dynastischen Gesichtspunkten wäre diese Ehe eine Mésalliance gewesen. Ausführlich dazu: Moeller 1895, 189–218. Trotz heftiger Proteste Eleonores, die sonst als zurückhaltend und fügsam galt, wurde sie 1519 mit dem ältlichen Manuel von Portugal verheiratet, der nach zwei Ehen mit Tanten Eleonores, Schwestern Juanas, erneut verwitwet war. Nach dem Tode Manuels (1521) wurde Eleonore ein zweites Mal den Plänen ihres kaiserlichen Bruders geopfert: 1525 traf Karl für sie eine neue Ehevereinbarung mit seinem Gefangenen, Franz I., um auf diese Weise künftigen Frieden zu garantieren. 1530 wurde sie Königin von Frankreich.

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stand gegen seine Pläne,451 den Klagen seiner jungverheirateten Enkelinnen Maria und Isabella über ihre Ehen ging er nach, versuchte Marias Bedenken zu zerstreuen452 und vor allem Christian von Dänemark zu bewegen, seinen lasterhaften Lebenswandel aufzugeben, der Isabella großen Kummer bereitete.453 Selbst von der Verheiratung Eleonores mit dem fünfzigjährigen portugiesischen König riet er Karl noch 1518, wenn auch vergeblich, ab.454 Karl hingegen verlangte von den Mitgliedern des Hauses die gleiche bedingungslose Pflichterfüllung, wie er sie sich selbst auferlegte.

451 Philipp der Schöne hatte bereits 1506 einen Ehevertrag für seine Schwester mit Heinrich VII. geschlossen; 1507 versuchte Maximilian die Tochter zu bewegen, im Interesse des Hauses und des Landes in die Heirat einzuwilligen (Le Glay 1839, 1, 10–12 Nr. 5 [16.9.1507]). Margarete indes, nach drei für sie geschlossenen Ehen, widersetzte sich erfolgreich allen weiteren Verfügungen über ihre Person und erfüllte als Regentin und Vormund ihre Pflicht gegenüber dem Haus. 452 Margarete hatte bereits 1514 einen Gesandten nach Buda geschickt (Le Glay 1839, 2, 278 Nr. 587 [Juni/Juli 1514]), da über den jungen König von Ungarn zwar nichts Nachteiliges bekannt war, Maria aber offensichtlich Angst vor seinen „wilden“ Untertanen hatte. 453 Der Kaiser schickte eine Gesandtschaft an den dänischen Hof, um den König zur Rücksichtnahme auf seine junge Gemahlin zu veranlassen (Le Glay 1839, 2, 335–338 Nr. 633 [1.1.1516]); als diese Bemühungen ohne Erfolg blieben, bat der Kaiser Karl, sich für seine Schwester zu verwenden (ebd. 2, 337 f. Anm. 2 [18.1.1516]). 454 Moeller 1895, 298 f. zitiert einen diesbezüglichen Brief Maximilians an Karl vom 18. Mai 1518.

II. Die formale Erziehung des burgundischen Prinzen In der lateinischen Autobiographie Maximilians I. findet sich eine Passage, in der der Kaiser seinen für einen Prinzen recht unkonventionellen Bildungsgang höchst lebendig schildert und dabei auch mit Kritik an seinem Lateinlehrer, an dessen Lehrmethoden sowie am Unterrichtsstoff nicht spart.1 Johannes Cuspinian, dem Historiographen und Diplomaten am Kaiserhof, müssen die wenig erfolgreichen Bemühungen des Magisters Peter Engelbrecht, dem etwa zwölfjährigen Maximilian die „lateinischen Wissenschaften“ zu vermitteln, so bemerkenswert erschienen sein, daß er ihnen in seiner Lebensbeschreibung des Kaisers einen längeren Abschnitt widmete,2 bemerkenswert wohl vor allem deshalb, weil Maximilian in späteren Jahren wegen seiner glänzenden Lateinkenntnisse und der Beherrschung mehrerer moderner Fremdsprachen allgemein bewundert wurde. Beide Quellen zusammengenommen vermitteln dem Leser einen Eindruck von der Art des Unterrichts, der Maximilian und seinen adligen Gefährten erteilt wurde, wie der Prinz ihn erlebte und wie er darauf reagierte. Zur Erziehung Karls fehlen vergleichbare Quellen; vor allem mangelt es auch zu diesem wesentlichen Lebensabschnitt an persönlichen Aussagen des Kaisers. Seine Commentaires setzen erst um 1513 bzw. 1515 ein, als mit der Entlassung aus der Vormundschaft die formale Erziehung des jungen Herzogs offiziell abgeschlossen war. Zeitgenössische Quellen von anderer Hand, soweit sie den Aspekt der Erziehung des späteren Kaisers überhaupt berücksichtigen, sind wenig aufschlußreich, voller Widersprüche und sogar offensichtlicher Fehler. Das gilt in besonderem Maße für die Werke der spanischen (Hof-)Chronisten. Selbst die Correspondance Maximilians und Margaretes, in der man die Erörterung von Fragen zur Erziehung des Erbprinzen zu finden hofft, erweist sich in dieser Hinsicht als wenig ergiebig. Gezielte Nachforschungen in Quellen und Literatur fördern dennoch eine beträchtliche Zahl von vereinzelten Fakten und Aussagen zutage, aus denen allein sich jedoch kein stimmiges Gesamtbild von der Erziehung und vom Bildungsgang Karls erschließen läßt. Angesichts dieser Quellenlage wundert es nicht, daß die Mehrzahl der späteren Biographen Karls dessen „Schulzeit“ recht summarisch abhandelt, wobei in einigen Fällen auch Widersprüche und Fehlinformationen weitergegeben werden. Es herrscht die Auffassung vor, daß Karl durch seine mittelalterlich und spätburgundisch geprägte Erziehung nicht angemessen auf die Aufgaben vorbereitet wurde, die ihn als Herrscher über ein Weltreich in einer Zeit erwarteten, in der sich nicht nur in rein geographischem 1 2

Schultz 1888, 425; dt. auch in: QSMI. 34 f. Nr. 4. QSMI. 33 f. Nr. 3.

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Sinne neue Horizonte öffneten.3 Aus der Rückschau ist dieses Urteil über eine verfehlte Erziehung des Erbprinzen gewiß gerechtfertigt; es genügt jedoch m.E. nicht, die Ursachen dafür, daß Karl nicht von Kindheit an auf die „Neue Zeit“ ausgerichtet wurde, vor allem in der Wahl seiner Erzieher zu suchen, die, vorwiegend in bereits fortgeschrittenem Alter, mehrheitlich dem altburgundischen Adel entstammten oder ihm eng verbunden waren. Karl wuchs in einer „Schwellenzeit“ auf, in der Althergebrachtes nur allmählich durch neue Ideen abgelöst wurde. Zu den Bereichen, die sich nur langsam wandelten, gehörte die Erziehung junger Adliger, für die ein seit altersher bewährtes Konzept noch lange Gültigkeit behielt. Ihm lag ein Wertekanon zugrunde, der einen Teil des Selbstverständnisses des Adels ausmachte und der an die nächste Generation weitergegeben werden sollte: Adelserziehung war im Idealfall weit mehr als die Erfüllung von „Lehrplänen“ in bestimmten Schulfächern und ritterlich-sportlichen Disziplinen. Sie war auf die Formung des jungen Menschen nach einem Leitbild angelegt, zielte auf die Entwicklung von Tugenden und auf Charakterbildung. Mochte der Ritter zu Beginn des 16. Jahrhunderts an militärischer Bedeutung auch erheblich verloren haben, so hatte er seine Funktion als Leitbild, als Inbegriff erstrebenswerter Tugenden noch nicht eingebüßt, was in der außerordentlichen Wertschätzung der vornehmen Ritterorden, insbesondere des Ordens vom Goldenen Vlies, zum Ausdruck kam. Gewiß unterlag dieses Leitbild einem allmählichen Wandel. So wurde – als eine Anpassung an die Erfordernisse der „Neuen Zeit“ – ein gewisses Maß an geistiger Bildung vorausgesetzt. Die Epoche der illitteraten Ritter gehörte der Vergangenheit an.4 3

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So heißt es bei Kohler 1999, 49: „Nach dem frühen Tod seines Vaters (1506) wurde Karl in den Niederlanden von seiner Tante Margarete [...] erzogen, und zwar in jenem Geist der vom Adel bestimmten spätmittelalterlich-burgundischen Kultur mit ihrer Wertschätzung der französischen Sprache, in der Turnier und Jagd dominierten, während auf eine gediegene geistige Bildung weniger Wert gelegt wurde.“ Ähnlich Poensgen 1960, 174: „Seine ersten Erzieher, Adriaen von Utrecht und vor allem Wilhelm de Croy, Herr von Chièvres, waren Prototypen burgundischen Geistes, Margarete von Österreich [...] setzte in Mecheln die Tradition des altburgundischen Hofes zielbewußt fort.“ Der gleiche Tenor bei Pirenne 1953, 82 f.: „L’éducation qu’il avait reçue à Malines était la mème que celle de son père Philippe le Beau. Comme lui, il avait été élevé en prince bourguignon et avait appris à lire dans les histoires de Philippe le Bon et de Charles le Téméraire. Il ne parlait que le français et, s’il connaissait quelques bribes de latin, on ne lui avait enseigné ni l’allemand, ni l’espagnol.“ Mit dieser allmählichen Anpassung an zeitgemäße Bedürfnisse wurde die Entwicklung eingeleitet, die zur Herausbildung eines neuen Leitbildes führte: Der vielseitig gebildete, weltgewandte Hofmann, der die „ritterlichen Künste“ (s.u.) zwar beherrschte, in ihnen aber eher Sekundärtugenden sah, löste den Ritter in seiner Vorbildfunktion ab. Diese Entwicklung trägt die Merkmale ihrer Entstehungszeit, des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: Neue Ideen und Zielsetzungen sind Zeichen des Aufbruchs; über-

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Was für den überwiegend konservativ eingestellten Adel galt – das Festhalten an überlieferten Erziehungszielen –, traf in hohem Maße für den traditionsverhafteten burgundischen Hof zu. Die Erziehung, die Karl und auch seinen Schwestern zuteil wurde, muß daher sinnvollerweise, um sie nicht als „anachronistischen Sonderfall“ einzustufen, im größeren Rahmen des zeitgenössischen Konzepts zur Prinzen- und Adelserziehung gesehen und beurteilt werden. Dieses Konzept soll im folgenden zunächst in seinen wesentlichen Zügen vorgestellt werden. In einem zweiten Schritt können anschließend die zahlreichen, in Quellen und Literatur weit verstreuten Details, die zu Karls Erziehung überliefert sind, dem umfassenderen Gesamtplan zugeordnet werden, so daß sich ein geschlosseneres Bild vom Bildungsgang des Prinzen ergibt, wenn es auch – wie die Landkarten der Frühen Neuzeit – „weiße Flecken“ aufweisen wird und weiterhin nicht frei von Widersprüchen sein kann.

1. Zur Prinzen- und Adelserziehung an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit Als Philipp der Schöne im Januar 1506 zu seiner zweiten Spanienreise aufbrach, ließ er seine vier burgundischen Kinder in einem wohlgeordneten Haushalt unter der Leitung des neuen Gouverneurs Charles de Croy, Fürst von Chimay, zurück. Alle Ämter in diesem Haushalt waren mit sorgfältig ausgewählten Personen besetzt, für das Wohlergehen der Kinder war in jeder Hinsicht gesorgt. Auf den ersten Blick ist es daher verwunderlich, daß sich unter den Verfügungen Philipps kein detailliert ausgearbeiteter Plan befindet, der die Erziehung seiner Kinder, insbesondere die des Prinzen, regelte. Aus seinen sehr allgemein gehaltenen Anordnungen geht nur hervor, daß die Kinder in der Gesellschaft von Adligen und edlen Damen aufwachsen und in guten Sitten und allen Wissensbereichen unterwiesen werden sollten. Für Karl heißt es zusätzlich, daß er im Alter von sieben Jahren beginnen möge, Latein zu lernen, Instrumente zu spielen und sich im Umgang mit Waffen aller Art in dem Maße zu üben, wie es für einen Prinzen oder Adligen erforderlich war.5 Man kann jedoch davon ausgehen, daß es eines eigens ausgearbeiteten Erziehungsplans nicht bedurfte, da die Unterweisung fürstlicher und adliger Kinder, besonders der Söhne, einem seit Generationen nicht nur in Burgund etablierten Muster folgte. Es fußte auf der Gliederung des Lebensalters der Jugend in drei Phasen, wie sie bereits im mittelalterlichen Schrifttum des

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kommene Wertvorstellungen werden jedoch nicht schlagartig verdrängt. Sie treten nur langsam in den Hintergrund, ohne ganz zu verblassen. Zur Verbreitung des neuen Leitbildes trug in erster Linie Castigliones Libro del Cortegiano (1528) bei. Vgl. oben 64 das Zitat aus Voyages I 461 (Deuxième voyage).

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italienischen Sprachraums nachzuweisen ist:6 auf die infantia (von der Geburt bis zu 7 Jahren) folgten pueritia (7 bis 12 bzw. 14 Jahre) und adolescentia (12 bzw. 14 Jahre bis zur Mündigkeit oder Geschäftsfähigkeit). Dieses Phasenmodell, das sich eindeutig an der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen orientiert,7 ist vermutlich mit einer Fülle damals hochgeschätzter frühhumanistischer Erziehungstraktate aus Italien an die Höfe des nördlichen Europa gelangt, wo man es hinsichtlich des zeitlichen Rahmens und der inhaltlichen Ausgestaltung den lokalen Gegebenheiten anpaßte.8 So läßt sich beispielsweise nachweisen, daß im 14. und 15. Jahrhundert die Erziehung der englischen Königskinder und ihrer adligen Altersgenossen an diesem Modell ausgerichtet war, wobei die adolescentia in England mit 21 Jahren, mit Erreichen der Volljährigkeit, endete.9 Die Formen und Ziele adliger Erziehung, die Bildungsinhalte, die vermittelt wurden, wandelten sich über mehrere Jahrhunderte nur geringfügig. Im Mittelalter formuliert, hatten sie zu Beginn der Neuzeit ihre Akzeptanz nicht verloren.10 Von Geburt an hatten die Kinder aus Herrscher- und Adelsfamilien ihren eigenen Haushalt, in dem sie während der infantia von Ammen und Kinderfrauen, meistens unter der Oberaufsicht einer Erzieherin, betreut wurden. Während dieser frühen Kinderjahre lebten Knaben und Mädchen in einem gemeinsamen Haushalt; zusammen erhielten sie auch den ersten Unterricht. Dieser Unterricht, der vor allem grundlegende Schreib- und Lesekenntnisse in der am Hofe gebräuchlichen Sprache vermittelte, setzte früh ein, oft schon mit dem 4. Lebensjahr. Mancherorts erteilte die Erzieherin diesen Elementarunterricht, an anderen 6

Der Traktat Reggimento e costumi di donna, um 1300 von dem Florentiner Francesco da Barberino verfaßt, eine der wenigen frühen Erziehungsschriften für die weibliche Jugend, übernimmt die Einteilung in die drei Phasen des Jugendalters bereits aus den damals in erheblicher Zahl vorliegenden entsprechenden Anleitungen zur Erziehung der Knaben. 7 Auf die bürgerliche Erziehung später übertragen, hat dieses zeitliche Raster, gerade weil es auf den frühen Erkenntnissen zur Entwicklung Heranwachsender basiert, bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschen Bildungssystem die Zeiten überdauert, z.B. mit dem Schuleintrittsalter am Ende der infantia, mit dem für die Mehrheit der Bevölkerung bis dahin üblichen Abschluß der Volksschule mit etwa 14 Jahren, bis hin zum Eintritt in das Erwachsenenleben mit Erreichen der Volljährigkeit mit 21 Jahren. 8 Auch innerhalb Italiens und zu verschiedenen Zeiten – das Modell behielt seine Gültigkeit über Jahrhunderte – lassen sich für die pueritia und die adolescentia Verschiebungen der Altersgrenzen nach oben oder unten feststellen. 9 Reitemeier 2002, 55 f. 10 Nur ansatzweise führten die Impulse, die von Renaissance und Humanismus ausgingen, zu einer Neuorientierung. Erst durch die Philosophie der Aufklärung erschloß sich im 17./18. Jahrhundert eine veränderte Sichtweise und Bewertung von dann „bürgerlicher“ Erziehung und Bildung.

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Höfen wurden Lehrer dafür eingestellt. Seltener waren die Familien, in denen die Mutter, da ihr Bildungsstand und ihre sonstigen Verpflichtungen es gestatteten, diese Aufgabe übernahm. Früh setzte auch die religiöse Unterweisung durch die Kapläne des Kinderhaushalts ein. Sobald die Kinder alt genug waren, gehörten der Besuch der heiligen Messe und die Beichte zu ihren Pflichten. Mit Beginn der pueritia, wenn die Kinder also etwa sieben Jahre alt waren, wurden die Haushalte der Knaben von denen der Mädchen getrennt. Unter der Leitung eines geistlichen Erziehers begann für die Knaben die anspruchsvollere Ausbildung in den „wissenschaftlichen“ Fächern, vor allem in der lateinischen Sprache. Voraussetzung dafür war – und darin liegt auch der Grund für die nach heutigen Maßstäben so frühe Unterweisung im Lesen und Schreiben –, daß die Knaben diese Grundtechniken beherrschten. Es darf nicht übersehen werden, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als Karl das Alter der pueritia erreichte, Latein nicht nur die Sprache der Kirche und der Gelehrten war, sondern als Lingua franca in der Welt der Politik und Diplomatie europaweite Bedeutung hatte. Gute Lateinkenntnisse waren zudem erforderlich, um sich auf anderen Wissensgebieten weiterbilden zu können, da die meisten der einschlägigen Werke, auch der zeitgenössischen, in lateinischer Sprache abgefaßt waren. Eine sichere Beherrschung der klassischen Sprache in Wort und Schrift ließ das Erlernen moderner Fremdsprachen als unnötig erscheinen. Genaue Kenntnis der Landesgeschichte war unerläßlich für einen künftigen Herrscher und ebenso für die jungen Adligen, die einmal eine Rolle in der Politik oder der Diplomatie übernehmen sollten. Daher nahm der Geschichtsunterricht einen breiten Raum innerhalb des Lehrpensums ein. Als Bindeglied zwischen der „wissenschaftlichen“ und der „ritterlichen“ Ausbildung (s.u.) kann die Unterweisung in Genealogie und Heraldik betrachtet werden. An der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert, im Zeitalter der großen Entdeckungsfahrten, der technischen Neuerungen und revolutionierenden Erkenntnisse in der Astronomie, gewannen Geographie und Mathematik allmählich an Bedeutung als Unterrichtsgegenstände. Sobald der adlige Zögling groß und kräftig genug war, meistens im Alter von etwa neun Jahren,11 begann für ihn die Unterweisung in den „ritterlichen Künsten“ unter der Leitung eines adligen Erziehers. Das bedeutete zunächst, reiten und schießen zu lernen und beide Fertigkeiten auf der Jagd anzuwenden. Was ursprünglich als eine Art „vormilitärischer Ausbildung“ der Einführung in ritterliche Kampfesweisen gedient hatte, wandelte sich mit fortschreitender 11 Au saillir de l’enfance et en l’âge de pouvoir monter à cheval (Philippe de Commynes, Mémoires, zit. bei Moeller 1895, 55). Damit war auch das Eintrittsalter der Pagen in die Ausbildung bei Hofe hinreichend definiert.

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Perfektion der Artillerietechnik und einer damit einhergehenden neuen Art der Kriegführung zu „aristokratischen Sportarten“, die vor allem der körperlichen Ertüchtigung dienen sowie Mut und Ausdauer stärken sollten. Diese Entwicklung vollzog sich während der Jugendjahre Karls V.: Die Zeit der großen Ritterheere, wie sie Karl der Kühne und noch der junge Maximilian in die Schlacht geführt hatten, ging zu Ende, und es war gerade Maximilian I., der die Entwicklung der neuen Waffen vorantrieb und unterstützte. Die Reiterheere waren noch keineswegs überflüssig geworden, die Heerführer überschauten und lenkten das Kampfgeschehen hoch zu Roß, und wie zeitgenössische Schlachtenbilder zeigen, traten weiterhin lanzenbewehrte Infanteristen in traditioneller Ordnung gegeneinander an. Entschieden aber wurde die Schlacht durch die Artillerie.12 Anders als das Schlachtfeld behielt der Turnierplatz als Austragungsort ritterlicher Kämpfe vorerst seine Bedeutung. Wie sein Großvater Maximilian und sein Vater Philipp vor ihm, genoß Karl V. den Ruf eines glänzenden Kämpfers im Turnier.13 Noch hatte der vollkommene Ritter, wie er in der Literatur des Mittelalters erscheint, seinen Vorbildcharakter nicht verloren. Als vollkommen galt ein Ritter jedoch erst dann, wenn er nicht nur die exercices du corps elegant beherrschte, sondern sich alle septem probitates angeeignet hatte, einen Kanon ritterlicher Künste, der sich als Gegengewicht zu den septem artes liberales der gelehrten Welt herausgebildet hatte und in „Ritterspiegeln“ überliefert ist.14 Demnach sollte ein Ritter tanzen, ein wenig musizieren, einen anmutigen Vers verfassen und Schach spielen können, ferner gesellschaftliche Gewandtheit besitzen, höfische Manieren und die Kunst der Unterhaltung beherrschen. Gerade diese Fähigkeiten und Künste unter den septem probitates waren es, die weiterlebten und den Hofmann (cortegiano) auszeichneten, der an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit das Erbe 12 Einen guten Eindruck von dem gleichzeitigen Einsatz herkömmlicher und neuartiger Waffen und Formationen vermittelt beispielsweise die sehr detaillierte Darstellung der Schlacht von Marignano, die 1515 durch die französische Artillerie für Franz I. entschieden wurde, durch den „Meister von La Ratière“ (Abb. in: Soly [Hg.] 2000, 116/117). 13 So beeindruckte er während der Turniere anläßlich seines festlichen Einzugs in Spanien 1517 den spanischen Adel außerordentlich durch seine Beherrschung der ritterlichen Künste und Fertigkeiten. Gossart gibt diese Eindrücke wieder (1910, 61, nach den Diarî des M. Sanuto) „Pendant plusieurs jours, la noblesse d’Espagne et celle des Pays-Bas célébrèrent l’arrivée du roi par des joutes, auxquelles le prince prit une part brillante: il excellait, en effet, dans tous les exercices du corps. On le vit rompre la lance en perfection et se distinguer dans les fêtes de chevalerie organisées à l’occasion de son séjour à Valladolid, en 1517 [...]; on admira son adresse, sa bonne grâce à cheval, armé aussi bien que sans armes.“ 14 Vgl. dazu Paravicini 2002, 14–16 („Konkurrenz oder Symbiose? Geistliches und weltliches Wissen bei Hofe“), der die „Sieben ritterlichen Künste“ nach einem „Ritterspiegel“ des frühen 15. Jahrhunderts zitiert und auf deren Fortleben in den Erziehungsprogrammen junger Adliger noch im 18. Jahrhundert hinweist.

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des Ritters in seiner Funktion als Leitbild antrat. Der Ausbildung in allen ritterlichen Künsten wegen wurden viele der Söhne aus adligen Familien im Alter zwischen etwa neun und zwölf Jahren für ein halbes Jahr, manche sogar für mehrere Jahre, an einen anderen Hof gegeben. Als Pagen oder Ehrenknaben15 konnten sie in dieser Zeit ihre Geschicklichkeit im ritterlichen Sport und Spiel trainieren, sich im Wettstreit mit Altersgenossen messen, sich Gewandtheit im Umgang und „Höflichkeit“ aneignen und – ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt dieses „Schüleraustauschs“ – Freundschaften mit gleichaltrigen Standesgenossen schließen, die sich später als sehr vorteilhaft erweisen konnten. Die jungen Mädchen erhielten nach der Trennung der Haushalte unter weiblicher Anleitung während der pueritia eine standesgemäße Erziehung, die sie auf ihre Rolle in der höfischen Gesellschaft vorbereitete. Die Beschäftigung mit sorgfältig ausgewählter Literatur gehörte dazu, wobei Texte religiösen Inhalts überwogen: eine angemessene Auswahl aus der Bibel, vor allem Psalter, Heiligenlegenden, Exempla tugendhaften Lebenswandels, u.U. auch Auszüge aus den Werken der Kirchenväter, übersetzt in die Sprache des Hofes. In Übersetzungen mochten auch Ausschnitte aus antiken Autoren gelesen werden, soweit sie dem zeitgenössischen Tugendkatalog entsprachen. Lateinunterricht für Mädchen war eine Ausnahme; auch moderne Fremdsprachen gehörten nicht zum Bildungskanon der jungen Adligen. Dies ist einer der Gründe, weshalb viele der jungen Damen, die bereits verlobt waren, schon in zartem Alter zur weiteren Erziehung an den Hof ihres zukünftigen Gemahls gegeben wurden: Sie mußten die dort gesprochene Sprache lernen und sich mit den fremden Sitten vertraut machen.16 In Hof- und Adelskreisen war es ohnehin üblich, nicht nur die Söhne, sondern ebenso die heranwachsenden Töchter für einige Zeit zur Vervollkommnung ihrer Erziehung an einen anderen Hof zu schicken, wo sie als filles d’honneur den Unterricht der jungen Mädchen teilten. Besonderer Wert wurde auf die Einübung höfischer Umgangsformen und Unterhaltung gelegt. Tanz- und Musikunterricht spielten eine wichtige Rolle: Von einer jungen Dame wurde erwartet, daß sie mindestens 15 Die Pagen unterstanden dem Oberstallmeister, unter dessen Oberaufsicht sie zunächst durch den maître d’équitation und anschließend durch den maître d’armes eine rein militärische Ausbildung erhielten: die éducation de la caserne erfolgte am Hofe, Militärakademien wurden erst im 18. Jahrhundert gegründet. Die Ehrenknaben hingegen wurden für den Hofdienst erzogen. Sie unterstanden dem grand chambellan, hatten gelegentlich Zutritt zu den Gemächern des Prinzen, teilten u.U. seinen Unterricht oder erhielten zumindest eine sorgfältige Erziehung durch eigens für sie angestellte Lehrer. Sie waren die eigentlichen Jugendgefährten des Prinzen, an dessen Hof sie entsandt waren. Vgl. Moeller 1895, 51–53. 16 Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, daß weder Karls Großeltern Maximilian und Maria von Burgund noch seine Eltern Philipp und Juana am Anfang ihrer Ehe über eine gemeinsame Sprache verfügten.

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ein Instrument spielte und im höfischen Zirkel ein Lied vortragen konnte. Zeigten sich Talent und Neigung, konnte Mal- oder Zeichenunterricht in den Stundenplan aufgenommen werden. Die Anfertigung feiner Handarbeiten hingegen gehörte zum Pflichtprogramm. In anderem Zusammenhang wurde bereits erwähnt, daß von einer Prinzessin oder Adligen erwartet wurde, daß sie sicher und elegant im Sattel saß. Wie die Knaben erhielten daher auch die jungen Mädchen frühzeitig Reitunterricht. Eine gesunde junge Adlige, die nicht reiten konnte, war schlechthin unvorstellbar. Sie hätte auf die Teilnahme an Jagdausflügen verzichten müssen, auf die „Jagdvergnügen“, die zu den Höhepunkten gesellschaftlichen Lebens bei Hofe zählten. Alle Kenntnisse und Fertigkeiten, die den jungen Damen während der pueritia vermittelt wurden, dienten der Vorbereitung auf ihre spätere Rolle in der Gesellschaft als Gemahlin eines Adligen, vielleicht sogar eines Fürsten oder eines Königs. Mit dem Ende der pueritia fand die formale Erziehung junger Adliger männlichen wie weiblichen Geschlechts ihren Abschluß. Diejenigen unter den jungen Männern, die ihre Bildung vervollständigen wollten, bezogen die Universität und wandten sich in der Regel der Jurisprudenz zu als der Wissenschaft, die für eine Karriere bei Hofe am nützlichsten erschien. Andere, die eine militärische Laufbahn bevorzugten, stellten sich für eine gewisse Zeit in den Dienst auswärtiger Herrscher, um Erfahrungen zu sammeln. Vom 16. Jahrhundert an und verstärkt im 17. und 18. Jahrhundert wurde es Sitte, daß die jungen Adligen, wenn die finanziellen Mittel es eben erlaubten, in Begleitung ihres Hofmeisters ihre „Kavalierstour“ durch Europa antraten, die ihnen in Hinsicht auf Bildung, Weltkenntnis und Umgangsformen den letzten Schliff verleihen sollte. Insgesamt kann man die adolescentia als die Phase bezeichnen, in der der junge Adlige fern vom elterlichen Hof eine Lehrzeit durchlief, die ihn zu selbständigen Entscheidungen und Übernahme von Verantwortung befähigen sollte. Die meisten seiner weiblichen Altersgenossinnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits verlobt oder verheiratet, wie am Beispiel von Karls Schwestern gezeigt wurde. Für diejenigen, für die sich noch kein Heiratskandidat gefunden hatte, war es üblich, daß sie die folgenden Jahre des Wartens und Hoffens am Hofe der Eltern oder eines älteren Bruders verlebten.

2. Eine traditionelle Erziehung für den jungen Prinzen „L’éducation qu’il avait reçue à Malines était la même que celle de son père Philippe le Beau.“ In diesem Satz bringt Pirenne17 seine Kritik daran zum Ausdruck, daß mit der Erziehung Karls eine pädagogische Tradition fortgesetzt wurde, die an 17 1953, 82; vgl. auch oben 160 Anm. 3.

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die Anordnungen Maximilians zur Erziehung seines Sohnes anknüpfte. Diese Verfügungen wiederum basierten um 1480 noch ganz auf den mittelalterlichen Vorstellungen von adliger Bildung und Erziehung. Die Grundzüge des überlieferten Erziehungskonzepts, wie es oben dargestellt wurde, lassen sich selbst in dem durch äußere Bedrohungen vielfach unterbrochenen Werdegang des jungen Philipp erkennen.18 Als Philipp etwa ein Vierteljahrhundert später seine knappen Instruktionen zur Erziehung seiner Kinder hinterließ,19 verzichtete er wie bei der Abfassung seines Testamentes darauf, das, was sich aus der Tradition und nach Landessitte ohnehin von selbst verstand, besonders hervorzuheben. Diejenigen, die anstelle des Vaters die Verantwortung für den Werdegang der Kinder übernehmen mußten, wußten die wenigen Hinweise zu deuten und umzusetzen. Die sehr allgemein gehaltenen Anordnungen, die sich auf alle vier Kinder bezogen – daß ihnen nämlich gute Sitten und Wissen vermittelt werden und sie in standesgemäßer Gesellschaft aufwachsen sollten – ließen nur den Schluß zu, daß ihre Erziehung ganz der Konvention entsprechen sollte. Die gesonderten Anweisungen, die Karl betrafen, bekräftigten, daß für den künftigen Erben großer Reiche an dem traditionellen Bildungsgang festgehalten werden und er nach den gleichen Prinzipien erzogen werden sollte wie sein Vater: Mit sieben Jahren, am Ende der infantia, sollte Karl Lateinunterricht erhalten. Das setzte voraus, daß er zu diesem Zeitpunkt einen geistlichen Erzieher erhielt. Beizeiten sollte er sich dann im Umgang mit Waffen üben; dies konnte nur unter der Anleitung eines zweiten, adligen Erziehers geschehen. Daß Philipp den gesamten Kanon der septem probitates, über die exercices du corps hinaus, als Richtschnur für die Erziehung seines Sohnes betrachtete, läßt sich aus seiner Anweisung entnehmen, daß Karl lernen sollte, alle (!) standesgemäßen Instrumente zu spielen. Die musikalische Ausbildung steht hier m.E. als Pars pro toto, für die Aneignung aller ritterlichen Künste. Mit den wenigen Vorgaben, die Philipp machte, hatte er dennoch die wesentlichen Aspekte der herkömmlichen Prinzenerziehung angesprochen: die geistige wie die ritterlich-höfische Bildung. Es ist zu vermuten, daß Philipps burgundische conseilleurs, die nach den gleichen Richtlinien erzogen worden waren, an der Formulierung der Hinweise zur Erziehung des Prinzen nicht unbeteiligt waren. Anschließend sicherte Philipp zwar mit seinem zweiten Spanienzug seinem ältesten Sohn das mütterliche Erbe; es fehlte ihm jedoch an Weitblick, um zu erkennen, daß Karl auf die Übernahme der Herrschaft über ein nahezu weltumspannendes Reich anders hätte vorbereitet werden müssen als auf die Nachfolge in Burgund. Hätte Philipp Gelegenheit gehabt, den ihm so fremden spanischen 18 Vgl. oben 57 f. 19 Vgl. oben 159 f.

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Herrschaftsbereich in seiner Komplexität besser verstehen zu lernen, wäre ihm dieses Manko vermutlich bewußt geworden. Sein zweiter Spanienaufenthalt währte jedoch nur fünf Monate – von der Landung am 27. April 1506 bis zu seinem Tode am 25. September. König von Kastilien war er realiter, nach seiner Vereidigung am 12. Juli 1506, für gut zwei Monate.20 Die Begleitumstände dieses Aufenthalts sind hinreichend geschildert worden. Selbst unter günstigeren Bedingungen hätte die Zeit nicht ausgereicht, um den jungen Vater erkennen zu lassen, welche Anforderungen eines Tages an seinen Sohn gestellt werden würden. Unterdessen verlebten die burgundischen Kinder ihre frühen Jahre gemeinsam in der ruhigen Geborgenheit des Wiegenhaushalts; was dazu an Einzelheiten überliefert ist, wurde bereits in früherem Zusammenhang erwähnt.21 Ein Vergleich mit den zeitgenössischen Gepflogenheiten beweist nochmals, daß die Einrichtung dieses Kinderhaushalts nicht eine Reaktion auf die besondere familiäre Situation am Hofe des Herzogs von Burgund, sondern Teil des traditionellen Erziehungsplanes war. Diesem Plan entsprechend erhielten die Kinder schon früh ihren ersten Unterricht. Eleonore war erst vier Jahre alt, als ein ABC-Buch für sie in Auftrag gegeben wurde. Ein einheimischer Schreiber und Illuminator gestaltete die prächtige Handschrift, die in den Rechnungsbüchern von Lille beschrieben ist: un livre que l’on appelle ABC, escrit en lettres de formes, garni de bonnes histoires et plusieurs lettres d’or. Zwölf livres wurden dem Jean Loupes aus Brügge dafür bezahlt, ein beträchtlicher Preis für ein erstes Lehrbuch.22 Näheres über den Inhalt und die Ausgestaltung, über Bildschmuck in den Initialen oder Zierseiten, konnte nicht festgestellt werden. Bei den eingestreuten bonnes histoires dürfte es sich um die damals so beliebten Exempla gehandelt haben, wie sie auch die Erziehungstraktate auflockerten. Offen ist die Frage, in welcher Sprache hier erste Lesekenntnisse vermittelt wurden. Im Mittelalter waren auch die Bücher für den Elementarunterricht in Latein abgefaßt – die Grammatik wurde später gelernt. Es ist unwahrscheinlich, daß man von den Gepflogenheiten abging, eine Ausnahme machte und ein ABC-Buch im burgundischen Französisch des Hofes verfassen ließ, obwohl für die erste Benutzerin, das Mädchen Eleonore, späterer Lateinunterricht nicht vorgesehen war. Da die Anschaffung weiterer ABC-Bücher m.W. nicht nachgewiesen ist, kann man davon ausgehen, daß Eleonores jüngere Geschwister für ihre ersten Leseübungen dasselbe Werk benutzten, was allein der 20 Sandoval 28 gibt die Regierungszeit Philipps mit exakt 1 Jahr, 10 Monaten minus 1 Tag an; bei seiner Berechnung ging er damit vom Sterbedatum Königin Isabellas aus. Tatsächlich hatte Philipp sofort nach Erhalt der Nachricht vom Tode Isabellas den Titel des Königs von Kastilien und León angenommen und Ferdinand von Aragon aufgefordert, sich aus den Ländern, die Juanas Erbe darstellten, zurückzuziehen (Santa Cruz 13 f.). 21 Vgl. oben 23 f. 22 Moeller 1895, 42 (nach Archives du Nord, B 2181, fol. 135 [1503]).

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hohen Kosten wegen nur gerechtfertigt gewesen wäre. Zum Verbleib der Handschrift habe ich leider bisher keine Hinweise gefunden.23 Noch während der Anwesenheit Philipps in den Niederlanden wurden Anstalten getroffen, ein Schulzimmer für die kleine Elementarklasse einzurichten, in der zunächst Karl und bald darauf auch Isabella den Unterricht der älteren Schwester teilten. Es ist wiederum das Archiv von Lille, das Auskunft darüber gibt, daß 1505 ein Schreiner aus Mecheln für die Lieferung von Schulmöbeln an den Hof bezahlt wurde: un banc avec des armoires et une table pour aller le prince et mesdames ses sœurs à l’école.24 Wenig mehr als ihre Namen ist über die Lehrer bekannt, die den Mechelner Kindern den ersten Unterricht erteilten: Robert von Gent, Adrian Wiele, Juan d’Anchiata und Luis de Vacca. Nur Gachard erwähnt in seiner Vita Karls V. als dessen ersten Lehrer don Juan de Vera, den Bischof von León, der die Stelle des Großkaplans des Kinderhaushalts bekleidete. Schon 1505 aber mußte der Geistliche auf Wunsch Ferdinands von Aragon an dessen Hof zurückkehren. Philipp selbst hat noch Luis de Vacca zum maître d’école seines Sohnes berufen.25 Diese Berufung kann nur 1505 erfolgt sein. Während zu Robert von Gent keine näheren Angaben vorliegen, hat Ch. Moeller zur Klärung der Position beigetragen, die Adrian Wiele tatsächlich bei Hofe einnahm. Seine Einordnung unter die ersten Lehrer Karls geht auf einen Übersetzungsfehler in der Titulatur Wieles zurück, der sich in die Werke der Biographen eingeschlichen hat und über Brandi (1964), und Habsburg (1967) bis Tamussino (1995) weitergegeben worden ist: in einem Brief vom 5. April 1507 an den Sekretär Margaretes von Österreich unterzeichnete Wiele als custos et paedagogus adolescentulorum regiorum archiducum. A. Le Glay machte das Schriftstück bekannt und übersetzte dabei Wieles Titel als „précepteur des jeunes archiducs“.26 Aufgrund dieses Übersetzungsfehlers und des gleichen Vornamens ist Wiele in der Literatur gelegentlich sogar mit Adrian von Utrecht verwechselt worden. Im Archiv von Lille wird Wiele jedoch 23 Im Rahmen der „Wiener Kinderuniversität“ stellten Elisabeth Klecker und Brigitte Mersich 2004 „Kaiserliche Kinderbücher aus drei Jahrhunderten“ vor; das Programm wurde durch ein kleines Begleitheft ergänzt, in dem u.a. die ersten Lehrbücher Maximilians I. beschrieben und die Illustrationen einiger Zierseiten erläutert werden. Die übrigen dort besprochenen Lehrwerke stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Eine Anfrage in Wien, Lehrbücher Karls V. betreffend, führte leider nicht weiter; die reiche Handschriftensammlung der ÖNB besitzt demnach kein entsprechendes Material. Frau Dr. Klecker informiert mich ferner darüber, daß Unterrichtsunterlagen, Übungshefte u.ä. erst von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an zahlreicher vorliegen; bei früheren Materialien könnte es sich somit nur um zufällig erhalten gebliebene Stücke handeln. 24 Archives du Nord, B 3462; vgl. Inventaire A.D.N. 1895, 98; Moeller 1895, 42. 25 Gachard 1872, 526. 26 Le Glay 1841, 110–112 (Edition) bzw. 109 (Übersetzung).

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1509 korrekt mit seinem offiziellen Titel als maistre d’escole des enffants d’honneur de Mgneur l’archiduc aufgeführt.27 Er war also als erster Lehrer der Ehrenknaben, der Jugendgefährten Karls, tätig. Dennoch möchte ich nicht ausschließen, daß er in den frühen Jahren auch den fürstlichen Kindern Elementarunterricht erteilte. Der zitierte Brief stammt aus dem Jahre 1507. Damals dürfte die Zahl der Ehrenknaben am Mechelner Hof noch sehr gering gewesen sein. Erst etwa zwei Jahre später ist in der Correspondance häufiger von der Aufnahme junger Adliger in Karls Haushalt die Rede. Mit Juan d’Anchiata und Luis de Vacca finden sich zwei Spanier unter den ersten Lehrern des Prinzen, wobei allerdings Vacca als Sohn spanischer Eltern bereits in den Niederlanden geboren war.28 So wie neben dem niederländischen Kaplan und dem niederländischen Arzt auch jeweils ein spanischer Kollege für den Kinderhaushalt zuständig war, wurde bei der Auswahl der Lehrer darauf geachtet, daß sie den Kindern frühzeitig die Sprache und Kultur des „Mutterlandes“ nahebringen konnten. In Spanien scheint man dies nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Zu tief hatten sich wohl die Enttäuschung darüber, daß Karl nicht zur Erziehung an den Hof der Katholischen Könige gesandt wurde, und die wachsende Abneigung gegenüber allem Niederländischen dem Bewußtsein eingeprägt. Die angebliche Vernachlässigung einer „spanischen“ Erziehung Karls wurde Philipp, Maximilian und Margarete angelastet. So heißt es bei Sandoval, dem in der Berichterstattung über Karls Erziehung ohnehin etliche Fehler unterlaufen: Tuvo otros muchos ayos el duque en su juventud, y si bien el rey don Fernando el Católico, su abuelo, y el rey de Ingalaterra se los quisieron dar de su mano, el emperador, que por la muerte del rey don Felipe era su curador, y madama Margarita, no lo consintieron, dándole siempre caballeros naturales de Flandes.29

Was bei Sandoval durch die räumliche und zeitliche Distanz, aus der er schreibt, durch die einseitigen Quellen, auf die er zurückgreifen mußte, und durch seine Stellung als Hofchronist erklärlich und verzeihlich scheint, befremdet in der Argumentation eines Historikers des 20. Jahrhunderts: In seinem Beitrag zum Kölner Colloquium „Karl V. – Der Kaiser und seine Zeit“ von 1958 vertritt R. Menéndez Pidal sehr prononciert den Standpunkt, daß man in den Niederlanden 27 Archives du Nord B 2210, fol. 366 (Zahlung von 40 Sols für Unterricht und die Anfertigung von généalogies; zitiert in Inventaire A.D.N. 1881, 321a); nahezu identisch ist seine Titulierung im compte des Jahres 1514 (B 2237, fol. 334: Zahlung von 62 Livres 10 Sols für seine Dienste und für Bücher; zitiert ebd. 338a). S. auch Moeller 1895, 53 Anm. 2. 28 Gossart 1910, 165. 29 Sandoval 19. Hier sind offensichtlich die Hilfsangebote der Herrscher nach Philipps Tod, die neuen Ordonnanzen zur Erziehung des Prinzen von 1513 und der bis dahin geregelte Ablauf der Erziehung Karls miteinander vermengt worden.

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alles daran gesetzt habe, jeglichen spanischen Einfluß von Karl fernzuhalten und ihn im Geiste Karls des Kühnen zu erziehen, auf dessen Namen er, zum Leidwesen der Katholischen Könige, getauft worden war.30 Pidal hat insoweit recht, als alle, die nacheinander in den Niederlanden für Karls Erziehung verantwortlich waren, es ablehnten, den Knaben seiner gewohnten Umgebung zu entreißen und ihn seinem „Vaterland“ zu entfremden. Die Voreingenommenheit des Spaniers gegenüber den flamencos sollte jedoch nicht so weit gegangen sein, daß er längst bekannte und mehrfach belegte Fakten verdrängte oder gar negierte, wie er es mit seiner Behauptung „los nobles flamencos nunca consintieron que el niño recibiera un ayo español ni quisieron que aprendiera la lengua española“ tat.31 Einen spanischen ayo, wenn man darunter den Gouverneur verstehen will, hatte Karl in der Tat nie; immerhin bemühten sich aber zwei spanische Lehrer (oder sogar drei, wenn man don Juan de Vera hinzuzählt), ihm neben ihrem Hauptauftrag, dem Lateinunterricht, vielleicht auch Grundzüge ihrer eigenen Sprache zu vermitteln. Der erste – oder zweite – dieser Lehrer, Juan d’Anchiata, blieb allerdings nur etwa ein Jahr am Hofe, ehe man ihn nach Spanien zurückschickte, nicht ohne ihm vorher die Mittel zu geben, seine aufgelaufenen Schulden zu begleichen.32 Ihm folgte Luis de Vac(c)a, dem der Ruf großer Gelehrsamkeit und „guter Sitten“ vorausging. Aus den Quellen läßt sich einhelliges Lob der Person Vaccas herauslesen. Petrus Martyr äußerte sich in einem Brief über Karl, dessen Charakter und Erziehung auch zu seinen Lehrern. Zu Vacca heißt es dort: assecutus est a teneris unguiculis Ludovicum Vaccam nobili sanguine ortum, Hispanum & litteris, & claris moribus egregium benignum: et virtutum omnium clarum exemplar.33 Auch am Ort seiner Lehrtätigkeit, in Mecheln, wurde Vacca sehr geschätzt, besonders von Margarete, die sich zweimal bei ihrem Vater für den Gelehrten verwendete: einmal im Dezember 1507, im ersten Jahr ihrer Vormundschaft, und ein zweites Mal 1514, kurz vor dem Ende von Vaccas Lehrtätigkeit. 1507 lobte Margarete zunächst die Sorgfalt, mit der Vacca den Prinzen täglich in lettres und bonnes meurs unterrichte, wodurch Karl, soweit man es in seinem Alter erwarten konnte, große Fortschritte mache.34 Offensichtlich wollte Margarete ihrem Neffen diesen ausgezeichneten Lehrer erhalten und bat daher Maximilian, Vacca zu 30 31 32 33 34

Menéndez Pidal 1960, 145. Ebd. Moeller 1895, 42 f. (nach Archives du Nord B 2191, fol. 315 [1505]). Petrus Martyr, epist. 513 (p. 528 W., 13.1.1513). Le Glay 1839, 1, 35 f. Nr. 23 (Dez. 1507). Unter lettres ist hier, romanischem Sprachgebrauch entsprechend, mehr als nur Elementarunterricht im Lesen und Schreiben zu verstehen: es kann eine Hinführung zur Literatur sein, doch würde ich lettres hier in dem Sinne verstehen wollen, wie heute noch im Italienischen lettere für studi umanistici steht, was exakt dem Kontext entspricht.

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unterstützen und ihm einige Benefizien zu verschaffen, die er durch seine Fähigkeiten, seine Umsicht und Erfahrung verdient habe. Damit sollte Vacca gleichzeitig ermutigt werden, die kirchliche Laufbahn, die er eingeschlagen hatte, weiter zu verfolgen. Seine Tätigkeit als Lehrer des Prinzen würde bestenfalls bis zu dessen Großjährigkeit dauern, daher mußte man Vorsorge für die Zukunft treffen. Zunächst einmal ging es darum, Vacca durch Benefizien zusätzliche Einkünfte zu verschaffen, denn mit 12 Solidos Tageslohn war sein Salär kläglich. Sein weniger qualifizierter Vorgänger war vermutlich noch schlechter bezahlt worden, so daß sich schon daraus die entstandenen Schulden erklären. Es kann an dieser Stelle nicht untersucht werden, welche Kaufkraft 12 Solidos damals hatten oder was der Lehrer davon zu bestreiten hatte. Wohl aber ist ein Vergleich möglich mit der Bezahlung anderer, die im Hofdienst standen. Unter den Appendices, die Gachard als Herausgeber den „Voyages des Souverains des Pays-Bas“ beigefügt hat, gibt die „Ordonnance de Philippe le Beau pour la composition et le gouvernement de sa maison pendant son voyage d’Espagne“ vom 1. November 1501 Aufschluß nicht nur über die Mitglieder des Haushalts, sondern auch über deren Tagelohn.35 Demnach gehörte Vacca zur gleichen Gehaltsklasse wie z.B. die einfachen Kapläne der grande chapelle, der Organist, einige Sommeliers, etliche Beamte der Rechenkammer, Kammerdiener, Sekretäre, Teppichweber, ein Barbier, ein Chirurg, neun Trompeter und 40 Bogenschützen. Zum Vergleich seien hier die „Großverdiener“ bei Hofe genannt: Kammerherren wie Floris d’Ysselstein oder Philibert de Veyré, Philipps Vertrauter, erhielten 36 Solidos; Antoine de Lalaing, der Verfasser des Premier Voyage und ebenfalls Kammerherr, wurde mit 30 Solidos entlohnt. Der Höchstbezahlte bei Hofe war der grant et premier maistre d’ostel, der für seine Aufgaben als Leiter des fürstlichen Haushalts 60 Solidos erhielt. Der niedrigste Tageslohn lag bei 3 Solidos für Hilfskräfte in den verschiedenen Bereichen des Haushalts einschließlich der Werkstätten; allerdings erhielten auch die einfachen Kapläne, die für die geistliche Betreuung der Bogenschützen und der Jäger zuständig waren, diesen geringen Lohn. Der zweite Brief, in dem sich Margarete für Vacca einsetzte, der inzwischen den geistlichen Ehrentitel eines Protonotars trug, ist ein Empfehlungsschreiben, in dem sie Maximilian bat, den verdienten Lehrer, dessen Aufgaben am Hofe nach acht Jahren mit der bevorstehenden Emanzipation Karls und der Auflösung der Kinderhaushalte erfüllt waren, zu fördern und ihm eine seinen Fähigkeiten entsprechende Position zu verschaffen. Für die Untersuchung des Bildungsganges des Prinzen ist dieser Brief ein bedeutsames Dokument, da die Regentin darin nicht nur die hervorragenden Eigenschaften und Fähigkeiten Vaccas lobend hervorhob, sondern auflistete, wen der Spanier während der acht Jahre wie lange unterrichtet 35 Voyages I 345–372.

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hatte: [car] luy seul aprint monseigneur et ses sœurs ensamble trois années, depuis à monseigneur tout seul, aveucque ces enfans d’honneur trois aultres annéez, jusque à la venue de l’aultre maistre d’escolle que tous deux ont aprins monseigneur ensamble jusque à maintenant.36 Daraus geht hervor, daß Vacca zunächst für drei Jahre die Geschwister Karl, Eleonore und wohl auch schon Isabella, gemeinsam unterrichtete, d.h. vermutlich bis April 1509, als die Haushalte getrennt wurden. Danach erhielt Karl Einzelunterricht; es ist allerdings nicht ersichtlich, über welchen Zeitraum. Drei weitere Jahre wurde der Prinz mit den Ehrenknaben gemeinsam unterrichtet; als schließlich der „andere Lehrer“ in den Dienst des Hofes trat, unterwies er Karl gemeinsam mit Vacca bis zu dem Zeitpunkt, als Margarete ihr Schreiben verfaßte, nach der Neudatierung A. Walthers also Anfang 1514. Die Rechnung in Margaretes Brief enthält Unstimmigkeiten, worauf schon Walther in seiner Besprechung der Arbeit Kreitens hingewiesen hat,37 und ist dennoch aufschlußreich: Die Kinder wurden bis 1509 gemeinsam unterrichtet, erst dann wurden ihre Haushalte getrennt. Dies ist auch durch andere Quellen gestützt, u.a. durch den Rückzug des Fürsten von Chimay aus der Gesamtverantwortung und die Einsetzung von Chièvres als Gouverneur des Prinzen. Die Trennung der Haushalte erfolgte also etwa zwei Jahre später als allgemein üblich. Diese Abweichung von der generellen Praxis läßt sich leicht durch die Veränderungen im Leben der Kinder erklären, die durch den Tod Philipps notwendig wurden: 1507, das Jahr, in dem Karls infantia endete, war eben das Jahr, in dem Margarete die Vormundschaft übernahm und über den weiteren Werdegang der Kinder entschieden werden mußte. So, wie man das bisherige Personal zunächst in den Ämtern bestätigte, ließ man auch den Kinderhaushalt intakt – eine sehr kluge Entscheidung, die den Halbwaisen nicht zusätzliche Umgewöhnung zumutete. Die Quelle bezeugt zusätzlich, daß Karl, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, bereits mit sieben Jahren Lateinunterricht erhielt, wenn man nämlich den Begriff lettres richtig als humanistische Studien deutet. Falls er anschließend für eine gewisse Zeit Vaccas einziger Schüler war, ist Latein gewiß der wichtigste Unterrichtsgegenstand gewesen. Wenn vielfach davon ausgegangen wird, daß Vacca Karl vor allem Spanisch lehrte, so muß dies hier revidiert werden: Vacca war Geistlicher; vorrangige Aufgabe des geistlichen Erziehers war die Vermittlung der klassischen Sprache. In Anbetracht der besonderen Situation der burgundischen Kinder einer spanischen Mutter und im Hinblick auf Karls Stellung in der spanischen Thronfolge ist jedoch anzunehmen, daß eine Unterweisung auch in der „Muttersprache“ erfolgte und 36 Le Glay 1839, 2, 115 f. Nr. 475 (undat. minute, Le Glay: ca. Juni 1512; Walther: Anfang 1514). 37 Walther 1908, 280.

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gewisse Kenntnisse über das ferne, fremde Land vermittelt wurden, in dem der andere Zweig der Familie lebte. Ob Vacca allerdings Spanien damals aus eigener Anschauung kannte, muß hier offen bleiben. Auch die Jahre des gemeinsamen Lernens mit den Ehrenknaben, die Margarete erwähnt, fügen sich dem Konzept der Adels- und Prinzenerziehung völlig ein: Nachdem die jungen Adligen unter Adrian Wiele den Elementarunterricht absolviert hatten, übernahm es Vacca, ihnen das erforderliche Maß an höherer Bildung zu vermitteln. Dazu gehörten zumindest Grundkenntnisse des Lateinischen. Der wesentliche Punkt ist m.E., daß der Brief belegt, daß der „andere Lehrer“ – mit dem nur Adrian von Utrecht gemeint sein kann – erst relativ spät zum geistlichen Erzieher des Prinzen berufen wurde. Im Grunde ist es unverständlich, daß der Zeitpunkt, zu dem der prominenteste Lehrer Karls sein Amt antrat, nicht eindeutig bestimmbar zu sein scheint. Das früheste Datum für die Einsetzung Adrians als Lehrer Karls findet sich in der Crónica des Alonso de Santa Cruz: Danach bestellte noch Philipp selbst vor seinem Aufbruch nach Spanien, also 1505/06, Chièvres zum Erzieher und Adrian zum Lehrer seines Sohnes.38 Sandoval setzt die Berufung Adrians zum Lehrer und Erzieher des Prinzen auf 1507 an: Siendo el duque de siete años, le dieron el emperador, su abuelo, y madama Margarita, por su maestro y precetor a Adriano Florencio [...].39 L. von Pastor, der dem Leben und Wirken der Päpste der Neuzeit unter Benutzung der wichtigsten Archive nachgegangen ist, formuliert in der Vita Hadrians VI. vorsichtig: „Wahrscheinlich bereits im Jahre 1507 wählte ihn [Adrian; A.S.] Kaiser Maximilian zum Lehrer seines Enkels, des Erzherzogs Karl [...]“.40 Ebenso wahrscheinlich ist m.E., daß Pastor hier von der Annahme ausging, daß der Prinz nach dem etablierten Erziehungsplan mit sieben Jahren einen geistlichen Erzieher erhielt, der ihn, wie es den Usancen und dem Wunsche des Vaters entsprach, im Lateinischen unterrichten sollte. Vacca als weniger bekannte Persönlichkeit, der aber durchaus die Qualifikation zum geistlichen Erzieher besaß, ist Pastors Aufmerksamkeit dabei offensichtlich entgangen. Die Auffassung aber, daß Adrian von Utrecht ab 1507 am Mechelner Hofe lehrte, wird auch heute noch gelegentlich vertreten, so 1999 von L. Altringer: „1507 ernannte Kaiser Maximilian I. [...] Hadrian zum pedagogus, zum Erzieher seines Enkels Karls V. [...], der zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt war.“41 Etliche Biographen erwähnen zwar Adrians Tätigkeit als Lehrer 38 39 40 41

Santa Cruz 23. Sandoval 18. Pastor 1925, 38 f. Altringer 1999, 48. Leider gibt der Verfasser an dieser Stelle seiner sonst gut belegten Ausführungen die Quelle nicht an. Da sich jedoch viele seiner Anmerkungen auf das Werk Pastors beziehen, ist nicht auszuschließen, daß er die Datierung von dort übernommen hat, ohne das Hypothetische der Aussage zu beachten.

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Karls, verzichten aber wohl bewußt auf eine Datierung. P. Rassow ging vermutlich von der Annahme aus, daß gleichzeitig mit der Trennung der Haushalte und der Ernennung des neuen Gouverneurs auch Adrian sein Amt als geistlicher Erzieher antrat, als Karl etwa neun Jahre alt war.42 Folgt man den Angaben Gachards im Artikel „Charles-Quint“ der Biographie nationale, so war Vacca nach dem Weggang don Juan de Veras (s.o.) sechs Jahre lang Karls einziger Lehrer. Zur Berufung Adrians heißt es dann: „Ce temps écoulé, il parut nécessaire de confier la direction des études du jeune prince à un personnage plus considérable par sa science ainsi que par son rang, et Marguerite d’Autriche, d’accord avec le seigneur de Chièvres, fit choix d’Adrien d’Utrecht, doyen de Louvain.“43

Frühestens 1511 könnte Adrian danach sein Amt in Mecheln angetreten haben. Dansaert hat im Archiv von Lille einen Brief Chièvres’ vom 29. September 1511 an die Regentin ausfindig gemacht, in dem Adrian von Utrecht, der Dekan von Löwen, als Lehrer Karls genannt wird.44 Baumgarten erwähnt, daß „Adrian von Utrecht, [...] wir wissen nicht genau wann, neben Vacca mit dem Unterricht des Erzherzogs betraut wurde.“45 Eine erste Bestätigung für die Besoldung Adrians durch die Rechenkammer fand Moeller im état journalier für das Jahr 1512: „Charles-Quint avait douze ans lorsqu’on lui donna le doyen de Louvain comme premier maître d’école, aux gages de 24 sols par jour.“46 Vermutlich auf derselben Quelle basiert die Feststellung Walthers, des seinerzeit wohl gründlichsten Kenners der burgundischen Archive, in seiner Analyse des oben zitierten zweiten Briefes der Regentin: „Weitere 3 Jahre bis zur Ankunft des »anderen maître d’école« (des späteren Hadrian VI.), den ich wirklich Anfang 1512 zuerst mit diesem Titel ausgezeichnet finde.“47 Geht man von dieser Datierung aus, die ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit besitzt, so hat Karl kaum drei Jahre von der Gelehrsamkeit Adrians profitieren können48 – bestenfalls bis zum Mai 1514, denn zu die-

42 Rassow 1963, 11. 43 Gachard 1872, 526. 44 Dansaert 1942, 107 nach Archives du Nord, B 18835, lettres missives 27515 (für die Mitteilung der Signatur danke ich herzlich M. Vangheluwe). 45 Baumgarten 1885, 15. 46 Moeller 1895, 87 (aus Archives du Nord, B 3465; s. Inventaire A.D.N. 1895, 106). 47 Walther 1908, 280. 48 Zugunsten einer geschlossenen Darstellung des formalen Bildungsganges des Prinzen wird ein näheres Eingehen auf die Persönlichkeit des späteren Papstes und sein erzieherisches Wirken hier zunächst zurückgestellt. Den beiden einflußreichsten Erziehern Karls V., Adrian von Utrecht und Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, wird im Anschluß ein eigener Abschnitt gewidmet (s. unten 203–317).

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sem Zeitpunkt verzeichnet das Itinerar des Prinzen seinen letzten Aufenthalt in Mecheln vor der Emanzipation.49 War schon über die zeitliche Abfolge der Tätigkeit der verschiedenen Lehrer nur auf Umwegen bedingt Klarheit zu erlangen, so weiß man noch weniger über den Lehrstoff, der vermittelt wurde, oder über die Unterrichtsmethoden. Mit ziemlicher Sicherheit ist davon auszugehen, daß Karl für den Lateinunterricht ein Lehrbuch zur Verfügung stand, das auf der Grammatik des Aelius Donatus50 aus dem 4. Jahrhundert basierte. Immer wieder überarbeitet und den Bedürfnissen der Schüler angepaßt, war es über Jahrhunderte das Standardwerk, nach dem Anfänger wie Fortgeschrittene unterrichtet wurden. Die Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek bewahrt die beiden reich ausgestatteten Bände, die Maximilian als Schüler benutzte.51 Trotz der langjährigen Bemühungen zweier hochqualifizierter Lehrer müssen die Lateinkenntnisse Karls sehr dürftig geblieben sein, wie bereits frühe Quellen bestätigen. Gerade die spanischen Chronisten des 16. Jahrhunderts wußten auch einen Grund für diese Bildungslücke anzugeben: Chièvres, der – geht man von der oben entwickelten Datierung aus – drei Jahre vor Adrian als Gouverneur Karls Einfluß auf den Knaben nehmen konnte, wird angelastet, daß er den Heranwachsenden in dessen gewiß alterstypischer Abneigung gegen das strenge Lernen unterstützte, das für die Beherrschung des Lateinischen Voraussetzung ist. Die meisten Knaben im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren, ob im 16. Jahrhundert oder in unserer Zeit, dürften wohl wie Karl reagiert haben oder auch heute reagieren, wenn sie von maßgeblicher Seite, wie hier von Chièvres, in ihrer Auffassung unterstützt würden, daß Reiten, Schießen, Jagen oder ganz generell Sport wichtiger und dem Lateinunterricht vorzuziehen seien. Die späte Reue darüber, nicht auf die Ermahnungen von anderer Seite, hier also von Adrian, gehört zu haben, beschränkt sich nicht auf Prinzen. Alfonso d’Ulloa stellt diesen Zusammenhang in seiner Vita Karls ausführlich dar, woraus ersichtlich wird, welche Bedeutung der klassischen Bildung eines Fürsten, eines Kaisers gar, beigemessen wurde: Ma poi Adriano non hebbe molta felicità in ammaestrar il discepolo; Percioche reputando Carlo i costumi piu necessarij in un Principe, che le lettere non sono, & che in imparar queste non fosse da spendere tanta opera, & tanto tempo quanto ne gli studi de’ cavalli, & delle arme, ancora che il maestro ne lo pregasse indarno abbandonò gli studi di quelle 49 Voyages II 15 (Itinerar): „1–23 mai [1514] à Malines“. 50 Donatus unterrichtete in Rom bereits den nachmaligen Kirchenlehrer Hieronymus. Sein zweiteiliges grammatisches Werk gliedert sich in die ars minor, die in Frage und Antwort Kenntnisse der acht Redeteile vermittelte, die der Anfänger auswendig zu lernen hatte, und die darauf aufbauende ars maior. Vgl. Curtius 1969, 49. 53. 51 Eine Beschreibung beider Handschriften im Begleitheft zur oben erwähnten Ausstellung „Kaiserliche Kinderbücher aus drei Jahrhunderten“ (Mersich/Klecker 2004, o. S.).

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piu tosto che egli non doveva. Di quello si dà la colpa à Carlo [!] Ceurio [gemeint ist: Guillaume de Croy, verwechselt mit Charles de Croy, Fürst von Chimay] gentilhuomo Fiammingo, che allora lo creava, il quale per haver il possesso intiero del garzone, spesse volte offerendogli giochi d’arme à poco à poco levò lo allievò [!] suo dalle lettere, & per questo Adriano inferiore di autorità & piacevolissimo di natura, facilmente rimase dall’offitio suo; non lasciando però di dire al suo discepolo, che egli si pentirebbe un dì della presente negligenza. Et che sia il vero questo, che Carlo V non imparò compiutamente le lettere Latine, si comprende chiaro da quelle parole che egli disse à Genova non intendendo troppo bene una oratione latina, che quivi li fu fatta. Per le quali si doleva molto, che egli non intendeva quei fiori, & quelle elegantie del parlar latino; ricordandosi quanto gli havesse detto il vero Adriano suo maestro quando li diceva, che un dì si pentirebbe della sua negligenza fanciullesca, non volendo imparare.52

Die Abneigung gegen Chièvres, den in Spanien verhaßten flamenco, bringt Sandoval sehr deutlich zum Ausdruck, indem auch er Karls Gouverneur die Schuld an der Vernachlässigung der Lateinlektionen gibt: Quisiera Adriano que el duque se aficionara a las letras, y, por lo menos, que supiera la lengua latina; pero el duque más se inclinaba a las armas, caballos y cosas de guerra. Y así, cuando ya era Emperador, dando audiencia a los embajadores, como le hablaban en latín y él no lo entendía ni podía responderles, se dolía de no haber querido en su niñez hacer lo que su maestro Adriano le aconsejaba. Culpan en esto a Guillelmo de Croy, señor de Xevres, su ayo, que por hacerse muy dueño del niño y ganarlo para sí solo le quitaba los libros y ocupaba en armas y caballos, que sería bien fácil por ser más inclinada aquella edad a estos ejercicios que a las letras.53

Es ist wiederum Menéndez Pidal, der in seinem Aufsatz die Verachtung, mit der Spanier und Burgunder (oder flamencos) einander betrachteten, unterstreicht und der die Geringschätzung, die Spanien von burgundischer Seite entgegengebracht wurde, noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht verwunden hat: Chièvres, Haupt der frankophilen Partei am burgundischen Hof und damit der „natürliche Feind“ Spaniens, trage die Schuld an der verfehlten Erziehung Karls; angeblich fühlte sich der Thronerbe später ständig seinem Bruder Ferdinand unterlegen, der von Kardinal Ximénes de Cisneros [!] vorbildlich erzogen worden war: „Verdad es que tampoco aprendió el alemán, ni el latín, la lengua diplomática internacional, esa ignorancia del latín en que Carlos siempre se sintió inferior a su hermano Fernando educado por Cisneros [...] Chièvres se había apoderado por completo del ánimo del joven príncipe, apartándole cuanto podía de toda otra influencia; no llevándole a pensar sino en caballos y en armas, le hacía tener en poco los latines y las demás enseñanzas que desde 1512 recibía del maestro Adriano de Utrecht [...]“54 52 Ulloa 1573, 3. 53 Sandoval 19. 54 Menéndez Pidal 1960, 145 f. Ximénes war allerdings ebensowenig Lehrer des Infanten wie Erasmus Lehrer Karls war; auch diese Behauptung begegnet mit einer gewissen Hartnäc-

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Wilhelm (Guillaume) van Male,55 der gelehrte Kammerherr, Privatsekretär und engste Vertraute des Kaisers noch in der Abgeschiedenheit von Yuste, hat vor allem in seinem Briefwechsel mit Louis von Flandern, seigneur de Praet,56 zahlreiche Details aus den letzten Lebensjahren Karls V. mitgeteilt. Male, der u.a. die Erinnerungen des Kaisers nach dessen Diktat aufzeichnete, redigierte und ins Lateinische übersetzen sollte,57 der aber auch Bibelstudien mit Karl betrieb und nächtelange Gespräche mit ihm führte, bezeugt, wie sehr der alte Kaiser es bereute, seine lateinischen Studien und seine literarische Bildung vernachlässigt zu haben und wie er sich mühte, Versäumtes nachzuholen, um die Bibel in lateinischer Sprache und Caesars Commentarii belli Gallici im Original lesen zu können.58 Fast alle Historiker, die sich im 19. und 20. Jahrhundert mit der Biographie Karls auseinandersetzten, haben auf dessen mangelnde Lateinkenntnisse hingewiesen, ohne so scharfe Töne anzuschlagen wie Menéndez Pidal. Th. Juste betont, daß Maximilian, der hoffte, Karl werde ihm eines Tages im Reich nachfolgen, seinem Enkel immer wieder nahelegte, sich die offizielle Sprache der Politik und Diplomatie gründlich anzueignen. Auch der belgische Historiker deutet an, daß der Prinz eher dem Rat Chièvres’ folgte, der wiederholt bekräftigte, daß sein Schüler zum Herrscher geboren sei, nicht dazu, ein Gelehrter zu werden.59 L. Gachard vermerkt, daß Karl das Lateinische abschreckte oder abstieß,60 H. Pirenne bestä-

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kigkeit bis heute. Der Einleitung zu Kervyn van Lettenhove 1862 und der Introduction Reiffenbergs zur Edition von Males Vie Intérieure (1843) lassen sich Informationen zum Leben und Wirken van Males entnehmen: Er entstammte einer Familie der „pauvre nobilité“ aus Brügge. Von Jugend an widmete er sich den klassischen Studien. Der geistlichen Laufbahn nicht zugeneigt, begab er sich nach Spanien, wo er durch die Übersetzung der Kriegserinnerungen des don Luis d’Ávila ins Lateinische die Aufmerksamkeit des Herrn de Praet erlangte; durch dessen Fürsprache erhielt er um Ostern 1550 die Stelle eines Geheimschreibers oder Kabinettssekretärs im Haushalt des Kaisers. Male stand in den Jahren 1550–55 in regem Briefwechsel mit de Praet, der damals premier chambellan und Ratgeber des Kaisers, Statthalter von Flandern und Schatzmeister der Niederlande war. Der Ritter vom Goldenen Vlies, Sproß der Bastard-Linien der Häuser von Flandern und Burgund, galt als Autorität auf dem Gebiet der klassischen Literatur; mit Male teilte er die Vorliebe für Seneca, Cicero, Platon, Xenophon und Polybios. Vgl. Kervyn van Lettenhove 1862, IX f. Die lateinischen Briefe Males sind erstmals von Reiffenberg 1843 veröffentlicht. Zur Entstehung der kaiserlichen Memoiren und zu Males Anteil daran gibt sein Brief vom 17. Juli 1550 Auskunft (p. 12–13 R.). Zu den Bibelstudien des Kaisers äußert sich van Male in einem Brief vom 23. November 1552 und ferner am 24. Dezember (vermutlich) 1552 (p. 76–77. 85–86 R.). Juste 1858, 70. Gachard 1872, 526.

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tigt, daß der Prinz nur einige Brocken Latein kannte,61 R. Merriman urteilt schlichtweg: „his Latin was bad“,62 während R. Tyler darauf hinweist, daß Karls Kenntnisse oft nicht ausreichten, um den Reden ausländischer Gesandtschaften zu folgen.63 Damit war die Situation eingetreten, die Maximilian befürchtet und mit seinen Ermahnungen hatte verhindern wollen. Zwar standen dem Herrscher bei dem Empfang ausländischer Delegationen stets sprachkundige Diplomaten zur Seite, die Oratoren, die an seiner Stelle antworteten, und gelegentlich wurde auch ein im Namen des Herrschers verfaßtes Antwortschreiben überreicht, es sei aber dahingestellt, ob dem Sprachunkundigen nicht oft die gerade im diplomatischen Verkehr so wesentlichen Nuancen entgingen. Wenn sich die Historiker im Hinblick auf Karls mangelhafte Lateinkenntnisse einig sind, so differieren ihre Angaben stark, wenn es um die Beurteilung seiner Beherrschung moderner Fremdsprachen geht, in erster Linie um die des Spanischen. Mit der Ausnahme Otto Habsburgs bezeichnen seine Biographen die Kenntnisse des Königs von Spanien in der Landessprache bei Antritt seiner Herrschaft als äußerst dürftig: „Charles n’apprenait aussi que très-difficilement l’espagnol“; „il savait dire à peine quelques mots d’espagnol lorsqu’il partit pour la Castille“; „le futur roi de Castille et d’Aragon, de Naples et de Sicile ne parlait ni l’espagnol ni l’italien“; „on ne lui avait enseigné ni l’allemand, ni l’espagnol.“64 H. Baumgarten zitiert eine Denkschrift des Alonso Manrique, damals Bischof von Badajoz, der zu den kastilischen Flüchtlingen am Hof Margaretes gehörte und den Prinzen seit 1509 aus unmittelbarer Nähe hatte aufwachsen sehen. Am 8. März 1516 verfaßte er ein Memorandum, das er Kardinal Ximénes de Cisneros übersandte. Darin heißt es: „Der Prinz, unser Herr, hat, Gott sei gepriesen! sehr gute Neigungen und große natürliche Anlagen, aber sie haben ihn erzogen und erziehen ihn noch in großer Zurückgezogenheit und Abgeschlossenheit, besonders von den Spaniern. Man sollte ihm mehr Verkehr gestatten, vorzüglich mit den Spaniern. Seine Hoheit kann noch kein Wort spanisch reden, und wenn er etwas versteht, so ist es sehr wenig.“65

Schon bald nach seiner Ankunft in Spanien am 19. September 1517 muß Karl die Notwendigkeit erkannt haben, die Landessprache, seine „Muttersprache“, rasch und gründlich zu erlernen. Bereits am 15. März 1518 schrieb Petrus Martyr 61 62 63 64 65

Pirenne 1953, 83: „quelques bribes de latin“. Merriman 1962, 11. Tyler 1959, 30. Tyler könnte hier Ulloa und Sandoval gefolgt sein. Vgl. oben 176 f. Juste 1858, 70; Gachard 1872, 526; Gossart 1910, 165 f.; Pirenne 1953, 83. Baumgarten 1885, 17. Dieses Memorandum wird an späterer Stelle unter verschiedenen Aspekten ausgewertet. Ein längerer Auszug (in deutscher Übersetzung) findet sich in QSKV. 32–41 Nr. 3.

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in einem geradezu überschwenglichen Brief, daß der König die spanische Sprache verstehe und spreche, als ob er im Lande geboren und aufgewachsen sei: Rem audite, qua delectabimini. Rex iam callet Hispanam linguam, & promit, ac si esset inter vos natus, & enutritus. Besonderes Lob spendet er dann den beiden spanischen Lehrern Karls, Luis de Vacca und Dr. Mota.66 In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Karl die Fähigkeiten seines spanischen Lehrers Luis de Vacca durchaus zu schätzen lernte und ihm in Dankbarkeit verbunden blieb: er ernannte ihn später zum Mitglied des Indienrates. Die kirchliche Laufbahn, die schon Margarete zu fördern wünschte, führte Vacca schließlich zum Bischofsamt der Canarias.67 Der Hinweis, daß Karl erst als Erwachsener Spanisch lernte, findet sich bei fast allen späteren Biographen wieder. R. Tyler hat diese Hinwendung zum Spanischen ebenso einfach wie treffend erklärt: „Karl sprach mit seinem Bruder und seinen Schwestern französisch; mit seinen eigenen Kindern aber bediente er sich ausschließlich des Spanischen, das ihm durch lange Aufenthalte auf der iberischen Halbinsel, von 1522 bis zum Tode seiner Gattin 1539, zur zweiten Muttersprache geworden war. Karl war französisch geboren und starb spanisch.“68

Auf die „Hispanisierung“ Karls geht auch M. de Ferdinandy ein und betont ebenfalls die Rolle, die das Spanische als gemeinsame Sprache des Kaisers und seiner Gemahlin Isabella von Portugal spielte, als „Familiensprache“, mit der die Kinder des Paares aufwuchsen. Dementsprechend sind die Briefe des Kaisers an Isabella und an seine Kinder ebenfalls in spanischer Sprache geschrieben.69 Unter den neueren Biographen Karls weicht m.W. nur Otto Habsburg von der gut dokumentierten und generell akzeptierten Auffassung ab, wenn er schreibt: „Dank seiner spanischen Erzieher beherrschte Karl V. die Landessprache und wußte um die fundamentalen Gegebenheiten des Königreiches und der Bevölkerung Bescheid.“70 Die Angaben zu Karls Beherrschung weiterer Fremdsprachen sind uneinheitlich und widersprüchlich. Teilweise mögen sie auf Sandovals Behauptung zurückgehen: Supo bien el duque Carlos las lenguas flamenca, alemana, italiana.71 Th. Juste scheint sich unmittelbar darauf bezogen zu haben, wobei er die Sprachenvielfalt, über die Karl verfügte, noch um das Englische ergänzte: „Charles [...] étudiait avec plaisir les autres langues vivantes comme le français, l’allemand, l’italien 66 67 68 69 70 71

Petrus Martyr, epist. 614 (p. 577 W.). Brandi 1941, 76. Tyler 1959, 30. Ferdinandy 1966, 214–217. Habsburg 1967, 83. Sandoval 19.

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et l’anglais.“72 In krassem Gegensatz dazu stehen Ch. Moellers Ausführungen zur Sprachsituation in den Niederlanden und am Mechelner Hof während der Jugendjahre Karls V. Obwohl die Bewohner des nördlichen Landesteils Holländisch, d.h. Flämisch oder thiois sprachen, und der andere Teil der Bevölkerung Französisch, wurde das Französische, die Sprache des Hofes, von offizieller Seite als „Nationalsprache“ betrachtet. Maximilian, der Polyglotte, verfaßte seine Briefe an die Tochter und die Enkel in seinem eigenwilligen Französisch, da sie kein Deutsch verstanden. Margarete als Regentin der Niederlande kannte nur wenige flämische Wendungen. Es war ein Zeichen von Maximilians Weitblick, daß er v.a. Karl anhielt, thiois zu lernen, um den Menschen seines Landes in ihrer Sprache begegnen zu können: Ayés tousjours pour recommandé nous [!] linages de Malines et mesmement que l’archiduc Charles aprende bien tost la thios.73 Damit ging der Kaiser über das hinaus, was nach dem mittelalterlichen Erziehungskonzept an sprachlicher Bildung von einem Prinzen erwartet wurde. Maximilian, der selbst über ein vielsprachiges Reich gebot, hatte frühzeitig erkannt, daß gerade in den Niederlanden mit dem wachsenden Selbstbewußtsein eines aufstrebenden Bürgertums das Verlangen danach wuchs, in wichtigen Angelegenheiten, mit Beamten oder vor Gericht in der jeweils eigenen Sprache zu verhandeln. Zunehmend wurde die Kenntnis beider Landessprachen in dem zweisprachigen Land zur Voraussetzung für die Übertragung von Ämtern. Zwei Briefe aus der Correspondance mögen dies belegen. So entschied Maximilian, daß einem gewissen Jérôme Vent das vakant gewordene Amt des Bailli von Brügge nur übertragen werden solle, falls er das Flämische beherrsche. Nur jemand, der die Sprache der Bevölkerung verstehe, könne den Posten zur Zufriedenheit ausfüllen, argumentierte der Kaiser.74 Auch Margarete wurde die Bedeutung von Sprachkenntnissen bewußt: Als sie Maximilian den Vorschlag machte, Mercurino Gattinara zum chef du conseil privé zu ernennen, mußte sie einräumen, daß er bei seiner sonst hervorragenden Eignung für das Amt des Flämischen nicht mächtig war.75 Sollte nicht das, was von den Beamten verlangt wurde, auch vom Herrscher erwartet werden können? Karl selbst setzte sich nach seinem Regierungsantritt 1515 beim höchsten Gerichtshof in Mecheln dafür ein, daß die Verhandlungen gegen Holländer auf Holländisch geführt werden sollten. Der Rat lehnte dies ab und machte nur die Konzession, daß die Schriftstücke auch in holländischer Sprache ausgefertigt werden konnten. Für Plädoyers und die gesamte mündliche Verhandlung blieb weiterhin nur die französische Sprache zugelassen: „il ne leur semblait raisonnable 72 73 74 75

Juste 1858, 70. Le Glay 1839, 2, 176 Nr. 511 (7.7.1513). Ebd. 1, 151 Nr. 121 (8.6.1509). Ebd. 2, 243 f. Nr. 563 (undat. minute; Walther: ca. 28.6.1514).

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parler autre langage que le prince parle en sa maison et en sa cour [...]“ Dies genügte den Räten als Begründung.76 Trotz seines Eintretens für die bedingte Anerkennung der zweiten Landessprache und trotz der Ermahnungen Maximilians unternahm der Prinz offensichtlich keine Anstrengungen, selbst Flämisch zu lernen. Weder auf Lektionen, die ihm darin erteilt wurden, noch auf einen Sprachlehrer konnten Hinweise gefunden werden. Es ist nicht auszuschließen, daß Chièvres dem Wunsch Maximilians entgegenarbeitete und seinen Zögling in der Abneigung gegen zusätzlichen Sprachunterricht unterstützte. Als einer der letzten Hüter französisch-burgundischer Kultur hielt er es gewiß für überflüssig, daß ein Prinz Flämisch lernte, die Sprache des Volkes, die gegenüber dem höfischen Französisch als derb und bäurisch galt. So stellt Pirenne wohl zu Recht fest: „Il avait sans doute du flamand cette connaissance superficielle qu’en ont aujourd’hui tant de bourgeois francisés, par suite de leurs rapports avec les domestiques, les gens du peuple et les paysans. Pour l’allemand, il est certain qu’ il ignorait [...].“

Pirenne kann sich hierfür auf den Ohrenzeugen Bartholomäus Sastrow (1520 bis 1603) berufen, der über Karls Versuche, sich des Deutschen zu bedienen, berichtet und einige „deutsche“ Sätze des Kaisers, so wie er sie gehört hat, in seiner Autobiographie überliefert. Pirenne bemerkt dazu: „C’est un sabir mi-flamand, mi-allemand, dont l’incorrection atteste l’authenticité. Elles prouvent que l’empereur essayait de parler Hochdeutsch en s’aidant des bribes de malinois qu’il avait retenues en son enfance. La pauvreté du vocabulaire est tout à fait caractéristique.“77

Einige Gründe dafür, weshalb Karls Sprachkenntnisse am Ende der pueritia, also beim Eintritt in das Erwachsenenleben, nicht dem entsprachen, was der Erziehungsplan vorsah und zumindest für das Lateinische nach acht Jahren Unterricht wohl hätte erwartet werden dürfen, sind genannt worden: die geringe Neigung des Heranwachsenden zum Erlernen der klassischen Sprache, seine Vorliebe für die ritterlichen Sportarten und die Bestärkung seiner ablehnenden Haltung durch Chièvres. Vermutlich mangelte es dem Prinzen auch an Sprachbegabung. Ein Faktor jedoch, der Karl das Erlernen von Fremdsprachen erheblich erschweren und als äußerst lästig erscheinen lassen mußte, wird in diesem Zusammenhang nie explizit erwähnt, scheint mir jedoch von großer Bedeutung gewesen zu sein: Die Deformationen im Mund- und Nasenbereich, jenes nicht nur unschöne, sondern die Gesundheit belastende habsburgische Erbe, waren bei Karl besonders stark ausgeprägt. Ohne einem späteren Abschnitt hier vorgreifen zu wollen, der 76 Moeller 1895, 70 (nach Ph. Wielandts Recueil des Antiquitéz de Flandres). 77 Pirenne 1953, 83 Anm. 1.

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sich mit der Erscheinung des Prinzen und dem Eindruck befassen soll, den er bei außenstehenden Beobachtern hinterließ, kann diese Beeinträchtigung im gegebenen Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. G. Poensgen, der 1960 eine einfühlsame Deutung der Persönlichkeit des Kaisers anhand von Porträts aus allen seinen Lebensphasen vorlegte, wies auf die Auffälligkeiten in Karls Physiognomie hin und ebenso auf deren nachteilige Auswirkungen auf die körperliche Verfassung: „Sämtlichen Portraits Karls V. gemeinsam ist ein offener Mund mit vorstehender wulstiger Unterlippe. Dieses bekannte habsburgische Erbe, bereits bei dem Großvater Maximilian stark ausgeprägt, findet sich auch bei dem Vater, Philipp dem Schönen von Burgund, und kehrt wieder bei den meisten Geschwistern, vor allem bei dem Bruder Ferdinand, nirgends aber mit jenem Zug leidvollen nach Luft-Ringens, der bei Karl von Anfang an hervorsticht. Seine Atmung scheint durch die verhältnismäßig sehr schmale Nase und vermutlich auch infolge von Verwachsungen an den Rachenmandeln stark erschwert gewesen zu sein.“78

Einen Zusammenhang zwischen der Behinderung durch diese Mißbildungen und Karls mangelnder Sprachkompetenz deutet in der hier ausgewerteten Literatur allenfalls R. Merriman an: „His salient feature, however, so prominent that it really diverted attention from the upper part of his face, was his long protruding lower jaw, which caused his mouth not seldom to hang open, and sometimes gave him almost the air of an imbecile. [...] The unhealthy pallor, which was remarked upon by all observers, was doubtless attributable to the same cause. Another result of this peculiar malformation was a hesitant speech and continual stammering; and the unfortunate impression which this infirmity must have produced was considerably enhanced by his linguistic limitations.“79 78 Poensgen 1960, 174. 79 Merriman 1962, 11. Die meisten der von Merriman zusammengefaßten Beobachtungen gehen auf die Berichte venezianischer, einige auf die englischer Diplomaten zurück. Zur Ergänzung sei hier eine weitere Beobachtung des Venezianers Corner angeführt: Ha la lengua curta et grossa, che è causa di farlo parlar molto grosso et non senza fatica (zit. b. Walther 1911, 204 Anm. 7). In den spanischen Chroniken werden die Beeinträchtigungen, mit denen Karl zu kämpfen hatte, nicht erwähnt. Petrus Martyr, der Zeitgenosse, äußert sich erstmals 1513 zur Person Karls, ohne ihn jedoch bis dahin je gesehen zu haben (epist. 513 [p. 528 W.]). Abgesehen vom Fehlen eines persönlichen Eindrucks mag hier auch die mittelalterliche Überzeugung zum Ausdruck kommen, daß ein Herrscher nicht mit einem sichtbaren Makel behaftet sein, nicht in seinem Äußeren „gezeichnet“ sein dürfe – eine Auffassung übrigens, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterwirkte: Körperliche Gebrechen eines Monarchen wurden auch damals vor der Öffentlichkeit so lange wie möglich verborgen. In diesem Kontext sei an das Beispiel Kaiser Wilhelms II. erinnert, der infolge eines ärztlichen Kunstfehlers bei seiner Geburt mit einem verkrüppelten Arm zur Welt kam. Vergeblich versuchten die Eltern des Thronfolgers, diesen Makel beheben zu lassen, bevor er offensichtlich wurde. Noch als Kaiser hat Wilhelm II. zweifellos darunter

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Die Erfahrung lehrt, daß jemand es vorzieht möglichst wenig zu sprechen, dem schon das Atmen schwerfällt, der den Mund nicht schließen kann und dem es infolgedessen sogar Schwierigkeiten bereitet, in seiner eigenen Sprache die Laute korrekt zu formen, der aus Unsicherheit zu stottern beginnt. Die ungewohnten Laute einer fremden Sprache – und Latein war zu Karls Zeit auch gesprochene Sprache – werden zum scheinbar unüberwindlichen Hindernis: der physischen Beeinträchtigung gesellt sich eine psychische Barriere hinzu; beide gemeinsam führen zu einer Ablehnung der fremden Sprache, zur Verweigerung. Falls der Eindruck entsteht, daß der Sprachenfrage hier zu viel Raum gegeben wird, sei nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, welche Bedeutung sie für die Wahrnehmung des Kaisers durch seine Völker später zeitigte: In Spanien erlangte er die notwendige Zustimmung und Unterstützung in dem Maße, wie er sich hispanisierte, sich das Spanische zu eigen machte und seine Kinder spanisch erzog. Damit überwand er das Mißtrauen und die Vorurteile, die ihm als dem Fremden zunächst entgegengebracht worden waren. Im Reich hingegen blieb Karl immer ein Fremder. Die Ursache dafür ist nicht nur darin zu suchen, daß der Kaiser keine feste Residenz auf Reichsgebiet hatte, daß er meistens in der Ferne weilte und seinen „Lebensmittelpunkt“ in Spanien gefunden hatte. Es lag ganz wesentlich daran, daß er, im Gegensatz zu seinem populären Großvater Maximilian, sich den Menschen nicht in ihrer Sprache verständlich machen konnte: eine besonders herbe Enttäuschung nach den hochgespannten Erwartungen, die durch den Sieg des „deutschen“ Bewerbers über den Franzosen bei der Kaiserwahl geweckt worden waren. Im Gegensatz zu der harten Pflicht, als die der Prinz den Lateinunterricht empfand, befolgte er die Anordnung des Vaters, daß er alle (!) standesgemäßen Instrumente zu spielen lernen sollte, mit Freuden und legte dabei eine beachtliche Begabung an den Tag: „He had a real taste for music“ urteilt Merriman.80 Die Liebe zur Musik und eine gute musikalische Begabung müssen Karl von beiden Eltern in die Wiege gelegt worden sein; sie waren vielleicht sogar ein Erbteil, das ihm von früheren Generationen beider Familien weitergegeben worden war: Von den Tagen Philipps des Guten an, des Gründers der burgundischen Hofkapelle, war der burgundische Hof Pflegestätte eines reichen Musiklebens, das sich auch am Hof Margaretes in Mecheln fortsetzte.81 Karls Vater, Philipp der Schöne, trat als Förderer der Künste nicht sonderlich hervor; eine Ausnahme bildete die Musik: Der Ruf seiner „musiciens flamands“ erreichte Spanien lange gelitten; sein allzu martialisches Auftreten, vielfach kritisiert und bespöttelt, darf als Überkompensation angesehen werden. 80 Merriman 1962, 11. 81 Vgl. oben 49 f.

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vor der Ankunft des Prinzen. Aus seiner eigenen Liebe zur Musik erklärt sich, weshalb Philipp in seinen knappen Instruktionen zur Erziehung seines Sohnes den Instrumentalunterricht ausdrücklich erwähnt. Auf seinen zahlreichen Reisen verzichtete Philipp nie auf die Begleitung seiner Hofkapelle.82 Darin tat er es seinem Vater Maximilian gleich, der nach burgundischem Vorbild eine Hofkapelle gegründet hatte und hervorragende Künstler wie Heinrich Isaac für seinen Dienst zu gewinnen verstand. Trafen Vater und Sohn zusammen, so war es üblich, daß vor Beginn der Gespräche oder sogar der großen Verhandlungen der Reichstage die Hofkapellen der beiden einen musikalischen Wettstreit austrugen.83 Es wurde bereits erwähnt, daß auch am spanischen Hofe Isabellas das Musikleben in hoher Blüte stand und Juana, wie ihr späterer Gemahl Philipp und seine Schwester Margarete, von Kindheit an Musikunterricht erhielt.84 Ob allerdings das Kind Karl jemals seiner Mutter lauschte, wenn sie während ihrer kurzen Aufenthalte in den Niederlanden auf dem Klavichord spielte, muß hier ungeklärt bleiben.85 Schon bald, nachdem Margarete die Verantwortung für die Erziehung der burgundischen Kinder übernommen hatte, fand sie in Henri Bredemer den geeigneten Musiklehrer. Als Organist der Kapelle Philipps des Schönen hatte er an dessen Reisen teilgenommen; nach dem Tode des Königs von Kastilien wurde er in den Dienst Margaretes übernommen: er leitete ihre Privatkapelle, hatte das Amt des Hoforganisten inne und erteilte ab 1507 Philipps Kindern Musikunterricht.86 1508 erhielt Karl sein erstes eigenes Instrument, ein Klavichord, das der Organist van Vieven aus Lierre lieferte: 82 Einige Mitglieder der Kapelle sowie flämische Sänger, die Philipp noch selbst angestellt hatte, begleiteten ihren toten König auch auf seiner letzten Reise: Als die meisten Niederländer die Flucht ergriffen hatten, konnte Juana die Musiker durch großzügige Entlohnung zum Bleiben bewegen. Außer ihnen duldete die Königin zeitweise niemand in ihrer Nähe. In der Musik fand sie Trost und eine gewisse Ruhe während der nächtlichen Züge mit dem Leichnam ihres Gemahls (Petrus Martyr, epist. 348 [p. 459 W., 17.6.1507]: initiatum regina vult adesse neminem praeter Belgas, quos a viro elegit vocinatores; danach Brouwer 1995, 96). 83 Beispiele bei Cauchies 2003, 238: „A Innsbruck (1503) et Haguenau (1505), lorsque Maximilien et Philippe se rencontrent à la tête de leurs cours respectives, les chœurs des deux chapelles rivalisent d’ardeur musicale pour de si heureuses circonstances.“ Wiesflecker 1977, 137 erwähnt, daß während des Tages von Hagenau (4.4.1505) das feierliche Hochamt, bei dem der Friede zwischen Philipp, Maximilian und Frankreich auf „weltewige Zeit“ beschworen wurde, von den Chören der deutschen und der burgundischen Hofkapelle musikalisch gestaltet wurde. 84 Vgl. oben 70. 85 Delfosse erwähnt dies (1923, 17), allerdings ohne Quellenangabe, so daß es sich um eine bloße Vermutung oder um eine der Anekdoten aus dem Volksbuch über die Taten des keizer Karel handeln könnte. Vgl. oben 27 Anm. 34. 86 Strelka 1957, 31; Moeller 1895, 43 (nach Archives du Nord B 2218, fol. 107 [1511]).

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„on paie 30 livres à Me van Vieven, organiste à Lierre, un clavicorde ou clavecin, que Monseigneur a fait acheter «afin d’apprendre à en jouer pour son desduit et passetemps»“.87

Mehrfach findet man erwähnt, daß Eleonore Bredemers begabteste Schülerin war und verschiedene Instrumente vollendet beherrschte.88 Doch auch Karls musikalischen Leistungen wurde verdientes Lob gezollt. Es heißt, daß „er schon im Kindesalter schwer vom Spinett [!] wegzubringen war. Er spielte auch die Flöte und einige andere Instrumente und war ein vortrefflicher Sänger.“89 Wenn auch unklar ist, auf welcher Quelle diese Aussage R. Tylers basiert, so ist ihr dennoch Glauben zu schenken, weil es eine Vielzahl von Belegen dafür gibt, daß Karl bis an sein Lebensende am Musikleben seiner Zeit regen Anteil nahm, Komponisten förderte, Notenmanuskripte in prächtigen Handschriften sammeln ließ90 und sich mit hervorragenden Musikern und Sängern umgab. Bereits 1509 hatte der Erzherzog eine eigene Kapelle, zu der der Organist Bredemer, fünfzehn Sänger und vier Chorknaben gehörten. Mitglied der Hauskapelle war auch Pierre de la Rue, der Lieblingskomponist Margaretes, der wie Bredemer bereits im Dienste Philipps gestanden hatte. Wie Maximilian und Philipp der Schöne vor ihm, ließ sich Karl später auf allen Reisen von der Hofkapelle begleiten. Den Sängernachwuchs wählte er selbst aus. Auch die Tradition des musikalischen Wettstreits der Kapellen bei Herrschertreffen setzte sich am Hofe Karls fort. Aufgabe der kaiserlichen Kapelle war in erster Linie die musikalische Gestaltung der heiligen Messe; zu wesentlichen Ereignissen in der Herrscherfamilie wurden sog. „Staatsmotetten“ in Auftrag gegeben. Selbstverständlich trug die Kapelle auch zum Glanz höfischer Feste bei. Als der Kaiser mit seinem Rückzug nach Yuste aller weltlichen Prachtentfaltung entsagte, mochte er dennoch auf die Musik nicht verzichten: Die Mönche des benachbarten Hieronymitenklosters dienten ihm als Sänger und Organisten. Diese Beispiele mögen genügen, um 87 Moeller 1895, 42 (ohne Quellenangabe; wohl nach den Comptes de Lille, wo aber für die vollständigen Bücher des Jahres 1508 [Archives du Nord B 2207–2209] wenigstens in Inventaire A.D.N. 1881, 319 f. kein entsprechender Eintrag nachweisbar ist). 88 Strelka 1957, 31; Tamussino 1995, 150 nennt Laute, Viola und Klavichord. 89 Tyler 1959, 31 (ohne Quellenangabe). 90 Zu den berühmtesten Notenhandschriften dieser Zeit gehört das „Mechelner Chorbuch“, in dem bis 1535 etwa 50 Einzelhandschriften, vor allem von Werken niederländischer Komponisten, zusammengefaßt und mit kostbaren Illuminationen versehen wurden. Vgl. dazu Vanhulst 2000, 501; ebd. 503 auch eine Wiedergabe der Eingangsminiatur des „Mechelner Chorbuchs“. Der Aufsatz Vanhulsts gibt einen sehr guten und vielseitigen Überblick über die Entwicklung des Musiklebens am Hofe und in Verbindung mit dem Hofe Karls, erläutert die Entstehung neuer Formen ebenso wie den Einfluß der Drucktechnik auf die Möglichkeiten, Noten zu verbreiten, und weist immer wieder auf das starke Engagement des Kaisers in musikalischen Fragen hin.

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Karls lebenslange innige Beziehung zur Musik zu dokumentieren, die ihre Wurzeln in den Mechelner Kindertagen hatte, als der Prinz selbst musizieren durfte. Diesen doch recht zahlreichen Details zu Karls sprachlicher und musikalischer Bildung, die sich aus vielerlei Quellen und Darstellungen zusammenfügen lassen, steht ein fast vollständiger Mangel an zuverlässigen Informationen zum Unterricht des Prinzen in dem gegenüber, was in Philipps Instruktionen sciences genannt wird. Eine nähere Spezifizierung des „Wissens“ scheint der Vater nicht für erforderlich gehalten zu haben: Nach dem traditionellen Bildungskanon waren es in erster Linie Geschichtskenntnisse, die dem Prinzen zu vermitteln waren. Es geht also aus Philipps Anweisungen nicht hervor, ob zu den sciences, in denen Karl unterrichtet werden sollte, auch Mathematik und Geographie zählten. Beide Wissenschaften trugen um 1500 nicht nur entscheidend zu einem allmählichen Wandel des Weltbildes bei, sondern wirkten über die Stätten der Gelehrsamkeit hinaus bereits früh auf die alltägliche Lebens- und Erfahrungswelt zahlreicher Berufsgruppen ein, ob es sich nun um Kaufleute, Seefahrer, Kartographen oder Mechaniker handelte – um nur einige Beispiele zu nennen. Von einem Herrscher – ob er nun „nur“ Herzog von Burgund war, dessen Land weitgehend vom Handel lebte, oder König von Spanien, zu dessen Herrschaftsbereich die neuen überseeischen Territorien zählten – hätte man erwarten müssen, daß sein Wissen zumindest dem Kenntnisstand vieler seiner Zeitgenossen entsprach. Lediglich unter dieser Voraussetzung wäre es möglich gewesen, die Tragweite der neuen Entdeckungen und Forschungsergebnisse zu erkennen und ihre möglichen Auswirkungen auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung, insbesondere hinsichtlich der Verlagerung der Schwerpunkte, vorherzusehen und bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Karl aber wurde das Wissen seiner Zeit nicht frühzeitig vermittelt. Seine erste Vorstellung von der Welt gewann der Knabe aus den Werken de La Marches und verwandter Autoren, der Lektüre seiner frühen Jahre. Sie vermittelten ihm die „Welterfahrung“ – was hier im ursprünglichen Sinn des Wortes verstanden sein soll – eines ausgehenden Zeitalters, die auf den Berichten von fahrenden Rittern, Pilgern und Kreuzfahrern gründete, denen die Sichtweise von Forschern und Entdeckern eher fremd war. So ist gerade in dieser Hinsicht den Historikern Recht zu geben, die die Art der Erziehung, die dem Prinzen zuteil wurde, kritisieren, und die den Verantwortlichen anlasten, ihn nicht angemessen auf seine spätere Rolle vorbereitet zu haben. Weder Maximilian noch Margarete stellten das traditionelle Konzept, nach dem Karl erzogen wurde, jemals grundsätzlich in Frage. Ohne Zweifel wurden die besten Lehrer ausgewählt, die aber nur die überlieferten Bildungsgüter vermittelten und vermitteln konnten. Gewiß gingen Maximilians Forderungen nach zusätzlichem Sprachunterricht bereits über den üblichen Kanon hinaus; es scheint aber dies das einzige Mal gewesen zu sein, daß versucht wurde, auf die Unterrichtsinhalte Einfluß zu nehmen. Es war den

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Lehrern anheimgestellt, die vagen Vorgaben des Erziehungsplans in herkömmlicher Weise und nach ihrem Ermessen zu erfüllen. Jahrzehnte später erkannte Karl, was ihm an Wissen in seiner Jugend vorenthalten worden war: „Plus tard, il sentit la nécessité d’étudier les mathématiques, sans la connaissance desquelles il jugea qu’il ne deviendrait pas, comme il aspirait à l’être, un grand capitaine; il avait alors trente-deux ans et se trouvait à Madrid. Comme il éprouvait des scrupules à se faire écolier à cet âge, saint François de Borja, en ce temps marquis de Lombay et son favori, se chargea de recueillir journellement les leçons du fameux cosmographe Santa Cruz, qu’il lui rapportait avec exactitude. Six mois suffirent à l’un et à l’autre pour posséder au moins les éléments de la science.“91

Alonso de Santa Cruz, der Karl und seinen Freund in Mathematik und Geographie unterrichtete, hatte 1525 als Schatzmeister an der Expedition zur Erkundung der Magellan-Straße unter Sebastian Cabot teilgenommen. 1530 hatte er die Küste Brasiliens erforscht und war bei seiner Rückkehr nach Sevilla aufgrund seiner nautischen Kompetenz zum Kosmographen der Casa de Contratación ernannt worden.92 Als Santa Cruz 1539 abermals zu einer Expedition zur Südspitze des amerikanischen Kontinents aufbrechen wollte, konnte er diesen Plan nicht verwirklichen: Der Kaiser hielt ihn in Valladolid zurück, um seine Vorlesungen in Astronomie und Kosmographie zu hören.93 Einerseits mögen zunächst eigenes Interesse und Wißbegier Karl zu diesen Studien veranlaßt haben, andererseits hatte er mit der spanischen Krone aber auch eine Erblast übertragen bekommen, auf deren Bewältigung ihn niemand vorbereitet hatte: Die spanischen Besitzungen in Mittel- und Südamerika, die rasch zu einem bedeutenden Kolonialreich anwuchsen, forderten von dem Kaiser politische Entscheidungen, die er ohne 91 Gachard 1872, 526 f. Der hl. Francisco de Borja war als Jesuitenpater von 1552 bis zu ihrem Tode 1555 geistlicher Beistand der Königin Juana. Nach Gachards Darstellung hat nur Borja die Lektionen des Kosmographen gehört und anschließend das neuerworbene Wissen an seinen kaiserlichen Freund weitergegeben. Andere Quellen (s.u.) wollen wissen, daß Karl selbst Schüler des Kosmographen wurde. Gachards Hinweis auf Karls Bestreben, ein bedeutender Kapitän – oder Heerführer – zu werden, kann dahingehend gedeutet werden, daß der Kaiser sich bereits gedanklich mit der Vorbereitung seiner Tunis-Expedition (1534) beschäftigte. 92 Von 1503 an arbeitete die Casa de [la] Contratación in Sevilla, wo sich der Handelsverkehr von und nach „Indien“ konzentrierte; 1511 nimmt der Consejo de Indias seine endgültige Form an. Dies sind die zwei grundlegenden Institutionen der spanischen Herrschaft in Amerika. Karl V. hat sie geerbt, er mußte sie nicht erschaffen. S. dazu Braudel 1994, 67 f. 93 Santa Cruz verfaßte zahlreiche Schriften, in denen er die Erfahrungen seiner Expeditionen niederlegte und die von der spanischen Sociedad de Geografía herausgegeben wurden. In unserem Zusammenhang ist es von Interesse, daß Santa Cruz als Verfasser der Crónica del Emperador Carlos V den Kaiser persönlich gekannt hat. Zu Santa Cruz und zur Wiederentdeckung seines Werkes vgl. die Einführung von F. de Laiglesia y Auser in: Santa Cruz.

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korrekte Informationen nicht treffen konnte. Was Santa Cruz als Forscher und Mitglied der Casa de Contratación ihm an Kenntnissen vermittelte, versetzte den Kaiser in die Lage, von Spanien aus Einfluß auf den Fortgang der Conquista zu nehmen.94 Die Tatsache, daß die „Neue Welt“ erst spät, in der Mitte seines Lebens, in das Blickfeld des Kaisers rückte, ist einer der Gründe dafür, daß ihm seine fernen Besitzungen fremd blieben und er sich wohl nie als „Kaiser von Neuspanien“ sah, wie Cortéz ihn einmal nannte.95 Waren die zutage getretenen Mängel in der Erziehung des Prinzen Anlaß für die späteren Bemühungen des Kaisers, das Versäumte nachzuholen, so stellt sich die Frage, wie weit der übrige Unterricht in den sciences den Anforderungen entsprach, denen Karl sich später stellen mußte. Obwohl Geschichtskenntnisse im Gegensatz zu den „modernen“ Wissensgebieten zum traditionellen Bildungsgut der Prinzen und Adligen gehörten, ist man hinsichtlich dessen, was Karl vermittelt wurde, weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Mit Sicherheit läßt sich nur sagen, daß Chièvres als Gouverneur des Prinzen den Geschichtsunterricht für so wichtig hielt, daß er ihn selbst übernahm. In diesem Zusammenhang gewinnt die folgende Aussage Brandis erhöhtes Gewicht: „Bis [zur Berufung Chièvres’ 1509] war das Amt des Gouverneurs in den Händen des Fürsten von Chimay nur ein Hofamt gewesen. Jetzt wurde die Führung des Knaben [...] eine politische Angelegenheit.“96

Der Wechsel der Gouverneure markierte somit einen signifikanten Einschnitt im Leben des Prinzen: Seine infantia fand aus den bekannten Gründen ihr verspätetes Ende; von 1509 an ging es nicht mehr um das Kind Karl, sondern um den jungen Herzog von Burgund, der vermutlich auch das Erbe der spanischen Könige antreten würde und in dem Maximilian seinen Nachfolger auf dem Kaiserthron zu sehen hoffte. Chièvres als dem neuen Gouverneur fiel damit die Aufgabe zu, den Neunjährigen geistig auf die Übernahme der Herrschaft vorzubereiten, die im Herzogtum Burgund nach Landessitte mit der Vollendung des 15. Lebensjahres erfolgte. Zu dieser Vorbereitung gehörte zunächst einmal die Leitung und Fortführung des formalen Bildungsganges. Wie weit Chièvres für diesen Teil seiner Aufgabe qualifiziert war, geht aus seinen frühen Lebensdaten nicht hervor: wohl 1458 in der Picardie geboren, entstammte er einer Familie, die seit Generationen den Herzögen von Burgund treu verbunden war. So gut wie nichts ist über seine 94 Wohl konnte er weder die blutigen Machtkämpfe unter den Conquistadores noch deren unmenschliches Vorgehen gegen die indigene Bevölkerung verhindern, mit seiner kaiserlichen Autorität und seiner Gesetzgebung aber den Übergang zu geordneten Verhältnissen und eine politische Stabilisierung unter der Herrschaft von Vizekönigen einleiten. 95 Braudel 1994, 69. 96 Brandi 1964, 40.

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Jugend bekannt. Seine Erziehung entsprach vermutlich der eines burgundischen Ritters im französischen Kulturkreis; Hinweise auf humanistische Studien finden sich nicht. Über seine Eignung zum Lehrer des Prinzen gibt es daher abweichende Urteile: Während P. Lahnstein ihm eine „vielleicht aus der Rittertradition herkömmliche Geringschätzung von Bücherweisheit und Kathederwissen“97 zuschreiben möchte (was andere Autoren zwar nicht so deutlich aussprechen, aber zwischen den Zeilen erkennen lassen), lobt O. Habsburg Chièvres’ „intellektuelle Strenge“, die „auch in seiner humanistischen Bildung wurzelte“.98 Die kontraproduktive Haltung des Gouverneurs gegenüber Adrian von Utrechts Bemühungen, seinem Schüler ein bescheidenes Maß an klassischer Bildung zu vermitteln, ist oben dokumentiert worden,99 wenn auch nur anhand von spanischen Quellen. Auf diese Quellen könnte Lahnsteins Einschätzung zurückgehen. Worauf sich allerdings die Aussage Habsburgs stützt, war nicht festzustellen. Kein Biograph Karls V. versäumt es, den persönlichen Einfluß zu betonen, den der Gouverneur auf den Heranwachsenden ausübte, und die bedeutende Rolle hervorzuheben, die Chièvres bis kurz vor seinem Tode (1521) als Ratgeber des jungen Herrschers spielte; sucht man jedoch nach verläßlichen Angaben zu Chièvres’ Wirken als Lehrer des Prinzen und dazu, was er seinem Zögling an Wissen vermittelte, versagen die Quellen fast völlig. Frühe Zeugnisse wie die oben zitierte kritische Passage aus Alfonso d’Ulloas Kaiservita100 weisen auf die unterschiedlichen Auffassungen der beiden maßgeblichen Erzieher des Prinzen zu dessen Bildungsgang hin und deuten die unvermeidlichen Konflikte an, die sich daraus ergaben. Zu dem Unterricht, den der Gouverneur selbst seinem Zögling erteilte, äußert sich der Chronist nicht. Etwa vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Ulloas Werk brachte Sandoval gezielt seine Kritik an der Methode zum Ausdruck, mit der Chièvres seinem Schüler die Geschichte Spaniens und Frankreichs nahezubringen versuchte, und verschweigt auch seine Zweifel an der Qualifikation des Gouverneurs nicht. Die Kritik des gebildeten Klerikers entzündete sich zunächst daran, daß Karl die Geschichte beider Länder in der jeweiligen Landessprache lesen sollte, und zwar in stilistisch schlechten alten Fassungen.101 Immerhin liegt damit ein erster Hinweis vor auf das, was Karl an historischen 97 Lahnstein 1979, 59. 98 Habsburg 1967, 70. 99 Vgl. oben 177. 100 Vgl. oben 176 f. 101 Sandoval 19: Hacía que leyese las historias españolas, y francesas, escritas en las proprias lenguas y con el mal estilo que las antiguas tienen. Das negative Urteil über die benutzten Werke läßt allerdings keinen Schluß darauf zu, ob Sandoval sich hier bereits auf die gleichen stilistischen Auswüchse bezieht, die Huizinga gut 300 Jahre später in den Schriften französischer Autoren des 15. Jahrhunderts aufgedeckt hat. Vgl. oben 36.

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Kenntnissen erwerben und aus welchen Quellen er sie beziehen sollte. Es ist zu vermuten, daß diese Texte nicht nur geeignet waren, den Prinzen über die Taten seiner Vorfahren in Krieg und Frieden zu unterrichten, wie Sandoval es ausdrückt und was durchaus angemessen gewesen wäre, sondern – und hier setzt die Lenkung durch den Gouverneur ein – ihm durch eine gezielte Auswahl Vorbilder zu vermitteln, die in ihrer Zeitgebundenheit für den künftigen Herrscher nicht taugten. Diese Folgerung zieht der spanische Chronist allerdings nicht. Wie bei vielen Angaben zu den frühen Jahren Karls und insbesondere zu seiner Erziehung gibt es auch hier, sogar innerhalb derselben Quelle, einen sachlichen Widerspruch, auf den an dieser Stelle aufmerksam gemacht werden soll: War es möglich, daß Karl die spanische Geschichte aus alten spanischen Chroniken kennenlernte, obwohl er, wie Sandoval nur wenige Zeilen später vermerkt, die spanische Sprache erst als Erwachsener, und dazu noch schlecht, erlernte? Beherrschte sein Erzieher das Spanische in ausreichendem Maße, um die geschichtlichen Quellen mit seinem Schüler studieren zu können? Allen Erkenntnissen nach betrat Chièvres erstmals im September 1517 spanischen Boden, als er Karl auf seiner Antrittsreise begleitete.102 Unterricht in spanischer Sprache hatte wohl kaum zum Erziehungsprogramm eines jungen Adligen gehört, der in burgundisch-französischer Tradition aufgewachsen war. Wenn Sandoval auch diese Ungereimtheit in seinen eigenen Angaben übersehen hat, so erklärt er doch, weshalb Chièvres nicht auf lateinische Quellen zurückgriff: der Erzieher verstand deren sprachliche Eleganz und Vollkommenheit nicht. Das läßt darauf schließen, daß Karls Gouverneur nur über die rudimentären Lateinkenntnisse verfügte, die er im Laufe seiner ritterlichen Erziehung erworben hatte. In den hier aufgezeigten Unstimmigkeiten wie auch in Sandovals deutlich artikulierter Voreingenommenheit gegenüber Chièvres liegt die erkennbare Schwäche dieser Quelle; ihre tendenzielle Richtigkeit möchte ich dennoch nicht in Zweifel ziehen. Schwer zu beurteilen ist die Glaubwürdigkeit des eigenartigen Werkes, das unter dem aufwendigen Titel La Pratique de l’éducation des princes contenant l’histoire de Guillaume de Croy, Surnommé Le Sage, Seigneur de Chièvres, Gouverneur de Charles d’Autriche qui fut Empereur Cinquième du Nom aus der Feder des Antoine Varillas zuerst 1684 in Paris erschien, also 175 Jahre nach Chièvres’ Amtsantritt.103 Greift man auf der Suche nach Quellen zu diesem vielverspre102 Dies ist u.a. durch Chievres’ Itinerar belegt, das Dansaert seiner Biographie des Gouverneurs im Anhang beigegeben hat (1942, 297–302). 103 Mir stand kurzzeitig die Amsterdamer Ausgabe (Varillas 1691) zur Verfügung. Zu Leben und Werk des Verfassers (1624–1696): Michaud 1864, 638–640 (danach das folgende). Der seinerzeit viel gelesene, heute fast unbekannte Autor war Sohn eines Provinzbevollmächtigten aus Guéret und gelangte nach einer offensichtlich sehr gründlichen humanistischen Erziehung als Begleiter einiger junger Adliger nach Paris, wo er sein eigentliches

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chenden Titel, so erwartet man dreierlei zu finden: einen Fürstenspiegel, eine zusammenhängende Biographie des Guillaume de Croy und, durch die klare Bezugnahme auf Chièvres’ Position als Gouverneur Karls V., auch Einzelheiten zu dessen Erziehung. Doch die mehrere Seiten umfassende, an Ludwig XIV. gerichtete Widmung läßt bereits erhebliche Zweifel an der Unparteilichkeit des Verfassers aufkommen. Nachdem Varillas zunächst die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Karl V. und Ludwig XIV. erläutert hat – der Kaiser war der Ur-Urgroßvater Ludwigs XIV. (!)104 – preist er die Wohltat, die Ludwig XII. den Spaniern (!) erwiesen habe, indem er Chièvres zum Gouverneur Karls bestimmte, Chièvres, l’homme de l’Europe le plus capable de le bien élever. Im Gegensatz zu Ludwig XIV., der seine Fähigkeiten aus eigener Kraft entwickelt habe, habe Karl eines Erziehers und eines Leitbildes von außen bedurft, da sich, so Varillas, unter seinen Vorfahren niemand fand, der ihm hätte zum Vorbild dienen können. Mit einer geschickten Konstruktion stellt Varillas die Verbindung zwischen dem französischen Königshaus, Chièvres und Karl V. her: Nachdem er bereits im Argument du Premier Livre die Reaktion Ludwigs XII. auf den Tod Philipps angesprochen hat,105 geht er im 1. Buch mit einer fast rührenden Geschichte auf die näheren Betätigungsfeld fand. Er erwarb das Vertrauen des gelehrten Pierre Dupuy, des Direktors der königlichen Bibliothek in Paris, und durchforschte und exzerpierte etliche Jahre lang deren Handschriften. Diese Aufzeichnungen bildeten die Grundlage seiner späteren Arbeit. Er verfaßte u.a. eine Histoire de France, die ihm einen gewissen Ruf verschaffte. Den Auftrag der Generalstände von Holland, eine Geschichte der Vereinigten Provinzen der Niederlande zu verfassen, lehnte er ab „ne voulant pas prêter le secours de sa plume aux ennemis de la France“ (Michaud). Um 1669 geriet er zwischen die Fronten der Konfessionen, was dazu führte, daß seine Werke einer kritischen Untersuchung unterzogen wurden: „on y trouva de nombreuses infidélités, des faits altérés, d’autres entièrement controuvés, puisque les manuscrits dont l’auteur prétendait les avoir tirés n’avaient jamais existé que dans sa tête. Dès lors Varillas fut regardé comme un romancier.“ (ebd.) In der Folge fand er keinen Verleger mehr, fuhr aber dennoch fort, mit erstaunlicher Geschwindigkeit weitere Werke zu verfassen, die als Handschriften in Umlauf gelangten. Der elegante Stil und die gefällige Art der Darstellung verschafften ihnen erhebliche Verbreitung. Diese Charakteristika seiner Arbeiten und der Mangel an echten Zeugnissen – und dies gilt in besonderem Maße für die Erziehung Karls V. – haben dazu beigetragen, daß vieles, was nur Varillas’ Phantasie entsprungen ist oder auf seine Konjekturen zurückgeht, ein zähes Weiterleben in den Werken späterer Historiker führt. Walther 1911, 131 weist darauf hin, daß Varillas’ Werk auch deshalb lange Zeit Beachtung fand, weil eine zusammenhängende Biographie Chièvres’ fehlte. Erst 1942 wurde diese Lücke mit der Arbeit G. Dansaerts geschlossen. 104 Karls Urenkelin Anna, Tochter Philipps III., war die Mutter Ludwigs XIV. 105 Auf die angebliche letztwillige Verfügung Philipps wurde bereits im Zusammenhang mit der Erläuterung des tatsächlichen Testaments eingegangen. Vgl. oben 65 Anm. 146; ferner 86 m. Anm. 217 zu Varillas und einer möglichen Quelle. Auch auf den wahrscheinlichen Zusammenhang der Legendenbildung mit dem Kondolenzschreiben Ludwigs XII. wurde schon verwiesen; s. oben 28 f. m. Anm. 38.

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Umstände ein, die angeblich zur Einsetzung Chièvres’ als Gouverneur des Prinzen führten.106 Die Schilderung von dessen erzieherischem Wirken nimmt einen großen Teil des 1. Buches ein, und damit erklärt sich auch die beträchtliche Langzeitwirkung des gesamten Werkes: nirgends ist so viel vermeintliche Information zur Jugend Karls V. vereint wie in dieser Darstellung. Beachtliche Quellenkenntnisse, die allerdings nach Bedarf und Intention eingesetzt werden, sind mit den phantasiereichen Erfindungen, mit denen Varillas Überlieferungslücken schließt, eine innige Verbindung eingegangen.107 Voltaire hat Varillas einmal einen Lügner genannt; damit war das Vertrauen in die Seriosität des Autors so erschüttert, daß man ihm auch dann nicht mehr glauben wollte, wenn er die Wahrheit sprach.108 Der zahlreichen Spuren wegen, die Varillas’ Werk in der Literatur dort hinterlassen hat, wo sie sich auf die Jugend Karls V. bezieht, scheint es angebracht, einen Überblick darüber zu geben, was der historiographe de France über Chièvres’ erzieherische Tätigkeit berichtet. Angeblich verbrachte der Gouverneur die ersten Jahre seines Wirkens damit, die Anlagen seines Zöglings zu erforschen, wobei er feststellte, daß der Knabe die besten Eigenschaften seiner Ahnen, aber auch ihre auffallendsten Schwächen geerbt hatte (19 f.). Das Studium der Geschichte und entsprechende Lektüre erschienen Chièvres als die geeigneten Mittel, um die guten „Samen“ in Karls Natur zu züchten und zu kultivieren und die schlechten zu ersticken. Um Karl zu einem außerordentlich anständigen Menschen (plus homme de bien) zu machen, wählte sein Erzieher Beispiele aus dem Leben seiner Vorfahren aus, die dem Knaben einprägen sollten, in welcher Weise ihre guten oder schlechten Taten belohnt oder bestraft worden waren (23 f.). Die Vermittlung seiner durch viele Beispiele erläuterten Wertmaßstäbe behielt sich Chièvres vor: er duldete nicht, daß ein anderer Lehrer in den Geschichtsunterricht des Prinzen eingriff (21). Chièvres allein setzte die Akzente: Er lehrte Karl früh, die

106 Varillas 1691, 16. Danach soll Philipp der Schöne in seinen letzten Lebenstagen, den Tod vor Augen, sein Testament gemacht und seinen ältesten Sohn der Fürsorge Ludwigs XII. empfohlen haben, mit der inständigen Bitte, Karl einem fähigen Erzieher anzuvertrauen. Daraufhin soll der französische König nach dem Tode seines Ersten Kronvasallen Chièvres eingesetzt haben, und zwar ohne jede Einmischung Maximilians, Ferdinands oder der „Flamen“, d.h. vermutlich der Generalstände. 107 Auch wenn ich nur auf eine relativ geringe Zahl von Quellen vergleichend zurückgreifen kann, ließ sich an vielen Stellen erkennen, welche Autoren Varillas benutzt hat, ohne sie zu nennen. Würde dem Werk heute noch größere Bedeutung zugemessen, könnte es eine reizvolle Aufgabe sein, den von Varillas verwendeten Quellen im Einzelnen nachzuspüren – falls sie noch erhalten sind. 108 In diesem Sinne auch das Geleitwort des duc de la Force zu Dansaert 1942 (unpag.).

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Niederlande, sein Vaterland, als die Grundlage seiner Macht zu sehen, Spanien dagegen nur als das mütterliche Erbteil.109 Varillas hebt lobend hervor, daß Chièvres in seinen Unterweisungen nicht methodischer hätte vorgehen können: Nach einem generellen historischen Überblick lenkte er die Aufmerksamkeit seines Schülers auf die Geschichte der Völker Europas, mit denen Karl sich eines Tages würde auseinandersetzen müssen. In erster Linie sollte Karl allerdings die Geschichte Spaniens und Frankreichs von Grund auf studieren – wobei die Geschichte Frankreichs für Varillas auch die der Niederlande einschloß! Daß Chièvres sich nicht in erster Linie als Geschichtslehrer des Prinzen verstand, klingt bei Varillas an: Er betrachtete sein Amt als ein politisches. Seine Devise, daß Freundschaft mit Frankreich das Wichtigste sei, was der künftige Herzog von Burgund zu beachten habe, prägte er seinem Schüler stets aufs neue ein (21). Beim Studium der spanischen und der französischen Geschichte verlangte Chièvres, daß sein Schüler jeden Autor in dessen eigener Sprache las und sich weder von der Ungeschliffenheit der meisten Werke abschrecken ließ noch von der Menge an überflüssigen Einzelheiten, die sie enthielten. Weder die spanischen Historiker, von denen es eine erhebliche Zahl gab, noch ihre französischen Kollegen übten Anziehungskraft auf den Prinzen aus: Die einen waren so schlecht wie die anderen, alle stellten eine wenig erfreuliche Lektüre dar (22).110 Angeblich versuchte der Gouverneur seine Lektionen so zu gestalten, daß sein Schüler sich trotz der langen Dauer des Unterrichts nicht langweilte und nicht darauf drängte, die Arbeit abzukürzen. Mit Feuereifer (avec ardeur) soll der Prinz seine Studien betrieben haben, allerdings, so Varillas, habe er sich auch keinen Zwang auferlegen lassen. Schenkt man dem Franzosen Glauben, so hatte Karl erhebliche Mengen an Fakten zu memorieren, um sie später zum geeigneten Zeitpunkt zu zitieren (24). Die Genealogie der Herrscherhäuser mußte der Prinz sich mit allen Feinheiten einprägen, dazu die Meriten der einzelnen Mitglieder der Dynastien. Für seinen künftigen unmittelbaren Herrschaftsbereich, das Herzogtum Burgund, hatte er den Rang und die Rechte jedes

109 Die in Frankreich u.U. Anstoß erregende Bezeichnung „Burgund“ vermeidet Varillas. Direkt auf seinen Text scheint sich ein Satz von Menéndez Pidal zu beziehen (1960, 145): „Carlos fué criado para que fuese ante todo un archiduque borgoñón, un príncipe de Bruselas, y para que tuviese a España como una dependencia de su archiducado.“ 110 Dies ist eine der Passagen in dem kleinen Ausschnitt aus Varillas’ Werk, der hier ausgewertet wird, für die eindeutig eine nicht bezeichnete Quelle benutzt wurde: Entweder hat Varillas Sandovals Historia gekannt oder seine Kenntnisse aus der nämlichen Quelle bezogen wie der spanische Chronist. Dann dürfte es sich um die Aufzeichnungen des Jerónimo de Zurita gehandelt haben, denen Sandoval nach eigenen Angaben (Sandoval 20) seine Informationen über die Ereignisse der Jahre 1504–1516 verdankt.

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seigneur zu kennen. Diesen Grenzbereich zwischen Geschichte und „Adelswissen“ scheint Karl in außergewöhnlicher Weise beherrscht zu haben (39 f.). Gelegentlich müssen sich bei dem Heranwachsenden Symptome der Überforderung gezeigt haben, die sich in Zerstreutheit und Geistesabwesenheit, v.a. aber in einem Zustand körperlicher Unruhe äußerten. Mit einer Anekdote belegt Varillas, was er beschönigend das „Temperament“ des Prinzen nennt: Als Karl einmal im Auftrag Maximilians porträtiert werden sollte, gelang es mehreren bedeutenden Malern zunächst nicht, der Aufgabe gerecht zu werden, da ihr Modell nicht einen Moment in der gleichen Stellung verharren konnte und sein Körper in ständiger Bewegung war (25).111 Chièvres muß erkannt haben, daß sein Schüler überfordert war, und verschaffte ihm Erleichterung in einer Weise, die seinen eigenen Vorstellungen entsprach: Da er die Vorliebe des Prinzen für Geschichte ebenso kannte wie dessen Aversion gegen den Lateinunterricht, dispensierte er ihn von diesem lästigen Fach – obwohl dies einer Pflichtverletzung gleichkam, da er als Gouverneur die gesamte Erziehung des Prinzen zu überwachen und für die Einhaltung des vorgegebenen Konzepts zu sorgen hatte. Wenn Varillas angibt, daß Karl die freiwerdenden Stunden tatsächlich mit Tanzunterricht, Reiten und Waffenübungen verbrachte, so war dies ein klarer Verstoß gegen die Prinzipien einer ausgewogenen Erziehung und möglichst vielseitigen Bildung und gegen die Forderungen des Kaisers.112 Varillas muß die kritischen Äußerungen der spanischen Historiker gekannt haben, die die Schuld an Karls mangelhaften Lateinkenntnissen Chièvres anlasteten, denn er räumt vorsichtig ein, nicht zu wissen, wieviel Wahres an der Geschichte von der Dispensierung Karls vom Lateinunterricht sei; er könne auch nicht mit Sicherheit sagen, ob der Kaiser tatsächlich, wie es die Überlieferung wollte, die Nachgiebigkeit seines ehemaligen Erziehers später beklagte, als ihm in Deutschland eine wichtige Angelegenheit in lateinischer Sprache vorgetragen wurde und der Herrscher nicht, wie von ihm erwartet wurde, spontan lateinisch antworten konnte (26). Die Schuldzuweisungen der spanischen Historiker an Chièvres schreibt Varillas deren Aversion gegen Karls Gouverneur zu, der sich als geschickter Höfling mit seinen Anforderungen auf 111 Was Varillas hier dem Temperament Karls zuschreibt, würde man heute eher dem Krankheitsbild der Hyperkinese zuordnen: Dieser motorische Reizzustand des Körpers mit Muskelzuckungen und unwillkürlichen Bewegungen – so die medizinische Beschreibung dieser psychosomatischen Störung – wird heute zunehmend bei geistig-seelisch überforderten Schülern der jüngeren bis mittleren Jahrgänge festgestellt. Die Methode, die Chièvres angewandt haben soll, um den Prinzen ruhigzustellen, würde wohl kaum auf die Zustimmung moderner Heilpädagogen stoßen: Ainsi le Portrait ne se fût point achevé [...] s’il ne fût venu en pensée à Chièvres de faire apporter quatre épées, & de les disposer autour de Charles avec tant de justesse, qu’il ne pouvoit s’agiter sans se blesser (25). 112 Vgl. Juste 1858, 70 und oben 178.

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die Vorlieben seines Schülers einstellte und so dessen Zuneigung gewann. Die Spanier aber, obwohl auch sie Geschichtswissen als unerläßlich für einen Herrscher betrachteten, monierten, daß in Karls Erziehung mehr Zeit für die Vermittlung historischer Kenntnisse als für den Lateinunterricht verwendet worden war. Chièvres dagegen vertrat die Ansicht, daß es genüge, wenn Karl eine tote Sprache wie Latein verstehe;113 es solle den Gelehrten (gens de Collège) überlassen bleiben, die Feinheiten der klassischen Sprache zu lernen und zu sprechen wie im alten Rom.114 Trotz seiner eigenen offensichtlich ausgezeichneten klassischen Bildung, ohne die die ausgedehnten Quellenstudien kaum möglich gewesen wären, stimmt Varillas dieser Auffassung Chièvres’ vollkommen zu.115 Da vorausgesetzt werden darf, daß Varillas das Konzept der Prinzenerziehung kannte, das für Karl vorgesehen und Chièvres umzusetzen aufgegeben war, muß ihm bei der Schilderung von dessen erzieherischer Tätigkeit zweierlei bewußt gewesen sein: Falls seine Darstellung den Tatsachen entsprach, hatte Karls Gouverneur seine Vertrauensstellung mißbraucht und dem ihm erteilten Erziehungsauftrag eigenmächtig eine seinen politischen Vorstellungen und den Neigungen seines Zöglings entsprechende Richtung gegeben. Zugleich aber lagen wohl auch im 17. Jahrhundert außer den spärlichen spanischen Quellen, die v.a. auf die dürftigen Ergebnisse von Karls Erziehung hinweisen, kaum direkte Zeugnisse zu Chièvres’ Wirken als Lehrer vor, während seine politische Rolle vor 1509, während der Minorität des Prinzen und der frühen Regierungsjahre des Herrschers vielfältig belegt ist. Möglicher Kritik an seiner Darstellung beugt Varillas vor, indem er zum einen mit der spanischen Überlieferung, derer er sich durchaus bedient hat, scharf

113 Daß Karl sehr wohl ausreichend Latein verstand, versucht Varillas mit einem Hinweis auf die späte Lektüre des Kaisers in Yuste (Sainte Juste) zu belegen (27). Woher er diese Kenntnis hat, verschweigt der Chronist wiederum. Zudem deutet er nicht einmal an, welche Mühe für Karl damit verbunden war, wie aus dem Briefwechsel G. van Males mit de Praet hervorgeht. 114 Auf diese Ansicht spielt Juste 1858, 70 vermutlich an. 115 Abgesehen davon, daß Varillas verständlicherweise die Auffassung seines Protagonisten vertritt, erklärt sich seine Position aus der Zeitgebundenheit des Autors: Als Varillas sein Werk im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts verfaßte, hatte der Humanismus seine Bedeutung als beherrschende, treibende Kraft im geistigen Leben Europas verloren. In Spanien führte der Niedergang der politischen Macht auch ein Ende der kulturellen Blüte herbei. Frankreich dagegen war auf dem Wege zur Großmacht. Ludwig XIV., dem Varillas sein Werk widmete, schuf als Exponent französischen Hegemonialstrebens mit Versailles ein neues kulturelles Zentrum, von dem französischer Einfluß auf ganz Europa ausstrahlte. Mit der wachsenden politischen und kulturellen Rolle Frankreichs löste die französische Sprache das Lateinische als Lingua franca in Diplomatie und Politik ab. So vertritt Varillas nur die Meinung seiner Zeitgenossen, wenn er besondere Lateinkenntnisse den gens de Collège überlassen sehen will.

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ins Gericht geht,116 und zum anderen den Mangel an spezifischen Quellen aus der Sicht des Gouverneurs erklärt: Danach hätte Chièvres die Öffentlichkeit wenig über Einzelheiten zur Erziehung des Prinzen informiert, um nicht den Unwillen derer zu erregen, denen es an Scharfsinn fehlte, um zu begreifen, welches Ziel der Gouverneur anstrebte. Allerdings mußte er einräumen, daß es nicht lange verborgen bleiben konnte, wenn Prinzen auf eine Art erzogen wurden, die nicht völlig den Gepflogenheiten der Zeit entsprach (41). So mutiert hier Chièvres in der Deutung seines Biographen vom Hüter des ritterlich-burgundischen Erbes zum Weisen (le Sage), Vorausschauenden, Zukunftsgerichteten. Es kann nicht ausbleiben, daß man sich der Worte Schillers über Wallenstein erinnert: Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, | Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.117 In der Tat scheint es Quellen aus erster Hand zu Chièvres’ Tätigkeit als Lehrer Karls nicht zu geben, weder eigene Berichte des Gouverneurs noch solche von unmittelbaren Zeugen am burgundischen Hof. Was überliefert ist, stammt von den spanischen Chronisten, und auf diese Quellen stützte sich nicht nur Varillas. Als einzige relativ zuverlässige Information wurden und werden sie von ernstzunehmenden Historikern eingesetzt. Es kann nur nochmals betont werden, daß auch hier Vorsicht geboten ist, denn die spanischen Chronisten schrieben nicht aus eigener Anschauung und mußten sich auf Berichte von Geistlichen, Gesandten und anderen direkten Zeugen berufen. Zudem können räumliche und z.T. zeitliche Distanz die Berichterstattung beeinflußt haben. Außerdem zählten die Chronisten zu den Humanisten am spanischen Hof und neigten daher eher Adrian von Utrecht zu, der unter Karls Erziehern den Gegenpart zu Chièvres verkörperte. Schließlich hatte sich Chièvres durch seine Frankophilie und durch sein Auftreten als Haupt der flamencos in Spanien (1517) gerade den geistig führenden und nationalbewußten Männern der spanischen Reiche verhaßt gemacht. So ist es im Grunde nicht verwunderlich, wenn auch enttäuschend, daß zwei Werke, die sich ausführlich bzw. speziell mit Chièvres befassen, keine weiteren Informationen dazu liefern, was der Gouverneur dem Prinzen vermittelte und welche Methoden er anwandte. A. Walther hat in seiner Arbeit über „Die 116 Gegen Sandoval – hier nennt Varillas einmal einen der spanischen Historiker beim Namen – und weitere spanische Chronisten erhebt er in einem eigens eingefügten Paragraphen schwere Vorwürfe (Varillas 1691, 15): Sie haben Chièvres’ Andenken beschädigt, aus ihren dicken Werken spricht nichts als Vorurteil und Animosität. Ihnen sind unverzeihliche Irrtümer unterlaufen, die historische Wahrheit ist ihnen entgangen, was nur durch geradezu kriminelle Nachlässigkeit geschehen sein kann, da sie stets betonten, mit den Originaldokumenten gearbeitet zu haben. – Nach dem, was später über Varillas’ eigenen Umgang mit Quellen bekannt wurde, dessen er sich während seiner Arbeit bewußt gewesen sein muß, ist dies ein Vorwurf von bemerkenswerter Dreistigkeit. 117 Prolog zu Wallensteins Lager, V. 102 f.

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Anfänge Karls V.“ dem Kapitel zu Chièvres mehr als ein Drittel des gesamten Buches gewidmet.118 Über die politischen Aktivitäten des Gouverneurs, über seine Einstellung zu Einzelfragen des wechselvollen Geschehens in den Niederlanden von seiner Amtsübernahme 1509 bis zu Karls Emanzipation, über seine Haltung gegenüber den einzelnen Persönlichkeiten am burgundischen Hof hat Walther detailliert Auskunft gegeben und konnte sich dabei auf reiches Quellenmaterial berufen. Nicht so zur Erziehung Karls. Allein auf die Beschlüsse zur Neuordnung der Erziehung des Prinzen im Oktober 1513, als ein „Triumvirat“ das gouvernement de la personne des Prinzen überwachen und ihn Chièvres’ Einfluß entziehen sollte, geht Walther ausführlicher ein.119 Aber dabei handelte es sich nicht um eine Frage der Pädagogik oder der Bildungsdefizite Karls, sondern um dessen politische Lenkung durch seinen Erzieher. Nach umfangreichen Studien in französischen und belgischen Archiven, sogar in den Familienarchiven der verschiedenen Zweige der Croys, veröffentlichte G. Dansaert 1942 die – nach Varillas – m.W. einzige zusammenhängende Biographie des Guillaume de Croy. Ähnlich wie Walther geht auch Dansaert auf die erzieherischen Aufgaben des Gouverneurs kaum ein: unter der Überschrift Le gouverneur d’un futur empereur widmet er diesem Aspekt gerade 7 ½ von insgesamt 228 Seiten der Biographie.120 Der einzige Hinweis darauf, daß Chièvres dem Prinzen „Unterricht nach Plan“ erteilte, findet sich in einem einzigen Satz: „Profondément attaché à son élève, [...] Chièvres va lui enseigner l’histoire moderne, et tout particulièrement celle de la maison de Bourgogne.“ (97) Was unter „histoire moderne“ zu verstehen ist, wird nicht näher erläutert; im Gegensatz zu dem umfangreichen Pensum, von dem Varillas berichtet, scheint das Wissen, das Chièvres nach Dansaert dem Prinzen vermittelte, mehr auf praktische Anwendbarkeit im politischen Leben abgestimmt gewesen zu sein. Bemerkenswert ist aber vor allem, daß die Geschichte des Hauses Burgund von Dansaert in den Mittelpunkt des Unterrichts gerückt wird, was gewiß Chièvres’ Intentionen am nächsten kommt und zudem den Interessen seines Schülers vermutlich am ehesten entsprach. Das, wenn auch lückenhafte, Itinerar Chièvres’, von Dansaert nach der Korrespondenz des Gouverneurs rekonstruiert, deckt sich im Wesentlichen mit dem seines Schülers, so daß man davon ausgehen kann, daß der Unterricht regelmäßig erteilt wurde. Die weiteren Ausführungen Dansaerts belegen, daß er Chièvres vor allem in der Rolle des politischen Erziehers des Prinzen sieht. Sie verweisen darauf, daß Chièvres seinen Zögling, entgegen der politischen Haltung Margaretes 118 Walther 1911, 127–212. 119 Ebd. 116–119. Zu den Beschlüssen von 1513 vgl. oben 110 f. 120 Dansaert 1942, 93–100.

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von Österreich, zu Frieden und Freundschaft mit dem französischen Nachbarn ermunterte und den Prinzen mehr im Hinblick auf dessen künftige Staatsgeschäfte als auf Gelehrsamkeit hin unterwies, daß Chièvres, der die Abneigung Karls gegen strenge Studien und seine Vorliebe für die ritterlich-militärischen Übungen erkannt hatte, den Heranwachsenden besser verstand als die Regentin, den Neigungen Karls entgegenkam und daß sein Einfluß so vorerst den Sieg davontrug über den Margaretes. Neue Erkenntnisse zur Erziehung Karls lassen sich aus dieser Biographie seines Gouverneurs nicht gewinnen. Was Dansaert zu Chièvres als tuteur des künftigen Kaisers aussagt, wie nämlich der Gouverneur seiner Erziehungsaufgabe nachkam, welche Ziele er dabei verfolgte und worauf sich sein lang anhaltender Einfluß auf Karl gründete, verdichtet sich in wenigen Sätzen: „On a vu que Chièvres [...] avait pour objectif l’entente avec la France; c’était incontestablement l’intérêt réel et unique de son pays et de son prince [...]. Durant toute la minorité de son élève, il conservera toujours cette ligne de conduite[...] | Ainsi donc, politique basée d’un côté sur l’expérience [d.h. auf Chièvres’ rationaler Haltung in der Frankreichpolitik; A.S.], de l’autre surtout sur la sentimentalité [d.h. auf der feindseligen Einstellung Margaretes gegenüber dem französischen Königshaus]; conséquence inévitable: conflits. Ceux-ci ne peuvent point se manifester à brève échéance, à cause des soucis politiques journaliers, à raison surtout du mode d’éducation du jeune archiduc. C’est auprès de sa tutrice que vit ce dernier, mais c’est dans l’ambiance de son gouverneur que doivent se former ses idées. [...] | Et la lutte [zwischen Margarete und Chièvres um den Einfluß auf Karl], sourde d’abord, éclatante bientôt, va surgir entre ces deux influences contraires. Soit qu’il eût mieux compris le naturel de son élève, soit qu’il flattât davantage ses penchants et ses goûts, c’est Chièvres qui l’emportera, son empire sur Charles ne cessera pas d’ici de longues années [...] Charles fut préparé de longue main à la puissance. Comme il montrait dans sa jeunesse peu de goût pour l’étude et préférait les exercices militaires, qui formaient alors toute l’éducation de la jeune noblesse, Chièvres, sans le détourner de ses occupations favorites, le tenait en main, formait son esprit aux affaires de l’État et lui faisait contracter cette habitude de gravité qu’il conserva toute sa vie et qui convenait si bien aux mœurs de l’époque.“121

Wie Walther richtet auch Dansaert seinen Blick auf den Wendepunkt im Verhältnis Karls zu Margarete, als die Regentin die neue, letztlich wirkungslose Ordonnanz zur Erziehung ihres Neffen durchsetzte, weil er ihrer Leitung, v.a. durch Chièvres’ Einfluß, entglitten war. Einmal mehr belegt Dansaerts Darstellung, daß Chièvres sich als politischer Erzieher des Prinzen verstand; wo er ihm Wissen

121 Dansaert 1942, 95. 97. 98.

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vermittelte, war es „Herrschaftswissen“.122 Es schließt sich hier der Kreis mit einer Bestätigung der oben zitierten Feststellung Brandis zu Chièvres’ Amtsantritt: Die Führung des Knaben wurde unter den Händen des neuen Gouverneurs zu einer politischen Angelegenheit. Im Gegensatz zu den z.T. widersprüchlichen und mühsam abzugleichenden Angaben zum „wissenschaftlichen“ Bildungsgang des Prinzen ergibt sich aus der Überlieferung für den noch verbleibenden Aspekt seiner formalen Erziehung, nämlich für seine Ausbildung in den ritterlichen Disziplinen, ein einheitliches Bild: Daß schon der kaiserliche Großvater seine Freude über die Fortschritte äußerte, die der Enkel in der Kunst des Reitens und Jagens machte, ist ausführlich dargestellt worden. Ebenso wurde Maximilians Ratschlag erwähnt, daß Karl sich, besonders nach der Pockenerkrankung, möglichst viel zu Pferde in den Wäldern tummeln sollte, um seine Gesundheit zu kräftigen: ein Ratschlag, den der Enkel nur allzu gern befolgte.123 Unter der Leitung seines „ritterlichen Erziehers“ Charles de Poupet, seigneur de La Chau(l)x, vervollkommnete Karl seine Fertigkeit im Reiten und den ritterlichen Kampftechniken derart, daß alle Zeitgenossen und demzufolge auch seine späteren Biographen darin übereinstimmen, daß der Prinz auf diesem Felde eine glänzende Figur machte und mit Ausdauer sowie eisernem Willen die anfänglichen Schwächen seines schmächtigen Körpers überwand. Zwei ganz unterschiedliche Biographen sollen hier mit ihrem zusammenfassenden Urteil zu den exzellenten Ergebnissen zu Wort kommen, die die ritterliche Erziehung Karls in Verbindung mit seiner außerordentlichen Selbstzucht zeitigte. K. Brandi schreibt dazu: „Reiten, Jagen und bald auch alles, was zum Turnieren gehört, das Lanzenbrechen ohne aus dem Sattel zu fallen und alle Art von Schießen und Fechten trieb er zur Freude des Großvaters mit Freude und Glück. [...] Und wenn an Karl, noch durch Jahre hin, etwas gerühmt wurde, so war es stets die Geschicklichkeit im Reiten und im Kampfspiel. Sein Wille beherrschte den zarten Körper.“124

Brandi spielt hier u.a. an auf die außerordentliche Bewunderung, die Karl, bei aller sonstigen Skepsis der Spanier gegenüber ihrem neuen, jugendlichen Herrscher, 1518 in Valladolid erregte, als er sich kurz nach seiner Vereidigung vor den Cortes Charles de Lannoy im Turnier stellte. E. Gossart betont in seiner Würdigung der ritterlichen Fertigkeiten Karls nochmals die Vorliebe schon des jungen Prinzen für die exercices du corps, läßt aber gleichzeitig anklingen, daß es auch der 122 Mit welchen Methoden Chièvres den jungen Herrscher nach der Emanzipation lehrte, dieses Herrschaftswissen in die Praxis umzusetzen, wird in einem der folgenden Abschnitte dargelegt werden. S. unten 212–214. 123 Vgl. oben 94–96. 124 Brandi 1964, 39.

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Geist der Ritterlichkeit war, der damit einherging und den Karl sein Leben lang bewahrte: „Les gentilshommes chargés de son éducation physique eurent plus de succès que ses pédagogues: leur élève accusait un goût très prononcé pour les exercices du corps, les armes, l’équitation, la chasse; il conserva, du reste, pendant tout son règne les traditions de l’âge de la chevalerie, qui expirait alors, et dont il fut, avec ses contemporains François Ier et Henri VIII, un des derniers représentants.“125

Unter den spanischen Chronisten schildern sowohl Santa Cruz als auch Sandoval die glänzende Begegnung zwischen Karl und Charles de Lannoy.126 Als junger Prinz betrieb Karl die exercices du corps in Gemeinschaft und im Wettstreit mit seinen Ehrenknaben. Jeweils sechs bis acht enfants d’honneur passenden Alters wurden in den Haushalt des Prinzen aufgenommen, wo sie nicht nur dessen ritterlich-militärische Ausbildung teilten, sondern darüber hinaus in den übrigen der septem probitates unterwiesen und in Französisch und Latein unterrichtet wurden: Sie durchliefen eine „école de gentilshommes“ als Vorbereitung auf ein Amt bei Hofe. Wie an früherer Stelle erwähnt wurde, nahmen die jungen Gefährten der Mechelner Kinder auch an deren Vergnügungen, Festen und Ausflügen teil. Gewiß kam Karl in ihrer Gesellschaft eine besondere Stellung zu, die ihn vielleicht gelegentlich absonderte, von einem völlig isolierten Aufwachsen des Prinzen kann jedoch nicht die Rede sein. Etliche Briefe in der Correspondance zwischen Maximilian und seiner Tochter beziehen sich auf die Aufnahme von enfants d’honneur bzw. filles d’honneur an den Hof zu Mecheln: Schon 1508, als der Kaiser seine Tochter bittet, die junge Nichte der Anne de Beaumont gemeinsam mit den burgundischen Kindern aufwachsen zu lassen, müssen sich, nach dem Wortlaut des Briefes zu urteilen, mehrere junge Mädchen in der Gesellschaft der Prinzessinnen befunden haben.127 Als der Kaiser ein gutes Jahr später die Aufnahme des jungen Markgrafen von Brandenburg in den Haushalt und Hofdienst Karls empfiehlt, bringt er zur Sprache, daß die höfische Erziehung ihren Preis hat: Margarete soll es an Unterstützung für den Knaben nicht fehlen lassen, denn dessen Eltern zahlen für seinen Unterhalt 1000 125 Gossart 1910, 166. Mit seinem letzten Satz erinnert Gossart an die glänzenden Erfolge Heinrichs VIII. bei den Turnieren, die er 1513 in Lille veranstaltete, wie auch an das berühmte Zusammentreffen mit Franz I. 1520 auf dem „Güldenen Feld“. Andererseits ist vermutlich auch ein Hinweis auf die Aufforderung zum Duell beabsichtigt, die Karl an Franz I. richtete, nachdem dieser sich 1526 des Wortbruchs gegenüber dem Kaiser schuldig gemacht hatte. Vgl. u.a. Gachard 1872, 553; Tyler 1959, 70. 126 Santa Cruz 169; Sandoval 133. Sandoval, der offensichtlich die Crónica des Santa Cruz benutzt hat, schmückt seine Darstellung prächtig aus – sowohl was die Kampfestüchtigkeit des Königs angeht als auch, was den Glanz des Ereignisses betrifft. 127 Le Glay 1839, 1, 56 Nr. 39 (31.5.1508).

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livres im Jahr, eine Summe, die dem Mechelner Haushalt höchst willkommen war.128 Für ihre kleinen Dienste bei Hofe wurden die Pagen und die Ehrenknaben jedoch auch entlohnt: Mit 3 Sols pro Tag erhielten sie ein bescheidenes Taschengeld.129 In weiteren Schreiben empfiehlt Maximilian die Aufnahme eines Diplomatensohnes, ferner die des Sohnes von Karls Leibarzt:130 Es waren also keineswegs nur junge Adlige, die am Hof und für den Hof erzogen wurden. Da etliche der jungen Gefährten aus dem Ausland, aus Spanien, Italien oder Deutschland, stammten, verliehen sie dem Mechelner Hof einen Anflug von internationalem Flair. Karl mag von ihnen auch ihre eigenen Sprachen gehört haben, gelernt aber hat er sie nicht: Die Sprache des Hofes war Französisch, und um sich u.a. darin zu vervollkommnen, wurden die enfants und filles d’honneur nach Mecheln geschickt. Zum Schluß dieses Abschnitts soll noch einmal betont werden, daß Karl zwar in seinen Knabenjahren eine ausgesprochene Abneigung gegen die Gelehrsamkeit zeigte, diese Abneigung aber keineswegs auf seine Lehrer übertrug. Für Vacca wurde bereits erwähnt, daß der Kaiser seine Mühe und Geduld später honorierte. Die besonders enge Beziehung zu Chièvres wie zu Adrian von Utrecht hielt bis zum Tode der beiden Erzieher an.131 Charles de Poupet, seigneur de La Chaulx, genoß ebenfalls bis an sein Lebensende (1530) das Vertrauen und die Wertschätzung seines ehemaligen Schülers und späteren Kaisers. Seine Karriere liefert ein Beispiel dafür, daß es um 1500 nicht unmöglich war, aus relativ schlichten Verhältnissen zu einem der engsten Berater des Kaisers aufzusteigen und in den elitären Orden vom Goldenen Vlies aufgenommen zu werden.132

128 Le Glay 1839, 1, 188 Nr. 141 (8.9.1509). 129 Moeller 1895, 54. 130 Le Glay 1839, 1, 369 f. Nr. 280 (10.1.1510); ebd. 436 f. Nr. 330 (21.10.1511). 131 Im folgenden Abschnitt wird auf die beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten und das Verhältnis zu ihrem Schüler näher eingegangen. 132 Cauchies 2003, 66 zum Werdegang des Charles de Poupet: Er wurde um 1460/70 als Sohn eines Steuereinnehmers und Finanzbeamten Philipps des Guten in der Franche Comté geboren. Seine Mutter war die Tochter von Thomas de Plaine, dem Kanzler Philipps des Schönen. Der Sohn stieg auf im Dienst Philipps des Schönen, den er auf beiden Spanienreisen begleitete. Als chambellan gehörte er bereits zu dessen engsten Beratern. Nach dem Tode Philipps kehrte La Chaulx nach Mecheln zurück, wo er bald zum Berater Margaretes und zu einem der Erzieher des Prinzen wurde. 1517 begleitete er Karl nach Spanien; dort zählte er zu den ranghöchsten Beratern des Königs.

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3. Der Gouverneur und der pedagogus Mit Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, und Adrian von Utrecht waren zwei Persönlichkeiten zu Erziehern des Prinzen berufen worden, die von Herkunft, Bildung, Werdegang und Wesensart kaum gegensätzlicher hätten sein können. Ihre Wertmaßstäbe und Lebensauffassungen entstammten zwei verschiedenen Welten, die sich an der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit berührten. Ohne schon ins Detail zu gehen, kann vorläufig gesagt werden: Hier traf ein später Vertreter des burgundischen Rittertums auf einen zwar noch scholastisch geschulten, jedoch schon reformorientierten Theologen. In dem Konflikt beider Erzieher um den Bildungsgang des Prinzen, in dem Chièvres zunächst einen fragwürdigen Sieg davontrug, ging es nur vordergründig um versäumte Lateinstunden. Chièvres’ oben zitierte, provokante Äußerung, Karl sei zum Herrscher, nicht zum Gelehrten geboren,133 deutet auf weitaus tiefer gehende Differenzen zwischen den Erziehern hin. Im Hintergrund der Auseinandersetzungen um Präferenzen in der Erziehung des Thronerben stand letztlich die Frage: Zu welcher Art von Herrscher sollte der Prinz erzogen werden? Galt noch das Herrscherbild, wie es in den früheren Herzögen von Burgund und anderen großen Feudalherren seine glänzendste Ausprägung gefunden hatte, ein Vorbild, das Chièvres’ Auffassung entsprach? Hatte Adrian eine andere Auffassung vom idealen Fürsten, die der des Erasmus von Rotterdam nahekam? Man darf davon ausgehen, daß Adrian den Panegyricus des Erasmus kannte, ein Werk, das von der Forschung als Vorläufer der Institutio principis Christiani eingestuft wird.134 Ungeachtet der unterschiedlichen Standpunkte seiner Erzieher schätzte Karl beide Lehrer sehr. Der Einfluß dieser so grundverschiedenen Männer auf den Heranwachsenden hat offensichtlich außerhalb der Schulstube wesentlich stärkere Spuren hinterlassen, als es Lektionen vermocht hätten, und weit über die Emanzipation des Herzogs von Burgund (1515) fortgewirkt. Chièvres und Adrian von Utrecht gehören demnach zu den Schlüsselfiguren im Umfeld des jungen Karl. Als Persönlichkeiten sollen sie daher in den folgenden Abschnitten im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen. Es ist also nicht beabsichtigt, das wechselvolle und ereignisreiche Leben der beiden Erzieher nachzuzeichnen; biographische Daten und Fakten müssen jedoch so weit einbezogen werden, wie sie zum Verständnis nötig sind oder ein erhellendes Licht auf die Person werfen. Dabei ist es unumgänglich, gelegentlich auf Irrtümer hinzuwei133 Vgl. oben 178. 134 Angeblich verfaßte Erasmus den Panegyricus (Textausgabe: Herding 1974, 1–93) eher widerwillig. Das 1504 im Druck erschienene Werk, eine Auftragsarbeit als Beitrag zu den Festlichkeiten anläßlich der Rückkehr Philipps des Schönen aus Spanien (1503), vereinigt Herrscherlob mit Elementen des Fürstenspiegels. Vgl. dazu Cauchies 2003, 241–243.

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sen, die sich, z.T. von parteiischen Quellen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts ausgehend, als lebenskräftig erwiesen haben und noch im 20. Jahrhundert trotz längst erbrachter Gegenbeweise in der Literatur für Verwirrung sorgen.

3.1. Der Gouverneur: Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres „Chièvres est le ministre de l’empereur au sujet duquel nous sommes peut-être le moins bien renseignés. [...] Ses compatriotes et les étrangers qui l’ont connu et fréquenté ne nous ont laissé que peu de détails sur sa vie et son caractère.“135

Diese Sätze, die E. Gossart vor fast 100 Jahren seinem Werk voranstellte, in dem Chièvres als dem politischen Lehrmeister des Prinzen und jungen Königs eine zentrale Rolle zukommt,136 umreißen das Problem, vor dem der Historiker auch heute noch steht, wenn er den Versuch unternimmt, Aufschluß über die Persönlichkeit des Gouverneurs zu erlangen. Ganz ähnlich wie bei Karl V. wird der Blick auf die Person verstellt: Sind es im Falle des Kaisers die Institution und die großen Inszenierungen, hinter denen die Persönlichkeit des Monarchen verborgen bleibt, so lassen Chièvres’ vielfältige politische Aktivitäten und ihre kontroverse Beurteilung durch die Mit- und Nachwelt zwar den Politiker und Diplomaten, nicht aber den Menschen Guillaume de Croy erkennen (Abb. 9). Sein Biograph G. Dansaert will, das sei hier eingefügt, in dieser außergewöhnlichen Aktivität einen besonders ausgeprägten Charakterzug Chièvres’ sehen: „Mais déjà Chièvres est dévoré d’activité; cette activité sera une des caractéristiques de sa vie.“137 Chièvres hat, auch darin seinem Zögling ähnlich, kaum Schriftstücke persönlicher Natur hinterlassen. Briefe an Karl, die Einblick in das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler geben könnten, sind nicht bekannt. Für den letztgenannten, aus der Sicht des Historikers besonders bedauerlichen Sachverhalt liefert Gossart eine ebenso einfache wie zutreffende Erklärung: „Les lettres que nous possédons de lui sont rares; et cette pénurie s’explique: il n’a, pour ainsi dire, jamais quitté Charles-Quint, il n’a guère eu de rapports par écrit avec lui.“138 135 Gossart 1910, VII. Die Verwendung des Begriffs „sujet“ in der Bedeutung „Mensch, Individuum“ weist im Zusammenhang mit dem zweiten Satz darauf hin, für welchen Bereich es an Quellen mangelt. 136 Sehr wesentlich unter diesem Aspekt Gossart 1910, 163–213 („L’apprentissage politique de l’Empereur“). 137 Dansaert 1942, 25. Die Aussage bezieht sich auf Ereignisse des Jahres 1494. Die Wendung „dévoré d’activité“ ist etwas ungewöhnlich anstelle des geläufigeren „dévoré d’ambition“. Es ist anzunehmen,daß hinter der übermäßigen Aktivität ein ebensolches Übermaß an Ehrgeiz steckte. 138 Gossart 1910, VII. Dies bezieht sich eindeutig auf private Briefe; die umfangreiche politische Korrespondenz, u.a. mit Maximilian I. und Margarete von Österreich, ist hier außer acht gelassen.

Guillaume de Croy-Chièvres

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Wo persönliche Zeugnisse der Protagonisten fehlen, ist man auf die Aussagen von Zeitgenossen angewiesen. Daran mangelt es nicht, wenn auch die eingangs zitierte Feststellung Gossarts diesen Schluß zunächst nahezulegen scheint. Was nicht vorliegt, sind Äußerungen aus der unmittelbaren, Chièvres nahestehenden Umgebung zu dessen Person. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, stammen die vorhandenen Quellen aus der Feder spanischer Chronisten. A. Walther hat für diese Quellenlage eine Erklärung: „Das literarische Monopol fiel zu Anfang des 16. Jahrhunderts immer mehr den Humanisten zu. Der schriftstellernde Kreis steht gegen die Adelsclique. Der Kreis um die Croy [d.h. um die zahlreichen Vertreter der weitverzweigten Familie, die in verschiedenen Ämtern dem burgundischen Hof verbunden waren; A.S.] hat keine nennenswerte Literatur hervorgebracht.“139

Im gleichen Zusammenhang erläutert Walther, weshalb auch durch die Öffnung der Archive, insbesondere des von Lille, die Einseitigkeit der Quellenlage nicht behoben wurde: Die Archive enthielten nur die Materialien aus der Kanzlei Margaretes von Österreich, der ausgesprochenen Gegnerin Chièvres’ am burgundischen Hof, vor allem während der letzten Jahre der Minorität des Prinzen. Das entsprechende Gegengewicht fehlt auch hier, „denn die Dokumente der Kanzlei Karls V. aus den ersten Jahren seiner Regierung sind fast vollständig verloren“.140 Die Öffnung der Archive gab im 19. Jahrhundert der Karl-Forschung außerordentliche Impulse. Allerdings begünstigte die geschilderte Einseitigkeit der Quellen in dem von Nationalismus und Abgrenzung geprägten Jahrhundert eine überspitzte Parteinahme für oder gegen den frankophilen Gouverneur Karls, die auch aus den Werken bedeutender und einflußreicher Historiker spricht. Selbst diese Forscher konnten sich dem Zeitgeist nicht entziehen, prägten ihn z.T. sogar entscheidend mit. Für den heutigen Historiker, der diese Werke berücksichtigen muß, wird eine sachlich-distanzierte Annäherung an Guillaume de Croy und dessen objektive Beurteilung dadurch nicht eben erleichtert. A. Walther, der Chièvres mit Sympathie geschildert hat, bekennt, daß sich diese Sympathie „nach der Leistung des Mannes gebildet hat“.141 Diese Aussage 139 Walther 1911, 130. 140 Ebd. 131. Ergänzend dazu Brandi 1941, 29–41: Unter der Überschrift „Die Briefe und Akten zur Geschichte Karls V.“ gibt Brandi, der seit 1913 für Jahrzehnte wohl maßgebliche Forscher auf diesem Gebiet, Einblick in die Geschichte der Archive und ihrer Erschließung. Ausführlich geht er dabei (35–41) auf die wechselvollen, z.T. dramatischen Ereignisse ein, die zum Verlust großer Teile der Akten Karls V. bzw. zu ihrer recht willkürlichen Verstreuung auf die großen Archive Europas führten. Brandi widmete einen erheblichen Teil seiner Forschertätigkeit der Wiederherstellung eines „organischen Zusammenhangs“ (39) der erhaltenen Bestände. 141 Walther 1911, 133.

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steht in direkten Zusammenhang mit Walthers Darstellung der Geschichte von Chièvres’ Bewertung,142 in der er auf die Verzerrungen hinweist, die das Bild des Gouverneurs schon in den Quellen und in der Folge in der Literatur erfahren hat. Walther selbst wie auch der fast gleichzeitig schreibende Belgier Gossart bemühten sich 1911 bzw. 1910, wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, um eine ausgewogene Darstellung jenseits der jeweiligen Nationalismen. Die Spurensuche nach der Person Chièvres’ ist somit erschwert. Es soll daher zunächst resümiert werden, was an Erkenntnissen zu seiner Biographie und zu seiner Persönlichkeit aus den vorhergehenden Kapiteln gewonnen werden konnte: Guillaume de Croy entstammte einem der alten burgundischen Adelsgeschlechter und wurde auf einem der Familiensitze in der Picardie geboren. Seine Lebensdaten (1458–1521) decken sich nahezu mit denen von Karls Großvater, Kaiser Maximilian I. (1459–1519), und denen Adrians von Utrecht (1459–1523). Er wuchs im burgundisch-französischen Kulturkreis auf und erhielt (vermutlich) die dort seinerzeit übliche ritterliche Erziehung. In verschiedenen verantwortungsvollen Funktionen diente Chièvres drei Generationen des Hauses (Habsburg-)Burgund, wobei er zunächst militärisch als Mitstreiter Maximilians, dann besonders als Berater Philipps des Schönen, des Croy-conseil, als dessen lieutenant général der Niederlande (1505/06) und als Erzieher des Erbprinzen (ab 1509) hervortrat. Seine Auffassung von der Erziehung des Prinzen deckte sich nicht mit dem etablierten und vom Vater vorgegebenen Konzept und stand im Widerspruch zu den Absichten des geistlichen Erziehers. Wie schon zu Philipp dem Schönen entwickelte sich auch zu dessen ältestem Sohn ein besonderes Vertrauensverhältnis. Als Ritter vom Goldenen Vlies gehörte Chièvres zur Elite des burgundischen Adels, deren Privilegien die jeweiligen Herrscher zu respektieren hatten. Seine Frankophilie brachte Chièvres zunächst in scharfen Gegensatz zu Margarete von Österreich und ihrer englandfreundlichen Politik, aber auch zu Ferdinand von Aragon. Später bildete sich am Hof Margaretes eine „burgundische Nationalpartei“, als deren Haupt Chièvres galt und die von kastilischen Adligen – aus Feindschaft gegenüber Ferdinand von Aragon – unterstützt wurde. Um den Einfluß des Erziehers auf Karl einzudämmen, wurde 1513 ein „Triumvirat“ zur Lenkung des Prinzen eingesetzt. Diese Maßnahme erwies sich als wirkungslos. Karl wurde am 5. Januar 1515 vorzeitig für mündig erklärt, ein Vorgang, an dem Chièvres nicht unbeteiligt war.143 Als dieser 1517 den jungen 142 Walther 1911, 127–132, wo am Beispiel mehrerer namhafter Historiker des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gezeigt wird, wie sehr zeitgenössische politische Ideen und nationalistische Vorurteile das Urteil über Karl und seinen Gouverneur bestimmten. 143 Auf die Verstrickung des Gouverneurs in die dubiosen Vorgänge im Vorfeld der Emanzipation wird in einem späteren Kapitel eingegangen (IV.1, s. bes. 386 f. 398 f.).

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König auf seiner Inaugurationsreise nach Spanien begleitete, zogen er und andere flamencos durch ihre herablassende Haltung und ihre Habgier den Haß der Spanier auf sich. Schon aus diesem Überblick wird ersichtlich, daß der Gouverneur im Zentrum mehrerer, sich teilweise überschneidender Konfliktfelder stand und daß einige Konflikte unmittelbar von seiner Person ausgelöst wurden. Daher wundert es nicht, daß etliche der zeitgenössischen Quellen in hohem Maße emotional gefärbt sind; als lebensvolle, ausdrucksstarke Zeitzeugnisse blieben sie nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Urteil späterer Historiker. Über Chièvres’ Privatleben ist, wie schon E. Gossart feststellte, kaum etwas bekannt. Er war verheiratet mit Marie-Madeleine de Hamal(e), die im Hofdienst Margaretes in Mecheln stand. Die Ehe war kinderlos.144 Madame de Chièvres begleitete ihren Gemahl im Gefolge Karls 1517–1519 auf der ersten Spanienreise. Sie löste Anne de Beaumont, die langjährige Vertraute Eleonores, als dame d’honneur der Prinzessin ab145 und führte das Ehrengeleit an, mit dem Karls Lieblingsschwester zunächst zu einem Antrittsbesuch, dann, im März 1519, zu ihrer Vermählung mit Manuel von Portugal in ihre neue Heimat einzog. Wohl die einzige Leidenschaft, der Chièvres frönte, war die Jagd, der er auf seinen ausgedehnten Besitzungen, besonders auf Héverlé, nachging. Oft lud er Jagdgesellschaften ein; schon seit 1509 war Karl dort ein häufiger und bevorzugter Gast. Was hier an Fakten zusammengestellt ist, bezieht sich überwiegend auf den Zeitraum zwischen 1509 und 1515. Eben um die Zeit, als Karl sich dem Einfluß Margaretes zunehmend zu entziehen begann, also um 1513, richtete sich das Interesse der Spanier vermehrt auf den Prinzen und dessen nächste Umgebung, d.h. vor allem auf die Person seines Gouverneurs. In den schwierigen Fragen der spanischen Erbfolge war eine endgültige Entscheidung noch nicht gefallen, und Ferdinand von Aragon schwankte zwischen verschiedenen Plänen, wie die Rechte Karls mit denen seiner Mutter, der nominellen Königin von Kastilien, und mit den Erbansprüchen des Infanten Ferdinand in Einklang gebracht werden könnten. Zudem mußte darüber eine Übereinkunft mit Maximilian I. erzielt werden. All dies war Grund genug für Ferdinand, sich durch seinen Gesandten Lanuza und seinen Bastardenkel don Juan d’Aragon genaue Informationen über Karl und die Verhältnisse am Mechelner Hof zu verschaffen. Die Berichte der Aragonesen 144 A esté allié par mariage à Dame Marie-Madeleine de Hamale, Dame de Tamise et héritière de plusieurs autres belleterres et seigneuries, de laquelle il n’a délaissé génération (Teilübersetzung der nicht mehr erhaltenen Grabinschrift zu Héverlé, zit. bei Dansaert 1942, 223 nach älteren Darstellungen). 145 Dies ist bezeugt durch verschiedene Erwähnungen in den beiden Berichten über die erste Spanienreise: Voyages II 60. 62 (Jean de Vandenesse); ebd. III 47 (Laurent Vital).

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ließen Chièvres in sehr ungünstigem Licht erscheinen, denn angeblich weckte er, gemeinsam mit den Kastiliern unter seinen Anhängern, in Karl eine Aversion gegen den spanischen Großvater, der daraufhin auf die Entfernung des Erziehers drängte.146 Es ist also kein Zufall, daß zu diesem Zeitpunkt die spanischen Quellen einsetzen, die z.T. sehr persönlich gefärbte Auffassungen vom Wesen des Guillaume de Croy vermitteln. Da der Schwerpunkt meiner Untersuchung auf den Jugendjahren Karls V. zwischen 1500 und 1515 liegt, geht es vorrangig darum, das Bild seines Erziehers zu rekonstruieren, wie es sich in den frühen Jahren seiner Tätigkeit darbot. Das erscheint umso wesentlicher, als dieser Bereich nur durch wenige Quellen belegt ist und diese schmale Spur der Überlieferung durch die späteren Berichte der spanischen Chronisten nahezu völlig überlagert worden ist. Ein relevantes Zeugnis aus dem Jahr 1516, in dem Karl das spanische Erbe zufiel, wird zusätzlich berücksichtigt, denn der Einschnitt, der durch das Ende der burgundischen Phase und die erste Spanienreise 1517 markiert wird, scheint mir bedeutsamer als der Akt der Emanzipation. Die spanischen Quellen aus den Jahren 1517–1519, deren Aussagen zu Chièvres’ Person bis ins 20. Jahrhundert in der biographischen Literatur zu Karl V. dominierten, sind jedoch ergänzend heranzuziehen und, in ihrem Kontext gesehen, gegebenenfalls in ihrer Aussagekraft und Bedeutung für das Gesamtbild des Erziehers zu relativieren. Die mir für die frühen Jahre zur Verfügung stehenden Materialien werden nun zunächst auf Aussagen zu Chièvres überprüft. In einem zweiten Schritt gehe ich den Spuren nach, die die Quellen in der biographischen Literatur zu Karl V. hinterlassen haben. Dabei werden die Werke in der zeitlichen Folge ihres Erscheinens untersucht. Für beide Arbeitsschritte scheint ein chronologisches Vorgehen sinnvoll und geboten, da auf diese Weise vorherrschende Tendenzen in der Interpretation bzw. Paradigmenwechsel am deutlichsten sichtbar gemacht werden können. 1513, in der oben geschilderten Situation, geht Petrus Martyr erstmals in einem Brief ausführlicher zunächst auf die Person Karls und anschließend auf dessen Erzieher ein. Zu Chièvres heißt es dort: Nutritium ferunt Guillelmum de Croy dominum de Xebres longa esse rerum experientia pollentem: qui sit modestus temperans: & gravis admodum, a quo nullum inquiunt notabile vicium prodiisse unquam.147 146 Vgl. oben 111 (Brief des englischen Diplomaten Spinelly vom 18. März 1513). 147 Petrus Martyr, epist. 513 (p. 528 W., 13.1.1513). Es ist allerdings zu beachten, daß er an dieser Stelle nicht aus eigener Anschauung berichtet, sondern wiedergibt, was er – vermutlich über einen seiner zahlreichen Briefpartner – in Erfahrung gebracht hatte (ferunt; sit; inquiunt). Hier liegen also Informationen vor, die durch die Wahrnehmung und die Intentionen von mindestens zwei Korrespondenten gefiltert worden sind. Den-

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Das Urteil über Chièvres fällt zu diesem Zeitpunkt also denkbar günstig aus. Wenn Petrus Martyr sich anschließend lobend zu Luis de Vacca148 und Adrian von Utrecht äußert, bringt er damit zum Ausdruck, daß er entgegen allen Gerüchten Karls Erziehung in guten Händen sieht. Man darf dies als Versuch betrachten, die Bedeutung der Berichte über die angeblichen Machenschaften Chièvres’ und seiner Anhänger, die Ferdinand von Aragon zum Protest herausforderten, herunterzuspielen und nicht mit einer Vorverurteilung des Erziehers u.U. gleichzeitig dem Ansehen seines Zöglings in Spanien zu schaden. Bei Alonso de Santa Cruz, der seine Crónica um 1550 verfaßte, findet sich für die frühen Jahre von Chièvres’ Tätigkeit als Erzieher ein gleichermaßen positives Urteil über dessen Wesensart: [...] y cuando el Rey Don Felipe partió de Flandes para España, le dejó por su ayo y camarero á Guillermo de Croy, señor de Chievres, hombre sabio y de buen juicio, amigo de toda paz y concordia...149

Der dritte der hier berücksichtigten spanischen Humanisten, Prudencio de Sandoval, widmet um 1600 in seiner Historia dem Gouverneur Karls mehrere Abschnitte, die er unter die Begebenheiten des Jahres 1516 einordnet:150 Es war das Todesjahr Ferdinands von Aragon und der Nachfolge Karls, das Jahr, in dem Spanien der Ankunft seines jungen Königs entgegensah. So bereitet Sandoval den Leser auf die Ereignisse der ersten Regierungsjahre Karls vor, indem er die damals beherrschende Gestalt, den früheren Gouverneur und nachmaligen premier chambellan, einführt.151 Aus dieser ausführlichen Lebensbeschreibung Chièvres’ noch verdient das Urteil Petrus Martyrs insofern besondere Beachtung, weil es 1513 ohne Kenntnis der weiteren Entwicklung abgegeben wurde, während Alonso de Santa Cruz und Sandoval ihre Chroniken aus der Rückschau verfaßten und in ihrer Sichtweise durch das Wissen um die späteren Ereignisse beeinflußt waren. 148 Vgl. oben 171. 149 Santa Cruz 23. Ihm sind hier zwei sachliche Fehler unterlaufen, indem er zunächst die Berufung Croys Philipp dem Schönen zuschrieb und damit zugleich die Berufung zeitlich vorverlegte, also auf 1505. Offensichtlich liegt hier eine Verwechslung der Ämter des Gouverneurs der Niederlande und des Gouverneurs des Prinzen vor. Der Wert der Aussage zu Chièvres’ Person wird dadurch jedoch nicht berührt. 150 Sandoval 102–105. 151 So wie Sandoval der historia des Kaisers eine umfängliche Genealogie voranstellt, die vom Stammvater Adam ausgeht, beginnt auch der Abschnitt zu Chièvres mit dessen Abstammung von der frühen ungarischen Dynastie der Arpaden (um 900). Noch Tyler 1959, 54 übernimmt diese phantastische Geschichte zur Herkunft der Familie Croy. Die trotz ihrer Länge sehr komprimierte und akzentuierte Biographie Chièvres’ – hier bis 1516 und in Andeutungen darüber hinaus – ist zu einer der wichtigsten Quellen für spätere Biographen Karls geworden und hat das Urteil über Chièvres und den jungen Herrscher unübersehbar mitbestimmt. Ein vergleichendes Studium der wesentlichen Karlsbiographien des

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führe ich hier zunächst die Aussagen zur Person an, die sich auf etwa den gleichen Zeitraum beziehen wie die oben angeführten Zitate aus Petrus Martyr und Santa Cruz: Fué este Xevres hombre de buena presencia y claro juicio, hablada bien y era en los negocios cuidadoso, y cuando en ellos había dificultades, inventaba medios para bien despacharlos. Era sufrido y de gran espera. Fué desde mozo ambicioso de honra, y procurábala por todos los medios que podía [...] | Tuvo monsieur de Xevres muchas virtudes; fué amigo de paz, deseó grandemente que el príncipe entendiese en el gobierno del reino, para que cuando tuviese edad acertase en él...152

Etliche von Chièvres’ positiven Wesenszügen, auf die die spanischen Autoren hinweisen, begegnen dem Leser dort wieder, wo der Gouverneur später in Karlsbiographien charakterisiert wird. E. Gossart bezieht sich ausdrücklich auf Sandoval: „Sandoval, qui ne l’épargne pas quand il énumère les nombreux griefs que les Espagnols firent valoir plus tard contre ce ministre, reconnaît cependant qu’il avait de grands mérites: il était distingué, aussi bien intellectuellement qu’au physique, soigneux dans les affaires, habile à tourner les difficultés, patient et prudent [...]“153

K. Brandi betont die Friedenspolitik sowie die vorsichtige Haltung gegenüber Margaretes politischen Plänen, dazu die diplomatische Klugheit des Gouverneurs: „Immer bedacht auf Fernhaltung der kostspieligen und zerstörenden Kämpfe mit Frankreich oder in Geldern und Lüttich; vorsichtig gegen Margarete und ihren auch von wirtschaftlichen Interessen getragenen Anhang, der zu England neigte. Klug in der Behandlung Maximilians. Klug wohl überhaupt in der Einschätzung aller jeweils in seinen Gesichtskreis tretenden innen- und außenpolitischen Kräfte.“154

Damit wird Brandi konkreter als Gossart, indem er aufzeigt, in welchen Zusammenhängen die angeführten Eigenschaften besonders hervortraten. Chièvres’ Klugheit ist nach Brandi einer der Züge gewesen, der den jungen, noch unerfah19. und 20. Jahrhunderts läßt dies auch dort deutlich werden, wo nicht ausdrücklich auf Sandoval als Quelle verwiesen wird. Auch die Tatsache, daß das Werk Sandovals einen wahren „Historikerstreit“ ausgelöst hat, in dem es um Plagiatsvorwürfe, gefälschte Briefe u.ä. geht und in dem sich namhafte Forscher von Ranke bis Merriman von den 1870er bis zu den 1920er Jahren vehement engagierten, hat seinen Einfluß nicht eindämmen können. Sandoval selbst nennt als seine Quellen u.a. Zurita und Mexía. Details zu den Auseinandersetzungen finden sich in der Einleitung des Herausgebers C. Seco Serrano zur benutzten Ausgabe (Sandoval XXXV–XLI). 152 Sandoval 103 f. Brandi 1941, 81 weist auf die frühzeitig ungünstige Beurteilung Chièvres’ durch Sandoval hin: Er könnte sich dabei auf das vernichtende Urteil des Chronisten über Chièvres’ Qualitäten als Lehrer und die darauf zurückzuführenden Bildungsmängel des Prinzen beziehen. Vgl. oben 177. 153 Gossart 1910, 167. 154 Brandi 1964, 40.

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renen Prinzen veranlaßte, sich der Führung seines Erziehers völlig anzuvertrauen. Brandi weist in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung Karls hin: „Noch Jahre nach seinem (Chièvres’) Tode sagte Karl zu Contarini, er habe früh erfahren, daß Chièvres klug sei, und sich ihm deshalb ganz hingegeben.“155 R. Tyler glaubte, die Briefe des Petrus Martyr nicht berücksichtigen zu müssen, lobt in seiner kommentierten Bibliographie aber die Werke des Santa Cruz und Sandovals, deren Vokabular zu Chièvres’ Charakterisierung er teilweise fast wörtlich übernimmt. So nennt er den Gouverneur einen „schlauen und vorsichtigen, anpassungsfähigen Mann“, der „seine Stellung geduldig ausgebaut hatte“ und seinen Schützling „alles lehrte, was er selbst in langer Erfahrung gewonnen hatte.“ Ferner hebt er Chièvres’ „mäßigenden Einfluß auf die Regentin“ hervor, der es verhinderte, daß Margarete „von der Kriegspartei mitgerissen“ wurde [sic!].156 O. Habsburg, der Chièvres eine wahre Eloge widmet, schildert diesen als „Verkörperung des burgundischen Ideals jener Zeit: Ein Ritter im wahrsten Sinn des Wortes, zeigte er [...] keine Vorliebe für Spiel und Prunk.“157 Wenn Habsburg nochmals auf den „nüchternen Lebensstil“ Chièvres’ hinweist, so bezieht er Petrus Martyrs Attribut modestus nicht wie Tyler nur auf Chièvres’ politisches Vorgehen, sondern auch auf dessen private Lebensführung. Die Aussage Habsburgs, daß „Chièvres ein fähiger Diplomat, ein klarsichtiger und energischer Staatsmann“ war, steht in gutem Einklang mit Sandovals Darstellung. Die „intellektuelle Strenge, die tiefe Gläubigkeit und die humanistische Bildung“, die Habsburg seiner Idealgestalt außerdem attestiert, lassen sich durch die mir bekannten Quellen nicht belegen. Allenfalls läßt sich ein Rückgriff auf A. Varillas feststellen, der an Chièvres neben militärischen Qualitäten auch dessen Bildung und Belesenheit unterstreicht.158 Die Ereignisse im Vorfeld der Emanzipation, an denen Chièvres nicht unbeteiligt war und die zur vorzeitigen Ausschaltung der Regentin führten, sollen hier vorläufig zurückgestellt werden. Alle weiteren Quellen, die Aufschluß über die Persönlichkeit Chièvres’ geben können, stammen aus der Zeit nach Karls Emanzipation und reichen damit über den Lebensabschnitt des Kaisers hinaus, der in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht. Sie haben jedoch Chièvres’ Bild in der Literatur sehr viel stärker geprägt als alle früheren Aussagen und können daher nicht unberücksichtigt bleiben. Aus der Zeit zwischen der Emanzipation (5. Januar 1515) und dem Antritt der ersten Spanienreise (Herbst 1517), der frühen Phase des politischen apprentissage Karls unter seinem Lehrmeister Chièvres, stammen zwei von den bisher 155 Brandi 1964, 40 f. (ohne Quellenangabe). 156 Tyler 1959, 54 f. (unter Übernahme auch der sachlichen Fehler; vgl. oben 209 Anm. 149). 157 Habsburg 1967, 70. 158 Varillas 1691, 11.

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genannten Quellen unabhängige Schriftstücke sehr unterschiedlicher Provenienz, auf deren Berücksichtigung und Auswertung kaum ein späterer Biograph verzichtet hat, zählen sie doch zu den seltenen Zeugnissen, in denen die Verfasser aus eigenem Erleben und unmittelbarer Nähe ihren Eindruck von Chièvres’ Person und seinem Verhältnis zu dem jungen Herzog schildern. Beide Texte haben den weiteren Vorzug, genau datiert zu sein.

Der Bericht des Martin Du Bellay (1515) und seine Rezeption Bei der ersten Quelle handelt es sich um die Schilderung einer Szene, deren Zeuge Martin Du Bellay, in den letzten Junitagen des Jahres 1515 in Den Haag wurde.159 Sie beeindruckte den jungen Franzosen derart, daß er sie später in seinen Mémoires beschrieb. Diesen Text, der in einer Art Grundsatzerklärung Chièvres’ gipfelt, lasse ich hier in vollem Wortlaut folgen, denn nur aus der Kenntnis des Ganzen erklärt sich die Nachwirkung des in seiner Art singulären Augen- und Ohrenzeugenberichts in der biographischen Literatur zu Karl V. Pour vous dire ce que j’apris en ce voyage que feit monseigneur de Vendosme, et de la façon dont estoit instruit ledit prince d’Espagne, le seigneur de Chievres [...] le nourrissoit alórs, encores qu’il n’eust attaint le quinzieme an de son aage, en telle sorte que tous les pacquets qui venoient de toutes provinces luy estoient presentez, encores qu’il fust la nuict, lesquels apres avoir veus, les rapportoit luy mesmes en son conseil, où toutes choses estoyent deliberées en sa presence. Et un jour estant le seigneur de Jenlis demouré ambassadeur pres la personne dudit prince de par le Roy, et moy demouré par commandement de mondit sieur de Vendosme avec ledit sieur de Jenlis, le seigneur de Chievres donnoit à souper audit de Jenlis, où, estans entrez en propos, monsieur de Jenlis dist audit de Chievres qu’il estoit estonné dequoy il donnoit tant de travail à l’esprit de ce jeune prince, veu qu’il avoit le moyen de l’en soulager. Le seigneur de Chievres luy respondit: «Mon cousin, je suis tuteur et curateur de sa jeunesse; je vueil, quand je mourray, qu’il demoure en liberté; car, s’il n’entendoit ses affaires, il faudroit apres mon decez qu’il eust un autre curateur, pour n’avoir entendu ses affaires et n’avoir esté nourry au travail, se reposant tousjours sur autruy.»160 159 Am 24., nach anderen am 31. März 1515 hatte Heinrich von Nassau als Stellvertreter Karls mit Franz I. zu Paris einen Friedens- und Freundschaftsvertrag sowie den Ehevertrag für Karl und Renée de France geschlossen. Am 24. Juni 1515 wurde der Vertrag in Den Haag durch Karl vor einer französischen Gesandtschaft beschworen. Das Itinerar Karls bezeugt dessen Anwesenheit in Den Haag für die Zeit vom 19. Juni bis 9. Juli 1515 (Voyages II 15 f.; ebd. ergänzende Anmerkungen Gachards über die Zeremonien und das Rahmenprogramm vom 24. und 25. Juni). Ein Diner auf Einladung Chièvres’ ist nicht erwähnt, es besteht aber kein Grund zu bezweifeln, daß es an einem der folgenden Tage stattgefunden hat. Du Bellay, ein gebildeter junger Adliger, hatte die militärische Laufbahn eingeschlagen und gehörte seit 1515 zum Hof Franz I.; im gleichen Jahr war er Mitglied der genannten Gesandtschaft unter Leitung des Comte de Vendôme. 160 Du Bellay p. 256–257 P. Die Passage wird vielfach stark gekürzt oder paraphrasiert wiedergegeben; einige Autoren beschränken sich fast vollständig auf Chièvres’ Erklärung.

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Schon Sandoval hat diese Schilderung gekannt und in seiner Historia verwendet.161 Seine Übersetzung ins Spanische folgt dem Text im Wesentlichen, auch Chièvres’ Erklärung ist recht genau wiedergegeben. Allein daß Sandoval die kleine Episode unmittelbar an die oben zitierte Aufzählung von Chièvres’ Tugenden anschließt, läßt erkennen, daß er dessen Erziehungsmethoden durchaus billigt. Seine vorerst günstige Beurteilung des Gouverneurs faßt der Chronist in einem abschließenden Satz zusammen: Consideracción [die Überlegungen, die Chièvres’ Erklärung zugrunde lagen] per cierto honrada y digna de la sangre de este caballero. Varillas, dessen Werk dem Titel nach in erster Linie eine Erziehungsschrift sein soll, sieht in der Einarbeitung der Erzählung (wiederum ohne Quellenangabe) eine Gelegenheit, den vorgeblichen Zweck seiner Ausführungen mit seinem eigentlichen Ziel, dem „Gouverneurslob“, zu verbinden. Die von Du Bellay bezeugte Begebenheit benutzt er nur als Vorlage, in die er eine zweite, wenig glaubhafte Episode einblendet. Durch die Anreicherung mit weiteren phantasievollen Zusätzen wächst die Darstellung auf vier Seiten an,162 wodurch der Autor ihr erhebliches Gewicht verleihen möchte. Zwei Details der ursprünglichen Quelle schmückt Varillas besonders aus, um das erzieherische Geschick seines Protagonisten bei der Einführung des Prinzen in die harte Realität der Regierungspraxis unter Beweis zu stellen. Dabei ersinnt er allerdings Methoden, die aus heutiger Sicht mehr als fragwürdig erscheinen, mit denen er bei seinen Zeitgenossen aber vermutlich auf Verständnis stoßen konnte. Zunächst einmal deutet er Du Bellays Satz tous les pacquets [...] luy estoient presentez, encores qu’il fust la nuict in übertriebener Weise dahingehend aus, daß Karl und selbstverständlich seinen Gouverneur dringende Staatsgeschäfte auch nachts nicht ruhen ließen.163 Bedurfte eine Depesche einer sofortigen Erledigung, weckte Chièvres den Prinzen: jusque-là que s’il dormoit, & qu’elle demandât une prompte expedition, il l’éveilloit & l’engageoit à l’examiner devant luy. Gravierender noch als die übertriebene Darstellung der nächtlichen Ruhestörung erscheint mir das Hinzufügen der beschämenden Befragung des Prinzen – man könnte auch von einem „Kreuzverhör“ sprechen – vor dem versammelten Rat. Angeblich hatte der unerfahrene Prinz zu allen Vorgängen Stellung zu nehmen, ehe die Räte sich äußern durften, wobei Chièvres ihn sofort und so lange korrigiert und getadelt haben soll, bis Karl auf die von seinem Gouverneur beabsichtigte Linie eingeschwenkt war:

161 Sandoval 104. 162 Varillas 1691, 40–43. Das folgende Zitat: 40. 163 Walther (1911, 208) sah in dieser Stelle bereits in der Erzählung Du Bellays eine Übertreibung und wollte „nachts“ eher als „spät abends“ verstanden wissen. Dem möchte ich mich anschließen und tatsächlich „nachts“ eintreffende Kuriere im 16. Jahrhundert eher als Ausnahme betrachten.

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S’il arrivoit au Prince de se tromper dans la maniere qu’il la prenoit ou dans le jugement qu’il en portoit, il en étoit incontinent repris & corrigé par son Gouverneur; & s’il étoit assez heureux pour trouver d’abord le nœud de la difficulté & l’expedient propre pour l’éviter, il n’en étoit pas encore quitte [!] puisqu’il luy faloit de plus appuyer ce qu’il avoit avancé par de bonnes raisons, & répondre pertimment aux objections que Chievres ne manquoit pas à luy faire.164

Ferner soll Chièvres Gedächtnisfehler, die Karl bei Geheimverhandlungen unterliefen, deren Inhalt nicht schriftlich fixiert wurde, vor dem versammelten Gremium scharf gerügt haben.165 Mit seiner zweifellos übertriebenen Darstellung hat Varillas dem Andenken seines Helden keinen guten Dienst erwiesen. Vieles, was Chièvres’ Bild in der Literatur bis ins 20. Jahrhundert getrübt hat, läßt sich auf diese merkwürdige Erziehungsschrift zurückverfolgen, die durch ihre weite Verbreitung und allzu lange gläubige Rezeption größere Nachwirkungen hinterließ, als sie es verdient. Das 18. Jahrhundert schenkte Karl V. wenig Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme bildete die Veröffentlichung von William Robertsons History of the reign of the Emperor Charles V (1769); diese erste ernstzunehmende neuzeitliche Untersuchung zu Karl V. ist allerdings nur sehr bedingt unter die Herrscherbiographien einzuordnen.166 Die Anfänge der eigentlichen Karlsforschung lassen sich auf die 164 Varillas 1691, 40 f. 165 Mit der Einblendung einer zweiten Episode wollte Varillas vermutlich unter Beweis stellen, welche Erfolge Chièvres’ pädagogisches Engagement bereits früh gezeitigt hatte. Leider verliert seine Geschichte durch ein Detail, das er offensichtlich übersehen hatte, von vornherein ihre Glaubwürdigkeit: Varillas erzählt, daß Ludwig XII. eine sehr delikate Angelegenheit, die Karl betraf und höchstes diplomatisches Geschick verlangte, zu verhandeln hatte. Er entsandte einen seiner fähigsten Diplomaten, der Chièvres als Verhandlungspartner zu treffen erwartete und sich stattdessen Karl gegenübersah. Der Gesandte glaubte, leichtes Spiel zu haben, mußte jedoch zu seiner Bestürzung erkennen, daß der junge Erzherzog in der Kunst des Regierens bereits der „fähigste Fürst seiner Zeit“ war und daß die harte Erziehung durch Chièvres ihn zu einem ernstzunehmenden Rivalen des französischen Königs gemacht hatte. Auf die Natur der delikaten Angelegenheit wird nicht näher eingegangen; vermutlich handelte es sich wieder einmal um einen Heiratsvertrag. Gegen die Glaubwürdigkeit spricht die Erwähnung Ludwigs XII.: Der König starb am 1. Januar 1515, also kurz vor der Emanzipation Karls. Ludwig XII., seit längerem kränkelnd, zudem seit August 1514 durch den „Brautraub“ Marys dem burgundischen und dem kaiserlichen Hof nicht eben sonderlich nahestehend (vgl. oben 149 f.), müßte also etwa zwischen Ende 1513 und Sommer 1514 einen seiner fähigsten Diplomaten mit einem unmündigen Prinzen haben verhandeln lassen: eine Vorstellung, die ans Unwahrscheinliche grenzt und den meisten Aussagen über Karls Auftreten in dieser Zeit eklatant widerspricht. 166 Dazu Brandi 1941, 22: „Die Darstellung ist fast annalistisch mit wenigen eingestreuten Charakteristiken der vorzüglich handelnden Personen; das Ganze mehr zeitgeschichtlich als biographisch [...]“.

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Mitte des 19. Jahrhunderts datieren. Die Anstöße dazu gingen von dem noch jungen Königreich Belgien aus, das erst kurz zuvor seine staatliche Selbständigkeit gewonnen hatte167 und dessen Staatsgebiet den Teil Burgunds einschließt, der Geburtsland und Jugendheimat Karls V. war. Die neue Eigenständigkeit und Unabhängigkeit forderten geradezu zur intensiven Beschäftigung mit der eigenen Geschichte heraus, was durch den Zugang zu den burgundischen Archiven erleichtert, ja beflügelt wurde. In kurzer Folge, z.T. gleichzeitig arbeitend, traten zahlreiche Historiker auf den Plan,168 die sich durch die Erschließung der archivalischen Materialien sowie deren historiographische Umsetzung einen Namen machten und wesentliche Fundamente für die mitteleuropäische Tradition der Karlsforschung legten. Nachdem zuvor vor allem die spanischen und italienischen Quellen das Bild bestimmt hatten, konnte sich die Forschung von nun an dem „burgundischen“ Karl und seinem Umfeld sowie der bedeutenden politischen und kulturellen Rolle Belgiens in der habsburgisch-burgundischen Epoche zuwenden. Dies geschah nicht ohne nationalen Stolz auf einen der größten Söhne des Landes.169 Ungeachtet der zahlreichen neuerschlossenen burgundischen Quellen erschien etlichen der hier berücksichtigten belgischen Historiker die Erzählung Du Bellays wichtig und charakteristisch genug, um sie in ihre biographischen und historiographischen Werke aufzunehmen, zumal sie, ebenso wie das noch zu erörternde zweite Dokument, aus dem Zeitraum zwischen 1515 und 1517 stammt, für den es an Aussagen zu Chièvres fehlt – bevor die Ankunft Karls und seiner Begleitung in Spanien dort eine Flut von Berichten auslöste.

167 Im Anschluß an die Pariser Julirevolution kam es 1830 vor allem in Brüssel zu Aufständen. Ziel war die Herauslösung Belgiens aus dem Königreich der Vereinigten Niederlande, das 1815 durch den Wiener Kongreß geschaffen worden war. Der katholische, frankophone Süden fühlte sich durch den protestantischen, niederländischen Norden unterdrückt. Nach der Unabhängigkeitserklärung von 1830 sicherten die europäischen Großmächte Belgien Selbständigkeit und „ewige Neutralität“ zu (1831). Eine endgültige Regelung wurde 1839 im Londoner Vertrag festgeschrieben. 168 So Gachard, Le Glay, Juste, Henne, van Lettenhove, Baron Reiffenberg, Pirenne und Gossart. 1942 (!) griff Dansaert die belgische Tradition wieder auf; von Cauchies wird sie auch im 21. Jahrhundert in überaus würdiger Weise fortgeführt. 169 Juste 1858, IX betont ausdrücklich, daß er mit seiner Arbeit ein nationales Ziel verfolge: „mes efforts dirigés avec persévérance vers un but national.“ Auch in dem Projekt der umfangreichen Biographie nationale de Belgique in den 1860er und 1870er Jahren darf man ohne Zweifel ein but national sehen. Daß der Einfluß übersteigerten Nationalbewußtseins selbst auf wissenschaftliche Arbeiten sich nicht auf junge Staaten wie Belgien beschränkte, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen darstellte, wurde bereits angesprochen. Vgl. oben 205 f.

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Th. Juste bezieht die Episode nach Du Bellays Darstellung in seine sog. Etude ein,170 wobei er Chièvres’ Erklärung wörtlich zitiert. Einen besonderen Akzent setzt er mit der Bemerkung, daß Karl sich auch nach der Emanzipation freiwillig weiterhin Chièvres’ „Gouvernement“ unterordnete171 und „noch nicht einmal im Traum daran dachte“, sich dessen Einfluß zu entziehen. Chièvres ist also hier noch der durch Erfahrung und kraft seiner Persönlichkeit Dominierende; der junge Herzog, der Würde und frühreifen Ernst ausstrahlt, erkennt dies und will in aller Bescheidenheit abwarten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Vorerst gilt für ihn noch das Motto Nondum. Justes harmonisierende Darstellung läßt beide Beteiligten und das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen in günstigem Licht erscheinen. Anders als bei Varillas, der den Prinzen eher passiv duldend Chièvres’ Erziehungspraktiken ausgesetzt erscheinen läßt, wird Karl bei Juste zur eigentlich beherrschenden Figur der Szene: Nominell ist er bereits Chièvres’ Gebieter, aus frühreifer Klugheit erkennt er jedoch dessen vorläufige Überlegenheit an und bestimmt selbst den Zeitpunkt seiner Emanzipation auch von dieser Bevormundung. Damit bringt Juste indirekt zum Ausdruck, daß von diesem jungen Fürsten in der Zukunft Großes zu erwarten war. A. Henne maß der kleinen Erzählung genügend Bedeutung und Aussagekraft bei, um sie sogar im Rahmen seiner großangelegten Landesgeschichte Belgiens unter der Herrschaft Karls V.172 zumindest anklingen zu lassen und ihr – durch eine geringfügige Manipulation der Quelle – eine zukunftsweisende Tendenz zu verleihen: Indem er auf den anekdotischen Rahmen der Quelle verzichtet, konzentriert sich Henne ganz auf Chièvres’ Worte, die damit an Gewicht gewinnen. Zur Hinführung genügt ihm ein einziger Satz: „De bonne heure, il l’initia aux affaires et travailla à développer son jugement.“ Durch eine Umstellung im Du Bellayschen Text gelingt es Henne dann, das Erziehungsziel, das Chièvres für Karl verfolgte, noch deutlicher herauszuarbeiten: „Je veux, quand je mourray, disait-il, qu’il demeure en liberté, car s’il n’entendoit ses affaires et n’estoit nourri au travail, il faudroit, se reposant toujours sur autruy, qu’il eust un autre curateur.“ 170 Juste 1858, 73. 171 Ebd.: „Cet assujettissement, auquel le jeune prince se pliait volontiers [...]“; und wenige Zeilen weiter: „cette dépendance volontaire“. 172 In der unglaublich kurzen Zeitspanne zwischen 1858 und 1860 veröffentlichte Henne mit der zehnbändigen Histoire de la Belgique sous le règne de Charles-Quint die „gründlichste aller Landesgeschichten dieser Zeit“ (Brandi 1941, 23). Schon bald nicht mehr zufrieden mit dem Ergebnis seiner Arbeit, legte Henne bereits 1865 den 1. Band einer nun dreibändigen, völlig neuen Version vor, der für diese Arbeit herangezogen wurde. Wie er im Vorwort des 1. Bandes betont, handelt es sich nicht um eine komprimierte Fassung des vorhergehenden Werkes: Henne wollte neue Akzente setzen – nicht allein durch die Berücksichtigung weiterer Quellen, sondern vor allem durch Einbeziehung der sozialen Komponente des Milieus und der Anzeichen des geistigen wie des materiellen Wandels am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Diesem neuen, über die reinen Fakten hinaus erhellenden Konzept fügt sich die Berücksichtigung der von Du Bellay dargestellten Episode in dem großen Werk nahtlos ein.

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Mit Befriedigung kann Henne anschließend konstatieren, daß Chièvres das angestrebte Ziel erreichte: „Ce but, de Chièvres l’atteignit: comme il avait désiré, il n’eut pas de successeur absolu dans la direction suprême des affaires de l’État.“173 Hennes Bezugnahme auf Du Bellay ist gerade unter diesem Aspekt ganz bewußt erfolgt: Chièvres, der den jungen Fürsten zur Unabhängigkeit des Urteils und zur Selbständigkeit des Handelns erziehen wollte, erscheint hier als verantwortungsbewußte, vorausschauende und für den Herrscher und das Land Vorsorge tragende Persönlichkeit. Er weiß um die Bedeutung von Kontinuität in der Politik gerade zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme durch den jungen Karl. Diese Kontinuität könnte verlorengehen, wenn neue Berater hinzugezogen werden müßten. Der Belgier Henne arbeitet hier zweifellos an einer Revision des einseitigen Bildes von Chièvres’ Persönlichkeit, wie es sich besonders unter dem Eindruck der spanischen Quellen zu den Jahren 1517–1519 hatte entwickeln können, ohne daß sich eine korrigierende Gegenstimme zu Wort gemeldet hätte. In die große Biographie nationale, die ab 1866 veröffentlicht wurde, hat Du Bellays Bericht sogar zweimal Aufnahme gefunden. In stark verkürzter Form hat L. Gachard ihn in seinem umfangreichen Artikel zu Karl V. verwendet,174 um zu dokumentieren, mit welcher Emsigkeit sich der Herzog unmittelbar nach seiner Emanzipation den Staatsgeschäften widmete. Der Name Chièvres fällt in diesem Zusammenhang nicht; die beherrschende Rolle, die der Gouverneur im Leben des Heranwachsenden und noch des jungen Königs spielte, tritt in der Darstellung Gachards deutlich zurück. Für den Artikel zu Guillaume de Croy selbst zeichnet der General und Minister Gustave Guillaume verantwortlich.175 Chièvres ist porträtiert als außerordentlich fähiger Soldat und Offizier, als hervorragender Diplomat und Politiker, der sich unermüdlich für einen friedlichen Ausgleich zwischen den Häusern von Frankreich und Österreich einsetzte und danach trachtete, Karl zu wahrer Größe zu führen und das Wohl des Landes zu fördern. Um die Erzählung Du Bellays einzuführen, bedient Guillaume sich des oben zitierten einleitenden Satzes von Henne: „De bonne heure, il l’initia aux affaires...“. Es folgt ein knappes Resümee des von Du Bellay beobachteten Geschehens, ohne Chièvres’ erläuternde Worte. Dennoch wird deutlich, daß es sich um die Schilderung einer erzieherischen Maßnahme des Gouverneurs handelt. Insgesamt betont Guillaume weniger Chièvres’ Einfluß auf die Persönlichkeit Karls als vielmehr auf dessen Politik. H. Baumgarten, E. Gossart und A. Walther behandeln den Text Du Bellays ebenfalls in ihren Karls-Biographien und bedienen sich dabei einer Gegenüberstellung des Textes mit dem zweiten hier zu untersuchenden Dokument – dem bereits kurz erwähnten 173 Alle drei Zitate: Henne 1865, 181. 174 Gachard 1872, 527. 175 Guillaume 1873. Die Literaturangaben Guillaumes sind sehr dürftig: Neben archivalischen Notizen Gachards und der (falsch zitierten) belgischen Geschichte Hennes sind verschiedene ältere Werke genannt (Varillas, Brantôme, Robertson). Einige sachliche Fehler, die dem Verfasser unterlaufen sind, lassen sich dadurch erklären; andere konnte er noch nicht vermeiden, da das damals vorliegende Quellenmaterial für eine korrekte Darstellung nicht ausreichte. Auf die letztgenannte Kategorie von Irrtümern, die auch in den Werken namhafter Historiker auftauchen, wird von Fall zu Fall eingegangen.

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Memorandum des Alonso Manrique de Lara, Bischof von Badajoz. Daher soll auf die Schlüsse, die sie aus dem Vergleich ziehen, erst nach der Vorstellung dieses Textes eingegangen werden. Dem jungen Flamen R. Delfosse ist der Bericht du Bellays nur eine Fußnote in seiner Dissertation wert.176 Darin behauptet der Autor, es handele sich um ein von Chièvres selbst ausgestelltes Zeugnis: Tatsächlich habe der Gouverneur Karl oft die Wahrheit vorenthalten und ihn getäuscht. G. Dansaert als Chièvres’ Biograph hingegen übernimmt Du Bellay in voller Länge.177 Daß er selbst Chièvres’ beherrschende Position und dessen Methode, den jungen Herzog mit den Regierungsgeschäften vertraut zu machen, unter den damals gegebenen Umständen für durchaus angemessen hält, bringt er indirekt zum Ausdruck, indem er den Quellentext als Ausgangspunkt einer „Historikerschelte“ benutzt: Vor allem der seinerzeit jüngeren Forschergeneration wirft er mangelndes Verständnis für die Zeitumstände und Machtverhältnisse vor,178 wenn sie sich kritisch zu Chièvres’ fortdauerndem Einfluß auf Karl noch nach dessen Emanzipation und zu der stark ausgebauten Machtposition des nunmehrigen premier chambellan äußern.179 Dansaert hält dagegen, daß Chièvres als politischer Lehrmeister des unerfahrenen jungen Herrschers unter seinen eigenen Zeitgenossen auf Zustimmung rechnen konnte und daß die Bevölkerung mit Vertrauen in die Zukunft blickte, seitdem die eigentliche Macht in den Händen eines Ministers lag, dessen politische Neigungen den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes entgegenkamen.180 Daß Chièvres’ Dominanz über den jungen Herzog auch zu seiner Zeit keineswegs 176 Delfosse 1923, 45. 177 Dansaert 1942, 129 f. 178 Ebd. 129: „Les historiens ont beaucoup épilogué au sujet de l’émancipation de Charles d’Autriche et de la puissance acquise au cours des temps par son ancien gouverneur; [...] ils ont surtout oublié de consulter les avis et les sentiments des contemporains, ce qui pourtant n’était point à dédaigner.“ 179 Ebd.: „Dès qu’il [Charles] fût sorti de tutelle, la prépondérance du seigneur de Chièvres s’était ouvertement manifestée dans la composition du Conseil, qui comptait quatre membres de la famille de Croy.“ (Zit. ohne Nachweis). Da Dansaert hier die Zeitgebundenheit historischen Urteilens anspricht, muß darauf hingewiesen werden, daß auch er selbst ihr unterworfen war: er schrieb die Biographie, als Belgien und große Teile Frankreichs unter deutscher Besatzung standen. Über die näheren Umstände der Entstehung des Werkes ist mir nichts bekannt; die Vermutung liegt jedoch nahe, daß Dansaert ein „but national“ verfolgte, als er einen „Belgier“, der eine politische Hinwendung zu Frankreich anstrebte und einer prohabsburgischen, d.h. hier: pro-österreichischen Politik entgegenarbeitete, zum Gegenstand seiner Forschungsarbeit machte. In Frankreich wurde Dansaerts Werk offenbar in diesem Sinne verstanden und sein Verfasser mit dem Prix Catenacci der Académie Française geehrt. 180 Dansaert 1942, 129: „Les populations auguraient bien de l’avenir en voyant le pouvoir aux mains d’un ministre, dont le système politique, fondé sur des sympathies naturelles, répondait à leurs désirs et à leurs besoins.“ (Zit. ohne Nachweis). Diese Einschätzung der „Volksmeinung“ kann sich nur auf die Haltung der Stände beziehen, die gemeinsam mit

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ungeteilte Zustimmung fand, übergeht Dansaert hier weitgehend. Richtig ist allerdings, wenn er betont, daß es in jener Epoche nicht als Zeichen von Schwäche, sondern eher von Klugheit galt, wenn ein Junger, Unerfahrener auf den Rat Älterer hörte.181 Die Kritiker Chièvres’ unter den neueren Historikern nennt Dansaert nicht namentlich; lobend erwähnt wird dagegen Gossart, in dessen Werken Dansaert wahres Verständnis für die Situation erkennt, in der Karl sich Chièvres’ Einfluß unterordnete. Mit einer gewissen Verbitterung erfüllt es Dansaert, daß Chièvres im Ausland bisher mehr Lob und Anerkennung gezollt wurde als im eigenen Land.182 Es ist bezeichnend für die Bedeutung, die Karls Biographen dem Text Du Bellays beimessen, daß am (vorläufigen) Ende der Geschichte dieser Quellenrezeption A. Kohlers Erwähnung der Episode in seiner Karlsbiographie steht: „Als Sechzehnjähriger nahm Karl an den politischen Entscheidungen Anteil; Chièvres band ihn in diese mit ein und erzog ihn zu Regelmäßigkeit und Pflichterfüllung.”183 Damit führt Kohler den kurzen Abschnitt ein, in welchem er den inhaltlichen Kern der Erzählung zusammenfaßt und den er mit einer (gestrafften) Fassung der Worte des Erziehers beschließt. Mit dieser weitgehenden Lösung von dem anekdotischen Rahmen und der Konzentration auf das Wesentliche gelingt es Kohler, einen Einblick in die Persönlichkeit Chièvres’ und dessen Motive zu vermitteln, wie es unter den früheren Rezipienten zuerst Henne versucht hatte: Regelmäßigkeit und Pflichterfüllung zeichneten Chièvres selbst aus. Diese Tugenden wollte er dem jungen Herzog anerziehen, weil er sie als unerläßliche Voraussetzungen für verantwortungsbewußtes Regieren erkannt hatte. Mit dieser Interpretation der Quelle löst Kohler sie auch aus ihrer Zeitgebundenheit und deckt die allgemeingültige Aussage auf, die in der spontanen Erzählung Du Bellays verborgen ist. Chièvres die Entlassung Karls aus der Vormundschaft Margaretes betrieben hatten. Ihnen ging es wie Chièvres um eine Durchsetzung nationaler Belange gegenüber den dynastischen Interessen der Regentin. Der Begriff „national“ ist hier mit gebührender Vorsicht aufzufassen. Auf das damalige Verständnis von „Nation“ wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitts näher eingegangen. 181 In diesem Zusammenhang sei an den Beinamen Croÿ-conseil erinnert, den Olivier de La Marche als keineswegs abschätzig aufzufassendes Epitheton für Karls Vater Philipp kreierte. Vgl. oben 60. Walther 1911, 207 übersetzt eine entsprechende, auf Karl bezogene Textstelle aus Laurent Vitals Relation du premier voyage (in: Voyages III 266): Zum Glück sei der junge König [Karl] nicht wie Jerobeam, der, weil er die Weisen und Alten verachtete und den Jungen und Unerfahrenen anhing, aus seinem Königreich verjagt wurde. Das Zitat bezieht sich auf III Rg 12, 8–18. Allerdings hat Vital offensichtlich die Namen zweier Könige verwechselt: Es ist Rehabeam, der verjagt wird; Jerobeam ist sein Gegner. 182 Dansaert 1942, 130; das zur Illustration verwendete Beispiel ist allerdings nicht sehr glücklich gewählt. F. Anselme kommentierte in seinem Palais de la Gloire (1664) Du Bellays Erzählung folgendermaßen: Pleut à Dieu, dit-il, que tous les gouverneurs des Roys et des princes imitassent l’exemple de ce grand personnage [Chièvres]; l’utilité qui en viendroit à leur Estat et au Public rendroit leur nom recommandable et en vénération à la postérité. Das Werk ist zwar vor Varillas’ Erziehungsschrift erschienen, stammt jedoch aus dem gleichen geistig-politischen Umfeld, dem Frankreich Ludwigs XIV. 183 Kohler 1999, 53.

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Das Memorandum des Alonso Manrique de Lara (1516) und seine Rezeption Der zweite vielfach ausgewertete Quellentext, der eine Art Brückenfunktion zwischen den früheren und den späteren spanischen Berichten erfüllt, ist am 8. März 1516 in den Niederlanden von einem Spanier verfaßt worden. Es handelt sich dabei um das Memorandum des Alonso Manrique de Lara, Bischof von Badajoz, das an Kardinal Ximénes de Cisneros gerichtet ist.184 Der Verfasser des Memorandums war einer jener Kastilier, die als enge Vertraute Philipps des Schönen das Land nach dessen Tod verlassen hatten und in die Niederlande geflüchtet waren. Seit 1509 gehörte er zum Hofe Karls,185 ihm werden auch enge Verbindungen zu dem umstrittenen Diplomaten don Juan Manuel nachgesagt. Die Denkschrift des Bischofs ist von erheblichem Umfang; aus der Vielzahl der Punkte, zu denen der Spanier darin Stellung nimmt, erklärt sich, daß der Text in der Folge unter vielfältigen Aspekten ausgewertet wurde.186 Mit dem Schriftstück liegt die wohlüberlegte Komposition eines gebildeten Geistlichen vor, der den Regenten nicht nur sachlich informieren will, sondern diesem auch aus der Kenntnis der niederländischen Verhältnisse heraus – in gebührend respektvolle Floskeln eingekleidet – Ratschläge für das weitere politische Vorgehen erteilt und der nicht zuletzt Ximénes die eigenen Fähigkeiten und Verdienste in Erinnerung zu rufen wünscht, die den Bischof für besondere Ämter gerade im Hinblick auf die bevorstehenden gravierenden Veränderungen geeignet erscheinen lassen. Es war dann Karl selbst,

184 Archivo General de Simancas, Estado, Papeles de Flandes, legajo 496, fol. 14. Edition: Gachard 1845, 23–35; nicht in CDCV; frz. Übers. Gachard 1845, 6–23 und wieder bei Madariaga 1969, 305–319; ausführl. dt. Auszüge (Übers. nach Madariaga) in QSKV. 32–41 Nr. 3; engl. Regest: Bergenroth 1866, 281–283 Nr. 246. Kardinal Ximénes, Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien, übte seit dem Tode Ferdinands von Aragon die Regentschaft über Kastilien aus, wie es der König testamentarisch verfügt hatte. Dieses Amt als Stellvertreter Karls sollte er bis zur Ankunft des jungen Königs in Spanien wahrnehmen. Mit dem Amt des Erzbischofs von Toledo war seit den Zeiten der Katholischen Könige das hohe politische Amt des Großkanzlers von Kastilien verbunden, das Ximénes also schon vor seiner Regentschaft innehatte; vgl. Merriman 1962, 33 Anm. 4. Die Regentschaft über Aragon hatte Ferdinand seinem Bastard Alonso d’Aragon, Erzbischof von Zaragoza, anvertraut. 185 Manrique war dort mit Zustimmung Maximilians aufgenommen worden, der Margarete aufgetragen hatte, das Mitglied einer der angesehensten kastilischen Familien freundlich zu empfangen und an Beratungen über spanische Angelegenheiten teilnehmen zu lassen. Manrique bezog seit dem 11. März 1511 eine Pension als Rat und Erster Kaplan des Prinzen Karl (nach Walther 1911, 112 belegt in Archives du Nord, B 2237, fol. 148). 186 Da Manrique auch die Mängel in der Erziehung Karls anspricht, ist der Text bereits einmal zitiert worden. Vgl. oben 179.

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der sich für Manrique verwendete: Noch 1516 wurde er Bischof von Cordoba, später Erzbischof von Sevilla und zum Kardinal erhoben.187 Aus dem Dokument führe ich hier – in der deutschen Textfassung A. Kohlers – die Passagen an, die Chièvres’ Person, dessen Einfluß auf Karl, das Umfeld des Hofes und die von Chièvres betriebene Frankreichpolitik des Jahres 1516 behandeln. Seine Hoheit [Karl] ist in einem Grade gelenkt, daß sie nicht imstande ist, etwas anderes zu tun oder zu sagen als man ihr einredet oder vorsagt. Sie hört sehr auf ihren Rat, demgegenüber sie eine große Unterwürfigkeit an den Tag legt. Da sie 17 Jahre alt ist, möchten wir aber, daß sie von sich aus reden und handeln möge, ohne es deshalb zu unterlassen, ihren Rat von den Geschäften in Kenntnis zu setzen und sie nach dessen Ratschlägen zu erledigen. [...] Die Persönlichkeit, die bestimmt und in deren Hand in jeder Hinsicht die Erledigung aller Angelegenheiten liegt, ist der Herr von Chièvres, ein maßvoller und zugänglicher Mann. Aber es ist für den Herrn Kardinal gut zu wissen, daß die Leidenschaft, die vor allem die Leute hier beherrscht, die Habsucht ist. Denn bei allen Ständen, wie fromm man auch sein mag, betrachtet man dies nicht als Sünde, nicht einmal als einen Makel. Selbst der Kanzler von Burgund [Jean le Sauvage; A.S.], obwohl geschickt in seiner Funktion und eine ehrenhafte Person, ist von diesem Fehler nicht ganz ausgenommen [...] | Der Herr von Chièvres, der, wie oben gesagt wurde, die führende Persönlichkeit in der Regierung ist, ist väterlicherseits und mütterlicherseits gebürtiger Franzose, und alle anderen, die derzeit an der Führung der Geschäfte teilhaben, sind ebenfalls Franzosen oder sind dermaßen den Franzosen zugetan, daß es auf dasselbe herauskommt. Sie sorgen dafür, daß der Prinz sich dem König von Frankreich sehr unterlegen fühlt; das geht so weit, daß er ihm unterwürfig schreibt und am Ende seiner Briefe „Ihr sehr ergebener Diener und Vasall“ setzt. Die Abmachungen, die man mit dieser Krone getroffen hat, waren [...] wenig ehrenvoll. [...] Es war zweifellos von Wichtigkeit, daß diese beiden Fürsten übereinstimmen, da sie [...] als die mächtigsten Fürsten der Christenheit gemeinsam sehr viel Gutes bringen und ihre Macht über die Ungläubigen ausdehnen können. Immerhin denke ich nicht, daß sie sich lange gut verstehen können, denn die Franzosen halten sich, mit Respekt gesagt, weder an Wahrheit noch an Freundschaft, am wenigsten gegenüber dem Prinzen, unseren [!] Herrn, wegen der Eifersucht, daß er ein größerer und mächtigerer Herrscher ist als ihr Herr.188

187 Petrus Martyr, epist. 576 (p. 560 W., 17.8.1516): rex creavit. Walther weist allerdings 1911, 152 Anm. 7 auf einen Brief hin, nach dem Ximénes selbst, in Anerkennung seiner Verdienste, die Ernennung Manriques zum Bischof von Cordoba erwirkt hat. 188 QSKV. 32. 34 f. Zu diesem Zeitpunkt standen die Verhandlungen für den Vertrag von Noyon an, der am 13. August 1516 unterzeichnet wurde. Die Interessen Karls und der Niederlande vertrat Chièvres als Leiter der Delegation. Dieser Friedens- und Heiratsvertrag (für Karl und die einjährige Louise von Frankreich) konnte von vornherein als lettre morte gelten, sicherte aber für die schwierige Phase der Herrschaftsübernahme Karls in Spanien zunächst den Frieden. Eine knappe Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Vertrages bietet Kohler 1999, 60 f. Dort wird auch die Position Manriques zu dem Vertrag erläutert.

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Diese Textstellen sind bei den späteren Biographen Karls auf breite Resonanz gestoßen, und ihr Nachhall läßt sich in der Literatur bis in die Gegenwart verfolgen. Dies trifft vor allem auf die folgenden vier Gesichtspunkte zu, denen Manriques Kritik gilt: auf die Unselbständigkeit Karls noch zu diesem Zeitpunkt und seine (nach Kohlers Übersetzung) „unterwürfige“ Abhängigkeit von seinem Rat, Chièvres, die ihn als neuen Croÿ-conseil erscheinen läßt; auf den starken politischen Einfluß der „französischen“ Partei um Chièvres am burgundischen Hof; auf das allzu große Vertrauen, das in Abmachungen mit Frankreich, einen erwiesenermaßen unzuverlässigen Vertragspartner, gesetzt wird, sowie auf die Habgier, die Manrique zufolge alle Niederländer beherrscht.189 Unter den Biographen Karls ist Th. Juste der erste, der das Memorandum in sein Werk einbezieht,190 obwohl er die Ausführungen des Spaniers für insgesamt übertrieben hält. Juste erscheinen die Informationen, wie sie aus spanischer Sicht mitgeteilt wurden, trotz seiner Vorbehalte so interessant, daß er in französischer Übersetzung längere Textpassagen wiedergibt, die im wesentlichen mit den hier zitierten korrespondieren. Er kommentiert die Angaben Manriques nicht, sondern setzt allein durch die Auswahl der Zitate Akzente und überläßt es dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen. Die folgenden Erläuterungen zu den von Juste ausgewählten Passagen müssen also dessen eigene Stellungnahme ersetzen. Gerade in Verbindung mit dieser ersten Verwertung der Quelle bietet es sich an, die Sicht und Absicht Manriques vergleichend in die Interpretation einzubeziehen. Es ist auch sinnvoll, bereits an dieser Stelle auf einige Fakten und Begriffe klärend einzugehen, die in Manriques Text von Bedeutung sind, deren unkommentierte Verwendung durch einige spätere Autoren jedoch zu Mißverständnissen geführt hat. Durch die Klarstellung schon im Vorfeld hoffe ich den Blick freier zu machen für die tatsächlichen Spuren, die das Memorandum hinterlassen hat. Am Anfang seiner Textauswahl zitiert Juste Manriques Urteil über den Charakter und das Verhalten des Prinzen. Daß der belgische Historiker in dem Vertrauen, das Karl in Chièvres setzte, ein Zeichen der Klugheit erkennen will, wurde bereits anhand seiner Interpretation der Erzählung Du Bellays aufgezeigt. Ganz dieser Interpretationslinie folgt seine Übersetzung der kritischen Äußerung Manriques zu Karls Abhängigkeit von Chièvres (90): „Il écoute beaucoup son conseil auquel il montre une grande déférence.“ Wo A. Kohler von „Unterwürfigkeit“ spricht, wählt Juste mit „déférence“ ein Wort, das seiner eigenen Einschätzung des Vertrauensverhältnisses eher entspricht, weil es in erster Linie achtungsvolle Ehrerbietung ausdrückt.191 189 In seinen weiteren Ausführungen klagt Manrique zudem über die verbreitete Unsitte des Ämterkaufs, die nicht nur unter den Niederländern, sondern auch unter den Spaniern am Hofe um sich gegriffen hatte. Vgl. QSKV. 33. 190 Juste 1858, 89–91 und 92 Anm. 1. 191 Kohlers Formulierung steht aber dem Original (das mir erst unmittelbar vor der Drucklegung dieser Arbeit zugänglich wurde) näher (Gachard 1845, 23: sigue mucho á su consejo y esta muy s u j e t o á él). Dieses Beispiel illustriert die zusätzlich auftretenden Probleme, wenn Texte nur in – stets interpretierenden – Übersetzungen zugänglich sind.

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Justes Auswahl der Textstellen aus dem Memorandum, die sich auf das Verhältnis zu Frankreich beziehen, läßt auf ein gewisses Verständnis für die vehementen Äußerungen des Bischofs schließen: Nicht gegen ein friedliches Miteinander der beiden mächtigen Nachbarn wendet sich Manrique, sondern als Spanier ist er in seinem Stolz zutiefst verletzt, weil sein junger König nicht die gebührende Anerkennung als ebenbürtiger Vertragspartner erfährt und stattdessen wie der „untertänigste Diener und Vasall“ Franz I. behandelt wird, als der er selbst seine Briefe unterzeichnet. Manrique, der mit den noch weithin intakten feudalen Strukturen Mitteleuropas wenig vertraut war, übersieht in seiner beißenden Kritik, daß Karl zu diesem Zeitpunkt de facto noch Erster Kronvasall Frankreichs war wie sein Vater Philipp vor ihm.192 Die herabwürdigende Behandlung Karls durch die französischen Botschafter gipfelt nach Manriques Auffassung in dem Vordringen der Diplomaten bis in die Privatgemächer des Prinzen, wo sie dem Lever und Coucher beiwohnten, als seien sie Mitglieder des Haushalts. Eine Vorwegnahme des Lever im Stile Ludwigs XIV.? Dem Spanier erschienen derartige Sitten ebenso verdächtig wie peinlich. Juste zitiert dazu eine Passage, die in Kohlers gekürzter Fassung nicht enthalten ist: Dans cette cour, on craint et on aime les Français, et il n’y a pour eux d’autre pays au monde que la France. Cela va jusqu’au point, et c’est une chose bien douloureuse à voir, que l’ambassadeur de France n’est pas considéré et traité comme ambassadeur, mais comme s’il était le chambellan du prince et avait charge d’assister à son lever et à son coucher; il ne quitte pas plus la chambre que ceux qui sont attachés à la personne du prince.193 Die für Karl so „wenig ehrenvollen“ Abkommen mit der französischen Krone hatte bekanntermaßen Chièvres ausgehandelt. Ihm, der nach Manrique von Geburt und Abstammung Franzose ist und den am Hof nur Franzosen oder zumindest Frankophile umgeben, schreibt der Bischof die Schuld an der unterwürfigen Haltung des Prinzen gegenüber Frankreich zu. Es ist dieser Franzose, der die Richtung der Politik bestimmt. Mit einiger Verwunderung registriert man, daß Juste an dieser Stelle nicht wenigstens in einer Fußnote darauf hinweist, daß Chièvres nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts keineswegs Franzose war: Chièvres war Burgunder.194 Seine Familie stammte zwar nicht 192 Das gleiche Unverständnis für die aus feudalen Beziehungen erwachsenen Verhaltens- und Ausdrucksformen zeigte Juana, als sie 1501 durch ihre abweisende Haltung den französischen Hof brüskierte (vgl. oben 74). Zu den spanischen Verhältnissen zur Zeit der Katholischen Könige und während der ersten Regierungsjahre Karls sehr gründlich und aufschlußreich Konetzke 1931, bes. 219. 222; ders. 1932/33. Spanien hatte „den raschen Übergang aus den Wirren der Feudalzeit zum modernen Staatswesen“(Konetzke) in erster Linie der vorausschauenden Klugheit und Energie Königin Isabellas zu verdanken, die sich auch der Unterstützung der unterworfenen maurischen Bevölkerung versicherte, um ein starkes Königtum gegen die Macht des Adels zu behaupten. 193 Juste 1858, 90 f. 194 Die Picardie gehörte zur Zeit von Chièvres’ Geburt zum Herrschaftsbereich Philipps des Guten von Burgund, der sich 1435 von der Lehnsabhängigkeit von der französischen Krone gelöst hatte (1. Vertrag von Arras). Mit der Niederlage Burgunds und dem Tod Karls des Kühnen fiel die Picardie an Frankreich, was 1482 durch den 2. Friedensvertrag von Arras festgeschrieben wurde (s. oben 58). In diesem Zusammenhang hat der sonst

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aus dem alten Herzogtum Burgund, jedoch wie zahlreiche der hochadligen Geschlechter aus dem „Zwischenreich Burgund“, das sich zwischen 1363 und 1477 im deutsch-französischen Grenzgebiet herausgebildet hatte. Durch ihre zahlreichen Streubesitzungen waren die Adligen der französischen Krone wie dem Reich gleichermaßen lehnspflichtig. Ihrer Sprache und ihrer Lebensform nach gehörten sie allerdings eindeutig dem französischen Kulturkreis an: Dies waren während des Mittelalters und noch zu Beginn der Neuzeit die entscheidenden Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer „Kulturnation“. Genau dies ist die Sichtweise Manriques, wenn er Chièvres einen Franzosen nennt. Erst mit der Herausbildung und Konsolidierung der Nationalstaaten erfuhr der Begriff der Nation einen Bedeutungswandel hin zum „Staatsvolk“. Ist also im Jahre 1516 die Aussage, daß Chièvres Franzose sei, nicht anfechtbar, wenn auch die Bezeichnung „Burgunder“ treffender gewesen wäre, so hat ihre unkommentierte Übernahme im 19. Jahrhundert und die Weitergabe noch bis ins 20. Jahrhundert (Dansaert) zweifellos Verwirrung und Unverständnis hervorgerufen, da sich für den modernen Leser damit die Vorstellung verbindet, daß Chièvres französischer Staatsbürger gewesen sei.195 Juste scheint dieser Wandel des Verständnisses von Nation nicht bewußt gewesen zu sein, obwohl er in den frühen Jahren der belgischen „Nationwerdung“ lebte und schrieb. Er muß sogar davon überzeugt gewesen sein, daß Chièvres aus Frankreich stammte, denn schon in einem früheren Zusammenhang heißt es: „la régence serait exercée par Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, né en France“.196 Er scheint auch keinen Widerspruch darin gesehen zu haben, daß Maximilian, der aus seinem Mißtrauen gegenüber dem „Erzfeind“ Frankreich nie ein Hehl machte und sich nur auf kurzzeitige Zweckbündnisse mit dem Nachbarn einließ, ausgerechnet einen Franzosen zum Erzieher seines Thronerben berufen haben sollte. Nicht unwesentlich erscheint mir, daß Juste darauf verzichtet, die einzige positive Bemerkung Manriques zum Charakter des Gouverneurs zu zitieren, die in der deutschen Fassung lautet: der Herr von Chièvres, ein maßvoller und zugänglicher Mann197 – wobei die Wortwahl des Bischofs stark an die des Petrus Martyr erinnert, der Chièvres schon 1513 als modestus et temperans charakterisiert hatte. Juste hat möglicherweise diese Eigenschaften für unvereinbar mit dem Gesamteindruck gehalten, den Manrique von der Person des Gouverneurs vermittelt, und ist der Klärung des Widerspruchs nicht nachgegangen. Dem Vorwurf der Habgier und des Ämterhandels – zumal Manrique ihn nicht gegen Chièvres, sondern gegen alle Bewohner der Niederlande einschließlich des Kanzlers Jean le Sauvage richtet – mißt Juste offenbar so wenig Bedeutung bei, daß ihm eine Fußnote zur Erwähumstrittene Varillas 1691, 3 f. auf eine Tatsache hingewiesen, die oft unberücksichtigt geblieben ist: Die Croys – und in ähnlicher Weise andere burgundische Adelsfamilien – gerieten schon früh in Loyalitätskonflikte, da ihre Besitzungen im Lehnsbereich zweier Herren lagen: Seitdem Philipp der Gute aus der Nebenlinie der Valois Burgunds Selbständigkeit von Frankreich gewonnen hatte, schwankten sie zwischen ihrer Hinwendung zum französischen Königshaus und dem burgundischen Herzog. Bemerkenswert ist ferner, daß Varillas (12) von Chièvres als einem flamand spricht. 195 Der Begriff des Staatsbürgers wurde erst 1789 von Wieland als Entsprechung zu dem französischen citoyen kreiert und war anfangs vielfach umstritten. 196 Juste 1858, 18. 197 QSKV. 32.

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nung genügt, die er mit der lakonischen Feststellung abschließt, der Bischof habe keinen Grund gehabt, sich über Karl und seine Minister zu beklagen, da sie ihm zum Bistum von Cordoba, zum Erzbistum von Sevilla und zur Kardinalswürde verholfen hätten.198 Im Unterschied zu seinem Landsmann Juste zitiert A. Henne nur wenige Zeilen aus dem Memorandum, und zwar die, die sich auf Karls Unselbständigkeit des Urteils und seine völlige Abhängigkeit von seinem Rat beziehen, und münzt sie sofort zu Karls Gunsten um: Während Manrique von dem Siebzehnjährigen (tatsächlich war er gerade erst 16!) selbständiges Reden und politisches Handeln erwartete, deutet Henne die abwartende Haltung Karls als Zurückhaltung, nicht als Schüchternheit. Der Prinz war rechtzeitig zum Nachdenken erzogen worden und pflegte sich schlicht und sachlich auszudrücken. In den Ratssitzungen verfolgte er die Diskussionen und traf niemals eine Entscheidung, bevor nicht alle Fragen erläutert waren.199 Diese Deutung von Karls Verhalten enthält ein indirektes Lob für Chièvres, dem der junge Herzog die Erziehung zu Sorgfalt, Genauigkeit und Pflichtbewußtsein zu verdanken hatte, wenn die Erziehungsmethoden vielleicht auch gelegentlich die Formen angenommen hatten, die Du Bellay schildert. Was Henne hier über den jungen Karl aussagt, stimmt auffallend mit dem überein, was über den Kaiser der späteren Jahre berichtet wird: Karl V. war nie ein Mann der raschen Entschlüsse und der vielen Worte; er traf Entscheidungen erst nach reiflicher Überlegung, was nicht selten als Zaudern ausgelegt wurde – man stand noch unter dem Eindruck der spontanen Reaktionen Maximilians. So wirft Hennes Umgang mit dem Quellentext also nur ein indirektes Licht auf die Person Chièvres. Die spezifischen Auslassungen des Bischofs zu Karls wichtigstem Berater und zu den übrigen Themenkomplexen übergeht er mit Schweigen: Aus ihnen sprechen aus Hennes Sicht vermutlich zu deutlich die Vorurteile des Spaniers vor allem gegen den vom Belgier Henne hochgeschätzten Erzieher und politischen Lehrmeister des Prinzen. Es wurde oben erwähnt, daß Henne offensichtlich an einer Rehabilitierung des oft verleumdeten Chièvres gelegen war. Seine Wertschätzung dieses Mannes und die Würdigung seiner politischen Bemühungen im Interesse der burgundischen Herzöge bringt Henne in anderem Zusammenhang an früherer Stelle deutlich zum Ausdruck: „[...] et si le pays, sans armée, sans finances, sans union nationale, sans enthousiasme populaire, fut sauvé, c’est que Philippe y avait laissé pour lieutenant général un des hommes les plus remarquables de son temps. [...] Partisan de l’alliance française, de Chièvres était plus à même qu’aucun autre de maintenir la bonne harmonie entre les deux rois, et cette considération avait exercé de l’influence sur le choix de son souverain. [...] fidèle à sa patrie, il avait recherché l’amitié de nostre voisine, sans vouloir sa domination.“200 Den außerordentlichen Einfluß, den Chièvres bis zu seinem Tode auf Karl ausübte, Maximilian und Margarete ab 1513 als wohlmeinende Vormünder und Ratgeber in den Hin198 Juste 1858, 92 Anm. 1. 199 Henne 1865, 181 f. 200 Henne 1865, 35. Das Zitat bezieht sich auf die Situation des Jahres 1505, als Philipp Chièvres zum Statthalter der Niederlande ernannte.

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tergrund drängend, unterschätzt Henne nicht. Er deutet jedoch an, daß die Erziehung durch Margarete keineswegs spurlos an dem Prinzen vorübergegangen war und daß ihn die moralischen Grundsätze, die sie ihm durch ihr eigenes Vorbild vermittelt hatte, in seinen späteren politischen Entscheidungen leiteten.201 In der Biographie nationale, deren erste Bände fast gleichzeitig mit Hennes großem Geschichtswerk erschienen, findet sich nur einmal ein Hinweis auf das Memorandum. In Gachards Artikel Charles-Quint wird es nicht erwähnt, was bei der sonst überaus peniblen Anführung von Details verwundert. Eingeflochten in den Artikel sind mehrere, z.T. auch wertende Aussagen zu Chièvres, dem Gachard jedoch insgesamt nicht so viel Aufmerksamkeit zuteil werden läßt wie andere Biographen. Ein direkter Bezug dieser Aussagen auf die Quelle (Manrique) ist nicht feststellbar. Für die Anfänge von Chièvres’ Tätigkeit als Erzieher des Prinzen, also für 1509, heißt es sehr allgemein: „[...] le seigneur de Chièvres s’appliqua à développer son intelligence, à faire naître en lui, avec le goût des choses sérieuses, des sentiments et des principes conformes à sa naissance et au rôle qu’il était appelé à jouer sur la scène du monde.“ Eine allerdings nicht vorbehaltslose Würdigung Chièvres’ fügt Gachard im Rahmen der Ereignisse des Jahres 1521 ein, des Todesjahres des langjährigen Beraters des jungen Kaisers. Die dem Andenken des Verstorbenen abträglichen Vorwürfe der Habgier und des unersättlichen Strebens nach Ehren und Titeln verschweigt Gachard nicht; sie können in dieser Form jedoch nicht aus dem Text des Memorandums, sondern nur aus den spanischen Quellen für die Jahre 1517–1519 hergeleitet werden: „On ne saurait contester, en tout cas, que Guillaume de Croy n’ait été un ministre tout dévoué à la gloire et à la grandeur de son maître, en même temps qu’un des hommes d’État les plus habiles de son époque. Il est fàcheux pour sa mémoire qu’on puisse lui reprocher une avidité sans scrupule, car il était insatiable d’honneurs et de richesses.“202 Im Artikel zu Chièvres zitiert G. Guillaume aus dem Memorandum nur Manriques Klagen über die Habgier, die im Lande herrscht.203 Allerdings erwähnt er, daß Chièvres’ sonst so hervorragende Eigenschaften durch dieses Laster überschattet wurden und betont ausdrücklich, daß er sich dabei nicht ausschließlich auf spanische Quellen beruft. Guillaumes weitere Äußerungen zur Person des Gouverneurs stammen aus der älteren Literatur und fügen den bisher gewonnenen Erkenntnissen keine weiteren hinzu. Beide Quellen hat H. Baumgarten vergleichend ausgewertet. Der gewaltigen Leistung dieses Historikers, der mit den Mitteln seiner Zeit die erste deutschsprachige Biographie Karls V. schuf, muß hoher Respekt gezollt werden. Sein Werk, das unvollendet blieb, löste in der nächsten und noch der übernächsten Forschergeneration starke, neue Impulse aus: Schon Baumgartens Schüler Brandi und deutlicher noch dessen Schüler A. 201 Henne 1865, 179. 202 Zitate: Gachard 1872, 526. 538. 203 Guillaume 1873, 533.

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Walther erkannten, in welchem Maße Baumgartens Darstellung den Geist seiner Zeit widerspiegelte,204 und suchten nach neuen Forschungsansätzen. Baumgarten hatte sich – ähnlich wie die belgischen Historiker des 19. Jahrhunderts bei ihrer Erkundung der eigenen Geschichte als einem „but national“ – auf deutscher Seite einer nationalen Aufgabe verpflichtet gesehen, als er es unternahm, Karl V., über den in Deutschland außerhalb von Historikerkreisen wenig bekannt war, mit einer Biographie zu würdigen, die sich an ein breiteres Publikum wandte. Er sah es als die Aufgabe der Historiker an, sich nicht gegenseitig mit einem immer detaillierteren Fachwissen zu belehren, sondern mit den Ergebnissen ihrer Forschung die nationale oder die allgemeine Bildung zu fördern.205 Diesem Ziel sollte sein Werk dienen. Dabei versuchte er zunächst, „ein so helles Licht als möglich über diese Jahre der jugendlichen Entwicklung [Karls] zu verbreiten“,206 denen sich die Forschung bis dahin selten zugewandt hatte. Neben der Auswertung der englischen Calendars (oder Letters & Papers), der Briefe des Petrus Martyr und der von Le Glay edierten Correspondance zwischen Maximilian I. und Margarete von Österreich hoffte er u.a. auch durch eine Gegenüberstellung der Erzählung Du Bellays mit dem bischöflichen Memorandum Aufschluß über die Persönlichkeit des jungen Prinzen zu erlangen.207 Baumgarten kommt zu dem Ergebnis, daß sich beide Quellen derartig widersprechen, daß er nur einer von ihnen Glauben schenken könne. Sein Urteil fällt vor allem deshalb zugunsten Manriques aus, weil der Bericht des Bischofs auf dessen langjährigen Erfahrungen am flandrischen Hof basiert. Er schätzt Manrique nach seiner Denkschrift als einen „sehr einsichtigen und scharfen Beobachter“ ein, „der allerdings streng auf dem spanischen Standpunkte steht“ (18). Indem Baumgarten sich ganz auf Manriques Aussagen zu Karls Person, zu seiner mangelhaften Vorbereitung auf die Übernahme der Herrschaft in Spanien sowie zu der Lenkung des Prinzen durch seinen Rat konzentriert,208 dem er „durchaus unterworfen ist“ (17), vermittelt er einen ebenso einseitigen wie unvollständigen Eindruck vom Charakter und Zweck des Memorandums. Der Name Chièvres fällt in diesem Kontext ebenso wenig wie in Baumgartens knapper und m.E. entstellender Zusammenfassung von Du Bellays Bericht.209 Vor allem fehlt an dieser 204 Dies war zweifellos einer der Gründe, weshalb Brandi nicht, wie ursprünglich geplant, den dritten unvollendet gebliebenen Band Baumgartens weiterführte, sondern sich verstärkt der Erforschung der Quellen zuwandte und so die Grundlage für seine Biographie Karls V. schuf, mit der er neue Maßstäbe setzte. 205 Baumgarten 1885, IV. Vielleicht ist neben dem Erscheinungsjahr des 1. Bandes auch der Ort nicht unwesentlich, an dem das Vorwort entstand: Straßburg war seit 1871 wieder deutsch und Hauptstadt des Reichslandes Elsaß-Lothringen – ein besonderer Nährboden für das Anwachsen nationalistischer Gefühle diesseits und jenseits des Rheins. 206 Baumgarten 1885, VI. 207 Baumgarten 1885, 16–18. 208 Baumgarten zitiert ebd. 17 nur die Anfangspassage, die sich auf Karl bezieht, überdies in geraffter Form. 209 Obwohl mir die gleiche Quellenedition (Du Bellay ed. Petitot) vorliegt, die auch Baumgarten benutzte, kann ich dem Text nicht entnehmen, daß Karl „oft selbst einen Teil der Nacht mit ihrem Studium [d.h. der Berichte, A.S.] hinbrachte“ und daß der junge Herzog „tatsächlich in die Regierung eingegriffen hat.“ So jedoch Baumgarten ebd. 16 f.

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Stelle der Hinweis auf Chièvres’ erzieherische Absicht, die hinter dem von dem Franzosen beobachteten Geschehen stand. Damit könnte der Eindruck entstehen, daß Karl sich aus eigener Initiative dieser harten Belastung unterzog. Im Gegensatz zu Manrique war Du Bellay nach Ansicht Baumgartens nur ein flüchtiger Beobachter, dessen Bericht er schließlich sogar abtut als das dem Memorandum „entgegengesetzte französische Zeugnis, das weniger auf eigener Wahrnehmung als etwa auf einer prahlerischen Mitteilung irgend eines flandrischen Hofmannes beruht haben wird.“210 Es stellt sich hier die Frage, ob mit dem „flandrischen Hofmann“ u.U. Chièvres gemeint sein könnte. Zu dessen Person, vor allem aber zu seinem Werdegang und seiner politischen Haltung äußert sich Baumgarten an etwas späterer Stelle.211 Dabei bezeichnet der deutsche Historiker Chièvres zwar nicht als Franzosen, hebt aber mehr als deutlich dessen frankreichfreundliche Einstellung und deren politische Auswirkungen hervor. Beweise dafür erbringt er durch die Übernahme von Angaben, die sich bis auf Varillas zurückverfolgen lassen, die von einigen Historikern wohl in ihrem Wahrheitsgehalt angezweifelt und daher übergangen wurden, aber erst durch A. Walther widerlegt werden konnten. Danach soll Chièvres, der sich zunächst an der Seite Maximilians in den Jahren des Ringens um das burgundische Erbe als außerordentlich fähiger Soldat bewährt hatte, von Philipp dem Schönen, zu dessen engsten Beratern er schon bald nach dem Regierungsantritt des jungen Herzogs gehörte, die Erlaubnis erhalten haben, an den Feldzügen Karls VIII. und Ludwigs XII. von Frankreich in Italien teilzunehmen.212 Nach Baumgarten hat Chièvres 210 Baumgarten 1885, 18. 211 Ebd. 21. 212 Erstmals erwähnt bei Varillas 1691, 11 f., übernommen von Guillaume 1873, 529 und Gossart 1910, 167. Juste 1858, 18 beschränkt sich auf eine vage Andeutung. Walther hat Chièvres’ Teilnahme an den Feldzügen von 1494/95 und 1497/98 als Legende entlarvt. Er legt überzeugend dar, daß Chièvres durch seine Aufgaben an die Niederlande gebunden war und beweist dessen Anwesenheit durch die detaillierte Auflistung von Belegen, die Chièvres in den fraglichen Zeitabschnitten in den Niederlanden unterzeichnet hat (1911, 24 m. Anm. 2. 5). Brandi verweist nachdrücklich auf diese Ergebnisse (1941, 76), doch hat sich bei Dansaert (1942, 25 f. 29) die Legende weiter gehalten. Falls nicht eine mir unbekannt gebliebene Quelle existiert, die Varillas hier verwendet hat, so ließen sich seine Aussagen leicht als eine seiner phantasievollen Anreicherungen nüchterner Tatsachen erklären: Nicht wenige burgundische Adlige leisteten bald dem einen, bald dem anderen ihrer Lehnsherren mehr oder minder freiwillig Kriegsdienst. Auch Seitenwechsel ganzer Familien oder einzelner ihrer Zweige sind bezeugt, ebenso die daraus resultierenden und über Generationen vererbten Feindschaften zwischen und innerhalb einzelner Adelsgeschlechter. All dies trifft auch für frühere Generationen des Hauses Croy zu, ist für Guillaume de Croy jedoch durch keine solide Quelle bezeugt. Ein bezeichnendes Licht auf die komplizierten Lehnsverhältnisse in Burgund wirft ein pikantes Detail, das Brandi (1964, 42) und Habsburg (1967, 71) übereinstimmend, jedoch ohne Quellenangabe erwähnen: 1513, vor dem Feldzug Heinrichs VIII. gegen Frankreich (Thérouanne), der von Maximilian geleitet wurde, rief Ludwig XII. Karl als seinen Ersten Kronvasallen auf, an seiner Seite zu den Waffen zu greifen. Nur seines jugendlichen Alters wegen entband ihn der französische König von seiner Lehnspflicht. Wäre das nicht geschehen, hätte Karl sowohl gegen seinen Großvater als auch gegen seinen Onkel und Schwager in spe kämpfen müssen. Zieht man

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ferner Maximilians Pläne, so oft sie sich gegen Frankreich richteten, durchkreuzt, „überhaupt aber eine recht konsequent antideutsche Politik verfolgt“.213 Weiter heißt es: „[...] bei den Verträgen, in welchen dann Philipp die spanischen und auch die habsburgischen Interessen so auffallend an Frankreich preisgab, wirkte Chièvres wesentlich mit.“ Nachdem das Urteil über Chièvres bereits zu seinen Lebzeiten durch den Gegensatz zwischen Spanien und Burgund negativ beeinflußt worden war und sich diese Einschätzung durch die spätere Verwendung fast ausschließlich spanischer Quellen verfestigte, trug das von Nationalismus, Feindschaft bis hin zum Krieg bestimmte Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert ein zweites Mal zur Verzerrung seines Persönlichkeitsbildes bei. Daran hatte auch Baumgartens Darstellung Anteil. Wie A. Walther sehr richtig bemerkt, war es „um alle Reputation Chièvres’ und seiner Partei geschehen, als Baumgartens Werk erschien.“214 Walther selbst und nahezu gleichzeitig sein belgischer Kollege E. Gossart machten es sich zur Aufgabe, der Person des Gouverneurs mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dabei wollte Gossart Chièvres’ Bild in erster Linie von den Schäden befreien, die ihm durch die spanischen Quellen, vor allem durch die haßerfüllten Briefe des Petrus Martyr, zugefügt worden waren.215 Diesem Zweck sollte auch seine Gegenüberstellung und eher zurückhaltende Bewertung unserer beiden Quellentexte dienen.216 Den Bericht Du Bellays zitiert er zunächst nahezu vollständig als eine der wenigen Quellen, die überhaupt etwas über das Verhältnis zwischen Karl und Chièvres aussagen. Er läßt anklingen, daß auch er die Schilderung in Einzelheiten zwar für übertrieben hält, zweifelt sie im Kern jedoch nicht an. Keineswegs schließt er sich also der Ansicht derjenigen an, die den Wahrheitsgehalt der Erzählung bestritten haben, und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Baumgarten.217 Das Memorandum gibt er nur in den kurzen Auszügen wieder, die sich auf die absolute Dominanz des Rates über den Prinzen und dessen offensichtlichen Mangel an eigenen Ansichten und selbständigen Entschlüssen beziehen. Nimmt man – so Gossart – der Erzählung Du Bellays etwas von ihren Übertreibungen, nach denen Karl sich bereits kurz nach seinem Regierungsantritt der Arbeit mit dem gleichen Feuereifer widmete wie in reiferen Jahren, dann stellt sich heraus, daß die beiden Texte einander nicht dermaßen widersprechen, daß man einen von ihnen für ein Phantasieprodukt halten müßte. Leider beläßt Gossart es bei dieser Feststellung, ohne näher auf die Überlegungen einzugehen, die ihn dazu geführt haben. Es kann hier also nur versucht werden, seine Argumentation zu rekonstruieren: Baumgartens vernichtendes Urteil über Du Bellay beruhe vor allem auf dessen Darstellung Karls als überaus beschäftigtem und geschäftigem Arbeiter, während abweichend davon Manrique den Prinzen als unentschlossen und unselbständig hinstelle, als jemand, dem es an eigenen Vorstellungen und an Initiative mangele. Dieses Bild stimme Baumgarten zufolge eher mit dem überein, das alles in Betracht, so wird klar, weshalb die Angaben über eine Teilnahme Chièvres’ an Kriegszügen französischer Könige lange Zeit nicht angezweifelt wurden. 213 Baumgarten 1885, 21. 214 Walther 1911, 132. 215 Gossart 1910, VI f. 216 Ebd. 172–174. 217 Ebd. 173 Anm. 2.

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was andere Zeitgenossen über Karl ausgesagt haben. Gossart fragt, ob indes Karl in der von Du Bellay geschilderten Szene etwas anderes tue, als das auszuführen, was Chièvres angeordnet habe: Er lese die Depeschen und trage deren Inhalt im Rat vor, der dann in Karls Gegenwart alle Angelegenheiten erörtere. Der junge Herrscher nehme also Kenntnis von allem, was sein Land und seine Regierung betrifft – mehr nicht. Von eigenen Vorschlägen oder Diskussionsbeiträgen sei in keiner Zeile der Quelle die Rede. Es hat zunächst den Anschein, als gehe es Gossart in diesem recht vagen Versuch der Gegenüberstellung beider Quellen mehr um die Person des Prinzen als um die seines Ratgebers. Daher sei hier an das Vorgehen Hennes erinnert, an das Gossart anzuknüpfen scheint: Auch er läßt Chièvres, wenn auch indirekt, in günstigem Licht als denjenigen erscheinen, der Karl sorgfältig, gewissenhaft und unter eigenem Einsatz auf den Tag vorbereitet, an dem der junge Herrscher seine Entscheidungen allein wird treffen müssen. Unerwartete Unterstützung für sein Bemühen, Karls politischem Lehrmeister mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, findet Gossart bei einem von dessen spanischen Zeitgenossen, bei dem Chronisten Pedro Mexía, der lobende Worte für Chièvres gefunden hat und dessen Urteil Sandoval in seine eigene Historia aufnahm: Mexía, que fué un honrado caballero, coronista del Emperador, dice que Xevres era muy prudente y que sirvió al rey con mucho amor; que le procuró la paz con los príncipes cristianos, que deseaba que se hiciese justicia con igualdad, que era grave de canas y experiencia, y aun casi quiere decir que acertó el rey en darle la mano que le dió. Y dice cierto lo que fué, bien es verdad que no le salva del pecado de la avaricia.218 Selbst dieser Chronist des Kaisers konnte und wollte Chièvres also nicht von dem Vorwurf der Habgier freisprechen, der in Spanien so oft gegen ihn erhoben wurde. Da er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, verschweigt er dieses Laster nicht, fügt es jedoch nur in einem Nachsatz seinem Katalog von Chièvres’ ausgezeichneten Eigenschaften an. Sandoval hält es für unerläßlich zu erwähnen, daß der junge König frei von jeder Mitschuld an den von Mexía genannten Verfehlungen war. Wie kaum ein anderer Historiker hat sich A. Walther mit Chièvres’ Person auseinandergesetzt: tiefschürfender als Dansaert, der spätere Biograph des Guillaume de Croy, wissenschaftlich fundierter sowie exakter in seinen Ergebnissen und Aussagen als Gossart. Für Walther ist der Erzieher und spätere Berater Karls V. neben Margarete von Österreich – und vielleicht noch vor ihr rangierend – die Leit- und Schlüsselfigur der „Anfänge Karls V.“ Wie Gossart setzt er sich zum Ziel, das Bild Chièvres’ von Verzerrungen zu befreien, ohne ihn von menschlichen Schwächen freizusprechen, d.h. ohne ihn zu einer makellosen Idealgestalt zu stilisieren. Das seinerzeit Außerordentliche an Walthers Arbeit war sein Bemühen, den Menschen und Politiker Guillaume de Croy aus dessen eigener Zeit heraus zu verstehen, ihn und sein Handeln mit den Wertmaßstäben des ausgehenden 15. und des frühen 16. Jahrhunderts zu messen und ihn nicht nach Kategorien zu beoder verurteilen, die zu Lebzeiten Chièvres’ noch gar nicht existierten. Durch jahrelange Studien in den burgundischen Archiven gewann Walther nicht nur hervorragende Quel218 Sandoval 135 (nach Mexías Crónica del Emperador Carlos V); frz. Übers. bei Gossart 1910. 174.

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lenkenntnisse, die es ihm ermöglichten, oft durch die Korrektur kleinster Details lange tradierte Ungereimtheiten aufzuklären, sondern er drang zu einem tieferen Verständnis der alten burgundischen Welt und ihres um 1900 fremd gewordenen Wertekanons vor. So konnte er in seine Arbeit die soziale Komponente einbeziehen, das Milieu, das sich in Burgund im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet hatte und das sich um 1500 aufzulösen begann.219 Für Walthers Darstellung und Beurteilung von Chièvres’ Persönlichkeit bedeutet dies: Er betrachtete ihn nicht isoliert als Einzelerscheinung mit persönlichen Tugenden und Schwächen, sondern verstand ihn als einen der letzten Vertreter des alten Burgund, der an den überkommenen Werten festhielt und diese seinem Zögling weitergeben wollte. Walther spricht einmal von Chièvres’ „einfacher Natur“.220 Das möchte ich so verstehen, daß Chièvres zwar im praktischen politischen Tagesgeschäft auf neue Situationen angemessen zu reagieren bemüht war und ihm dies vor allem im Inneren auch gelang, daß ihm aber das Gespür für die geistigen und politischen Strömungen fehlte, in denen sich ein neues Zeitalter ankündigte. Die Umwertung vieler Werte, an denen er bisher sein Leben ausgerichtet hatte, die sich als Folge neuer Denkansätze ergab, konnte Chièvres nicht mehr nachvollziehen. Ebenso wenig war er, der trotz einer gewissen Weltläufigkeit in Burgund verwurzelt geblieben war, in der Lage, der spanischen Welt mit Verständnis und Aufgeschlossenheit zu begegnen. Den ganzen Komplex dieses Zusammenpralls verschiedener Lebenswelten faßt Walther sehr treffend in wenigen Zeilen zusammen: „Chièvres war Haupt der burgundischen feudalen Welt, die überall zusammenzustoßen begann mit der Welt der Legisten, des Humanismus, neuer Ideale, einer neuen Moral, und die hart zusammenprallte mit dem weit fortgeschrittenen spanischen Beamtenstaat, vor allem auch mit dem spanischen Patriotismus, der diesen Einbruch des burgundischen Adels mit Erbitterung über sich ergehen ließ. Die guten alten Sitten der Feudalherren wurden in Spanien zum Verbrechen.“221 In diesem Satz wird bereits angesprochen, daß das Nichtverstehen durchaus gegenseitig bedingt war. Aus dem Memorandum des Manrique, der immerhin seit etwa sieben Jahren am burgundischen Hofe inmitten der feudal geprägten Adelsgesellschaft lebte, wird deutlich, daß der Kontrast der Lebenswelten bereits in den Niederlanden und nicht erst bei der unmittelbaren Konfrontation auf spanischem Boden zutage trat. War er nicht einer der Gründe, der schon zur Verwirrung und Verstörung der jungen Juana beitrug und sie nie in den Niederlanden heimisch werden ließ? Walthers Verständnis für die burgundische Welt und für Chièvres als einen ihrer letzten Repräsentanten läßt ihn zu einer Bewertung der beiden Quellentexte gelangen, mit der Baumgartens Interpretation offen widerspricht. Mit einem gewissen Bedauern bemerkt er,

219 Walther 1911, 211. Ist es Zufall, daß etwa um die gleiche Zeit, als Walther zu diesem neuen Ansatz historischen Verständnisses gelangte, Johan Huizinga (nach eigener Aussage um 1907) „die Einsicht aufging: das späte Mittelalter ist nicht Ankündigung eines Kommenden, sondern ein Absterben dessen, was dahingeht“? (K. Köster im Vorwort zu Huizinga 1975, VII). 220 Walther 1911, 211. 221 Ebd. 127.

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daß über den neueren Arbeiten, besonders der Baumgartens, Hennes Werk und die darin zum Ausdruck kommende Wertschätzung Chièvres in Vergessenheit geraten sind.222 Ähnlich wie Gossart setzt er selbst nun den von Henne eingeschlagenen Weg fort. Wo Henne und Gossart ihr Urteil allerdings eher indirekt erkennen lassen, wird Walther deutlicher: Zunächst wendet er sich dagegen, daß Baumgarten die „naive Erzählung“ Du Bellays einfach „beiseite schiebt“.223 Daher referiert er eingangs deren Inhalt und zitiert Chièvres’ Erklärung in einer kuriosen deutsch-französischen Mischfassung. Wenn er auch einräumt, daß die Schilderung durch Übertreibungen etwas überzeichnet sein könnte, zweifelt er sie insgesamt nicht an. Er geht davon aus, daß Karl nicht alle Depeschen, sondern nur die von entscheidender Bedeutung vorgelegt wurden und daß lediglich in dringenden Fällen der junge König auch noch am späten Abend informiert wurde. Als „lernende Teilnahme“ bezeichnet Walther diese Einführung und Einbeziehung des Fünfzehnjährigen in die Regierungsgeschäfte. Damit drückt er das gleiche aus, was Gossart als „apprentissage politique“ bezeichnet. In den Maßnahmen des politischen Lehrmeisters sieht Walther die „Erziehung zur Selbständigkeit und stetigen Pflichterfüllung“.224 Gleichzeitig betont er, daß Chièvres das Maß an Belastungen kannte, das er Karl zumuten konnte und das er nicht überschritt. Als maßvoll und besonnen charakterisiert Walther so den Gouverneur: Dies sind die gleichen Eigenschaften, die Petrus Martyr 1513 lobend erwähnte, ehe sein Urteil über Chièvres in das krasse Gegenteil umschlug. Besonders und mehrfach betont Walther, daß die Ruhe und Zuverlässigkeit seines Erziehers Karl ein Gefühl der Sicherheit vermittelten, das der Heranwachsende brauchte, um sich zwischen den Parteien zu behaupten und seinen Weg zu finden. Gerade auch der Parteiungen wegen, die anfangs am Hof Margaretes, später am herzoglichen Hof in Brüssel Einfluß auf Karl zu gewinnen versuchten, hielt Chièvres es für unerläßlich, dem Prinzen so früh, so direkt und so intensiv wie möglich Einblick in die Regierungsgeschäfte zu geben. Aus der „naiven Erzählung“ Du Bellays versteht Walther damit viel mehr abzuleiten als aus dem Memorandum des Bischofs, gerade weil der junge Franzose ein unbeteiligter, staunender Beobachter war, Manrique jedoch der durchaus nicht unparteiische Anführer der Kastilier am Hofe Karls. So erwähnt Walther nur Manriques Klagen darüber, daß Karl „von allem Spanischen abgeschlossen“ werde und „seinem conseil blindlings folge“.225 Auf die weiteren Ausführungen des Bischofs zur Unselbständigkeit des Prinzen geht Walther nicht ein, erwähnt aber an anderer Stelle die Ratssitzungen, an denen Karl durchaus aktiv teilnahm, sowie die Audienzen, die er erteilte und bei denen er den Gesandten selbst antwortete.226 Die erste Amtshandlung, für die Karl zumindest nominell verantwortlich zeichnete, war die Ausfertigung des Schreibens, das seine Gesandten unter der Leitung Heinrichs von Nassau ermächtigte, Franz I., den neuen französischen König, zu seinem Regierungsantritt zu beglückwünschen und an Karls Stelle den Huldigungseid zu leisten.

222 Walther 1911, 132. 223 Ebd. 208. 224 Ebd. 209. 225 Ebd. 207. 226 Ebd. 209 m. Anm. 1–2 (Berichte ausländischer Diplomaten, die dies bezeugen).

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Dieses Schreiben wurde von Karl am 19. Januar 1515 unterzeichnet, genau zwei Wochen nach seiner Mündigkeitserklärung.227 Nach K. Brandis Auffassung ist in dem Memorandum in erster Linie eine Warnung des spanischen Bischofs vor Frankreich zu sehen, in das man kein Vertrauen setzen dürfe. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der „spanische Stolz sich gegen jede Form der Lehnsabhängigkeit ihres Königs von Frankreich wehrte“.228 Eben diese Lehnsabhängigkeit hatte Karl in seiner ersten Regierungshandlung durch die Erneuerung des Vasalleneides, wenn auch durch Stellvertreter, bestätigt, und damit nach Manriques Worten gezeigt, daß er sich Frankreich sehr unterlegen fühlte. Ebenso knapp wie Brandi, jedoch ohne dessen gedankliche Durchdringung des Schreibens und seiner vielfältigen Aspekte, geht G. Dansaert auf das Memorandum ein.229 Er erwähnt lediglich die Umsicht bzw. Vorsicht und die Liebenswürdigkeit, die Manrique an Chièvres lobt, um dann kommentarlos eine kurze Passage aus dem Schreiben aus zweiter Hand wiederzugeben: Monsieur de Chièvres est français (sic!) de naissance et tient le prince très fort sous la suggestion du roi de France. Comme le prince et le roi de France sont les deux plus grands monarques de la chrétienté, il est désirable qu’ils vivent en paix l’un vis-à-vis de l’autre.230 Wohl um Chièvres’ „prudence“ zu beweisen, erwähnt Dansaert anschließend, daß der premier chambellan durchaus Zweifel an den ehrlichen Absichten Franz I. hegte und dessen Doppelspiel erkannt zu haben glaubte. Neue Erkenntnisse zur Persönlichkeit Guillaume de Croys vermittelt sein Biograph hier jedoch nicht. R. Merriman mißt – wie seinerzeit Henne – dem Memorandum genügend Bedeutung bei, um es in einem größeren Zusammenhang nicht unerwähnt zu lassen. Den dritten Band seiner Geschichte vom Aufstieg des spanischen Weltreiches, der allein der Epoche Karls V. gewidmet ist, eröffnet er mit der Darstellung einer der kritischsten Phasen der spanischen Geschichte, nämlich der Jahre zwischen 1516 und 1522, als nach dem Tode Ferdinands von Aragon die Herrschaft an Karl überging, in dem die Spanier zunächst vor allem den Vertreter einer fremden Macht und Dynastie sahen. Die tatsächliche Herrschaft 227 Hinweis auf dieses Dokument bei Le Glay 1839, 2, 276 Anm. 1. Vermutlich hatte Chièvres dem jungen Herzog zu dieser Vorgehensweise geraten: So konnte sich Karl der persönlichen Eidesleistung entziehen, ohne diplomatische Verwicklungen auszulösen. Die eigene Antrittsreise durch sein Herzogtum diente Karl als willkommene Entschuldigung für sein Nichterscheinen bei der Krönung Franz I. 228 Brandi 1964, 63. 229 Dansaert 1942, 141. 230 Dansaert übersetzt hier lediglich den englischen Regestentext Bergenroths (1866, 281), ohne das Dokument selbst zu verwenden. Chièvres’ Charakterisierung als prudente y manso (Gachard 1845, 24) gibt Gachard (ebd. 7) als „prudent et doux“, Bergenroth (1866, 281) als „prudent and gentle“ wieder; Dansaert spricht daher von „prudence et amabilité“. Kohler (QSKV. 32) nennt ihn einen „maßvollen und umgänglichen“ Mann.

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Karls über Spanien, so sieht es Merriman wohl zu Recht, begann erst 1522, mit der Rückkehr des nunmehr Erwählten Römischen Kaisers nach seiner Krönung und dem Beginn seiner Hispanisierung. In die überaus kritische Phase fällt auch das Schreiben Manriques, das Merriman zwar nur en passant erwähnt, das er aber als Ausgangspunkt benutzt, um den Hintergrund zu erhellen, vor dem es entstand. In seinem Kontext sind nur die Mitteilungen des Bischofs von Belang, die sich auf die völlige Unkenntnis des künftigen Königs von seinem Land und den dortigen Verhältnissen beziehen. Das von beiden Seiten seit der kurzen Herrschaft Philipps des Schönen vorbelastete Verhältnis zwischen Burgund und Spanien, die aus dieser flüchtigen Begegnung zweier Kulturen und Gesellschaftsformen herrührenden Vorurteile, die zerstrittenen Parteien der Kastilier und der Aragonesen am burgundischen Hof, die sich bemühten, Karl für ihre Interessen zu gewinnen und vor Intrigen nicht zurückschreckten – all dies war wenig angetan, das Interesse des Prinzen an Spanien zu wecken. Vor allem die Zwistigkeiten unter den Spaniern in seiner nächsten Umgebung, deren Ursachen er nicht begriff, stießen Karl ab: „We may well believe that the spectacle of all these plottings and recriminations both puzzled and disgusted Charles. He retained, to an unusual degree, throughout his youth, that love of calmness and regularity, that aversion to the unaccountable and inconsequent, which is a common characteristic of children. The real meaning and significance of the wrangles of his Spanish visitors were at present quite beyond him. He only knew that they were constantly at odds with one another for remote and insufficient cause.“231 „Calmness and regularity“ aber fand der Heranwachsende bei seinem Erzieher, den Merriman als ruhenden Pol inmitten der für Karl völlig undurchschaubaren Strömungen am Hofe sieht,232 zu denen die wechselvolle Haltung Maximilians und die eigene Linie, die Margarete verfolgte, das Ihre beitrugen. Chièvres hingegen vertrat die Politik, die Karl verstand; dabei rangierten die Interessen der Niederlande – oder Burgunds, wie Chièvres es vermutlich ausgedrückt hätte – an erster Stelle. Diese Politik verfolgte Karls Ratgeber geradlinig und ohne Wankelmut: „Chièvres represented to Charles his responsibilities to his Netherlandish subjects – the only subjects he had ever known; the minister was the embodiment of immediate and evident obligations. That Charles refused to be diverted from these by the changeful and capricious demands of Maximilian and Margaret, and the even remoter claims of different Spanish delegations, is a point in his favor.“233 So rückt Merriman, von nur wenigen Zeilen des Memorandums ausgehend,234 die von dem Bischof beklagte Abhängigkeit Karls von seinem Rat in ein neues Licht, indem er eine 231 Merriman 1962, 10. 232 Schon Walther 1911, 207 erwähnt, daß Chièvres eine seiner Hauptaufgaben darin sah, Karl davor zu schützen, in die Intrigen der spanischen Parteiungen hineingezogen zu werden. 233 Merriman 1962, 12 f. 234 Ebd. 9.

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der Hauptursachen für die Unterordnung des Prinzen unter die Führung des erfahrenen Politikers klar herausstellt. Damit läßt sich von dem völlig anderen Ausgangspunkt Merrimans eine Verbindungslinie ziehen zu den einfühlsamsten Interpretationen des Verhältnisses zwischen Lehrmeister und Zögling, die von deutscher und belgischer Seite vorgelegt worden sind: Karls „vertrauende Hingabe an eine überlegene Persönlichkeit“235 ist nicht als Schwäche zu sehen, wie es der Spanier darstellt, sondern darin ist auch die frühreife Klugheit eingeschlossen, die den Heranwachsenden nicht nur Sicherheit, sondern auch verläßliche Hinleitung zu seinen künftigen Aufgaben suchen ließ, während Chièvres, wie es Du Bellays Text überliefert, seine Aufgabe darin sah, den jungen Herrscher zu eigenverantwortlichem Handeln zu führen – und damit gewissermaßen sich selbst überflüssig zu machen. Die jüngste Rezeption des Memorandums findet sich in A. Kohlers Biographie Karls V. von 1999. Die Auszüge aus seiner Quellenedition, die er dazu heranzieht, entsprechen weitgehend denen, die auch in dieser Arbeit angeführt werden. Kohlers Vorgehen unterscheidet sich von dem anderer Autoren dadurch, daß er die Abschnitte, die sich auf Karls unzureichende Vorbereitung auf die Herrschaft über Spanien, die übermäßige Gelenktheit des Prinzen und die beherrschende Position Chièvres’ beziehen, dem Teilkapitel „Kindheit und Jugend Karls V. bis 1517“ zuordnet und dort auswertet,236 während er die Passagen, die die Frankreichpolitik betreffen, dem 2. Kapitel unter dem Teilaspekt „Die außenpolitische Vorbereitung der Regierungsübernahme in Spanien“ einfügt.237 Sehr richtig konstatiert Kohler (und darin stimmt seine Einschätzung mit der Merrimans überein), daß Manriques Aussagen zur Person Karls, zu dessen Mangel an eigenen Entschlüssen und zur führenden Rolle Chièvres’ vor der „Hintergrundfolie“ seiner eigenen Erfahrungen während der Herrschaft Philipps des Schönen zu sehen sind. Auch Karls Vater war unvorbereitet König von Spanien geworden; ein Teil der erheblichen Schwierigkeiten seiner kurzen Regierung war aus seiner Unkenntnis der Sprache, der Gesetze und Bräuche des Landes und der Mentalität seiner Menschen erwachsen. Der Ruf der Habsucht, der die Niederländer seit dieser Zeit in Spanien umgab, konnte sich ebenfalls nur entwickeln, weil weder Philipp noch seine flamencos irgendwelche Kenntnis der Landessitten und der spanischen Moralvorstellungen hatten. Philipp der Schöne, Croÿ-conseil, hatte sich von demselben burgundischen Adligen beraten lassen, der zum Erzieher seines Sohnes bestimmt worden war und der nun, nach der Emanzipation des Prinzen, de facto die Richtlinien der burgundischen Politik bestimmte. Selbst wenn dieser Berater, wie Manrique einräumt, ein maßvoller und zugänglicher Mann war, erscheinen die Bedenken des Bischofs vor diesem Hintergrund verständlich. Dieser skeptischen spanischen Sicht stellt Kohler die unzweifelhaften Verdienste des Gouverneurs gegenüber, der den Prinzen rechtzeitig zu regelmäßiger Arbeit und Pflichterfüllung erzogen hatte. Auch die Audienzen, die Karl gab, führt er als einen Teil der repräsentativen Aufgaben an, die zum Pflichtprogramm des kaum Mündiggesprochenen gehörten. Waren sie nicht ein Zeichen, daß Karl in der Lage war, selbständig und in eige235 Walther 1911, 207. 236 Kohler 1999, 53 f. 237 Ebd. 60 f.

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ner Verantwortung zu handeln? Seine förmliche Art des Auftretens entsprach einerseits seinem eher zurückhaltenden Naturell, andererseits – das sollte gerade für diese frühen Jahre nicht übersehen werden – verleiht die Form, an die man sich halten kann, Sicherheit in noch ungewohnten Situationen. Nur in losem Zusammenhang mit der Erörterung des Memorandums äußert Kohler die Ansicht, daß „der beherrschende Einfluß seines Großkämmerers für den Prinzen ein Glück gewesen sein mag“.238 Hier bezieht er sich auf die vielfältigen Versuche der Beeinflussung des Prinzen, unter anderem durch die in Opposition zu Chièvres’ Politik stehende englandfreundliche Faktion unter den Beratern Margaretes. Von den rivalisierenden Spaniern am Hofe ist hier nicht die Rede. Daß auch von seiten des Bischofs nicht nur selbstlose Sorge um das künftige Wohl seines Landes im Spiel war, klingt in Kohlers Worten allenfalls an, wenn er abschließend zu diesem Auszug aus dem Memorandum von der „Interessenbezogenheit“ der Kritik Manriques spricht, dies aber nicht weiter ausführt.239 Im Hinblick auf diese „Interessenbezogenheit“ des Bischofs soll ein Gesichtspunkt aufgegriffen werden, den Kohler im zweiten Teil seiner Interpretation anspricht.240 Die Sorge, die Manrique darüber äußert, daß spanische Ämter und Pfründen bereits in den Niederlanden vergeben würden, kann man als berechtigt ansehen – daß also, ohne die Meinung der maßgeblichen spanischen Persönlichkeiten und die Verhältnisse vor Ort zu berücksichtigen, unter Umständen langfristige Regelungen zum Schaden des Landes getroffen werden könnten. Allerdings erwähnt Kohler hier nicht, daß der Kastilier sich in erster Linie über seine eigenen Landsleute beklagt, und zwar über diejenigen, die erst kürzlich, nach dem Tode Ferdinands von Aragon, in großer Zahl in die Niederlande geströmt waren und Ämter gekauft hatten – so behauptet wenigstens Manrique, während andere, die seit langem am Hofe lebten, übergangen worden waren. Es ist anzunehmen, daß Manrique hier vor allem für sich selbst sprach. Im Mittelpunkt dieses zweiten Auszugs aus der Denkschrift steht jedoch die Kritik des Bischofs an der Frankreichpolitik, für die Chièvres verantwortlich zeichnete, und an den jüngsten Abmachungen, die Manrique als „wenig ehrenvoll“ für den künftigen König von Spanien einschätzte. Kohler entkräftet den darin enthaltenen Verdacht des Spaniers, daß Chièvres und die übrigen burgundischen Räte eine unkritische pro-französische Haltung einnähmen: Tatsächlich (und dies hebt Kohler deutlich hervor) wußte Chièvres sehr genau, was er mit den Abmachungen bezweckte; auch für ihn war der Vertrag von Noyon nichts als „täuschender Schein“, eine lettre morte: Sinn und Zweck des Vertrages war allein die Friedenssicherung, der Schutz der Niederlande vor französischen Überfällen bzw. vor geldrischen Angriffen mit französischer Unterstützung während der Antrittsreise Karls in Spanien, deren Dauer schwer vorhersagbar war. Die verwandtschaftlichen Bande, die der Ehevertrag zwischen Franz I. und Karl knüpfte, waren nicht auf Dauer angelegt. Das war allen Beteiligten bewußt, nicht zuletzt Chièvres, der in Sachen Heiratsverträge für den Prinzen reiche Erfahrung hatte. Solange sie jedoch bestanden, garantierten sie eine Periode des Friedens und gaben Spielraum, sich anderen politischen Fragen zuzuwenden. 238 Kohler 1999, 53. 239 Ebd. 54. 240 Ebd. 60.

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Daß selbst Chièvres dem Franzosen gegenüber trotz des Vertrages mißtrauisch blieb und sich nicht nur als umgänglich, sondern als umsichtig, ja vorsichtig – prudent (Dansaert) – erwies, erhärtet ein Bericht des Laurent Vital:241 Danach bot eine Delegation Franz I. dem König von Spanien an, die Reise in seine neuen Länder auf dem Landweg durch Frankreich zu nehmen, statt sich den Gefahren der Seereise auszusetzen. Karl dankte für das Anerbieten, entschied aber nichts. Man darf gewiß davon ausgehen, daß die Entscheidung für die Seereise schließlich auf Chièvres’ Anraten erfolgte, obwohl sich daraus erhebliche Verzögerungen und gefährliche Situationen ergaben.

Zieht man an dieser Stelle eine Zwischenbilanz für die rein burgundische Phase, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, so ergibt sich ein überwiegend positiver Eindruck von der Person des Gouverneurs und von seinem Verhältnis zu seinem Zögling: Umgänglich und umsichtig wird Chièvres genannt, und das dürfte sich auch auf die geduldige, ruhig-milde und dennoch fest und sicher leitende Art beziehen lassen, mit der er sich Karl zuwandte. Gewiß war er eine einfachere Natur als der geniale, aber kapriziöse Maximilian, und was er Karl vermittelte, kam aus seinem eigenen Erfahrungsschatz. Im Grunde einfach, jedoch schwer zu realisieren, war auch das politische Ziel, das er anstrebte: Frieden mit Frankreich zu halten ohne eine Unterordnung Burgunds unter den größeren Nachbarn. Heute würde man von „friedlicher Koexistenz“ sprechen. Auf die Verfolgung dieser politischen Linie konnte er den Thronerben von Kindheit an mit dem nötigen Weitblick vorbereiten; darin erfüllte sich seine Aufgabe. Spanien und das Reich lagen außerhalb von Chièvres’ eigenem Erfahrungsbereich, auch jenseits seines Horizontes. Das Zentrum seiner Welt und seines Denkens blieb Burgund – eine in ihrer Begrenztheit zu enge Perspektive, die Karl sich zunächst zu eigen machte und die er als Herrscher über ein unermeßliches Reich in einer sich rasch wandelnden Welt hinter sich lassen mußte. Es war dann wiederum ein Glücksfall, daß mit Mercurino di Gattinara der Mann bereitstand, der Karl weitere Horizonte öffnen konnte, der mit der Idee einer Monarchia Universalis einen weltumspannenden, zeitliche Grenzen überschreitenden Entwurf wieder aufnahm, der selbst in seinem Scheitern noch Größe hatte und Impulse vermittelte.

Die spanischen Quellen: Petrus Martyr, Santa Cruz, Sandoval Das hier skizzierte Persönlichkeitsbild Chièvres’, wie es sich durch eine geduldige Spurensuche in Quellen und Literatur für die burgundische Phase ergeben hat, wird überschattet, ja überlagert durch die Eindrücke, die die z.T. recht drastischen spanischen Berichte über die vergleichsweise kurze Zeitspanne zwischen 241 Voyages III 16 f. Der Bericht ist nicht datiert, muß aber nach dem Vertragsabschluß von Noyon (13. August 1516) und vor dem Ordensfest in Brüssel (25.–27. Oktober 1516) eingeordnet werden.

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1517 und 1519 vermitteln. Gerade für diese Jahre macht sich der Mangel an Zeugnissen der Gegenseite besonders bemerkbar, die helfen könnten, Übertreibungen in den Darstellungen aufzudecken. Diese Zeugnisse hier, wenn auch in gedrängter Form, zu behandeln ist unerläßlich, da sie über lange Zeit für die Einschätzung Chièvres’ bestimmend waren und aus der frühen biographischen Literatur nicht wegzudenken sind. Die Spuren, die sie dort hinterlassen haben, im Einzelnen zu verfolgen, wäre eine gesonderte Aufgabe. Walther ist den Quellenverweisen statistisch nachgegangen und hat festgestellt, daß die Angaben W. Robertsons in seiner History of the reign of the Emperor Charles V für die Jahre 1500–1519 zu einem Drittel auf Petrus Martyr zurückverweisen; auch Sandoval rangiert in dieser Aufstellung auf einem der oberen Plätze.242 Gerade Walther war es auch, der die spanischen Quellen in ihrer zeitlichen, kulturhistorischen und sozialen Gebundenheit nicht nur erkannte, sondern sie auch in ihrer Aussagekraft neu bewertete. Wie oben gesagt, versuchte er, Guillaume de Croy wie auch dessen Gegner, zu denen die spanischen Chronisten zu zählen sind, aus deren Zeit heraus zu verstehen. Damit gelang ihm „gegenüber der älteren Literatur durchaus eine Rettung des Edelmannes alter Schule, dessen naiver Eigennutz von Walther nicht als persönlicher Makel, sondern als zeit- und standesgemäß gefaßt wird.“243 Tatsächlich ist die Verwendung der Briefe des Petrus Martyr in den neueren Arbeiten deutlich zurückgegangen. Man kann und will auf diesen eigenwilligen Humanisten jedoch nicht völlig verzichten, denn Zeitkolorit vermitteln die kraftvollen Dokumente mit ihrer bilderreichen Sprache in jedem Fall und hinterlassen auch bei dem heutigen Leser nachhaltige Eindrücke. Da man nun die spanischen Quellen, durch neue Forschungsergebnisse weiter revidiert, mit der nötigen Distanz betrachten darf,244 sollte man vor allem nicht aus den Augen verlieren, was diese vielverwendeten Schriftstücke zu ihrer Zeit darstellten: Die Briefe des Petrus Martyr waren die eines Humanisten an seine humanistisch gebildeten Freunde, vorwiegend hohe Geistliche. Es handelt sich nicht um spontane, unkomplizierte Mitteilungen in gehobener Umgangssprache, wie man sie heute an Freunde schreiben würde. Jeder Brief ist ein kleines sprachliches Kunstwerk, voller geistreicher Anspielungen auf die antike Mythologie oder Geschichte. Petrus Martyr war kein Historiograph, er beabsichtigte nicht, eine Historia oder eine Crónica zu verfassen: Er gab, auf eigenem Erleben oder auf Berichten fußend, Neuigkeiten vom Tage kommentiert weiter, aber er 242 Walther 1911, 127 f. Für die Biographien des 19. Jahrhunderts ist dabei zu beachten, daß die Autoren ihre Quellen oft nicht angegeben haben. Einige beschränken sich darauf, Zitate als solche zu kennzeichnen. 243 Brandi 1941, 76. 244 Schon Brandi warnte vor einer allzu gläubigen Übernahme von Angaben Petrus Martyrs (1941, 16).

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schrieb nicht nur für den Tag. Nach Humanistenbrauch fertigte er von jedem Brief eine Kopie an im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung, den „Gesammelten Aufsätzen“ oder „Kleinen Schriften“ heutiger Gelehrter vergleichbar. Das Opus epistolarum, 816 Briefe umfassend, erschien 1530 erstmals in Alcalá de Henares im Druck. Die Schreibsituation Santa Cruz’ und Sandovals war eine völlig andere: In enger Verbindung zum Hof schrieben sie die Geschichte Karls V. aus spanischer Sicht, Santa Cruz noch zu Lebzeiten des Herrschers, Sandoval für dessen Enkel, Philipp III. Der fremde Prinz war Spanier geworden, Vater einer neuen Dynastie, zum Kaiser gekrönt. Sein umstrittener, angefeindeter Ratgeber hatte Spanien nach 1519 nie wieder betreten, ebenso wenig die Niederländer seiner Umgebung. Chièvres war 1521 gestorben: Die Ereignisse der Jahre 1517 bis 1519 waren Geschichte. Beide Historiographen schrieben aus der Rückschau, in Kenntnis der folgenden Entwicklung. Das bedeutete nicht Verzicht auf die Schilderung der Vorkommnisse und Stimmungen der betreffenden Jahre, jedoch eine distanziertere Sicht, als sie sich in den Briefen des Zeitzeugen Petrus Martyr offenbart.245 In dessen Opus epistolarum konnte ich für den Zeitraum zwischen dem 17. August 1516 und dem 7. Mai 1519 achtzehn Briefe feststellen, in denen der Verfasser Bezug auf Chièvres nimmt.246 Nach dem früheren positiven Urteil über den Erzieher des Thronfolgers (1513) beginnt sich schon 1516 eine deutliche Entwicklung zum Negativen abzuzeichnen, wobei der Ton sich vom leichten Spott über die beißende Karikatur bis zur Verbalinjurie steigert. Auslösende Momente für diese Angriffe des Humanisten waren zunächst die Gerüchte über Chièvres’ Habgier und die seiner zahlreichen Anhängerschaft, welche sich – aus spanischer Sicht – bald mehr als bestätigten. Im Laufe der Zeit kamen weitere Anlässe hinzu, so der Ämterkauf, die Ämterhäufungen und vor allem die Vergabe von wichtigen geistlichen und politischen Positionen an flamencos, womit in eklatanter Weise gegen den letzten Willen der hochverehrten Königin Isabella verstoßen wurde. Daneben empörte die nahezu völlige Abschirmung des jungen Königs gegen die Spanier: alle Gesuche, alle politischen Entscheidungen gingen durch Chièvres’ Hände, der bald als der eigentliche Herrscher galt – alter rex nannten ihn die venezianischen Gesandten.247 Weitere Gründe waren die ungeheure Ausbeutung 245 Zu ihm vgl. Jaumann 2004, 37 f. 246 Da mir das Werk nur kurzzeitig zur Verfügung stand, erhebt diese Zahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Tendenz der Briefe wird durch die ohnehin erforderliche Auswahl hinreichend aufgezeigt. 247 Diese Bezeichnung taucht in der Literatur später häufig wieder auf, z.B. bei Gossart (1910, 167 f.) und Menéndez Pidal (1960, 148). Dieser fügt allerdings hinzu, daß diese Bezeichnung nicht die tatsächliche Situation wiedergebe: Während sein Vater Philipp sich von Chièvres völlig habe leiten lassen, habe Karl als der seinem Vater weit überlegene Geist

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der Reichtümer Spaniens, die wohl 1519 ihren Höhepunkt erreichte,248 aber auch das schlaue, ja raffinierte Vorgehen Chièvres’ und seiner Gefolgschaft, die ihre Machenschaften sorgfältig zu verbergen und Vorwürfe zu entkräften wußten, so daß der König – darauf beharrt Petrus Martyr – von den beklagenswerten Zuständen nichts erfuhr. Mit einigen ausgewählten Beispielen aus dem Opus epistolarum soll die hier angedeutete Entwicklung belegt werden: August 1516: Erste Gerüchte über die Habgier des Großkämmerers sind in Spanien verbreitet worden. Die Vermutung liegt nahe, daß Manriques Memorandum nicht so geheimgehalten worden war wie ursprünglich beabsichtigt. Petrus Martyr fürchtet schon jetzt für das Land: Nescio quid immurmuratur de istius vestri magni cubicularii, & una nutritii avaricia, id si ita est, veh regi, veh regnis ab eo regendis ... Bereits in diesem Brief kann er übrigens von der Ernennung des Manrique zum Bischof von Cordoba berichten.249 September 1517: Die Gerüchte finden eine erste Bestätigung: Chièvres erlangt den Oberbefehl über die Flotte des Vizekönigs von Neapel, was ihm – in Abwesenheit – die damit verbundenen Einnahmen sichert. Anlaß genug für Petrus Martyr, Chièvres’ Namen ins Lateinische zu übersetzen (capra), was man noch als leichten Spott auffassen könnte, von nun an jedoch fast nur noch vom caper zu schreiben und mit der Doppeldeutigkeit des Wortes sein Urteil über Chièvres abzugeben – diesen Bock umgibt ein übler Geruch: Sed abscindere illi fimbriam regis nutricius dominus de Xevres Gallice, latine capra, in benefactorum praemium studuit. Triremium, quibus Ramonus prorex diu praefuit ad Tutellam regni destinatarum, sibi petiit Caper imperium, quo absens illarum stipendiis frueretur. [...] Aiunt esse avarum [...] Veh nobis si vel ita est, vel si ab huiusmodi hominibus se rex gubernari patiatur.250

November 1517: Kardinal Ximénes verstirbt, kurz nachdem Karl spanischen Boden betreten hat, ohne dem jungen König noch begegnen zu können. Damit ist das Erzbistum Toledo verwaist; das höchste kirchliche Amt Spaniens, verbunden mit der Kanzlerschaft über Kastilien, muß neu besetzt werden. Chièvres gelingt genug Kraft besessen, um alle Mißstände selbst zu bekämpfen. Diese Auffassung kann sich nur auf die Zeit ab 1522 beziehen. Menéndez Pidal läßt jedoch im Verlaufe seiner Darlegungen erkennen, daß Gattinara, den übrigens Petrus Martyr außerordentlich schätzte, eine nicht unerhebliche Rolle für die weitere Entwicklung des jungen Herrschers spielte. 248 Es sollen ganze Schiffsladungen ungemünzten Silbers, das aus den „Neuen Indien“ eingetroffen war, sowie kostbare Stoffe, Edelsteine und Spezereien aus dem Orient über Barcelona in die Niederlande verbracht worden sein; die Spanier erboste vor allem das fast völlige Verschwinden der berühmten Doppeldublonen mit den Porträts der Katholischen Könige in den Taschen der Niederländer (Gossart 1910, 81–83). 249 Petrus Martyr, epist. 576 (p. 560 W., 17.8.1516). 250 Petrus Martyr, epist. 594 (p. 569 W., 11.9.1517).

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es, seinem noch nicht zwanzigjährigen Neffen Guillaume de Croy251 diese Würde zu sichern, eine ungeheure Beleidigung und Herausforderung für ganz Spanien, eine Verletzung auch des Andenkens der Königin Isabella, die die Besetzung dieses Amtes durch einen jungen Ausländer nicht geduldet hätte: Sed durius aliud contra regni leges & consuetudinem emergit, quod forte aliquando turbulas excitabit. Nutritorem dominum de Xebres aiunt regi Toletanum archiepiscopatum petiisse puero cuidam nepoti suo Caramacensi iam episcopo praebendum.252

März 1518: Selbst unter den eigenen Landsleuten regt sich nicht nur Neid, sondern auch Zorn gegen Chièvres, weil der premier chambellan offensichtlich nur den eigenen Nutzen, nicht den des Königs im Auge hat, weil er sich geduldig und mit schlauen Winkelzügen immer mehr bereichert und damit den Haß der Spanier gegen den König schürt. Chièvres leugnet alle ihm vorgeworfenen Unredlichkeiten. Den König aber schirmt er von allen Spaniern wie von gefährlichen Feinden ab. Gelingt es dennoch jemand, eine Audienz zu erwirken, verfolgen Chièvres und seine Vertrauten das Gespräch „mit hervortretenden Augen“. Auch alle übrigen Gespräche, die der König führt, werden Chièvres ohnehin zugetragen, der König aber gehorcht ihm: Kein Schüler war je seinem Lehrer unterwürfiger.253 In weiteren Briefen gibt Petrus Martyr seinen Klagen Ausdruck darüber, wie die Belgier und Franzosen [!] die fetten Weiden Kastiliens durchstreifen und unter den Herden alles, was ihnen zusagt, als Opfertiere auswählen werden.254

251 Der Zisterzienserabt von Afflighem wurde mit kaum 17 Jahren Bischof von Cambrai. Am 2. April 1517 kam Kardinal Luigi d’Aragona als Legat Leos X. in die Niederlande, um ihm den Kardinalshut zu überbringen. Leo X., selbst mit 13 Jahren zum Kardinal erhoben, sah in dem zarten Alter des neuen Würdenträgers offensichtlich kein Hindernis. Die Verleihung der Kardinalswürde noch vor Beginn der Spanienreise, also noch zu Ximénes’ Lebzeiten, läßt zumindest vermuten, daß man den jungen Mann für eine große Karriere in der spanischen Kirche ausersehen hatte. Ob dabei schon eine Nachfolge des Primas von Spanien ins Auge gefaßt war, läßt sich nicht nachweisen, aber immerhin war Ximénes bereits 81 Jahre alt. 1518 wurde dem jungen Croy die Würde von Karl übertragen. Die Angaben zu seiner Anwesenheit in Spanien differieren; nach Gossart (1910, 81 Anm. 1) hat er spanischen Boden nie betreten, die Einkünfte aus dem Erzbistum (60.000 Dukaten pro Jahr) aber bis zu seinem frühen Tode 1521 bezogen. 252 Petrus Martyr, epist. 603 (p. 572 W., 10.11.1517). 253 Petrus Martyr, epist. 614 (p. 577 W., 15.3.1518): hinc est rex Capro adeo parens, ut pupillus tutori nullus unquam fuerit submissior. Ab Hispanis cavent hi omnes tanquam ab hostibus infensissimis, pauci admittuntur ad arcana cubiculi, & si quis forte, protentis oculis Caprenses illum continue inspectant, si quid regi dicant. 254 Petrus Martyr, epist. 616 (p. 578 W., 6.5.1518): ergo libere ac solute per haec pinguia Castellana pascua Belgae Gallique vagabuntur et ad votum inter greges et armenta deligent, quaecunque oculis placebunt [...]

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Mai 1518: Nahezu triumphierend berichtet Petrus Martyr von der Erkrankung des Großkanzlers Jean le Sauvage, dem neben Chièvres sein besonderer Haß gilt.255 Im Juli teilt er Le Sauvages Tod mit: Primus hic regius Cancellarius, quem aegrotare alias vobis significavi, Belga homo, iureconsultus, ad egregios nostri regis mores pervertendos natus, qui priusquam ex Flandria moveret, venalia coeperat facere omnia, [...] qui iam in inquisitioni haereseos, sacram maiestatem precio diruere statuerat, iam sine precio traiecit Acherontem, neque trientem secum quem porrigeret nautae detulit. [...] hic si diu vixisset ad rabiem usque universam traxisset Hispaniam, quandoquidem rex monitus, ut ab horum perniciosis consiliis caveat, minime auscultat. E pluribus ergo hydrae capitibus unum excisum est, ne septem renascantur orandum est.256

Im August folgt die Nachricht, daß auch Chièvres erkrankt sei und die Petrus Martyr keineswegs mit Genesungswünschen verbindet: Caper hic, vulgo Xebres regis educator mavis devorator, fluxu sanguinis laborat. formidat exemplo sui collegae magni Cancellarii.257 Sommer 1518: Die Vermählung Eleonores mit dem König von Portugal entlockt Petrus Martyr keine Freudenbezeugungen. 21.000 Dukaten sei ihr sanguis virgineus auf dem Heiratsmarkt wert gewesen, will er aus sicherer Quelle erfahren haben. Das Vermittlungsgeschäft soll Chièvres getätigt haben.258 Nun wird sie dem ältlichen Manuel dem Reichen angetraut, von unseligen Verkäufern verschachert: Egregia nympha Leonora Regis nostri soror est Regina, huius mensis die quinto iter coepit ad maritum Portugalliae regem. Albae dux ad limites usque Portugalliam a Castella dirimentes, eam comitabitur. Don Alfonsus Manrrichus Cordubensis episcopus illam ad maritum ducet. It comes Arpiae celerior curvis unguibus Xebrensis vetula, marito in rapiendo nihilo melior. Universam Portugalliam si universa praebeatur devorabit. Magno constabit amanti Regi tenerum illud intactum inguen, seductis tot venditoribus.259

Selbst Madame de Chièvres, dame d’honneur der Braut, ist nach Petrus Martyr von unglaublicher Habgier besessen: Er beschuldigt sie, sich die Perlen angeeignet zu haben, die Karl seiner Schwester als Hochzeitsgeschenk zugedacht hatte.260 255 Petrus Martyr, epist. 621 (p. 580 W., 31.5.1518). Schon Manrique hatte Le Sauvage der Habgier verdächtigt. Allerdings wurde der Großkanzler von Burgund sehr unterschiedlich beurteilt. So weist Gossart 1910, 84 f. Anm. 1 auf einen Brief des englischen Diplomaten Spinelly an Heinrich VIII. hin, der einen völlig anderen Eindruck vermittelt. 256 Petrus Martyr, epist. 623 (p. 581 W., 13.7.1518). 257 Petrus Martyr, epist. 626 (p. 582 W., 13.8.1518). 258 Petrus Martyr, epist. 624 (p. 581 W., 19.7.1518); vgl. 621 (p. 580 W., 31.5.1518). 259 Petrus Martyr, epist. 631 (p. 585 W., 24.9.1518). 260 Petrus Martyr, epist. 624 (p. 581 W., 19.7.1518).

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Den Brief, in dem er das Schicksal der tugendhaften Braut Eleonore beklagt, könnte man umfassender die „Klage Spaniens“ nennen: Einer Delegation von Bürgern Toledos und anderer Städte Spaniens ist es gelungen, eine Audienz beim König zu erwirken. Sie tragen ihm ihre Klagen vor und bitten, daß der Herrscher für Abhilfe sorgen möge, damit nicht seine Franzosen (Galli) und Flamen Kastilien weiterhin grausam ausbeuteten und die Schätze des Landes unter sich aufteilten, nicht entgegen den Gesetzen des Königreiches Geld außer Landes brächten, freigewordene Ämter verkauften und den wirtschaftlichen Niedergang Spaniens herbeiführten. Sie verlangen nichts Unbilliges, doch vergebens: Castellanas res Castellanis dari debere postulant, Flamingas Flamingis, reminiscatur: haec iter capere ad odium a summa observantia & amore, quibus eius adventus desiderabatur: haec & multa praeterea Regi dixerunt, sed frustra, regitur, non regit, incidit in latrones, repulsi sunt nuntii a Castellanis met interpretibus & actoribus patriae titionibus, quo rem suam perficiant hi Caribdeas Capri ac reliquorum eius collegarum voragines & fovent & illis praedas monstrant digito, qui sunt aliunde quaerite.261

Am Ende dieser Auszüge aus den Briefen des Petrus Martyr soll eine Zeile stehen, die komprimiert den Tenor und die Zielrichtung seiner Klagen und Anklagen zum Ausdruck bringt: Vorago haec inexhausta Caprensis, quae non solum Regis & regnorum eius facultates expilat ad ossa usque, sed honorem et famam devorat, commentum reperit novum...262

Alonso de Santa Cruz konnte zu Lebzeiten Karls – und in enger Verbindung zum Hofe stehend – diese Briefe wohl kaum für seine Crónica heranziehen, andererseits aber die schweren Mißstände der ersten Regierungsjahre des Königs nicht unerwähnt lassen. Es hat den Anschein, daß er das Memorandum des Manrique und die darin erhobenen Vorwürfe kannte. Auch Santa Cruz sah in dem Ämterkauf, der bereits in den Niederlanden eingesetzt hatte, die Wurzel alles folgenden Übels. Während Manrique lediglich hervorhebt, daß es die Neuankömmlinge waren, die sich auf diese Weise in den Hofdienst einkauften, unterstreicht Santa Cruz, daß diese Leute keinerlei bisherige Verdienste und keine Erfahrung in Amtsgeschäften hatten, während die Erfahrenen, Gebildeten bei der Ämtervergabe übergangen wurden, wenn ihnen die entsprechenden finanziellen Mittel fehlten. Als Hauptnutznießer dieser Praktiken nennt Santa Cruz den Großkanzler Jean le Sauvage, den auch Manrique bereits der Habgier bezichtigt hatte. Der junge König ahnte Santa Cruz zufolge nichts von diesen Vorgängen. Ihm und Spanien erwuchs für die Zukunft viel Schaden daraus:

261 Petrus Martyr, epist. 631 (p. 585 W., 24.9.1518). 262 Petrus Martyr, epist. 640 (p. 589 W., 7.5.1519).

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[...] y á la verdad para el bien del Reino y servicio del Rey fuera mejor que nunca fueran allá, porque pusieron las cosas en codicias y avisos y malos consejos que de antes los flamencos no sabían nada, de lo cual sucedieron muchos males en estos Reinos.263

Nach der Ankunft Karls in Spanien setzte sich die einmal eingerissene Praxis des Ämterkaufs nach Santa Cruz’ Zeugnis in großem Maßstab fort, so daß die gute, solide Regierungsarbeit sowie die Redlichkeit und Unbestechlichkeit der Justiz untergraben wurden, die seit der Zeit der Katholischen Könige in hohem Ansehen gestanden hatten. Ein weiteres Übel gesellte sich hinzu: Die hombres plebeyos, la gente baja de los flamencos, die dem König nach Spanien gefolgt waren, fühlten sich dem einfachen spanischen Volk überlegen und lebten rücksichtslos aus dem Lande.264 Chièvres hielt den König von all dem, aber auch von den Spaniern völlig fern. Darin sieht der Chronist die Ursache für allerlei Gerüchte, die sich im Lande zu verbreiten begannen und die dazu führten, daß viele Spanier den ihnen unbekannten König zu verabscheuen, ja zu hassen begannen. Diejenigen aber, die Gelegenheit hatten, mit dem Herrscher zu sprechen, erkannten seine Klugheit und ruhige Gelassenheit. Nicht bei ihm, sondern bei Chièvres lag der Fehler: Er war ein Tyrann, und erst nach seiner Entfernung würde Karl sich zu einem guten König entwickeln: [...] otros, como alguna vez hablasen á Su Alteza y le viesen cuerdo en su habla y muy reposado en su persona, juraban que no estaba en él el defecto, sino en Chievres que era un tirano, y que quitado Chievres de por medio, que tenían buen Rey y que se administraría mejor la justicia y no habría tanta disolución en la injuria, y avaricia, y codicia, y en otros muchos vicios.265

Zu dem Zeitpunkt, als Santa Cruz seine Crónica verfaßte, konnte er konstatieren, daß nun, da beide, Chièvres wie auch der Großkanzler, tot seien, sich herausgestellt habe, daß alle Schuld bei ihnen gelegen habe. Der König hatte die Mißbräuche der Vergangenheit nicht zu verantworten; allenfalls war ihm vorzuwerfen, daß er sich von diesen Männern hatte beherrschen lassen.266 Von dem Hauptvorwurf, den Petrus Martyr gegen Chièvres erhoben hatte, daß er nämlich der ärgste unter den Ausbeutern des Landes sei, erwähnt Santa Cruz nichts. Selbst für die Besetzung des Erzbistums Toledo mit dem jungen Croy, die seinerzeit so viel Empörung ausgelöst hatte, findet der Chronist des Königs andere Schuldige: Etliche der Granden hatten Ansprüche auf das Amt geltend gemacht, und da sie sich nicht einig werden konnten, sollen sie beschlossen haben, das Amt einem unbeteiligten Fremden anzutragen. Um Chièvres gefällig zu sein, boten sie es 263 Santa Cruz 143. 264 Santa Cruz 165. 265 Ebd. 166. 266 Ebd.

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ihm für seinen Neffen an, dem der König dann die Würde verlieh.267 Nach diesem Freispruch Chièvres’ von allen Verfehlungen konnte Santa Cruz Karls ehemaligem engsten Vertrauten nur noch anlasten, daß er den jungen König nicht über die Verhältnisse im Lande informiert und ihn von den Spaniern und ihren berechtigten Anliegen völlig abgeschirmt hatte, daß er ferner alle Entscheidungen allein getroffen hatte, wobei gravierende Fehler, die gemacht wurden, auf den König zurückfielen. Doch das gehörte der Vergangenheit an, und Santa Cruz ließ die Gelegenheit nicht verstreichen, der Chronik an dieser Stelle ein Herrscherlob einzufügen. Die Gegenüberstellung der Briefe des Petrus Martyr mit der Chronik des Santa Cruz, die im Abstand nur weniger Jahrzehnte am gleichen Ort und während der Regierungszeit desselben Monarchen entstanden, verdeutlicht in eklatanter und beispielhafter Weise nicht nur die Zeit-, sondern auch die Situationsgebundenheit dieser wie generell aller Quellen. Die Situation, in der Sandoval seine Historia schrieb, war wiederum eine andere als die des Santa Cruz: Als Bischof von Pamplona konnte er die reichen Schätze an edierten wie unveröffentlichten Quellen ausgiebig für seine Kaiservita nutzen. Daß er dabei zahlreiche Texte einfach kopierte und die chronologische Ordnung nicht immer einhielt, ist längst bekannt. Selbst wenn man nur einen geringen Teil der von ihm benutzten Materialien studiert hat, bleibt häufig ein Wiedererkennungseffekt nicht aus. Nur gelegentlich gibt er seine Gewährsleute an. Aus der Mischung der Quellen mag die größere Farbigkeit seiner Darstellung gegenüber der nüchterneren des Santa Cruz resultieren. Eine überbordende Phantasie bei der Ausgestaltung seiner Schilderungen in der Manier eines Varillas kann man Sandoval jedoch nicht nachsagen. Daß er die Briefe des Petrus Martyr wie auch das Werk des Santa Cruz kannte und vor allem letzteres häufig benutzte, wird immer wieder deutlich. Wenn er die Briefe aufgreift, bedient er sich allerdings einer gemäßigten Sprache und verzichtet auf die Wiedergabe von Petrus Martyrs verbalen Attacken.268 Der Bischof von Pamplona konnte die Machtmißbräuche der frühen spanischen Regierungsjahre Karls V. jedoch schildern in der Gewißheit, daß unter der Herrschaft des neuen Königs, nachdem er die falschen Berater hin-

267 Santa Cruz 167. 268 Gossart, dem offenbar das Verständnis für den Charakter dieser Humanistenbriefe fehlte, kritisiert zweimal sehr scharf die Sprache des Petrus Martyr: „Ses insultes sont d’une grossièreté qui choque chez cet humaniste à la forme toujours élégante ailleurs. Evidemment, il dépasse la mesure; mais dans ses diatribes il est difficile de faire la part de la vérité et de l’exagération [...]“ (1910, VII); „on ne s’imaginerait pas quel arsenal d’injures lui fournit la langue latine quand il exhale sa haine contre les Flamands. Il accumule alors les épithètes et les figures les plus outrageantes [...]“ (ebd. 84). Er nennt anschließend eine Reihe der heftigsten verbalen Ausfälle gegen die Niederländer.

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ter sich gelassen hatte, Spanien zu Ruhm und Größe emporgewachsen und seine Historia einem der Höhepunkte in der Geschichte des Landes gewidmet war. Mit Sicherheit hat Sandoval das Memorandum Manriques vorgelegen; wie Santa Cruz erkannte er daraus die Anfänge einer für Spanien schädlichen Entwicklung schon in ihrem ersten Stadium in den Niederlanden: Es waren vor allem Männer, die in Kastilien kein Ansehen genossen und zu Lebzeiten Ferdinands von Aragon nicht hatten reüssieren können, die in die Niederlande flüchteten. Indem sie Zwietracht säten unter den Spaniern am burgundischen Hof, versuchten sie ihre eigenen Interessen zu fördern. Sie schlugen vor, daß Karl den bisherigen Consejo de Castilia auflösen solle, in dem von Ferdinand von Aragon berufene gelehrte, erfahrene und wegen ihrer Ehrbarkeit (virtud) angesehene Männer dem Wohle des Landes dienten. Die Neuankömmlinge konnten Chièvres nicht für ihre Intrigen gewinnen, reichten aber dennoch Gesuche ein und versuchten, Ämter zu kaufen: Y si bien monsieur de Xevres no era de este parecer, no por eso dejaron de se meter en comprar los oficios; tanto que muchas veces no bastaban servicios pasados, ni buenas costumbres, ni ciencia, ni experiencia, si no eran acompañados de dineros.269

Wie bereits Manrique es andeutete und Santa Cruz es klar aussprach, muß Le Sauvage in diese schmutzigen Geschäfte verwickelt gewesen sein und seinen Nutzen daraus gezogen haben; Sandoval folgt ihnen und läßt keinen Zweifel an den Verfehlungen des Großkanzlers.270 Ebenso betont er wie seine Vorgänger ausdrücklich, daß der König von all dem nichts erfuhr. Anschließend läßt er durchblicken, daß Chièvres wohl doch am Gewinn beteiligt war und Provisionen kassierte. In diesen betrügerischen Machenschaften, durch die ungeeignete, unredliche Männer in ihnen nicht angemessene Positionen aufrückten, die sie zu ihrer Bereicherung nutzten, sieht Sandoval eine der Ursachen für die späteren Aufstände in Kastilien: Ihren Königen hielten die Kastilier immer die Treue, Widerstand erregten allein die unerträglichen Übergriffe der schlechten ausländischen Minister.271 Die Vergabe des Erzbistums Toledo an den jungen Guillaume de Croy, die in Spanien so große Empörung ausgelöst hatte – das schönste Juwel der Königreiche sei einem Ausländer gegeben worden, heißt es bei Sandoval – erklärt der Chronist ähnlich wie Santa Cruz: Chièvres habe sich in diesem Fall nicht selbst um diese hohe Würde für den Neffen bemüht, sondern bestimmte caballeros, also Spanier, 269 Sandoval 109 (mit einer wörtlichen Übernahme aus Santa Cruz 143). Wenn der Chronist an dieser Stelle hinzufügt, daß er diese Informationen einem Originaldokument entnommen habe, kann er sich jedoch nur auf das Memorandum Manriques bezogen haben. 270 Ebd. 271 Ebd. 111.

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hätten sich bei ihm und anderen flamencos, die in der Gunst des Königs standen, einschmeicheln wollen.272 Um die Handlungsweise des Königs in dieser Angelegenheit zu entschuldigen, führt Sandoval dessen Jugend, mangelnde Kenntnis der Sprache, der Sitten des Landes und seiner Menschen an.273 Lobend hebt er die vielversprechenden Eigenschaften Karls hervor und schließt in das Lob auch den Mann ein, der den Prinzen erzogen hat: [...] aunque el natural del rey era bonísimo y el celo de acertar cual se podía desear en un príncipe verdaderamente cristiano y de sanas entrañas, por fuerza se había de guiar por las cabezas de otros, y como él se había criado con Xevres, y era hombre anciano y de harto ingenio, valor y nobleza conocida, dábale mano para todo, y a él lo remitía, y con su acuerdo y consejo lo gobernaba y ordenaba [...]274

Die Meinung der Spanier über den ehemaligen Erzieher des Königs muß sich rasch geändert haben, denn schon bald erhob sich Unmut dagegen, daß alle wichtigen Angelegenheiten durch den Rat und seine Freunde geregelt wurden. Erstmals wird auch seine Habgier ausdrücklich erwähnt, und alle Niederländer im Dienste des Königs werden des gleichen Lasters verdächtigt.275 Diesem Kontext ist auch Chièvres’ angebliche Vermittlerfunktion bei der Verheiratung Eleonores mit dem König von Portugal zuzuordnen, für die Manuel der Reiche ihn mit einer hohen Summe entlohnt haben soll. Sandoval drückt sich hier vorsichtig aus und gibt zu erkennen, daß er nur eines der Gerüchte weitergibt, die sich um diesen Ehevertrag rankten.276 Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Mitteilung vom Tode des verhaßten Großkanzlers Le Sauvage, der „sein Gold mehr liebte als die Menschen“; Sandoval kommentiert die Nachricht nicht mit der gleichen Schärfe wie Petrus Martyr, kann sich aber doch der Bemerkung nicht enthalten, daß diesem Mann kaum jemand eine Träne nachweinte.277 Was die Spanier an Karls Ratgebern, vor allem an Chièvres, neben der Habgier am meisten erbitterte, war nach Sandoval die Tatsache, daß alle Geschäfte von Chièvres geführt wurden, der kaum jemandem den Zutritt zum König gestattete.278 Man konnte den Eindruck gewinnen – so der Chronist – als sei Chièvres 272 Sandoval 121. Der Text entspricht hier fast exakt Santa Cruz 167. 273 Allerdings weist er an späterer Stelle (137) darauf hin, daß Karl 1518 mit der endgültigen Ernennung des Fremden zum Primas von Spanien gegen den inzwischen in Valladolid auf die Gesetze des Landes geleisteten Eid verstoßen habe; das Gleiche galt auch für die Übertragung des Amtes des contador mayor an Chièvres (ebenfalls 1518). 274 Sandoval 122. 275 Ebd. 135. 276 Ebd. 136. 277 Ebd. 278 Petrus Martyr und Santa Cruz hatten diese Abschottung des Königs gleichfalls gerügt.

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der König und nicht der Vasall und Diener, der er in Wirklichkeit war, und der König nur sein Sohn. Hier tritt wieder der so oft erhobene Vorwurf der übermäßigen Lenkung des Prinzen zutage, der aus dem Schreiben Manriques, aber u.a. auch aus einem englischen Diplomatenbrief an Kardinal Wolsey spricht, wo es heißt: Der Prinz wird von seinem Rat wie ein Kind geleitet.279 Mit anderen Worten: Trotz des feierlichen Akts der Emanzipation des Prinzen am 5. Januar 1515 in Brüssel stand seine eigentliche Lösung aus der Vormundschaft noch aus. Um die Aussagen zu Karls Unterordnung unter Chièvres’ Herrschaft zu bekräftigen – dies sei als Beispiel für Sandovals großzügigen Umgang mit Quellen genannt –, fügt er seinem Bericht über die Ereignisse des Jahres 1520 eine Passage aus Manriques Memorandum von 1516 ein, die auch in der spanischen Fassung unschwer zu erkennen ist: Visto he un memorial que destas cosas escribió un caballero contino de la casa real [!], que como testigo de vista las dice, y dice que como el rey era mozo y sabía poco de negocios, no consentía Xevres que le hablase nadie sin saber primero lo que quería decir, por poner al rey en lo que había de responder.280

Nachdem Sandoval zuvor bereits auf Karls Wahl zum Römischen König ausführlich eingegangen ist,281 befremdet dieser Rückgriff auf ein überholtes Schriftstück umso mehr. Wenn man nicht willkürlichen Umgang mit dem Dokument unterstellen will, liegt die Vermutung nahe, daß der Autor eine bestimmte Absicht damit verfolgte. In den folgenden Abschnitten resümiert Sandoval nämlich alle negativen Aspekte der ersten Regierungszeit Karls (bis 1519) und läßt den Erwählten Römischen Kaiser in denkbar ungünstigem Licht erscheinen. Auf diese Weise läßt sich am ehesten die mißtrauische und äußerst ablehnende Reaktion der Cortes, der Städte und der Bevölkerung auf die Wahl ihres Königs zum höchsten Herrscher der Christenheit und auf die Ankündigung seiner Krönungsreise nach Aachen erklären: Man befürchtete – nach den bisherigen Erfahrungen wohl nicht zu Unrecht –, daß Spanien, das sich bereits gegenüber den Niederlanden zurückgesetzt fühlte, innerhalb des großen Kaiserreiches noch weiter an Bedeutung und Ansehen verlieren und zur Kolonie herabsinken könnte, die nur noch der Finanzierung der kaiserlichen Unternehmungen diente. Chièvres, die flamencos generell

279 Brief Sampsons an Wolsey, 10.7.1515, zit. ohne Quellengabe bei Baumgarten 1885, 18. 280 Sandoval 192. In Spanien unterstellte man Chièvres zudem, daß er seine dominierende Position ausnutze, um alle politischen Entscheidungen, die zu einem Erfolg geführt hatten, als seine eigenen auszugeben, offensichtliche Fehler in der Regierungsarbeit aber dem König anzulasten. Dem Ansehen des Königs wurde damit erheblich geschadet. 281 Ebd. 143–145. Die Wahl fand am 28. Juni 1519 in Frankfurt statt. Seit dem 2. Februar 1520 wird Karl unter dem vom Papst bestätigten Titel „Erwählter Römischer Kaiser“ geführt.

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und auch der junge Herrscher werden noch einmal von ihrer dunkelsten Seite gezeigt, wobei vorwiegend schon zuvor erhobene Vorwürfe wiederholt werden: Estaba el rey sumamente aborrecido, porque no le trataban ni comunicaban, ni conocían. [...] De aquí vino a cobrar muy malo opinión. Teníanle por poco entendido, mal acondicionado. Llamábanle tudesco, enemigo de españoles, y decían que tenía falta de juicio y sin talento para gobernar: y aún le duró algunos días esta opinión, de que en esto se parecía a su madre. Unos decían que siendo tales sus condiciones, acertaba Xevres en no dejar que le viesen ni tratasen [...] Luego que se publicó por el reino la determinación de la partida del Emperador para Alemaña a la coronación, [...] comenzóse a sentir y murmurar sangrientamente, diciendo que el rey estimaba en poco estos reinos: que no queria sino a Alemaña: que monsieur de Xevres había robado a España: [...] Estas cosas y otras semejantes, puestas en los ánimos del común inquietaban, y los frailes pública y libremente predicaban cómo las consentían, y que los estranjeros desfrutasen a España; [y que el rey ya quería] llevar su riqueza a Alemaña; y que con ser Xevres en Flandes un caballero particular, se había hecho de los más ricos del mundo en Castilla. Estaban encarnizados los flamencos en el oro fino y plata virgen que de las Indias venía, y los pobres españoles, ciegos en darlo por sus pretensiones. Que era común proverbio llamar el flamenco al español ‘mi indio’. Y decían la verdad, porque los indios no daban tanto oro a los españoles como los españoles a los flamencos.282

Diese Auszüge aus der Historia Sandovals für das Jahr 1520 bilden den Abschluß meiner Spurensuche in den spanischen Quellen nach Aussagen und Urteilen über Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres. Es hat sich gezeigt, daß mit den Einschätzungen des Ratgebers oft die des jungen Königs und die des niederländischen Gefolges untrennbar verbunden sind. Wenn A. Walther das harsche Urteil der spanischen Chronisten, vor allem über Chièvres, über weitere Ratgeber und Amtsträger des Königs und auch über das Verhalten des jungen Herrschers selbst aus dem Unverständnis der Spanier für die Gepflogenheiten der feudalen Welt Burgunds erklärt, wo man keinerlei Verstöße gegen Recht und Moral sah in der

282 Sandoval 193. 195. 193. Bei dem letzten hier angeführten Zitat fragt man sich, ob Sandoval sich der Zweischneidigkeit bewußt war, die darin liegt: Die flamencos verhalten sich den Spaniern gegenüber so wie diese gegenüber den indigenen Völkern der Nuevas Indias. Die Spanier müssen nun, wenn auch in weit geringerem Ausmaß, weniger am eigenen Leben als am eigenen Hab und Gut erfahren, was es heißt, von einem „Herrenvolk“ als primitiv, rückständig, kurz: als unterlegen betrachtet und entsprechend behandelt zu werden. Wenn man der Anekdote Glauben schenken darf, müssen die Worte mi indio zumindest bei den Spaniern, die die Berichte des Bartolomé de Las Casas über die Behandlung der „Indianer“ durch die Conquistadores kannten, an das Gewissen gerührt haben. Man darf davon ausgehen, daß der Bischof von Pamplona sie kannte.

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Ausstattung des ehemaligen Gouverneurs mit großen Besitzungen283 und den Einkünften, die er daraus bezog, sowie in der Verleihung von Titeln, die mit keinerlei Verpflichtungen, aber hohen Einnahmen verbunden waren, so ist ihm nur in einem gewissen Maße recht zu geben. Die Zeiten feudaler Herrschaft lagen in Spanien noch nicht so weit zurück, als daß sie völlig hätten in Vergessenheit geraten sein können: Erst Königin Isabella hatte die feudale Macht der Granden unter einer Zentralgewalt gebändigt, während ihrer gesamten Regierungszeit aber gegen ein Wiederaufleben der alten Zustände kämpfen müssen. Petrus Martyr, der Zeitgenosse Isabellas, hat darum gewußt. Es war vor allem die Tatsache, daß Chièvres als einem Fremden große Reichtümer und Privilegien zugesprochen wurden, die Zorn, Empörung und Haß auslöste. Es ist Karl oft hoch angerechnet worden, daß er trotz aller gegen Chièvres erhobenen Vorwürfe seinem früheren Erzieher bis zu dessen Tode die Treue hielt und ihm wahre Ehrfurcht entgegenbrachte.284 Walther, der die Entwicklung des Prinzen unter der Leitung seines Gouverneurs mit viel Einfühlungsvermögen geschildert hat, muß dennoch einräumen, daß „Karl schon nach wenigen Jahren [Croy starb 1521] Chièvres verleugnete.“285 Ob dies zutrifft, möchte ich in Frage stellen. Seit 1518 jedoch war mit Mercurino di Gattinara eine Persönlichkeit in den Gesichtskreis des Königs getreten, die wohl geeignet war, Chièvres und seinen Einfluß noch zu dessen Lebzeiten in den Hintergrund treten und überwinden zu lassen. In den Commentaires erwähnt der Kaiser seinen langjährigen engsten 283 Guillaume 1873, 531 f. führt Chièvres’ sämtliche Besitzungen, Titel und Rangerhöhungen auf. Zu seinem Vermögen Dansaert 1942, 224 f. im Zusammenhang mit seiner Hinterlassenschaft: offensichtlich hat der premier chambellan erhebliche Teile seiner Gelder Karl V. vermacht, ohne den Kaiser jedoch namentlich in seinen beiden Testamenten (vom 7. Oktober 1520 und 21. Mai 1521) zu erwähnen. Nach einem Brief Gasparo Contarinis aus Worms vom 28. Mai 1521 (Dansaert 1942, 224 Anm. 395) soll Karl 500.000 Dukaten erhalten haben. In Diplomatenkreisen kursierten Gerüchte um diese Erbschaft, die sich zu bestätigen schienen, als Karl V. bald nach Chièvres’ Tod seine Armee erheblich vergrößerte und mit modernen Waffen ausrüstete. Zieht man außerdem Chièvres’ reiche Stiftungen in Betracht (ebd. 226), so muß der Großkämmerer über ein außerordentliches Vermögen verfügt haben. Sein Biograph beeilt sich, die Herkunft dieses Reichtums aus ganz legalen Quellen zu erklären: aus dem bedeutenden väterlichen Erbe und den Besitzungen von Madame de Chièvres, aus dem „Gehalt“ des leitenden Ministers und den Herrschaften, die Karl ihm im Laufe vieler Jahre verliehen hatte. Dansaert läßt hier, ganz im Sinne feudalen Denkens argumentierend, keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Donationen. Mögen sie auch das übliche Maß überschritten haben, so impliziert Dansaerts Verteidigung seines Protagonisten gegen den Vorwurf der avaritia eben das, was Walther (1911, 127) deutlicher formuliert: In Burgund galten noch die Grundsätze des feudalen Zeitalters, das in Spanien weitgehend überwunden war. 284 Walther 1911, 207 (m. Verweis auf eine relazione Corners); vgl. auch Merriman 1962, 12. 285 Ebd. 187.

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Vertrauten nicht ein einziges Mal, was aber nicht unbedingt Walthers Aussage stützen muß: Über alle persönlichen Beziehungen breitet Karl V. den Mantel des Schweigens.

3.2. Der pedagogus: Adrian von Utrecht Frühe Jahre der Prägung Unter dem Titel „Handeln zum Heil“ veröffentlichte Karl-Heinz Ducke 1976 eine Untersuchung zur Moraltheologie Hadrians VI. „Um die Quellen erkennen zu lassen, die für seine Tätigkeit als Wissenschaftler, Politiker und Papst entscheidend sind“, stellt Ducke der Erörterung der theologischen Fragen einen biographischen Abriß voran, in dem er Verbindungen herzustellen versucht zwischen der geistigen, geistlichen und politischen Position Adrians von Utrecht und dessen Lebensstationen.286 Einleitend muß Ducke allerdings einräumen: „Einer Beschreibung der Kindheit und Jugendzeit des späteren Papstes Hadrian VI. stehen nur wenige zeitgenössische Zeugnisse zur Verfügung. Einmal sind wichtige Urkunden verlorengegangen und zum anderen entstammte Hadrian nicht den Kreisen der Gesellschaft, über deren Leben Berichte geschrieben und Nachrichten aufbewahrt werden. Erst seine Wahl zum Papst veranlaßte die Geschichtsschreibung, sich mit den für sein Wirken bestimmenden verschiedenen Lebensphasen zu befassen.“

Angesichts der Schwierigkeiten, Einzelheiten zu den frühen Jahren selbst eines Prinzen und späteren Kaisers in Erfahrung zu bringen, und des nahezu völligen Fehlens von Informationen zur Jugend seines adligen Erziehers überrascht Duckes Feststellung keineswegs. Weder das ausgehende Mittelalter noch die Frühe Neuzeit waren „Zeitalter des Kindes“. In einer Epoche hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit galt die vorrangige Sorge der Eltern zunächst einmal dem Überleben ihrer Nachkommen. Nachrichten über Ereignisse aus der Kindheit und Jugend später zu Bedeutung gelangter Persönlichkeiten, wie sie uns in der Correspondance zwischen Maximilian I. und Margarete von Österreich vorliegen, haben Seltenheitswert. Mitteilungen werden ansonsten immer erst dann häufiger, wenn ein öffentliches Interesse an der Person erwacht ist. Daß über die Anfänge Hadrians VI. dennoch vergleichsweise viel bekannt ist, liegt in seinem Werdegang begrün286 Ducke 1976, 5–73 (Zitate: 5). Als seine Quellen nennt Ducke zwei auch hier benutzte Werke: die grundlegende Arbeit Ludwig von Pastors und den Katalog, der 1959 zum 500. Jahrestag der Geburt des Papstes erschien (Kat. Utrecht 1959). Weiterhin benutzt ist der „Hadrianus VI. sive Analecta Historica de Hadriano Sexto Trajectino Papa Romano“ des C. Burmannus (Utrecht 1727). Dieses Werk stellt nach Ducke den ersten Versuch von protestantischer Seite dar, der zuvor einseitigen, vorwiegend italienischen Geschichtsschreibung zu Hadrian ein Pendant gegenüberzustellen.

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det: Mit seiner Inskription an der Universität zu Löwen wird der Siebzehnjährige dort erstmals aktenkundig; anhand weiterer Löwener Dokumente läßt sich der Weg des Studenten bis zu seiner Promotion zum Doktor der Theologie verfolgen. Über sein anschließendes Wirken als akademischer Lehrer und als Inhaber hoher universitärer Ämter geben zahlreiche Quellen unterschiedlicher Provenienz Auskunft. Doch das gehört einem späteren Lebensabschnitt an; zunächst sollen die wenigen gesicherten Fakten dargelegt werden, die aus den Jahren bis zum Eintritt Adrians in die Universität bekannt sind und die von nicht unerheblicher Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit und für seinen Lebensweg werden sollten. Adrian Florisze oder Florens(z), Adrianus Florencii de Trajecto, Adrianus Florentius, Adrianus Traiectinus, Adria(e)n van/von Utrecht, Hadrian VI. – dies sind die häufigsten Namensformen, unter denen der geistliche Erzieher Karls V. in den Quellen und in der Literatur begegnet. Bei näherer Betrachtung erkennt man, daß sich in den hier aufgeführten Varianten des Namens die ganze Lebensbahn des Mannes abzeichnet, dessen Persönlichkeit hier nachgegangen werden soll. Adrian Florisze oder Florens(z), d.h. Florenssohn, wurde der Knabe genannt, der – wohl am 2. März – 1459 in Utrecht geboren wurde.287 In einer Zeit, als in den Niederlanden nur erst der Adel Familiennamen führte und die Einwohnerschaft der kleineren Städte noch überschaubar war, genügte das Patronymikon als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie.288 Florens Bo(e)yens[sohn], der Vater und Namensgeber Adrians, war Handwerker, Zimmermann und Schreiner. Die nunmehr gesicherten Erkenntnisse zum Berufsstand des Vaters, der der geachteten städtischen Handwerkerschaft angehörte,289 führten notwendigerweise zur Revision älterer Aussagen zur sozialen Herkunft Adrians. Während L. von Pastor noch schrieb, daß der spätere Papst „sich aus ganz kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte“,290 konnte R. Post 1959 zweifelsfrei feststellen: „Adriaan

287 In der Literatur hat man sich auf diesen Geburtstag geeinigt. Ducke 1976, 6 f. Anm. 7 weist auf andere, allerdings nur unwesentlich abweichende Angaben zum Geburtsdatum Adrians hin. Im gleichen Zusammenhang findet sich in Kat. Utrecht 1959, 49. 53 der Hinweis, daß Eintragungen in das Taufregister erst durch das Konzil von Trient verpflichtend gemacht wurden. 288 Aufgrund dieser Praxis der Namensgebung lassen sich Adrians Vorfahren väterlicherseits über mehrere Generationen zurückverfolgen und in Utrecht nachweisen. Einzelheiten dazu bei Campen 1959, 65 f. 289 Die Rechnungsbücher der Buurkerk, einer der Gemeindekirchen Utrechts, verzeichnen Arbeiten, für die er 1450/51 bezahlt wurde: Er verfertigte Holzkreuze und eine hölzerne Balustrade um das Taufbecken. S. dazu Post 1959, 35. 42. 290 Pastor 1925, 25. Bescheiden war allerdings wohl das Geburtshaus an der Oude Gracht, das später in die Paus Adriaanschool integriert wurde (Kat. Utrecht 1959, 71 Nr. 9).

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VI werd [...] geboren uit een goed gesitueerde burgerfamilie.“291 Der Vater verstarb allerdings früh: bereits 1469 wird die Mutter Geertruyt in einem amtlichen Schreiben Geertruyt Florijs Boeydens soens wedue genannt.292 Wohl noch zu Lebzeiten des Vaters besuchte Adrian eine der 9 [!] Lateinschulen seiner Heimatstadt, wo er mit den prima elementa vertraut gemacht wurde. Auch nach dem Tode des Vaters verblieben der Familie genügend Mittel, um dem begabten Sohn den weiteren Schulbesuch zu sichern; Einrichtungen der höheren Bildung gab es in Utrecht allerdings nicht. Nach Pastor war es die fromme, tatkräftige Mutter,293 die für Adrians Aufnahme in ein Haus der „Brüder vom gemeinsamen Leben“ sorgte.294 Bis 1476

291 Post 1959, 35; vgl. 42: „Il appartenait à une famille de la bourgeoisie aisée.“ Nach seiner Wahl zum Papst wandte sich Hadrian VI. zweimal an seine Vaterstadt (am 12. Juni 1522 und am 6. Juni 1523), um sich sein dortiges Bürgerrecht und seine Abkunft von guten, unbescholtenen Eltern, die durch das heilige Band der Ehe verbunden waren, bestätigen zu lassen. Campen 1959, 63–65 wertet dies als einen eher hilflosen Versuch Adrians, sich gegen die üble Nachrede, die Geringschätzung und den Spott zu wehren, die ihm in Rom entgegenschlugen. Auf die hochmütigen Römer hat die Erklärung, daß der Papst aus dem barbarischen Norden Bürger einer Kleinstadt mit unaussprechlichem Namen war, kaum Eindruck gemacht; ihr Vergleichsmaßstab war die Herkunft von Päpsten aus den Häusern der Colonna, Piccolomini und Medici. – Die bürgerliche Herkunft Hadrians hält auch Munier 1985 ausdrücklich fest. 292 Ducke 1976, 7 Anm. 15 (nach Burmann). Ein zusätzlicher Hinweis findet sich in Utrecht, Gemeente Archief, Bibliotheek der stad Utrecht, Nr. 29 („afschriften van akten van verschillende aard betreffende de geschiedenis van Utrecht, 1263–1715“, darunter 12 Aktenstücke, die sich auf Adrian und seine Verwandten beziehen). Aus dem Jahr 1469 stammt der Eintrag (fol. 3): Florijs Boeydens soens wedue, Claes, jan ende Adryaen hoir kynderen, die sy hadde bij Florys Boedens soen. Aus dieser Notiz geht zusätzlich hervor, daß Adrian zwei Brüder hatte (nach Kat. Utrecht 1959, zu S. 71, Nr. 8A). 293 Pastor 1925, 26. Über die Mutter Adrians ist darüber hinaus nichts bekannt; selbst über ihren Geburtsnamen herrscht keine Klarheit. Gelegentlich (so bei Posner 1962, 15 und Mittermaier 1991, 144) wird er mit „Dedel“ angegeben. Belegt ist jedoch, daß zur Zeit von Hadrians Pontifikat und auch später noch angesehene Utrechter Familien sich auf eine Verwandtschaft mit dem Papst berufen wollten; vgl. Campen 1959, 65–67. Pastor 1925, 26 Anm. 2 setzt sich mit den Argumenten für und wider diese Ansprüche auseinander, muß die Frage aber offenlassen, da es an schlüssigen Nachweisen fehlt. Campen kann auch Jahrzehnte nach Pastor nur bestätigen, daß der Geburtsname der Geertruyt in keinem offiziellen Schriftstück erwähnt wird (1959, 67). 294 Neben dem Stammhaus dieser religiösen Erneuerungsbewegung, dem Florentiushaus in Deventer, unterhielten die Brüder das Gregoriushaus in Zwolle. Es war lange umstritten, in welches der Institute Adrian eintrat. Neuerdings neigt man zu der Auffassung, daß er seine weitere Ausbildung in Zwolle erhielt. Vgl. Ducke 1976, 8 Anm. 17. In Kat. Utrecht 1959, 50. 54 wird die Möglichkeit, daß Adrian die Schule in Deventer besucht haben könnte, nicht mehr erwähnt.

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erhielt er dort sehr gründlichen Unterricht, vor allem im Lateinischen295 und in der Dialektik; als Lehrer wirkten an den Schulen der Brüderbewegung ausschließlich Humanisten, aus deren Kreis auch die Rektoren hervorgingen. Die Brüder beschränkten sich auf die geistliche Betreuung der Schüler, auf deren Erziehung im Geiste der Devotio moderna.296 Diese religiöse Erneuerungsbewegung, die um 1380 von Geert Groote, einem Laien, in seiner Heimatstadt Deventer ins Leben gerufen worden war, kam den geistlichen Bedürfnissen einer großen Zahl gläubiger Laien entgegen und gewann daher zunächst in den Niederlanden, dann auch in Deutschland und der Schweiz erheblichen Einfluß. Die Wurzeln der tiefen Frömmigkeit Adrians sind in diesen Jahren zu suchen, die der Heranwachsende in der Gemeinschaft des Bruderhauses verbrachte.297 Auch seine spätere Lebensweise und seine Auffassung von den Aufgaben, die er zu erfüllen hatte, lassen die frühe Prägung durch diese Erziehung erkennen. Auf seinem Lebensweg, der mehrfach völlig unerwartete Wendungen nahm, waren Konflikte zwischen den Anforderungen, die seine hohen weltlichen und geistlichen Ämter an Adrian stellten, und seinen religiösen Überzeugungen unvermeidlich. Oft waren es die Glaubenslehren, die dem Schüler in Zwolle vermittelt worden waren, die dem Erwachsenen an verschiedenen Stationen seines Weges Entscheidungshilfe leisteten. Adrian hat eine Fülle von schriftlichen Zeugnissen hinterlassen: theologische Werke, Predigttexte, Briefe, päpstliche Bullen; private Äußerungen sind jedoch seltener. Einblick in die Persönlichkeit des späteren Papstes gewinnt man daher am ehesten, wenn man sich die Glaubenssätze der Devotio moderna vergegenwärtigt.

Exkurs: Anfänge und Grundzüge der Devotio moderna Die Devotio moderna nahm ihren Ausgang von der „Bekehrung eines Weltmannes“.298 Geert Groote (geb. 1340), Patriziersohn und bereits mit zehn Jahren Erbe eines beträchtlichen Vermögens, bezog als Fünfzehnjähriger die Universität. An der Sorbonne erwarb er 1358 den Grad eines Magister Artium und betrieb anschließend weitere Studien in verschiedenen Disziplinen. Seine Vermögensverhältnisse erlaubten ihm in sehr jungen Jahren eine üppige Lebensführung. Vielseitig interessiert, aufgeschlossen und gewandt bewegte er sich in der gehobenen Gesell295 Auch Adrian wurde nach dem Lehrwerk des Aelius Donatus unterrichtet. Ein sehr seltenes Exemplar des 15. Jahrhunderts (Blockbuch auf Pergament) hat sich in der Athenäumsbibliothek zu Deventer erhalten (Kat. Utrecht 1959, 78 Nr. 33). 296 Mokrosch 1981, 611. 297 In Kat. Utrecht 1959, 54 heißt es nur in einem Halbsatz zu Adrians Beziehung zu der Devotenbewegung: „et entra [...] en contact avec le mouvement et les idées des Frères de la Vie Commune.“ Diese knappe Feststellung wird m.E. dem nachhaltigen Einfluß der Brüder auf Adrians religiöse Überzeugungen nicht gerecht. 298 Janowski 1978, 13.

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schaft und wurde früh mit diplomatischen Missionen betraut. Sehr bald aber wurde er dieses Lebensstils überdrüssig: Anfang der 1370er Jahre zog er sich in ein Kartäuserkloster bei Arnheim zurück, wo er als „Bruder ohne Gelübde“ eine Zeit der inneren Einkehr verbrachte. In der Stille und Abgeschiedenheit des Klosters legte Groote sich Rechenschaft über sein bisheriges Leben ab und versuchte Klarheit darüber zu erlangen, welche weltlichen Fesseln er abwerfen müßte, um seinem Dasein eine neue Richtung und einen tieferen Sinn zu geben. Als Frucht dieses Läuterungsprozesses sind seine „Beschlüsse und Vorsätze, nicht Gelübde“ anzusehen, die er vermutlich noch im Kloster aufzeichnete.299 Sein Ziel hatte er klar vor Augen, als er einleitend sagte: Zu Gottes Ruhm, Ehr und Dienst bin ich bedacht, mein Leben zu ordnen, und zum Heil meiner Seele. Kein zeitlich Gut an Leib, Ehre, Habe oder Wissenschaft dem Heil meiner Seele voransetzen! 300 Da er alles hinter sich lassen wollte, was bisher sein Leben ausgemacht hatte, führte der Weg zu diesem Ziel durch unbekanntes Terrain. Die Gefahren, von denen er das Heil seiner Seele bedroht fühlte, hatte er erkannt: Sie lagen im falschen bzw. maßlosen Umgang mit den „zeitlichen Gütern“. Seine Vorsätze, denen er teilweise die Form von Geboten gab, stellte er gleichsam als Wegweiser auf, um nicht vom rechten Pfad abzukommen.301 Schon bald sollte sich zeigen, daß die Bedeutung seiner „Beschlüsse und Vorsätze“ weit über die eines persönlichen Dokuments hinausreichte: immer wieder kopiert und weiterverbreitet, stießen sie rasch auf große Akzeptanz in weiten Kreisen der Bevölkerung. Das darf als Beweis dafür angesehen werden, daß Groote sich mit genau den religiösen und gesellschaftlichen Fragen auseinandergesetzt hatte, die auch viele seiner Zeitgenossen – nicht nur in den Niederlanden – in ihrem Innern zutiefst beunruhigten, an der angeblich allein seligmachenden Kirche zweifeln ließen und damit die Bereitschaft weckten, neue Wege einzuschlagen, um ihre Glaubensgewißheit zurückzugewinnen. Die wesentlichsten Punkte, in denen Groote sein Leben neu zu ordnen beschlossen hatte, sollen im folgenden resümiert werden. Er lehnt jedes Streben nach materiellem Besitz und Gewinn ab. Alles, was an Gütern die Bedürfnisse einer bescheidenen Lebenshaltung überschreitet, belastet und beeinträchtigt die Freiheit des Geistes. Vor allem wendet er sich gegen das Sammeln von Pfründen, und zwar nicht nur wegen der daraus erwachsenden Habgier: Ernst genommen ist jede Pfründe mit Verpflichtungen verbunden, deren Wahrnehmung Sorgen bereiten und damit den inneren Frieden stören kann. Wie 299 Die vollständigen „Beschlüsse und Vorsätze“ Grootes in der von Thomas von Kempen überlieferten Form (in dt. Übers.) in: Devotio moderna 45–61. 300 Ebd. 45. 301 Bei aufmerksamer Lektüre fallen die feinen sprachlichen Differenzierungen auf zwischen den Vorsätzen („ich will/will nicht“) und den Geboten, die Groote sich selbst auferlegte („du sollst/sollst nicht“).

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es zu Zeiten der Urkirche üblich war, will er sich daher mit einer Pfründe begnügen, die den Unterhalt sichert. Ferner will er weder geistlichen noch weltlichen Herren um des Gewinns wegen dienen, denn derartige Dienste führen in die Abhängigkeit, zum Verlust der inneren Freiheit. Nicht für ein Leben in Armut tritt er hier also ein – er hat sich später eindeutig gegen die Bettelorden ausgesprochen –, sondern für das rechte Maß an Besitz, das zwar die Unabhängigkeit gewährleistet, aber nicht zur Bürde wird. Zunächst verwundert es, daß Groote, der sich selbst mit Begabung und Eifer dem Studium gewidmet hatte, die Wissenschaft ebenfalls zu den zeitlichen Gütern zählt, die dem Heil seiner Seele abträglich sein könnten. Vermutlich haben hier seine Erfahrungen mit den Auswüchsen des „Wissenschaftsbetriebs“ in Paris eine Rolle gespielt: Doktorwürden in der Medizin oder der Jurisprudenz wurden in erster Linie des Gewinns oder des Ruhmes wegen angestrebt; nicht besser war es um die Doktoren der Theologie bestellt, die den akademischen Grad erwarben, um zu Pfründen und Ehren zu kommen. Im Grunde wendet sich Groote hier nicht gegen die Wissenschaft als solche, sondern gegen deren Mißbrauch als Mittel zum Zweck der Befriedigung persönlicher Gewinn- und Ruhmsucht. Daher lehnt er insbesondere die öffentlichen Disputationen der Theologen ab, in denen es nicht um den rechten Glauben geht, sondern um einen möglichst glänzenden Triumph über den Kontrahenten. Man darf es als Überreaktion auf vielerlei Mißstände betrachten, daß er nur noch Wissen billigt, soweit es ohne den Besuch „eitler Lektionen“ und den Erwerb akademischer Würden erlangt werden kann: Ein reguläres Studium führt aus der Abgeschiedenheit heraus und lenkt ab vom Gebet. Vor dem Hintergrund dieser Argumente ist auch Grootes Bewertung eines Studiums der septem artes liberales zu sehen: Er hält es für völlig unnütz für das Leben und für bloße Zeitverschwendung. Aus dieser Grundeinstellung erklärt sich, weshalb in der Folgezeit die „Brüder vom gemeinsamen Leben“ in ihren Schulen nur die geistliche Betreuung der Zöglinge, niemals aber deren wissenschaftlichen Unterricht übernahmen. Wenn den Schülern in den Bruderhäusern trotz der ablehnenden Haltung Grootes gründliche Kenntnisse, vor allem in der lateinischen Sprache, vermittelt wurden, so diente dies einem höheren Zweck. Die Beherrschung des Lateinischen war unerläßliche Voraussetzung für die vertiefte Beschäftigung mit dem, was nach Grootes neuem Wissenschaftsverständnis „Wurzel des Studiums und Spiegel des [eigenen] Lebens“ werden sollte: für die Lektüre geistlicher Bücher, in erster Linie der Evangelien, der Apostelgeschichte, der Paulusbriefe und der Schriften der Kirchenväter.302 Aus dem antiken Schrifttum akzeptierte er lediglich die „Moralwis302 Brouette 1981, 608 weist auf die frühe Beziehung zwischen Devotio moderna und Humanismus hin: „Noch vor den Humanisten wandten sie [die unmittelbaren Schüler Grootes]

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senschaften der Heiden“, d.h. die Philosophie, als ebenso nützlich und förderlich für die eigene Person wie zur Belehrung anderer; namentlich Sokrates, Platon und Seneca fanden Gnade vor dem Urteil Grootes. Die Vorsätze, die Groote zum rechten Hören der Messe und zur Teilnahme an der Kommunion faßte, lassen darauf schließen, daß nicht nur er selbst, sondern viele Kirchgänger in der Beachtung der äußeren Formen des Gottesdienstes nachlässig geworden waren und v.a. die notwendige innere Einstellung auf die Meßfeier vermissen ließen. Nur wenn der Gläubige wirklich „mit Leib und Seele“ an der Messe teilnimmt, so Groote, kann er sich Christus nahe fühlen und des inneren Friedens teilhaftig werden, der von der Kommunion ausgeht. „Von der Enthaltsamkeit“ sind die Vorsätze – nicht Gelübde, wie Groote an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betont – überschrieben,303 die sich nur vordergründig auf den angemessenen Umgang mit dem zeitlichen Gut des Leibes befassen. In Wahrheit geht es auch hier um das Heil der Seele: Die strengen Speisevorschriften und Fastengebote, die er sich verordnete, sollten nicht der Kasteiung dienen, sondern der Gesunderhaltung von Leib und Seele. Eine gesunde Seele aber ist Gott näher. Wie sehr sich Groote der Wechselwirkung zwischen dem leiblichen und dem seelischen Befinden bewußt war, geht daraus hervor, daß er die Speisegebote nicht einfach auflistet, sondern jedes einzelne begründet. Dabei führt er keineswegs nur theologische Argumente an, sondern geht auch auf die physiologischen Auswirkungen einer – nach seiner Ansicht – richtigen bzw. falschen Ernährungsweise ein. Der Gesunderhaltung von Leib und Seele sollen auch die Regeln für die rechte Tageseinteilung dienen, die er mit den Speisevorschriften verbindet und in der Mahlzeiten, Arbeit, Studium, Gebet und Ruhezeiten ihren festen Platz haben. Ein maßvoller Umgang mit den zeitlichen Gütern nach der Art eines sorgfältigen Haushalters, ein bedächtiges, eher zögerliches Handeln ohne Ungestüm, Gier, Hast und Eile, ob beim Essen, Schreiben oder Reden: Dies sind die Maximen, die Grootes Leben fortan bestimmen sollten. Er hatte seine Berufung erkannt: Nicht im Kloster oder als Priester wollte er wirken, sondern in der Welt der Laien als Wanderprediger und Missionar nach dem Vorbild des Paulus. Sein Elternhaus vermachte er als Stiftung frommen Frauen, die ein Leben in klosterähnlicher Gemeinschaft, jedoch ohne Gelübde, führen wollten. Sie sicherten ihren Unterhalt mit ihrer Hände Arbeit, mit dem Kopieren von Texten und dem Binden von Büchern. Diese neue Form des Zusammenlebens, in dem sich Arbeit, Gebet und sich dem Quellenstudium zu und haben so möglicherweise in den Niederlanden Voraussetzungen für die Aufnahme humanistischer Denkweise geschaffen, noch bevor es zum Austausch mit den geistigen Strömungen Italiens kam.“ 303 Devotio moderna 57–60. Es ist nicht ersichtlich, ob die Überschrift dieses Absatzes von Groote stammt oder vom Herausgeber hinzugefügt wurde. Treffend ist sie auf jeden Fall.

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die Suche nach persönlicher Frömmigkeit verbanden, übte große Anziehungskraft auf zahlreiche Laien aus, so daß bald weitere Häuser gegründet wurden, in denen Brüder bzw. Schwestern vom gemeinsamen Leben, wie sie sich dann nannten, dem Beispiel der frommen Frauen von Deventer folgten und danach strebten, ein Leben in der Nachfolge Christi zu führen.304 Seinen Vorsätzen entsprechend behielt Groote von seinem Vermögen nur so viel, wie er für ein bescheidenes Leben benötigte. Um seiner Mission folgen zu können, trat er in den geistlichen Stand und empfing die niederen Weihen. Damit sicherte er sich die Erlaubnis, predigen zu dürfen. Geistliche, Studenten, vor allem aber Laien sammelten sich um Groote zu einer religiösen Erneuerungsbewegung, die schon bald als Devotio moderna305 eine große Anhängerschaft gewann. „Modern“ war diese Bewegung, weil sie sich von den lebensfernen Diskussionen der Spätscholastik abwandte, die in den elitären Zirkeln der Universitäten geführt wurden; „modern“ aber auch, weil sie der Auffassung entgegentrat, daß das Streben nach einem Leben in der Nachfolge Christi nur in den traditionellen Orden, hinter Klostermauern, verwirklicht werden könne.306 Ziel der Erneuerungsbewegung war es vielmehr, ein tätiges Leben in der alltäglichen Welt mit ständigem Bemühen um Läuterung und persönliche Frömmigkeit zu vereinen. Gerade dieser Zielsetzung hatte die Bewegung ihre große Anhängerschaft zu verdanken, von der die Mehrheit nicht mit ihrem bisherigen Leben brechen wollte, sich aber von denen verlassen fühlte, die ihnen als geistliche Führer den Weg zum rechten Glauben hätten weisen sollen: von den gelehrten Theologen, von den Ordensangehörigen in ihrer Abkehr von der Welt und von den Klerikern, unter denen viele in ihrer persönlichen Lebensführung ein Streben nach der Nachfolge Christi vermissen ließen. Die Devotio moderna öffnete diesen Suchen304 Andachtsbuch und geistlicher Wegbegleiter wurde für die Brüder und Schwestern wie für die gesamte Bewegung der Devotio moderna die Imitatio Christi, die vier Bücher „Von der Nachfolge Christi“. Die Verfasserschaft des Werkes war lange umstritten; meistens wurde es Thomas von Kempen zugeschrieben. Heute ist man der Auffassung, daß dieser nur letzte Hand an ein Sammelwerk legte, dem kein systematischer theologischer Entwurf zugrunde liegt. Dazu Janowski 1978, 33: „[...] es stellt sich eher als ein geistliches Tagebuch dar, das aufgrund von Lektüre und Erfahrung Maximen und Sentenzen sammelt und für die meditative Praxis zusammenstellt.“ 305 Die Bezeichnung findet sich schon um 1400, u.a. bei Thomas von Kempen. Vgl. Erwin Iserloh, Art. Devotio moderna, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986) 928–930, hier 928. 306 Nach Brouette 1981, 607 wurde 1387, drei Jahre nach Grootes Tod, mit der Gründung des Regularkanonikerstiftes Windesheim bei Zwolle sein Plan verwirklicht, auch den Brüdern eine Heimstatt zu geben, die sich zum Klosterleben berufen fühlten. Elemente der Devotio moderna verbanden sich in Windesheim mit monastischem Leben nach der Augustinerregel. Aus dem Zusammenschluß mit weiteren Stiften entstand ab 1395 die Windesheimer Kongregation, der sich zahlreiche Klöster in Mitteleuropa anschlossen.

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den neue Wege zu geistlicher Besinnung und persönlich geprägter Frömmigkeit. Die Bewegung stand jedem offen, der bereit war, sich an dem Platz im Leben, an den Gott ihn gestellt hatte, und mit den Fähigkeiten, die Gott ihm verliehen hatte, um eine imitatio Christi zu bemühen. Nach der Auffassung Grootes bedeutete dies, daß der Gläubige lernen mußte, sich wie der demütige Christus in „leidendem Gehorsam“307 in den Willen Gottes zu fügen. Fortwährende Prüfung des Gewissens, die Vertiefung in fromme Schriften und tägliche Meditationsstunden sollten dem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu Gott zu finden. Entscheidend für die große Akzeptanz, die die Devotenbewegung unter den Laien fand, war die Tatsache, daß sie keine sozialen Barrieren aufrichtete: Es galt der Grundsatz, daß jede ehrbare Tätigkeit vor Gott den gleichen Wert hat, daß jeder Mensch Gott auf seine Weise dient, sofern er den Platz, an den er gestellt ist, ebenso wie seine Arbeit als göttliche Berufung begreift und sein Leben entsprechend gestaltet. Diese Auffassung mußte gerade im aufstrebenden Bürgertum, dessen Selbstverständnis und Selbstbewußtsein zu einem erheblichen Teil auf dem Wert seiner Arbeit beruhten, auf großen Widerhall treffen.308

Im Dienste der Wissenschaft, des Herrschers und der Christenheit Nach der Darlegung der Grundsätze der Devotio moderna, die das Fundament der religiösen Erziehung Adrians und seiner auch von späteren Gegnern nie in Zweifel gezogenen Frömmigkeit und Gottergebenheit, seiner persönlichen devotio, bildeten, müßte es zunächst verwundern, daß Adrian sich nach seiner Schulzeit in Zwolle zum Studium nach Löwen begab: hatte doch Groote alle akademische Bildung als unnütz, ja als dem Seelenheil abträglich verworfen. Allerdings waren hundert Jahre vergangen, seit der Begründer der Devotenbewegung seine Vorsätze niedergeschrieben hatte, und in diesem Zeitraum hatte sich ein sehr differenziertes, immer aber ambivalentes Verhältnis der Brüder zur humanistischen Bildung und der damit verbundenen Schulreform ergeben. Durch ihren Schulbetrieb förderten sie einerseits die humanistischen Studien, warnten aber andererseits vor „akademischem Intellektualismus und humanistischer Weltverehrung“, der sie mit ihrer „gezielten Erziehung zu Frömmigkeit und Meditation“

307 Janowski 1978, 17: In seinen „Beschlüssen und Vorsätzen“ hatte Groote „Beklemmung und Drangsal“ als am nützlichsten bezeichnet für denjenigen, der den rechten Weg sucht: Er sollte sich keine Gedanken um die Zukunft machen, sondern sich der Fügung Gottes vertrauensvoll unterstellen (Devotio moderna 47). 308 In dem immer wieder betonten Sinn für das Einhalten des rechten Maßes in allen Dingen hat Janowski (1978, 21) zu Recht einen weiteren ausgesprochen „bürgerlichen Zug“ der Devotenbewegung erkannt.

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entgegenwirkten.309 Sie versuchten aber keinen begabten Schüler mehr vom Studium abzuhalten. Vermutlich hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß auch intellektuelle Fähigkeiten als Gottesgaben anzusehen seien, mit denen man sorgsam umgehen müsse. Mit dem Eintrag in die Matrikel wurde Adrianus Florencii de Traiecto inferiori am 1. Juni 1476 in die Artistenfakultät der Universität Löwen aufgenommen.310 Nach einem zweijährigen studium generale, dessen Schwerpunkt auf Vorlesungen zur Philosophie lag, wurde Adrian als dem primus seines Jahrgangs der Titel eines Magister Artium zuerkannt.311 Von seinem Eintritt in die Universität an lebte und studierte Adrian im Kolleg „Zum Eber“, einem der vier Kollegien der Artistenfakultät.312 Dort wohnte er auch weiterhin (bis 1491), als er das Studium der Theologie am Heiliggeist-Kolleg aufnahm.313 Die theologische Fakultät 309 Mokrosch 1981, 611 f. Mokrosch stellt die Beziehungen der Devotio moderna zum Humanismus als umfangreiches Forschungsfeld vor, das zur weiteren Erschließung aufgrund der höchst unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Fraterhäusern sowie deren Verbindungen zu den lokalen Schulen noch vieler Einzeluntersuchungen bedarf. Unübersehbar ist, daß einigen der größten Humanisten der Zeit die Grundlagen ihrer Bildung in den Schulen der Brüder vermittelt wurden, daß manche sogar einige Zeit in den Fraterhäusern lebten, so z.B. Erasmus von Rotterdam und sein Mitschüler Conrad Celtis sowie Petrus Canisius. Als Lehrer erlebte Erasmus den berühmten Rudolf Agricola. 310 Brüssel, Algemeen Rijksarchief, Universiteit Leuven, 22: Secundus liber intitulatorum, 1453–1485. S. dazu Kat. Utrecht 1959, 42 Nr. 123 und Abb. 30; Posner 1962 (Abb. neben S. 16). Mit der Entfernung vom Heimatort taucht hier erstmals die Herkunftsbezeichnung als Zusatz zum Personennamen auf. Da die Matrikel selbstverständlich in lateinischer Sprache geführt wurde, griff man auf den römischen Namen Utrechts zurück, der das Castrum und den Ort am Rheinübergang bezeichnete: (Ultra) Traiectum ad Rhenum. Das Bistum Utrecht, 695 von Willibrord gegründet und somit das älteste der Niederlande, bestand aus zwei Teilen: einem kleineren, von Burgund umschlossenen, mit der Bischofsstadt (Traiectum inferius) und einem größeren, östlich der Zuidersee gelegenen (Traiectum superius). Vgl. Mittermaier 1991, 142. 311 Ducke 1976, 9. 312 Zu den vier Kollegien der Artistenfakultät s. Kat. Utrecht 1959, 113 Nr. 125 f. Den niederländischen Namen des Kollegs „Zum Eber“, nämlich „Het Varken“ [oder: Vercken] nehmen Norddeutsche, die über gewisse Kenntnisse des Plattdeutschen verfügen, nicht ohne Belustigung zur Kenntnis, vor allem wenn er in der Verbindung meester Adriaen in’t Vercken auftritt. Vgl. Ducke 1976, 10 Anm. 35. 313 Auf Veranlassung Herzog Johanns IV. von Brabant und des Magistrats von Löwen war die dortige Universität 1425 gegründet worden, um die Niederlande von den beherrschenden geistigen Einflüssen, die von Paris ausgingen, unabhängig zu machen. Papst Martin V. gab am 9. Dezember 1425 mit der Stiftungsbulle Sapientiae Immarescibilis seine Zustimmung zur Einrichtung der drei Fakultäten der Artes, der Jurisprudenz und der Medizin. Das Theologiestudium wurde in Löwen erst 1432 durch Papst Eugen IV. zugelassen. Eine hohe Blütezeit der Universität begann in den 1430er Jahren, nachdem Brabant unter Philipp

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von Löwen genoß damals hohes Ansehen, galt allerdings auch wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Humanismus als sehr konservativ. Gerade dieser Umstand, daß die Lehre in Löwen der via antiqua folgte, kann Adrian den Zugang zur theologischen Wissenschaft nur erleichtert haben, denn nach allem, was über seine Erziehung im Bruderhaus erschließbar ist, dürfte er dort mit weltoffenen Vertretern humanistischer Ideen kaum in Berührung gekommen sein.314 Mit außerordentlichem Eifer betrieb Adrian das Studium der Kirchenväter, der großen Scholastiker und des Kirchenrechts, ohne sich zunächst einer bestimmten Lehrmeinung anzuschließen.315 Er war noch Student, als er 1488 bereits in Disputationen auffiel. Schon bald trugen ihm seine Begabung und sein Fleiß die Anerkennung seiner Professoren und Kommilitonen ein. Wenn man Paolo Giovio hier Glauben schenken darf – gegenüber dessen Vita di Hadriano Sesto eine gewisse Skepsis sonst durchaus geboten ist – verzichtete der junge Adrian zugunsten seiner wissenschaftlichen Arbeit von vornherein darauf, an den Vergnügungen seiner Altersgenossen teilzunehmen und setzte die geregelte, sparsame Lebensweise fort, die er aus dem Bruderhaus gewohnt war: Hadriano [...] s’essercitò talmente negli studi liberali, ch’alcuno non era, il quale ne piu ardentemente ne con maggiore attentione di lui desse opera alle lettere. Non lo levò quasi mai dalle schuole alcun piacere giovenile, et essendo egli sopra la durezza della disciplina astinentißimo del mangiare et del bere, vinceva anchora agli altri pari suoi di perpetua continenza, et d’humanità d’anima. Et era in lui tanta felicità d’imparare, che quelle cose che agli altri erano oscure, o molto ascose per la troppa sottilità de commentatori, a lui che piacevolmente le discorreva et considerava parevano facilißime. Et cosi in spatio di pochi anni, essendo egli principale d’ingegno et di dottrina, con felicißimo corso paßo per tutti gli ordini delle scuole. Il primo honore gli diedero i Loici [= Logici], non essendovi alcuno di quello ordine, il quale si potesse paragonar con lui di vivacità et prontezza nel disputare. Et col medesimo favore, si come quello che con conosciuta spesso dottrina era molto famoso, meritò la laurea appresso i philosophi innanzi a tutti i competitori. Nelle mathematiche riportò singolarißima lode, consciosa che egli molte volte senza maestro et per se steßo capiva diligentemente intricate sottigliezze di quelle arti et con maraviglia degli altri chiarißimamente le recitava. Finalmente essendo egli ammaestrato di tante discipline fu da theologi desiderosamente nella loro scuola ricevuto: ne quali studi con perpetua lode religiosamente riposò fino alla vecchiezza, ma non dimeno cosi per transito, et nel tempo che gli avanzava imparava i decreti della ragion canonica. Nondimeno, quel dem Guten an Burgund gelangt war. Das Original der Stiftungsbulle ist bei einem Brand vernichtet worden; eine beglaubigte Abschrift von 1426 befindet sich in Brüssel, Algemeen Rijksarchief, Universiteit Leuven, 1: Kat. Utrecht 1959, 108 Nr. 110 f. 314 Das oben über das ambivalente Verhältnis der Brüder zum Humanismus Gesagte trifft in besonderen Maße auf Adrian zu, läßt sich aber erst für seine späteren Jahre durch Äußerungen und Verhaltensweisen belegen. 315 Ducke 1976, 9.

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solo che i galant’huomini dicono chegli mancava, era usato sprezzare i fiori della eloquenza pulita, et le piacevolezze de poeti, o perche gli levassero alcuna cosa della auttorità de suoi gravißimi studi, o perche credesse che i giuochi de poeti portassero cattivi costumi negli animi casti et devoti, et nocessero grandemente nella religione. Percioche egli era tanto rispettoso nella severita christiana, che egli non porgeva giamai orecchio a cosa alcuna benche per giuoco, se non era honesta et pudica.316

Trotz seiner bescheidenen Lebenshaltung und obwohl er von Haus aus nicht ganz unbemittelt war, hätte Adrian das lange Theologiestudium nicht finanzieren können317 – die „Regelstudienzeit“ bis zur Promotion betrug 12 Jahre –,318 wenn ihm nicht ein Stipendium der Margarete von York zugesprochen worden wäre. Damit ergab sich eine erste, wenn auch lose Beziehung zum burgundischen Hof. Am 1. August 1490 erwarb Adrian das Lizenziat der Theologie; ein knappes Jahr später, am 21. Juni 1491, wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. Schon mit der ersten Lehrberechtigung besserte sich Adrians wirtschaftliche Situation, da ihm die Einnahmen eines Kanonikates und der Präbende am Kollegiatsstift St. Peter in Löwen zuerkannt wurden; letztere war für Professoren der Universität vorgesehen.319 Wohl schon bald nach seiner Promotion wurde er zum Professor ernannt; vermutlich empfing er noch im gleichen Jahr die Priesterweihe. Die Löwener Professur mit allen damit verbundenen Aufgaben behielt er bis zu seiner Entsendung nach Spanien 1515. Als akademischer Lehrer entfaltete Adrian eine äußerst fruchtbare Tätigkeit; aus seiner Schule gingen zahlreiche bedeutende Gelehrte, und zwar keineswegs nur Theologen, hervor.320 In dem Maße, wie Adrian in hohe Ämter der Universität berufen wurde, hatte er neben der eigenen wissenschaftlichen Arbeit ein immer umfangreicheres Pensum an Repräsentations- und Verwaltungsaufgaben zu erfüllen: Zweimal (1493 und 1500/1501) war er Rektor, viermal Vorsitzender des Berufungsgerichts der Universität. Als Kanzler war er ab 1497 in erster Linie mit Promotionsverfahren befaßt. 1509 wird er in den Acta Universitatis als Dekan geführt, 1511 als Dekan und Kanzler.321 Seine Einkünfte bezog er in dieser Zeit aus zahlreichen Benefizien, vor allem in Löwen und Utrecht, um die er aber nicht etwa nachgesucht hatte, sondern die an die Ämter gekoppelt waren: Die gesamte 316 Giovio 1551, 264–266. 317 Bei seiner Immatrikulation müssen seiner Familie noch ausreichende Mittel zur Verfügung gestanden haben; hätte er schon damals der Unterstützung bedurft, wäre dies in der Matrikel vermerkt worden. Wie sich die pekuniäre Situation der Familie entwickelte, ist nicht bekannt. Vgl. Ducke 1976, 10 Anm. 36. 318 Post 1959, 42. 319 Ducke 1976, 10 Anm. 37 (nach G. Molanus’ Historiae Lovaniensium). 320 Ebd. 12. 321 Ebd. 17 Anm. 93.

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Honorierung der Professoren beruhte auf diesem Pfründensystem.322 Hier erhebt sich die Frage, wie Adrian den Konflikt bewältigte, in den er durch den Widerspruch zwischen seinem Status in der akademischen Welt und den Prinzipien der Devotio moderna unweigerlich geraten mußte. Man darf davon ausgehen, daß er die allen Anhängern der Devoten-Bewegung auferlegte Pflicht der ständigen Gewissensprüfung sehr ernst nahm. Dabei muß er zu der Überzeugung gelangt sein, daß Gott ihm seinen Platz in der Welt zugewiesen hatte, damit er andere Menschen auf den rechten Weg zur Nachfolge Christi führe. So sah er seine Aufgabe als akademischer Lehrer nicht nur in der Vermittlung theologischer und philosophischer Kenntnisse, sondern er versuchte seinen Studenten mit seiner Frömmigkeit, Bescheidenheit, seiner integren Lebensführung und der Festigkeit seiner Überzeugungen ein Beispiel gelebten Glaubens zu geben. Die Übereinstimmung von Wort und Tat, die Adrian anstrebte, verlieh ihm Glaubwürdigkeit im wahren Sinne des Wortes und trug ihm die Verehrung seiner Studenten ein. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit, wie er sie auf die Ausbildung des theologischen Nachwuchses verwandte, erfüllte er seine übrigen vielfältigen Aufgaben. Eines seiner Ämter war das des Dechanten am Kollegiatsstift von St. Peter zu Löwen. Der dortige Klerus entsprach – wie vielerorts zum Leidwesen der Gläubigen – weder von seinem Bildungsstand noch von seiner Lebensführung den strengen Maßstäben Adrians, so daß er sich intensiv um die Behebung der Mißstände kümmerte.323 Mit breiteren Schichten der Bevölkerung kam Adrian durch seine Tätigkeit als Seelsorger in Kontakt: Zu seinen Benefizien zählten seit 1492 das Vikariat der Kirche St. Peter in seiner Heimatstadt Utrecht und die Pfarrstelle in Goedereede in Südholland. Es wird von seinen Biographen stets hervorgehoben, daß er, im Gegensatz zu anderen Benefiziaten, die Verpflichtungen, die mit den Pfründen verbunden waren, tatsächlich wahrnahm. In Goedereede war ihm dies allerdings nur in den Semesterferien möglich; in der übrigen Zeit ließ er sich durch einen tüchtigen Pfarrer vertreten.324 Als Seelsorger beschränkte Adrian sich nicht auf Amtshandlungen, sondern versuchte, seinen Pfarrkindern in schwierigen Lebensfragen und selbst bei der Lösung von praktischen Problemen des Alltags beizustehen. Der Ruf der Selbstlosigkeit, mit der der Professor aus Löwen sich in den Dienst der Hilfesuchenden stellte, verbreitete sich über seine Gemeinden hinaus,

322 Zu den einzelnen Benefizien Ducke 1976, 10 f. mit Anm. 38. 323 Aus Zorn über den Eingriff in ihr behagliches Dasein versuchte angeblich die Mätresse eines Kanonikers den Dechanten zu vergiften. Ducke 1976, 16 Anm. 84 zitiert dazu einen ausführlichen Bericht aus der Vita Hadriani Sexti pontificis maximi des G. Moringus (1536). 324 Ducke 1976, 15; s. auch Pastor 1925, 27; Posner 1962, 16 (fast wörtlich nach Pastor).

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und bald wandten sich Ratsuchende aller Stände aus dem ganzen Land an Adrian, den man daher gelegentlich als das „Orakel der Niederlande“ bezeichnete.325 Die Verfügung über zahlreiche Benefizien hat Adrian offensichtlich mit seinem Gewissen vereinbaren können, obwohl er mit der reichen Ausstattung gegen die Prinzipien Geert Grootes verstieß und sogar selbst in seinen theologischen Schriften der Löwener Jahre die Ansicht vertrat, daß jeder Priester nur ein Benefizium für seinen Unterhalt beanspruchen sollte.326 Nun war Adrian aber kein einfacher Gemeindepfarrer, für den eine Pfründe ausreichen sollte, sondern Professor, zeitweise Rektor bzw. Kanzler der Universität; die Verpflichtungen, die mit diesen Ämtern verbunden waren, mußte er aus seinen Einkünften bestreiten – eine Aufwandsentschädigung war seinerzeit unbekannt. Für seine eigenen Bedürfnisse hätte ein Benefizium gewiß genügt, denn er behielt die bescheidene Lebensweise bei, die er seit seiner Jugend gewohnt war. Was über das Notwendige hinausging, galt ihm zeitlebens als überflüssig, ja als Verschwendung. Der sorgsame Umgang mit seinen Mitteln ermöglichte Adrian 1502 den Erwerb zweier Häuser in Löwen, die er zu einem Kolleg für bedürftige Theologiestudenten umbauen ließ;327 den Bestand des späteren „Papstkollegs“ sicherte er darüber hinaus durch testamentarische Verfügungen.328 Adrians Zeitgenossen haben an der großzügigen finanziellen Ausstattung seiner Ämter offenbar keinen Anstoß genommen, da sie den Gepflogenheiten entsprach und zudem der uneigennützige Gebrauch, den er von seinen Mitteln machte, allgemein bekannt war.329 Am deutlichsten kommt Adrians Verhältnis zu seinen Benefizien als zeitlichen Gütern darin zum Ausdruck, 325 Ducke 1976, 59 (nach E. Hocks); als Quelle mit klarem Bezug zu diesem Epitheton ebd. 16 eine Passage aus der Vita Hadriani des Moringus. Durch einen Brand der Universität am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Antwortschreiben Adrians auf die Hilfsgesuche bis auf vier Ausnahmen vernichtet: ebd. 59. 326 Ducke weist (1976, 14 f. Anm. 73) darauf hin, daß bereits Moringus in seiner Vita Hadriani auf diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Adrians Lehrmeinung und seinem eigenen Verhalten eingegangen war. Während seines kurzen Pontifikats erteilte Hadrian VI. seinem Datar Enckenvort noch die Anweisung, in Zukunft niemand mehr als ein Benefizium zu geben (ebd. 38). 327 Kat. Utrecht 1959, 138 Nr. 197 f. Das Gebäude diente nach 1797 verschiedenen Zwecken, bis es 1835 als Konvikt in die Katholische Universität von Löwen eingegliedert wurde. – Auch Giovio 1551, 267 ist des Lobes voll über Adrians Stiftung. 328 Kat. Utrecht 1959, 139 Nr. 200 f. 329 Später, um 1515/1516, muß am Brüsseler Hof das Gerücht verbreitet worden sein, daß Adrian sich des Ämterkaufs schuldig gemacht habe. Dem schenkt jedoch nicht einmal Manrique, der Bischof von Badajoz, Glauben, der ansonsten alle Niederländer der Habsucht bezichtigt. In seinem oben ausführlich kommentierten Memorandum heißt es dazu: Man ist sogar so weit gegangen, zu behaupten, daß der Dechant von Löwen, der sich dort [in Spanien, A.S.] aufhält, etwas bekommen hat. Aber der Bischof glaubt das nicht, denn er hält den besagten Dechanten für einen heiligmäßigen Menschen [...] (QSKV. 33). Petrus Mar-

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daß er auf nahezu alle verzichtete, als ihm nach seiner Entsendung nach Spanien am 18. August 1516 das Bistum Tortosa übertragen wurde.330 Die Ausübung seiner Löwener Ämter war ihm von diesem Zeitpunkt an nicht mehr möglich, und damit verfielen auch die Ansprüche auf die daran gekoppelten Pfründen. Dieses überaus korrekte und gewissenhafte Verhalten des Bischofs von Tortosa wird eine Ausnahme dargestellt haben in einer Epoche, in der manch einer recht üppig von den Einkünften aus Benefizien lebte, die er nie gesehen hatte. Adrian behielt damals nur die Pfründen in seiner Heimatstadt Utrecht, der er verbunden bleiben wollte und in die er zurückzukehren hoffte, sobald seine Mission in Spanien erfüllt war. Diese Hoffnung brachte er erneut 1517 in einem Brief an einen Freund in der Heimat zum Ausdruck, in dem es heißt, daß er sich nichts mehr wünsche, als nach der Ankunft Karls in Spanien aus diesem Gefängnisse erlöst zu werden, denn er passe den Spaniern nicht, und noch weniger behage ihm Spanien.331 Konkreten Ausdruck verlieh er seinem Wunsch nach baldiger Rückkehr durch den Kauf eines Hauses aus bischöflichem Besitz, das innerhalb der Immunität von St. Peter zu Utrecht inmitten eines großen Gartens gelegen war.332 Zutiefst befriedigt schrieb Adrian nach Abschluß des Kaufvertrags: God zelf gaf mij dit huis, dat mij liever was dan alle andere huizen te Utrecht.333 Dort hoffte Adrian in Frieden seinen Lebensabend verbringen und sich endlich wieder seiner wissenschaftlichen Arbeit widmen zu können. Wenn er dieses Haus als Gottesgabe betrachtete, so muß er sich in seiner frommen Überzeugung getäuscht haben, denn er sollte es nie zu Gesicht bekommen und sein Leben in fremder, ungeliebter, schließlich ihm sogar feindselig gesonnener Umgebung beschließen. Die Erhebung des Bischofs von Tortosa zum Kardinal durch Leo X. am 1. Juli 1517 erfolgte auf Vorschlag Karls,334 der damit ohne Zweifel den Einsatz seines ehemaligen Lehrers für seine spanischen Thronfolgerechte offiziell gewürdigt sehen wollte. Nicht auszuschließen und letztlich wesentlicher ist ferner ein hochpolitisches Motiv: Mit der Verleihung des Kardinalats rückte der einfache Bischof, der Vertreter des jungen Königs, zu einem Rang auf, der dem des mächtigen Kardinals Ximénes nahezu ebenbürtig war. Ximénes, dem Ferdinand von Aragon vor seinem Tode die Regentschaft über Kastilien übertragen hatte, galt zunächst tyr, epist. 576 (p. 560 W., 17.8.1516) führt die Ernennung Adrians ausdrücklich auf die Veranlassung des Königs zurück und betont, daß der neue Bischof des Amtes würdig sei. 330 Ducke 1976, 20; Pastor 1925, 29. 331 Zitiert bei Pastor 1925, 29 aus einem Schreiben Adrians aus Madrid vom 16. April 1517. 332 Der Kauf ist mit dem Datum des 25. April 1517 belegt (Sloot 1959, 60). 333 Ebd. Zur wechselvollen Geschichte des Paushuize gibt Sloot 1959, 57–59 (niederl.) und 60–62 (franz.) Auskunft. 334 Pastor 1925, 30; Ducke 1976, 20. Als Titelkirche erhielt der neue Kardinal Santi Giovanni e Paolo auf dem Caelius.

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als Gegenspieler Karls und somit auch Adrians. Auf den Einfluß des Regenten vertrauten die Anhänger des Infanten Ferdinand in der Hoffnung, daß er trotz der eindeutigen testamentarischen Verfügungen des Katholischen Königs ihrem Favoriten die spanische Krone sichern könnte. Dem bedeutenden Kirchenfürsten und der spanischen Partei gegenüber wurde die Position des „fremden“ Königs in der Gestalt seines Stellvertreters gestärkt: Die Verleihung der Kardinalswürde an Adrian war damit kein bloßer Akt der Gefälligkeit eines bei der Vergabe von Titeln sehr großzügigen Papstes, sondern gleichsam die offizielle Anerkennung der Rechte Karls und seiner Stellung als König von Spanien durch Leo X. Adrian selbst sah die ihm übertragene Würde eher als neue Bürde: Im Gegensatz zu vielen Ehrgeizlingen hatte er sich nie darum bemüht, und nur auf Drängen seiner Freunde hin nahm er den Kardinalshut entgegen.335 Erst wenige Wochen vor seiner Ernennung hatte er das Haus in Utrecht erworben, mit dessen Umbau er sich von Spanien aus weiterhin beschäftigte. Wie stark der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat war, brachte Adrian, damals noch scherzend, in einem Brief an seinen Utrechter Freund Johann Dedel zum Ausdruck: Zelfs als ik paus was, zou ik het huis willen bouwen en te Utrecht resideren.336 Die wissenschaftliche Arbeit, der Adrian sich wieder zuzuwenden wünschte, hatte immer in engem Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit in Löwen gestanden. Daraus erklärt sich, daß seine eigentliche literarische Schaffensperiode bereits 1507 endete, als sich sein Tätigkeitsbereich innerhalb der Universität verlagerte und sein akademisches Wirken durch außeruniversitäre Aufgaben zunehmend eingeschränkt wurde. So hat er nur relativ wenige Arbeiten hinterlassen, die – mit Ausnahme späterer Gelegenheitsschriften – auf die Jahre 1488–1507 zurückgehen. Seine Werke lassen erkennen, daß Adrian weder ein theologischer Neuerer noch jemals ein strenger Verfechter einer bestimmten Lehrmeinung war. Ducke nennt ihn einen Theologen, „in dem die gesamte theologische Tradition lebendig ist.“337 Seine ganze Gelehrsamkeit, seine Kenntnis der Schrift, der großen Theologen und des Corpus Iuris Canonici setzte er ein zur Lösung theologischer Probleme und ihrer praktischen Auswirkungen: Darauf gründete sich auch sein Erfolg als akademischer Lehrer, der nicht nur eine neue Generation gelehrter Theologen, sondern auch von künftigen Seelsorgern heranbildete. Selbst seine Hauptwerke lassen sich nicht auf ein systematisches Lehrgebäude zurückführen: In Disputationen und in seinen Vorlesungen ging er Einzelfragen nach, wobei er sich der scholastischen Methode des Abwägens von Argumenten und Gegenargu335 Pastor 1925, 30 nach einem Brief Adrians vom 16. Juli 1517 an Johann Dedel in Utrecht. 336 Sloot 1959, 60. Der Brief – vermutlich der oben (Anm. 335) erwähnte vom 16. Juli 1517 – wird verschiedentlich zitiert, u.a. bei Pastor 1925, 29; vgl. auch Ducke 1976, 20. 337 Ducke 1976, 72.

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menten mit Sachlichkeit und Klarheit bediente und die Lehrmeinungen großer Theologen nicht kritiklos übernahm.338 Im Gegensatz zu den Scholastikern der Pariser Schule, die – über einhundert Jahre, nachdem Groote sein hartes Urteil gefällt hatte – in ihrer Zerstrittenheit um die „Spitzfindigkeiten einer abgelebten Scholastik“339 Erasmus von Rotterdam während seines ersten Studienaufenthaltes an der Sorbonne abstießen, suchte der Löwener Professor nach Antworten auf theologische Fragen, die auch in der seelsorgerischen Praxis ihre Gültigkeit bewahren konnten. Gerade in seinem Bestreben, die Lehre und die religiösen Bedürfnisse der Gläubigen nicht als voneinander abgesetzte Sphären zu betrachten, also Brücken zu bauen zwischen dem Elfenbeinturm und der Pfarrkirche, zeigt sich Adrian als wahrer Schüler und Vertreter der Devotio moderna. So wie er danach trachtete, sein persönliches Leben in der imitatio Christi zu führen und wie er als Ratgeber und „Orakel der Niederlande“ seine religiöse Überzeugung auch in hilfreichen Antworten auf Fragen des Alltags zum Ausdruck brachte, so wollte er von dem Platz aus, den Gott ihm zugewiesen hatte, über seine Schüler in die Gemeinden hineinwirken und den Gläubigen Wege aufzeigen, wie sie sich in ihrem tätigen täglichen Leben in der Welt um eine Nachfolge Christi bemühen konnten. Möglicherweise tritt in diesem Versuch des Brückenschlags zum Alltag der Gläubigen zusätzlich das „bürgerliche Erbe“ Adrians zutage, das mit dem „bürgerlichen Zug“ der Devotenbewegung korrespondierte.340 Als Professor in Löwen überzeugte Adrian durch seine wissenschaftlichen Leistungen ebenso wie durch pädagogisches Geschick.341 Beides findet sich in seinen Schriften vereinigt, die von ihm selbst ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, sondern nur der Lehre dienen sollten. Die beiden Hauptwerke, die im folgenden genannt und kurz kommentiert sind, gehen auf Mitschriften seiner Hörer bzw. auf kaum überarbeitete Manuskripte Adrians zurück. Anfänglich wurden sie handschriftlich verbreitet; nach Jahren erst erschienen sie auf Veranlassung seiner Schüler im Druck. Der Name des Verfassers ist nach Humanistenart in der latinisierten Form Adrianus Florentius angegeben. 1515 erschien in Löwen die erste Ausgabe seiner Quaestiones Quodlibeticae.342 K.-H. Ducke geht auf die Entstehungsgeschichte dieses Sammelwerkes ein:

338 Ducke 1976, 71–73. 339 Huizinga 1958, 25. 340 Janowski 1978, 21; vgl. oben 259 Anm. 308. 341 Ducke 1976, 11 m. Anm. 44. 342 Kat. Utrecht 1959, 118 Nr. 137. Erstausgaben der Quaestiones gehören heute zum Bestand der Universitätsbibliotheken von Löwen und Utrecht. Das Werk erfuhr zehn weitere Auflagen, darunter mehrere in Paris und eine in Lyon.

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„Seit dem 12. Jahrhundert gehört die disputatio neben der lectio zu den bevorzugten Lehrformen der Scholastik und führt zu einer eigenen Literaturgattung, den Quaestiones disputata [!] und den Quaestiones quodlibetales. Letztere sind Niederschlag von Disputationsübungen über Fragen, die über den bloßen Lehrstoff hinausgingen. Von dieser geistigen Auseinandersetzung in der Form der Disputationen lebte die scholastische Methode. Höhepunkt dieser Schulform waren die alljährlich stattfindenden Quodlibetadisputationen, deren Durchführung zumeist durch die Statuten der Universität selbst festgelegt war. Die Universität Löwen machte hierin keine Ausnahme. [...] Einige disputierte Quaestionen sind zwar gedruckt worden, erlangten allerdings keine größere Bedeutung und Beachtung; ganz im Gegensatz zu den Quaestionen, die Hadrian in den Jahren zwischen 1488 und 1507 disputierte.“343

In Abwesenheit Adrians, der zu dieser Zeit die Belange Karls in Spanien vertrat, wurde 1516 ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung ein recht fehlerhaftes Manuskript seiner Kommentare zum 4. Buch der Sentenzen zum Druck gegeben, vermutlich die Mitschrift eines seiner Schüler. Dieses Werk des Adrianus Florentius erschien in Paris unter dem Titel Questiones in quartum sententiarum presertim circa sacramenta Magistri Hadriani Florentii Trajectensis, Cancellarii Lovaniensis, Theologie ac pontifii [!] juris doctissimi. Die Kommentare erlebten sieben weitere Auflagen; die Mängel des Manuskripts wurden dabei nicht ausgemerzt, jedoch in der Folgezeit Adrian als Irrtümer angelastet.344 Ein Codex, der gleichsam eine Werkausgabe der Löwener Schriften darstellt, gehört heute zum Bestand der Mechelner Seminarbibliothek. Er enthält neben den beiden genannten Abhandlungen auch die Expositiones in proverbia Salomonis, die nur im Manuskript erhalten sind; ferner sind in den Band sechs Reden,

343 Ducke 1976, 51. 344 Kat. Utrecht 1959, 119 Nr. 138. Ein Exemplar der Pariser Erstausgabe besitzt die Universitätsbibliothek Löwen. Adrian setzt sich in dieser Schrift mit Fragen zu den Sententiae des Petrus Lombardus (ca. 1095–1160) auseinander. Dieser Schüler des Pierre Abélard hatte wesentlich zur Ausformung scholastischen Denkens beigetragen. In den Sententiarum libri, seinem Hauptwerk, ordnete er den theologischen Lehrstoff und legte eine Reihenfolge für dessen Vermittlung fest, die auch zu Adrians Zeit noch eingehalten wurde. Im 4. Buch der Sentenzen behandelte er die Sakramentenlehre, die auf der Institution von sieben Sakramenten basierte. Zu den Quaestiones, auf die Adrian Antworten zu finden suchte, die auch in der seelsorgerischen Praxis hilfreich sein konnten, gehörte u.a. die Frage nach der Gültigkeit des Sakraments der Taufe in Fällen, in denen von dem vorgeschriebenen Ritual oder der Taufformel abgewichen worden war. S. dazu Ducke 1976, 70 f. Auf die eigentlichen theologischen Dimensionen der Werke Adrians kann hier nicht eingegangen werden. Wie der Untertitel von Duckes Arbeit besagt, geht er im Hauptteil seines „Handelns zum Heil“ Fragen zur Moraltheologie des Utrechters nach.

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die anläßlich von Promotionen gehalten wurden,345 vier Reden an den Klerus und verschiedene Konsultationen aufgenommen worden. Das Sammelwerk, das Adrian vermutlich selbst zusammenstellte und zunächst dem von ihm gegründeten „Papstkolleg“ stiftete, gewinnt besondere Bedeutung durch die Korrekturen und Randnotizen des Verfassers.346 Aus den Löwener Jahren, und zwar aus dem Zeitraum zwischen 1498 und 1500, sind fünf der Predigten handschriftlich überliefert, die Adrian als Dekan und Seelsorger von St. Peter gehalten hat.347 Übereinstimmend heißt es dazu bei L. v. Pastor und K.-H. Ducke, daß Adrians Ruf als Prediger weit hinter dem des Gelehrten rangierte.348 Pastor betont das „ausgedehnte Wissen“, das sich in den Predigten offenbart, die aber „durch ihre Trockenheit den Stubengelehrten verraten“. Ducke kann mit G. Moringus einen Zeitgenossen Adrians als Zeugen dafür anführen, daß die Predigten „wenig Übung verrieten“.349 Es war vermutlich der akademische Sprachstil, wie ihn Adrian in seinen Vorlesungen pflegte, der, auf Predigten übertragen, den Eindruck trockener Gelehrsamkeit hinterließ. Obwohl die theologische Fakultät der Löwener Universität länger als andere Hohe Schulen an den scholastischen Formen festhielt, konnte es nicht ausbleiben, daß der Dekan sich mit dem von allen Seiten vordrängenden Humanismus auseinandersetzen mußte. Wenn er sich auch selbst dieser neuen geistigen Strömung nicht anschließen konnte, erkannte er doch die Möglichkeiten und belebenden theologischen Impulse, die sich allein aus der Wiedergewinnung der Urtexte und den neuen Übersetzungen des Alten und des Neuen Testaments sowie patristischer Schriften ergaben. Nur durch das Studium der alten Sprachen, anfangs nur des Lateinischen, dann des Griechischen, schließlich sogar des Hebräischen, ließen sich die Texte erschließen und wirklich verstehen, die das Fundament der christlichen Lehre bilden. Adrians Motive, sich auf akademischer Ebene für das Erlernen der alten Sprachen einzusetzen, sind also die gleichen, wie sie die Brüder vom gemeinsamen Leben vertraten, wenn sie an ihren Schulen die humanistische Bildung förderten. Zeitlebens fremd blieb dem Devotenschüler die „weltliche“ 345 Ducke 1976, 58 Anm. 361 führt die Fragen, die Adrian in diesen Reden behandelte, im einzelnen auf; sie stehen im Zusammenhang mit den Thesen der jeweiligen Promovenden. 346 Zum Inhalt der Handschrift und ihrem Geschick in nachadrianischer Zeit s. Kat. Utrecht 1959, 117 f. Nr. 136. 347 Drei der Predigten sind von E.H.J. Reusens erstmals ediert und in sein großangelegtes Sammelwerk Syntagma doctrinae theologicae Adriani Sexti, Pont. Max. (Löwen 1862) aufgenommen worden. 348 Pastor 1925, 28; Ducke 1976, 58 f. 349 Non hic aeque ut in ceteris eminebat, quia deerat exercitatio, quae cum in aliis omnibus, tum in ea re plurimum momenti habere congnoscitur (Moringus, Vita Hadriani 22, zit. b. Ducke 1976, 16 Anm. 87).

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italienische Spielart des Humanismus mit ihrer überschwenglichen Begeisterung für „heidnische“ antike Literatur und Kunst: Seine Auseinandersetzung mit der Kultur der italienischen Renaissance fand vor Ort statt, sie blieb seinem kurzen Pontifikat vorbehalten. Der beste Beweis dafür, daß Adrian die Bedeutung der alten Sprachen für seine Wissenschaft erkannt hatte, besteht in der Förderung, die er dem Collegium trilingue angedeihen ließ. Wohl auf Anregung des Erasmus stiftete der gelehrte Jurist Hieronymus Busleyden diese Einrichtung und öffnete damit einen direkten Weg zum Verständnis der christlichen Überlieferung, ohne den bisher üblichen Umweg über mittelalterliche Kommentare. Das neue Kolleg stieß zunächst auf heftige Abwehr in den traditionsgebundenen Fakultäten der Artisten und der Theologen. Nicht zuletzt Adrians standhafter Unterstützung war es zu verdanken, daß das Institut am 14. März 1520 als vollwertige Einrichtung der Universität angegliedert wurde. Bonas litteras non damno, haereses et schismata damno: Dieser Ausspruch, der Adrian zugeschrieben wird, umreißt dessen eindeutige Position in der Sprachenfrage.350 Erasmus von Rotterdam, der oben als einer der geistigen Väter des Collegium trilingue genannt wurde, war schon viele Jahre zuvor kein Unbekannter in Löwen: Seine Adagiorum collectanea, in der Folge kurz Adagia genannt, 1500 in Paris erschienen, hatten seinen frühen Ruhm bereits begründet, als sein neues Werk, das Enchiridon militis christiani, Adrian als dem Rektor und Kanzler der Löwener Universität zur Approbation vorlag. Auf sein günstiges Urteil sollte Erasmus sich oft berufen. Die Gründe, die Erasmus im Spätsommer 1502 nach Löwen führten, sind nicht bekannt. Floh er aus Paris vor der Pest, oder trieb ihn der Wunsch, Adrians Vorlesungen zu hören? Sicher ist, daß der Dekan sofort nach der Ankunft des jungen Gelehrten den Magistrat der Stadt veranlaßte, diesem einen Lehrstuhl anzubieten. Erasmus lehnte das Angebot ab, obwohl es ihn, dessen finanzielle Situation in diesen Jahren höchst prekär war, der ständigen Suche nach „Beschützern“ enthoben hätte, mit deren Hilfe er seine Existenz fristete. Als Grund für seine Ablehnung gab Erasmus seine Abneigung gegen die holländische Sprache an – oder meinte er eher deren Sprecher, seine Landsleute?351 Die eigentliche Ursache, die Erasmus sein Leben lang daran hinderte, ehrenvolle

350 Kat. Utrecht 1959, 124 Nr. 155. 351 Erasmus, epist. 171 (vol. I p. 379–380 A., Sept. 1502): Vix Lovanium veneram, continuo mihi nec ambienti nec expectanti magistratus oppidi publice legendi munus obtulere, idque commendatione spontanea domini Adriani de Traiecto, huius loci Decani. Quam conditionem ego certis de causis refutavi, quarum haec una est, quod tam prope absum ab Hollandicis linguis, quae plurimum nocere norunt, nulli autem prodesse didicerunt.

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Berufungen anzunehmen,352 war die Furcht vor dem Verlust der Unabhängigkeit.353 Er zog die unsichere Existenz jeder Bindung an Universitäten oder Höfe vor, um sich die Freiheit des Schaffens und die dafür nötige Bewegungsfreiheit zu bewahren, die ihn, in der Verfolgung seiner wissenschaftlichen Ziele, unstet durch Europa trieb. In Löwen hielt es ihn etwa zwei Jahre. In dieser Zeit lernte er vor allem Griechisch, trieb aber auch theologische Studien, hörte Adrians Vorlesungen und verfaßte 1503 höchst widerwillig den bereits erwähnten Panegyricus auf Philipp den Schönen.354 Zwischen Adrian und Erasmus entwickelte sich damals eine nähere Bekanntschaft, ja ein nahezu vertrautes Verhältnis.355 Trotz ihres unterschiedlichen Zugangs zur theologischen Wissenschaft lernten die beiden Gelehrten einander schätzen. Dieses Verhältnis zu Erasmus und der Versuch, dem Humanismus in Gestalt dieses Neuerers Zugang zu der traditionsverhafteten Löwener Fakultät zu verschaffen, läßt die Persönlichkeit Adrians in einem ungewohnten Licht erscheinen und ist daher in unserem Zusammenhang von nicht unbeträchtlicher Bedeutung: Durch seinen Werdegang, durch die Schule der Brüder geprägt, haftet ihm stets das Image nicht nur der Glaubensstrenge, sondern auch das einer gewissen Enge der Sichtweise an. In der Anerkennung, die er Erasmus zollte, zeigen sich aber Weitblick und Großmut gegenüber einem Andersdenkenden, auch wenn Adrian selbst keine neuen Wege mehr einschlagen konnte. Erasmus seinerseits bewunderte den Älteren wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit und tiefen Frömmigkeit, wohl auch wegen seiner charakterlichen Stärke und festen Überzeugungen.356 Was Erasmus an Adrian vermißte, war nach J. Posner ein Zug von Genialität und Humor.357 Obwohl Adrian eine so bedeutende Rolle im geistigen Leben der Niederlande spielte und seine Universität an prominenter Stelle repräsentierte, vermitteln weder Bilder noch Beschreibungen einen Eindruck von der äußeren Erscheinung 352 So hatte er beispielsweise 1499 das Angebot abgelehnt, in Oxford zu lehren. Auch einem Ruf Hadrians nach Rom (1522) folgte er nicht. 353 Ducke 1976, 45 Anm. 288 belegt mit Auszügen aus Erasmus’ Briefen dessen ausweichende Haltung gegenüber den dringenden Bitten Hadrians, ihm in Rom im Interesse der Einheit der Kirche zur Seite zu stehen. 354 Vgl. oben 203 Anm. 134. 355 Erasmus, epist. 1332 (vol. V p. 161–163 A., Anfang Januar 1523): Novi mores et ingenium huius Pontificis, etiam domestica consuetudine. 356 Lange nach dem Tode Adrians würdigte Erasmus in einem Brief dessen Persönlichkeit (epist. 2522 [vol. 9 p. 318–323 A., 20.8.1531]): Adrianus favebat scholasticis disciplinis, nec mirum si illis favebat, in quibus a teneris unguiculis educatus longo intervallo praecedebat omnes: sed ita favebat tum, ut apud eum prima esset pietatis ratio, satis etiam aequus et candidus erga bonas litteras et linguas. Romano Pontifici plurimum tribuebat [...] (321). 357 Posner 1962, 17 (ohne Quellenangabe).

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des Gelehrten in seinen jüngeren Jahren. Während Hadrian VI. in der kurzen Lebensphase seines Pontifikats häufig porträtiert wurde – meistens von der Hand seines Landsmanns Jan van Scorel – ist mir kein Bildnis aus der Löwener Zeit bekanntgeworden, das Adrian von Utrecht so zeigt, wie er dem Prinzen Karl als Lehrer gegenübertrat.358 Bevor der Kardinal von Tortosa als neuer Papst aus dem Konklave hervorging, hatte sein Erscheinungsbild also offensichtlich weder bei Malern, noch bei Chronisten oder diplomatischen Berichterstattern Interesse erweckt. Auch die sehr knappe Beschreibung seines Äußeren, die L. von Pastor referiert, stammt aus dem Jahre 1522 und bezieht sich auf den neugewählten Papst, über den man in Rom endlich Näheres zu erfahren hoffte. Demnach schilderte der römische Sondergesandte Studillo Hadrian VI. wie folgt: „Er sei ein Mann von mittlerer Größe mit grauen Haaren, einer Adlernase, kleinen, lebhaften Augen, von mehr blasser als roter Gesichtsfarbe, schon etwas gebeugt, aber körperlich noch recht rüstig, vor allem gut zu Fuß; [...] weder von Heftigkeit bewegt noch zu Scherz geneigt; bei der Nachricht von seiner Wahl habe er kein Zeichen der Freude geäußert, sondern tief geseufzt [...]“359

Was hier über die Erscheinung des Papstes gesagt wird, deckt sich mit dem Eindruck, den die verschiedenen Porträts im Anhang des Utrechter Ausstellungskatalogs von 1959 vermitteln und an denen Zeitgenossen die außerordentliche Lebensechtheit rühmten (Abb. 10).360 Die entscheidende Wende, die Adrians Lebensweg nehmen sollte, bahnte sich mit seiner Berufung zum geistlichen Erzieher des jungen Herzogs von Burgund an. Von dem Zeitpunkt an, als er dieses verantwortungsvolle Amt tatsächlich antrat, mußten seine wissenschaftliche Arbeit, seine Lehrtätigkeit in Löwen und seine seelsorgerischen Aufgaben nicht nur hinter dem neuen Erziehungsauf358 Steppe 1959 gibt eine knappe, doch präzise Übersicht über die Porträts, die zu Lebzeiten Hadrians entstanden, über Kopien wie auch posthum geschaffene Darstellungen des Papstes. Etliche Porträts des Papstes mit gründlichen Erläuterungen und Literaturangaben in Kat. Utrecht 1959, 251–265 Nr. 347–374. 359 Pastor gibt hier (1925, 37) ein Schreiben Girolamo Negris wieder. Dieses geht auf den mit Spannung erwarteten Bericht zurück, den Studillo nach seiner Rückkehr aus Spanien erstattete, wo er dem neuen Papst das Wahlergebnis offiziell mitgeteilt hatte. 360 Zu einem der Porträts, das sich heute in den Amtsräumen des Rector Magnificus der Löwener Universität befindet, liefert der Katalog (251 Nr. 347, zusätzlich zu Abb. 1) eine treffende Beschreibung, in der die oben geschilderten Züge wiederzuerkennen sind: „Lang van gestalte en vrij tenger van bouw, zit hij rechtop in zijn zetel. Zijn gelaat is slank en goed gevormd, de wangen langwerpig en bleek van tint. Treffend zijn de vooruitstekende jukbeenderen, kleine doch levendige ogen, zware wenkbrauwen en licht gekromde neus. De lippen zijn vast opeengeperst, de mondhoeken omgeven door een dubbele plooi. Adrianus doet zich hier voor als een wilskrachtig, plichtbewust, eerbaar en ingetogen man; op het gelaat de sporen van een zekere stroefheid en licht-melancholisch temperament.“

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trag zurücktreten; seine zunehmende Einbeziehung in beratende und entscheidende Gremien am burgundischen Hof, schließlich die Betrauung mit Ämtern von höchster politischer Bedeutung machten die Fortsetzung seiner Arbeit an der Universität von Löwen unmöglich, wenngleich er ihr stets verbunden blieb. Die Frage, wann und auf wessen Veranlassung hin Adrian als pedagogus in Mecheln tätig wurde, ist an früherer Stelle bereits ausführlich erörtert worden,361 auch die Hinzuziehung weiterer biographischer Skizzen schien zunächst wenig zur Aufhellung des ganzen Komplexes beizutragen.362 Da sie dennoch einige bisher unerwähnte Fakten beisteuern, läßt sich der Ablauf des Geschehens, wenn auch nicht im Detail, so doch insgesamt widerspruchsfrei rekonstruieren. Entscheidend ist dabei, daß sich die Briefe Margaretes, der oben ebenfalls erwähnte Brief Chièvres’ von 1511363 und die von A. Walther und Ch. Moeller im Archiv von Lille aufgefundenen Belege als einzige mir bekannte authentische Quellen in den Entwurf einfügen. 361 S. oben 174–176. 362 Es finden sich allerdings auch Angaben, die nach einiger Beschäftigung mit der Materie leicht als Irrtümer erkennbar werden und daher verworfen werden müssen. Bei Ducke 1976, 16 f. heißt es: „Auf Vorschlag Margaretes v. Österreich betraute Kaiser Maximilian I. im Jahre 1505 Hadrian mit dieser Verpflichtung.“ Dagegen ist einzuwenden: 1505 weilte Philipp der Schöne in den Niederlanden und traf alle Vorkehrungen für seine zweite Spanienreise. Es bestand also keinerlei Veranlassung für Maximilian, sich in die elterlichen Belange einzumischen und einen geistlichen Erzieher für seinen Enkel zu bestellen. Margarete, die erst kurz zuvor zum zweiten Mal Witwe geworden war, beschäftigten zu diesem Zeitpunkt weniger die Erziehung des ihr nur flüchtig bekannten Neffen als die Pläne für den Neubau des Klosters von Brou und die Errichtung der Grabkapelle für Philibert von Savoyen sowie der Kampf um ihr savoyisches Witwengut. Tamussino 1995, 110 erwähnt, daß es im Frühsommer 1505 zu einem Treffen Maximilians mit seinen Kindern in Kleve kam, bei dem die Frage der Statthalterschaft in den Niederlanden während Philipps Abwesenheit erörtert, jedoch noch keine personelle Entscheidung getroffen, geschweige denn Erzieher bestimmt wurden. Ferner läßt sich Duckes Aussage (17) „sein Zögling lebte bei seiner Tante [...] in Mecheln und verbrachte einen großen Teil des Jahres in Löwen“ nicht mit dem Itinerar Karls in Einklang bringen: Erste kurze Aufenthalte des Prinzen in Löwen sind dort für die Zeitabschnitte vom 1.–10. September 1509 und vom 28. Mai–9. Juni 1510 vermerkt (Voyages II 8). – In einer jüngst erschienenen Studie geht M. Verweij (2009) von einer Anstellung des geistlichen Erziehers durch Margarete 1507 sowie von einer schrittweisen Übernahme seiner Tätigkeit ab 1509 aus; neue gesicherte Erkenntnisse zum Amtsantritt Adrians vermittelt die knappe biographische Skizze nicht. 363 S. oben 175. In seinem Brief an Margarete nimmt Chièvres auf ein Schreiben Adrians an den Papst Bezug, das er die Regentin zu unterzeichnen bittet. Dabei könnte es sich um die Absage des Professors an Julius II. gehandelt haben, der ihn nach Rom berufen wollte, da die Kunde von der Einrichtung des Kollegs für unbemittelte Studenten dort ein überaus positives Echo gefunden hatte. Adrian hatte sich jedoch schon zuvor für die Aufgabe des pedagogus entschieden (vgl. Ducke 1976, 17 Anm. 92 nach Moringus’ Vita Hadriani).

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Geht man davon aus, daß Maximilian 1507 als Vormund Karls im Einvernehmen mit Margarete von Österreich Adrian zum geistlichen Erzieher seines Enkels berief, so konnte der Professor seine neue Aufgabe aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen, die ihn an Löwen banden, nicht sogleich übernehmen. Zunächst fiel es daher Luis de Vacca zu, Karl – und bis 1509 auch dessen Schwestern – elementare Kenntnisse zu vermitteln. Frühestens gegen Ende des Jahres 1509, vermutlich erst 1510, konnte sich Adrian der Erziehung seines fürstlichen Schülers annehmen: Entsprechend heißt es bei R. Post: „A Louvain, Adrien assuma jusqu’en 1509 sa charge de professeur et ses autres fonctions universitaires et ecclésiastiques. A partir de 1510 ou, au plus tôt, dès la fin de 1509, Adrien se consacra entièrement à la formation de son royal élève.“364 Die kurzen Aufenthalte Karls in Löwen gerade in diesen Jahren könnten einem ersten Kennenlernen von Lehrer und Schüler gedient haben. Bald darauf scheint Adrian nach Mecheln übergesiedelt zu sein, um seinem Zögling nahe zu sein; seinen Wohnsitz hatte er dann im Keyserhof, unter einem Dach mit den burgundischen Kindern.365 Völlig kann sich Adrian allerdings in diesen Jahren nicht von seinen Löwener Pflichten freigemacht haben, denn noch 1511 hat er als Dekan und Kanzler an einer Promotion teilgenommen, und die Acta Universitatis bezeugen sein Wirken bis 1512.366 Zwischen 1509/10 und 1512 muß Adrian also versucht haben, beiden Aufgaben gerecht zu werden, während Luis de Vacca weiterhin in Mecheln wirkte und zumindest einen Großteil des Unterrichts erteilte. Ab 1512 erscheint Adrians Name nicht nur in den Belegen der Rechenkammer mit dem Zusatz maître d’école, sondern er bezeichnet sich auch selbst als magister und darüber hinaus als conseiller Karls.367 In Spanien wurde die Berufung Adrians zum Lehrer Karls mit großer Befriedigung aufgenommen. Die Reaktion des königlichen Großvaters, der häufig die Mängel in der Erziehung des Thronfolgers kritisiert hatte, ist zwar nicht bekannt, umso mehr Gewicht kommt daher den lobenden Worten zu, die Petrus Martyr für den Dekan von Löwen fand, der vermutlich in spanischen Gelehrtenkreisen kein Unbekannter war. In dem bereits zuvor zitierten Brief vom 13. Januar 1513, in dem Petrus Martyr zunächst Luis de Vacca hohe Anerkennung zollt, heißt es anschließend: [...] mox grandior effectus praeceptorem adiunxerunt Belgae Adrianum traiectinum, qui nec literis divinis inter transmontanos, neque sanctitate morum in Christiana religione 364 Post 1959, 43. 365 Cappens 1959, 102: „l’ancien Keysershof à Malines où Adrien séjourna en permanence de 1509–1510 à 1515.“ 366 Ducke 1976, 17 Anm. 93 mit Einzelnachweisen. Vgl. auch oben 262 Anm. 321. 367 Post 1959, 44. Nach Ducke 1976, 18 war in der Ordnung vom 22. Januar 1504 war das zahlenmäßige Verhältnis von fünf geistlichen und neun weltlichen (adligen) Mitgliedern für den grand conseil de Malines festgelegt.

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habeat superiorem, Lovaniae principem Academiae, ac ipsius urbis Decanum. Horum exempla creduntur ad ingenium pueri irrigandum, ut coalescat, amplificareturque, profutura. Quantum institutio ad naturam, vel in male natis moderandam, vel in bene afflatis expolliendam possit prodesse, saepe tecum alias.368

Petrus Martyr hebt ausdrücklich einige der Vorzüge und Eigenschaften des Adrianus Traiectinus hervor, die mit Sicherheit auch Maximilians Entscheidung beeinflußt haben: seine Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, seinen christlichen Lebenswandel. Ausschlaggebend dürften ferner, was Petrus Martyr nicht erwähnt, sein vielgerühmtes pädagogisches Geschick und sein Ruf als „Orakel der Niederlande“, als Ratgeber der Hilfesuchenden gewesen sein. Die Wahl, die Maximilian getroffen hatte, hätte gewiß auch die Zustimmung seines Sohnes gefunden, der Adrian außerordentlich geschätzt und ihm 1505 ein Kanonikat an der Kathedrale seiner Heimatstadt verschafft hatte.369 Daß der ehrenvolle Auftrag, als den man die Berufung zum geistlichen Erzieher eines künftigen Herrschers betrachten darf, durchaus seine Schattenseiten hatte, läßt sich aus einem Satz der französischen Version der Gedenkrede ablesen, die am 2. März 1959 aus Anlaß der 500. Wiederkehr des Geburtstags von Papst Hadrian VI. an dessen letzter Ruhestätte in Rom gehalten wurde. Dort heißt es: „il [Adrien VI] y [à Louvain] reçut la mission honorable mais redoutable de contribuer à la formation et l’éducation de l’archiduc Charles.“370 In der niederländischen Fassung hingegen fehlt das einschränkende Attribut: „Daarenboven ontving hij de eervolle taak, de jonge aartshertog Karel onderricht te geven.“ Es soll hier nicht darüber spekuliert werden, weshalb der Redner in der niederländischen Version auf ein Pendant zu redoutable verzichtete, das gemeinhin mit „furchtbar, fürchterlich“ übersetzt wird, sondern dem nachgespürt werden, was in der französischen Fassung durch den Einschub dieses einen Wortes angedeutet wird. Wollte der Franziskaner Polman zum Ausdruck bringen, daß die Übernahme der ungewohnten Aufgabe dem Dekan von Löwen Furcht einflößte, oder entpuppte sich die Tätigkeit im Laufe der Zeit als „furchtbar“? Für die erste Deutung spricht, daß Adrian, von eher scheuer, zurückhaltender Wesensart und wahrlich kein Hofmann, sich in dem ungewohnten Ambiente des lebhaften burgundischen Hofes unsicher fühlte.371 Er war damals etwa 50 Jahre alt: über 30 Jahre lang hatte die Universität von Löwen im Mittelpunkt seines Lebens und Schaffens gestanden; 368 Petrus Martyr, epist. 513 (p. 528 W., 13.1.1513). 369 Ducke 1976, 15. S. dazu Kat. Utrecht 1959, 81 Nr. 43 (Brief Philipps an Domdekan Ludolph van Veen). 370 Polman 1959, 26 und 17. 371 Varillas 1691, 21, der die Wahl des docteur Adrien zum précepteur des Erzherzogs seinem Protagonisten Chièvres zuschreibt, verbirgt nicht seine Verwunderung darüber, daß der Gelehrte trotz seines Mangels an politesse später zum Papst erhoben wurde.

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trotz der zahlreichen Ämter hatte er sich dort seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen und seine bescheidene Lebensweise mit der gewohnten strengen Tageseinteilung fortsetzen können. Der Wechsel von Löwen nach Mecheln bedeutete die Versetzung in eine ihm fremde Sphäre, zumal die Stellung des geistlichen Erziehers, die kaum weniger Bedeutung hatte als die des chambellan, des adligen Erziehers, die Einbeziehung in den conseil mit sich brachte und somit auch eine politische Dimension hatte. Es ist nicht auszuschließen, daß Adrian die tatsächliche Übernahme seines Erziehungsauftrags hinauszögerte, weil er vor dieser Seite des neuen Amtes zurückschreckte. Er hatte sich um diese Position ebenso wenig bemüht wie später um die Statthalterschaft in Spanien, ebensowenig wie er nach dem Pontifikat gestrebt hatte: Letzteres nahm er nachweislich unter schwerem Seufzen an.372 Vielleicht hat er bereits geseufzt, als er nach Mecheln und 1515 nach Spanien aufbrechen mußte. Als Schüler der Devoten konnte er sich diesen Berufungen aber nicht verweigern: Er mußte sich in das fügen, was Gott ihm auferlegte, und dort seine Pflicht erfüllen, wohin er gesandt wurde. Als er den Ruf nach Mecheln annahm, mag dies auch geschehen sein, weil er sich dem Hause Burgund verpflichtet fühlte, weniger des Benefiziums wegen, das Philipp der Schöne ihm in Utrecht verschafft hatte, sondern vor allem, weil er ohne das Stipendium der Margarete von York seine langjährigen theologischen Studien nicht hätte finanzieren können. So bot sich eine Gelegenheit, eine Dankesschuld durch eine Gegenleistung abzutragen. Seine wenig erfolgreichen Bemühungen, dem jungen Erzherzog gründliche Kenntnisse der lateinischen Sprache zu vermitteln, haben ihm sein Amt gewiß nicht als redoutable erscheinen lassen. Es dürfte Adrian in seiner Bescheidenheit auch nicht beeindruckt oder verletzt haben, daß er im Schatten des dominanten Guillaume de Croy stand.373 Weder Karls Abneigung gegen den Lateinunterricht noch Chièvres’ Anstrengungen, den geistlichen Erzieher weiter in den Hintergrund zu drängen, vermochten das gute Verhältnis zu trüben, das sich zwischen dem Prinzen und Adrian von Utrecht in den Mechelner Jahren entwickelte. Der Lehrer faßte eine geradezu väterliche Zuneigung zu seinem Schüler, der diesem gütigen, geduldigen Mann sein Vertrauen schenkte. Eine gewisse Affinität der Charaktere mag dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben: Beide waren zurückhaltend, Karl galt sogar als verschlossen. Zurückhaltung, vorsichtiges Abwägen der möglichen Folgen bestimmte auch ihr Handeln. Dieser verwandte Wesenszug beider trat in der Folgezeit in dem Maße stärker hervor, wie von Adrian und bald auch von Karl Entscheidungen von erheblicher Tragweite 372 Vgl. oben 272 Anm. 359. 373 Dansaert 1942, 97: „Sans doute a-t-il [Charles] pour précepteur Adrien Florizoon [...], mais le rôle de celui-ci est tout-à-fait d’arrière-plan [...].“

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gefordert wurden. Ihre zögernde Haltung trug beiden die Kritik von skeptischen Beobachtern wie von ausgesprochenen Gegnern ein: Adrian sollte dies vor allem in Rom erfahren, wo sein aufschiebendes Videbimus374 fast sprichwörtlich wurde. Gegen Karl erhoben sich erstmals kritische Stimmen von spanischer Seite, als der Aufbruch des jungen Königs in seine neuen Reiche mehrfach hinausgeschoben wurde. Zwischen dem Tode Ferdinands von Aragon und Karls Erscheinen in Spanien vergingen 1¾ Jahre!375 Adrian bewahrte die Zuneigung zu seinem ehemaligen Schüler bis an sein Lebensende; selbst als während seines Pontifikats Meinungsverschiedenheiten, ja sogar schwerwiegende Differenzen in politischen Fragen das Verhältnis belasteten, bekundete der Papst dem jungen Kaiser in seinen Briefen immer wieder seine väterliche Liebe und Sorge. Es hat nicht an Überlegungen zu der Frage gefehlt, ob Adrian als geistlicher Erzieher nicht auf seine Weise einen ebenso großen Einfluß auf Karl ausgeübt hat wie Chièvres als dessen adliger Erzieher und politischer Lehrmeister. Die Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil Adrians Wirken sich im Stillen vollzog, während Chièvres’ dominierende Position am Hofe und in der Regierung seines Zöglings und späteren Fürsten niemand verborgen blieb, sondern er sie demonstrativ herauskehrte. Adrians untadelige Lebensweise, die Reinheit seiner Sitten, seine Bescheidenheit und verständnisvolle Güte sowie seine absolute Vertrauenswürdigkeit haben zweifellos ihren Eindruck auf seinen Schüler nicht verfehlt. Später, unmittelbar nachdem er die Nachricht vom Ausgang des Konklave erhalten hatte, gab der junge Kaiser zu erkennen, daß ihm bewußt war, was er Hadrian VI. zu verdanken hatte: „Nul plus que lui ne devait se féliciter du choix d’un pontife [...] duquel il avait pris le peu de lettres et de bonnes mœurs que Dieu lui avait donné.“376 Wenn es Adrian auch nach Varillas’ Ansicht an politesse mangelte, so war er doch reich an bonnes mœurs, die sein tägliches Handeln und den Umgang mit seinen Mitmenschen kennzeichneten. Wie Margarete von Österreich vermittelte der Erzieher dem Heranwachsenden durch sein lebendiges Vorbild Maßstäbe für seine eigene spätere Lebensführung. Kaum abzuschätzen ist hingegen der Anteil, den Adrian an der Herausbildung der religiösen Überzeugungen seines Schülers 374 Ducke 1976, 38. 375 Laurent Vital überschreibt einen der ersten Abschnitte seines Reiseberichts mit Comment le Roy fut par plusieurs fois requis d’aller en Castille (Voyages III 7 f.) und zitiert einen (leider undatierten) Brief der Granden von Kastilien, die Karl zur baldmöglichsten Übernahme der Herrschaft in Spanien bewegen möchten. Vgl. auch Santa Cruz 144–146. Sandoval 74 und 78 gibt mehrere Schreiben wieder, in denen die Mitglieder des Consejo Real Karl dringend bitten, sein Kommen nicht hinauszuzögern. 376 Gachard 1859, XVII (teilweise wörtliches Zit. einer Depesche Karls vom 21.1.1522 an seine Diplomaten in London).

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hatte. Die deutsche Bezeichnung für sein Amt im Haushalt des Erzherzogs lautet zwar „Geistlicher Erzieher“, bezeichnet aber nur seine Zugehörigkeit zum geistlichen Stand. Es fiel nicht in seinen Aufgabenbereich, seinem Zögling Religionsunterricht zu erteilen oder ihn in Glaubensfragen zu beraten. Dafür waren der Hofkaplan, u.U. auch die übrigen Mitglieder der grande chapelle und der Beichtvater des Prinzen zuständig. Man sollte in Betracht ziehen, daß Karl sich damals in einem Alter befand, in dem junge Menschen häufig im Glauben Zuflucht suchen vor den schier unlösbaren Fragen nach Sinn und Wert ihres eigenen Lebens und darüber auch heute noch, und sei es nur für eine gewisse Zeit, zu den glühendsten Anhängern von religiösen Bewegungen und deren spirituellen Leitfiguren werden. So kann Adrian, dessen Frömmigkeit sich nicht in äußeren Formen erschöpfte und dessen Handeln im Alltag nicht von dem abwich, was sein Gewissen ihm vorschrieb, durch sein tägliches Beispiel gelebten Glaubens für Karl auch in dieser Hinsicht richtungweisend geworden sein.377 Einige der bedeutenden Biographen Karls wollen dessen unbestrittene Frömmigkeit auf den Einfluß Adrians zurückführen und Züge der Devotio moderna auch in den religiösen Überzeugungen des Kaisers erkennen. K. Brandi und P. Rassow schreiben dazu: „Adrian von Utrecht war damals Dekan von St. Peter in Löwen und Vertreter des Rektors der Universität; ein Theologe von innerem Beruf, schwer, ernst, aber gütig und auch im Kleinen gewissenhaft. Wir müssen schon aus seiner geistigen Vergangenheit und aus seiner und seines Zöglings späterer Entwicklung Schlüsse ziehen auf das, was der Lehrer in diesen Jahren an Keimen in die noch unentwickelte Seele seines Zöglings legte. Adrian stammte aus jener religiösen Welt, die in den Brüdern vom gemeinsamen Leben ihre Formung erhielt und über das konventionell Kirchliche zu einem wirklich frommen Leben anleitete. Karls wesenhafte Frömmigkeit kann wohl nur hier ihre Wurzeln haben.“ „Etwa mit 9 Jahren erhielt er als Lehrer und geistigen Führer Adrian von Utrecht, einen der ersten Gelehrten der burgundischen Geisteswelt. Adrian war ein Zögling der Gemeinschaft der „Brüder vom gemeinsamen Leben“, die in strengem Gebetsleben und praktischer Frömmigkeit sich der großen, veräußerlichten Kirche gegenüber im Gegensatz fühlten. Nicht eine eigentümliche dogmatische Lehre war es, was sie einte, sondern die sogenannte devotio moderna, die Frömmigkeit als Lebenshaltung, die sich ihrer selbst immer wieder im Gebet sicher wird. Diese Frömmigkeit, die das Tagwerk trägt und heiligt, hat Karl offenbar von seinem Lehrer Adrian 377 Gossart 1910, 165 ist der Ansicht, daß Adrian von allen Erziehern Karls den größten und nachhaltigsten Einfluß auf den Prinzen ausübte und entscheidenden Anteil an der Entwicklung seiner religiösen Überzeugungen hatte: „De tous ces éducateurs, celui qui paraît avoir exercé le plus d’action sur lui, est Adrien d’Utrecht; il a, du moins, très vraisemblablement contribué pour une forte part à développer les sentiments religieux que Charles-Quint conserva pendant toute sa vie.“

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übernommen. Zum Wesen seiner Religion gehörte die Abneigung gegen dogmatische Formulierungen. Er hielt sie für unwesentlich, gemessen an den großen Sätzen des Glaubensbekenntnisses.“378

Die vorsichtigen Formulierungen beider Historiker, die ihre Sichtweise durch den Einschub jeweils eines Wortes relativieren – „wohl“ bei Brandi, „offenbar“ bei Rassow – zeigen, daß es sich hier um Vermutungen und Rückschlüsse aus späteren Handlungen des Kaisers handelt.379 Es bedarf kaum der Erwähnung, daß es an eigenen Aussagen Karls zu seinen religiösen Überzeugungen fehlt: Sie sind Teil seiner Privatsphäre, in die er keinen Einblick gewährt. Daher kommt auch A. Kohler bei seiner Bilanzierung der trotz intensiver Forschungsarbeit unerschlossen gebliebenen Fragen, zu denen er u.a. verschiedene Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung Karls zählt, zu dem Schluß, daß „die Religiosität des Kaisers kaum anders faßbar [ist] als über dessen Einstellung zu Kirchenreform, Papsttum und Protestantismus“.380 Alle diesbezüglichen Äußerungen und Maßnahmen des Kaisers gehören jedoch Lebensabschnitten an, die von dieser Arbeit nicht erfaßt werden können. Das gilt selbst für die Stellungnahme Karls V. zur „Luthersache“ vom 19. April 1521, die von zahlreichen Historikern, darunter auch Brandi, als persönliches Glaubensbekenntnis des jungen Kaisers interpretiert worden ist. H. Lutz, der sich mit Fragen zur Religionspolitik des Kaisers auseinandersetzt, ist trotz der Eigenhändigkeit der Erklärung des Kaisers nicht davon überzeugt, daß es sich wirklich um die persönliche Auffassung Karls handelt; er verweist in diesem Zusammenhang erneut auf die Schwierigkeit, zwischen dem Kaiser als Person und als Institution zu trennen.381 Während also neuere Historiker aus den Handlungen des Herrschers Aufschluß zu gewinnen versuchen über seine persönliche Haltung in Glaubensfragen, stellte sich dieser Komplex für einen Zeitgenossen Karls, den venezianischen 378 Brandi 1964, 39; Rassow 1963, 11 f. 379 Äußerst kritisch beurteilt Seibt 1990, 27–33 („Das Problem der Frömmigkeit“) die Auffassungen Brandis und Rassows zur „mittelalterlichen Frömmigkeit“ des Kaisers und stellt Zusammenhänge mit der Devotio moderna in Frage. Wenn er dabei auch Zweifel daran äußert, daß Adrian als glaubwürdiger Vertreter der Devotenbewegung gelten kann, übersieht er freilich, daß seit der ersten Niederlegung der Vorsätze Geert Grootes eine Entwicklung, Öffnung und neue Interpretation der Glaubensrichtlinien stattgefunden hatte. 380 Kohler 1999, 23. An späterer Stelle (49) räumt der Autor einen zweifellosen Zusammenhang ein zwischen der Erziehung durch Adrian im Geiste der Devotio moderna und Karls späteren Plänen einer umfassenden Kirchenreform. 381 Lutz 1979, 163–181. – Im Schlußkapitel dieser Arbeit (s. unten 596–611) werden Positionen und Handlungen Karls V. aus den Jahren nach 1520 aufgegriffen, deren Ursprünge in der Lebenswelt und der Erziehung des Prinzen zu suchen sind. Die Tendenzen zumindest des kaiserlichen Engagements in der Frage der konfessionellen Spaltung werden dort aufgezeigt und in den Kontext einer historischen Verortung Karls V. gestellt.

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Gesandten am Kaiserhof Gasparo Contarini, allem Anschein nach sehr viel einfacher dar. Bei seiner Rückkehr nach Venedig im Jahre 1525 widmete er der Person des jungen Kaisers einen beträchtlichen Teil seines Gesandtschaftsberichtes. Darin heißt es zur Frage der Religiosität des Herrschers: È uomo religiosissimo, molto giusto, privo d’ogni vizio, niente dedito alle voluttà, alle quali sogliono esser dediti li giovani, nè si diletta di spasso alcuno. [...] dimostra eziando d’avere gran desiderio di fare l’impresa contro gl’infedeli [...]382

Für Contarini war die Frömmigkeit des Kaisers nach außen hin sichtbar in seinen Tugenden, in seiner gottgefälligen Lebensführung, die frei ist von Lastern, denen andere junge Menschen sich ergeben, in seiner Ernsthaftigkeit und in seinem Wunsch, für den Glauben zu streiten. Das „Problem der Frömmigkeit“, die Frage, „was ein frommer Kaiser ist“ (Seibt), stellte sich Contarini offensichtlich nicht. In gewissen Zügen besteht eine auffallende Ähnlichkeit des Bildes, das der Gesandte hier von dem frommen jungen Kaiser zeichnet, mit dem des ebenfalls frommen, ernsthaften Theologiestudenten Adrian in nahezu dem gleichen Alter in der Vita di Hadriano Sesto des Paolo Giovio.383 Bestand wirklich eine Wesensverwandtschaft zwischen Karl und Adrian, die sich etwa in der Form ihrer Lebensführung zeigte? War in jeder der beiden Darstellungen Herrscherlob im Spiel, oder liegt beiden Charakterisierungen eine zeitgenössische Klischeevorstellung zugrunde, der ein junger Mann entsprechen mußte, der als besonders fromm und tugendhaft geschildert werden sollte? Auch aus dem zunächst so einfach und geradlinig wirkenden Bericht des Contarini ergeben sich also weitere Fragen, die kaum zu beantworten sind. Nach dieser Musterung der Schwierigkeiten, die sich einer Antwort auf die Frage der persönlichen Religiosität des Kaisers entgegenstellen, und der unterschiedlichen in der Forschung dazu vertretenen Positionen möchte ich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehren: zu der Frage nämlich, ob ein Einfluß Adrians von Utrecht auf die religiösen Überzeugungen seines Schülers in irgendeiner Form erkennbar oder sogar nachweisbar ist. Es gibt in der Tat einige kaum anfechtbare Indizien dafür, daß Karl zwischen 1514 und 1517 in direkte Berührung mit Anhängern der Devotio moderna kam: Durch sein Itinerar sind für diesen Zeitraum neun Aufenthalte im Kloster Groenendael belegt, von denen 382 Firpo 1970, 11–73 (87–149), hier 61 (137). Contarini wurde Anfang des Jahres 1521 zum Gesandten der Republik Venedig am Kaiserhof ernannt; wahrscheinlich nahm er bereits im Oktober 1520 an der Krönung in Aachen teil. 1522 folgte er dem Hof nach Spanien und hatte somit die Gelegenheit, sich aus nächster Nähe ein Bild von der Persönlichkeit des jungen Herrschers zu machen. Auch diese Quelle bezieht sich auf einen Zeitabschnitt jenseits des Rahmens meiner Arbeit, fußt aber auf relativ zeitnahen Beobachtungen, nicht auf der nachträglichen Interpretation in Kenntnis wesentlich späterer Ereignisse. 383 Vgl. oben 261 f.

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drei sich über zwei Tage erstreckten.384 Über die besondere Rolle, die dieses Kloster in der Devotenbewegung spielte, gibt H.N. Janowski Auskunft: Während der Zeit der Einkehr, die Geert Groote in einem Kartäuserkloster verbrachte, „lernte er [...] vor allem auch die Texte Johannes Ruysbroeks kennen, den er später in seinem Konvent in Groenendael besuchte und der einen prägenden Einfluß auf die neue Frömmigkeit gewann.“385 Obwohl Groote für sich selbst das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft abgelehnt hatte, „hatte sich parallel zu den weltoffenen Brüdergemeinschaften der Devoten [...] auf dem Boden der Devotio moderna auch eine klösterliche Reformbewegung entwickelt. So wie schon Jan Ruysbroeks mit seinem Groenendaeler Konvent die Kanonikerregel des Augustin angenommen hatte, erwies sich auch für den Weg der angestrebten reformierten Klostergemeinschaft die Augustinerregel als die am ehesten entsprechende [...]. So wurde 1387 in Windesheim bei Zwolle das erste Chorherrenstift gegründet. [...] Zuvor hatten sich die Schüler Geert Grootes, die sich hier zu einer Klostergemeinschaft zusammenfanden, in dem von Groenendael aus eingerichteten Kloster Emstein mit der Lebensweise der Augustiner vertraut gemacht und brachten von dort aus auch Impulse der mystischen Frömmigkeit Ruysbroeks mit.“386

Die kurzen Aufenthalte Karls in diesem Kloster können der Einkehr, der Besinnung und dem Gebet in einer äußerst bewegten Lebensphase gedient haben: Erstmals weilte der Erzherzog dort drei Wochen vor seiner Emanzipation, nach einem Jahr, das mit der Affäre um don Juan Manuel begonnen hatte und durch die zunehmende Entfremdung von Margarete von Österreich geprägt war, während hinter dem Rücken der Regentin bereits Verhandlungen um eine vorzeitige Entlassung des noch nicht Fünfzehnjährigen aus der Vormundschaft geführt wurden. Für die Jahre 1515 und 1516 verzeichnet Karls Itinerar ständige, oft tägliche Ortswechsel während seiner Inaugurationsreisen durch die Niederlande mit einer Folge von joyeuses entrées, die für den zurückhaltenden jungen Herzog gewiß keine ungetrübte Freude darstellten. Dazwischen gab es immer wieder kurze Aufenthalte in Brüssel, wo der Herzog von Burgund seine Residenz im alten Herzogsschloß eingerichtet hatte und wo die Regierungsgeschäfte geführt wurden. Es ist nur zu verständlich, daß Karl in diesem Zeitraum mehrfach einen Ort aufsuchte, wo er im eigentlichen Sinn des Wortes „zur Besinnung kommen“ konnte. Eben diesem Zweck sollten gewiß die Aufenthalte im Kloster während der Fastenzeit 1517 dienen. Die seit dem Sommer 1516 immer wieder verschobene 384 Voyages II 14–20: 1514: 15.12.; 1515: 17.9.; 1516: 8.4., 23.9., 20./21.10. und 14.11.; 1517: 26.3., 28./29.3.und 9./10.4. (Gründonnerstag und Karfreitag). 385 Janowski 1978, 13. 386 Ebd. 24 f.

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Antrittsreise nach Spanien und die Übernahme der Herrschaft über das fremde Land standen bevor: Grund genug, Zuflucht zu geistlichem Rat und Gebet zu suchen.387 In seinen Commentaires erwähnt Karl V. diese Aufenthalte in Groenendael mit keinem Wort. Im Umfeld des Prinzen gab es außer Adrian niemand, der in enger Beziehung zur Devotio moderna stand. Das legt den Schluß nahe, daß er es war, der die Verbindung seines Zöglings zu der Klostergemeinschaft vermittelte, zumal er sich 1514 und auch im September 1515 noch in den Niederlanden aufhielt. Die Thesen Brandis und Rassows zu den Wurzeln der Frömmigkeit Karls V. gewinnen durch die hier aufgeführten Fakten jedenfalls erheblich an Gewicht. Mit seiner Emanzipation am 5. Januar 1515 war der junge Herzog von Burgund nicht nur aus der Vormundschaft, sondern auch aus der „Schule“ entlassen worden. Seine formale Erziehung galt als beendet; damit hatten seine bisherigen Erzieher die Aufgaben erfüllt, für die sie ursprünglich an den Hof berufen worden waren. Wenn Adrian gehofft hatte, nach dem Ende seiner Tätigkeit als pedagogus nach Löwen zurückkehren und seine wissenschaftliche Arbeit dort fortsetzen zu können, so zerschlugen sich seine Pläne, und er sah sich weiter in die Pflicht genommen. Die zahlreichen glanzvollen Ereignisse um die Emanzipation Karls und der Jubel, mit dem die Bevölkerung ihren prince naturel als Landesherrn empfing,388 konnten nur vorübergehend darüber hinwegtäuschen, welche Bürde Karl an der Schwelle zwischen der pueritia und der adolescentia zugefallen war. Er übernahm die Herrschaft in einer äußerst schwierigen, kaum durchschaubaren Situation, deren Komplexität hier nur angedeutet werden kann. Sie war bestimmt durch drei große, sich in Teilen überschneidende Problemkreise, in denen Karls Person und seiner künftigen Politik jeweils zentrale Bedeutung zufiel: 1. Schon seine Position als Herzog von Burgund wurde durch die Uneinheitlichkeit dieses Herrschaftsbereiches erheblich erschwert. Obschon Landesherr, hatte er in den einzelnen Provinzen und Städten einen höchst unterschiedlichen Status inne, was nicht ohne Auswirkungen auf die jeweilige Rechtslage und die Privilegien blieb, die er zu beachten hatte. Zudem war er zu Beginn seiner Herr387 Mit dem Bedürfnis nach innerer Einkehr vor dem einschneidendsten Ereignis seines jungen Lebens läßt sich auch ein weiterer Aufenthalt in Groenendael erklären: Karl unterbrach dort seine ausgedehnte Reise zur Krönung in Aachen vom 16.–20. Juni 1520 (Voyages II 27). Bevor Karl nach Spanien zurückkehrte (Aufbruch im Mai 1522), weilte er noch dreimal in dem Kloster (ebd. 30): vom 6. auf den 7. September 1521, vom 17. bis 18. März und in der Karwoche und an Ostern (15.–20. April) 1522. 388 Auf den feierlichen Akt der Mündigsprechung, auf die joyeuses entrées, auf weitere Festlichkeiten zu diesem Anlaß und auf dessen mediale Umsetzung wird in einem späteren Kapitel gesondert eingegangen (IV.2, s. unten 433–497).

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schaft noch für einige Gebiete als Erster Kronvasall des französischen Königs dem mächtigen Nachbarn verpflichtet, während der größere Teil seines Herzogtums als Burgundischer Reichskreis389 unter die Oberhoheit von Kaiser und Reich fiel. Die historischen Bindungen an zwei – meistens verfeindete – Herren stellten sich einer selbständigen Außenpolitik als ein erhebliches Hindernis entgegen.Um die innere Lage des Herzogtums war es keineswegs besser bestellt: Die Geldrischen Kriege und die Machtkämpfe der vorangegangenen Jahre zwischen der Regentin und den gegnerischen Parteiungen hatten tiefe Spuren im politischen Gefüge des Landes wie auch im Leben der Bevölkerung hinterlassen – und leere Kassen. 2. Die Überschneidung mit dem zweiten Problemkreis deutet sich hier bereits an: Sie ergab sich aus der engen Verflechtung politisch-dynastischer Interessen mit den persönlichen Beziehungen innerhalb der „Ersatzfamilie“ des jungen Herzogs: Weder Maximilian noch Margarete zogen sich aus der niederländischen Politik zurück, nachdem ihr Mündel für großjährig erklärt worden war. Der Kaiser, der mit den Generalständen die Bedingungen für Karls Emanzipation ausgehandelt hatte,390 versuchte sich einzumischen, kaum daß der Enkel erste selbständige politische Maßnahmen einleitete. Zunächst bemühte sich Maximilian, die Bildung der neuen Regierung in seinem Sinne zu beeinflussen: Am 17. Januar 1515 ernannte der Herzog Jean le Sauvage zum Großkanzler und bestellte seinen grand conseil, dem neben Chièvres als premier chambellan u.a. drei weitere Mitglieder der Familie Croy angehörten.391 In den Rat wurden auch Adrian von Utrecht und der Pfalzgraf Friedrich von Baiern berufen, gewissermaßen als Außenseiter unter den Vertretern des burgundischen Adels. Die Kritik des Kaisers richtete sich in erster Linie gegen die Person des Großkanzlers, dessen Abberufung er befahl. Per modum provisionis sollte Adrian von Utrecht das Amt übernehmen.392 Auch dem Rat gegenüber, den er noch als nostre conseil privé bezeichnete,393 glaubte er weiterhin weisungsbefugt zu sein. Le Sauvage wurde nicht entlassen. Mit dem Großkanzler und dem premier chambellan rückte Adrian von Utrecht in den Kreis der engsten Berater des Herzogs auf, in den conseil privé. Dem ehemaligen pedagogus wurde zusätzlich das Amt eines (der drei) Chefs der Finanzen übertragen. Als geistlicher Erzieher des Prinzen hatte der Dekan von Löwen ebenso wie Chièvres zwar auch zum Rat Margaretes gehört, aber keineswegs eine derart exponierte Position innegehabt. Der venezianische Gesandte Pietro Pasqualigo, der vor Jah389 Im Zuge der Reichsreform Maximilians war Burgund 1512 in die neue Ordnung eingegliedert worden. 390 Auf die Bedingungen sowie auf die Umstände, die zur vorzeitigen Entlassung des Prinzen aus der Vormundschaft geführt hatten, gehe ich an späterer Stelle ein. S. unten 385–401. 391 Henne 1865, 183 führt alle Mitglieder des grand conseil namentlich auf. 392 Walther 1911, 135. 393 Le Glay 1839, 2, 275 Nr. 585 (11.2.1515).

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ren in Löwen studiert hatte, soll daher höchst erstaunt gewesen sein, seinen Professor, diesen singularissimo teologo, „leitend an den Staatsgeschäften beteiligt zu finden“.394 Die frankreichfreundliche Außenpolitik, die Karls Regierung bereits im Januar 1515 einleitete und die im März des gleichen Jahres zum Abschluß des Friedensvertrages von Paris und des Eheabkommens zwischen Karl und Renée de France führte,395 verschärfte die Spannungen zwischen dem Kaiser und seinem Enkel zusätzlich.396 Margarete, die man bei den Verhandlungen um die Emanzipation ihres Neffen übergangen hatte und die sich dadurch in ihrer Ehre verletzt fühlte, wünschte sich in die Franche-Comté zurück, nachdem sie Karl auf seinen Antrittsreisen getreulich begleitet hatte. Maximilian, der nahezu jeden Rückhalt in den Niederlanden verloren hatte, konnte sie dennoch bewegen, in Mecheln zu bleiben.397 Dort lebte sie nun keineswegs nur ihren vielfältigen kulturellen Interessen, sondern versuchte erneut, gestützt auf die verbliebenen Anhänger ihrer englandfreundlichen Politik, mit Heinrich VIII. einen Handelsvertrag zu schließen. Hauptanliegen Margaretes aber war es, die Entfernung Chièvres’, des Exponenten der frankophilen burgundischen Politik, aus der Regierung Karls zu erwirken. Unterstützung für ihre Pläne fand sie bei Ferdinand von Aragon, zu dem sie stets gute Beziehungen unterhalten hatte und dessen feindselige Haltung gegenüber Chièvres seit langem bekannt war. Nachdem der Erzieher Karls zum Lenker der burgundischen Politik aufgestiegen war, versuchte Ferdinand das von Chièvres angebahnte enge Verhältnis zwischen dem Herzogtum seines Enkels und dem König von Frankreich durch die Gründung einer neuen „Heiligen Liga der Christenheit“ zu unterminieren, die sich gegen Frankreich richtete. Spanien und England schlossen am 19. Okto394 So Walther 1911, 140. Pietro Pasqualigo war zum Zeitpunkt des Friedensschlusses von Paris (24. März 1515) venezianischer Gesandter in Frankreich und wurde als außerordentlicher Botschafter an den Brüsseler Hof entsandt, um Karl die Glückwünsche seiner Regierung zu überbringen. Er verstarb im Amt am 30. Dez. 1515. Daher konnte er seinen Gesandtschaftsbericht nicht mehr fertigstellen. Vgl. Firpo 1970, IX. 395 Vgl. oben 154 f. 396 Walther 1911, 145 schildert in Anlehnung an die Berichte Pasqualigos, welche geradezu absurden Konstellationen sich aus der gegensätzlichen Politik des Kaisers und des Herzogs von Burgund ergeben konnten: Die venezianische Delegation weilte zur Gegenzeichnung des Vertrages von Paris Ende Juni 1515 in Den Haag, zu einem Zeitpunkt, als sich Maximilian im Kriegszustand mit den Venezianern befand, die ihrerseits damals mit Frankreich verbündet waren. Pasqualigo legte den verwunderten Diplomaten den Standpunkt seiner Regierung dar: Venedig betrachtete das Herzogtum Burgund als unabhängigen Staat, nicht als Teilbereich einer anderen Herrschaft: essendo questo Stato ad partem et separato, nè non depende da algun. 397 Walther 1911, 243 (Beilage 29) belegt dies mit einem kurzen eigenhändigen Brief des Kaisers an seine Tochter.

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ber 1515 einen entsprechenden Vertrag, an dessen Vorbereitung Margarete über ihre Diplomaten intensiv beteiligt war. Im Dezember des gleichen Jahres neigte auch der Kaiser dazu, dem Offensivbündnis beizutreten.398 Der Tod Ferdinands am 23. Januar 1516 verhinderte allerdings die weitere Verfolgung dieser Pläne. Im ersten Regierungsjahr des Herzogs von Burgund aber lag in den wiedererwachten gemeinsamen Interessen seiner bisherigen Vormünder und seines spanischen Großvaters auch der Berührungspunkt mit dem dritten der oben angesprochenen Problemkreise: In dessen Mittelpunkt stand die höchst ungewisse Regelung der spanischen Erbfrage. 3. Die Grundlage für alle weiteren Entscheidungen über die Thronfolge bildete das Testament der Königin Isabella von 1504. Darin bestimmte sie Ferdinand von Aragon zum Regenten von Kastilien und León, der sowohl stellvertretend für Juana regieren sollte, falls diese nicht willens oder nicht in der Lage sei, die Herrschaft anzutreten, als auch für Karl, bis der älteste Enkel das 20. Lebensjahr vollendet hatte. Ferdinand und Isabella waren sich einig, daß die Reiche von Kastilien und León und das Königreich Aragon, die unter ihrer gemeinsamen Herrschaft in Matrimonialunion verbunden waren, nicht wieder getrennt, sondern von ihrem Erben in Personalunion regiert werden sollten. Diese Verfügungen seiner verstorbenen Gemahlin banden Ferdinand von Aragon, als er 1512 das Testament von Burgos abfaßte. Er versuchte jedoch, dem Infanten Ferdinand so viel von der spanischen Erbschaft zu übertragen, wie die Vorgaben es zuließen: Der jüngere Bruder sollte in der Nachfolge Ferdinands von Aragon die Regentschaft über Kastilien bis zum Eintreffen Karls übernehmen;399 ferner sollten ihm die Großmeisterschaften der Orden von Santiago, Alcántara und Calatrava mit ihren reichen Einkünften zufallen. Der König von Aragon ging bei diesen Verfügungen davon aus, daß die spanischen Granden ihren príncipe natural schließlich seinem erstgeborenen Enkel, dem Fremden, vorziehen und den Infanten zum König erheben würden.400 Die Meinung des Volkes wußte Ferdinand von Aragon auf seiner Seite: Allem Fremden ohnehin abgeneigt – Ferdinand selbst wurde in Kastilien als Fremder betrachtet – hatten die Spanier die kurze, unglückliche Herrschaft Philipps des Schönen und vor allem das protzige Auftreten seiner fla398 Walther 1911, 145 f. 399 Santa Cruz 84. 400 Walther 1911, 147 referiert hier die Auffassung des venezianischen Gesandten Badoer(o) nach dessen Relation von 1515; auch Merriman 1962, 5 verweist auf diesen Gesandtschaftsbericht. – Die Verfügungen Ferdinands führten dazu, daß Pläne zur Teilung des Erbes in Erwägung gezogen wurden: Danach sollten dem Infanten die spanischen Reiche zufallen, während Karl außer Burgund auch weitere Herrschaften seines Vaters im Königreich Neapel-Sizilien erben sollte. Maximilian (und auch Margarete) sollen sich zeitweise für diese Aufteilung unter den Brüdern ausgesprochen haben (Santa Cruz 86).

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mencos und deren Habgier noch allzu frisch in Erinnerung, um nicht von Karl Ähnliches, wenn nicht Schlimmeres zu befürchten. Im Laufe des Jahres 1515 verschlechterte sich Ferdinands Gesundheitszustand, und er spürte, daß ihm nicht mehr viel Zeit verblieb, um das Schicksal Spaniens in seinem Sinne zu lenken, was ihm in Anbetracht der neuen Ausrichtung der burgundischen Politik umso dringlicher erschien. In Burgund begann die Sorge zu wachsen, daß Karl das spanische Erbe entgleiten könnte; eine Denkschrift, die Diego Lopez de Castro am 7. April 1515 an Karl richtete, dürfte erheblich dazu beigetragen haben, das Mißtrauen gegenüber Ferdinand von Aragon weiter zu schüren.401 Man beschloß, einen Gesandten an den Hof Ferdinands zu schicken, der die Rechte des Prinzen von Kastilien vertreten und die vorläufige Regentschaft übernehmen sollte, falls der König stürbe, ehe Karl sich selbst nach Spanien begeben konnte. Eine geeignete Persönlichkeit für diese Mission zu finden erwies sich als schwierig: Karls burgundische Ratgeber mit ihren Sympathien für Frankreich kamen für die Aufgabe ebenso wenig in Frage wie die Kastilier am Brüsseler Hof, die ihr Heimatland aus Gegnerschaft zu Ferdinand von Aragon – oder aus Furcht vor ihm – verlassen und in den Niederlanden zum Teil gegen ihn agitiert hatten. Die Wahl fiel auf Adrian von Utrecht, der bisher kaum als Diplomat in Erscheinung getreten war und der, inzwischen 56 Jahre alt, seine engste niederländische Heimat nie verlassen hatte. So überraschend diese Entscheidung zunächst erscheinen mag, die von den meisten Autoren Chièvres und seinem Wunsch zugeschrieben wird, den Dekan von Löwen aus der Umgebung seines ehemaligen Zöglings zu entfernen,402 so einleuchtend sind die Argumente für die Entsendung Adrians: (1.) Er war kein „Franzose“, nicht einmal frankophil,403 sondern stammte aus dem 401 Es handelt sich hier um den „Sekretär spanischer Zunge“ am burgundischen Hof, der bereits 1513 Margaretes politische Absichten durch seine Intrigen durchkreuzt hatte. Vgl. oben 113 Anm. 306. Die Denkschrift ist in deutscher Übersetzung wiedergegeben bei Kohler 2003, 47 f., der das Dokument wie folgt kommentiert (48): „Anhand dieser Denkschrift, die zweifellos von der Absicht getragen war, den Gegensatz zwischen König Ferdinand und dem Infanten auf der einen Seite und Karl und dem burgundischen Hof auf der anderen Seite zu vertiefen, erscheint der aragonesische König als bedingungsloser und einseitiger Förderer des Infanten.“ 402 So z.B. Baumgarten 1885, 26; Pastor 1925, 29; Ducke 1976, 18; bedingt zustimmend auch Walther 1911, 149. Diese Auffassung könnte auf eine Passage bei Sandoval zurückgehen, in der es heißt (60): Y a la verdad, la venida de Adriano a España fué, como dice un autor flamenco [?], por orden de Guillelmo de Croy, señor de Xevres, gran privado del príncipe, porque, como es ordinario en los tales, espantábale la sombra de la virtud de Adriano: y para hacerse dueño [...] dió traza como Adriano viniese por embajador [...]. 403 Henne 1865, 185 zitiert aus einem Brief Hadrians VI. an den jungen Kaiser das Urteil des Papstes über die Franzosen: „Ils sont riches et abondans de promesses belles et douces, mais ils mesurent l’amitié à leur profit, de sorte que, changeant la fortune et condition des choses, si elle ne leur vient à profit, sous quelque couleur, moins que véritable, ils laissent

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Teil der Niederlande, dessen Bewohner ihrer Sprache und ihren Gebräuchen nach zur deutschen Kulturnation zählen. Adrians Muttersprache war Niederländisch. (2.) Im Kabinett war er unliebsam aufgefallen, weil er „gelegentlich Sympathien mit der englischen Partei zeigte“,404 d.h. der Politik Margaretes zuneigte. (3.) Sein bekanntermaßen gespanntes Verhältnis zu Chièvres, das auf die Kontroversen um die Erziehung des Prinzen zurückging, konnte bei Ferdinand für ihn sprechen. Wenn A. Walther resümierend feststellt, „daß alles an der Art Adrians, was ihn in der burgundischen Adelsregierung zum Fremdkörper machte, ihn für Spanien empfahl“, so bezog sich das auch auf dessen „ausgesprochen irenische Natur“,405 die ihn für Verhandlungen mit einer schwierigen Persönlichkeit wie Ferdinand geeignet erscheinen ließ: Adrian war friedliebend, gerecht, ruhig und geduldig. Über alle Intentionen des burgundischen Kabinetts war er informiert und genoß das volle Vertrauen des Herzogs. Von Vorteil war es zudem, daß Adrian eine der wenigen Personen am Hofe Karls war, vielleicht sogar der Einzige, dem auch der Kaiser und Margarete von Österreich vertrauten.406 Anfang Oktober 1515 schiffte Adrian sich nach Spanien ein. In einer eigenhändigen Erklärung vom 1. Oktober 1515 bestätigte Adrian Florencij dit d’Utrecht den Empfang von 1800 livres in flandrischer Währung, die ihm im Auftrag des Prinzen von Spanien ausgezahlt worden waren: En prest et payement, sur le voiage que par ordonnance dicellui seigneur je voiz [= vais] presentement faire en Espaigne, par devers le roy d’Arragon, pour aucuns grans affaires secrets dont nest besoing icy faire declaracion.407

Die Instruktionen, die Adrian für sein Vorgehen in den grans affaires secrets gewiß erhalten hat, sind allem Anschein nach nicht überliefert. Mit der Vollmacht, die Karl seinem Gesandten am 17. September 1515 erteilte, ist jedoch das Dokument erhalten, das Adrian völlige Enscheidungsfreiheit in den spanischen Angelegenheiten für den Fall von Ferdinands Tod einräumte: Karl von Gottes Gnaden Prinz von Spanien [es folgen sämtliche Titel, A.S.] thut darin allen, welche Gegenwärtiges sehen, kund, daß er für den Fall von Ferdinands Tode Adrian ernenne zu seinem wahren und unzweifelhaften Generalbevollmächtigten und speciellen Botschafter mit dem Auftrage, vor den Fürsten und Prälaten, Edlen l’amitié.“ Das Zitat ist als Auszug aus einem Brief vom 3. Mai 1522 identifizierbar (in dt. Übers. bei Lanz 1844, 60–62 Nr. 33 und in QSKV. 99 f. Nr. 23). Vgl. dazu unten 311 f. 404 Walther 1911, 149. 405 Ebd. 406 Daß die Entsendung Adrians auf Rat Maximilians erfolgte, wie Ducke 1976, 18 annimmt, möchte ich in Anbetracht des Strebens der burgundischen Regierung nach selbständiger Politik bezweifeln. 407 Bergh 1849, 275 Nr. CXIII.

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und Bürgern Castiliens seine Rechte auf die Succession wahrzunehmen, zu dem Zwecke die Cortes zu berufen und ihnen seine Absichten und seinen Wunsch zu erklären, rasch nach Castilien zu gehen und von seinen Reichen Besitz zu ergreifen. Dasselbe könne er in Aragon, Catalonien und Valencia thun, auf welche Karl Erbansprüche habe. In allen diesen Reichen solle und dürfe er alles thun, was einem guten und getreuen Verwalter und Vertreter zukomme. Alles, was Adrian in dieser Beziehung thue, werde er genehmigen und nie zurücknehmen.408

Adrians Reaktion auf die Übertragung dieser schwierigen Mission ist nicht bekannt. Sein Gewissen wird ihm gesagt haben, daß er sich in den Dienst der gerechten Sache stellen müsse, daß es ihm u.U. in die Hand gegeben sein könnte, Ferdinand von Aragon seinem ältesten Enkel gegenüber versöhnlich zu stimmen. Um seinem jungen Herzog den Weg für eine friedliche Übernahme des spanischen Erbes zu ebnen, galt es auch zu verhindern, daß der Infant vom Rivalen zum Feind des Bruders wurde. Vermutlich hat Adrian damit gerechnet, daß ihn seine Aufgabe nicht allzu lange in Spanien festhalten würde, da es im eigenen Interesse des künftigen Königs sein mußte, möglichst bald nach dem Erbfall seine neuen Reiche persönlich in Besitz zu nehmen. Seiner frommen Überzeugung folgend, daß er dort seine Pflicht zu erfüllen habe, wohin er gesandt wurde, hätte Adrian den Auftrag wohl auch übernommen, wenn er gewußt hätte, daß er seine eigenen Belange nicht nur für sieben aufopferungsvolle Jahre im Dienste Karls in Spanien zurückstellen mußte, sondern für den Rest seines Lebens. Mit dem Eintreffen Adrians im spanischen „Exil“ – als solches dürfte er diese Zeit gesehen haben – wandte sich das Interesse der einheimischen Chronisten seiner Person zu. Als Lehrer Karls hatte er bis dahin nur wenig Beachtung gefunden. Die Eindrücke, die die spanischen Autoren vom Wesen des burgundischen Gesandten und von dessen Auftreten in einer ihm völlig fremden Welt vermitteln, ergänzen und bestätigen das Bild von dessen Persönlichkeit, das hier bisher entworfen wurde. Besonderes Gewicht muß dabei den Briefen des Petrus Martyr beigemessen werden, denn er kannte Adrian persönlich, und zwar nicht nur aus flüchtigen Begegnungen: Im Laufe der Zeit soll sich zwischen den beiden Gelehrten eine freundschaftliche Beziehung entwickelt haben.409 Nachdem Petrus Martyr den Gesandten bei seiner Ankunft begrüßt hatte, fiel ihm die Aufgabe zu, Adrian auf seinem Weg zu den Verhandlungen mit Ferdinand von Aragon zu begleiten und ihm als Dolmetscher behilflich zu sein.410 Der Zustand des Katholischen Königs war zu diesem Zeitpunkt bereits besorgniserregend: Seitdem er sein Ende nahen fühlte, hielt es ihn an keinem Ort lange. Ruhelos zog er durch das 408 Zit. n. Baumgarten 1885, 26 f., der die Vollmacht seinerzeit in der Sammlung Salazar (A.16 fol. 6 ff.) in der Bibliothek der Madrider Akademie der Geschichte einsehen konnte. 409 Walther 1911, 128 (nach J. Bernays). 410 Pastor 1925, 29 (nach Bernays).

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Land, von Furcht getrieben, auf der Flucht vor dem Tod. Seinen ersten Eindruck von dem Gesandten teilt Petrus Martyr schon am 12. Dezember 1515 mit: Ibi [in Abadía bei Trujillo wurde Adrian von Ferdinand empfangen; A.S.] suscepit libens a nostro principe nepote suo Carolo venientem oratorem, is Adrianus traiectinus dicitur, vir gravis prima senecta venerandus, principis ipsius praeceptor. Salutavi hominem, tractavi nondum. Bonum esse, ac literarum disciplina egregium audiveramus. Quantum licet colligere utriusque dotis et probitatis et doctrinae argumenta prae se fert.411

Santa Cruz charakterisiert den Dekan von Löwen in ganz ähnlicher Weise und betont ebenfalls, daß der Gesandte zunächst vom Katholischen König wohl empfangen wurde: Fué también acordado que para ir con este mensaje se debía enviar una persona de negocios y autoridad, y al cabo con parecer de los que más mandaban fué elegido D. Adriano, maestro que era del Príncipe D. Carlos y Deán de Lovaina, gran letrado y hombre grave y viejo y honrado, buena persona aunque non muy sabio en negocios, al cual Su Alteza dió poder para si necesario fuese por muerte del Rey Don Fernando [...] el cual vino á España y fué muy bien recibido de Su Alteza [...]412

Die auffällige Übereinstimmung der Angaben des Santa Cruz mit denen des Augenzeugen Petrus Martyr läßt den Schluß zu, daß dem jüngeren Chronisten die Briefe des Humanisten bekannt waren. Eine persönliche Begegnung mit Adrian ist nahezu auszuschließen, da Santa Cruz bereits vor 1525 an geographischen Forschungen und Expeditionsaufträgen beteiligt war. Zeitzeugen, u.U. der Kaiser selbst, können jedoch seine Beurteilung Adrians zusätzlich beeinflußt haben. Sandovals Historia, auf zeitgenössische Quellen zurückgreifend, fügt dem Bild Adrians kaum neue Züge hinzu.413 Unter den Ereignissen des Jahres 1515 führt er die Entsendung des Dekans von Löwen nach Spanien auf und hebt nochmals dessen hervorragende Eigenschaften hervor, die ihn für die schwierige Aufgabe prädestinieren.414

411 Petrus Martyr, epist. 558 (p. 552–553 W., 12.12.1515). 412 Santa Cruz 86. 413 Sandoval 18: [...] le [a Carlos] dieron el emperador, su abuelo, y madama Margarita, por su maestro y precetor a Adriano Florencio, que aunque era de gente humilde, sus buenas letras y clara virtud le pusieron en merecerlo, y ser deán de la Universidad de Lovaina, y después Sumo Pontifice. Non fué muy elocuente Adriano, mas en la Facultad escolástica fué único en su tiempo. Aus der Rückschau schreibend, stellt er Adrian bereits in seinem Abschnitt zur frühen Kindheit Karls vor. 414 Ebd. 59 f. Der Chronist erwähnt hier die Vollmachten, mit denen Karl seinen Gesandten ausgestattet hatte, ohne allerdings näher darauf einzugehen, um sein Werk nicht zu überfrachten. Es kann sich nur um das von Baumgarten referierte Dokument gehandelt haben (vgl. oben 287 f. m. Anm. 408).

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Keiner der spanischen Chronisten verschweigt, daß es Karls Gesandten erhebliche Mühe und Geduld kostete, die Interessen seines jungen Fürsten gegenüber dem spanischen Großvater zu vertreten und letzten Endes durchzusetzen. In allen Darstellungen kommt zudem zum Ausdruck, daß nicht diplomatisches Geschick, sondern Adrians menschliche Qualitäten zum erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen führten: seine Geduld, Milde und Güte, vor allem die Ruhe, die er ausstrahlte und die den reizbaren, jähzornigen Ferdinand besänftigte. Der König wußte sehr wohl, weshalb der ferne, ihm so fremde Enkel und seine Ratgeber es zu diesem Zeitpunkt für geraten hielten, einen Gesandten in Spanien vor Ort zu haben, der Karls Interessen wahrnehmen sollte. Ferdinand, der gewohnt war, seine Absichten durchzusetzen, mit welchen Mitteln auch immer, weigerte sich einzugestehen, daß sein Letzter Wille, wie er ihn 1512 niedergelegt hatte, dem Wohl des Landes schaden würde, weil er einen Bruderzwist mit unabsehbaren Folgen auslösen mußte, in den er selbst nicht mehr würde eingreifen können. Die Erkenntnis, daß nicht nur sein Leben zu Ende ging, sondern daß mit seinem Tode auch seine Macht erlöschen würde, ließ den Zorn des todkranken Königs noch einmal heftig aufflammen.415 Als Ferdinand nach Tagen des Umherziehens sich in Guadalupe schließlich bereitfand, den burgundischen Gesandten anzuhören, wurde Adrian zunächst, stellvertretend für Karl, zur Zielscheibe dieses ohnmächtigen Zorns. Sandovals gesetzte Worte geben nur einen stark abgemilderten Eindruck von der Begegnung: el Rey Católico [...] no lo recibió con mucha gracia.416 Petrus Martyr versteht es, in wenigen Sätzen das Ringen anzudeuten, das sich zwischen Ferdinand und Adrian um die Rechte des ältesten Enkels entspann: Is [Adrianus] regem adivit, regi per extremos iam vitae margines deambulanti: quaedam annuit foederum capita: dato adventu Caroli principis haeredis: ut ei satisfaceret. Ea permissione de regnis dividendis, aut saltem de magistratibus divi Iacobi, Alcantarae ac Calatravae, de regia corona tollendis consilium abrasit. Prospiciens nanque rex avus nepotem Carolum avitis suis mandatis non obtemperanter auscultare, licet non adolescentis sed moderatorum potius culpa id accidere videatur, irato vivebat in nepotem animo. 415 Um dieses Aufbäumen Ferdinands gegen das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit gegenüber der höheren Gewalt des Todes verständlicher zu machen, sei daran erinnert, daß der Katholische König von seinem Zeitgenossen Machiavelli als exemplarischer Herrscher dargestellt wurde, den virtù im humanistischen Sinne auszeichnete, d.h. die Fähigkeit, mit Energie das Ziel zu verfolgen, das er sich gesetzt hatte; dem Fortuna zu Hilfe kam; der jeweils die günstige Gelegenheit erkannte, die Fortuna ihm bot und sie kraft seiner virtù für seine eigenen Zwecke nutzte. Anhand der zahlreichen geglückten Aktionen Ferdinands belegt Machiavelli, daß ein anfangs machtloser König zum „ersten Herrscher der Christenheit“ (!) aufsteigen kann, wenn seine Persönlichkeit dem Konzept des Florentiners vom idealen Fürsten entspricht (Machiavelli 98 f. [Il principe XXI]). 416 Sandoval 60.

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Paccavit sua prudentia regis stomachum Adrianus: Quaecunque rex petierit affirmans Caroli nomine.417

Im Tenor ähnlich, in der Sprache weniger kraftvoll, schildert Santa Cruz die Reaktion des Königs auf das Anliegen Karls, das er aus dem Munde des Gesandten vernahm: [...] lo cual como el Rey Don Fernando oyese, no le contentó mucho la embajada y comenzóse á encender algo en ira contra el Príncipe, [...] y como el Deán de Lovaina le viese tan enojado procuró de aplacarle le mejor que pudo, diciéndole que el Príncipe, su señor, no quería más de lo que Su Alteza fuese servido, y que aquello tendría por bueno, y así el Re quedó más contento y determinó luego que se hiciese cierta capitulación entre él y el Príncipe D. Carlos, su nieto [...]418

Doch selbst gegen die in geduldigen Verhandlungen erreichten Abmachungen,419 unter denen nur noch die Unterschrift des Königs fehlte, bäumte Ferdinand sich noch einmal auf. Im Bewußtsein der Endgültigkeit dieser Beschlüsse weigerte er sich, Adrian ein weiteres Mal vorzulassen und ließ ihm ausrichten: no viene sino á ver si me muero, decidle que se vaya que no me puede ver.420 Wie sehr der König sich dem Gedanken an den eigenen Tod widersetzte, zeigte sich noch am letzten Tag seines Lebens, dem 22. Januar 1516, als er in dem armseligen Dorf Madrigalejo rastete: Nur mit Mühe gelang es einigen Vertrauten, den Sterbenden zum Ablegen der Beichte und zum Empfang der Sakramente zu bewegen. Danach war er bereit, mit hohen Vertretern seines Rates die Neufassung seines Testaments aufzusetzen. Den Argumenten seiner spanischen Ratgeber konnte er sich nicht mehr verschließen: daß nämlich der Infant mit dreizehn Jahren zu 417 Petrus Martyr, epist. 563 (p. 554 W., 22.1.1516 [im Druck: 1515]). 418 Santa Cruz 88. Bemerkenswerterweise erwähnt Santa Cruz den eigentlichen Auftrag Adrians – die Regelung der Thronfolge – hier nicht. Nach seiner Darstellung ging es Karl lediglich darum, die Einkünfte aus seinen Ländern sowie die Großmeisterschaften der drei mit der Krone verbundenen Orden zu erhalten, die ihm als Prinzen von Kastilien und León zustanden. Der Hofchronist läßt also Zweifel an der rechtmäßigen Position Karls als Príncipe de los Reinos de Castilla y de León gar nicht aufkommen. 419 Santa Cruz 88–92 gibt die capitulaciones vollständig wieder. Einige der darin erwähnten Punkte wurden durch den Tod Ferdinands von Aragon hinfällig. Gültig blieb jedoch die Übereinkunft über die sog. „Rochade“ der beiden Brüder: Im Mai 1516 sollte eine (von Ferdinand von Aragon ausgerüstete) Flotte den Infanten in die Niederlande führen; sobald der jüngere Bruder dort gelandet war, sollte Karl mit der gleichen Flotte nach Spanien segeln. Bedingung war, daß den künftigen König nicht mehr Gefolge und Bewaffnete begleiteten, als König Ferdinand zur Eskorte des Infanten abgestellt hatte (ebd. 89 f.). Auf jeden Fall sollte vermieden werden, daß Karl – wie einst sein Vater – mit großer Heeresmacht in Spanien einzog. Auf Philipps zweiten Spanienzug und den damals nur knapp vermiedenen Krieg mit Ferdinand von Aragon weist Petrus Martyr (wie oben Anm. 417) hin. 420 Santa Cruz 93. Diese Worte des Königs zitiert auch Sandoval 60.

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jung sei, um die Regentschaft zu übernehmen, und auf Berater angewiesen sein würde. Um vorhersehbare Konflikte zum Schaden des Landes auszuschließen, übertrug Ferdinand schweren Herzens die Herrschaft auf Karl. Das Testament von Burgos wurde vernichtet, das neue Dokument von Ferdinand unterzeichnet und im Angesicht des Heiligen Sakraments beschworen.421 Diesem feierlichen Akt wohnte auch Adrian bei. Dessen gütigem, beruhigendem Einfluß schreibt Petrus Martyr den Sinneswandel des Königs zu, so daß der erstgeborene Enkel in seinen Rechten anerkannt wurde und Ferdinand seine Abneigung gegen Karl überwand: Adrianus orator acerbum regis animum ita sedavit, ut conceptum erga nepotem odium in summum amorem converterit.422 Aus einem letzten Brief Ferdinands an seinen Enkel spricht das Bedauern darüber, daß der König seinen Erben nie kennengelernt hat, ebenso wie der Wunsch nach Versöhnung.423 In den schwierigen Verhandlungen zwischen Ferdinand und Adrian offenbarten sich Charakterzüge des Niederländers, die so bisher nicht zutage getreten waren und von deren Vorhandensein selbst Karl und Chièvres überrascht gewesen sein dürften, die den pedagogus nur als zurückhaltende, milde Persönlichkeit erlebt hatten: Mut, außerordentliche Standfestigkeit und Beharrlichkeit zeichneten Adrian bei der Erfüllung seines Auftrags aus. Dem Vertreter Karls, der sich vor Seereisen fürchtete und sich später im wilden Getümmel der spanischen Aufstände ängstlich zeigte, fehlte es nicht an Mut, wenn es um geistige und politische Auseinandersetzungen ging. Mut gehörte wahrlich für den bescheidenen Theologen dazu, dem mächtigsten Herrscher der Christenheit (Machiavelli) gegenüber die Rechte seines ehemaligen Zöglings zu vertreten. Um dessen Ansprüche ohne Wanken verfechten zu können, mußte Adrian von deren Legitimität überzeugt sein, sonst hätte er seinen Auftrag nicht mit seinem Gewissen, seiner primären Entscheidungsinstanz, vereinbaren können. Bei den Verhandlungen mit Ferdinand dürften Adrian der Scharfsinn und die große Gewandtheit des Argumen421 Die wichtigsten Verfügungen Ferdinands seien hier genannt (nach Sandoval 63 f.): (1.) Zu seiner Erbin und Nachfolgerin in allen seinen Königreichen (Aragon, Sizilien, Neapel und Navarra) und allen seinen anderen Herrschaften bestimmte er seine Tochter Juana. (2.) Als Regenten für die kranke Mutter setzte er seinen Enkel Karl ein. (3.) Bis zum Eintreffen Karls sollte Francisco Ximénes, der Kardinal und Großkanzler von Kastilien, die Regentschaft über diesen Teil Spaniens führen, während Ferdinands Bastard, der Erzbischof von Zaragoza, in Aragon und don Ramon de Cardona in Neapel und Sizilien als Regenten eingesetzt wurden. (4.) Seinem Enkel Ferdinand vermachte er das Fürstentum Tarent und andere Gebiete im Königreich Neapel sowie weitere Einkünfte aus Süditalien. (5.) Die Großmeisterschaften der drei Orden übertrug er Karl. (6.) Der Königin Germana wurden großzügige Einkünfte aus den eigenen Reichen des Königs zugesprochen. (7.) Ferdinand wollte in Granada neben Isabella, seiner ersten Gemahlin, bestattet werden. 422 Petrus Martyr, epist. 563 (p. 555 W., 22.1.1516 [im Druck: 1515]). 423 21.1.1516, ediert bei Sandoval 64 f. sowie in CDCV I 48 f. Nr. II (unter dem 22.1.).

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tierens, die er so oft in akademischen Disputationen unter Beweis gestellt hatte, ebenso zugute gekommen sein wie seine Vertrautheit mit juristischen Spitzfindigkeiten, auch wenn sich seine speziellen Kenntnisse auf das kanonische Recht beschränkten. Nachdem Ferdinand von Aragon unmittelbar nach der Aufsetzung des Testaments in der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 1516 verstorben war, sah sich der Dekan von Löwen, ausgestattet mit den Vollmachten seines Fürsten, in der Position eines Regenten von Kastilien und León. Dem stand jedoch die Verfügung Ferdinands entgegen, der den Kardinal Ximénes, den Primas von Spanien, mit dieser Aufgabe betraut hatte. Mit dieser machtvollen, kämpferischen Persönlichkeit hatte Adrian sich auseinanderzusetzen. Der Kardinal konnte sich vor allem auf die Klausel im Testament der Königin Isabella stützen, daß niemals ein Ausländer in Spanien die Herrschaft ausüben solle. Man einigte sich schließlich darauf, das Land so lange gemeinsam zu lenken, bis der neue König eine Entscheidung getroffen hatte. In religiösen Fragen waren sich die beiden Vertreter der hohen Geistlichkeit ohnehin einig: Beide strebten nach einer Reform der Kirche. Ximénes bemühte sich, wie Adrian es bereits in Löwen versucht hatte, verbreitete Mißstände an der Wurzel zu packen, indem er zunächst die Unbildung und Sittenlosigkeit des Klerus bekämpfte. Im Zuge der Aufgabenteilung zwischen den beiden Regenten fiel Adrians Tätigkeit zunehmend in die religiöse Domäne. Seine Erhebung zum Bischof von Tortosa 1516 und die Verleihung des Kardinalats 1517 wurden bereits erwähnt;424 beides geschah ohne Zweifel auf Vorschlag Karls, der u.a. die politischen Verdienste Adrians um die Wahrung seines spanischen Erbes gewürdigt sehen wollte, bedeutete aber gleichzeitig eine Anerkennung der integren Persönlichkeit und der wissenschaftlichen Leistung des Theologen durch Leo X. Schon 1516 wurde Adrian zum Großinquisitor in Aragon und den übrigen spanischen Herrschaftsgebieten König Ferdinands ernannt; 1518 übertrug Leo X. ihm dieses Amt auch für Kastilien und León, wo es nach dem Tode des Kardinal Ximénes vakant war. Damit war der Dekan von Löwen in den Dienst des spanischen Staates getreten: Im Jahre 1478, während der letzten Phase der Reconquista, war die Inquisition in Spanien aus der alleinigen Verantwortung der Kirche und des vom Papst seit 1231 damit beauftragten Dominikanerordens in die Hände des Staates übergegangen. Sie unterstand, wie alle kirchlichen Angelegenheiten, dem Primat der Herrscher, anfangs also Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragon.425 Als staatliche Institution, deren 424 Über die feierliche Verleihung des Kardinalshutes am 25. November 1517 in der St.-PaulsKirche eines Dominikanerklosters in Valladolid in Gegenwart des jungen Königs berichtet sehr anschaulich Laurent Vital (Voyages III 158). 425 Für ihre Verdienste um die Verteidigung des Glaubens verlieh Papst Alexander VI. dem Herrscherpaar 1496 den Titel „Katholische Könige“.

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Ämter mit Geistlichen besetzt waren, richtete sie sich in erster Linie gegen die marranos und moriscos, die noch im Lande verbliebenen (zwangs-)getauften Juden und Mauren, die im Geheimen noch ihrem alten Glauben anhingen. Aufgabe des Großinquisitors war es, ihre verborgenen Aktivitäten aufzudecken sowie den Druck und die Einfuhr von Büchern zu überwachen, um die Verbreitung von Irrlehren zu verhindern. Wie läßt sich nun das Amt des Großinquisitors, das man unwillkürlich mit Folter und Autodafés assoziiert, mit der oben geschilderten milden, gütigen Persönlichkeit Adrians vereinbaren? Seine hohen menschlichen Qualitäten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in Glaubensfragen äußerst streng war, ein unerbittlicher Verfechter der reinen Lehre. Schon während der Löwener Jahre, als er sich für die innere Reinigung der Kirche und des Klerus einsetzte, hatte er die Ansicht vertreten, „daß die religiöse und sittliche Erneuerung nach den alten, bewährten kirchlichen Grundsätzen streng innerhalb der bestehenden Ordnung der Dinge erfolgen müsse“.426 Seine Auffassung von der Reform der Kirche deckte sich mit der des Kardinal Ximénes, seines Vorgängers im Amt des Großinquisitors.427 Diese Affinität in Glaubensfragen führte vermutlich dazu, daß der Bereich kirchlicher Angelegenheiten – über Ximénes’ Tod hinaus – für Adrian der einzige wurde, in dem er sich während seiner spanischen Jahre nicht als Fremder fühlte, sondern über nationale Grenzen hinweg die eine katholische Kirche vertreten konnte. Die in großer Zahl erhaltenen Unterlagen über die von Adrian geführten Prozesse beweisen im übrigen, daß er als Kirchenrechtler alle Fälle mit äußerster Sorgfalt prüfte, daß ihm weder Fanatismus noch Grausamkeit bei der Urteilsfindung angelastet werden können, sondern daß er sich, wenn man die Maßstäbe der Epoche anwendet, durch maßvolle Entscheidungen auszeichnete.428

426 Pastor 1925, 30 mit dem Hinweis, daß Adrian im Inquisitionsprozeß (zwischen 1513 und 1520) gegen den deutschen Humanisten Johannes Reuchlin, der die Rechte der Juden verteidigt hatte, die Gegenposition der Dominikaner unterstützte. 427 Mit den nämlichen Vorstellungen von einer Reform der Kirche trat Adrian 1522 seinen Pontifikat an; die römischen Verhältnisse, politische Hindernisse und die Kürze der Zeit, die ihm blieb, ließen ihn über Ansätze nicht hinauskommen. Gleichwohl beeinflußten seine Schriften noch Jahrzehnte nach seinem Tode die Reformdebatten des Tridentinums. Ducke 1976, 71 weist darauf hin, daß Hadrian VI. zu den in Trient am häufigsten zitierten Autoritäten zählte, wenn von seinen Darlegungen auch keine große Wirkung mehr ausging, weil die Vorbehalte gegenüber seinem scholastischen Denken und Argumentieren inzwischen gewachsen waren. 428 Kat. Utrecht 1959, 151: „L’Archivo de la Inquisición à Madrid conserve encore les pièces d’un grand nombre de procès signées par Adrien; leur examen fait ressortir que son intervention était non seulement exempte de fanatisme et de cruauté, mais aussi, compte tenu de l’époque, empreinte d’une large modération“.

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Die Ankunft Karls in Spanien verzögerte sich erheblich. Erst am 19. September 1517 landete er mit seinem Gefolge in der Nähe von Villaviciosa und trat seinen Zug durch das Land an. Sein Ziel war Valladolid, der Ort, an dem traditionsgemäß die Könige von Kastilien vereidigt wurden und die Huldigung der Cortes entgegennahmen. Obwohl Ferdinands Testament ihm nur die Stellung des Regenten zusprach,429 hatte sich der Prinz von Kastilien bereits am 14. März 1516 zum König proklamieren lassen, um als solcher gemeinsam mit seiner Mutter die Herrschaft auszuüben.430 Dieser Schritt löste in Spanien ein sehr geteiltes Echo aus, und es bedurfte langer Verhandlungen, bis eine Einigung über diese gemeinsame Herrschaft von Königin und König erzielt und die Titelfrage geklärt war: Danach rangierte Karl, solange Juana lebte, an zweiter Stelle.431 Adrians Aufgabe in Spanien wäre mit der Ankunft des jungen Herrschers eigentlich erfüllt gewesen, und er hätte, wie es seinem dringenden Wunsch entsprach, endlich nach Utrecht zurückkehren können. Mehrere Gründe mögen ihn zum Bleiben in Spanien veranlaßt haben: zum ersten war er durch sein Amt als Großinquisitor in die Regierung Landes eingebunden; von der Aufgabe, die ihm durch päpstliches Breve übertragen worden war, hätte nur der Papst ihn entbinden können. Zweitens war Adrian vom Sterbetag des Kardinals Ximénes bis zur Vereidigung des Königs in Valladolid (8. November 1517 bis Anfang Februar 1518) alleiniger Regent in Kastilien. Ximénes, der den jungen König in etlichen Briefen über die Lage im Lande informiert hatte, hoffte Karl noch persönlich begegnen und beraten zu können, ehe er sich aus Altersgründen von allen Ämtern zurückzog. Trotz seiner geschwächten Gesundheit ließ er es sich nicht nehmen, dem Fürsten entgegenzuziehen und dessen Empfang in Valladolid vorzubereiten. Während der beschwerlichen Reise befiel den Kardinal ein heftiges Fieber, dem

429 Vgl. oben 292 Anm. 421. 430 Vgl. dazu Gossart 1910, 40 f. „On avait mal accueilli dans les Pays-Bas la disposition du testament qui confiait à l’archiduc le gouvernement du royaume sans lui attribuer le titre de roi. Pour les conseillers de Charles il ne suffisait pas que celui-ci administrât au nom de sa mère: on voulait qu’il régnât comme elle et que son droit fût officiellement déclaré. C’était aussi l’avis de Maximilien, qui, pour donner une sanction indiscutable à l’attribution du titre de roi à son petit-fils, sollicita et obtint l’approbation du pape. [...] Charles [...] s’était solennellement proclamé roi conjointement avec sa mère, à Bruxelles, le 14 mars, et il ordonnait de le proclamer de même en Castille.“ 431 Auf die schwierigen Verhandlungen um die Position Karls kann hier nicht näher eingegangen werden; sehr ausführlich dazu unter Anführung zahlreicher Schreiben aus dem Briefverkehr zwischen den spanischen Gremien und Karl Sandoval 72–83. Am 13. April 1516 wurde in Madrid ein Schreiben ausgefertigt, in dem die Titelfrage geklärt wird: Doña Juana y don Carlos su hijo, reina y rey de Castilla, de León, de Aragón etc. sollten gemeinsam herrschen; auf diese Formel wurde Karl 1518 in Valladolid vereidigt (ebd. 83).

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er in Roa, etwa 70 km vor Valladolid, erlag.432 Daher sah Adrian es als seine Aufgabe an, den König über die derzeitigen Verhältnisse zu unterrichten und ihn in seine Aufgaben einzuführen. Schließlich sollte das persönliche Element nicht übersehen werden: Adrian wollte seinem ehemaligen Schüler, dem er auch in den folgenden Jahren seine Zuneigung bewahrte, gewiß nicht nur von Amts wegen in der schwierigen Phase des Herrschaftsantritts zur Seite stehen, sondern ihn väterlich unterstützen. Vermutlich hat Karl ihn sogar gebeten, vorerst im Lande zu bleiben. Allerdings ließ Chièvres’ dominierender Einfluß es dann nicht zu, daß Adrians Ratschläge gehört, geschweige denn befolgt wurden. Trotz der Abneigung der Spanier gegen alle Fremden hatte der Bischof von Tortosa sich während seiner Regentschaft Hochachtung im Lande erworben. Seine untadeligen Sitten, seine Frömmigkeit und Bescheidenheit, verbunden mit seinem äußerst schlichten, streng geregelten Lebensstil brachten ihm den Ruf eines „heiligmäßigen Mannes“ ein,433 der sich von den flamencos, die einst mit Philipp ins Land gekommen waren, vorteilhaft unterschied. Adrians Sparsamkeit und Genügsamkeit dagegen erinnerten an die austeridad am Hofe der Katholischen Könige. Die Vorurteile der Spanier gegen die flamencos sollten sich bestätigen, als Karl, wenn auch ohne Heeresmacht, so doch mit dem traditionellen Gepränge des burgundischen Hofes seinen Einzug hielt: Das Schauspiel, das sein Vater den Spaniern geboten hatte, schien sich in den glänzenden Turnieren und Festlichkeiten zu wiederholen. H. Pirenne hat diese Inszenierungen burgundischer Pracht sehr treffend mit einer gewaltigen, fröhlichen Kirmes verglichen.434 Der raschen Ernüchterung folgten Unmut, Unzufriedenheit und schließlich Haß auf die Fremden, der sich allerdings nicht gegen den Kardinal richtete. Wie in der Realität, so rückte Adrian nach der Ankunft Karls auch in den Schriften der spanischen Chronisten in den Hintergrund, so daß sich für die Zeit vom November 1517 bis zum Mai 1520 wenig Hinweise auf sein Wirken finden. In den Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte der Bischof und Kardinal von Tortosa erst wieder mit seiner erneuten Ernennung zum Statthalter 432 Um den Tod des Kardinals begannen sich alsbald Gerüchte zu ranken. Bereits Santa Cruz 161 f. berichtet, daß Dr. Mota, Bischof von Badajoz, dem Kardinal mit einem Schreiben im Namen Karls für seine Dienste dankte und ihn bat, nicht nach Valladolid, sondern nach Mojada zu ziehen, wo er seine Geschäfte übergeben und sich anschließend zur Ruhe setzen könne. Diese „Versetzung in den Ruhestand“ soll den verdienten, kranken Regenten derart erregt haben, daß er einen Rückfall erlitt und kurz darauf verstarb. Ähnlich Sandoval 120. Konetzke 1932/33, 279 ist der Überzeugung, daß dieser Brief Motas existiert hat. Gerüchte über eine Vergiftung Cisneros’ durch die Niederländer weist er zurück; die Absicht der niederländischen Ratgeber, eine Begegnung Karls mit dem Kardinal zu verhindern, um dessen Einfluß auszuschalten, nimmt er jedoch als gegeben an. 433 So schon Manrique 1516 in seinem Memorandum. 434 Zit. bei Walther 1911, 129.

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Karls am 17. Mai 1520.435 Nachdem der spanische König am 28. Juni 1519 in Frankfurt als Nachfolger Maximilians zum Römischen König gewählt436 und ihm vom Papst der Titel eines Erwählten Römischen Kaisers bestätigt worden war, rüstete sich Karl zur Abreise nach Aachen, wo an historischer Stätte die Krönung vollzogen werden sollte. Sein hastiger Aufbruch von La Coruña am 20. Mai 1520 ist mehrfach einer Flucht gleichgesetzt worden vor dem drohenden Aufruhr im Lande, der sich bereits mit ersten Aufständen in Toledo angekündigt hatte. In dieser brisanten Lage ließ er Adrian als Statthalter zurück: Damit begann das „Martyrium“ des Geistlichen.437 Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann hier nur skizziert werden, wie sich die Situation verschärfte, mit der sich der Regent konfrontiert sah:438 Kaum hatte Karl das Land verlassen, als sich in allen Teilen Kastiliens die Städte erhoben. Die vom König eingesetzten Stadtverwaltungen wurden durch revolutionäre Comunidades gewaltsam verdrängt, Deputierte und Prokuratoren tätlich angegriffen und deren Häuser angezündet. Zwei Monate später vereinigten sich die aufständischen Städte in der Santa Junta, um das Königreich gegen den „Despotismus“ zu verteidigen.439 Sie wehrten sich damit gegen die Verletzung ihrer althergebrachten Rechte durch die neue Regierung: Was zunächst in Form von Petitionen vorgebracht und angemahnt worden war, hatte keine Beachtung gefunden.440 Mit der Vergabe von hohen geistlichen und weltlichen Ämtern an Ausländer hatte der König seinen Eid verletzt und Spanien der Fremdherrschaft ausgeliefert.441 Spanier wurden mit staatlichen Aufgaben nur 435 Das Ernennungsschreiben, das Adrian mit allen Vollmachten für die Zeit der Abwesenheit des Herrschers ausstattete, bei Gachard 1859, 237–242. Gossart 1910, 102 weist darauf hin, daß die Befugnisse des Statthalters durch eine geheime Instruktion erheblich eingeschränkt wurden. 436 Maximilian I. war am 12. Januar 1519 in Wels gestorben. 437 Gossart 1910, 99 beruft sich für diese Aussage auf die Worte eines nicht näher benannten spanischen Zeitgenossen. Auch L. v. Pastor muß diese Quelle bekannt gewesen sein; bei ihm heißt es, daß Adrian „ein wahres Martyrium durchzumachen hatte“ (1925, 32). Merriman 1962, 52 Anm. 4 schreibt die Äußerung Luis Hurtado de Mendoza zu, einem hohen Adligen, der Adrian gut kannte und 1522 als Karls Sondergesandter bei Hadrian VI. in Spanien wieder begegnet. 438 Für Gesamtdarstellungen der kastilischen Erhebungen muß auf ausgewählte Quellen und Literatur verwiesen werden: Petrus Martyr nimmt, unregelmäßig in seine Briefe eingestreut, zu den Ereignissen Stellung (ab epist. 656 [p. 596 W., 8.1.1520]). Sandovals Bücher V–VII bieten eine sehr detaillierte Schilderung. In der Literatur gibt Gossart 1910, 79–141 einen guten Überblick, der durch Zitate aus Briefen Adrians ergänzt wird; ferner Merriman 1962, 44–57. 67–133; sehr ausführlich, aber stark auf die Position Juanas ausgerichtet, außerdem Brouwer 1995, 141–173. 439 Gossart 1910, 107. 440 Vgl. oben 243. 441 Vgl. oben 240 f.

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betraut, wenn man sich auf sie als willige Vollzugshelfer der Regierung verlassen konnte. Diese Praktiken wurden allein Chièvres’ „Tyrannei“ angelastet.442 Dem König wurde lediglich seine Unselbständigkeit vorgeworfen: Befreite er sich von seinen falschen Ratgebern, dann war ihm die Treue der Kastilier gewiß. Das Volk verlieh dieser Auffassung lautstark in Sprechchören Ausdruck, die durch die Straßen der Städte schallten: Viva el rey don Carlos y mueran malos consejeros! 443 Nach der Kaiserwahl fühlte sich Spanien gegenüber dem Reich noch stärker zurückgesetzt, zur Goldgrube deklassiert, deren Ausbeute die hochgesteckten Ziele des Herrschers finanzieren sollte. So war es höchst unklug, daß Karl den Cortes unmittelbar vor seinem Aufbruch ins Reich weitere Abgaben auferlegte. Von den Katholischen Königen war Spanien durchaus an ein straffes Regiment mit harten Maßnahmen gewöhnt. Darin hatte man sich gefügt, weil man dahinter das Bemühen um Gerechtigkeit und das Wohl des Landes erkannte. Dieses Vertrauen in die Regierung hatten die Ratgeber Karls verspielt. Indem sie berechtigte Forderungen ignorierten, verschafften sie den Unzufriedenen Zulauf; die begrenzten Unruhen breiteten sich zum Flächenbrand eines Bürgerkrieges aller gegen alle in wechselnden Koalitionen aus. Selbst die Geistlichkeit stellte sich offen hinter die Aufständischen; der Adel war in seiner Haltung gespalten; die Royalisten wie auch die Junta versuchten, wenn auch vergeblich, Königin Juana für ihre Ziele zu gewinnen; die im Lande verbliebenen Anhänger des Infanten444 hielten die Gelegenheit für gekommen, den príncipe natural in Erinnerung zu rufen, mit dessen Regierungsübernahme aller Streit schlagartig enden würde. Der Regent und seine spanischen Ratgeber standen der Situation hilflos gegenüber: Während die Spanier der Anarchie mit Härte ein Ende setzen wollten, neigte Adrian zur Milde und war zu Konzessionen an die Rebellen bereit, weil er deren Forderungen zum Teil als berechtigt ansah.445 Allerdings mußte er auch erfahren, daß die Junta auf sein Verhandlungsangebot nicht einging, weil sie ihm, dem Ausländer, die Anerkennung als Regent verweigerte.446 442 Vgl. die Bezeichnung tirano im Bericht des Santa Cruz (zit. oben 244). 443 Sandoval 202. 444 Wie Ferdinand von Aragon mit Adrian vereinbart hatte, war die „Rochade“ der Brüder durchgeführt worden: Am 27. Mai 1518 hatte der Infant seine Heimat verlassen und lebte seither am Hofe Margaretes in Mecheln. 445 Zu den Bemühungen Adrians heißt es bei Sandoval 245: Buscaba el cardenal Adriano, que era un santo, los medios posibles para poder remediar tantos malos, con la suavidad y blandura que su gran caridad pedía. Seine Anstrengungen stießen aber trotz des Respekts, den man ihm zollte, bei den spanischen Räten wie auch bei den niederländischen Ministern des Kaisers auf Ablehnung; vgl. Gossart 1910, 136. 446 Sandoval 220 geht auf die Frage ein, weshalb Karl nicht einen einheimischen Adligen, der respektiert und gefürchtet wurde, mit der Regentschaft beauftragte. Angeblich hatte Chièvres davon abgeraten, da die Granden untereinander derart zerstritten seien, daß die

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Mitte August 1520 gab die Katastrophe von Medina del Campo dem Aufruhr neue Nahrung: Die Stadt hatte sich zwei Monate lang geweigert, der königlichen Armee die Artillerie auszuliefern, die sie in ihren Mauern hütete. Unter ihrem obersten Feldherrn Fonseca bemächtigten sich die Königlichen der Waffen mit Gewalt und brannten die blühende Handelsstadt in einer Strafexpedition völlig nieder. Ob die Sorge, daß die Waffen in die Hände der Truppen der Junta fallen könnten, Auslöser des brutalen Vorgehens war, läßt sich den sehr parteiischen Berichten nicht entnehmen, ist aber zumindest in Erwägung zu ziehen. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens schreibt Petrus Martyr: Incendium, de quo poetae fabulantur, Troianum non puto fuisse crudelius. incenditur nundinarium illud oppidum, ubi a diversis orbis partibus mercatoriae servabantur facultates. [...] Tam atrox tamque repentinus supervenit turbo igneus, ut exportari nihil potuerit. Quicquid preciosum inerat in cinerem conversum est. [...] In lateribus paucae domus evaserunt: oppidani autem, licet facultates universas absumi cernerent, a pugna tamen nunquam destiterunt, donec Fonsecca re infecta provinciam reliquerit.447

Adrian war von dem Schicksal der Stadt zutiefst erschüttert; als Regent und damit auch oberster Dienstherr der Armee fühlte er sich vermutlich mitverantwortlich, wenn nicht gar mitschuldig. Karl gab, als Reaktion auf die Katastrophe, den Forderungen der Aufständischen in einigen Punkten nach und stellte Adrian zwei spanische adlige Militärs als Mitregenten zur Seite. Dieses Dreierkollegium erhielt den Auftrag, die Ordnung im Lande wiederherzustellen – ein Unterfangen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.448 Schon seit Juni 1520 hatte sich Adrian, im Vertrauen auf sein gutes Verhältnis zu Karl, in zahlreichen persönlichen Schreiben direkt an den Kaiser gewandt. Den Tenor dieser Briefe charakterisiert E. Gossart folgendermaßen: „Tout dévoué qu’il est à son maître, on le voit, en effet, pousser le respect du droit et de la justice jusqu’à prendre parti pour les mécontents. Il n’hésite pas à blâmer les actes de l’empereur; il lui parle dans les mêmes termes, avec la même sincérité, la même liberté de langage qu’il le faisait jadis, quand il s’adressait au prince encore enfant.“449 Übertragung der Macht an einen von ihnen die Gegensätze verschärft und für Unruhe gesorgt hätte. 447 Petrus Martyr, epist. 681 (p. 607 W., 16.8.1520). Auch die anderen spanischen Chronisten versäumen es nicht, auf die Zerstörung der Stadt einzugehen. Santa Cruz 271–273 gibt einen Brief des Rates wieder, in dem der Kaiser von dem Ereignis informiert wird: allerdings erst am 12. September 1520, einen Monat nach dem Brand. Sandoval 252 f. zitiert das Schreiben, das die Stadt Medina am 22. August 1520 nach Valladolid sandte. 448 Der Regent und seine Ratgeber erstatteten dem Kaiser Bericht über die gesamte Lage im Land und ließen ihn über ihre Machtlosigkeit nicht im Zweifel (Brief vom 12. September 1520 bei Sandoval 264–266). 449 Gossart 1910, 136.

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Der Regent stellt seinen Mut zum offenen Wort erneut unter Beweis, indem er seinem ehemaligen Schüler, der jetzt sein Herr ist, Fehler vorhält, ihm Ratschläge erteilt, ihn warnt. Immer deutlicher spricht er seinen Willen aus, sein sinnlos gewordenes Amt niederzulegen, um nicht für Maßnahmen mitverantwortlich zu sein, die er nicht vertreten kann. Er drängt den König, ohne Verzug für Gerechtigkeit im Lande zu sorgen und sein unter Eid abgegebenes Versprechen einzuhalten, keine Ämter und Benefizien an Ausländer zu vergeben, sowie auf die Erhebung weiterer Steuern zu verzichten. Hierin sah Adrian die Hauptursachen für die Erhebungen und schrieb unverblümt an Karl: Il disent que le roi promet et ne garde pas ce qu’il a promis, qu’ils ont à y pourvoir d’une autre manière. Votre Altesse doit veiller à ce que la justice soit administrée; elle est constituée roi pour cela. Le contraire serait une grande infamie.450

Die zunehmende Unerträglichkeit der psychischen Belastung läßt sich aus den Briefen Adrians ablesen.451 Er kann nicht einen König vertreten, der sein gegebenes Wort nicht hält und der nichts tut, um den Frieden durch Reformen und angemessene Zugeständnisse wiederherzustellen. Ein Verbleiben im Amt erscheint dem Regenten immer nutzloser. Während Adrian sich noch bemühte, den König zum Einlenken zu bewegen, um dauerhaften Schaden von der Krone abzuwenden, kam die Order, daß seine Briefe künftig durch die Hände des königlichen Sekretärs Quintana gehen sollten, ein Vorgehen, das den Stellvertreter des Königs zutiefst verletzte und empörte: Si Votre Majesté maintient l’ordre, je le ferai exécuter, mais qu’elle donne le gouvernement à un autre. Je ne souffrirai ni ces plaisanteries, ni ces affronts, et je m’en irai.452

Noch am gleichen Tage reichte der Regent ein förmliches Gesuch um Entlassung aus dem Amt ein, das ihm unerträglich geworden war.453 Der König reagierte nicht. Vielleicht erreichten Adrians Briefe ihn nicht oder wurden ihm vorenthalten. Die betreffende Order muß jedoch von ihm unterzeichnet worden sein, wenn sie vermutlich auch auf seine Ratgeber zurückging. Dem jungen Herrscher war es auf seiner Krönungsreise gewiß recht, nicht mit Klagen und Anklagen aus dem fernen, ungeliebten Spanien belästigt zu werden. Im Oktober 1520, wenige Tage bevor der Römische König in Aachen gekrönt wurde, geriet sein Stellvertreter in Valladolid in höchste Gefahr: Die Truppen der Aufständischen besetzten die Stadt, und alle Regierungsmitglieder ergriffen die Flucht – bis auf Adrian. Wie gelähmt sah er sich als Gefangener der neuen Macht450 Gossart 1910, 136 f. (nach M. Danvila y Collado). 451 Ebd. 136–140 Resümees und Zitate aus etlichen dieser Briefe vom Juni/Juli 1520. 452 Ebd. 138 (6.7.1520). 453 Ebd.

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haber. Aus Furcht, mit ihnen zusammenarbeiten zu müssen, floh auch er in der Nacht des 15. Oktober.454 In der knappen Darstellung E. Gossarts kommt dieses Fluchtmotiv klar zum Ausdruck: Nicht aus Angst um das eigene Leben suchte Adrian diesen Ausweg, sondern aus Loyalität zu seinem König. Mochte er dessen Verhalten auch in seinen Briefen scharf kritisieren, so wollte er sich doch nicht zwingen lassen, den Aufständischen Handlangerdienste zu leisten. Eine ausführliche, lebendige Schilderung des dramatischen Ereignisses lieferte Paolo Giovio: Danach wurde Adrian bei einem ersten Versuch, die Stadt zu verlassen, von den Anführern der Junta zwar zurückgehalten, aber mit großem Respekt behandelt. Sie gaben ihm ihr Ehrenwort, daß ihm, den ganz Spanien wegen seiner Unschuld und Milde verehre, nichts geschehen werde. Sie sahen in ihm den Vertreter des Königs, dem sie die Treue halten wollten. Ihr Ziel war allein die Befreiung von der Knechtschaft, die ihnen von den habgierigen Beamten auferlegt worden war. Adrian, zunächst beruhigt, faßte dennoch erneut einen Entschluß zur Flucht: Hadriano dunque con animo riposato, poi che cosi bisognava fare, ubidi à nimici armati: nondimeno segretamente pose ordine con un certo prete, che rompendo il muro della città, il quale debile per la vecchiezza facilmente si poteva forare, fosse menato fuora di notte; percioche essendo poco differente a buoni privato et prigione, poi che i senatori s’erano fuggiti, giudicava che con poca sua riputatione non potesse lungo tempo dimorare appresso i rubelli, et quivi appresso era un castello di Riosecco ammirante, al quale desiderava di fuggire, et cosi poco da poi ingannandogli tutti da mezzanotte rompendo il muro si gittò fuora, et montato su cavalli apparecchiati a questo effecto dal prete si ritirò in luogo securo. Ora benche quei di Valliadolid havessero molto per male la sua fuga, gli mandarono però l’altro dì con bellißimo testimonio di riverenza et d’honore la famiglia sua inviolata con tutto il mobil suo.455

Kurz nachdem er den Revolutionären mit diesem für ihn so untypischen Bravourstückchen entkommen war, suchte Adrian erneut und mehrfach um Befreiung von der immer drückender werdenden Last der Verantwortung nach.456 Der König befahl ihm, auf seinem Posten auszuharren. Selbst der Papst schaltete sich ein: Im Auftrag Leos X. verfaßte Pietro Bembo ein Schreiben, das Adrian zum Aushalten im Amt aufforderte.457 Adrian hatte keine Wahl: Er blieb, demon454 Gossart 1910, 120. 455 Giovio 1551, 280 f. Petrus Martyr, der sich zu dem Zeitpunkt selbst in Valladolid aufhielt, erwähnt die Flucht des Kardinals in nur zwei Zeilen: Cardinalis tanta insolentia satur: Nocte fere solus ad Rivumsiccum Almirantis oppidum nundinale, supellectilibus et familia relictis, aufugit (epist. 693 [p. 617 W., 23.10.1520]). 456 Gossart 1910, 138 mit Verweis auf Briefe vom 1. November und 4. Dezember 1520. Ducke 1976, 22 Anm. 137 nennt zwei weitere Schreiben ähnlichen Inhalts vom 20. November und 23. Dezember. 457 Posner 1962, 24 zitiert in Übersetzung aus diesem Schreiben (ohne Quellenangabe).

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strierte aber seinen Widerstand auf eigene Weise, indem er sich weigerte, auf Kosten der Spanier zu leben. Seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestritt er mit der Unterstützung von Freunden. Schließlich verkaufte er sogar die wenigen Silbergegenstände aus seinem Besitz. Er wartete nur auf den Tag, an dem er Spanien würde verlassen können, um mit Gottes Hilfe einen Ort zu finden, wo ihm ein Leben in Ruhe vergönnt war. Von einer Heimkehr nach Utrecht war keine Rede mehr. Über ein Jahr noch mußte er die Last des Amtes tragen, hilflos angesichts der blutigen Ereignisse. Im Dezember 1520 wurden durch kaiserliches Edikt Proskriptionslisten mit den Namen von 249 Aufständischen veröffentlicht, die des Hochverrats beschuldigt wurden. Wenig später, zu Beginn des Jahres 1521, veränderten die Unruhen ihren Charakter: Der Adel, der sich bisher in seiner Gesamtheit passiv verhalten und seine eigenen Interessen verfolgt hatte, griff in die Auseinandersetzungen ein. Aus einer von verschiedenen Schichten getragenen Erhebung gegen Maßnahmen der Regierung wurde ein Ständekampf zwischen der Revolutionsarmee und der Adelsmacht. In der Nähe von Villalar verloren die Aufständischen die entscheidende Schlacht; ihre Anführer wurden gefangengenommen und sofort öffentlich hingerichtet. Damit war der Widerstand der Junta gebrochen. Führerlos geworden, löste sie sich auf; nach und nach ergaben sich die Städte. Gegen Ende des Jahres 1521 kehrte in Kastilien wieder Ordnung ein. Man rechnete es Adrian hoch an, daß durch seine Milde, seinen Gerechtigkeitssinn und seinen Respekt vor dem Gesetz Exzesse verhindert werden konnten.458 Für das folgende Jahr war mit der Rückkehr des Königs zu rechnen. Dann hoffte der Regent sein Amt endlich niederlegen zu können. Völlig unerwartet traf ihn am 24. Januar 1522 die Nachricht, daß das Kardinalskollegium in Rom ihn zum Nachfolger Leos X. auf der Kathedra Petri gewählt hatte.459 Erst als der Abgesandte der Kardinäle ihm am 9. Februar das offizielle Schreiben überbrachte, konnte er nicht mehr daran zweifeln, daß ihm das höchste und schwerste Amt der Christenheit aufgebürdet werden sollte und er vor die Entscheidung gestellt war, ob er die Wahl annehmen sollte. Schon auf die erste mündliche Nachricht hin hatte er am 2. Februar 1522 an Heinrich VIII. geschrieben, „daß er die Wahl weder begehrt noch gewünscht habe; seine Kräfte reichten nicht aus; er würde die Tiara ablehnen, wenn er nicht fürchte, Gott und die Kirche zu beleidigen.“460 Vermutlich auf denselben Tag ist ein Brief Adrians an Karl V. zu datieren, in dem es heißt: En vérité, je ne m’en réjouis pas, car cette charge excède considérablement 458 Gossart 1910, 136. 459 Leo X. (Giovanni de’ Medici) war am 1. Dezember 1521 im Alter von nur 46 Jahren plötzlich verstorben. 460 Pastor 1925, 33 (n. d. engl. Übers. des lat. Orig. bei Brewer 1867, 867 Nr. 2018).

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mes petites forces, et je suis dans un âge où l’on a plus besoin de jouir de tranquillité et de repos, que d’accepter un fardeau si pesant et presque insupportable.461 In den folgenden Sätzen wird die Sorge des Regenten um die weitere Entwicklung in Spanien deutlich, wenn er sich nach Rom begeben muß: Eine unausgesprochene Mahnung an den Kaiser, seine Rückkehr nicht hinauszuzögern. Wie anders hatte sein Vorgänger im Amt seine Wahl 1513 begrüßt: Der damals erst 38jährige Giovanni de’ Medici soll, so überliefert es eine Anekdote, zu seinem Bruder Giuliano gesagt haben: Godiamoci il papato, poichè Dio ci l’ha dato.462 Adrian setzte unmittelbar nach Erhalt des Schreibens seine Antwort an die Kardinäle auf, die im gleichen Tenor gehalten ist wie der oben zitierte Brief an den englischen König. Im Vertrauen auf Gott nahm er die Wahl an und versprach, so bald wie möglich nach Rom zu eilen.463 Hoffte er, trotz der ihm nur noch verbliebenen schwachen Kräfte, als römischer Oberhirte seine alten Anliegen, die Kirchenreform und den Kreuzzug gegen die Türken, durchsetzen zu können? Während der Jahre seiner alleinigen Regentschaft hatten diese Fragen, in denen er sich mit Ximénes einig gewesen war, völlig hinter den täglichen Herausforderungen seines politischen Amtes zurückstehen müssen. Mit der „Irrlehre“ Martin Luthers hatte er sich seit ihrem Aufkommen auseinandergesetzt und sie als Kardinal von Tortosa in einem Gutachten für die Löwener Universität als „grobe Ketzerei“ scharf verurteilt.464 Seine Auffassung bekräftigte er in einem Brief an Karl V., den er an seine kaiserliche Pflicht erinnerte, die Kirche zu schützen und zu verteidigen. Der Kaiser sollte dafür sorgen, daß Luther, ce mauvais et pestillent homme, nach Rom überstellt und der päpstlichen Gerichtsbarkeit übergeben werde.465 Während Leo X. die aufkommende neue Lehre lange als „Mönchsgezänk“ abgetan hatte, das fern von Rom, nördlich der Alpen, ausgetragen wurde, erkannte 461 Gachard 1859 gibt den Brief in einem französischen Auszug (XXIV) und in spanischer Fassung (26–30) unter dem Datum des 11. Februar 1522 wieder. Pastor 1925, 33 Anm. 2 erhebt berechtigte Zweifel an der Datierung und möchte stattdessen das Schreiben am 2. (II.) Februar abgefaßt wissen. Gachards Edition geht auf eine Hamburger Handschrift zurück, die auf einer im 17. Jahrhundert entstandenen Madrider Kopie des Originals fußt. Darin sind die Daten teils in römischen, teils in arabischen Ziffern angegeben, was zu späteren Irrtümern Anlaß gab. Ich schließe mich Pastors Auffassung an, denn zum einen besteht eine auffallende inhaltliche Übereinstimmung mit dem Brief an Heinrich VIII., zum anderen unterzeichnet Adrian noch als Kardinal von Tortosa. Demnach muß der Brief vor dem 9. Februar, der Annahme der Wahl, abgefaßt worden sein; ab dem 15. Februar tragen die bei Gachard wiedergegebenen Schreiben die Unterschrift A. Electus Pontifex Romanus. 462 Vielfach zitiert, u.a. bei Durant 1953, 481. 463 Pastor 1925, 34. 464 Ebd. 31. 465 Gachard 1859, 244–246 (Adrian an Karl V., 9.4.1521).

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Adrian die Gefahr für die Einheit der Kirche: Sich für ihren Erhalt einzusetzen, war eine weitere schwere Aufgabe, die ihm mit der Annahme der Wahl zufiel. Der Kaiser schickte Lope Hurtado de Mendoza, einen seiner engsten Berater, als Sondergesandten nach Spanien, einen Mann, der Adrian schon aus einer früheren Mission bekannt war. Die Instruktionen Karls für den Diplomaten466 lassen bereits erkennen, daß er sich von dem Pontifikat seines ehemaligen Erziehers einiges erwartete: Von der Hand Adrians hoffte er zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt zu werden, nachdem er bereits in seiner Wahlkapitulation und in der kaiserlichen Reichstagsproposition vom 27./28. Januar 1521 seinen Vorsatz kundgetan hatte, die Krone baldmöglichst zu erlangen.467 Das gemeinsame Vorgehen von Kaiser und Papst in politischen Angelegenheiten – so darf man les affaires publiques wohl hier verstehen – wie in der Verteidigung der einen, wahren Kirche entsprach nicht nur dem Wunsch und Willen des Kaisers. Nicht ohne Grund betont Karl dreimal in der Instruktion, daß Gott und der Heilige Geist die Entscheidung des Konklave herbeigeführt hätten. Karl V., von Gottes Gnaden Römischer Kaiser,468 und der durch göttliche Weisung gewählte Papst waren damit zu „Vollstreckern der Pläne Gottes“ bestimmt – wahrlich ein hoher Anspruch des 22jährigen, dessen Vorherrschaft 466 Gachard 1859, XIX f. gibt die Instruktionen auszugsweise wieder. Ich beschränke mich darauf, die wichtigsten Passagen zu zitieren: [...] vous lui témoignerez le grand plaisir que nous avons éprouvé de ce que la main de Dieu a guidé le choix de sa sainte personne pour pasteur et souverain pontife de son Église universelle; [...] nous ne pouvions désirer une élection plus digne [...] que celle qui s’est faite par la grâce du Saint-Esprit. Vous lui direz que notre contentement s’accroît [...] de la circonstance qu’après qu’il a plu à Dieu de nous constituer en la dignité impériale, il nous fait la faveur de vouloir que nous recevions la couronne de la main d’une personne [...] avec qui nous avons des relations si intimes, qui est de notre propre nation, qui nous a élevé et instruit dès notre enfance, en nous le donnant aujourd’hui pour vrai et bon père, et pour souverain et universel pasteur de toute la chrétienté. [...] Nous tenons pour certain que Dieu a fait de sa main cette heureuse élection, afin de nous montrer que sa volonté est d’établir les affaires publiques de la chrétienté, et d’unir ses forces pour l’amplification de notre foi catholique, pour que toutes les erreurs du monde soient punies et redressées, qu’elles se réduisent en la connaissance d’une seule et vraie Église et religion, [...] en prenant Sa Sainteté et nous pour les exécuteurs de ses desseins. 467 In der Wahlkapitulation, die am 3. Juli 1519 in Barcelona vollzogen und vor der Krönung in Aachen beschworen wurde, heißt es u.a.: Wir sollen und wellen [...] die Römisch kuniglich chron [...] emphahen [...] und nachvolgent, so wir die kuniglich chron, wie obsteet, emphangen han, uns zum besten befleissigen, die kaiserlich chron auch in zimlicher gelegner zeit zum schiersten zu erlangen [...]“ (QSKV. 58 Nr. 7, nach RTA I). In der Reichstagsproposition wiederholt der Kaiser seine Absichtserklärung (QSKV. 72 f. Nr. 13, nach RTA II). 468 Seit dem Reichstagsabschied von 1521 führte Karl V. einen breitgefächerten Herrschertitel, an dessen Anfang die höchste Würde steht. Die Vielzahl der Herrschaften nennt A. Kohler in QSKV. 8 f.

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über Europa mit dem Sieg über den französischen Rivalen bei der Kaiserwahl noch keineswegs gesichert war und der sich als Lenker eines Weltreiches noch zu beweisen hatte. Die Wahl Hadrians, die Karl dem Wirken des Heiligen Geistes zuschreibt,469 war in Wahrheit aus höchst irdischen, d.h. in erster Linie politischen Erwägungen erfolgt. Da das Konklave zur Bestimmung des Nachfolgers von Leo X. sich durch die Parteilichkeit der versammelten Kardinäle äußerst schwierig gestaltete und sich nach zehn Wahlgängen kein Ergebnis abzeichnete,470 mag der Vorschlag des Giulio de’ Medici, des späteren Clemens VII., einen Kardinal zur Wahl zu stellen, der nicht anwesend war, manchem Konklavisten wie ein Wink des Himmels erschienen sein.471 Don Juan Manuel, damals Gesandter Karls V. beim Heiligen Stuhl, soll Giulio de’ Medici auf den verdienten Kardinal von Tortosa aufmerksam gemacht haben.472 Für das 11. Skrutinium am 9. Januar benannte Medici den Kardinal von Tortosa als Kandidaten, einen ehrenwerten Mann von 63 Jahren, der allgemein für heilig gilt.473 Am gleichen Tag noch ergab sich in einem 12. Skrutinium die Zweidrittelmehrheit für Adrian, der sich die übrigen Kardinäle

469 Die 4. Lateransynode hatte 1215 als Wahlmodi für kirchliche Wahlen, insbesondere für die Papstwahl, das Skrutinium, den Kompromiß oder die Inspiration festgelegt; seit dem 14. Jh. setzte sich das Skrutinium durch. Vgl. Erwin Gatz, Art. Papstwahl, in: Theologische Realenzyklopädie 25 (1995) 696–699, hier 697. 470 Über die Zusammensetzung des Wahlkollegiums, in dem sich alte und junge Kardinäle, franzosenfreundliche und kaiserlich gesinnte gegenüberstanden, sowie über den Verlauf des Konklave ausführlich Pastor 1925, 3–25. Für seine Schilderung der römischen Verhältnisse nach dem Tode Leos X. und des Konklaves konnte Pastor u.a. auf die unedierten Briefe Baldassare Castigliones an den Markgrafen von Mantua im Archivio Gonzaga zurückgreifen. Vgl. daneben die Darstellung bei Giovio 1551, 289–297. 471 Castiglione schrieb am 7. Januar 1522: Jeden Morgen erwartet man die Herabkunft des Heiligen Geistes; mir jedoch scheint, daß er sich von Rom abgewandt hat [...] (zit. b. Pastor 1925, 16). Nach der Wahl Adrians notierte Cornelius de Fine, ein seit langem in Rom lebender Niederländer, in seinem Tagebuch (Paris, BNF): Gemäß dem Ratschlusse Gottes erwählten die bisher uneinigen Kardinäle gegen ihre eigentliche Absicht den nicht im Konklave befindlichen Adrian von Tortosa. [...] Der Heilige Geist hat diesen ausgezeichneten Mann erkoren. (Pastor 1925, 23). An den Großkanzler Gattinara schrieb Kardinal Cajetan nach der Wahl: Erat enim Spiritus Sanctus qui occulte operabatur (zit. n. Kat. Utrecht 1959, 194). Diese Beispiele ließen sich durch ähnliche Stimmen erweitern. Selbst bei Giovio (1551, 296 f.) heißt es, daß einige Unschlüssige sollevati nondimeno et quasi cacciati da deità presente für Adrian stimmten. 472 Nach einem Bericht des Juan Manuel vom 28. Dezember 1522, einen Tag nach Beginn des Konklave, wies der kaiserliche Botschafter vertraute Kardinäle schon sehr früh auf Adrian als möglichen Kandidaten hin. Bei diesem Hinweis soll es geblieben sein (Pastor 1925, 16). 473 Ebd. 18.

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anschlossen.474 Juan Manuel schrieb unmittelbar nach der Wahl: Gott sei gepriesen, denn für den Frieden und das Wachstum der Kirche und die Macht des Königs gab es keine geeignetere Persönlichkeit als diesen Papst, welcher ein heiliger Mann und Seiner Kaiserlichen Majestät Kreatur ist.475 Am 21. Januar, als Karl in Brüssel die Bestätigung erhielt, daß Maître Adrian Papst geworden war, gab er seinem Botschafter in London zu verstehen, er glaube über den Neugewählten verfügen zu können wie über jemand, der in seinem Hause groß geworden sei.476 Diese Worte des Kaisers, geäußert im Vollgefühl seiner jungen Macht, wirken in ihrer Arroganz geradezu abstoßend, wenn man in Betracht zieht, daß Karl unter der Obhut des großen Gelehrten aufgewachsen war, der ihm aus väterlicher Sorge und aus Pflichtgefühl seine eigene Lebensplanung geopfert hatte – abstoßender auch als die Zeilen aus der Feder des Juan Manuel, der Adrian als Seiner Kaiserlichen Majestät Kreatur bezeichnet. Das Wort von dem neuen Papst als der „Kreatur des Kaisers“ gelangte in Rom in Umlauf, kaum daß das Wahlergebnis bekannt wurde: Bei den Kardinälen, denen erst jetzt zum Bewußtsein kam, wen sie mit dem Unbekannten gewählt hatten, und vor allem bei den Römern. Noch am Tag der Wahl schrieb der Kardinal Gonzaga an die Markgräfin Isabella von Mantua: So bene egli non potrebbe essere più imperiale di quello che è, et quasi si può dire che lo imperatore sarà papa et il papa lo imperatore. Lo amore che è tra luno et laltro di loro fa una trinità et saranno più persone in uno solo.477

Gonzaga wertet hier nicht explizit, er stellt nur fest. Bei anderen, die ebenfalls um das enge Vertrauensverhältnis zwischen dem jungen Kaiser und dem neuen Papst wußten, löste das Wahlergebnis eher Furcht aus, die sich hinter herabsetzenden Kommentaren, beißendem Hohn und Spott nur unvollkommen verbarg. Franz I., der die Niederlage bei der Kaiserwahl kaum überwunden hatte, der Karl V. am 22. April 1521 den Krieg erklärt und am 19. November 1521 Mailand an die Kaiserlichen verloren hatte, sah in Adrian gleichfalls die „Kreatur des Kaisers“, den ehemaligen „Schullehrer“ und Untergebenen Karls, der als Souverän des Kirchenstaates dessen willfähriger Bundesgenosse sein würde.478 Damit wurde er zu 474 Unter den 39 anwesenden Kardinälen waren nur drei Nichtitaliener: die Spanier Carvajal und Vich sowie der Schweizer Schinner. Die übrigen neun ausländischen Kardinäle, unter ihnen Adrian, waren dem Konklave ferngeblieben (Pastor 1925, 12). 475 Ebd. 23. 476 Ebd. 24 (ohne Quellenangabe). Bei dem Diplomaten hat es sich vermutlich um Charles de Poupet, seigneur de La Chaulx, Karls langjährigen Vertrauten, gehandelt. 477 Ebd. 20 (Brief im Archivio Gonzaga zu Mantua). 478 Franz I. soll bereits im Herbst 1520, als Leo X. sich noch bester Gesundheit erfreute, eine Million Goldtaler angeboten haben, um bei einem möglichen nächsten Konklave einen frankophilen Papst durchzusetzen (Pastor 1925, 9). Auch protestierte der französische

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einem Machtfaktor, der die französischen Aussichten auf die Wiedergewinnung verlorenen Terrains in Italien gefährdete. Ihre Position bedroht sahen auch viele Kardinäle, die unter Leo X. reiche Privilegien genossen hatten, und die große Zahl der Mitglieder des Hofstaates, über den der Medici-Papst als wahrer Renaissancefürst geboten hatte. Das Volk von Rom aber war empört, daß die Wahl auf einen Ausländer, einen Barbaren, gefallen war, über den man zudem kaum etwas Näheres wußte. Als bekannt wurde, daß Hadrian VI. sich in Spanien aufhielt, gesellte sich den übrigen Vorurteilen noch das gegen „spanische“ Päpste hinzu: Der Pontifikat des letzten Borgia-Papstes, Alexanders VI., war in unseliger Erinnerung.479 Die Wut der Römer richtete sich gegen die Wähler ebenso wie gegen den Gewählten. Der sprechenden Statue des Pasquino wurden täglich neue Spottverse und Karikaturen angeheftet, deren Verfasser teils anonym blieben, während die meisten und auch die bösartigsten aus der Feder des Francesco Berni und der des berühmtberüchtigten Pietro Aretino stammten.480 Die Schmähkampagne fand großen Widerhall bei den Stadtrömern, von denen nicht wenige auch um ihre Existenz bangten: Nach allem, was man über die strenge Lebensweise des neuen Papstes hörte, war zu befürchten, daß der päpstliche Hof seine Rolle als Wirtschaftsfaktor einbüßen würde, die er unter der glänzenden, verschwenderischen Amtsführung Leos X. gespielt hatte.481 Härter noch traf es die Römer in ihrem Stolz, daß das Kardinalskollegium den schönen Vatikan einem Barbaren und der „deutschen Wut“ ausgeliefert hatte: Man sah darin einen Akt des Verrats und der Beleidigung Gesandte beim Heiligen Stuhl bereits zwei Tage nach dem Tode Leos X. gegen einen etwaigen Beginn des Konklaves vor dem Eintreffen der französischen Kardinäle (ebd., belegt durch einen Brief des Castiglione vom 3. Dezember 1521 im Archivio Gonzaga). 479 Dies erwähnt ausdrücklich Giovio 1551, 291. Das Geschlecht der Borja/Borgia ist seit dem 13. Jahrhundert in Játiva (Valencia) nachgewiesen. Aus ihm gingen zwei Päpste hervor: Alonso als Calixt III. (1455–58) und Rodrigo als Alexander VI. (1492–1503). 480 In einen größeren Zusammenhang stellt Jacob Burckhardt die Pasquinaten: Unter der Überschrift „Der moderne Spott und Witz“ (1960, 143–157) nennt er das Italien der Renaissance eine „Lästerschule, wie die Welt seitdem keine zweite mehr aufzuweisen gehabt hat“ (150) und Hadrian „das wahre Brandopfer römischen Hohns“ (152). 481 Beim Tode Leos X. hatte sich allerdings herausgestellt, daß dessen Hofhaltung und großzügiges Mäzenatentum alle finanziellen Reserven des Vatikans verschlungen hatten, so daß zur Deckung der nötigsten Ausgaben Kirchengerät und Kunstgegenstände, u.a. die Tapisserien nach den Kartons von Raffael, versetzt werden mußten. Angesichts dieser Situation blieb auch der verstorbene Papst von den Spöttern nicht verschont. Die entsprechende Pasquinata liegt mir nur in französischer Übersetzung (wohl von M. Houtzager) vor: Jamais encore un pontificat n’a autant ressemblé à la Trinité que celui de Léon X parce qu’il a dépensé l’argent de trois règnes, de celui de Jules II, qui à sa mort, laissa 600.000 ducats, du sien et de celui de son successeur, qui mourra certainement avant d’avoir remboursé les dettes du pape Léon X. (zit. nach Kat. Utrecht 1959, 193).

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des Vaterlandes. Zwei Auszüge aus Pasquinaten, in denen dies besonders deutlich ausgesprochen wird, mögen hier für viele stehen: O del sangue di Cristo traditore ladro collegio che ’l bel Vaticano alla tedesca rabbia hai posto in mano. come per doglia non ti scoppia il cuore? O mondo guasto, o secul pien d’errore, o fallace speranza, o pensier vano, caduto è a terra il gran nome romano e dato in preda al barbero furore [...] Io t’ho sofferta, Roma, già molti anni , ed ho passato in riso ogni tuo errore, sperando al fine che giugnessin l’ore onde ti ravvedessi de’ tuoi danni. Ma poi ch’ alzato alli sublimi scanni del Vaticano ha’ ’l barbaro pastore, e l’Italia spogliata del suo onore, forz’ è che gli occhi per dolor m’ appanni.482

Die Italiener, besonders die Römer, glaubten einen Anspruch darauf zu haben, daß der Papst aus ihren Reihen hervorging: seit Gregor XI. (Pierre Roger, 1370 bis 1378) hatte – abgesehen von einigen schismatischen Päpsten – kein Nichtitaliener die Tiara getragen; der letzte „Barbar“ auf der Kathedra Petri war der englische Papst Hadrian IV. (Nicolaus Breakspear, 1154–1159) gewesen. Außer den Stimmen derjenigen, deren Äußerungen von Haß und Hohn erfüllt waren, ließen sich jedoch auch andere vernehmen: Befriedigung und Freude bekundeten alle, denen eine Reform der Kirche am Herzen lag und die es begrüßten, daß mit Adrian von Utrecht endlich wieder ein gelehrter Theologe und geweihter Priester zum Kirchenoberhaupt bestimmt worden war, der dazu im Ruf großer Frömmigkeit und persönlicher Untadeligkeit stand. Wortführer dieser Faktion waren der Schweizer Kardinal Schinner und der Italiener Campeggio, die Adrian, während er sich noch in Spanien aufhielt, über die römischen Zustände informierten und ihm ein Programm zur Reform der Kirche übermittelten.483 Den Vorstellungen des kaiserlichen Großkanzlers kam die Wahl Adrians sehr entgegen: Mercurino Gattinara war überzeugt, „jetzt werde alles nach dem Wun-

482 Aretino p. 62 (Nr. VI). 63–64 (Nr. IX) Ferrero. Vgl. die Anm. des Hg. (62): „la contumelia plebea cede il passo ad un’enfatica rampogna: l’elezione del papa fiammingo è un tradimento operato ai danni della Chiesa e un delitto di lesa patria!“ 483 Ducke 1976, 34.

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sche Karls gehen, da Gottes Gnade denjenigen zum Papst gemacht habe, der wie kein anderer dem Kaiser durch Treue, Eifer und Rechtschaffenheit nahe stehe.“484 Adrian selbst ließ sich nach außen hin keine Reaktion auf die Aufgeregtheiten anmerken, die seine Wahl ausgelöst hatte. An seiner gewohnten Lebensweise änderte er nichts, und mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit erfüllte er seine Aufgaben. Zwar legte er noch am 9. Februar, als er das Bestätigungsschreiben erhalten hatte, die Regentschaft nieder, wickelte jedoch bis zu seiner Abreise nach Rom die noch offenen Angelegenheiten ab.485 Erst mit dem Rücktritt von der Statthalterschaft nahm er den Titel eines erwählten römischen Papstes an und unterzeichnete von dem Tage an als Adrianus Electus Pontifex Romanus. Entgegen dem seit Jahrhunderten gepflegten Brauch behielt er seinen eigenen Vornamen bei – Ausdruck der Bescheidenheit eines Mannes, der auch als Papst nicht mehr sein wollte als bisher, der damit aber ebenso zum Ausdruck brachte, daß er sich selbst und seinen Prinzipien treu zu bleiben gedachte.486 Aus den Briefen, die Adrian Mitte Februar 1522 an verschiedene Adressaten sandte, wird jedoch mehr als deutlich, wie sehr das hohe Amt, das er nicht gesucht hatte, ihn bedrückte und das er dennoch aus Gehorsam gegen Gott nicht abzulehnen wagte. Einem Freund in Utrecht schrieb er: 484 Pastor 1925, 24. Gattinara, der bereits kurz nach der Wahl Karls zum Römischen König, am 12. Juli 1519, in einem Memorandum an den König und Erwählten Römischen Kaiser seine Idealvorstellung von einer Monarchia Universalis entwickelt hatte, setzte für die Verwirklichung dieses großen Konzepts ein Zusammenwirken von Kaiser und Papst voraus, die gemeinsam zunächst einen universalen Frieden herbeiführen sollten. Das Memorandum ist auszugsweise und in dt. Übers. publiziert in QSKV. 59 f. 485 In einem Brief an Karl V. berichtet Lope Hurtado de Mendoza am 15. Februar 1522 (Gachard 1859, 31 f.): [Su Beatitud] no piensa ni abla en cosa suya, sino en las de Vuestra Alteza, con tanto cuydado y amor como quando era dean de Lovayna [...] En todas las cosas destos reynos entiende, como siendo governador [...]. 486 Die gelegentlich geäußerte Vermutung, daß Adrian, als Papst Hadrian VI., mit seiner Namenswahl an Hadrian I. anknüpfen wollte, halte ich für eine Interpretation interessierter Zeitgenossen oder späterer Historiker: Damit ließ sich eine Parallele zwischen dem fast freundschaftlichen Verhältnis Karls des Großen zu Hadrian I. und Adrians Verbundenheit mit Karl V. ziehen. Gerade durch die enge Beziehung zu seinem ehemaligen Zögling wollte sich Hadrian VI. in seinen Entscheidungen als Papst nicht beeinflussen lassen, wie seine Briefe und sein Handeln bezeugen. Wann die Namenswahl Adrians erstmals in der genannten Weise gedeutet wurde, konnte ich nicht feststellen. Unübersehbar scheint mir jedoch ihr innerer Zusammenhang mit den Prophezeiungen des Joachim von Fiore (ca. 1135–1202), die, über die Jahrhunderte tradiert und den Zeitläuften angepaßt, auf Karl V. als den „zweiten großen Karl“ zu deuten schienen, der von einem Papa angelicus gekrönt werden sollte. Die Prophezeiungen sollen selbst in den Debatten des Kurfürstenkollegiums zur Kaiserwahl 1519 eine erhebliche Rolle gespielt haben. S. dazu die herausragende Arbeit von Marjorie Reeves (1969), 359–374, bes. 362 f.

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[...] ich bin über diese Ehre nicht von Freude erfüllt und fürchte mich, eine so große Last auf mich zu nehmen. Ich möchte viel lieber statt der päpstlichen, kardinalizischen und bischöflichen Würde in meiner Utrechter Propstei Gott dienen. Aber dem Rufe des Herrn wage ich nicht Widerstand zu leisten und hoffe, daß er ergänzen werde, was mir fehlt, und hinlänglich starke Kraft gewähren wird, die Last zu tragen. Ich bitte Euch, betet für mich [...]487

In einem Schreiben an Karl V. heißt es sehr ähnlich: Quoique la susdite promotion me déplaise, et que je voulusse m’excuser d’une si grande charge, vu la faiblesse de mon jugement et mon peu de forces, puisque le sacré collége, avec tant de conformité, m’a élu, sans égard à l’insuffisance de mon mérite, je m’efforcerai de l’accepter, avec l’espoir que Dieu m’y aidera à faire ce qui conviendra à son saint service, au bien et à la paix de la chrétienté [...]488

Falls Adrian je ein weltfremder „Stubengelehrter“ gewesen war, so hatte er als Gesandter und Statthalter Karls in Spanien eine bedeutende politische Position ausfüllen müssen. Spät im Leben hatte er ein apprentissage politique durchlaufen, und die Erwägungen und die Machinationen des don Juan Manuel, die zu seiner Wahl beigetragen hatten, blieben ihm durchaus nicht verborgen. Nicht der Heilige Geist hatte ihn berufen, sondern das Kardinalskollegium, das sehr irdische Ziele verfolgte. Und doch konnte er in seiner tiefen Gläubigkeit nicht anders, als auch darin den Willen Gottes zu sehen, zu dessen Werkzeug die Kardinäle wie auch er selbst ausersehen waren. Wie aus seinem Briefwechsel mit Karl V. hervorgeht, betrachtete sich Adrian keineswegs als „Kreatur des Kaisers“, wenn ihm auch bewußt war, welche Rolle seine Herrschernähe bei der Wahl gespielt hatte. Am 7. März 1522 betont Karl nochmals die Freude, die er über die Rangerhöhung seines väterlichen Freundes empfindet und was er sich vom gemeinsamen Handeln von Kaiser und Papst verspricht: Wenn das Papsttum in Eurer Hand ist und das Reich in der meinen, scheint mir dies dazu da zu sein, um gemeinsam viele und große Dinge zu vollbringen durch ein einhelliges Handeln von uns beiden. Und die Liebe und der Gehorsam, die ich Euch entgegenbringe, sind nicht geringer als sie ein guter Sohn seinem Vater entgegenbringt.

Im gleichen Schreiben gesteht der junge Herrscher nicht ohne Stolz ein, daß er, wenn er auch nicht persönlich eingegriffen hat, doch der Anlaß für den Ausgang des Konklave gewesen ist:

487 An den Syndikus Florentius Oem van Wyngarden, 15.2.1522 (zit. n. Pastor 1925, 34). 488 Gachard 1859, XXV (Auszug aus einem Brief an Karl V. vom 15. Februar 1522, eine vollständige spanische Fassung ebd. 33–37).

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Seid aber versichert, daß ich der Anlaß Eurer Wahl gewesen bin und daß ich ebensoviel Genugtuung und Freude hatte, als wenn man mich mitsamt meinem Reich gewählt hätte.489

Aus dem Antwortschreiben des Papstes vom 3. Mai 1522 sprechen liebevolles Verständnis für den tres chier et tres amé fils und die gewohnte Anteilnahme an dessen Angelegenheiten, in die Adrian über viele Jahre tätig eingebunden gewesen war. Dessen vordringliches Anliegen ist es, wie der Brief beweist, zu Beginn seines Pontifikates Klarheit in seinem Verhältnis zu Karl zu schaffen, es neu zu definieren. Nur so kann er künftigen Mißverständnissen und falschen Erwartungen des jungen Herrschers vorbeugen. Dabei nimmt er eine säuberliche Trennung zwischen den Personen, d.h. dem très cher fils und dem vray bon père,490 und ihren Ämtern vor. Aus der Gegenüberstellung einiger Passagen ist dies eindeutig abzulesen: Ich bin durchaus im gewissen über die Freude, die Sie über meine Wahl zum Papst empfunden haben, und ich habe mich stets für versichert gehalten, daß Sie, wenn Sie aus reiner Zuneigung und ganz aus Liebe allein einen Papst zu erwählen gehabt hätten, sich mir zugewendet und mir Ihre Stimme gegeben hätten. Aber ich weiß, daß es weder Ihren Angelegenheiten noch der christlichen Staatengemeinschaft491 zuträglich gewesen wäre, daß Sie es ausdrücklich für mich gefordert hätten. Immerhin glaube ich, daß ich aus Bedachtnahme für E. Mt., wie das heilige Kardinalskollegium dem Don Juan Manuel gesagt hat, gewählt worden bin, indem die besagten Kardinäle wußten, daß ich E. Mt. willkommen bin und sie niemals gewagt hätten, eine Person zu erwählen, die Ihnen oder dem Kg. von Frankreich unangenehm gewesen wäre. Ich bin aber immerhin glücklich darüber, daß ich nicht über Ihre Bitten zu dieser Wahl gelangt bin, wegen der Lauterkeit und Offenheit, die göttliches und menschliches Recht in einer solchen Sache erfordern. Ich weiß Ihnen aber nichtsdestoweniger ebensoviel oder noch mehr Dank, als wenn Sie mich aufgrund Ihrer Möglichkeiten und durch Ihre Bitten durchgesetzt hätten. E. Mt. sollen auch keinerlei Zweifel hegen hinsichtlich der Beständigkeit und Fortdauer meiner Liebe zu Ihnen. Wenn es darauf ankam, habe ich stets Ihre Angelegenheiten den meinen vorgezogen, und so werde ich es auch von jetzt ab halten. Ich bitte Sie, daß Sie es sich niemals einfallen lassen mögen, Ihre Angelegenheiten stehen zu lassen492 oder aufzuschieben; die meinigen versehe und besorge ich allein.493

489 QSKV. 97–99 Nr. 22 (Originaltext: Lanz 1844, 58–60 Nr. 32). 490 So Karl in dem oben zitierten Brief vom 7. März 1522. 491 Diese Übersetzung von la republique christienne halte ich für wenig gelungen, weil zu modern gedacht. Die zeitgenössische Form respublica Christiana hätte Adrians Intention besser entsprochen, dem es um die gesamte, eine Christenheit ging. 492 Im Original delaissez, was besser mit „aufzugeben, preiszugeben“ zu übersetzen wäre. 493 Alle Zitate nach QSKV. 99 f. Nr. 23; der Originaltext bei Lanz 1844, 60–62 Nr. 33.

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Dieser Brief läßt bereits Grundsätzliches zu Adrians Amtsverständnis erkennen: Er will der Papst der gesamten respublica Christiana sein, nicht der des Kaisers; daraus ergibt sich auch sein späteres striktes Festhalten an der Neutralität, solange es die äußeren Verhältnisse in Italien zuließen.494 Eine Einmischung in seine Verantwortlichkeiten von Seiten des Kaisers weist er von vornherein zurück. Ebensowenig wird er in die Belange des Monarchen eingreifen. Damit ist ein Zusammengehen der weltlichen und der geistlichen Macht nicht ausgeschlossen, falls beide involviert sind; das wäre z. B. der Fall gewesen, wenn es Hadrian gelungen wäre, die christlichen Herrscher für einen Kreuzzug gegen die Türken zu gewinnen. Der bescheidene Dekan von Löwen begegnet seinem jungen Kaiser also nicht als dessen demütige, willfährige Kreatur, sondern „auf Augenhöhe“. Er wird Karl väterlich zugetan bleiben, aber nicht als ein nachgiebiger Vater, sondern als jemand, der Grenzen setzt, selbst auf die Gefahr hin, daß der Kaiser verärgert und anmaßend reagiert.495 Adrian ist nicht mehr der Statthalter und Befehlsempfänger des Monarchen, sondern der Stellvertreter Christi auf Erden: Den Geboten Gottes will und muß er folgen, allen Verstrickungen in weltliche Angelegenheiten zum Trotz. Als geistliches Oberhaupt der einen Kirche sieht er sich mehr als alle 494 Obwohl sich Karl V. seit April 1521 im Krieg mit Frankreich befand, setzte sich Adrian im März 1522 mit Franz I. in Verbindung, um ihn von der Notwendigkeit eines Friedens unter den christlichen Herrschern zu überzeugen, der ein gemeinsames Vorgehen gegen die Türken ermöglichen würde. Die Könige von England und von Portugal versuchte er ebenso zu gewinnen wie den Kaiser, den er zu einem Waffenstillstand aufforderte. In diesen Zusammenhang gehört der oben zitierte Brief Karls vom 7. März 1522, in dem er seinen ehemaligen Lehrer vor der Falschheit der Franzosen warnt. Adrians Antwort vom 3. Mai 1522 beweist, daß er sich hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Franzosen als Bündnispartner keinen Illusionen hingibt (zit. oben 286 Anm. 403). Im Juni 1522 schloß Karl ein Offensivbündnis mit Heinrich VIII. gegen Frankreich. Obwohl er den Papst immer wieder drängte, diesem Bündnis beizutreten, lehnte Hadrian dies strikt ab und wahrte seine Neutralität. Erst als auch der Fall von Rhodos (21. Dezember 1522) die christlichen Fürsten nicht zu gemeinsamem Handeln veranlaßte, erließ der Papst die Bulle Monet nos, in der er für die ganze Christenheit einen dreijährigen Waffenstillstand anordnete. Dies betrachte Franz I. als eine Drohung gegen Frankreich und kündigte offen einen Überfall auf Rom an. Durch diese Umstände gezwungen, trat Hadrian am 3. August 1523 der Liga aus Karl V., Heinrich VIII. und Ferdinand von Österreich bei, wobei er weiterhin in dem Glauben blieb, daß es sich um ein Defensivbündnis handelte. 495 Hadrians hartnäckige Weigerung, der Offensivliga Karls V. beizutreten, führte zu erheblichen Spannungen zwischen Kaiser und Papst, die durch die Intrigen des Juan Manuel verschärft wurden. Der Botschafter erwartete, daß der Papst die kaiserliche Politik unterstützte, zumal er nach Ansicht des Spaniers sein Amt dem Kaiser verdankte. Juan Manuel arbeitete offenbar auf einen Bruch zwischen Karl und Hadrian hin: Pastor 1925, 112 f. unter Berufung auf eine cifra Castigliones: Il S. Don Giovanni va tanto malcontento del papa quanto se possa dire ne dice assai male, pur mostra di credere chel Papa bisogni essere imperiale a suo dispetto ancorche lui dica voler esser neutrale.

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anderen Gläubigen dazu aufgerufen, ein Leben in der Nachfolge Christi zu führen, wie es ihm als Schüler im Bruderhaus aufgetragen worden ist. Diese Auffassung des neuen Papstes von seinem Amt, die sich so sehr von der seiner Vorgänger abhob, befremdete viele der Kaiserlichen, während Hadrians Gegner in ihrem Mißtrauen verharrten. Trotz dieser Skepsis wartete man in Rom voller Ungeduld auf die Ankunft des Papstes, da die Turbulenzen im Kirchenstaat und die Unruhen in der Stadt dringend einer ordnenden Hand bedurften. Der Bericht, den der Gesandte Studillo nach seiner Rückkehr aus Spanien über die Person des Pontifex abgegeben hatte, ließ allerdings schwerwiegende Veränderungen im Regiment der Kirche und des Patrimonium Petri erwarten – und befürchten.496 Die Abreise Hadrians nach Rom verzögerte sich bis zum 5. August 1522. Karl war kurz zuvor von seiner Krönungsreise zurückgekehrt und am 16. Juli in Santander an Land gegangen. Ganz offensichtlich wich der Papst einer Begegnung mit dem Kaiser aus, um jeden Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden und nicht von Karl mit unerfüllbaren politischen Forderungen bedrängt zu werden. Hadrian sollte seinen très cher fils nicht wiedersehen. Nach beschwerlicher Seereise erreichte der Papst am 28. August Ostia.497 Wie auf den Zwischenstationen hielt es ihn dort nicht; alle Empfangszeremonien versuchte er auf das Nötigste zu beschränken. Es drängte ihn nach Rom. Am folgenden Tag ließ er sich in S. Paolo fuori le Mura die Kardinäle vorstellen und billigte das 7-Punkte-Programm, in dem Carvajal, der Kardinalbischof von Ostia, die dringlichsten Aufgaben zusammengefaßt hatte, die Hadrian angehen sollte. Sie entsprachen im Wesentlichen den Hauptanliegen des neuen Papstes: äußere und innere Reform der Kirche sowie ein Waffenstillstand unter den Fürsten, um gemeinsam der Türkengefahr entgegenzutreten. Ferner legte ihm Carvajal die Fortsetzung der unterbrochenen Arbeiten an Neu-Sankt Peter ans Herz.498 Obwohl in Rom die Pest wütete und der Petersdom eine nur in Teilen benutzbare Baustelle war, bestand Hadrian darauf, dort gekrönt zu werden. Am 31. August 1522 fand 496 Vgl. oben 272. Der dort zitierte erste Abschnitt des Berichtes bezieht sich vor allem auf die äußere Erscheinung des neuen Papstes. Im zweiten Teil heißt es über Hadrians Gewohnheiten und Ansichten: [...] er ziehe sich abends zeitig zurück, erhebe sich mit dem Morgengrauen, zelebriere täglich, sei unermüdlich in der Arbeit. [...] Sein sehnlichster Wunsch gehe dahin, die christlichen Fürsten möchten sich zum Kampfe gegen die Türken einigen; in religiösen Dingen sei er sehr streng; niemand werde er mehr als ein kirchliches Amt verleihen, denn er verkünde als Grundsatz, er wolle die Benefizien mit Priestern und nicht die Priester mit Benefizien versehen. (Pastor 1925, 37 m. Anm. 4 zum regen Interesse, das der Bericht erweckte). 497 Das Angebot Franz I., den bequemeren Landweg durch Frankreich zu nehmen, hatte er abgelehnt – auch dies ein Zeichen seines Bemühens um strikte Neutralität. 498 Julius II. hatte 1505 Bramante mit dem Neubau beauftragt. Nach dem Tode des ersten Baumeisters leitete Raffael, berufen von Leo X., von 1515 bis zu seinem frühen Tod 1520 die Arbeiten an St. Peter.

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das Zeremoniell nach dem üblichen Ordo statt. Schon der Pest wegen fielen die Feierlichkeiten bescheidener aus als üblich. Unmittelbar danach begann der Papst, seine Reformvorhaben in die Tat umzusetzen.499 Einer „Reinigung des Tempels“ vergleichbar waren seine Maßnahmen zur Beseitigung der äußeren Mißstände, die in Rom und selbst in der Kurie um sich gegriffen hatten. Bereits in seinem ersten Edikt wandte er sich gegen den verweltlichten Lebensstil der Kardinäle, dem er mit Androhung schwerer Strafen zu begegnen dachte.500 Hadrian selbst behielt seine streng geregelte, bescheidene Lebensweise bei: Ihm genügten zwei niederländische Diener und eine alte Haushälterin, die für seine täglichen Bedürfnisse sorgten. Von den zahlreichen Bediensteten, die sein Vorgänger ihm hinterlassen hatte, behielt er nur ein Dutzend, und auch die nur, um dem Ansehen des päpstlichen Hofes nicht zu schaden. Mit höchster Verwunderung registrierten diplomatische Beobachter, daß der Papst die kanonischen Stunden des Gebets genau einhielt, täglich die Messe zelebrierte und auch der seines Kaplans beiwohnte. Befremdet war man von seiner Vorliebe für ein zurückgezogenes Leben, das ganz den Studien gewidmet war: Am liebsten hätte er dies allerdings in einem einfachen Haus mit Garten statt in der Pracht des Vatikanischen Palastes getan.501 Wer Hadrian VI. in seinen täglichen Audienzen erlebte, war beeindruckt von der Würde, dem Gerechtigkeitssinn und der Güte des Papstes, der es bedauerte, oft nicht helfen zu können, weil ihm die Mittel fehlten. Die leeren Kassen und hohen Schulden, drückende Erblast Leos X., waren nur ein Grund dafür, daß Hadrian VI. die zahlreichen Künstler, Poeten und Humanisten, die Leo X. als Mäzen großzügig gefördert hatte, nicht länger unterstützte und ihrem sorglosen Dasein ein Ende setzte. Der neue Pontifex konnte und wollte weder mit weltlichen Fürsten in Wettstreit um die glänzendste Hofhaltung treten noch den Vatikanischen Palast zum kulturellen Zentrum Europas machen: Dieser Papst war nicht angetreten, „das Papsttum zu genießen“, sondern es als Last „auf seinen schwachen Schultern zu tragen“ und zu ertragen. Seine Wahl faßte er als Berufung zum „obersten Hirtenamt“ auf; er wollte der Kirche „ihre frühere 499 Als Stadtherr von Rom nahm er sich auch sogleich der drückendsten Sorgen der Kapitale an: Tutto l’altro giorno diede udienza a magistrati della città, per intendere minutamente ogni cosa, et per soccorrere la republica, la quale era in ruina; percioche era la peste in Roma, la quale haveva molto travagliato la plebe, et la camera non pure era senza danari, ma Papa Leone prima, et poi i tre cardinali havevano impegnato le gioie publiche, et gli ornamenti delle cose sacre, per dar soccorso alle cose travagliate (Giovio 1551, 310). 500 Pastor 1925, 49 Anm. 1. Vgl. Ducke 1976, 37 zur ersten Konsistorialrede Hadrians vom 1. September 1522, in der er „den Luxus, die weltliche Gesinnung und die Ungerechtigkeit an der Kurie mit scharfen Worten geißelte und die Kardinäle aufforderte, mit gutem Beispiel bei der Reform voranzugehen.“ 501 Pastor 1925, 54.

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Schönheit wiedergeben“ und mit der Reinigung von allen Übeln am römischen Hof beginnen.502 Ein ganz wesentlicher zusätzlicher Grund für die Entlassung der Künstlerschar aus päpstlichen Diensten waren die völlige Verständnislosigkeit und Ablehnung, mit denen der schlichte, fromme Niederländer der römischen Antikenbegeisterung und der daraus erwachsenen Kunst der Renaissance gegenüberstand. In den antiken Statuen, die seit Beginn des 16. Jahrhunderts aufgefunden und schon unter Julius II. im Belvedere-Hof des Vatikanischen Palastes aufgestellt worden waren, sah der neue Papst nur „heidnische Bildwerke“, wie er immer wieder zitiert wird.503 Allerdings war Hadrian kein „Bilderstürmer“: Zum Nachfolger Raffaels als Antiken-Konservator bestimmte er seinen Hofmaler, den Utrechter Jan van Scorel. Zum Jahrestag seiner Krönung löste er die verpfändeten kostbaren Tapisserien nach den Entwürfen Raffaels aus und ließ sie an ihren Platz in der Sixtinischen Kapelle zurückkehren. Es ist zu vermuten, daß weniger der künstlerische (und der materielle!) Wert der Wandteppiche Hadrian zu diesem Schritt bewogen als vielmehr deren Bildprogramm: Die zehn großformatigen Darstellungen zeigen Szenen aus der Apostelgeschichte, aus dem missionarischen Wirken der Apostelfürsten Petrus und Paulus, als deren Nachfolger sich Hadrian verstand in seinem Einsatz für die Bekämpfung des Heidentums innerhalb und außerhalb der respublica Christiana. Vielleicht haben die Tapisserien, da sie in Flandern gewebt worden waren, einen zusätzlichen emotionalen Wert für den niederländischen Papst gehabt.504 Mit diesen wenigen Maßnahmen konnte er aber die aufgeregten Gemüter der Römer und der brotlos gewordenen Künstler und Literaten nicht besänftigen: Sie sahen in ihm den kulturfeindlichen Barbaren, durch dessen avaritia505 sie ihrer Einkünfte und Rom seines Glanzes beraubt wurde. Mochten auch etliche in Rom Hadrians Reformanliegen – mit allen Konsequenzen – unterstützen und wie Johannes Weidemann, der Dekan des Stiftskapitels der Marienkirche zu Erfurt, der damals in Rom lebte, in dem neuen Papst den verheißenen Pastor angelicus sehen,506 so wurden ihre Stimmen durch die schrillen, bissigen, haßerfüllten Pasquinaten des Pietro Aretino und seiner Gesinnungsgenossen übertönt. Selbst

502 Ducke 1976, 38 f. (nach S. Seifert). 503 Zitiert u.a. bei Pastor 1925, 52, der (52–55) auf das Verhältnis des Niederländers zur Kunst der Renaissance und zu der italienischen Spielart des Humanismus näher eingeht . 504 Zur Entstehung und Rezeption der Tapisserien sowie zu ihrer wechselvollen Geschichte s. Weddigen 1999. 505 Hatte man Chièvres in Spanien der avaritia, der persönlichen Habgier, beschuldigt, so unterstellte man Hadrian in Rom unter Verwendung desselben Wortes Geiz, obwohl er nur dem dringenden Gebot der Sparsamkeit folgte. 506 UB Gießen, Hs. 296, fol. 220v–224r, zit. bei Ducke 1976, 35.

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nach seinem Tode am 14. September 1523, nach nur dreizehnmonatiger Amtsführung in Rom, blieb Hadrian von Schmähungen nicht verschont: Perfide come il mare, Adriano, Ipocrite, crudel, invido, avaro, Odioso a ciascun, a nessun caro, Incantator, mago, idolatra, vano, Rustico, inesorabil, inumano, Falsario, traditor, ladro, beccaro, Solitario, bestial e fattuchiaro.507

Perfide aber war nicht Hadrian, sondern die römischen Lästerer, die mit dieser Reihung völlig haltloser Invektiven ihrer Wut über einen Mann Ausdruck verliehen, der ihnen zutiefst wesensfremd war und sich auch zu Lebzeiten durch derartige Angriffe in seinen Prinzipien nicht hatte erschüttern lassen. Ersetzte man jede der Beschimpfungen in diesem Spottgedicht durch ihr Gegenteil, so käme die wahre Persönlichkeit dieses Papstes zum Vorschein. Auch in Spanien war Hadrian ein Fremder geblieben, dem jedoch selbst seine politischen Gegner Achtung entgegenbrachten, denn seine Menschlichkeit und seine Frömmigkeit entsprachen so ganz der dortigen Vorstellung eines vorbildlichen Geistlichen. Den Römern indes blieb es vorbehalten, ein Zerrbild dieses Papstes zu entwerfen, das ihn der Lächerlichkeit preisgab, das sein Andenken und seine Verdienste um die Erneuerung der Kirche lange überschattete. Seine erste vorläufige Ruhestätte fand Hadrian VI. in der Andreaskapelle von Alt-St.Peter; die Grabinschrift lautete: Hadrianvs sextvs hic sitvs est qvi nihil sibi infelicivs in vita qvam qvod imperaret dvxit. Am 11. August 1533 wurden die sterblichen Überreste des deutsch-niederländischen Papstes in die deutsche Nationalkirche Santa Maria dell’Anima überführt: Der Vertraute Hadrians und sein Nachfolger als Kardinal von Tortosa, der Niederländer Wilhelm van Enckenvort, hatte dort ein Monumentalgrab errichten lassen; auf dem Sockel des Sarkophags stehen die Worte: proh dolor qvantvm refert in qvae tempora vel optimi cvivsqve virtvs incidat.508 Beide Grabinschriften zusammen betrachtet drücken das aus, was das „Martyrium“ Adrians von Utrecht ausmachte: Den Grundsätzen der Devotio moderna bis zuletzt verpflichtet, mußte er gegen seinen Willen in „leidendem Gehorsam“ das höchste Amt der Christenheit ausüben, verzweifelt kämpfend um die Durchsetzung dessen, was er als seinen gottgegebenen Auftrag betrachtete, wohl wissend, daß seine Kräfte und die ihm verbleibende Zeit nicht ausreichen würden, seine Vorhaben zu verwirklichen. 507 Zit. nach Houtzager 1959, 229; dort auch (228) ein Hinweis auf die Hs. Magl. cl. XXXVII, 205 der Biblioteca Nazionale in Florenz, die 50 Pasquinaten der Jahre 1521–1523 enthält. 508 Beide Grabinschriften zitiert nach Post 1959, 47.

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Das vertraute Verhältnis zu Karl V. war distanzierter geworden, vor allem von seiten des Kaisers, nachdem dieser hatte erkennen müssen, daß Hadrian seinem Gewissen stärker verpflichtet war als den Vorstellungen der weltlichen Macht. Wie Chièvres hatte Hadrian seinen Schüler auf seine Weise weit über die Jugendjahre hinaus geleitet und in höherem Maße als der Premier Chambellan den Interessen des jungen Herrschers gedient. Karl V. widmete dem Papst, den er un vray bon père genannt hatte, wie es seiner Gewohnheit entsprach, in seinen Commentaires kein persönliches Wort.509

509 Dreimal wird Hadrians Name in Sachzusammenhängen in den Erinnerungen des Kaisers (Kervyn van Lettenhove 1862) genannt. 1520: Se. Majestät stieg im Hafen der Stadt Coruña zu Schiff, den Kardinal von Tortosa als Statthalter zurücklassend (8); 1522: Im Augenblick ihrer [Majestät] Ankunft schiffte der nach dem Tode Leo’s (X.) erwählte Papst Hadrian (VI.) sich in Barcelona nach Rom ein (12); 1526: Se. Majestät erhielt in Granada einen Fehdebrief, in Folge eines zwischen dem nach dem Tode des Pabstes Hadrian erwählten Papst Clemens, den Königen von Frankreich und England und Venedig abgeschlossenen Bündnisses. (15).

III. Der Prinz in der Sicht seiner Zeitgenossen Ein erheblicher Anteil der Informationen, die für die vorhergehenden Kapitel unter verschiedenen Aspekten ausgewertet worden sind, entstammt Materialien, die ursprünglich keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt waren: Herausragende Beispiele für diese Art der Quellen sind die Korrespondenz Maximilians mit seiner Tochter ebenso wie der Briefwechsel Karls V. mit Hadrian VI. und das an Kardinal Ximénes gerichtete Memorandum des Manrique de Lara. Daneben muß es zahlreiche Mitteilungen von Angehörigen des burgundischen wie des spanischen Hofes gegeben haben, die schließlich ihren Weg zu den Chronisten fanden. Viele Äußerungen in den Briefen des Petrus Martyr setzen z.B. voraus, daß er mindestens einen Vertrauten in den Niederlanden, vermutlich direkt bei Hofe, hatte, der ihn laufend über Interna informierte.1 So repräsentiert dieser Typ von Quellen in erster Linie die Sicht der Eingeweihten, die sich nur dem engsten Umfeld Karls mitteilte. Unsere Untersuchung zur Jugend Karls V. wäre aber unvollständig ohne jene Zeugnisse, die darauf angelegt waren, den Zeitgenossen eine Vorstellung von dem kindlichen und dem jugendlichen Prinzen zu vermitteln. Hier sind drei Gruppen von Quellen zu nennen, die zunächst für ein breiteres, wenn auch z.T. elitäres Publikum bestimmt waren, später aber aufgrund dieser größeren Verbreitung in vielfältiger Weise in die umfangreiche Literatur zu Karl V. eingegangen sind und nicht unerheblich dazu beigetragen haben, ein bestimmtes „Image“ des jungen Karl zu kreieren, das bis in unsere Tage in geschichtlich interessierten Kreisen außerhalb der eigentlichen Historikerzunft vorherrscht. Es sind dies (1.) die Porträts des Prinzen, die, vorwiegend von Margarete von Österreich in Auftrag gegeben, den zukünftigen Herrscher an anderen Höfen im Bilde vorstellten,2 (2.) die Berichte auswärtiger Diplomaten an ihre Herrscher, in denen die Perspektive Außenstehender zum Ausdruck kommt, die den Prinzen aus relativer Nähe sahen und meistens über einen längeren Zeitraum, oft über mehrere Jahre, seine Entwicklung verfolgen konnten. Auch diesem privilegierten Personenkreis wurde allerdings nur sehr selten ein flüchtiger Einblick in privatere 1 2

Auf diesen Informanten, den ich glaube identifiziert zu haben, gehe ich unten (338–342) in einem Exkurs ein. Auf die übliche Praxis, von gelungenen Bildnissen Kopien anfertigen zu lassen, die anderen Fürsten als Geschenke übersandt wurden, ist an früherer Stelle bereits eingegangen worden. Für die Nachwelt sollte sich dieser Brauch von großem Wert erweisen: Während etliche der Originale aus burgundischem Besitz im Laufe der Jahrhunderte verlorengingen, blieben die Kopien in den Sammlungen anderer Herrscher vielfach erhalten. In Mecheln selbst ist von den reichen Beständen der Porträtgalerie Margaretes von Österreich nichts verblieben.

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Bereiche der fürstlichen Familie gewährt. Daneben stehen (3.) die Beschreibungen offizieller Anlässe, in deren Mittelpunkt der junge Fürst stand. Diese Quellen geben in manchen Fällen die Eindrücke anonym gebliebener Beobachter wieder, denn bei derartigen Gelegenheiten war die Zahl der Augenzeugen naturgemäß groß und nicht auf eine Elite beschränkt.3

1. Die Porträts Wohl kaum ein Herrscher ist zu seinen Lebzeiten so oft dargestellt worden wie Karl V., häufiger selbst als sein Großvater Maximilian I., der sich über Jahrzehnte der Pflege seiner memoria widmete.4 Bildnisse des Enkels sind in allen damals bekannten Techniken und den unterschiedlichsten Formaten geschaffen worden: Er tritt dem Betrachter entgegen in Miniaturen in Handschriften, in Porträts auf Holztafeln und Leinwand, auf Fresken und den großen Holzschnittfolgen zu seiner Krönung in Bologna, auf Tapisserien, in Terrakotta-, Bronze- und Silberbüsten und erzenen Statuen, in Glasmalereien und Kupferstichen, auf Kameen und Münzen, schließlich in gedruckten Alben. Die künstlerischen Möglichkeiten einer ganzen Epoche lassen sich auch für den Laien an den Darstellungen dieser einen Persönlichkeit erkennen; die Entwicklung, die sich während der Lebensspanne Karls V. an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit in den Medien vollzog, wird am deutlichsten, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die kostbaren Unikate der Handschriften mit den Miniaturen zur Emanzipation des jungen Herzogs von Burgund 1515 den Anfang der Herrschaft Karls V. noch in ganz mittelalterlicher Weise festhalten, während 1559, ein Jahr nach seinem Tode, bereits bebilderte Alben in den Ländern des Kaisers kursierten, die im Druck die Gedenkprozession vorführen, die Philipp II. für seinen verstorbenen Vater in Brüssel veranstalten ließ, wobei die Bildfolgen in den Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Niederländisch erläutert werden.5 3 4

5

Die Tätigkeit von Margarete beauftragter Chronisten setzt in gewissem Maß 1515 bei den Feierlichkeiten zur Emanzipation Karls ein, sie erreicht 1520 einen ersten Höhepunkt bei der Krönung des jungen Römischen Königs in Aachen. Auf das Fortleben des Kaisers in der Kunst sei hier nur kurz verwiesen: Die Nachfahren Karls V. auf dem spanischen Thron ließen die Erinnerung an den Kaiser und seine Taten in zahlreichen Gemälden wachhalten. Im 19. Jahrhundert fanden belgische und spanische Historienmaler in Karl V. die Gestalt, die für den Anfang bzw. einen der Höhepunkte der nationalen Geschichte steht, und schufen großformatige, oft düster-romantisierende Gemälde zu Szenen aus dem Leben des Herrschers. Burke 2000, 442 m. d. Abb. „Trauerzug Karls V. in den Straßen von Brüssel, 29. Dezember 1558“ aus einem dieser Alben nach einem Exemplar des Werkes von Hieronymus Cock aus dem Besitz der Biblioteca Nacional in Madrid. Vgl. ebd. 452: „1559 veröffent-

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Der Prinz in der Sicht seiner Zeitgenossen

Aufgrund der Fülle und Vielfalt der Darstellungen ist es bisher nicht gelungen, eine Gesamtikonographie Karls V. zu erstellen.6 Selbst ausgewiesene Kenner der Materie sehen sich nur imstande, einen generellen Überblick zu geben oder Teilaspekte zu behandeln. So mußte G. Glück einräumen: „Wir können nicht daran denken, im Rahmen dieser kleinen Beiträge zur Ikonographie des Hauses Habsburg die Bildnisse Karls V. in einiger Vollständigkeit aufzuzählen [...]“ und sich sogar bei der Erläuterung der Jugendbildnisse auf eine Auswahl beschränken, denn: „Bald [nach 1513] werden die Bildnisse des angehenden Herrschers so häufig, daß ihre Besprechung wohl nur Gegenstand einer ausführlichen Monographie bilden könnte.“7 Einem Teilaspekt ist auch der folgende Abschnitt gewidmet, in dem an einigen ausgewählten Porträts aus der Zeit zwischen 1502 und etwa 1515 der Wandel im Erscheinungsbild des Prinzen aufgezeigt werden soll. Der Wandel in der Auffassung der Künstler kann dabei allenfalls anklingen. Das früheste Bild Karls ist Teil des schon mehrfach erwähnten Triptychons,8 das den zweieinhalbjährigen Prinzen zwischen seinen „burgundischen Schwestern“ Eleonore und Isabella zeigt (Abb. 6). Der flämische Maler, vermutlich der sog. Meister der Georgsgilde, stellt dem Betrachter drei ernsthaft blickende Kinder vor, wobei den beiden älteren, der vierjährigen Eleonore und ihrem Bruder, schon durch ihre reichen Gewänder, dem Knaben zusätzlich durch die breite goldene Kette mit dem Vlies-Orden, eine Haltung und Würde verliehen werden, die weit über ihre Jahre hinausgehen: In dieser Hinsicht illustriert das Gemälde den Topos von den „kleinen Erwachsenen“, als die Kinder über Jahrhunderte gesehen und dargestellt wurden. Karl und seinen Schwestern fehlte es nicht an Gelegenheiten zu fröhlichem Spiel, zu kindlichem Vergnügen und Unterhaltung: wo es aber um repräsentative Momente ging, galt es, die Konventionen zu wahren.9 So

6 7 8 9

lichte das [!] Antwerpener Offizin Christophe Plantins kunstvolle Stiche des Brüsseler Trauerzugs, die Erläuterungen in mehreren Sprachen enthielten. Die Stiche hatten Jan und Lucas Deutecum nach Entwürfen von Hieronymus Cock ausgeführt. Auftraggeber dieser Unternehmung war Philipps II. Herold Pierre de Vernois, dem Margarete von Parma [die damalige Statthalterin in den Niederlanden; A.S.] die Ausgaben erstattete.“ Die Erfassung der Objekte wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sich offenbar eine nicht geringe Zahl immer noch in Privatbesitz befindet und Kunsthistoriker nur in Ausnahmefällen davon Kenntnis erlangen. Glück 1937, 165 f. Vgl. oben 81 Anm. 204; 122 f. Das oft gezeigte Tafelbild (heute im Kunsthistorischen Museum Wien) ist großformatig und farbig wiedergegeben bei Soly (Hg.) 2000, 28/29. Damit entspricht bereits dieses Kinderbild den Anforderungen, wie sie Erasmus von Rotterdam 1515 in seiner Karl gewidmeten Institutio principis Christiani an ein Herrscherporträt stellte: Es mag jemandem als eine unwichtige Kleinigkeit erscheinen, aber es ist nicht unwichtig, daß die Künstler den Fürsten als ernsten Menschen und mit der einem weisen und würdevollen Fürsten geziemenden Kleidung darstellen (zit. n. Checa Cremades 2000b, 36).

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darf im hier besprochenen Bild allein die Jüngste, die 1¼jährige Isabella, in der zeitgenössischen Kleinkindertracht mit Häubchen und Latz erscheinen und als Zugeständnis an ihr zartes Alter ein Püppchen in Händen halten. Der Maler hat den Geschwistern durchaus individuelle Züge verliehen: Es sind gut gepflegte, gesunde Kinder mit weichen, runden Gesichtern, deren Anblick Jean Molinet, den Historiographen und Hofpoeten altburgundischer Schule, zu wahrhaft blumigen Lobpreisungen inspirierte und die zu schönsten Hoffnungen berechtigten: Ce sont trois nobles racinettes, trois honorables plantes, et trois précieuses florettes, de qui le fruit, s’il plaict à dieu, nous donnera paix, santé et vie.10 In Eleonores stiller Lieblichkeit erkennt man die „große Schwester“, die den Bruder bemutterte; Isabella ist ein pausbäckiges, rosiges Baby. Karl, ein wenig blasser zwar als die Schwestern, weist noch keine Anzeichen der physiognomischen Anomalien auf, die den Heranwachsenden entstellen und physisch wie psychisch belasten sollten. Keinesfalls möchte ich G. Glück zustimmen, der in diesem Porträt „ein zartes Knäblein mit fast kränklichen Zügen“ zu erkennen meint.11 Das Auffälligste an diesem Kindergesicht sind die Augen: Sie wirken beinahe schwarz, die Lider sind schwer, und so verleiht die Augenpartie dem Prinzen einen müden, frühreif-schwermütigen Ausdruck, der ihn weit älter erscheinen läßt als seine zweieinhalb Jahre. Obwohl man sich hüten sollte, aus der Kenntnis der Wesenszüge, die bei dem Heranwachsenden hervorzutreten begannen, etwas in dieses frühe Bildnis Karls hineinzudeuten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß aus den Zügen des Kindes mehr als der übliche Ernst spricht, den alle in dieser Epoche Porträtierten, gleich welchen Alters, zur Schau tragen:12 Das Bild als Gegenstand der Repräsentation verlangte außer der entsprechenden Kleidung und Haltung vor allem Würde des Gesichtsausdrucks – auch von Kindern. Selbst die Andeutung eines Lächelns scheint als unziemlich gegolten zu haben.13 10 Zit. bei Walther 1911, 202. 11 Glück 1937, 165. 12 Zum Vergleich können zahlreiche zeitgenössische Porträts, vor allem Kinderbildnisse, dienen, darunter jeweils ein Brustbild des 10–12jährigen „spanischen Bruders“ Ferdinand (Heinz/Schütz 1976, 65 u. Abb. 39) sowie des ebenfalls etwa 10–12jährigen Ludwig von Ungarn (ebd. 210 u. Abb. 40). Obwohl beide Bilder aus einer anderen künstlerischen Tradition hervorgegangen sind – sie wurden um etwa 1515 im süddeutschen oder österreichischen Raum von Künstlern der Donauschule geschaffen – entspricht der Habitus der beiden Knaben dem der burgundischen Kinder des Triptychons. 13 In den Literaturwissenschaften hat sich in letzter Zeit eine Richtung entwickelt, die sich selbst als „Lachforschung“ bezeichnet und insbesondere Werke der Renaissance daraufhin untersucht, welche Bedeutung das Lachen und Lächeln darin einnehmen, um diese Formen menschlichen Ausdrucks dann kultur- und literaturtheoretisch zu interpretieren. Vgl. z.B. Elisabeth Arend, Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios „Decameron“, Frankfurt 2004 sowie die Rez. Franziska Meiers in: Italienisch 55 (2006) 134–136. Einen

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Die Darstellung Karls und seiner Schwestern entsprach somit völlig der Konvention. Aber während man sich für die beiden Mädchen leicht vorstellen kann, daß ihre Gesichter sich nach dem anstrengenden Stillhalten für den Maler in einem Lächeln entspannten, wird Karl vermutlich keine Miene verzogen haben. Sein ernster Gesichtsausdruck war keine Pose. Wohl ebenfalls vom Meister der Georgsgilde wurde etwa 1508 das Diptychon geschaffen, das die sechs Kinder Philipps des Schönen im Bilde vereint (Abb. 3):14 Auf der linken Tafel sind seine beiden Söhne, auf der rechten die vier Töchter dargestellt, der Größe nach aufgereiht von Eleonore, der Ältesten, am inneren Rand des Bildes bis zu Katharina, der Jüngsten, am äußeren. Diese Anordnung bewirkt, daß Karl, der seine Geschwister beträchtlich überragt, von beiden Seiten her in den Blickpunkt gerückt wird: die Geschwisterreihe gipfelt gleichsam in seiner Person. Verglichen mit dem Porträt des Zweieinhalbjährigen haben sich die Züge des Knaben verändert: das Gesicht ist bereits wesentlich schmaler, doch noch völlig ebenmäßig. Die nur leicht geöffneten Lippen und der Unterkiefer lassen keine Deformationen erkennen. Der Vergleich mit einem zeitnahen weiteren Porträt des Prinzen15 läßt darauf schließen, daß die Hofmaler, die Karl stets vor Augen hatten, ihn wirklichkeitsgetreu und ohne zu schmeicheln abbildeten. In viel geringerem Maße gilt diese Lebensechtheit der Bilder ganz offensichtlich für seine Geschwister, Eleonore vielleicht ausgenommen, und darin besteht eine der Besonderheiten des Diptychons: So, wie Ferdinand als ein kleineres, jüngeres Abbild Karls erscheint, ähneln Isabella und Maria in auffälliger Weise der ältesten Schwester. Nur in dem runden, noch ungeformten Gesicht der etwa einjährigen, nachgeborenen Katharina sind verwandte Züge kaum erkennbar. Falls die kurzen Überblick über kunsthistorische Überlegungen zum Thema gibt Arend ebd. 41–43 (m. Bildbeispielen u. weit. Lit.). Selbst dem Laien auf diesem Gebiet fällt der Einzug des Lächelns in die Malerei auf, der sich in der Renaissance vollzog und wohl seinen Ausgang von Italien nahm. Immerhin entstand zeitgleich mit dem Mechelner Triptychon in Florenz die Mona Lisa. Lächelnde, sich unbefangen bewegende und spielende Kinder eroberten die Leinwand zunächst in Gestalt der Putti, die sich bereits im 1. Viertel des 16. Jahrhunderts in einigen Darstellungen des Jesuskindes und des Johannes ankündigen, so z.B. in den beiden Knäblein in Raffaels „Madonna mit dem Stieglitz“ von 1506. 14 Das Bild, das ehemals seinen Platz im Museo de Santa Cruz in Toledo hatte, gilt heute als verschollen. Eine Wiedergabe findet sich bei Soly (Hg.) 2000, 40/41. Die Gruppenbilder, die Karl mit seinen Geschwistern bzw. als Mitglied des Hauses Habsburg-Burgund zeigen, wurden bereits oben (122–126) als Beispiele für die Umsetzung des dynastischen Gedankens in das Medium des Bildes erwähnt. 15 1507 schuf (vermutlich) der Meister der Magdalenenlegende, einer der flämischen Hofmaler Margaretes, ein Porträt des Prinzen mit einem Falken. Die Ähnlichkeit des „kleinen Jägers“ mit dem Achtjährigen, wie ihn das Diptychon zeigt, ist unverkennbar. Vgl. dazu Glück 1937, 165 f.

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Geschwister einander nicht tatsächlich in außergewöhnlichem Maße ähnlich sahen – was aufgrund fehlender Vergleichsmöglichkeiten schwer zu beurteilen ist –, läßt diese Beobachtung nur den Schluß zu, daß es nicht in der Absicht des Künstlers lag, die Kinder, abgesehen von Karl, als Individuen zu porträtieren,16 sondern ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. Dieses Bestreben wird durch die Tracht und Aufmachung der Geschwister unterstrichen: Sie ist jeweils bis ins Detail gleich für die Knaben wie für die drei älteren Mädchen. Die Knaben tragen schwarze Kittel, von denen sich ein weißer, gefältelter Einsatz im Ausschnitt und ein Medaillon auf der Brust abheben; das braune, leicht gewellte Haar fällt bis auf den Nacken; den Kopf bedeckt ein schwarzes Barett. Die strenge Tracht der Mädchen läßt sie wie kindliche Beginen erscheinen. Ihre Gesichter werden von schwarzen Schleierhauben umrahmt, unter denen nur der Ansatz des straff gescheitelten Haares über den hohen Stirnen hervorschaut. Schwarz sind auch ihre schmucklosen Kleider. Nur die weiße Einfassung der Hauben und zarte Halstüchlein hellen das Bild auf. Knaben wie Mädchen tragen weiße Handschuhe, selbst Katharina, die ansonsten noch nach Kleinkinderart, jedoch auch in Schwarz und Weiß, gekleidet ist. Schwarz galt auch in Burgund als die Farbe tiefer Trauer und könnte hier daher den Schmerz der Waisen über den Verlust des Vaters versinnbildlichen; es war in der Farbsymbolik des Mittelalters aber zugleich Zeichen äußerster Vornehmheit und Distinktion gegenüber der Buntheit der ordinären Alltagswelt.17 Daß das Gruppenbild der ernsten, schwarzgekleideten Geschwister dennoch nicht düster erscheint, hat der Maler durch den warmen Rotton des Hintergrundes erreicht, von dem sich die Gestalten wirkungsvoll abheben. Das Gold des Rahmens wiederholt sich in den Brokatkissen, auf denen die Hände der Kinder ruhen, in der Beschriftung und vor allem in den beiden großen, bekrönten Wappen, die für die ererbten Länder und Titel stehen, sowie in der Kette mit dem Goldenen Vlies auf der Seite der Knaben. Damit wird ein Gesamteindruck ernster Feierlichkeit erzeugt, in den die Kinder wie in einer Loge einbezogen sind. Das Diptychon verdient besondere Beachtung und daher auch die ausführliche Besprechung, weil es eindeutig den dynastischen Familienbildern zuzurechnen ist. Man könnte es überschreiben: „Karl, Prinz von Kastilien, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, etc., und Mitglieder seines Hauses.“ Als Margarete das Bild etwa eineinhalb bis zwei Jahre nach dem Tode Philipps des Schönen in Auftrag gab, geschah dies ohne Zweifel aus ihrem dynastischen Denken heraus und um der Mitwelt eine Botschaft kundzutun: Der König ist tot; das Haus, hier verkörpert durch seine Nachkommen, lebt und wird weiterbestehen. 16 Ferdinand und Katharina hätte er ohnehin nicht au vif abbilden können, da er die „spanischen“ Geschwister nie gesehen hatte. 17 Zu beiden Bedeutungsgehalten der Farbe Schwarz s. Huizinga 1975, 64–66. 396–400.

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Ein Porträt des zehnjährigen Prinzen, das Bernard van Orley, dem späteren peintre en tître Margaretes, zugeschrieben wird,18 führt mit schonungsloser Offenheit vor Augen, in welch erschreckender Weise die Züge des Knaben sich in dem kurzen Zeitraum von etwa zwei Jahren verändert hatten (Abb. 8). Mehr als seine nächsten männlichen Verwandten hatte Karl an der „anatomischen Erblast“ der Habsburger zu tragen: Die wulstig vorspringende Unterlippe machte es schon dem Zehnjährigen fast unmöglich, den Mund zu schließen. Van Orley hat dies ohne jede Beschönigung im Bilde festgehalten. Die eigenartig vorgeschobene Kinnpartie muß sich im Laufe der folgenden Jahre in extremer Weise entwickelt haben, denn Karls Porträt auf dem großen dynastischen Familienbild „Kaiser Maximilian und Mitglieder seines Hauses“ weist diesen Zug in aller Deutlichkeit auf. Stri(e)gel schuf das Gemälde vermutlich 1515,19 und zwar in Wien: Nach der Natur konnte er allenfalls Maximilian porträtieren; um die drei Knaben Ferdinand, Karl und Ludwig darstellen zu können, wird er auf bereits vorhandene Bildnisse zurückgegriffen haben. Das bedeutet, daß Karl schon vor 1515 durch die ererbten anatomischen Abnormitäten gezeichnet war. Beide Merkmale sind zwar auch auf einigen Porträts Maximilians I., Philipps des Schönen und Ferdinands I. nicht zu übersehen, waren aber bei den Genannten nicht derartig ausgebildet, daß sie sich als Behinderungen bemerkbar machten oder das Aussehen beeinträchtigten: Maximilian galt als außerordentlich ansehnlicher Mann und Philipp nicht ohne Grund als „der Schöne“.20 Karl aber hatte seit seiner Kindheit, den 18 Wiedergegeben ist das Porträt u.a. bei Soly (Hg.) 2000, 26. Es befindet sich im Besitz der National Gallery of Scotland in Edinburgh. Dabei scheint es sich um das einzige erhaltene Exemplar zu handeln. 19 Vgl. die Deutung des Bildes oben 124–126. 20 Otto Habsburg hat sich zu den Erbmerkmalen seiner Vorfahren wie folgt geäußert (1967, 382): „Die Jugendbildnisse lassen die Hauptmerkmale Karls klar erkennen: das stark vorgeschobene Kinn und den offenen Mund. Dieses Erbteil, das auf Zimburgis von Masovien [gest. 1429, Mutter Kaiser Friedrichs III.; A.S.] zurückzugehen scheint, entwickelte sich aufgrund der vielen Verwandtenheiraten bis zu einem Grad, daß es in den folgenden Generationen des Hauses Habsburg schon beinahe zur Karikatur wurde. Mit den Söhnen Leopolds I. verschwand es fast vollständig. Der Bart, den Karl als Erwachsener trug und den er bis zum Tode beibehielt, sollte wenigstens zum Teil diesen wenig schmeichelhaften Zug verdecken.“ In der Tat lassen die Porträts Josephs I. (1678–1711) und Karls VI. (1685–1740) keine der Anomalien mehr erkennen, während die Vertreter der spanischen Linie bis ins letzte Glied, bis zu Karl II. (1685–1700), schwer davon gezeichnet waren. Auf sie könnte Habsburg anspielen, wenn er von Karikaturen spricht. Gerade die spanischen Habsburger hielten an den Verwandtenehen mit Mitgliedern der österreichischen Linie fest und förderten so die Vererbung der Anomalien von beiden Elternteilen her. Bereits Karl V. hat dieses Erbteil seinem Sohn Philipp (II.) weitergegeben. Besonders plastisch tritt dies in der Porträtbüste des spanischen Königs hervor, die Pompeo Leoni 1556 schuf. Die Büste aus der Sammlung für Plastik und Kunsthandwerk des Kunsthistorischen

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überlieferten Bildern nach also von seinem neunten bis zehnten Jahr an, bis an sein Lebensende physisch unter den Folgeerscheinungen erst einer, dann beider Mißbildungen zu leiden. Auswirkungen auf die Psyche insbesondere des Heranwachsenden waren unausbleiblich, sind jedoch schwerer zu fassen und von anderen Faktoren zu trennen. Dem Künstler van Orley ist es gelungen, in dem Gesicht des Zehnjährigen das sichtbar zu machen, was Poensgen „jenen Zug leidhaften nach Luft-Ringens“ und „den Mangel an Freiheit zum Atmen“ genannt hat.21 Diesem Kind scheint jede Spur von Vitalität und Jugendlichkeit im Kampf gegen die körperlichen Schwächen abhanden gekommen zu sein. Der Blick ist stumpf und müde; schwere Tränensäcke, wie man sie sonst bei alten Menschen wahrnehmen kann, lassen die Augen noch kleiner erscheinen. Der leicht geöffnete Mund, die hängende Unterlippe verstärken den Eindruck, daß van Orley hier nicht nur einen kranken, sondern zudem auch noch wenig intelligenten, geistig zurückgebliebenen Knaben abgebildet hat. Damit illustriert das Porträt in frappierender Weise die Berichte einiger Beobachter aus diesen Jahren, auf die im Verlaufe dieses Kapitels noch eingegangen wird, und es erklärt auch die düsteren Prognosen einiger Ärzte, daß dieses Kind nicht lange überleben werde. Mit Sicherheit handelt es sich hier nicht um eines jener Bildnisse, die den jungen Karl an anderen Höfen als Heiratskandidaten empfehlen konnten. Den Abschluß der kleinen Auswahl aus der Porträtgalerie des jungen Karl soll ein Gemälde bilden, das ebenfalls von Bernard van Orley stammt und 1515 oder 1516 entstand (Abb. 11). Das Original dieses Bildes ist verloren; mehrere Kopien, die in den Attributen, die dem jungen Herrscher beigegeben sind, leicht voneinander abweichen, erschweren die genaue Datierung: Erster Anlaß für den Auftrag an den Künstler könnte die Emanzipation des Herzogs von Burgund gewesen sein, während eine andere Version wohl anläßlich der Annahme des spanischen Königstitels geschaffen wurde. K. Schütz vermutet, daß „es sich bei diesem Bildnis um das Standardporträt Karls von etwa 1515/16 gehandelt zu haben [scheint], das in mehreren Fassungen verschenkt wurde.“22 Dieses Bild wird hier deshalb in die Auswahl einbezogen, weil es in auffallendem Kontrast zu dem zuvor besprochenen Werk van Orleys steht. Hier ist nicht mehr der kränkliche Knabe dargestellt, sondern ein junger Herrscher, dessen klarer, in die Ferne gerichteter Blick Nachdenklichkeit und das Wissen um die Aufgabe verrät, die vor ihm liegt. Der Teint des Prinzen ist zwar hell und zart, aber keineswegs bleich und kränkMuseums Wien ist abgebildet bei Soly (Hg.) 2000, 99. Die Österreicher indes hatten mit dieser Tradition gebrochen: Die Mutter Josephs I. und Karls VI., der beiden kaiserlichen Brüder, entstammte dem Hause Pfalz-Neuburg. 21 Poensgen 1960, 174 f. Vgl. oben 182 f. 22 Schütz 2000, 59. Die mir vorliegende Abbildung bei Soly (Hg.) 2000, 42 gibt die Kopie in St. Salvator zu Brügge wieder.

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lich. Der Mund, leicht geöffnet, wirkt nicht deformiert; die Unterkieferpartie ist zwar kräftig ausgebildet, tritt aber nicht in abnormer Weise hervor. Damit ist es van Orley gelungen, die Gesichtszüge des Prinzen im Bilde zu harmonisieren. Wenn vielleicht auch Karls Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Porträts besser war als fünf bis sechs Jahre zuvor, wenn er gekräftigt und weniger leidend war,23 so können die ererbten, entstellenden Merkmale nicht verschwunden, sondern nur retuschiert worden sein. Man gewinnt den Eindruck, daß van Orley in seiner Entwicklung zum „wirklichen Hofmaler“ einem zeitgenössischen Trend folgte, als er dieses und weitere Herrscherbildnisse schuf. K. Schütz zitiert und erläutert eine Aussage des italienischen Kunsttheoretikers Gian Paolo Lomazzo zu der schwierigen, oft kaum lösbaren Aufgabe, vor die sich die Hofmaler gestellt sahen: „Des weiteren will der Kaiser, wie jeder König und Fürst, vor allem Majestät und einen Ausdruck, der ihm bis zu einem solchen Grad gemäß ist, daß er Adel und Würde auszustrahlen scheint, auch wenn er von Natur aus nicht so beschaffen ist. Deswegen empfiehlt es sich, daß der Maler in den Gesichtern Erhabenheit und Majestät vergrößert und die natürlichen Mängel verbirgt, so wie es auch, wie man sieht, die antiken Maler getan haben, die die natürlichen Unvollkommenheiten immer zu verschleiern und zu verstecken pflegten. Diese Aussage [...] zeigt die doppelte Funktion des höfischen Bildnisses, neben der realen zugleich die ideale Existenz darzustellen. [...] Das heißt, der Maler muß in seinem Werk eine zweifache, unvereinbar scheinende Aufgabe erfüllen, nämlich den Fürsten möglichst porträtähnlich, seinem tatsächlichen Aussehen gemäß darstellen, gleichzeitig aber ein Ideal wiedergeben, ihn nicht nur so porträtieren, wie er ist, sondern so, wie er sein sollte.“24

Diese Interpretation korrespondiert exakt mit der Intention van Orleys, der die ruhige Würde des jungen Fürsten durch dessen festlich-prächtige, jedoch nicht protzige Kleidung zu unterstreichen wußte. Nur drei Hauptfarben hat der Künstler für die Gewänder Karls verwendet: Altrosa für die Bluse aus schwerer Seide, in die ein grau-weißes Blatt- oder Federmuster eingewebt ist; Schwarz für das ausgeschnittene Wams und das Barett, das durch filigranen Silberschmuck zumindest optisch leichter wirkt. Gold ist das verbindende Element im Bild und bewirkt dessen festlichen Charakter: Die große Agraffe, die das Barett ziert, zeigt eine Madonna auf der Mondsichel auf Goldgrund; brokatene Halbärmel komplettieren das dunkle Wams, goldene Borten säumen den Halsausschnitt der Bluse. Nahezu im Zentrum des Bildes befindet sich der Vlies-Orden, dessen breite Kette 23 Dem widersprechen allerdings schriftliche Quellen aus dieser Zeit; vgl. unten 347 f. 24 Schütz 2000, 57 (Lomazzo, Trattato dell’Arte de la Pittura [1584], 6, 50). Schütz glaubt aus dem Kontext schließen zu können, daß es sich bei dem von Lomazzo erwähnten Kaiser nur um Karl V. gehandelt haben kann, wenn auch das Werk erst Jahrzehnte nach dem Tode des Kaisers im Druck erschienen ist.

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die Verbindung schafft zu dem durchbrochenen Gold des Hintergrundes. K. Schütz weist aus seiner Kenntnis mehrerer Fassungen des Porträts darauf hin, daß Unterschiede vor allem in der Darstellung der Hände und in den beigegebenen Attributen bestehen.25 Auf der hier beschriebenen Version des Bildes sind beide Hände zu sehen: Mit der Linken umfaßt der Prinz den dekorativ gestalteten Knauf eines Zeremonialschwertes, das als Symbol seiner jungen Herrscher- und Richtergewalt zu verstehen ist. In der Rechten, die auf einer Art Brüstung ruht, hält er, zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Blume, bei der es sich, soweit es die Reproduktion erkennen läßt, um eine Nelke handelt. Nach heutigem Verständnis erscheint es zumindest ungewöhnlich, einen jungen Mann, der soeben ein Herrscheramt angetreten hat, mit einer zarten Blüte in der Hand abzubilden. In der Epoche Karls aber wurde auf diese Weise „durch die Blume“ gesagt, daß es sich um einen Kavalier auf Freiersfüßen handelte.26 Diese Interpretation ist auf das Porträt Karls ohne Schwierigkeiten anwendbar: Im März 1515 wurde im Vertrag von Paris die Ehe zwischen Karl und Renée de France vereinbart und im Juni desselben Jahres in Den Haag beschworen. Da sich die politische Gesamtsituation schon im September 1515 durch den französischen Sieg in der Lombardei veränderte,27 wurde auch die Heiratsabsprache hinfällig. Die Nelke in der Hand des Prinzen könnte also dazu beitragen, den Entstehungszeitraum zumindest der hier besprochenen Version des Portäts einzugrenzen.

2. Der Prinz und Thronfolger im Blickpunkt: Beobachtungen und Berichte Um die Beobachtungen der Zeitgenossen zur Person des Prinzen zeitlich zu gliedern, greife ich noch einmal auf das 3-Phasen-Modell des Jugendalters zurück.28 So sollen zunächst (2.1.) die Aussagen ausgewertet werden, die die Zeit seiner infantia und pueritia betreffen, bis etwa zum Zeitpunkt seiner Emanzipation, für die Lebensphase Karls also, die im Zentrum meiner Untersuchung liegt. Zeugnisse von „Langzeitbeobachtern“, die über 1515 hinausweisen, sind der inhaltlichen Kontinuität wegen z.T. in diesen ersten Teilabschnitt aufgenommen worden. Wenn auch Karl aufgrund der besonderen Rechtslage in Burgund bereits mit fünfzehn Jahren als erwachsen galt und bei der vorzeitigen Entlassung aus 25 Schütz 2000, 59 f. 26 Der Hinweis auf diese symbolische Bedeutung der Nelke findet sich in Kat. Innsbruck 1969, 149 Nr. 554 zu einem Porträt des jungen Maximilian: „In der Rechten hält er drei Nelken. [...] Die Nelke weist außerdem auf die Hochzeit hin.“ 27 Vgl. oben 154 f. 28 Vgl. oben 161 f.

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Der Prinz in der Sicht seiner Zeitgenossen

der Vormundschaft dieses Alter noch nicht einmal ganz erreicht hatte, gehören doch die ersten Jahre seiner Herrschaft entwicklungsmäßig noch der adolescentia an. Daher werden in einem zweiten Teilabschnitt (2.2.) auch Aussagen über den jugendlichen Herrscher zur Ergänzung des Bildes herangezogen.

2.1. Das Kind und der Heranwachsende Als am 24. Februar 1500 dem jungen Herzog von Burgund und seiner spanischen Frau der erste Sohn geboren wurde, war der Jubel groß in den Niederlanden und vor allem in Gent, dem Geburtsort des Prinzen, denn zum einen teilte die Bevölkerung die Freude Philipps, der im Lande sehr beliebt war, und zum anderen schien damit gesichert, daß auch in der ferneren Zukunft das Land von einem prince naturel regiert werden würde. Für die Taufe des Prinzen wurde die Stadt Gent prächtig herausgeputzt: Der Weg vom Prinsenhof zur Taufkirche St. Jean (heute St. Bavo bzw. Sint-Baafs) war durch Ehrenpforten und Wappenschmuck in eine wahre via triumphalis verwandelt. An den Tauffeierlichkeiten am 7. März 1500 nahmen die Ordensritter vom Goldenen Vlies teil, ebenso die Honoratioren und die Vertreter der Generalstände. Margarete von York trug den Täufling zur Kirche; sie und Margarete von Österreich waren die Taufpatinnen; Taufpaten waren Charles de Croy, seigneur de Chimay, und der Fürst von Vergas. Damit waren die Länder der Eltern des Täuflings, Burgund und Spanien, gleichermaßen vertreten: Margarete von Österreich, kurz zuvor erstmals verwitwet, trug den Titel einer Prinzessin von Kastilien. Den Zug von vierzehn hohen Geistlichen führte Pieter Quiek an, der Bischof von Tournai, der die Taufe vollzog, wobei der Bischof von Malaga und damalige capellan mayor der Infantin, Diego Ramirez de Villaescusa, ministrierte. So repräsentierte auch die Geistlichkeit die Stammländer Philipps und Juanas. Prudencio de Sandoval beschreibt die festlich geschmückte Stadt, die Tauffeierlichkeit und die prächtigen Geschenke in großer Ausführlichkeit,29 während Alonso de Santa Cruz in knapper Form auf die Festlichkeiten eingeht, die in Spanien anläßlich der Geburt des Prinzen veranstaltet wurden.30 Der Auslöser dieser Freudenbekundungen, der neugeborene Prinz, wird in den Berichten verständlicherweise kaum erwähnt: Selbst den Hofchronisten dürfte es schwergefallen sein, ein Loblied auf den kaum zwei Wochen alten Täufling zu singen. Keiner der beiden spanischen Chronisten versäumt es aber hervorzuheben, daß von diesem Prinzen in der Zukunft Großes zu erwarten sei und ihm eine bedeutende Rolle in der Welt beschieden sein würde. Santa Cruz zitiert dazu die geradezu prophetischen Worte, die der Überlieferung nach die große Isabella von 29 Sandoval 17 f. 30 Santa Cruz 2. Zu den Festlichkeiten zur Taufe Karls und ihrer Darstellung in der Literatur s. bereits oben 22 m. Anm. 16.

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Kastilien an Ferdinand von Aragon gerichtet haben soll, als sie von der Geburt ihres Enkels am Tag des Apostels Matthias erfahren hatte: Creedme, señor, y no dudéis, que así como sobre aquel Apóstol cayó la suerte para ser en el número con los otros Apóstoles, así ha caído la suerte sobre este nuestro nieto para heredar nuestros reinos.31 Sandoval dagegen nimmt die Verleihung des Titels eines Herzogs von Luxemburg an den Täufling zum Anlaß, an die böhmischen Könige und Römischen Könige und Kaiser zu erinnern, die aus dem Hause Luxemburg hervorgegangen waren.32 In ihrer Nachfolge wurde der kleine Prinz gesehen, und schon mehrten sich die Vorhersagen, daß er eines Tages eine ähnlich herausragende Stellung unter den Herrschern einnehmen würde, wie es auch Sandoval formuliert: De donde comenzaron a adivinar y echar juicios, que no se engañaron, que el nuevo duque de Lucemburg había de ser un príncipe notable en el mundo.33 Beide Chronisten schrieben die Geschichte Karls aus der Rückschau34 und wußten daher, in welcher Weise sich die Hoffnungen erfüllen sollten, die man im Jahr 1500 auf dieses Kind setzte. Dennoch möchte ich davon ausgehen, daß es sich bei den oben angeführten Zitaten nicht um reine Erfindungen handelt, sondern daß beide die Haltung gespannter Erwartung illustrieren, die um 1500 in der Luft lag und in erster Linie auf die weithin bekannten Prophezeiungen des Joachim von Fiore zurückging:35 Die Welt harrte des Erscheinens des „zweiten großen Karl“. Wie bei der Taufe, so galt auch bei der feierlichen Aufnahme des Einjährigen in den Orden vom Goldenen Vlies die Aufmerksamkeit nicht dem Kind, sondern dem Zeremoniell. In den stillen Wiegenhaushalt der burgundischen Kinder erhielten Außenstehende kaum Einblick. Das Interesse an diesen Kindern, die dort heranwuchsen, und an ihrem Alltag hielt sich vermutlich bis 1506 in Grenzen, denn Philipp der Schöne und Juana lieferten mit den Szenen ihrer bewegten Ehe der Hofgesellschaft und den auswärtigen Diplomaten reichlich Stoff für Klatsch und Berichte. Selbst in den Jahren nach Philipps Tod, als Karl, der künftige Herzog von Burgund und präsumtive Erbe der spanischen Reiche, mehr noch als zu Lebzeiten seines Vaters in dynastisch-politische Planspiele einbezogen wurde, wußte Margarete den Prinzen und seine Schwestern weitgehend vor einer neugierigen Öffentlichkeit abzuschirmen. Die seltenen Zeugnisse von Diploma31 Santa Cruz 2. 32 Zu den Beweggründen für die Namenswahl und die Verleihung des luxemburgischen Herzogstitels an den Täufling s. oben 21 m. Anm. 14. 33 Sandoval 18. 34 Auch Santa Cruz, der Zeitgenosse des Kaisers, hatte dessen Aufstieg zum Herrscher über den größten Teil der bekannten Welt verfolgt, ehe er – man weiß nicht genau, wann – die Arbeit an seiner Crónica begann. 35 Vgl. oben 309 Anm. 486.

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ten, die ihre flüchtigen Eindrücke von dem Thronfolger wiedergeben, werden daher in der Literatur immer wieder aufgegriffen. So begegnet auch mehrfach das Urteil des Vincenzo Querini (Quirini), der 1506 „den jungen Karl als hübsches und lebhaftes Kind“ beschrieb, „dem man gleichwohl ansah, «energisch und hartherzig wie der verstorbene Herzog Karl von Burgund» sein zu können“.36 Was allerdings Quirini zu diesem Vergleich zwischen dem Prinzen und seinem ungestümen Urgroßvater veranlaßt haben könnte, ließ sich nicht feststellen. Die Vermutungen, die L. Delfosse dazu anstellt, überzeugen wenig, da sie der Menschenkenntnis eines welterfahrenen venezianischen Diplomaten nicht Rechnung tragen: Wenn ein sechsjähriger „Ritter“ seinen Holzdegen gegen Fabelwesen auf Wandteppichen zieht oder die Löwen im Brüsseler Tiergarten mit einem Stock zu reizen versucht, ist darin schwerlich ein Erbteil des draufgängerischen Vorfahren zu erkennen.37 Selbst wenn Quirini zufällig Zeuge eines Wutanfalls des Prinzen oder eines Ausbruchs kindlichen Trotzes gewesen sein sollte, ließe dies kaum eine derartige Verallgemeinerung zu, wie sie in den Worten mostra in ogni sua azione essere assai animoso e crudele zum Ausdruck kommt. Da es m.W. von anderer Seite keine Äußerung gibt, die Quirinis Eindruck bestätigen könnte, halte ich Skepsis hier für sehr angebracht. Auf die wenigen Berichte und Beobachtungen Außenstehender, die zwischen 1507 und 1513 über Karls Erscheinung, sein Auftreten und über unterschiedliche Aktivitäten des Prinzen informieren, ist bereits eingegangen worden.38 Während gerade die kleinen Szenen, die die englischen Diplomaten beschrieben haben, in ihrer Natürlichkeit und Anschaulichkeit überzeugen, werden die Aussagen über die Person des Prinzen ab etwa 1513 zunehmend widersprüchlicher. Je näher seine Emanzipation rückte und je größer die Wahrscheinlichkeit wurde, daß ihm neben dem burgundischen auch das spanische Erbe zufallen würde, desto aufmerksamer wurde er beobachtet. Gerade weil Karl bisher wenig in Erscheinung getreten war, beschäftigte die Herrscher Europas die Frage nach seiner Person, nach dieser unbekannten Größe, mit der man angesichts der Vielzahl politischer Verflechtungen zu rechnen haben würde.

36 Rodríguez-Salgado 2000, 31. Vincenzo Quirini war 1506/1507 venezianischer Botschafter am Hofe Maximilians. Walther 1911, 203 referiert den italienischen Wortlaut: mostra in ogni sua azione essere assai animoso e crudele: somiglia al vecchio duca Carlo di Borgogna. Vgl. Henne 1865, 181 (paraphrasiert); Delfosse 1923, 12. 37 So jedoch Delfosse (ebd.; ohne Quellenangabe). 38 Vgl. oben 88: die erste Rede des Prinzen vor den Generalständen 1508; 91. 96: die Eindrücke der englischen Diplomaten 1512; 111 f.: die erste Begegnung Karls mit Heinrich VIII. in Tournai 1513; 212–214: die Schilderung Du Bellays.

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Ausgehend von den Arbeiten von H. Lutz und A. Kohler ist bereits im Einleitungskapitel dieser Untersuchung39 das Problem angesprochen worden, das sich dem Historiker bei dem Versuch einer Annäherung an die Person Karls V. stellt: Für Lutz war es die „Sache“, für Kohler die „Institution“, die den Blick auf die Persönlichkeit verhindert.40 Während dies in erster Linie für den Erwachsenen, den uomo fatto und Kaiser, gilt, wird die Erschließung der noch unfertigen, in sich unausgewogenen Persönlichkeit des Prinzen durch die keineswegs neutrale Perspektive der Quellen erschwert, die die ganze Parteilichkeit der Zeitzeugen offenbaren, die schon das engste Umfeld Karls in verschiedene Lager spaltete und – in größerem Rahmen – die Tendenz der Berichte an auswärtige Höfe bestimmte. Mit den schriftlichen Zeugnissen, ob sie nun ein positives oder ein eher negatives Bild des Prinzen vermitteln, verhält es sich ähnlich wie mit den Porträts aus dem Schaffen der Hofmaler: Gewisse charakteristische Züge werden zwar sichtbar, aber, je nach Intention und Adressat, geglättet oder betont. Insgesamt wird Karl auch in den schriftlichen Quellen nicht so dargestellt, wie er war, sondern wie er, der Interessenlage entsprechend, gesehen werden sollte. Zu Beginn des Jahres 1513, am 13. Januar, gibt Petrus Martyr einem seiner Humanistenfreunde weiter, was er über den Prinzen erfahren hat, wobei er mehrfach, z.B. durch Einfügen von referuntur, inquiunt, scribuntur, aiunt hervorhebt, daß es sich um Informationen aus zweiter Hand handelt: Quid de Carolo principe puero adhuc: omnium Regnorum haerede, quae divus Fernandus Arago rex Catholicus, eius avus possidet, aut gubernat: sentiatur in curia, cupis primum intellegere. Mira de illius primordiis referuntur. A natura emittit animi excelsi argumenta, pululare aiunt in eo, iusti, & recti, praeclara signa. Est in ætate puerili adulationi & mendatio non modo non fautor: sed aperte inimicus. ab huiuscemodi abhorret hominibus. sobrietatem inquiunt illi summopere placere. Si quem e domesticis intemperanter crapulatum senserit, torvo illum inspectat vultu & abiicit. in crastinum redeuntem, accerrimis insectatur iurgiis, quam foedum sit cuiquam nobili vinci ebrietate, senili quadam obiurgatione ostendit. De gravitate Caroli: ultra quam aetas ferat, multa scribuntur. In risu, motu, gestu, & responsis, modestissimus. Nil denique in eo magis in presentiarum desideratur, quam natura illi fuerit elargita, unde speramus in clarum Principem, & tot Regnorum benemeritum Regem evasurum. [...] in puero Carolo, magni futuri Regis initia prae se ferente gaudeamus.41

Die Anlagen des Thronerben, an dessen Stellung als Nachfolger Ferdinands von Aragon Petrus Martyr keinen Zweifel aufkommen läßt, sind so vielversprechend, 39 Vgl. oben 14 f. m. Anm. 51. 40 Auch Braudel (1994, 76 f.) stellt zu diesem Komplex einige Überlegungen an, betont die Fragwürdigkeit vieler Zeugnisse und äußert darüber hinaus seine Zweifel an der Lebensechtheit der Porträts. 41 Petrus Martyr, epist. 513 (p. 528 W., 13.1.1513).

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daß der Humanist frohen Mutes in die Zukunft blicken kann. Was der Dreizehnjährige an Ernst und Würde seinen Jahren voraus hat, wird durch die große Zurückhaltung und Bescheidenheit gemildert, die sein Lächeln, seine Gesten und Bewegungen, seine Antworten kennzeichnen. Was von anderen Autoren oft und mit den Jahren zunehmend als Manko und Schwäche kritisiert wird – die fehlende Fröhlichkeit, das vermutlich etwas linkische Auftreten, die Hemmungen beim Sprechen – wird von Petrus Martyr lobend als Zeichen der Besonnenheit, des Maßes und der Bescheidenheit gedeutet, womit er auf die Kernbegriffe der Kardinaltugend der temperantia oder modestia anspielt.42 Die Rigidität, mit der Karl seine Prinzipien gegenüber Höflingen vertritt, die älter sind als er selbst, kann vielleicht als extrem bezeichnet werden, generell ist Kompromißlosigkeit aber als alterstypisch für Jugendliche in der Pubertät und junge Erwachsene anzusehen. Aufschlußreich sind die Untugenden, gegen die er auftritt: Schmeichelei und Lüge, die ihm in seiner Umgebung wohl häufig begegneten, vor allem aber die Maßlosigkeit, hier auf den Alkoholgenuß bezogen. Das rechte Maß in der täglichen Lebensführung einzuhalten, war Karl von Kind an vorgelebt und anerzogen worden – wenn er sich auch in späteren Jahren selbst nicht mehr daran halten sollte. Vorerst aber hatten Margaretes Beispiel wie auch die Vorbilder seiner Erzieher Wirkung gezeigt. Es sei daran erinnert, daß auch Chièvres als äußerst maßvoll galt und Adrians asketische Lebensweise ihm den Spott der Römer eintrug. Über den jungen Prinzen, der sich so offensichtlich die Lehren seiner Erzieher zu eigen gemacht hatte, gibt es nun allerdings aus dem gleichen Jahr 1513 ein völlig abweichendes Urteil, das von mehreren Autoren zitiert wird. Bei A. Henne heißt es: „Quelques-uns prétendaient qu’il était, à l’âge de treize ans, «si maistrieux et plein de ses volontés, qu’il n’estoit à gouverner ni conduire».“43 Walther zitiert die Beschwerde über das rebellische Verhalten des Prinzen ebenfalls und ordnet sie zumindest annähernd in ihren Kontext ein: Danach wandte sich jemand im Herbst 1513, „in den Zeiten der höchsten Parteierregung“, – vielleicht ratsuchend – an die Regentin. Daraufhin rühmte Henri de Witthem, seigneur de Beersel, „die tadellose Folgsamkeit des Knaben“.44 Wenn man nun über den oder die Beschwerdeführer im Ungewissen bleibt, so ist die Position Beersels im Zwist der Parteien am Hofe eindeutig: Der Brabanter Ordensritter war einer der treuesten Anhänger des Hauses Habsburg-Burgund und hatte als gouverneur de la maison von 1501–1506 dem Kinderhaushalt vorgestanden. 1513 war er second chambellan des Erzherzogs. Seine unbedingte Loyalität galt Margarete und Karl, für 42 Nicht ohne sprachliche Finesse nennt Petrus Martyr Karl modestissimus, während er von dem betrunkenen Domestiken als intemperanter crapulatus spricht. 43 Henne 1865, 182. 44 Walther 1911, 203. Zu Beersel vgl. oben 24.

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dessen Erziehung er in den ersten Lebensjahren die Verantwortung getragen hatte. L. Delfosse, der auch auf den Vorfall eingeht, glaubt die Ursache für die „Unregierbarkeit“ des Prinzen in dessen Abneigung gegen das Lernpensum zu sehen, das ihm abverlangt wurde. Den begütigenden Einsatz Beersels für Karl interpretiert Delfosse dahingehend, daß er der Regentin bedeuten wollte, daß man von dem Prinzen kaum Interesse für etwas verlangen könne, das ihm nicht läge, und belegt seine Auffassung mit den Worten Beersels: Et certes, Madame, le tout bien considéré, je ne sais si raisonnablement, l’on deust plus demander en luy qu’il y a.45 Die Quelle, aus der die genannten Autoren zitieren, ist ein Brief Beersels vom 16. September 1513 an die Regentin, die sich zu diesem Zeitpunkt – nach dem Sieg Maximilians und Heinrichs VIII. über die Franzosen bei Guinegate und Thérouanne – bereits in Lille aufhielt. Auch ein genaueres Studium des Briefes offenbart allerdings weder die Identität des Beschwerdeführers noch den Anlaß zu der Klage. Beersel beteuert mit beredten Worten, daß es keinerlei Grund für die Regentin gebe, sich zu beunruhigen. Wenn Karl sich in irgendeiner Weise aufsässig verhalten hätte, wäre es Beersel, der den Prinzen seit frühesten Kindertagen kannte, nicht verborgen geblieben. Es kann sich nur jemand zu Unrecht beschwert haben, oder es muß sich um eine bösartige Verleumdung handeln. Der Prinz fügt sich gutwillig den Ratschlägen seiner Erzieher und ist ständig bestrebt, Wunsch und Willen des Kaisers und der Tante zu erfüllen. Mehr könne man vernünftigerweise nicht von ihm erwarten. Ein Auszug aus dem Brief des second chambellan zeigt den oft zitierten Satz in seinem Kontext: Madame, j’ay entendu que, par moyen de quelque rapport ou devises, vous devez estre informée que mondit seigneur vostre neveu seroit si maistrieux et plain de ses voulentez qu’il n’est à gouverner ne conduire, ou tel autre rapport de semblable substance. Madame, je ne say autrement au vray se vous avez en telle sorte esté advertye, mais je ose bien presumer et dire que, si mondit seigneur vostre neveu feust de telle sorte ou affere, j’en auroye la congnoissance et experience autant que nul autre; mais je vous afferme, madame, en bonne verité, que à tort et mauvaise cause l’on auroit en telle maniere de luy rapporté; car il n’est nul qui ait oncques [= jamais] veu ne apperceu au contraire, que en toute heure et à tous propos, ledit seigneur ne soit du tout enclin, prest et appareillé d’acomplir et satisfaire à ce qu’il entend estre au plaisir et vouloir de l’empereur et de vous, madame. Et quant à son gouvernement autrement, je n’ay jusques à ores veu ne apperceu, ne n’a aussi autre, comme je croy, qu’il n’entende et acquiesse debonnairement à tous bons propos et avertissements que lui sont faiz. Et certes, madame, le tout bien consideré, je ne say si raisonnablement l’on deust plus demander en luy qu’il y a.46

45 Delfosse 1923, 26. Kohler, auf Walther zurückgreifend, erwähnt (1999, 51) Karls angebliche Aufsässigkeit ebenfalls kurz, ohne auf mögliche Hintergründe einzugehen. 46 Le Glay 1845, 1, 550–552 Nr. 178 (Zitat: 551).

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Beersel bemüht sich hier geradezu übereifrig, alle Vorwürfe gegen Karl zu entkräften und dessen Verbundenheit mit den „Ersatzeltern“ hervorzuheben, wie ein weiterer Passus aus demselben Brief beweist: Der Prinz freue sich sehr darauf, ihrer Einladung nach Lille zu folgen, denn er kenne – so Beersel – kein größeres Vergnügen, als mit dem Kaiser und Margarete zusammenzusein und sehe zudem der ersten Begegnung mit seinem Schwager erwartungsvoll entgegen: Desquelles nouvelles [Einladung nach Lille] ledit seigneur a esté fort resjoy, et croy qu’elles lui ont esté plaisantes le possible; car, ainsi que souvent le declaire, tout le plus grant plaisir que lui sauroit estre seroit d’estre en la compaignie de l’empereur et de vous, madame, et tant plus au temps de maintenant pour entrer en congnoissance et accointance avec le roy son beau-frere.47

Die Beschwerde über unbotmäßiges Verhalten des Prinzen – ob nun berechtigt oder nicht – muß es gegeben haben. Sollte eine interessierte Partei einen geringfügigen Anlaß wahrgenommen haben, die Abwesenheit Margaretes auszunutzen, um deren Vertrauen in den Neffen zu untergraben, oder um dessen Erzieher in den Augen der Regentin zu desavouieren? Selbst wenn sich aus der Quelle keine Antwort auf diese Fragen erschließen läßt, wird eines deutlich: Was auch immer Karl getan oder nicht getan haben mag, er geriet in das Netz von Intrigen und wurde als Druckmittel für die Zwecke anderer benutzt. Um die zunächst recht einleuchtende Interpretation Delfosses noch einmal aufzugreifen: Aus allem, was über Karls Bildungsgang in früheren Kapiteln dargelegt wurde, dürfte deutlich geworden sein, daß der Prinz auch vor 1513 kein beflissener Schüler war. Wenn er nun im Alter von dreizehn Jahren tatsächlich gegen die ungeliebten Pflichten rebelliert haben sollte, so sehe ich darin nur das auslösende Moment, den „Aufhänger“, für ein generelles pubertäres Auflehnen gegen Autoritäten, gegen die Tante vor allem, die als Vormund die Autorität repräsentierte. Die Entwicklung vom fügsamen Kind zum eigenwilligen, selbständigen jungen Erwachsenen und deren – oft besonders für die Eltern schmerzhaften – Begleitumstände machen auch vor Prinzen nicht Halt. Erste Ansätze Karls, sich von der Bindung an die Ersatzmutter zu lösen, wurden durch Animositäten und Intrigen der Parteien ebenso gefördert wie durch das Wissen des Prinzen darum, daß er ohnehin bald als Herzog von Burgund sein eigener Herr sein würde. Betroffen war in erster Linie Margarete, die trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Beersels vermutlich bereits an kleinen Einzelerfahrungen im Alltag gespürt hatte, wie sich der Neffe ihrer Obhut und ihrem Rat zu entziehen begann. Ihre Reaktion darauf ist bekannt – die im Einvernehmen mit Heinrich VIII. und Ferdinand von Aragon abgefaßte Ordonnanz zur Neuordnung der Erziehung des Prinzen und die Einsetzung des „Triumvirats“, die sich vordergründig gegen 47 Heinrich VIII. von England, mit dessen Schwester Mary Karl 1513 noch verlobt war.

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Chièvres und die frankophile Parteiung am Hofe richteten, aber – uneingestandenermaßen – einen natürlichen Prozeß der Emanzipation aufzuhalten versuchten und schon deshalb wirkungslos blieben.48 Die beiden widersprüchlichen Quellen zur Person des dreizehnjährigen Prinzen sind mit Sicherheit nicht objektiv zu nennen: Petrus Martyr entwirft nach seinen Informationen das Bild eines künftigen Herrschers, wie man sich kaum einen besseren wünschen könnte; der oder die Beschwerdeführer, offenbar in ständigem Kontakt mit Karl, reagierten, wenn nicht aus Böswilligkeit, aus Ärger und Ratlosigkeit auf dessen vermutlich nicht nur einmalige Aufsässigkeit. Prinzenlob und -tadel, wie sie hier anscheinend unvereinbar gegenüberstehen, mögen beide zu einem gewissen Grade berechtigt gewesen sein, von aller Parteinahme aber einmal abgesehen, vermitteln die Quellen einen Eindruck von dem unausgeglichenen Gemütszustand des Heranwachsenden, der sich in ständigem Widerspruch mit sich selbst und seiner Umgebung befand. Obwohl der Konflikt zwischen Karl und der Regentin unvermeidlich war und sich im Laufe des folgenden Jahres verschärfte, bis er sich in der Affäre um don Juan Manuel derartig zuspitzte, daß der Bruch in den Beziehungen nach außen hin nicht mehr kaschiert werden konnte und alles auf eine vorzeitige Entlassung des Prinzen aus der Vormundschaft hinzielte, übernimmt Sandoval für seine Angaben zu 1514 Teile des Prinzenlobs von Petrus Martyr und kann damit die vorgezogene Emanzipation begründen, ohne auf die internen Machtkämpfe am Hofe und in der Familie einzugehen: Y ya en este tiempo, el príncipe don Carlos era de catorce años y andaba en los quince, y se echaba de ver en él el valor, saber y prudencia que después mostró. Y todos juzgaban ser bastante para tomar la administración y gobierno de estos reinos, ansí en los de España como en los estados de Flandes.49

Etwa 400 Jahre später muß M. Rodríguez-Salgado trotz ihrer umfassenden Quellenkenntnis ganz realistisch einräumen, was hier nur an wenigen Beispielen aufgezeigt werden konnte: „Es fällt nicht leicht, ein Bild des Habsburgers in diesen Jahren [etwa 1514–1516; A.S.] zu entwerfen, der weitgehend unter dem Einfluß seiner Berater und seines Hofstaates stand und in ein dichtes Netz aus Ritualen eingespannt war. In allen Beschreibungen erscheint er als träger, stiller, linkischer Jüngling. Doch wie jeder andere junge Regent strebte er danach, seinen Anteil an der Macht auszubauen.“50 Der gleichen Schwierigkeit war sich E. Gossart bewußt, als er versuchte, im Kapitel „Avènement de Charles d’Autriche“ seiner Karlsbiographie den jungen Herzog und König von Spanien zu beschreiben und zu cha48 Vgl. oben 110–113. 49 Sandoval 58. 50 Rodríguez-Salgado 2000, 54.

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rakterisieren.51 Trotz zahlreicher Einzelbeobachtungen aus den Jahren 1515–1519, d.h. vom Regierungsantritt in Burgund bis zu den ersten Auftritten und der Herrschaftsübernahme in Spanien, entsteht dabei kein geschlossenes Bild. 52 Pietro Pasqualigo, damals venezianischer Gesandter in Frankreich, begegnete Karl 1515, als er ihm in Brüssel die Glückwünsche seiner Regierung zum Friedensschluß von Paris überbrachte. In einem Brief schilderte er den jungen Herzog folgendermaßen: E un garzon di anni 15. E di mediocre statura, magro al possibile, palido, molto melincolico; porta la boca sempre cazuda et aperta, et cosi li occhi cazudi che par li stagino atacati et non sieno soi.53

Der letzte Satz dieser Beschreibung Karls ist häufig zitiert worden und hat daher eine gewisse Bekanntheit erlangt. Walther nennt die Bemerkung des Venezianers, daß „die Augen des Prinzen aussähen, als ob sie angesteckt wären und gar nicht zu ihm gehörten“, geradezu infam.54 Ich möchte Pasqualigos Aussage eher dahingehend deuten, daß er mit der zweifachen Verwendung des Adjektivs cazudo55 die Anstrengung beschreiben wollte, die sich während der Audienz auf dem Gesicht des Knaben abzeichnete: das Atmen durch den mißgebildeten Mund bereitete Mühe, und diese Qual ließ die Augen in unnatürlicher Weise hervorquellen, als ob sie aus den Höhlen treten sollten. Petrus Martyr, der mit großer Anteilnahme die Regelung der spanischen Erbfrage verfolgt und kommentiert hatte, richtete sein Augenmerk nach dem Tode Ferdinands von Aragon verstärkt auf den jungen Fürsten, der spanischer König werden sollte. Noch am Sterbetag des Katholischen Königs drückt er sein Bedauern und seine Sorge darüber aus, daß Karl mit dem Großvater auch den politischen Lehrmeister verloren hat und, dem Knabenalter noch nicht entwachsen, trotz seiner guten Anlagen erfahrene Ratgeber nötig haben wird : Proh Hispania, proh christi dogma, quem oculum, proh Carole princeps, quem regnandi magistrum amisistis. Pollens ingenio tu quidem, & caeteris praeclaris naturae dotibus ornatus es, ut audio Carole, sed adulescentulus ex ephebis nondum evasus, quae aetas moderatoribus indiget. Non deerunt boni consultores inquiet aliquis? non deerunt opinor,

51 Gossart 1910, 55–77, hier 61–64. Die Arbeit erwies sich an dieser Stelle erneut als sehr hilfreich, da Gossart Quellen auswerten konnte, die mir nicht zur Verfügung standen. 52 Pirenne 1953, 82 gibt eine Kurzcharakteristik des jungen Karl, die ganz wesentlich auf den Ergebnissen Gossarts fußt, wie aus einem inhaltlichen Vergleich und den Literaturangaben hervorgeht. 53 Gossart 1910, 62 (Pasqualigo an Marco Barbo, 19. Juli 1515). 54 Walther 1911, 204. 55 Alte venezianische Form von caduto; vgl. Giuseppe Boerio, Dizionario del dialetto veneziano, Venedig 21856 (ND Turin 1967 u.ö.), 155 s.v. cazude (Abgaben, „Gefälle“).

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sed huius artis opificem, argutum adeo, & tanta rerum experientia prudentem, raro legimus a natura fuisse orbi terrarum condonatum.56

Da Petrus Martyr den Prinzen hier in der Klageformel direkt anspricht, darf man annehmen, daß die Ratschläge Karl von dem Empfänger des Briefes vorgelesen oder ihr Inhalt ihm zumindest mitgeteilt werden sollte. Das setzt voraus, daß der Adressat zu den engsten Vertrauten des Prinzen, aber auch des Humanisten gehörte. Damit bestätigt sich die eingangs geäußerte Vermutung, daß Petrus Martyr seine Informationen über Karl einem Briefpartner am burgundischen Hofe verdankte, denn das Schreiben ist gerichtet ad Ludovicum Marlianum affinem Episcopum Tudetensem Caroli principis Phisicum et Consilia[rium]. Durchforscht man das Opus epistolarum nach weiteren Briefen an Marlianus und nach der Erwähnung seiner Person in Episteln an andere Empfänger, so stellt sich zweifelsfrei heraus, daß es sich bei dem Bischof von Tuy, der zugleich Leibarzt und Berater Karls war, um das Bindeglied zwischen Petrus Martyr und dem Prinzen handelt, und es läßt sich unter Zuhilfenahme weiterer Quellen in großen Zügen das Zustandekommen dieser Beziehung nachweisen. Die ausführlichste zusammenhängende Nachricht zur Person Karls stammt vom 2. März 1516; die darin enthaltenen Details wird der Verfasser wiederum von Marlianus erfahren haben: Primicias accipe a principe nostro Carolo, relicto tot regnorum haerede, ipsius dextra signatas habemus literas sub data quintae decimae Kalendas Martii. [...] Qui apud principem versantur tam Hispani quam Belgae [...] mira inquiunt de illius moribus & praeclara indole. Sexdecennis est, gravitate tamen aiunt pollere senili, nec desunt qui tantam in adolescente autoritatem imperitiam & naturae defectum appellent, sed absint interpraetes maligni. Audit atente, respondet brevibus & per interpretes, linguam nondum callet Hispanam, idyomati adiscendo studet. Est docilis, optime speratur ab his qui eius interna cognoscunt. Dicunt magnanimum esse ac liberalem, iustique ac veri amatorem, cum adulatoribus & intemperantibus secus.57

Gerade aus diesem Brief wird häufig zitiert, allerdings oft verkürzt, mit dem Akzent auf gravitate tamen senili,58 um nicht nur den würdigen Ernst hervorzuheben, der bereits den Zeitgenossen erwähnenswert schien, weil er im Kontrast zu dem jugendlichen Alter des Prinzen stand, sondern um ihm einen müden, ältlichen Ausdruck zuzuschreiben. In diesem Brief wie auch bei weiteren Gelegenheiten weist Petrus Martyr erneut auf Karls Abneigung gegen jede Maßlosigkeit hin, was ihn in spanischen Augen vorteilhaft von den flamencos Philipps des Schönen abhebt, wobei man allerdings befürchtet, daß die Räte und Begleiter des neuen Königs ähnlich geartet sein könnten wie die seines Vaters: 56 Petrus Martyr, epist. 565 (p. 555–556 W., 23.1.1516). 57 Petrus Martyr, epist. 568 (p. 557 W., 2.3.1516). 58 So auch Walther 1911, 204.

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Neque enim erit aequum ut Borealium Belgarum consiliis res Hispanae gubernentur. Longe absunt eorum ingenia atque educatio a moribus Hispanis, illorum deus est voluptas, Hispanorum sobria quaedam mentis elatio, ad honores directa, temperatiores facit. Rex tamen a natura crapulonibus & bibacibus hominibus dicitur esse infensus, quia ipse temperatus.59

In welcher Weise sich die Befürchtungen bestätigten und welche Vorstellung die Spanier von ihrem jungen Herrscher gewannen, hat Petrus Martyr aus unmittelbarer Nähe und eigenem Erleben festgehalten.60

Exkurs: Ludovicus Marlianus, die verborgene Quelle des Petrus Martyr Auch wenn K. Brandi das Opus epistolarum des Petrus Martyr einmal „eine ebenso gefährliche wie vielbenutzte Quelle“ genannt hat,61 bleibt diese Briefsammlung unverzichtbar, wenn man Aufschluß über die frühen Jahre Karls V. erlangen will. Man sollte sich nur stets der Tatsache bewußt bleiben, daß das Opus epistolarum nicht als Chronik aufzufassen, sondern stark von der Persönlichkeit und der nicht unbedingt sachlich-distanzierten Sicht des Verfassers geprägt ist sowie über weite Strecken Informationen aus zweiter Hand weitergibt. Bei meinen Untersuchungen beschäftigte mich immer wieder die Frage, wie ein Zeitgenosse Karls V. wie Petrus Martyr bei den damaligen Kommunikationsmöglichkeiten an die detaillierten Kenntnisse von Fakten und Ereignissen von höchster Aktualität gelangen konnte, obwohl er sich oft weit vom Ort des Geschehens entfernt aufhielt. Hinsichtlich der Informationen zu dem jungen Karl glaube ich die Antwort auf meine Frage in der Person des Ludovicus Marlianus (Luigi od. Alvise Marliano, 1463–1521) und seiner freundschaftlichen Beziehung zu Petrus Martyr gefunden zu haben. Marlianus, der in der von mir ausgewerteten Literatur nie zitiert wird – auch ist nur die eine Seite des Humanistenbriefwechsels überliefert –, darf damit als eine „verborgene“ Quelle zur Jugend Karls V. betrachtet werden. Aus den hier verwendeten Materialien läßt sich dennoch einiges zur Vita dieses wichtigen Korrespondenten des Petrus Martyr erschließen, das nicht nur seiner Persönlichkeit Profil verleiht, sondern daneben Einblick in das Netzwerk gewährt, das die Humanisten untereinander und mit den Höfen verband.62 59 Petrus Martyr, epist. 580 (p. 562 W., 9.12.1516). 60 Noch nach dem Regierungsantritt Karls, als sich die Spanier in ihrem Mißtrauen gegenüber den burgundischen Beratern bestätigt fühlten, bat Petrus Martyr den Freund, seinen Einfluß auf den König geltend zu machen (epist. 612 [p. 576 W., 7.3.1518]): Consule igitur tu, qui bonus es, & regem observas, uti decet, ut multorum regnorum & bellicarum gentium se regem esse meminerit, ut ab avaris & ambitiosis consiliis caveat [...]. 61 Brandi 1941, 16 m. Anm. 4 (zu Kritikern des Briefwerkes). 62 Sehr knapp zu Marlianus: Krendl 1986.

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Marlianus stammte aus Mailand, war also Lombarde wie Petrus Martyr, der in Arona am Lago Maggiore geboren wurde. Die landsmannschaftliche, wenn anfangs auch lose Verbundenheit zweier Italiener im Ausland kommt bei Petrus Martyr mehrfach zum Ausdruck: So richtet er 1508 einen Brief an Aloisius Marlianus Philosophus vatesque aegregius concivis und erwähnt ausdrücklich in diesem Schreiben die gemeinsame Heimat: ex ducatu Mediolani utrique nostrum patria.63 Anders als Petrus Martyr, der aus eigenem Entschluß nach Spanien gegangen und in die Dienste des Hofes der Königin Isabella getreten war, hatte Marlianus der Fall Mailands an die Franzosen, vermutlich also im Jahr 1500, zum Leben im Exil zunächst in Spanien, dann in den Niederlanden gezwungen. Sein gesamter Besitz war von den neuen Herren Mailands konfisziert worden: egisti hactenus vitam exul, extorris, inops, ob Gallorum inexhaustam imperii cupiditatem.64 In Spanien erlangte er sowohl als Leibarzt wie als Ratgeber Philipps des Schönen eine besondere Vertrauensstellung.65 Philipp bemühte sich mehrfach, wenn auch ohne Erfolg, in persönlichen Briefen und über seinen Gesandten Jean de Courteville um die Rückgabe der Mailänder Besitzungen an seinen hochgeschätzten Arzt. Obwohl die Restitution der Güter von Ludwig XII. persönlich versprochen und die Zusicherung von Kardinal d’Amboise auf dem Tag von Hagenau erneuert worden war, konnte der französische König sich nicht dazu entschließen, da Marlianus zu den entschiedendsten Gegnern der neuen Machthaber in Mailand gehört hatte.66 Während der letzten Erkrankung Philipps, die von den übrigen Ärzten zunächst nicht ernst genommen wurde, gestand Marlianus dem Freund seine Befürchtung, daß die ergriffenen Maßnahmen dem Kranken mehr schaden als ihm Heilung bringen würden. Obwohl auch Marlianus den König nicht retten konnte, lobt ihn Petrus Martyr als eine Leuchte der Wissenschaften und betont ausdrücklich seine freundschaftliche Verbundenheit mit dem Landsmann.67 Nach dem Tode Philipps hat sich Marlianus, wie die meisten Anhänger Philipps, vermutlich bald in die Niederlande begeben.68 Am 1. März 1508 kann 63 Petrus Martyr, epist. 381 (p. 467–468 W., 1.3.1508). 64 Petrus Martyr, epist. 573 (p. 559–560 W., an Marliano, 31.7.1516). 65 Petrus Martyr, epist. 312 (p. 446 W., 21.9.1506): a Loysius [!] Marlianus Philippi & fidus medicus, & prudens consiliarius. 66 Le Glay 1845, 1, 150–152 Nr. 40 (Philipp von Kastilien an Kardinal d’Amboise, 30.6.1506). 41 (Courteville an den König von Kastilien, 2.7.1506). 67 Coeteri medici parvi faciunt eius egritudinem, at eximius Mar[i]lianus, qui est inter Philosophos, & Medicos lucida lampas, qui & Philippi arcana novit radicitus, se vereri ne curae Philippo noceant, mihi professus est. Sum namque illi (quia & ipse Mediolanensis) amicitia devinctus (wie Anm. 65). 68 In einem kurzen Schreiben beklagt sich Petrus Martyr, daß Marlianus ohne Abschied aus Torquemada verschwunden sei und Briefe unbeantwortet lasse (epist. 360 [p. 462 W.,

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Petrus Martyr dann dem Freund seine Glückwünsche aussprechen: der Arzt ist an den Hof Karls berufen worden, womit Margarete schließlich dem Wunsch ihres verstorbenen Bruders noch Geltung verschafft hatte: Calesii te freti procellosas rupes & Belgicas quas vocant Bancos, Sirtes Flandriae evasisse scribis. Margaritam rerum Caroli principis Infantis administratricem, adiisse inquis. Letamur qui tibi bene cupimus, quia praesertim dicis eundem te locum apud eam Carolumque principem retenturum, quem Philippo vivente fueras assecutus.69

In diesen Zusammenhang gehört eine minute Margaretes, in der sie den Vater bittet, der Einstellung eines von Massimiliano Sforza empfohlenen italienischen Arztes zuzustimmen, da der bisherige Leibarzt der Kinder, maistre Nycolas, aus Alters- und Krankheitsgründen seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen könne.70 Ludovicus-Aloysius Marlianus ist identisch mit maistre Loys Marlyen, médecin de nostre filz, l’archiduc Charles, dessen Sohn auf Maximilians ausdrücklichen Wunsch 1511 unter die gentilz hommes Karls aufgenommen wurde und die Erziehung des Prinzen teilte.71 Maistre Loys gehörte dann zu den Ärzten, die Karl behandelten, als er an einem hartnäckigen Fieber erkrankte, das er sich als Folge allzu ausgiebigen Feierns bei der Hochzeit seiner Schwester Isabella zugezogen hatte.72 Nach seiner Emanzipation mochte Karl auf seinen Leibarzt nicht verzichten. Als Zeichen seiner Wertschätzung erhob er Marlianus 1516 zum Bischof von Tuy, einer traditionsreichen Stadt im Nordwesten Spaniens. Die Ernennung Marlianos erfolgte zum gleichen Zeitpunkt wie die Adrians von Utrecht zum Bischof von Tortosa.73 Politische Überlegungen mögen dabei durchaus eine Rolle gespielt haben, brachte Karl doch auf diese Weise zwei Männer seines Vertrauens in Positionen, in denen sie ihn bei der Absicherung seiner Herrschaft in Spanien unterstützen konnten. Petrus Martyr, der früh von der Ernennung des Freundes erfahren haben muß, spricht die einschneidenden Veränderungen an, die das Bischofsamt für das Privatleben Marlianos zur Folge hat: Er muß sich von seiner Ehefrau, der Mutter seiner Söhne, trennen. Für Marlianus, der sich nicht wie Petrus Martyr von Jugend an für die geistliche Laufbahn entschieden hat, beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt, von dessen Bedeutung sein väterlicher Freund ihn zu überzeugen versucht: Mundo satur ex legitima uxore liberos elegantes, patri similes effigie, spero & virtutibus, procreasti. Nunc ut mundo fruaris alio, priore saeculari amissa uxore, senio properante,

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26.8.1507]). Petrus Martyr, epist. 381 (p. 467 W., 1.3.1508). Le Glay 1839, 1, 467 Nr. 382 (1511; Walther: 1508). Le Glay 1839, 1, 436 f. Nr. 330 (21.10.1511). Vgl. oben 202. Le Glay 1839, 2, 260 f. Nr. 573 (Juni 1514). Vgl. oben 118 Anm. 322. Petrus Martyr, epist. 576 (p. 560 W., 17.8.1516).

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novam duxisti sponsam: prosit Marliane. Sed mutuo sumptae amicae loco, is tibi datus est episcopatus tenuis, dabitur prope diem pinguior in legitimam coniugem, quandoquidem regi tanto, tam carus es, & iuremerito cito transilies. [...] Prosit igitur natisque tuis, qui me avum appellant, quia tu patrem, favor iste regius.74

Auf der ersten Spanienreise Karls begleitete ihn maistre Loys, médecin und gehörte zu der kleinen Schar Auserwählter, die auf dem Schiff des Königs reisen durfte, was im Falle des Leibarztes gewiß nicht nur als Privileg zu verstehen war.75 Eine kleine Passage im Reisebericht des Laurent Vital scheint zunächst in keinerlei Bezug zu Marliano zu stehen: [...] et affin que de jour le basteau du Roy fust cognut des aultres, portoit sur la hune deux bannières carrées, et en ses voilles plusieurs belles painctures et dévotes représentations, se comme à son grant voille il y avoit painct la remembrance de Nostre-Seigneur pendant en croix, entre l’image de la vierge Marie et de sainct Jan l’Évangeliste, le tout entre les deux coulonnes de Hercules que le Roy porte en sa devise avec son mot, qui est Plus oultre, escripte en rolleaux qui accolloient lesdictes coulonnes [...]76

Zeitgenössische Quellen bezeugen jedoch, daß das neue Motto des jungen Königs, das berühmte plus oultre, welches das nondvm des noch unmündigen Prinzen nach dessen Emanzipation ersetzte, von Marlianus ersonnen wurde und daß auch die graphische Umsetzung auf ihn zurückgeht.77 E. Rosenthal ist von der Urheberschaft Marlianos überzeugt78 und geht davon aus, daß die neue Devise erst74 75 76 77

Petrus Martyr, epist. 573 (p. 559–560 W., 31.7.1516). Voyages III 47 (Laurent Vital, Premier voyage). Ebd. 57. Die französische Fassung ist die älteste, für den Souverän des burgundischen Vlies-Ordens in „burgundischer“ Sprache formuliert. Die bekanntere lateinische Übersetzung zu plvs vltra erfolgte in der zweiten Hälfte des Jahres 1517 für den Gebrauch in Spanien und „darüber hinaus“ – Ausdruck eines Anspruchs auf eine monarchia universalis, verkündet in der Weltsprache Latein? S. dazu auch Rosenthal 1973, 205. Nach Petrus Martyr, epist. 610 (p. 575–576 W., 19.2.1518), der in diesem Falle wohl als Augenzeuge aus Valladolid berichtet, ist Karl dort bei einem Turnier noch unter der Devise nondvm angetreten: Regem ipsum fuit pulcherrimum videre incursitatem, a planta pedum ad verticem armatum. uti convenit in exercitatione tali, totus albo coopertus prodiit, clipeumque rasum candidum hoc tantum adagio inscriptum attulit: nondvm, inferre volens: se nihil adhuc praeclarum gessisse. – Darstellungen Karls, auf denen das Motto in der deutschen Übersetzung „Noch weiter“ erscheint, sind sehr selten. Vermutlich von Hans Weidnitz stammt ein entsprechender Holzschnitt aus den Jahren 1518/19, abgebildet bei Soly (Hg.) 2000, 119. Der Zeitpunkt der Entstehung des Bildes und die deutsche Inschrift lassen einen Zusammenhang mit der Wahl zum Römischen König und der damit verbundenen Ausdehnung der Herrschaft auf das Reich vermuten. 78 Rosenthal hat in zwei Aufsätzen (1971; 1973) seine sehr detaillierten und ausführlich annotierten Forschungsergebnisse zur Entstehungsgeschichte, zur Deutung und zu den verschiedenen Formen der medialen Umsetzung der Devise Karls vorgelegt. Im jünge-

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mals zur Schau gestellt wurde, als Karl Ende Oktober 1516, nunmehr mündig, als Chef und Souverän dem 18. Kapitel des Ordens vom Goldenen Vlies, dem ersten unter seiner Leitung, in Brüssel präsidierte. Rosenthal sieht in der Bischofserhebung Marlianos auch ein Zeichen der Würdigung seiner Verdienste um die repräsentative Darstellung des Herrschaftsanspruchs seines jungen Königs. Nach der Rückkehr Marlianos nach Spanien setzte sich der vertrauensvolle briefliche Gedanken- und Informationsaustausch mit Petrus Martyr fort, wobei letzterer seine väterliche Zuneigung auch auf die Söhne des Bischofs von Tuy ausdehnte, die ihn avus nannten und deren Besuch ihm offensichtlich Freude bereitet hatte: sonst hätte er seinen Brief vom 7. März 1518 wohl kaum gerichtet an Ludovic(us) Marlian(us) Episcop(us) Tudetensi(s), cuius filii pransuri erant apud autorem, quem Marlianus patrem semper appellat.79 1520 begleitete Marlianus Karl auf seiner Krönungsreise nach Aachen. Auch aus diesem Jahr sind zahlreiche Briefe überliefert, von denen eine Reihe an den Großkanzler Gattinara und Marliano gemeinsam adressiert ist. Er korrespondierte daneben auch mit Erasmus von Rotterdam, der ebenfalls zu den Räten Karls zählte, wenn er sich auch nicht an den Hof binden ließ: ein Rat honoris causa gewissermaßen. Weitere Recherchen könnten zweifellos die Beziehungen zu anderen Humanisten offenlegen. Die Humanistenfreundschaft, die Petrus Martyr mit Adrian von Utrecht und Mercurino Gattinara verband, sollte hier nicht unerwähnt bleiben. So war Karl V., selbst alles andere als ein humanistischer Gelehrter, von diesem Netzwerk umgeben, das den geistigen und politischen Hintergrund seiner Jugendzeit mitbestimmte und u.a. auch dem Kommunikationsfluß diente.

2.2. Der junge Herrscher Um 1516, als die gemalten Porträts des jungen Herrschers seltener werden – die Gründe dafür sind leicht in seiner Reisetätigkeit wie auch seiner Trennung vom künstlerischen Kreis des Mechelner Hofes zu sehen –, nehmen die schriftlichen Zeugnisse, die das Bild Karls vermitteln, an Zahl zu. Schon 1516/17, als er sich rüstete, das spanische Erbe anzutreten, nahmen vor allem Diplomaten noch vor seiner Abreise am 8. September 1517 die Gelegenheit wahr, ihre Eindrücke von der äußeren Erscheinung und dem Auftreten des jungen Königs festzuhalten, der nun, aus der Zurückgezogenheit des Keyzerhofs herausgetreten, häufiger öffentlich

ren der beiden Beiträge auch weitere Informationen zur Person Marlianos und zu seiner Bedeutung als humanistischer Gelehrter, die weit über das hinausgehen, was die Thematik meiner Untersuchung betrifft. 79 Petrus Martyr, epist. 612 (p. 576 W., 7.3.1518).

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sichtbar wurde.80 Mit einigen dieser Impressionen soll das Bild des jungen Karl hier ergänzt werden. Giovanni Badoer faßt in wenigen Worten zusammen, wie eine päpstliche Gesandtschaft den König erlebt hatte: Non parla mai, tien siempre la bocca aperta, et fa segno a uno parlar per lui.81 Im gleichen Tenor berichtet Marco Minio, venezianischer Gesandter in Rom, dem Senat am 16. September 1517 von den Begegnungen der Venezianer mit Karl: Des personnes qui ont approché le roi disent qu’il n’est propre à rien, qu’il est gouverné par d’autres. Elles ont été trois fois en sa présence et ne lui ont pas entendu prononcer un mot. Toutes les affaires sont conduites par ses conseillers, dont le chef est M. de Chièvres, qui dirige tout.82 Es ist ebenfalls Minio, der am 10. Mai 1518 das geradezu vernichtende Urteil wiedergibt, das er von venezianischen Beobachtern in Spanien übernommen hat: Des lettres d’Espagne rapportent que le roi est réputé nul.83 Stärker noch auf die äußere Erscheinung Karls konzentrierte sich Antonio de Beatis, der den Kardinal Luigi d’Aragona in die Niederlande begleitete und den jungen Katholischen König während der Vorbereitungen des immer wieder verschobenen Aufbruchs nach Spanien beobachten konnte: Le roi catholique me parut très jeune. Bien qu’il ait le visage allongé et maigre, qu’il ait habituellement la bouche ouverte, quand il ne s’observe pas, et la lèvre inférieure toujours pendante, toutefois il montre dans sa figure de la dignité, de la gràce et une très grande majesté.84 Vielleicht waren es diese Würde und das majestätische Auftreten, die der Haltung des siebzehnjährigen Fürsten etwas unnatürlich Starres verliehen, das im Widerspruch zu seiner Jugend stand und das Maximilian I., der seinen Enkel längere Zeit nicht gesehen hatte, bei einem Zusammentreffen in den Niederlanden zu der Äußerung veranlaßte, Karl sei „unbeweglich wie ein Idol“.85

80 Dazu auch Burke 2000, 408 mit dem Hinweis, daß die besonderen physischen Merkmale Karls nicht nur häufig Anlaß für „wenig schmeichelhafte Bemerkungen waren“, sondern sich ebenso als sichtbarer Ausdruck von Herrscherqualitäten deuten ließen: Paolo Giovio sah in der markanten Nase Karls Zeichen von Großmut und Milde; der venezianische Gesandte Federico Badoer deutete die hohe Stirn und die hellblauen Augen als Zeichen hoher Intelligenz und großer geistiger Kraft. Giovio greift dabei nach eigenem Bekunden auf antike Deutungsmuster zurück. 81 Zit. bei Gossart 1910, 62 Anm. 2 (nach einem Brief Badoers vom 23. Oktober 1516). 82 Ebd. 62 f. Anm. 2. 83 Ebd. 63 Anm. 1. 84 Ebd. 62 Anm. 1. Zweck der Reise des Kardinals war es u.a., dem jungen Guillaume de Croy den Kardinalshut zu überbringen. Vgl. oben 241 Anm. 251. 85 Dieser Ausspruch des Kaisers begegnet häufiger in der Literatur, so bei Walther 1911, 204 (nach einem Brief des englischen Gesandten Christopher Tunstal).

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Ebenfalls auf das Jahr 1517 geht der Bericht des venezianischen Gesandten Francesco Corner zurück,86 der Karl erstmals während einer Audienz am 20. November in Valladolid gegenüberstand: Parmi ben conveniente, Serenissimo Principe, referir a questo Excellentissimo Senato quelle cose che le possano esser de alcun fructo, dechiarandoli la natura di questo Serenissimo Imperador [...] Questo è di mediocre statura, di color bianco, ben proportionato, non molto grosso, ma per la persona sua molto ben formato; non bruto di facia, ma el tien de continuo la boca aperta che li disconza asai, anchorchè ’l prozieda per heredità sì paterna, come materna; et se per tal heredità ha ’uto tanti beni di fortuna, non se dia sdegnar haver etiam havuto questo poco di disconzo ne la boca; il che solum prozede per debilità de la masella. È di natura molto cataroso, tal che ’l convien prender l’anelito per la bocha essendo quasi di continuo restretto per la narize; ha la lengua curta et grossa, che è causa di farlo parlar molto grosso et non senza fatica. Naturalmente Sua Maestà parla poco, anchorchè dicono che fra li soi familiari el parli molto più; però in le audientie et tractamenti, sì publici come secreti, Sua Maestà fa risponder al Gran canzelier, over per qualche uno del Conseglio che se ritrova presente a dite audientie [...].87

Durch seinen relativ langen Aufenthalt am spanischen Hof erhielt Corner auch Einblick in die weniger öffentlichen, fast privaten Bereiche des königlichen Alltags: Sua Maestà [...] se dilecta di giostrar, zuogar a canne, zugar a balla, non però molto aficionato ad alcuna di queste, anchor che dicono più presto è inclinato a le arme che ad alcuna altra cosa. [...] A le fiate zuoga a carte e dadi fra li soi familiari. Non è molto venereo, et credese fin qui el non habbia conosuto alcuna dona carnalmente, [...] pur la comune opinione è tale, et questo ge lo atribuiscano per cosa hereditaria di la caxa di Borgogna, che la prima dona che conoscono effectualmente è la moglie.88

Das Bild, das Gasparo Contarini 1525 von dem jungen Kaiser entwirft,89 ist gewissermaßen das letzte „Jugendbildnis“ Karls und soll daher den Komplex der literarischen Porträts hier abrunden. Contarini wohnte vermutlich 1520 den Krönungsfeierlichkeiten in Aachen bei und folgte dem König bei dessen Rückkehr nach Spanien. Dort hatte der Venezianer über zwei Jahre Gelegenheit, Karl in unterschiedlichen Situationen und Stimmungen kennenzulernen, so daß sich seine Schilderung der Persönlichkeit nicht auf reine Äußerlichkeiten beschränkt, die allerdings den Ausgangspunkt seiner Darstellung bilden: 86 Francesco Corner war von 1517–1521 venezianischer Gesandter beim König von Spanien und später beim Kaiser. Seinen Rechenschaftsbericht vor dem Senat und dem Dogen von Venedig gab er am 6. Juni 1521 ab, zu einem Zeitpunkt also, als Karl bereits Erwählter Römischer Kaiser war. 87 Firpo 1970, 324 f. 88 Ebd. 325. 89 Die Relazione al Senato des Gasparo Contarini wurde bereits unter anderem Aspekt ausgewertet; s. oben 280 m. Anm. 382.

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È di statura mediocre, non molto grande, nè piccolo, bianco, di colore più presto pallido che rubicondo, del corpo ben proporzionato, bellissima gamba, buon braccio, il naso un poco aquilino, ma poco, gli occhi avari, l’aspetto grave, non però crudele nè severo, nè in lui altra parte del corpo si può incolpare, ecetto il mento, anzi tutta la mascella inferiore, la quale è tanto larga, e tanto lunga, che non pare naturale di quel corpo, ma pare posticcia, onde avviene che non può, chiudendo la bocca, congiungere le denti inferiori con li superiori, ma gli rimane spazio della grossezza d’un dente, onde nel parlare, massime nel finire della clausula, balbutisce qualche parola, la quale spesso non s’intende molto bene. Nelle armi in giostra, e a giochi di canne alla leggiera è così destro, quanto altro cavaliere che sia in sua corte. È di complessione in radice melanconica, mista però con sangue, onde ha eziando natura corrispondente alla complessione.90

Karls äußerste Zurückhaltung bei der Offenlegung seiner politischen Absichten deutet Contarini mit einem Satz an: io non saprei affermare nè una cosa, nè altra, perchè sua maestà è di natura molto riserbata nel parlare.91 Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß es hier in erster Linie um das künftige Verhältnis des Kaisers zu Frankreich ging, eine Frage, an der der Senat der Serenissima lebenswichtiges Interesse hatte: Contarini erstattete am 16. November 1525 Bericht; am 24. Februar waren die Franzosen von den Kaiserlichen bei Pavia vernichtend geschlagen worden, und der Allerchristlichste König befand sich in spanischer Gefangenschaft. Die generelle Reserviertheit des Kaisers und seine Neigung zur Melancholie, wenn er denn überhaupt Gemütsbewegungen erkennen läßt, spricht Contarini wenige Zeilen später nochmals an: Aveva pretermesso, dicendo di sopra della natura di sua maestà, d’aggiungere quest’altra condizione, che Cesare è di poche parole e di natura molto modesta; non si eleva molto nelle cose prospere, nè si deprime nelle avverse. Vero è che più sente la tristizia, che l’allegrezza, giusta la qualità della natura sua, la quale ho detto di sopra essere malinconica.92

Vergleicht man die Äußerungen zur Persönlichkeit Karls, die aus einem Zeitraum von etwa zehn Jahren stammen, so kristallisieren sich drei Gesichtspunkte heraus, auf die sich die Beobachter konzentriert haben: 1. Die unharmonischen Gesichtszüge des Königs, wobei die abnorme Ausbildung des Mund- und Kieferbereichs mit ihren Folgen für das Artikulationsvermögen mehrfach in geradezu drastischer Weise beschrieben wird. Das oben besprochene offizielle Porträt von 1515/16 kann demnach nur geschönt sein: Ohne die charakteristischen Züge völlig auszulöschen, zeigt es den Prinzen so, wie man in Burgund wünschte, daß er gesehen werden sollte. Den gutpropor-

90 Firpo 1970, 60 f. 91 Ebd. 61. 92 Ebd. 62.

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tionierten Körperbau des dann „ausgewachsenen“ jungen Monarchen heben die beiden zuletzt zitierten Venezianer besonders hervor. 2. Die auffallenden Schwierigkeiten, die Karl beim Sprechen vor allem bei offiziellen Anlässen hatte, und die ihn besonders im Urteil etlicher wortgewandter Diplomaten als einfältig erscheinen ließen, als eine nullité, die völlig auf die Einflüsterungen der Berater angewiesen war. Corner und Contarini haben als erste auf die Zusammenhänge zwischen den sprachlichen Hemmungen und den anatomischen Anomalien hingewiesen. – Auf die mangelhaften Sprachkenntnisse, die immer wieder Rückfragen und die Hilfe von Übersetzern erforderlich machten, wurde bereits ausführlich eingegangen. Daß Karl sich u.U. erst mit seinen conseillers beriet, bevor er auf heikle Fragen antwortete, erscheint angesichts seiner Jugend und Unerfahrenheit eher als ein Zeichen von Klugheit (prudence), denn von Einfalt. Im Bericht Contarinis ist erstmals nicht mehr von dieser ständigen Rückkoppelung an die Berater die Rede: Karl beginnt, wenn auch sehr zurückhaltend, eigene Auffassungen und Entschlüsse zu formulieren, er ist nicht mehr der Croit-conseil der ersten Jahre. 3. Die Würde und das majestätische Auftreten, die schon den Heranwachsenden auszeichneten und selbst äußerst kritischen Beobachtern Respekt abnötigten: Sie waren einerseits Ergebnis seiner Erziehung, entsprachen aber andererseits auch seinem ernsthaften Wesen und seiner Achtung vor der Würde und Verantwortung, die er den Ämtern schuldig war, die ihm auf Zeit anvertraut waren. Ohne daß es ihm wohl in jungen Jahren bewußt war, bestand zweifellos eine innere Beziehung zwischen seinen religiösen Überzeugungen wie auch seinem dynastischen Denken und der Haltung, mit der er seine Ämter vertrat. Die Gleichförmigkeit, mit der sich in den Berichten bestimmte Äußerungen zur Persönlichkeit Karls über ein Jahrzehnt wiederholen, läßt nur den Schluß zu, daß der König sich in dieser Zeit in der Tat kaum veränderte, in einem Lebensabschnitt also, in dem junge Menschen sich im Äußeren und im Verhalten oft so stark wandeln, daß man sie kaum wiederzuerkennen glaubt. Bei Karl setzte dieser Prozeß mit erheblicher Verzögerung ein: die ersten Anzeichen dafür deckt Contarini auf. So darf man den jungen Monarchen durchaus als Spätentwickler bezeichnen. Es ist gelegentlich gesagt worden, daß erst der gekrönte Kaiser sich wirklich emanzipierte. Als äußeres Zeichen für die erlangte innere Selbständigkeit ist die Tatsache anzusehen, daß der eben gekrönte Kaiser nach dem Tode Gattinaras (1530) das Amt des Großkanzlers nicht wieder besetzte.93 93 Als Beweis für das Erwachsenwerden des Kaisers um 1530 kann man die Relazione des Niccolò Tiepolo von 1532 heranziehen, der frühere Urteile über den Monarchen, auch sein eigenes, revidieren muß (Firpo 1970, 63 f.): Niuno però di questi consiglieri è ora di tanta autorità che non parli con l’imperatore sempre con gran rispetto nelle cose sue, perchè sua maestà non si rimette ad altri in cosa alcuna. [...] Ode in tutte la opinione e consiglio dei

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Ein nicht unwesentlicher Aspekt, zu dem sich einige Hinweise in den Berichten der Zeitgenossen finden, ist hier bisher unberücksichtigt geblieben: die z.T. widersprüchlichen und aus medizinischer Sicht wenig exakten Angaben zum Gesundheitszustand des jungen Karl. In der biographischen Literatur liest man häufiger von der zarten Gesundheit des Prinzen, die zu Sorgen Anlaß gab.94 Möglicherweise haben der zierliche Wuchs und die Blässe des Kindes zu diesen Aussagen geführt; in den frühen Quellen ließen sich keine Belege dafür finden. Margarete, die nach den plötzlichen Todesfällen in der jungen Generation mit besonderer Sorgfalt über die Gesundheit der burgundischen Kinder wachte, berichtet dem Vater nach Art der „guten Mutter“ hier und da von kleineren Unpäßlichkeiten Karls; man gewinnt jedoch keineswegs den Eindruck, daß er ein ständig kränkelndes Kind war. Ein Beweis dafür, daß seine Konstitution robuster war, als die zarte Gestalt vermuten ließ, ist die Tatsache, daß er die gar nicht so ungefährliche Masernerkrankung und selbst die Pocken ohne bleibende Folgen überstand.95 Im Mai 1510 konnte Margarete dem Kaiser mitteilen, daß die „gemeinsamen Kinder“ sich bester Gesundheit erfreuten und insbesondere Karl wuchs, gedieh und sich voller Energie den ihm geziemenden Beschäftigungen zuwandte.96 Reiten und Jagen, die ritterlichen Sportarten, die Karl schon als Knabe mit Leidenschaft betrieb, stärkten seine Kräfte, Ausdauer und Gewandtheit, während die Bewegung in frischer Waldluft gleichzeitig seiner Atemnot Erleichterung verschaffte. „Sein Wille beherrschte den zarten Körper“, heißt es bei Brandi,97 wenn er beschreibt, wie Karl sich im Wettstreit mit seinen Ehrenknaben in den ritterlichen Künsten übte und darin erstaunliche Geschicklichkeit erlangte. Zweifellos mußte Karl mehr Willenskraft und Energie aufbringen und härter trainieren als kräftigere

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suoi, in forma però che non l’autorità d’alcuno, ma la ragion sola vaglia con seco; dalla quale solamente mossa, [...] fa le deliberazioni a modo suo, [...] e tanto più lo dimostra quanto sa che s’è tenuto per il passato che fosse governato in tutto da monsignor di Chièvres al tempo suo, e dipoi dal Gattinara gran cancelliere molto ancora da lui amato. Non pareva prima, come si dice, ch’ei fosse stimato di molto intelletto, forse perchè si rimetteva assai a questi che ho detto; ma ora è riputato da tutti, e così l’ho ritrovato io in tutte le azioni sue, molto prudente, sì che si tiene tra i suoi che nessuno sia più sano consiglio che il suo. Vedesi muover sempre con ottimi fondamenti, e cerca di molto giustificatamente procedere in tutte le cose sue, nelle quali quando si ristringe a negoziare con alcuno a cui ne voglia render ragione, la rende tale che a ciascuno convien restarne soddisfatto, perciochè fa conoscere che l’intende molto bene, in esse discorrendo, parlando, e rispondendo con parole brevi, ma così prudenti e gravi e di tanto succo, che fa restar maravigliato ognuno che negozia con lui, che forse avesse stimato prima altrimentri. So u.a. bei Brandi 1964, 39. S. oben 95. Le Glay 1839, 1, 394 Nr. 302 (undat. minute; Walther: 21.5.1510). 1964, 39.

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Altersgenossen, um der glänzende Turnierstreiter zu werden, als der der knapp Achtzehnjährige in Valladolid bewundert wurde. Von Anfang Februar 1515 bis Ende Mai 1516 führten die Inaugurationsreisen den mündig gesprochenen Herzog durch alle niederländischen Provinzen. Man bereitete ihm allerorten joyeuses entrées – das bedeutete stundenlange Einzüge, festliche Darbietungen der Bevölkerung, feierliche Empfänge mit Reden der Honoratioren, die Dankesworte erwarten durften, reiche Diners und Soupers, kurz: ein anstrengendes Programm vom Morgen bis in die Nachtstunden. Pasqualigo muß den Herzog kennengelernt haben, als Karl bereits nach einem halben Jahr von den Strapazen dieser Reise gezeichnet war. Allein die Tatsache, daß ein Fünfzehnjähriger magro al possibile war,98 was bei Knaben in der Adoleszenz nichts Ungewöhnliches ist, hätte den Venezianer wohl kaum veranlaßt, seiner Beschreibung des Herzogs hinzuzufügen: Ses médecins disent qu’il est d’une très faible constitution, et il en a bien l’air.99 Als der spanische Erbfall im Januar 1516 eintrat, war Karl noch völlig in das Programm der Huldigungsreisen eingespannt. Das Drängen der Spanier, besonders des Kardinals Ximénes, auf baldmögliches Erscheinen des Königs in seinen neuen Reichen fand lebhafte Unterstützung bei Maximilian. Karls conseillers hingegen rieten dringend von einem zu frühzeitigen Aufbruch ab, da der Gesundheitszustand des jungen Fürsten sich zu diesem Zeitpunkt derartig verschlechtert hatte, daß ihm die anstrengende Reise und der Klimawechsel nicht zuzumuten waren: Ärzte und Astrologen glaubten damals nicht, daß Karl noch länger als zwei Jahre zu leben habe.100 Obwohl die Ausgangssituation eine andere war, befürchtete man, daß Karl ein ähnliches Schicksal ereilen könnte wie seinen Vater. Am 8. September 1517 lief die königliche Flotte nach mancherlei Verzögerungen von Vlissingen aus und erreichte am 19. die Küste von Asturien, allerdings nicht, wie vorgesehen, bei Santander, sondern zunächst nahe einem kleinen Ort namens Tazones. Karl, der die Seereise bemerkenswert gut überstanden hatte, wie sein Chronist Laurent Vital berichtet, ließ sich mit einer kleinen Schar von Begleitern an der wilden Felsenküste an Land rudern, während die Flotte auf seinen Befehl hin nach Santander weitersegelte. Wie einst 1506 seine Eltern, hatte es Karl in eine der ärmsten, dünnbesiedelten Regionen des Landes verschlagen, wo es größte Schwierigkeiten bereitete, auch nur armselige Quartiere, dürftige Kost und Reittiere für den König und sein Gefolge zu beschaffen. Nach zehn Tagen erreichte die Karawane San Vicente de la Barquéra, wo sie einen angemesseneren 98 Vgl. oben 336 das Zitat aus dem Brief des Pasqualigo v. 19. Juli 1515. 99 Gossart 1910, 61 Anm. 4 (nach dem Brief Pasqualigos). 100 Ebd. 55 nach einem Brief der englischen Diplomaten Worcester, Tunstal und Wingfield an Heinrich VIII. vom 19. April 1517.

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Aufenthalt fand. Der König, der bis dahin allen Strapazen widerstanden und sich an den bescheidenen Empfängen durch die Bevölkerung erfreut hatte, erkrankte in San Vicente so schwer, daß die Reise erst am 12. Oktober fortgesetzt werden konnte.101 Wohl am 18. November erreichte man Valladolid,102 nachdem Karl und seine Schwester Eleonore auf dem Wege dorthin sich für eine Woche in Tordesillas aufgehalten hatten, wo sie nach elf Jahren ihre Mutter wiedersahen und zum ersten Mal ihrer zehnjährigen Schwester Katharina begegneten. Karl muß sich zu diesem Zeitpunkt von seiner Erkrankung gut, ja sogar glänzend erholt gehabt haben. Der prachtvolle Einzug in Valladolid, die tagelangen Festlichkeiten, mit denen Kastilien seinen König begrüßte, die Volksmenge, die zusammengeströmt war, ihn zu sehen, haben sein Befinden der Überlieferung nach nicht beeinträchtigt.103 Bei den zahlreichen Turnieren, die zu Ehren des neuen Herrschers ausgetragen wurden, blieb Karl nicht nur Zuschauer.104 Den Eindruck, den er als ritterlicher Streiter hinterließ, faßt Gossart nach den Quellen knapp zusammen: „L’agilité qu’il montrait dans ces exercices contrastait avec son aspect délicat et tout l’ensemble de sa personne, qui indiquait plutôt une santé chétive.“105 Bis in das Frühjahr 1518 setzten sich die Schaukämpfe unter großer Prachtentfaltung fort, noch am 14. März wurde eine justa real unter Beteiligung des Königs veranstaltet. Es war diese Anfangsphase, die Pirenne zu dem oben zitierten Vergleich mit einer „vaste et joyeuse kermesse“ veranlaßte.106 Währenddessen aber mußten die Regierungsgeschäfte aufgenommen werden, denn die wachsende Ungeduld der Spanier duldete keinen weiteren Aufschub. Mochte auch Chièvres einen erheblichen Teil der erforderlichen Verhandlungen führen und die große Linie der Politik bestimmen, so blieb doch eine Unzahl von Aufgaben, die Karl persönlich wahrnehmen mußte, an denen seine Beteiligung unverzichtbar war: Für den 4. Januar 1518 hatte er die Cortes von Kastilien nach Valladolid einberufen; in langwierigen Verhandlungen mit den Procuradores mußten alle Details geklärt werden, die die Grundlage des Eides bildeten, den Karl ablegen mußte. Eine der schwierigsten Fragen betraf die gemeinsame Herrschaftsausübung des 101 Voyages III 120–123. 102 Das Einzugsdatum wird verschieden angegeben: Corner (Firpo 1970, 323) nennt den 8. November, das Itinerar Karls den 23. November (Voyages II 22). Gossart 1910, 59 übernimmt den 18. November möglicherweise aus Sandoval 121. 103 Der festliche Empfang und die anschließenden Turniere sind von den Chronisten ausführlich beschrieben worden, u.a. von Sandoval, Historia, 120–122; 133. Auch auf den Venezianer Corner machte Karl als Turnierteilnehmer so viel Eindruck, daß er es in seiner Relazione erwähnt (Firpo 1970, 323). 104 Vgl. oben 200 f. 105 Gossart 1910, 61. 106 Vgl. oben 296 Anm. 434.

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Königs mit seiner Mutter, der rechtmäßigen Königin, und die Entscheidung über den Titel, den Karl führen sollte.107 Unklar war ferner trotz der Verfügung Ferdinands von Aragon, wie sich im Einzelnen die Zukunft des Infanten gestalten sollte, des fremden Bruders, dem der Ältere erst in Spanien begegnet war und der im Lande über eine beträchtliche Anhängerschaft verfügte.108 Die Anerkennung der Herrschaft über Aragon stand noch aus. Anfang April 1518 brach Karl mit großem Gefolge nach Zaragoza auf, wo man ihn zwar wohlwollend und festlich empfing, sich bei den Verhandlungen aber nicht weniger hartnäckig und streitbar zeigte als zu Zeiten Juanas und Philipps. Acht Monate vergingen, bis man sich geeinigt hatte und Karl seinen Eid auch für die Krone von Aragon leisten konnte. Die Last, die der junge König selbst zu tragen hatte, war schwer, wie es auch Sandoval für die Anfänge seiner Regierung in Spanien einräumt: Era el rey, en estos días, de diez y siete años y medio, poco más. Edad bien tierna para carga tan grave como era el gobierno de tantos reinos y señoríos; señaladamente los de España, cuyas leyes y costumbres no podía haber entendido, así por su poco edad como por haber nacido y criádose fuera de ellos, que aún la lengua española no la entendía del todo, ni tenía entera noticia de las calidades y condiciones de las gentes. [...]109

So wundert es nicht, daß Karl unter der Dauerbelastung zusammenbrach: Das Erschreckende daran war für seine Umgebung, daß es sich um epileptische Anfälle zu handeln schien, deren Opfer er in aller Öffentlichkeit wurde. Gossart berichtet dazu: „Il était sujet à des syncopes dont le caractère épileptique ne parait pas douteux. En Espagne, il eut deux de ces attaques en public, l’une à la fin de l’année 1518, en jouant à la paume, l’autre, au commencement de 1519, à Saragosse. La seconde eut lieu pendant qu’il entendait la grand’ messe, où se trouvait beaucoup de monde.“110

Für die erste der hier erwähnten Attacken nennt der Biograph seine Quelle nicht. Über den zweiten Anfall gibt es die Mitteilungen von zwei Augenzeugen. Der französische Gesandte La Roche-Beaucourt schrieb am 8. Januar 1519 aus Zaragoza: Jeudi derrenier [am Dreikönigstag] en oyant la grant messe, présents beaucoup de gens, il tomba par terre estant de genoulx et demeura, cuydant qu’il feust mort, l’espace de plus de deux heures, sans pousser, et avoit le visage tout tourné, et fut emporté en sa chambre.111 107 Sandoval 123–132 geht auf die Verhandlungen und die Bedingungen, deren Einhaltung der König beschwören mußte, in aller Ausführlichkeit ein. 108 Der Infant schiffte sich in der Woche nach Pfingsten 1518, wohl am 26. Mai, von Santander aus nach Flandern ein. Er sollte sein Geburtsland nie wiedersehen. 109 Sandoval 121 f. 110 Gossart 1910, 61. 111 Zit. nach Juste 1858, 117 Anm. 1.

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Petrus Martyr muß der Vorfall, den er selbst miterlebte, eher peinlich gewesen sein; seine knappe Darstellung weicht zudem stark von der des Franzosen ab: Unum advertite quid fuit universae curiae molestum: dum divinam rem Rex audiret in Cortinis, decidit exanimis, ilico tamen rediit. Demnach fiel Karl während der Messe ohnmächtig zu Boden, kam aber sogleich wieder zur Besinnung. Es war unvermeidlich, daß die Anwesenden über die Ursache dieses Anfalls spekulierten. Während manche in einem allzu üppigen Mahl am Vorabend die natürliche Ursache sahen, glaubten andere, daß der Schwindelanfall auf ein ausschweifendes Liebesleben zurückgehen könnte, das, wie manche zu wissen glaubten, schon zu Philipps des Schönen frühzeitigem Tod geführt hatte: Ex non temperata coena praecedenti partim id accidisse aliqui praedicant, non desunt qui putent eam cerebri vertiginem a Venere prodisse, hac enim intemperie Philippus Rex pater eius obiisse creditur a prudentibus [...]112

Es war unvermeidlich, daß sich die Nachricht von dem Zwischenfall, der sich coram publico ereignet hatte, verbreitete, denn aller Augen waren auf den jungen König gerichtet gewesen, über den man so wenig wußte. Gestatteten seine Räte vielleicht wegen dieser Anfälle nur selten Zutritt zum Monarchen? Hatte er eine krankhafte Veranlagung von seiner Mutter geerbt? Derartige Überlegungen wurden mit Sicherheit vielfach angestellt, und insofern ist es widersinnig, wenn Baumgarten schreibt: „Nach Venedig kommt die im tiefsten Geheimnis bewahrte Nachricht, der katholische König sei von der Epilepsie befallen [...]“.113 Es hätte allerdings schwerwiegende Folgen nicht nur für Spanien, sondern darüber hinaus für das politische Gefüge und den weiteren Verlauf der Geschichte Europas gehabt, wenn Karl, der nach den zahlreichen „dynastischen Zufällen“ eben das Erbe der Großeltern angetreten hatte, Epileptiker und damit genauso regierungsunfähig gewesen wäre wie seine Mutter. Er war es nicht. Eine kritische Bewertung der beiden Augenzeugenberichte und die Kenntnis der weiteren Entwicklung lassen kein anderes Urteil zu. La Roche-Beaucourt faßte seinen Bericht, wie nicht anders zu erwarten, ganz im Sinne seines Königs ab. Franz I. hatte seit langem seine Bewerbung um die Nachfolge Maximilians als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vorbereitet. Man wußte, daß die Kräfte des großen Habsburgers nachließen, wenn auch nicht abzusehen war, daß er bereits am 12. Januar 1519 sterben würde. Der einzige ernstzunehmende Konkurrent des Allerchristlichen Königs bei der Kaiserwahl war Karl. Nichts hätte besser in die Pläne Franz I. gepaßt, als wenn dieser Rivale durch natürliche Hindernisse ausgeschaltet worden wäre. Juste

112 Beide Zitate: Petrus Martyr, epist. 634 (p. 586 W., 12.1.1519). 113 Baumgarten 1885, 106.

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scheut sich nicht, diesen Gedanken auszusprechen und mit dem Geschehen von Zaragoza zu verknüpfen: „Peut-être le roi de France espérait-il aussi qu’un de ces violents accès nerveux, auxquels Charles était alors sujet, le débarrasserait de son jeune rival. Il apprenait, à cette époque même, que le Roi Catholique, en entendant la messe à Saragosse, avait été comme foudroyé par une attaque qui l’avait renversé sans connaissance au milieu de sa cour.“114

Dem französischen König konnte also eine Verbreitung des Gerüchts nur recht sein, da damit seine Chancen wuchsen, die Wahl für sich zu entscheiden. Petrus Martyr hingegen, obwohl peinlich berührt, sucht nach natürlichen Ursachen für den Ohnmachtsanfall und möchte verhindern, daß das Ansehen des Königs Schaden nimmt. An natürlichen Ursachen fehlte es wahrlich nicht: Hält man sich vor Augen, welchen körperlichen, geistigen und seelischen Strapazen der König, dessen schwache Gesundheit stets betont wurde, über mehrere Jahre ausgesetzt war – heute würde man von Dauerstress sprechen –, rechnet man hinzu, daß Messen Stunden dauerten, im Stehen gehört wurden, in einer ungeheizten Kirche (hier Anfang Januar !) stattfanden, die von Kerzenrauch und Weihrauchschwaden durchzogen war und in der in diesem Falle eine dichtgedrängte Gemeinde den restlichen Sauerstoff verbrauchte, so wundert es nicht, daß Karl, der ohnehin von Atemnot gequält wurde, einen Ohnmachtsanfall erlitt. Eine üppige, schwerverdauliche Mahlzeit am Vorabend, der Karl, seiner Gewohnheit entsprechend, überreichlich zugesprochen haben dürfte, wird außerdem für Blutleere im Gehirn verantwortlich gewesen sein, ein zweites auslösendes Moment des Anfalls. Ähnliche, ganz natürliche Ursachen könnten den ersten, nicht näher dokumentierten Anfall herbeigeführt haben: körperliche Überanstrengung und starke Überhitzung durch ehrgeizigen Einsatz beim Federballspiel. Falls es diesen Zusammenbruch oder auch nur einen Schwächeanfall des Königs tatsächlich gegeben haben sollte, so dürfte dies ungute Erinnerungen daran geweckt haben, daß Karls Vater nach einem Pelotaspiel das tödliche Fieber ergriffen hatte. Der damals weitverbreitete Glaube an – meistens düstere – Vorzeichen, von dem auch Petrus Martyr und Gattinara nicht frei waren, könnte diese Parallele als Hinweis auf ein frühes Ende des Königs gedeutet haben. Das Fehlen zeitgenössischer Berichte über weitere derartige Zustände des Königs bestätigt auch aus heutiger Sicht die Auffassung des Petrus Martyr, daß es sich um Ohnmachten handelte, die auf natürliche Ursachen zurückzuführen waren, zumal die typischen Begleiterscheinungen epileptischer Anfälle wie Krämpfe und Zuckungen, der „Initialschrei“ kurz vor dem Hinstürzen, Zungenbiß und „Schaum vor dem Mund“ selbst in dem Bericht des französischen Diplomaten 114 Juste 1858, 116 f.

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nicht erwähnt werden, obwohl ihre Beschreibung den dramatischen Effekt seiner Schilderung hätte steigern können.115 Daß die spanischen Chronisten Santa Cruz und Sandoval die Anfälle nicht erwähnen, zumal sich alle Befürchtungen im Nachhinein als grundlos erwiesen, könnte man damit erklären, daß dem Herrscher kein Makel anhaften durfte.116 Für Karls „häufige Ohnmachtsanfälle in der Jugend“, die G. Poensgen erwähnt und auf die erschwerte Atmung zurückführt,117 lassen die Quellen zu den frühen Jahren keine Anhaltspunkte erkennen. Hätte Margarete über derartige Zustände nicht besorgt sein und ihrem Vater davon berichten müssen? Hätte nicht Petrus Martyr, der in ständigem Kontakt mit dem Leibarzt des Prinzen stand, wenigstens andeutungsweise darauf Bezug genommen? Der Kaiser selbst erwähnt in seinen Memoiren die zweifelsfrei belegten, wodurch auch immer verursachten Schwächezustände nicht, obwohl er – im Alter von 50 Jahren – seine Erkrankungen im Rückblick genau registriert.118 Vielleicht hat Karl seine Ohnmachten, Zeichen der Schwäche, vergessen wollen, vielleicht – und das ist wahrscheinlicher – erwähnt er sie nicht, weil sie ihn seit langem nicht mehr befallen hatten und daher nicht 115 Nach Gerhard Kloos u. Walther Simon, Grundriß der Psychiatrie und Neurologie, München 101988, 287–302 kann die genuine Epilepsie (erbliche „Fallsucht“) innerhalb des großen Formenkreises verschiedenartiger Erkrankungen mit dem gemeinsamen Leitsymptom cerebraler Krampfanfälle nur durch Langzeitbeobachtung und eine zahlreiche Symptome erfassende Differentialdiagnose eindeutig festgestellt werden. Das a.a.O. detailliert geschilderte Krankheitsbild der Epilepsie, der Symptome, der auslösenden Momente sowie des Krankheitsverlaufs (298: „Heilungen sind jedoch sehr selten“) spricht gegen das Vorliegen dieser Krankheit bei Karl V., sondern läßt auf (vorübergehende) Gehirnanämie schließen: Ohnmacht, Synkope, Kollaps, d.h. Bewußtseins- und Tonusverlust infolge plötzlicher Blutleere des Gehirns. Die für diesen Zustand von Kloos/Simon (228) aufgeführten Symptome wie „Schwarzwerden“ vor den Augen, Blässe, Schwindel, Bewußtlosigkeit, schlaffes Zusammensinken, die Dauer der Ohnmacht von einigen Minuten bis zu einer Stunde, zeigen auffällige Übereinstimmung mit den zitierten Augenzeugenberichten. Als Ursachen sind (ebd. 228) u.a. „psychisch-nervöse Einflüsse“ bei gefäßlabilen, neuropathischen Menschen, als Auslöser der Ohnmacht z.B. Hitze und schlechte Luft anzunehmen. 116 Vgl. oben 183 Anm. 79. 117 Poensgen 1960, 174. Braudel veranlaßte die vielfach bezeugte Atemnot Karls zu der Aussage (1994, 77): „Schon sehr früh litt der Kaiser an Asthma.“ Auch diese Ferndiagnose ist, soweit ich es beurteilen kann, vom medizinischen Standpunkt her anfechtbar: Ursache des Bronchialasthmas ist eine Verengung der feineren Luftröhrenverzweigungen, die Atembeschwerden Karls aber gingen auf anatomische Anomalien im Mund- und Nasenbereich zurück. So könnte man allenfalls von der Ausbildung asthmaähnlicher Symptome sprechen, die, obwohl ständig vorhanden, nicht anfallartig auftraten. 118 Für das Jahr 1524 erwähnt Karl ein Fieber, das ihn in Toledo erfaßte und das bis Anfang 1525 anhielt. Für die folgenden Jahre zählt er die Gichtanfälle auf, die ihn bis an sein Lebensende quälen sollten: die ersten für 1528 (Kervyn van Lettenhove 1862, 16), weitere für 1529 (ebd. 20), für 1532 (ebd. 25) usw.

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mehr wichtig waren. Der Chronist Sepúlveda berichtet, daß der Kaiser nach seiner Heirat 1526 nie mehr unter derartigen Attacken litt.119 Das darf als weiteres Indiz dafür gelten, daß die Anfälle nicht epileptischer Natur waren. 1526 hatte Karl bereits große politische und militärische Erfolge zu verzeichnen gehabt, er war Erwählter Römischer Kaiser und sah seiner Krönung entgegen, brauchte also nicht mehr ständig sich und der Welt seine Fähigkeiten zu beweisen und erlebte, ganz entspannt, vielleicht zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, in seiner jungen Ehe eine kurze Zeit privaten Glücks. Wie der Kaiser, so erwähnen spätere Historiker den Vorfall von Zaragoza gar nicht mehr. Unter den im 20. Jahrhundert erschienen Biographien Karls, die hier berücksichtigt werden können, bildet die von Michael de Ferdinandy in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Im Zusammenhang mit der Deutung der psychischen Erkrankung Juanas ist bereits auf den Versuch Ferdinandys hingewiesen worden, die bei ihr beobachteten Symptome und deren Interpretation durch die zeitgenössischen Autoren im Sinne der frühneuzeitlichen Naturphilosophie mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie zu vereinbaren.120 Ähnliches unternimmt er, m.E. wenig überzeugend, sondern eher verwirrend, um nachzuweisen, daß bei Karl eine Neigung zur Epilepsie bestand.121 Dabei bezieht er sich allerdings nicht auf die genannten Vorkommnisse und ebenso wenig auf andere Primärquellen, sondern zitiert Rankes Wort von Karls „Hang zu schwermütiger Einsamkeit“.122 In zeitgenössischen Äußerungen zum Temperament Karls fällt nun mehrfach, so bei Pasqualigo und Contarini,123 die Vokabel melancolico bzw. malinconico. Contarinis Feststellung è di complessione in radice melanconica, mista però con sangue, onde ha eziando natura corrispondente alla complessione läßt unschwer erkennen, daß hier nicht von Melancholie nach heutigem Verständnis die Rede ist, sondern daß sich der Venezianer der Begriffe der Naturphilosophie seiner Zeit bedient, die auf der Lehre von den vier Temperamenten beruhten, wie man sie in jedem Menschen vertreten sah, selten in reiner Form, sondern meistens in einem Mischungsverhältnis – wie bei Karl. Ferdinandy greift nun auf Aristoteles zurück, für den die Melancholie in engem Zusammenhang mit der genuinen Epilepsie (morbus sacer) 119 Gossart 1910, 61 f. Anm. 5. 120 Vgl. oben 68 Anm. 157. 121 Ferdinandy 1966, 288. Darstellung und Argumentation leiden vor allem darunter, daß Ferdinandy auf wenigen Seiten die Begriffswelt der antiken Philosophen von Pythagoras über Aristoteles, ihr Fortleben im Mittelalter und in der Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts mit den Erkenntnissen bzw. Auffassungen der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts zu verbinden versucht: ein Unternehmen, das eine Untersuchung lohnt, aber einen größeren Rahmen verlangte. 122 Ebd. 285. 123 Vgl. oben 336. 345.

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steht, und leitet daraus eine Neigung Karls V. zu dieser unheilbaren psychischen Erkrankung ab.124 Vielleicht hat es Karl gerettet, daß seine melancolía ‚mista con sangue‘ war.

3. Le roi est mort: Es lebe der Erbe! Die Rolle Karls im Rahmen der königlichen Leichenbegängnisse von 1507 und 1516 Bei drei großen, feierlichen Anlässen zwischen 1507 und 1516 galt das Interesse nicht nur der Niederländer, sondern auch das der Vertreter der wichtigsten europäischen Staaten der Person Karls: 1507 bei den Trauerfeierlichkeiten für seinen jungverstorbenen Vater in Mecheln, 1515/16 bei den solennen wie auch den festlich-frohen Veranstaltungen zur Emanzipation des Herzogs von Burgund und im März 1516 bei der Brüsseler Totenmesse für seinen Großvater Ferdinand von Aragon. Jedes dieser Ereignisse markierte eine Statusänderung des jungen Fürsten, die im Verlauf der feierlichen Handlung nach burgundischem Ritual vollzogen und publik gemacht wurde. Zeitgenössische Chronisten haben den beiden prunkvollen Leichenbegängnissen ausführliche Beschreibungen gewidmet, in denen jedes symbolträchtige Detail erwähnt und seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt wird.125 Hier kann das große Zeremoniell nur in seinen wesentlichsten Komponenten dargestellt werden – und deren Zahl ist beträchtlich. Die Bedeutung, die dem relativ kurzen Auftritt Karls im letzten Akt dieser großen Inszenierungen zukam, wird jedoch nur verständlich, wenn man sich den besonderen Charakter der burgundischen Leichenbegängnisse im Ganzen vergegenwär124 Ferdinandy 1966, 287. 125 Die Chronique de l’année 1507 des Jean Lemaire de Belges, des Poeten und Historiographen Margaretes von Österreich (BNF Paris, in Ms. Dupuy 503), enthält den ausführlichsten und wohl zuverlässigsten Bericht über die Trauerfeier für Philipp den Schönen. Das Kapitel, das die Zeremonie beschreibt, wurde bereits 1508 unter dem Titel La pompe funeralle des obseques du feu Roy Dom Phelippes in Antwerpen bei Willem Vorsterman gedruckt, der im gleichen Jahr auch eine niederländische Fassung veröffentlichte. Hier benutzte Ed.: Lemaire ed. Schoysman 104–131; ebd. 31der Hinweis auf zwei kürzere Augenzeugenberichte, deren Angaben sich mit denen Lemaires decken. Unter den späteren Historikern geht nur Henne (1865, 55–57) ausführlicher auf die Feierlichkeiten ein. Er kennzeichnet die Passage als Zitat, gibt aber seine Quelle nicht an. Seine Fassung weicht in einigen Details von der Darstellung Lemaires ab. – Über die Totenfeier für Ferdinand von Aragon berichten Santa Cruz 110–112 und Sandoval 75, wobei die beiden Chronisten auf die Angaben von Augenzeugen oder ältere Aufzeichnungen zurückgreifen mußten. Laurent Vital nimmt in einer kurzen Passage seines Premier Voyage Bezug auf das Ereignis (Voyages III 5 f.). – Vandenesses Journal des Voyages de Charles-Quint erwähnt die Feierlichkeiten nur mit knappen Worten (Voyages II 59). Vgl. noch Edelmayer 1997, 231 f. Anm. 18–20 (zu mehreren sehr seltenen, heute z.T. verschollenen Drucke aus den Niederlanden).

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tigt, für die sich, in enger Beziehung zu den Begräbnisritualen der französischen Könige, ein Grundmuster entwickelt hatte, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sicher belegt ist.126 Wenn Karl in einer letzten Szene der pompe funèbre zum Nachfolger des verstorbenen Herrschers ausgerufen wurde und erste rituelle Handlungen vollzog, so dürften die versammelten Trauergäste das, was sich vor ihren Augen abspielte, im Kontext des gesamten Zeremoniells verstanden und als sichtbaren Ausdruck der religiösen, dynastischen und politischen Dimensionen der translatio regni zu deuten gewußt haben. Heute hingegen besteht Interpretationsbedarf. Befremdlich erscheinen schon zwei Charakteristika dieser Leichenfeiern, die man zunächst für reine Äußerlichkeiten halten könnte: Sie fanden erst Monate nach dem Tode des Herrschers statt, nachdem dieser bereits mit einem wesentlich schlichteren Zeremoniell an dem von ihm selbst testamentarisch bestimmten Ort beigesetzt worden war.127 Zu der zeitlichen Distanz der Feierlichkeiten vom Sterbe- und Begräbnistag trat eine räumliche hinzu: Sie wurden fern vom Sterbe- und Begräbnisort abgehalten, teilweise an Orten, an denen der Verstorbene nie geweilt hatte. Im Hinblick auf die Totenfeiern von 1507 und 1516 sei hier rekapituliert: Philipp der Schöne starb in Burgos am 25. September 1506; nach den Trauerfeierlichkeiten in der Kathedrale der kastilischen Stadt fand er nach langer Irrfahrt eine vorläufige Ruhestätte im Kartäuserkloster von Miraflores unweit von Burgos und Tordesillas.128 Die burgundische Leichenfeier fand am 18.–19. September 126 Kolmer 1997. Die Literatur zu Tod, Sterben und Totengedächtnis ist „mittlerweile wirklich abundant“ (W. Paravicini); ein Blick auf die Literaturangaben der zwanzig Aufsätze des Bandes (Kolmer [Hg.] 1997), der im Wesentlichen auf Referate eines Salzburger Symposions von 1993 zurückgeht, belegt diese Aussage mehr als hinreichend. P. Dinzelbachers Beitrag („Die Präsenz des Todes in der spätmittelalterlichen Mentalität“) ist von grundsätzlicher Bedeutung, da er den Wandel im Verhältnis der Menschen zum eigenen Tod vom frühen Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit aufzeigt und mit Beispielen aus der zeitgenössischen Literatur und Kunst veranschaulicht. Kolmer (1997, 22 Anm. 48) geht recht ausführlich auf die Trauerfeierlichkeiten ein, die 1467 in Brügge für Philippe-le-Bon, den dritten Herzog von Burgund, abgehalten wurden. Hier zeichnen sich bereits die Formen ab, die ritualisiert und z.T. weiter ausgestaltet in späteren Leichenfeiern wieder begegnen. 127 Gelegentlich kam es allerdings vor – so auch im Falle Philipps des Schönen, in gewissem Sinne auch bei Ferdinand von Aragon – daß die „letzte Ruhestätte“ nur eine vorläufige war. Die Grabkapelle in Granada, die später sog. Capilla Real, in der Ferdinand neben Isabella von Kastilien beigesetzt werden wollte, war noch nicht fertiggestellt. Nach ihrer Vollendung 1521 wurden die Katholischen Könige dorthin umgebettet. 128 Dies entsprach nicht den testamentarischen Verfügungen des Königs, sondern war ein Eingehen auf den dringenden Wunsch Juanas, die Grabstätte Philipps in ihrer Nähe zu haben. Philipp wollte, falls er in Spanien stürbe, in Granada an der Seite Isabellas bestattet werden. Sollte ihn der Tod in den Niederlanden oder auf See ereilen, wünschte er in Brügge neben seiner Mutter Maria von Burgund begraben zu werden. Vgl. das Testament

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1507 in St. Rombaut in Mecheln statt. Ferdinand der Katholische verstarb am 23. Januar 1516 in dem armseligen Ort Madrigalejo. Sein Leichnam wurde in langem Trauerzug durch Kastilien nach Granada überführt. Die burgundische Totenfeier für den Aragonesen wurde am 13.–14. März 1516 in der Stiftskirche St. Gudula in Brüssel abgehalten.129 Die Lektüre auch nur eines Augenzeugenberichts über eine dieser Leichenfeiern, die das prunkliebende Burgund den toten Herrschern mit einem ungeheuren Aufwand an düsterer Prachtentfaltung ausrichtete, macht dem heutigen Leser bewußt, daß es sich bei diesen Zeremonien nicht um Gedenkgottesdienste handelte, wie sie auch jetzt noch vielerorts üblich sind.130 Allein das Ausmaß der Vorbereitungen, die für die Feierlichkeiten zu treffen waren, erklärt, daß sie erst mehrere Monate nach dem Sterbetag angesetzt werden konnten. 1506/07 erforderte die besondere Situation einen Aufschub der Obsequien, bis die Regentschaft und die Vormundschaft mit allen zugehörigen Formalitäten geregelt waren. Bevor man sich der praktischen Seite der Durchführung der Feiern annehmen konnte, war in jedem Falle eine Frage von essentieller Bedeutung zu klären: Da die Leichenbegängnisse jeweils in der Proklamation des Nachfolgers gipfelten, mußte der Erbe zweifelsfrei feststehen, ehe er öffentlich eingesetzt werden konnPhilipps des Schönen vom 26. Dezember 1505 bei Cauchies 2003, 265–267. Erst nach dem Tode Juanas veranlaßte Karl V. die Überführung Philipps nach Granada, wo der Kaiser seinen Eltern eine gemeinsame Grabstätte in der Capilla Real errichten ließ. Abgebildet ist dieses Grabmal u.a. bei Cauchies 2003, 249. 129 Ebenfalls in St. Gudula in Brüssel hatte am 14.–15. Januar 1505 ein feierliches Leichenbegängnis für Isabella von Kastilien stattgefunden. Die Katholische Königin war am 26. November 1504 in Medina del Campo verstorben, und, wie es ihrem ausdrücklichen Wunsch entsprach, ohne jeden Pomp zunächst im Kloster San Francisco auf der Alhambra von Granada beigesetzt worden. Vgl. dazu Edelmayer 1997, 234. – Wie bereits an anderen Stellen dieser Arbeit bestimmte Entwicklungslinien, die über den Tag der Emanzipation Karls hinausführen, nicht abgeschnitten, sondern ein Stück weit verfolgt werden, soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß Karl am 1. und 2. März 1519 in Barcelona ein großes Leichenbegängnis nach burgundischem Ritual für Maximilian I. abhalten ließ. Der Kaiser war am 12. Januar 1519 in Wels verstorben und in einem sehr bescheidenen Leichenzug über Wien nach Wiener Neustadt überführt worden, wo er – auch ohne jeden Pomp – in der St.-Georgs-Kirche beigesetzt wurde. S. dazu Schmid 1997, 210. – Philipp II., der Spanier, setzte die burgundische Tradition fort: Nachdem Karl V. am 21. September 1558 in San Yuste verstorben und dort auch (vorläufig) bestattet worden war, ließ sein Sohn am 29. Dezember 1558 wiederum in St. Gudula in Brüssel eine Leichenfeier ausrichten, die den Berichten der Zeitgenossen nach alles übertraf, was man bisher in dieser Art erlebt hatte. 130 Die Pracht hatte ihren Preis: Die Kosten belasteten in einigen Fällen die Erben dermaßen, daß noch in den Testamenten der nächsten Generation die Schuldenregelung für die Trauerfeiern berücksichtigt wird. Kolmer 1997, 18 f. Anm. 44.

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te.131 Der burgundische Brauch, das Testament des verstorbenen Herrschers kurz nach Bekanntwerden seines Todes zu eröffnen, diente dazu, die Nachfolgefrage rasch und einwandfrei zu klären, da die Benennung des Erben üblicherweise zu den letztwilligen Verfügungen gehörte.132 Mehrere Gründe dafür, ein Leichenbegängnis fern vom Sterbeort abzuhalten, leuchten im Falle Philipps sofort ein: Die Niederlande waren seine Heimat, Mecheln war er seit seiner Jugend verbunden gewesen, seine burgundischen Kinder wuchsen dort auf. Aus der Sicht der Zeitgenossen war es indes von erheblich größerer Bedeutung, daß die Kirche, in der die Leichenfeier stattfand, zum Gedenkort für den Verstorbenen wurde. Über die außerordentliche Rolle, die solche Stätten frommen Gedenkens bei der Vorsorge für den Fall des eigenen Todes spielten, geben Testamente aus dieser Epoche, auch dasjenige Philipps des Schönen, Auskunft: Unter den letztwilligen Verfügungen Philipps rangieren die, die dem ewigen Heil seiner Seele dienen sollten, weit vor den Bestimmungen zur Verteilung der weltlichen Güter und der Benennung des Erben: 60.000 Messen sollten für ihn in verschiedenen Kirchen und Klöstern an bestimmten Heiligen131 Zu der unter Anm. 127 erwähnten Leichenfeier für Isabella von Kastilien ist unter diesem Gesichtspunkt zu erwähnen, daß Philipp der Schöne, der unmittelbar nach dem Tode des Miguél von Portugal am 20. Juli 1500 den Titel „Prinz von Kastilien“ angenommen hatte (vgl. Cauchies 2003, 127: 1501 wurden die Verhandlungen zur Verlobung Karls mit Claude de France geführt par monseigneur l’archiduc et madame l’archiduchesse, princes de Castille), sich und Juana bei der Brüsseler Leichenfeier für Isabella zu Königen von Kastilien, León und Granada proklamieren ließ (Henne 1865, 18). – Bei den spanischen Chronisten fehlt der Zusammenhang der Übernahme des Titels mit dem Leichenbegängnis. Santa Cruz 13 eröffnet das Kapitel zu den Ereignissen von 1505 mit dem Satz: Despuéz que el Príncipe Don Felipe supo la muerte de la Reina Doña Isabel se hizo llamar luego Rey de Castilla y de León [...]. Anschließend geht Santa Cruz (13 f.) auf die Differenzen zwischen Ferdinand von Aragon und seinem Schwiegersohn ein, die sich aus dessen eigenmächtiger Annahme des Königstitels ergaben. Santa Cruz folgt hier z.T. fast wörtlich der Argumentation des Petrus Martyr (epist. 281 [p. 433 W., 1.6.1505]). 132 Das Testament Philipps des Schönen wurde am 18. Oktober 1506 in Gegenwart Karls vor den versammelten Generalständen eröffnet. Im Anschluß an die Verlesung des Dokuments wurden die Siegel der Kanzlei Philipps zerbrochen. Vgl. Henne 1865, 50. – Nach dem Tode Ferdinands von Aragon wich man im Interesse der eindeutigen Klärung der Nachfolge von dem gewohnten spanischen Procedere ab: Üblicherweise wurde der neue Herrscher dort sofort nach dem Ableben seines Vorgängers proklamiert, das Testament jedoch erst nach der öffentlichen Totenklage und einem Umzug durch den Sterbeort verlesen. Da die Thronfolge Karls bis zum letzten Augenblick ungewiß geblieben war, beschlossen die Räte Ferdinands und Vertreter des Adels, das Testament noch am Todestag des Katholischen Königs in Gegenwart Adrians von Utrecht zu eröffnen (Edelmayer 1997, 237 f.). Diese Angaben decken sich mit dem Bericht zur Testamentseröffnung bei Santa Cruz 97, wo sich auch der zusätzliche Hinweis findet, daß auf Adrians Ersuchen unverzüglich eine Übersetzung des Testaments angefertigt wurde, die er dann an Karl sandte.

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tagen gelesen werden, dazu täglich ein Requiem und eine weitere Messe an seiner Grabstätte. Die Umsetzung dieser Verfügungen sicherte er durch eine Stiftung aus seinem Vermögen. Das große Bedürfnis, sich an möglichst vielen Orten Stätten der Fürbitte und des frommen Gedenkens zu schaffen, verdeutlicht ferner der Brauch der „Leichenteilung“, der zwar vom Papst grundsätzlich untersagt war, dessen Durchführung aber durch eine Dispens dennoch möglich gemacht werden konnte:133 Alle Gotteshäuser, in denen Teile des sterblichen Körpers beigesetzt wurden, erhielten den Rang von Gedenkorten. So wurde das Herz Philipps des Schönen in einem goldenen Gefäß nach Notre-Dame in Brügge verbracht, wo seine Mutter ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte.134 Die Stiftung zumindest eines Ortes, an dem regelmäßig des Toten gedacht und für sein ewiges Heil gebetet wurde, gehörte zu den religiösen Pflichten der Nachkommen, die generell selbst dann in bescheidenem Rahmen erfüllt wurden, wenn die Familie des Verstorbenen nur über geringe Mittel verfügte. Der burgundische Brauch, durch die großen Leichenbegängnisse weitere Stätten des Gedenkens zu schaffen, war mithin tief in den religiösen Vorstellungen der Epoche verwurzelt. Häufig wurden Gedenkorte in Kirchen oder Klöstern gestiftet, zu denen der Verstorbene zu Lebzeiten eine persönliche Beziehung gehabt hatte; ausschlaggebend für die Wahl des Ortes war dies jedoch nicht: Die Katholischen Könige hatten St. Gudula in Brüssel nie betreten. Mit den religiösen Überzeugungen und Verpflichtungen allein läßt sich das überwältigende Ausmaß nicht begründen, das die burgundischen Leichenfeiern annahmen. L. Kolmer bezeichnet sie sehr treffend als „Staatsbegräbnisse“135 und betont damit ihren gleichzeitig politischen Charakter, wie er vor allem in der Proklamation des Erben zum Ausdruck kommt. Für das Haus Österreich-Burgund aber – und für das Haus Trastámara nicht minder – verstand sich Politik stets in erster Linie als Mittel zur Stärkung der Dynastie. Drei Leitmotive lagen also dem burgundischen Totenritual zugrunde: das religiöse, das dynastische und das politische, von denen jedes in den Leichenfeiern nach gebührendem Ausdruck verlangte. So bildete sich aus Elementen, die dem kirchlichen wie dem weltlichen Zeremoniell entlehnt waren, ein Grundmuster heraus, dessen fortschreitende Ausgestaltung die imposanten Leichenbegängnisse des 16. Jahrhunderts hervorbrachte.

133 Kolmer 1997, 16 Anm. 17. 134 Petrus Martyr, epist. 315 (p. 447 W., 28.9.1506). Dieser Brief enthält eine recht genaue Beschreibung der Trauerfeier in Burgos sowie der „Zerteilung“ und Einbalsamierung des Leichnams. 135 Kolmer 1997, 16 f.

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3.1. Das burgundische Leichenbegängnis Philipps des Schönen Der Ablauf der Totenfeiern für Philipp den Schönen, wie Lemaire ihn beschrieben hat, läßt dieses Grundmuster und seine Elemente deutlich hervortreten: katholischem Brauch für hohe Feiertage entsprechend, begann das Zeremoniell bereits am Vortag des eigentlichen Trauergottesdienstes mit einer Vigil. Dazu bewegte sich am Sonntag, dem 18. Juli 1507, um etwa zwei Uhr mittags eine Prozession vom Sitz des Thronerben, dem Hôtel de Bourgogne, zur Stiftskirche St. Rombaut, angeführt von vier ranghohen Adligen aus dem Hofstaat des toten Königs. Der lange Trauerzug war in sich streng nach ständischer Ordnung und hierarchischem Prinzip in vier Abteilungen gegliedert: Den Anfang bildete die Geistlichkeit des Landes, von den Angehörigen der Orden über die Gemeindepfarrer, die Kanoniker, die Kapläne Philipps und die Äbte bis zu den Bischöfen in Pontifikalgewändern. In der zweiten Gruppe folgten weltliche Amtsträger des Herzogtums Burgund: die Mitglieder des Gerichtshofes und der örtlichen Behörden von Mecheln, die Abgeordneten der Generalstände und der Herrschaften Philipps, die Vertreter der fürstlichen Haushalte und die Hofmeister mit ihren Amtsstäben. Dieser Abschnitt des Zuges wurde von einer großen Anzahl „ehrbarer Armer“ flankiert, die, in Trauerkleidung und mit brennenden Fackeln in den Händen, das einfache Volk vertraten. Auf die Menschenmenge, die sich hinter eigens aufgerichteten Barrieren am Straßenrand drängte, wird die dritte Abteilung des Trauerzuges den größten Eindruck gemacht haben: Hier zollte Burgund seinem toten Herzog einen letzten Tribut und ließ es dabei an Prachtentfaltung nicht fehlen. Zwölf Herolde trugen die wappengeschmückten, seidenen Banner, die die zwölf burgundischen Herrschaften Philipps repräsentierten. Es folgten drei adlige Stallmeister mit der persönlichen Standarte und dem Wimpel in den Farben Philipps sowie der Standarte mit dem Andreaskreuz, die er als Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies geführt hatte. In besonderer Weise wurde Philipp als Vertreter des burgundischen Ritterideals gewürdigt: Eines seiner Streitrösser in vollem Turnierschmuck in den herzoglichen Farben wurde im Trauerzug mitgeführt, darauf folgten Stallmeister aus dem Haushalt Philipps mit dessen Schwert, Turnierhelm und -schild, letzterer mit dem Andreaskreuz geschmückt. In der Heraldik bewanderte Zeitgenossen werden die Bedeutung der Wappenschilde und der zugehörigen Helme sogleich erkannt haben, die eine Gruppe von vier Rittern zur Kirche trug: Ein Wappen zeigte den portugiesischen Löwen, die bourbonische Lilie war zweimal vertreten, davon einmal von der Ordenskette begleitet; das vierte Wappen, ebenfalls mit der Ordenskette geschmückt, war das des Kaisers. Diese heraldischen Symbole bildeten zusammen das Wappen Philipps, das hier, in seine Komponenten zerlegt, die Abkunft des Herzogs von Burgund dokumentierte: Das kaiserliche Wappen mit der Ordenskette stand für Friedrich III. und Maximilian I., der portugiesische Löwe für Maximilians Mutter Eleonore von Portugal und damit für eine erste

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Verbindung der österreichischen Dynastie zu einem Herrscherhaus der Iberischen Halbinsel; die bourbonischen Lilien erinnerten an die Großeltern mütterlicherseits, Isabella von Bourbon und Karl den Kühnen, und wiesen nachdrücklich auf das burgundische Erbteil des toten Herzogs hin. Am Schluß dieser Abteilung des Trauerzuges schritt, den Trauermantel über dem purpurnen Wappenrock, den weißen Kommandostab erhoben, Toison d’Or, der „Souverän“ aller Wappenkönige des Vlies-Ordens, in dem man das Symbol Burgunds sehen durfte. An Pracht und Farbigkeit hob sich dieser Teil der Prozession somit glänzend aus dem stumpfen Schwarz des Trauerzuges heraus. Mit gespannter Aufmerksamkeit werden die Zuschauer am Rande die vierte Abteilung des Leichenzuges erwartet haben, um einen Blick auf den künftigen Herzog von Burgund zu erhaschen, der bisher wenig in Erscheinung getreten war und sich erstmals in seiner neuen Rolle einer großen Öffentlichkeit präsentierte. Der siebenjährige Prinz, im schwarzen Trauermantel, auf dem das Ordenskollier glänzte, den Kopf mit einem Trauerhut bedeckt, führte als einziger Berittener auf einem kleinen Pferd diese letzte Gruppe der Prozession an. Flankiert wurde er von seiner Leibgarde aus Bogenschützen, die schon seinem Vater gedient hatten und in den Haushalt Karls übernommen worden waren. Vier ranghohe Mitglieder des burgundischen Adels hielten sich in nächster Nähe des Prinzen; unter ihnen war Charles de Croy, Fürst von Chimay, der premier chambellan Karls und Gouverneur der burgundischen Kinder: Er trug die Schleppe seines jungen Herrn. Zwölf Ordensritter in vollem Trauerornat, mit Kollier und Vliesorden, folgten; weitere Ordensmitglieder und die ranghöchsten Vertreter des fürstlichen Haushalts, die Kammerherren, Räte und Juristen, beschlossen die Prozession, die in der beschriebenen Ordnung in die Stiftskirche einzog. Das gesamte Kircheninnere von St. Rombaut war mit schwarzem Tuch und Samt verhängt, die 36 Seitenaltäre mit Tuch verhüllt, von dem sich jeweils ein weißes Kreuz und die Wappen Philipps abhoben. Nur auf dem Hauptaltar schimmerte eine Brokatdecke. 1800 Kerzen – so Lemaire – und Hunderte von Fackeln beleuchteten die düstere Szenerie. Nahe dem Hauptaltar hatte man eine chapelle royale in Gestalt einer sechsstufigen Trauerpyramide errichtet, in der wie unter einem Baldachin ein Sarkophag aufgestellt war als Symbol für die spirituelle Gegenwart des toten Fürsten. Die wappengeschmückte Trauerpyramide wurde von einem goldenen Apfel bekrönt, der durch ein Kreuz überhöht war: eine unübersehbare Anspielung auf die kaiserliche Insignie des Reichsapfels. Die Prozession zog durch die Kirche bis zum Chor; die Geistlichen nahmen ihre Plätze in der Nähe des Altars ein. Sodann pflanzten die Herolde die seidenen Banner an der chapelle royale auf. In die ausgebreiteten Hände von vier Engelsgestalten, die die Ecken der Trauerpyramide schmückten, wurden Philipps Helme und Wappen gelegt, seine Wimpel, die Standarten und das Schwert auf einem eigens errichteten

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Opfertisch plaziert, zu dem selbst sein reiterloses Leibroß geleitet wurde: Damit war in vielerlei Gestalt die symbolische Gegenwart des Herzogs dargestellt. Dessen junger Sohn begab sich zu seinem Platz nahe seiner Privatkapelle unweit des Altars und der chapelle royale; Adlige und Ordensritter standen ihm zur Seite. Es folgte die feierliche Totenmesse, der Margarete von Österreich, den Blicken der Anwesenden verborgen, in ihrer Privatkapelle beiwohnte. Nach der Vigil kehrte der Trauerzug zum Hôtel de Bourgogne zurück. Nur die hohen Geistlichen harrten in der Kirche aus, um die Nacht im Gebet für den Toten zu verbringen und in den frühen Stunden des folgenden Tages, vor Beginn der eigentlichen pompe funeralle, zwei große Seelenämter zu zelebrieren, während an allen Altären der Kirche stille Messen für den Verstorbenen gelesen wurden. Am Montag, den 19. Juli, gegen neun Uhr setzte sich der Trauerzug vom Hôtel de Bourgogne aus erneut in Bewegung. Seine Ordnung war im wesentlichen die gleiche wie am Vortag, wenn man davon absieht, daß die Geistlichen fehlten, die in der Kirche geblieben waren. Der Abordnung der Stände folgten Herolde und Wappenkönige, die wiederum Banner und Wappen der zwölf Herrschaften trugen (die am Vortag mitgeführten hatte man in St. Rombaut zurückgelassen), ferner Banner, die die hohe Abkunft des Herzogs von Burgund noch einmal vor Augen führten. Zusätzlich und erstmals im Rahmen dieses Leichenbegängnisses wurde mit vier Bannern angezeigt, daß Philipps Herrschaftsbereich weit über die Grenzen Burgunds hinausreichte: Sie repräsentierten seine Königreiche Kastilien, León und Granada und das Erzherzogtum Österreich. Zwei Adlige führten das Leibroß des Toten, aufgezäumt wie für seinen königlichen Reiter. Gentilzhommes de rang (Lemaire) war die Ehre zuteil geworden, die höchsten Rangabzeichen und die Herrschaftsinsignien Philipps in der Prozession zu tragen: das Zeremonialschwert, das mit dem Knauf zum Himmel wies, als Zeichen dafür, daß mit dem Tode des Fürsten die Gerichtsbarkeit in die Hand Gottes zurückgegeben war, der sie dann dem neuen Herrscher auf Zeit verleihen würde; den Waffenrock; die bekrönten Helme von Kastilien und Österreich; den königlichen Wappenschild mit Krone und Ordenskette. Das hierarchische Prinzip, das die Ordnung des gesamten Trauerzuges bestimmte, galt gleichermaßen für die mitgeführten Symbole von Würden und Herrschaft. So rangierten Orden und Kollier des Souveräns des Ordens vom Goldenen Vlies als Embleme der höchsten Ehre, die Burgund verleihen konnte, unmittelbar vor der Königskrone. Beide Kleinodien wurden, auf schwarzen Samt gebettet, von Adligen und Ordensrittern zur Messe getragen. Alle Titel Philipps vergegenwärtigte noch einmal das große Staatsbanner, welches das persönliche Wappen mit denen Kastiliens und Österreichs verband. Dem Bannerträger folgte mit seinem Amtsstab Toison d’Or, der als Zeremonienmeister

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fungierte. Erst im letzten Glied der Prozession erschien, begleitet von Adligen und Ordensrittern, der Erbe, der zarte Knabe in den schweren Trauergewändern.136 Nach dem Einzug in die Kirche wurden die Krone, das Ordenskollier und der Waffenrock des Toten auf dem Sarkophag in der chapelle royale niedergelegt, die großen Banner dort aufgepflanzt, während die Herolde mit den übrigen Fahnen um die Totenpyramide Aufstellung nahmen. Der Bischof von Arras zelebrierte die Messe, die von den berühmten Sängern der Hofkapelle Philipps musikalisch gestaltet wurde. Auf das Requiem folgte das Meßopfer, bei dem die Prozessionsteilnehmer die Herrschaftszeichen Philipps, die sie am Vortag auf dem Opfertisch niedergelegt hatten, am Altar darbrachten.137 Die anschließende Predigt, die der Beichtvater Philipps hielt, eine Eloge auf den verstorbenen König, die die Trauerversammlung zu Tränen rührte, stand unter dem Motto Mortuus est rex et regnabit filius eius pro eo und leitete somit zum letzten Akt des Zeremoniells über: Der Bischof von Arras las aus dem Johannes-Evangelium, und bei den Worten 136 Lemaire p. 121 Sch. nennt den Trauerzug, der schweigend und in tiefer Stille den Weg zur Kirche zurücklegte, einen douloureux triumphe, m.E. eine Anspielung auf die französische Sitte, die pompe funèbre dem adventus des lebenden Herrschers anzugleichen, vor allem durch das Mitführen einer Effigies des Toten unter einem Baldachin. In Burgund verzichtete man auf diese symbolische Geste. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten für Philipp in Burgos im September 1506 hat es nach dem Augenzeugenbericht des Petrus Martyr jedoch einen vergleichbaren Akt gegeben, bei dem der Verstorbene, wie als Lebender in königliche Gewänder gekleidet und auf dem Thron sitzend, während der Vigil die Gegenwart des Herrschers versinnbildlichte und, mochte der König auch tot sein, auf die Unsterblichkeit seines Königtums verwies. Den Brauch, der in Spanien unbekannt war, bezeichnet Petrus Martyr als mos Belgicus, während Santa Cruz, der die Schilderung des Humanisten weitgehend übernimmt, ihn als usanza de Francia charakterisiert. Bei Petrus Martyr lautet die betreffende Passage: Mortuum familiares eius more Belgico noctem integram super structo in ingenti aula tabulato, praeciosis vestibus ornatum, & auleis circumseptum, ac si vivus in regio throno iaceret, servarunt. His & nos Reginae familiares affuimus, innumera religiosorum diversi habitus astante caterva, quae sacra per noctis vigilias flebilia decantaret (epist. 315 [p. 447 W., 28.9.1506]). Vgl. damit Santa Cruz 21: [...] después de muerto tomaron sus criados el cuerpo y lo pusieron á la usanza de Francia sobre un tablado que mandaron hacer en una gran sala de la casa del Condestable do posaba, y después que le hubieron vestido y ataviado de ricos atavíos le asentaron en una silla real como si estuviera vivo y le tuvieron así toda la noche siguiente, estando en la sala gran número de frailes de todas órdenes cantándole las vigilias y lecciones que se suelen cantar á los muertos. 137 Nicht nur Brot und Wein, die traditionellen Opfergaben zur Feier der Eucharistie, können nach katholischer Auffassung zum Altar gebracht werden; materielle Gaben, die mit dem innersten Wesen eines Gläubigen in enger Verbindung stehen, z.B. auch Kunstwerke, die aus frommer Überzeugung geschaffen wurden, können als Weihgeschenke am Altar geopfert werden, stellvertretend für den Stifter. So ist auch die Darbringung der Helme, Wappen, Waffen und Standarten Philipps zu interpretieren: Sie symbolisieren die irdische Herrschaft des Toten, die damit am Altar in die Hand Gottes zurückgegeben wird.

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et verbum caro factum est wurde das große königliche Staatsbanner gesenkt und vor dem Hauptaltar auf den Boden gelegt, ebenso die Banner der burgundischen Herrschaften. Im gleichen Augenblick warf Toison d’Or seinen Zeremonialstab auf den Boden und rief dreimal mit lautschallender Stimme: Le roy est mort! Nach einem kurzen Moment der Stille ergriff der Souverän aller Wappenkönige erneut seinen Stab, richtete das große Staatsbanner wieder auf und verkündete dabei dreimal mit lauter Stimme: Vive don Charles, par la grâce de Dieu archiduc d’Autriche, prince des Espaignes! 138 Die Wappenkönige der einzelnen burgundischen Länder erhoben nun ihrerseits nacheinander ihre Banner und riefen Karl als Nachfolger seines Vaters mit den betreffenden Herrschaftstiteln aus: „duc de Bourgoigne, de Lothric et de Brabant“; „de Lembourg, de Luxembourg et de Gheldres“; „conte de Flandres, d’Artois, de Bourgoigne, palatin, de Haynnau, de Hollande, de Zeellande, de Namur et de Zutphen“; „marquis du Saint Empire, seigneur de Frise, de Salins et de Malines“.139 Karl, dem man nach der Proklamation den Trauerhut abgenommen hatte, wurde nun von Toison d’Or das geweihte Zeremonialschwert in die kleinen Kinderhände gelegt. Bei der Schwertübergabe richtete der Wappenkönig eine kurze Ansprache an den neuen Herzog von Burgund, dem damit bewußt gemacht werden sollte, welche Herrscherpflichten und welches hohe Maß an Verantwortung ihm mit diesem feierlichen Akt übertragen wurden: 138 Der Wortlaut dieser Proklamation ist ein äußerst kritischer Punkt in Lemaires Bericht: Hat der Wappenkönig Karl tatsächlich zum „Prinzen der Spanien“ ausgerufen, oder hat Lemaire den Titel wissentlich oder unwissentlich falsch wiedergegeben? Karl führte ab 1507 den Titel „Prinz von Kastilien“, was León und Granada einschloß. „Prinz der Spanien“ hätte auch die Anwartschaft auf die Krone von Aragon bedeutet, die ein burgundischer Ordensritter wahrlich nicht zu vergeben hatte. Auch Philipp, oft als spanischer König bezeichnet, war nicht König von bzw. der Spanien: König von Aragon war seinerzeit immer noch Ferdinand der Katholische. Dem burgundischen Hofchronisten hätte dieser feine Unterschied eigentlich bewußt gewesen sein müssen. Was wirklich gesagt wurde, läßt sich wegen des Mangels an parallelen Quellen nicht feststellen. Die betreffende Passage bei Henne 1865, 58 bietet keine Entscheidungshilfe. Dort heißt es knapp und völlig abweichend: „Puis Toison d’or appela à haute voix: «Monsieur Charles, archiduc d’Autriche,» et l’archiduc ayant répondu: «Présent!» le roi d’armes s’écria: «Monseigneur est en vie! vive Monseigneur!»“ Der Hinweis auf diesen Punkt ist sehr wesentlich, weil die Frage des genauen Wortlauts 1516 anläßlich der Königsproklamation erneut auftrat und dann von erheblichem Gewicht und voll politischer Brisanz war. Hinsichtlich des spanischen Titels, den Karl zunächst führen sollte, hatte es bereits 1506 eine Übereinkunft gegeben: Während die Generalstände ihn anfangs zum König von Kastilien ausrufen lassen wollten, war es Maximilian und Chièvres daran gelegen, allen Streitfragen mit Spanien, d.h. in erster Linie mit Ferdinand von Aragon, vorerst aus dem Wege zu gehen. So kam man überein, es zunächst bei dem Titel eines Prinzen von Kastilien für Karl zu belassen. Schließlich gab es bereits eine Königin von Kastilien: Juana. Vgl. Dansaert 1942, 68. 139 Nach Lemaire p. 127 Sch.

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Prince imperial et royal, ceste espee de justice Vous est de Dieu donnee et à Vostre Haultesse succedee droicturierement par Voz tres nobles progeniteurs, affin que par Vous justice soit desormais maintenue, la saincte foy catholique exaulcee, l’Église deffendue et Voz royaumes, seignouries, vassaux et subiectz gardez saufvement et entretenuz.140

Karl ergriff das Schwert und trug es, die Spitze nun erhoben, zum Altar, wo er niederkniete und betete. Anschließend begab sich die Prozession zurück zum Hôtel de Bourgogne, wobei dem Herzog das Schwert von seinem Oberstallmeister vorangetragen wurde. Nach Lemaire erteilte Karl in seinen Gemächern anschließend den ersten Ritterschlag; diese Auszeichnung wurde Charles de Latre, seinem Hofmeister, zuteil.141 Lemaire bemerkt abschließend, daß man die Totenpyramide, mit den verbliebenen Bannern geschmückt, noch fünf bis sechs Tage in St. Rombaut beließ, um auch denjenigen, die nicht an der Zeremonie hatten teilnehmen können, Gelegenheit zu geben, sie zu betrachten.142 Die Erinnerungsstücke aus dem Besitz des Verstorbenen, die als Weihgaben zum Altar gebracht worden waren, wurden zu seinem ewigen Gedenken an den Pfeilern der Kirche angebracht. Damit war neben dem spirituellen Ort des Gedenkens an Philipp auch eine für alle sichtbare gleichsam säkulare Stätte der Erinnerung geschaffen. Anhand dieser ausführlichen Darstellung, die aus dem umfangreichen Bericht Lemaires gleichwohl nur die wesentlichen Punkte herausgreift, läßt sich einiges Grundsätzliche über den Charakter burgundischer Leichenbegängnisse sagen, das auch für die Totenfeiern für Ferdinand von Aragon Gültigkeit besitzt. Wie zuvor erwähnt, hat L. Kolmer diese Leichenfeiern sehr treffend als Staatsbegräbnisse bezeichnet, wobei der Begriff auf das ausgehende Mittelalter und die Frühe Neuzeit bezogen sich nicht völlig mit dem deckt, was heute darunter verstanden wird. In jedem Falle aber wird ein derartiges Zeremoniell von den höchsten Repräsentanten des Staates initiiert bzw. angeordnet. 1507 waren es Erzherzog Karl als designierter Nachfolger, nicht als Sohn des Verstorbenen, und Margarete von Österreich als Regentin der Niederlande, die gemeinsam mit den Generalständen Ort und Zeit der Feierlichkeiten bestimmten und die Teilnehmer auswählten.143 Hinsichtlich der Trauergäste zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu Staatsbegräbnissen unserer Zeit, bei denen die Angehörigen des Verstorbenen in der ersten Reihe sitzen und Menschen, denen er eng verbunden war, zu den Geladenen gehören. 1507 hingegen prägten Vertreter des Staates im weitesten Sinne das Bild, wie es Lemaires Beschreibung von der großen Prozession vor Augen führt. Dazu gehörten auch die Geistlichen, insbesondere die Inhaber höherer Ämter, bei 140 Lemaire p. 129 Sch. 141 Nach Henne (1865, 58) vollzog Karl diese erste Amtshandlung noch in der Kirche. 142 p. 129 Sch. 143 Lemaire p. 103. 105 Sch.

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deren Einsetzung der Herrscher eine gewichtige Rolle spielte und deren Einfluß im diplomatisch-politischen Bereich erheblich war. Ferner waren Staatsdiener im eigentlichen Sinne anwesend: Abgeordnete der Generalstände und der Herrschaften Philipps, Beamte der Kanzlei, Vertreter der fürstlichen Haushalte und Räte des Fürsten. Selbstverständlich waren die alten burgundischen Adelsfamilien zahlreich vertreten, z.T. durch princes du sang, die mit dem Fürstenhaus weitläufig verwandt waren. Die bedeutendste Gruppe unter den Trauergästen stellten die Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies dar, die fast ausnahmslos dem Adel Burgunds entstammten. Ebenfalls anwesend waren einige Diplomaten verwandter oder befreundeter Herrscherhäuser. Kurz gesagt, repräsentierte die Trauerversammlung die „staatstragenden“ Stände Burgunds, die der Totenfeier für ihren Fürsten beiwohnen und Zeugen der Einsetzung seines Nachfolgers werden konnten. Das Volk mußte sich mit einer Statistenrolle begnügen. Das Fehlen der Familie bei dem Leichenbegängnis, das heute so eigenartig berührt, unterstreicht nur dessen offiziellen Charakter als Staatsakt, in dem private Trauer keinen Platz hatte. So fehlte selbst Maximilian I. bei den Obsequien für seinen einzigen Sohn; er hielt sich damals in Süddeutschland auf.144 Auch Margarete, als Regentin und Vertreterin des Römischen Königs die höchste Repräsentantin des Staates, dazu Vormund des Erbprinzen, trat weder bei der Vigil noch bei der eigentlichen Trauerfeier in Erscheinung, sondern wohnte den Feierlichkeiten in ihrem Oratorium bei. Vielleicht suchte sie die Abgeschiedenheit, um nicht ihren Schmerz über den Verlust des einzigen Bruders öffentlich zur Schau zu stellen. Hätte es die Staatsräson verlangt, so hätte sie vermutlich dennoch einen ihr gebührenden Platz in der Trauerversammlung eingenommen. Offensichtlich war jedoch in der Ordnung des burgundischen Zeremoniells die Rolle einer Frau nicht vorgesehen. Karl nahm an den Leichenfeiern nicht als der Sohn teil, der um seinen Vater trauerte, sondern in seiner Eigenschaft als dessen Nachfolger in der Herrschaft. In der Correspondance zwischen Maximilian und Margarete, die im April 1507 einsetzt und in der etliche Familienangelegenheiten zur Sprache kommen, werden die Totenfeiern bezeichnenderweise mit keinem

144 Allerdings hatte der Römische König, nachdem man ihm erst am 23. Oktober 1506 mit erheblicher Verzögerung die Todesnachricht überbracht hatte, in einer Benediktinerabtei nahe seinem damaligen Aufenthaltsort an der Grenze zwischen Kärnten und der Steiermark einen Sterbegottesdienst halten lassen und ein Totenmahl bestellt. Vgl. Wiesflecker 1977, 304. Am 3. November 1506 verkündete der Römische König in Schreiben an Chièvres, an den Kanzler Philipps und die Vertreter der Generalstände seine Absicht, am 1. Januar 1507 in Freiburg einen Trauergottesdienst für Philipp abhalten zu lassen, dem er selbst beiwohnen werde; s. Dansaert 1942, 70 f.

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Wort erwähnt. Maximilian wird über deren Verlauf von seinem Gesandten, der zu den Begleitern Karls im Trauerzug gehört hatte,145 informiert worden sein. Es war zuvor von den drei Leitmotiven die Rede, die dem gesamten Ritual zugrunde lagen. Zusammenfassend sollen hier noch einmal die Momente herausgestellt werden, in denen sie am deutlichsten hervortraten: Das religiöse Leitmotiv kam in dreifacher Weise zum Ausdruck. In der äußeren Form des kirchlichen Zeremoniells von der Prozession über die Vigil und die große Totenmesse bis hin zum Meßopfer, ferner in der Stiftung eines Gedenkortes, an dem auch künftig für das Seelenheil des Verstorbenen gebetet werden sollte, und schließlich in der Verpflichtung des Nachfolgers, für den heiligen katholischen Glauben einzutreten und die Kirche zu verteidigen, wenn nötig, mit dem Schwert. Der politische Höhepunkt der Feierlichkeit war der Akt der Schwertübergabe an Karl, mit der ihm – stellvertretend für alle anderen herrscherlichen Gewalten – das Amt des höchsten Richters in den burgundischen Ländern übertragen wurde. Der eindrucksvolle Rahmen der kirchlichen Feier kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem dritten Leitmotiv, dem dynastischen Gedanken, dem das Haus Burgund sichtbaren Ausdruck zu verleihen wußte, die größte Bedeutung zukam. Es waren die Banner und Wappen der burgundischen Länder, die, in der Prozession mitgeführt und in der Kirche aufgepflanzt, das Bild beherrschten: Dem gegenüber traten die Herrschaftzeichen Spaniens und selbst Österreichs zurück. Hier wurde Philipps in erster Linie als des Herzogs von Burgund gedacht und sein Sohn als Herrscher über die burgundischen Länder ausgerufen. Daß Erzherzog Philipp von Österreich in der Habsburgerdynastie nach seinem Vater den zweiten Platz eingenommen hatte und daß sich in Karl drei Dynastien verbanden, wurde kaum sichtbar. Unterstrichen wurde die Bedeutung des „Leitmotivs Burgund“ durch die Allgegenwart des Hausordens vom Goldenen Vlies: in der großen Anzahl der anwesenden Ordensritter, deren Souverän Philipp gewesen war und dessen Amt nun auf den minderjährigen Sohn überging und die an prominenter Stelle in der Prozession und während der Zeremonie, immer in der nächsten Umgebung Karls, auftraten; in den unübersehbaren Symbolen des Ordens auf Bannern, Wappen und Waffen; in dem persönlichen Ordenskollier Philipps, das im Trauerzug der Krone unmittelbar vorangetragen wurde; vor allem aber in der Rolle, die dem Souverän der Wappenkönige, Toison d’Or, traditionsgemäß zustand: Er war mehr als ein Zeremonienmeister, wenn er den Erben zum Herzog von Burgund ausrief. Man könnte ihn als die Stimme Burgunds bezeichnen und die gesamte Totenfeier mit der anschließenden Einsetzung des neuen Herzogs als Selbstdarstellung Burgunds mit seinen Traditionen und seinem

145 Lemaire p. 113 Sch.

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Wertekanon. Damit präsentiert sich darin gleichsam konzentriert die Welt, in der Karl aufwuchs und deren Einfluß bis an sein Lebensende nachwirkte. Gleichzeitig stößt der Historiker aber bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf das Hindernis, das der Annäherung an die Persönlichkeit Karls immer wieder entgegensteht: So, wie der Kaiser als Person in späteren Jahren hinter der Sache oder der Institution verborgen bleibt, tritt der Prinz hier hinter dem Zeremoniell, hinter der großen Inszenierung zurück. Jean Lemaires ausführliche Darstellung informiert nur darüber, welche Handlungen Karl vollzog, und obwohl dem Prinzen gewiß während der gesamten Feierlichkeiten, insbesondere aber im Augenblick der Proklamation die Aufmerksamkeit aller Anwesenden galt, gibt es keine Mitteilung darüber, ob Karl irgendwelche Gemütsbewegungen zeigte, ob er müde, erschöpft, traurig oder aufgeregt wirkte oder, schon damals, „reglos wie ein Idol“. Einen einzigen Rückschluß auf die Persönlichkeit des Prinzen erlaubt der Bericht des Chronisten: Der Siebenjährige muß während der Feierlichkeiten, die sich über viele Stunden hinzogen, bereits die bewundernswerte Haltung gewahrt haben, die in späteren Jahren selbst seine Kritiker lobten, und er muß seinen kurzen Auftritt voller Würde absolviert haben. Darüber hinaus läßt sich aus der offiziellen Berichterstattung nur folgern, daß die Person des Prinzen im Vergleich zu der Institution „Herzog von Burgund“ als kaum erwähnenswert angesehen wurde.

3.2. Die burgundischen Leichenfeiern für Ferdinand von Aragon Am 8. Februar 1516 traf der Bote, der Karl die Nachricht vom Tode Ferdinands von Aragon und eine Abschrift des Testaments (in Übersetzung) überbrachte, in Brüssel ein.146 Schon am 10. Februar unterrichtete der Herzog von Burgund in Mecheln die Öffentlichkeit vom Ableben seines Großvaters und gab bekannt, daß er Leichenfeiern für den Katholischen König abzuhalten gedenke, der engen Verwandtschaft und der Tugenden des Verstorbenen wegen, aber auch, weil er sich als Universalerbe dazu verpflichtet fühle.147 Die formelhaften Bekundungen der Trauer und des Schmerzes in den Briefen, die Karl in den folgenden Tagen an Kardinal Ximénes, an Germaine de Foix und an seinen Bruder richtete, lassen persönliche Betroffenheit über den Tod des – ihm unbekannten – Großvaters

146 Bereits am folgenden Tag machte Andrea da Burgo dem Kaiser Mitteilung vom Tod des Katholischen Königs und vom Inhalt des Testaments (HHStA, Maximiliana 35, Konvolut 1, fol. 12r–13v; s. dazu Spielman/Thomas 1984, 22 Anm. 1). 147 CDCV I 49 Anm. 1 (nach L. Gachard).

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vermissen;148 Ferdinand von Aragon und seinen ältesten – ihm unbekannten – Enkel hatte außer der Frage der spanischen Erbfolge nichts verbunden. Etwa zum gleichen Zeitpunkt, als Karl die Todesnachricht erhielt, muß Ferdinand von Aragon in Granada beigesetzt worden sein.149 Zu den Begräbnisfeierlichkeiten in Spanien geben die Quellen nur spärlich Auskunft. Petrus Martyr, der an dem Leichenzug von Madrigalejo nach Granada teilnahm, berichtet Marlianus von dem würdigen Geleit und der Ehrerbietung, die dem toten Herrscher vom Adel an den verschiedenen Stationen des langen Weges entgegengebracht wurde. Nähere Beschreibungen von Zeremonien fehlen: Scripsi sublatum e medio regem Catholicum. Exanime corpus eius Granatam ex ipsius legato detulimus. Corduba, qua fecimus iter, transeuntes busti comites honorifice suscepit. Magnificentissima pompa regem prosecuta est, pullata universa civitas exivit obviam funeri, spacio non brevi, Admixti rectoribus urbis principes finitimi Plegi marchio, & Caprae comes, caeterique nobiles omnes longa trahentes syrmata, flebilibus modis, e campo aperto ad templum usque primarium pheretrum gestantes tractim, comitati sunt. Itidem & Granata, Marchione Mondeiaris Tendillae Comite regni Granatensis pro rege, caeterisque nobilibus pheretro subeuntibus effecit. Eodem quo Miranda Helisabetha, eius uxor, iacet sepulchro, condidimus. Peractis uti moris est solennibus, obortis lachrimis diximus, o gloria dignissime rex extremum vale.150

Noch knapper faßt Sandoval zusammen, was im Anschluß an die Testamentseröffnung am 23. Januar veranlaßt wurde: [...] el marqués de Denia tomó el cuerpo del rey y lo llevó a Granada, acompañándolo muchos caballeros y el alcalde Ronquillo. Por todo el camino se le hicieron solemnes funerales y recebimientos, y en Córdoba se señalaron el marqués de Priego, don Pedro de Córdoba, y don Diego Hernández de Córdoba, conde de Cabra, y otros caballeros, que cubiertos de luto salieron a pie a recebir el cuerpo con mucha cera encendida, y tomaron el ataud a hombros y después lo acompañaron hasta Granada, donde fué rescebido y sepultado como tan alto príncipe merecía.151 148 Vgl. die fast gleichlautenden Formulierungen in den Briefen an Ximénes (14.2.1516): [...] habemos sabido el fallecimiento del muy alto poderoso Católico rey mi señor [...] de que tenemos grandísimo dolor e sentimiento [...]; an Germaine de Foix (11.2.1516): La carta de Vuestra Alteza recebimos, y de la muerte del Católico, glorioso rey, mi señor, habemos habido tanto dolor y sentimiento, que estamos con tanta necesidad de consolación como Vuestra Alteza, que no se puede más encarecer [...]; an den Bruder Ferdinand (15.2.1516): De la muerte e fallecimiento del muy alto, poderoso, Católico rey mi señor abuelo [...] Nos habemos habido muy gran dolor e sentimiento [...]. Zit. nach Sandoval 75–77. Santa Cruz 101–104, gibt die Briefe ebenfalls wieder, ausgenommen den an Königin Germaine. 149 Edelmayer 1997, 238 Anm. 42. 150 Petrus Martyr, epist. 566 (p. 556 W., 26.2.1516). Edelmayer nennt Petrus Martyr nicht unter seinen Quellen. 151 Sandoval 71.

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Infolge dieser dürftigen Quellenlage gehen die Autoren mehrerer Werke zum Thema „Tod und Begräbnis spanischer Herrscher“ auf Ferdinand den Katholischen allenfalls mit kurzen Hinweisen ein.152 Für die geringe Aufmerksamkeit, die den spanischen Totenfeiern für den Katholischen König von den Zeitgenossen gezollt wurde, gibt es einen triftigen Grund, auf den F. Edelmayer in seinen Ausführungen hinweist: Ferdinand war König von Aragon, jedoch nur Regent von Kastilien. Er starb in Kastilien, sein Leichenzug führte durch dieses Königreich; in Kastilien wurde er bestattet. Das aragonesische Zeremoniell für Herrscherbegräbnisse unterschied sich von dem kastilischen.153 Für diejenigen, die den Leichenzug zu organisieren hatten, erhob sich damit die schwierige Frage, welcher Tradition man folgen sollte. Offensichtlich hat man sich für die schlichteste und dennoch würdige Form entschieden, die weder in Kastilien, noch in Aragon Anstoß erregen konnte. Um aufwendige Feiern zu gestalten, fehlte ohnehin die Zeit. Die „Abfolge der zeremoniellen Elemente“ (Edelmayer), die sich in Kastilien herausgebildet hatte, war 1516 bereits unmittelbar nach Ferdinands Tod durchbrochen worden. Als die fünf Schritte der kastilischen Begräbnistradition, wie sie auch 1504 nach dem Tode Isabellas von Kastilien vollzogen wurden, sind zu nennen: (1.) Proklamation des Nachfolgers zum König, d.h. die Sicherung der dynastischen Kontinuität hatte absoluten Vorrang; (2.) öffentliche Totenklage; (3.) öffentlicher Umzug durch den Sterbeort unter Mitführung der Standarten des neuen Königs, womit die dynastische Kontinuität anerkannt wurde; (4.) feierliche Verlesung des Testaments und (5.) die eigentliche Leichenfeier. Die Krönung des neuen Herrschers konnte vor oder nach der Leichenfeier stattfinden.154 Aus dieser Abfolge wird klar ersichtlich, weshalb die Testamentseröffnung im Kreise der Räte und in Gegenwart Adrians von Utrecht bereits acht Stunden nach dem Tode Ferdinands von Aragon unerläßlich war. Eine öffentliche Proklamation Karls zum Nachfolger seines Großvaters unterblieb allerdings. Der Inhalt des Testaments wurde im Gegenteil so lange wie möglich geheim gehalten, so daß der Infant Ferdinand und seine Vertrauten zunächst in dem Glauben gelassen wurden, daß dem „spanischen Lieblingsenkel“ des Aragonesen das Erbe zufallen würde. Dies war eine Vorsichtsmaßnahme, denn man befürchtete Unruhen im Land bei Bekanntwerden des endgültigen Testaments, da der Infant über eine große Anhängerschaft verfügte. Vor diesem Hintergrund ist auch die rasche Reaktion Karls auf die Todesnachricht zu sehen: Es galt, binnen kürzester Frist vollendete Tatsachen zu schaffen. Die nächsten Schritte, die von Brüssel aus in den spanischen Angelegenheiten unternommen wurden, gingen in erster Linie 152 Edelmayer 1997, 229 f. Anm. 2–8 nennt diese Werke und charakterisiert sie kurz. 153 Ebd. 231. 154 Nach Edelmayer 1997, 233 f.

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auf die Ratschläge des schon mehrfach erwähnten Dr. Mota zurück, der mit den Gesetzen und Sitten seiner kastilischen Heimat vertraut war.155 F. Edelmayer konnte für seine Schilderung der von Karl auf den 13.–14. März 1516 angesetzten burgundischen Leichenfeiern zwei zeitgenössische Drucke auswerten, einen in lateinischer,156 einen zweiten in kastilischer Sprache.157 Als relativ ausführliche Quellen standen mir der Bericht des Alonso de Santa Cruz, eines Chronisten also, der, wenn zwar nicht Augenzeuge, so doch Zeitgenosse war, und der spätere des Sandoval zu Verfügung, wobei letzterer von heutigen Historikern häufig als Textgrundlage benutzt wird.158 Während Petrus Martyr, Sandoval und, noch knapper, Vital und Vandenesse einen eher summarischen Eindruck von den Feiern vermitteln und vor allem Wert darauf legen, deren Großartigkeit hervorzuheben, erkennt man aus den ausführlicheren Darstellungen, daß das Leichenbegängnis Ferdinands von Aragon nach dem gleichen Grundmuster verlief wie das Philipps des Schönen, wobei allerdings bereits die Tendenz zu immer stärkerer Prachtentfaltung sichtbar wird, die bei den Totenfeiern für Karl V. schließlich ihren Höhepunkt erreichte. Wurde auch der zeremonielle Rahmen beibehalten, so entwickelten sich die Leichenfeiern zunehmend zu Machtdemonstrationen und Gelegenheiten zur Selbstdarstellung der Lebenden, der Erben. In welchem Maße schon 1516 die Feiern für die Herrscherpropaganda instrumentalisiert wurden, belegt allein die Tatsache, daß der lateinische wie der kastilische Augenzeugenbericht wenige Monate nach dem Ereignis im Druck verbreitet wurden. Zwei weitere Druckwerke, die 1516 in den Niederlanden in französischer Sprache erschienen und heute als verschollen gelten, sorgten dafür, daß die einheimische 155 Dr. Pedro Ruíz de la Mota als „hervorragendster Vertreter der spanischen Exulanten in Brüssel“ und mehrere Sekretäre spanischer Zunge konzipierten als Mitglieder eines spanischen (Staats-)Sekretariats die Schriftstücke des Brüsseler Hofes mit den spanischen Königreichen: Spielman/Thomas 1984, 17 m. Anm. 75. Mota dürfte auch für Form und Inhalt der oben erwähnten Beileidsschreiben Karls verantwortlich gewesen sein, die Kenntnisse der spanischen Verhältnisse voraussetzten, welche dem Thronfolger wie auch seinen burgundischen Beratern fehlten. In Anerkennung seiner Verdienste wurde Mota im August 1516 zum Nachfolger Manriques auf den Bischofsstuhl von Badajoz erhoben. 156 Gerardus Novomagus (Geldenhaver), Pompa exequiarum Catholici Hispaniarum regis Ferdonandi Avi Materni Illustrissimi Hispaniarum Regis Caroli, Archiducis Austriae, Ducis Burgundiae, etc., Bruxellae, ex aedibus Praefecti maris, anno domini 1516, septimo Calendas Aprilis. Einziges Ex.: Madrid, BN, 2-34309. Vgl. Edelmayer, 1997, 232 Anm. 19. 157 Estas son las muy altas y muy riquissimas honrras que se hizieron en Flandes por el rey don Fernando que aya sancta gloria. E de como alçaron por rey de Spaña al principe don Carlos, nuestro señor, o.O.o.J. Es handelt sich dabei um einen sechsseitigen Druck, der nach aktuellem Forschungsstand 1516 in Toledo erschien. Edelmayer 1997, 230 Anm. 18 kann auf ein Exemplar in der Biblioteca Francisco de Zabálburu y Basabe in Madrid hinweisen. 158 Santa Cruz 102–105; Sandoval 75–77.

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Bevölkerung, die nur der „burgundischen“ Sprache mächtig war, unterrichtet wurde.159 Da der Ablauf der Leichenfeiern bis zur Proklamation des Nachfolgers dem bekannten Ritual folgte, erübrigt sich ein näheres Eingehen darauf. Daher werden im folgenden nur einige Details hervorgehoben, in denen die Ausgestaltung der Zeremonie Ergänzungen oder Abweichungen erfuhr. Der gesamte Kirchenraum von St. Gudula war, wie 1507 in St. Rombaut, mit schwarzen Trauerbehängen ausgekleidet und wurde durch 6000 Kerzen erhellt.160 Wie für Philipp den Schönen hatte man auch für Ferdinand eine – allerdings neunstufige, 70 Fuß hohe161 – Trauerpyramide errichtet, unter der als Zeichen für die spirituelle Gegenwart des Toten ein mit Samt (oder Brokat) bedeckter Sarg stand. Unmittelbar daneben befand sich ein mit schwarzem Samt überzogener Sitz für Karl. Die Prozession, die vom Herzogsschloß ausging, soll so lang gewesen sein, daß die Spitze des Zuges bereits die Kirche erreicht hatte, als die letzten Teilnehmer den Palast verließen. Die Ordnung innerhalb des Trauerzuges entsprach insgesamt dem üblichen Muster, wurde aber durch eine Gruppe von zwei- bis dreihundert Armen erweitert, die, in Trauerkleidung und mit brennenden Fackeln, nicht mehr nur am Rande standen, sondern der Abordnung der Bürger folgten.162 Die Abteilung des Zuges, in der die Waffen, Wappen, Siegeszeichen und Insignien des Toten zur Kirche geführt wurden, ohnehin die farbenprächtigste, war durch ein Schaustück von hoher Symbolkraft bereichert worden: Hinter drei Herolden, die Lorbeerzweige trugen, „fuhr ein vergoldeter Triumphwagen, auf dem ein goldener leerer Stuhl stand. Gezogen wurde der Wagen von vier weißen Pferden. Am Wagen waren die Fahnen und Feldzeichen jener Länder befestigt, die Ferdinand erobert hatte, also Navarra und Territorien in Afrika.“163 In diesem Detail, das in den Leichenzug eingefügt worden war, zeigt sich die burgundische (und habsburgische?) Meisterschaft der großen Inszenierung, bei der sich, über den Aufmerksamkeit und Bewunderung erregenden Glanz des Schaustückes 159 Verfasser eines der Werke war der burgundische Hofchronist Remy Dupuys, der auch über die joyeuses entrées anläßlich der Emanzipation Karls berichtet hatte. Informationen zu den französischen Drucken bei Edelmayer 1997, 232 Anm. 20. 160 Santa Cruz 110. 161 Edelmayer 1997, 240. 162 Ebd. 241. Die Darstellung Edelmayers, die hier herangezogen wurde, folgt der lateinischen wie der kastilischen Quelle; wo beide voneinander abweichen, wird darauf hingewiesen. 163 Ebd. 241. Santa Cruz 111 erwähnt anstelle des Triumphwagens einen arco triumfal, der mitgeführt wurde. Die Darstellung Edelmayers, auf den Augenzeugenberichten basierend, ist vorzuziehen: Der Triumphwagen, so wie er beschrieben ist, verleiht der beabsichtigten Aussage stärkeren Ausdruck als ein Triumphbogen, den man sich auf eine Art Festwagen montiert vorzustellen hätte.

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hinaus, verschiedene Möglichkeiten der Interpretation eröffnen: Nicht, wie in Frankreich üblich, in einer Effigies ist der Verstorbene gegenwärtig, sondern in den Symbolen seiner Triumphe: Die mitgeführten Siegestrophäen und der Wagen selbst lassen, wie es zweifellos beabsichtigt war, an die Triumphzüge römischer Imperatoren denken, zu deren Rang der Tote gleichsam erhoben wurde.164 Den Zeitgenossen, denen die Bräuche beim Einzug eines Herrschers in eine Stadt geläufig waren, drängte sich gerade durch den Triumphwagen der Vergleich mit dem adventus eines lebenden Monarchen auf. Der leere Stuhl auf dem Gefährt erinnerte zudem einerseits daran, daß der König tot und nur noch symbolisch anwesend war, wies andererseits aber unübersehbar darauf hin, daß dieser Stuhl den Nachfolger erwartete und bald, nach dem Ende der Leichenfeiern, von dem rechtmäßigen Erben wieder besetzt sein würde. Von Rittern geführt, gingen in Ferdinands Trauerzug zwei reiterlose wappengeschmückte Rösser, von denen eines auf dem Sattel die Krone trug, die in der Kirche auf dem Sarg niedergelegt wurde. Gegen Schluß der Prozession ritt Karl im Trauerornat auf einem Maultier.165 Die Zahl und der hohe Rang der Diplomaten, die dem einzigen Berittenen folgten, läßt Rückschlüsse nicht nur auf die Achtung zu, die der Verstorbene genoß, sondern ebenso auf die Bedeutung, die der Proklamation des Nachfolgers im Ausland beigemessen wurde: Die Chronisten nennen den päpstlichen Legaten, den Botschafter des Kaisers und den des verstorbenen Königs, ferner die Gesandten der Könige von Frankreich, England und Portugal. Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, dem auch Ferdinand von Aragon angehört hatte, bildeten mit Mitgliedern des hohen Adels den Abschluß des feierlichen Einzugs in die Kirche, wo die Vigil gehalten wurde, der Karl auf dem für ihn vorgesehenen Platz neben dem Sarg beiwohnte. Am folgenden Tag begab sich der Zug in nahezu der gleichen Ordnung zum Trauergottesdienst; nochmals verlängert war er allerdings um dreizehn mitgeführte Pferde, die mit den Fahnen aller Reiche der Katholischen Könige bedeckt waren. Die Messe zelebrierte Alonso Manrique de Lara. Nur Santa Cruz fügt ergänzend hinzu, daß Karl, und nur er, die Weihgaben als Meßopfer darbrachte. Der spanische Chronist nennt sie schlicht todas estas cosas,166 worunter die Wappen, Wimpel, Helme und Schilde des Königs von Aragon zu verstehen sind. Wie St. Rombaut für Philipp, so wurde St. Gudula durch die geweihten Erinne164 1516 begannen in Wien die Arbeiten an der Umsetzung der Pläne Maximilians für die große Holzschnittfolge seines Triumphzuges. Es stellt sich die Frage, ob eine gedankliche Verbindung zu der Eingliederung des Triumphwagens in den Leichenzug bestanden hat, so daß beide Großväter Karls zu gleichem Rang erhoben wurden. 165 Nicht hoch zu Roß zu erscheinen galt als Zeichen der Demut (humilitas). Mauleselinnen dienten in kirchlichen und weltlichen Aufzügen den Kardinälen als Reittiere. 166 Santa Cruz 112.

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rungsstücke zum Ort des Gedenkens an Ferdinand von Aragon, wie es aus dem Text Laurent Vitals hervorgeht: [...] ledit service, qui puis après fut faict et célébré en l’église Saincte-Goulle, à Bruxelles, comme encoire pour le jourd’huy on en voit l’apparence par les blasons et bannières qui y pendent.167 Die anschließende Leichenrede hat bei den Chronisten keine Beachtung gefunden: Santa Cruz erwähnt sie nicht, und da ein Hinweis darauf auch in Edelmayers Darstellung fehlt, ist sie vermutlich von den Verfassern des lateinischen wie des kastilischen Berichtes übergangen worden. Ch. Moeller jedoch, der ein Kapitel seiner Biographie der Eleonore mit „La cour de Bourgogne et la litterature“ überschreibt, geht in diesem Rahmen auch auf die Redekunst ein, wie sie damals in erster Linie von Geistlichen geübt wurde und von deren Eigenarten einige überlieferte Predigten zeugen. Nach Moeller ist die für Ferdinand von Aragon gehaltene Leichenrede das älteste erhaltene Exemplar dieser Gattung und allein deshalb erwähnenswert.168 Der Prediger war Michel (de) Pavie, der Dechant von Cambrai und erste Beichtvater Karls, der dem Prinzen von dessen früher Kindheit bis zur Emanzipation als geistlicher Ratgeber zur Seite gestanden hatte.169 Allem Anschein nach hat der Prediger die Trauerversammlung weder durch brillante Rhetorik noch durch den Inhalt der Leichenrede sonderlich gefesselt. Er hatte das dem Anlaß durchaus angemessene Thema der Macht des Todes gewählt, vor der alle Menschen gleich sind – ein Sujet also, das seinen Zuhörern vertraut war und das in der Literatur und der Kunst der Epoche vielfachen Niederschlag gefunden hat. Möglicherweise war die Aufmerksamkeit nicht besonders groß, weil alle Anwesenden gespannt dem letzten Akt der Feierlichkeiten entgegensahen: der Proklamation des Nachfolgers. 167 Voyages III 6 (Premier voyage). 168 Moeller 1895, 79 f. (mit einem Zitat aus der Predigt nach A. Delvigne). 169 Die Informationen zur Biographie Pavies bei Lehnhoff 1932, 18 f. sind dürftig. Ausführlicher zu seiner Person Beauvillé 1857, 3, 287–289 (jetzt auch unter http://santerre.baillet. org/communes/montdidier/v2b/v2b4c02b55.php) und neuerdings Farge 1987. Danach wurde Pavie um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Montdidier (Picardie) als Sohn eines Fleischers geboren, studierte in Paris, wo er 1482 (Farge: 1480) den Grad eines Magister Artium und anschließend das Lizenziat der Theologie erlangte. 1497 übertrugen die Kanoniker von Cambrai ihm ein Kanonikat, verbunden mit einem Stipendium, das ihm die (nach Farge jedoch bereits 1496 erfolgte) Promotion ermöglichte. Ab 1506 Doyen des Kapitels von Cambrai, spielte er 1508 eine bedeutende Rolle während der dortigen Friedensverhandlungen. Mit seiner Eloquenz und Gelehrsamkeit beeindruckte er damals die versammelten politischen und geistigen Größen, besonders Margarete von Österreich. 1509 von Maximilian I. zum Beichtvater Karls gewählt, erwarb sich Pavie rasch dessen Vertrauen. Nach der Emanzipation des Prinzen gehörte Pavie zum conseil privé des Herzogs. 1517 starb Pavie in Brüssel, noch bevor Karl ihn in Anerkennung seiner Verdienste zum Bischof von Soria erheben konnte.

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Bis zu diesem Zeitpunkt war die eindrucksvolle Zeremonie, in der zunächst das religiöse Moment vorherrschte, ohne Abweichungen vom „Protokoll“ verlaufen, wie es die generelle Übereinstimmung der Quellen beweist. Völlig anders präsentiert sich die Überlieferungslage hinsichtlich dessen, was bei der Proklamation vor sich ging. Im Großen und Ganzen herrscht bei den Chronisten noch Einigkeit über den korrekten Ablauf des Zeremoniells in seinen äußeren Formen: die Verkündung der Tatsache, daß der König tot sei, durch einen Herold oder (nach Santa Cruz) durch einen Ordensritter, das Senken der königlichen Standarte, deren Wiederaufrichtung mit der gleichzeitigen Ausrufung des neuen Herrschers, der daraufhin den Trauerhut ablegte, um sodann das geweihte Schwert zu empfangen und es mit erhobener Spitze zu präsentieren, worauf es dem Adligen übergeben wurde, der die Ehre hatte, es dem Herrscher auf dem Rückweg zum Palast voranzutragen. Sobald es aber um den Wortlaut der Proklamation geht, differieren die beiden erhaltenen Primärquellen in eklatanter Weise; Santa Cruz und Sandoval steuern weitere Varianten bei, während Petrus Martyr ohne direkten Bezug zu der Szene sich zu deren absehbaren Folgen sehr kritisch und warnend äußert. Was dort auch immer tatsächlich ausgerufen wurde, läßt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen. Gewiß ist aber, daß es in Spanien mit höchster Mißbilligung aufgenommen wurde und daß Karl etliche Jahre brauchte, um seine Position in seinen neuen Reichen zu klären und zu legalisieren.170 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß es bereits 1507 Unstimmigkeiten in der Frage gegeben hatte, welcher spanische Titel Karl übertragen werden konnte.171 Das war allerdings ein vergleichsweise leicht zu entschärfendes Problem gewesen. 1516 ging es jedoch darum, welchen Königstitel Karl zu Recht führen durfte. Eine Gegenüberstellung der lateinischen und der kastilischen Quelle offenbart die politische Brisanz, die in dem unterschiedlichen Wortlaut liegt.172 Der dreimalige Ausruf des Herolds, ursprünglich in französischer Sprache erfolgt, lautet in der lateinischen Fassung: Ferdonandus [!] Catholicus Hispaniarum rex mortuus est, in der kastilischen Fassung: El christianissimo rey Fernando es muerto. Die Ausrufung Karls als des neuen Herrschers erfolgte nach der lateinischen Quelle mit den Worten : Vivat Hispaniarum Rex Carolus, während es in dem kastilischen Text heißt: Bivan los catholicos reyes doña Juana y don Carlos. Edelmayer vertritt die Auffassung, daß die lateinische Version des Gerardus Novomagus nicht nur die Worte des Herolds korrekt wiedergibt, sondern daß außerdem Karl den Text kannte und billigte, ja sogar den Auftrag zum Druck des Werkes, das im 170 Auf die langwierigen Folgeverhandlungen gehen Santa Cruz 112–114 und Sandoval 123–127 ein. 171 Vgl. oben 364 m. Anm. 138. 172 Zit. nach Edelmayer 1997, 242.

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Umfeld seines Hofes entstanden war, 1516 in Brüssel selbst erteilte. Es stellt sich die Frage, ob der unerfahrene Sechzehnjährige die Konsequenzen überschaute, die die Veröffentlichung dieser Fassung haben würde, ob er den Empfehlungen seiner Räte folgte oder den Vorstellungen Maximilians. Eine vergleichende Interpretation beider Textvarianten führt vor Augen, welche tiefgreifenden Differenzen hinsichtlich der Herrschaftsansprüche Karls über die spanischen Reiche darin zutage treten, die allen testamentarischen Verfügungen Ferdinands von Aragon zum Trotz bestanden. Wenn in der lateinischen Version der Herold verkündet, daß Ferdinand der Katholische, König der Spanien, gestorben sei, so stellt dies eine – man darf wohl unterstellen, bewußte – Verfälschung des politischen Sachverhalts dar, mit der eine Prämisse geschaffen wird, die den Wortlaut der Königsproklamation rechtfertigen soll. Ferdinand von Aragon war nicht König der Spanien: Er war König von Aragon, Neapel, Sizilien und Navarra. In Kastilien war er lediglich Regent für seine regierungsunfähige Tochter Juana. So hatte es Isabella von Kastilien 1504 verfügt. Ferdinand sollte die Regentschaft ausüben, bis Karl das 20. Lebensjahr erreicht hatte. Nach dem Tode Philipps des Schönen hatten sich nach anfänglichen Unstimmigkeiten die beiden Großväter Karls im Vertrag von Blois am 12. Dezember 1509 darauf geeinigt, daß Ferdinand von Aragon zeit seines Lebens Regent von Kastilien bleiben sollte. Dieser Vertrag war mehrmals bestätigt worden. Als Ferdinand der Katholische sein endgültiges Testament abfaßte, war ihm durchaus klar, daß er seinem ältesten Enkel nur diejenigen Herrschaftsrechte weitergeben konnte, über die er selbst verfügte, also die Königstitel seiner eigenen Reiche Aragon, Neapel, Sizilien und Navarra, dazu die Regentschaft über Kastilien, León und Granada.173 Ganz eindeutig formuliert Santa Cruz: [...] y el Rey Católico los [die anwesenden Mitglieder des Consejo Real] tornó á decir que ya que había de quedar por Gobernador el Príncipe don Carlos de los Reinos de Castilla y de León [...].174 173 Das Testament von Burgos, 1512 zugunsten des Infanten Ferdinand aufgesetzt, sah für den jüngeren Enkel für Kastilien ebenfalls nur die Regentschaft vor. 174 Santa Cruz 95. Der Status des Regenten für Karl findet sich auch in der betreffenden Passage bei Sandoval 64 bestätigt: Dejó por gobernador de todos los reinos al príncipe don Carlos, su nieto, por la indisposición de la reina su madre [...]. Allerdings läßt der vorhergehende Satz des Sandoval Zweifel zumindest an der Exaktheit seiner Aussage aufkommen: Dejó por su heredera y sucesora en todos sus reinos de Aragón, Sicilia, Nápoles y Navarra y en todos los otros señoríos a la reina doña Juana su hija (vgl. dazu oben 292 Anm. 421), denn (1.) kannte Aragon keine weibliche Erbfolge, und (2.) war Karl nie Regent in den genannten Ländern. Für die Zeit der Abwesenheit des Thronerben hatte Ferdinand für das Königreich Aragon seinen Bastardsohn Alonso d’Aragon, den Erzbischof von Zaragoza, zum Regenten bestimmt; für die unteritalienischen Reiche erfüllte Ramon de Cardona diese Funktion. Nach seinem persönlichen Erscheinen vor den Cortes von Aragon und der Eidesleistung wurde Karl als König von Aragon bestätigt.

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Mit dieser Regelung blieben die Stellung und alle Rechte Juanas als Königin von Kastilien gewahrt. Falls die lateinische Quelle den Wortlaut der Proklamation korrekt wiedergibt, bedeutet dies jedoch vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtslage, daß die Position Juanas, deren Name nicht einmal erwähnt wird, mißachtet und die Rechte der Königin verletzt wurden. Darüber hinaus wurde mit der Ausrufung Karls zum „König der Spanien“ ein Titel kreiert, den es bisher nicht gegeben hatte,175 und damit der verfassungsmäßige Status aller spanischen Königreiche auf das Gröbste ignoriert: Isabella war Königin von Kastilien gewesen, Ferdinand König von Aragon. In Matrimonialunion hatten sie beide Reiche regiert und gemeinsam die politischen Interessen verfolgt, die Kastilien wie Aragon dienlich waren, unbeschadet der Souveränität beider Staaten, die ihre eigenen Gesetze und Staatsorgane behielten.176 Möglicherweise haben viele der niederländischen Trauergäste, die mit der verfassungsrechtlichen Situation „der Spanien“ wenig vertraut waren, die Tragweite dessen, was da in aller Öffentlichkeit zelebriert wurde, nicht erfaßt. Die zahlreichen Spanier in den Niederlanden hingegen dürften sehr wohl erkannt haben, daß hier mit einem „Staatsstreich von oben“177 ein Fait accompli geschaffen werden sollte. Sie erhoben keinen Protest, denn sie waren in der Minderzahl und befanden sich in den Niederlanden im Ausland, zum großen Teil als Exulanten. Letztere, zumeist ehemalige „Felipisten“, gehörten fast ausnahmslos zur „Kronprinzenpartei“ der „Carlisten“. Wieviel politischen Sprengstoff die lateinische Textfassung enthielt, erkannte jedoch mit Sicherheit Kardinal Ximénes, der mit Strenge und Klugheit Karl als Regent in Kastilien vertrat. Ihm war daran gelegen, daß sich die Nachfolge in Frieden vollzog. Daher ist zu vermuten, daß die kastilische Version des Textes auf seine Initiative zurückgeht, zumal sie in Toledo, dem Amtssitz des Kardinals, erschien. Von politischem Gespür zeugt es, daß in der Formulierung „Der christlichste König Ferdinand ist gestorben“ auf die Nennung der Länder des Königs verzichtet wird. Ein einleuchtender Grund dafür, daß Ferdinand der Katholische hier als „christlichster König“ bezeichnet wird, scheint bisher nicht gefunden zu sein. Mit der Aufnahme des Namens der rechtmäßigen Königin in die Proklamationsformel „Es leben die Katholischen Könige, Doña Juana und Don Carlos“ versucht die kastilische Fassung möglichen Reaktionen auf den lateinischen Text vorzubeugen. Ximénes, wenn er denn der Urheber der kastilischen Version war, wußte, daß nicht nur der Infant Ferdinand, 175 Die wortreiche Überschrift des kastilischen Druckes enthält allerdings mit der Formulierung rey de Spaña ebenfalls einen Königstitel, der damals so nicht existierte. 176 Diese Rechtslage sollte auch gewahrt werden, wenn, wie die Katholischen Könige hofften, ihr gemeinsamer Erbe, also aller Voraussicht nach der Enkel, beide Reiche in Personalunion regieren würde. 177 Edelmayer 1997, 242 unter Verwendung eines Begriffs von J. Pérez.

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sondern auch Juana eine erhebliche Anhängerschaft in Kastilien besaß.178 Daher wurde durchaus zu Recht und mit Bedacht ihr Name in der Proklamation an erster Stelle genannt.179 Die Chroniken des Santa Cruz und des Sandoval beweisen, daß sich die Nachricht von dem Brüsseler „Staatsstreich“ in Spanien sehr wohl verbreitet hatte und daß die nachträglichen Versuche, den Vorgang herunterzuspielen, wenig gefruchtet hatten. Der Umgang der beiden Chronisten mit dem brisanten Thema ist ein indirekter Beweis für die Richtigkeit der lateinischen Textvariante. Sie beschreiben den Vorgang der Proklamation so unterschiedlich, daß man daran zweifeln könnte, ob sie sich auf dasselbe Ereignis beziehen. Die Ursache dafür kann nicht allein darin liegen, daß beide keine Augenzeugen waren: Santa Cruz schrieb um 1550, noch zu Lebzeiten Karls V., Sandoval erst um 1600, mehr als vierzig Jahre nach dem Tode des Kaisers. Wenn sich beide Chronisten noch Jahrzehnte nach der Brüsseler Proklamation bemüßigt fühlten, ihre eigene Version des Geschehens zu entwerfen, so gibt es m.E. dafür nur eine Erklärung: Beide verfaßten ihre Chroniken für den Hof. Sie konnten zwar die erste Phase der Regierung Karls in Spanien mit ihren Unsicherheiten und Gefährdungen nicht aussparen, denn das kollektive Gedächtnis der Spanier hatte durchaus die Erinnerung an die Aufstände und die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse bewahrt, die den Herrschaftsantritt Karls über Jahre begleitet hatten. Sie mußten aber die Anfänge des Königs und Kaisers dennoch in ein günstiges Licht rücken. Seine Herrschaft durfte nicht auf einen „Staatsstreich“ gegründet sein, d.h. sie versuchten mit ihren Darstellungen nachzuweisen, daß der König bereits bei seiner Proklamation auf große Zustimmung gestoßen war und daß alle Zweifel, die an der Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft und der Übernahme des Titels jemals aufgekommen waren, bereits 1516 durch spanische Autoritäten ausgeräumt worden waren. So fällt die Beschreibung der entscheidenden Szene bei Santa Cruz kurz und sachlich aus: [...] después de acabada la misa y responsos, echaron por tierra todas estas armas Reales y llamaron en alta voz tres veces: «Rey Don Fernando», y respondiendo asimismo otro hombre en alta voz dijo: «ya es muerto». Luego todos los Prelados y caballeros se llegaron á par del Príncipe y le dieron título de Rey [...]180 178 Die weitere Entwicklung sollte dies beweisen: Während des Aufstands der Comuneros 1520 versuchten die verschiedenen Parteiungen, Juana für sich zu gewinnen. 179 War es nur Konvention oder auch eine Beschwichtigungsmaßnahme, daß Karl nach den Feiern in Brüssel in kastilischen Städten Leichenfeiern für Ferdinand von Aragon abhalten ließ, die dem dort üblichen Ritual folgten? Edelmayer (1997, 245) erwähnt die Zeremonien in Sevilla, deren Abschluß die Ausrufung der Herrscher vom Turm des Alcazar bildete: Oid, oid, Castilla, Castilla, por los muy altos e muy poderosos, la Rreyna doña Juana, y el Rrey don Carlos, su hijo. 180 Santa Cruz 112. Interessanterweise deckt sich die Crónica hier wörtlich mit dem Auszug aus einer portugiesischen Handschrift aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Arquivo Nacio-

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Da weder die Länder Ferdinands genannt werden, noch der Titel Karls näher spezifiziert wird, scheint Santa Cruz dem Problem auszuweichen. Sandoval vermittelt ein sehr viel anschaulicheres Bild: Un rey de armas de los que allí estaban se llegó a un caballero de los del Tusón, que tenía el estandarte real de Castilla junto a las gradas del altar mayor, y se lo tomó y subió con él las gradas arriba, y en llegando a lo más alto dellas dijo a grandes voces tres veces: El católico y cristianísimo rey don Fernando es muerto. Y a la postre dió con el estandarte en tierra. Luego desde a poco lo tornó a tomar, y alzándolo dijo a mayores voces: Vivan los católicos reyes doña Juana y don Carlos su hijo. Vivo es el rey, vivo es el rey, vivo es el rey.181

Edelmayer hält diese Version für die am wenigsten glaubwürdige.182 Dazu ist allerdings anzumerken, daß Sandoval, wie schon an früherer Stelle nachgewiesen, mit dem reichen Material an Originaldokumenten, das ihm zur Verfügung stand, gelegentlich recht großzügig verfuhr. Sein hier zitierter Text deutet darauf hin, daß er die beiden Primärquellen kannte und um die Gefährlichkeit der lateinischen Fassung wußte. So mischte er beide Versionen und fügte, wie so häufig, einige eigene schmückende Ergänzungen hinzu: Wenn es auch keineswegs dem üblichen Zeremoniell entsprach, lassen die Wappenkönige nach Sandovals Darstellung Karl – und Juana – nochmals hochleben, als der neue Herrscher die Kirche verläßt: Vivan los católicos reyes doña Juana y don Carlos! Damit nimmt der Chronist der Situation jede Brisanz. Betrachtet man die beiden Darstellungen der Proklamationsszene nicht isoliert, sondern im Kontext der Chroniken, wird klar, daß es so nicht gewesen sein kann. Damit, daß beide Historiographen über viele Seiten den Briefwechsel zwischen Karl und dem Consejo Real wiedergeben bzw. den Inhalt der Schreiben referieren, in denen es allein um die Titelfrage und die Rechte Juanas geht,183 entlarven die spanischen Autoren ihre eigenen Berichte als Verharmlosung und Schönfärberei. Denn weshalb hätten in Andalusien Aufstände ausbrechen sollen, wenn man Karl nicht als Usurpator betrachtet hätte? Weshalb mußte man Dr. Carvajal, ein Mitglied der Kammer des Consejo, hinzuziehen, der quasi ein nal da Torre do Tombo, Lissabon) mit dem Titel As obsequias que pelo catolico Rey don Fernando de Aragão de boa memoria na çidade de Bruges [!] a 13 e 14 dias do mes de março de 1516 foraõ feitas por mandado do principe don Carlos, são as seguintes, fol. 172r–173v. Edelmayer 1997, 233 Anm. 23 nennt sie als eine der späteren Quellen und zitiert daraus (244 Anm. 69); dort heißt es nur, „daß dreimal gerufen wurde, der König sei gestorben, und «luguo todos aqueles prelados e cavaleros entregaran a par do principe dom Carlos [...] titolo de rej [...].»“ Welche der beiden gleichlautenden Quellen die ältere ist, konnte ich nicht feststellen. Edelmayer weist auf diese Verbindung nicht hin. 181 Sandoval 75. 182 1997, 244 Anm. 69. 183 Santa Cruz 103 f. 106–110. 112–117; Sandoval 75. 77–83.

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Rechtsgutachten erstellte? Aus den Schilderungen der Vorgänge in Brüssel durch Santa Cruz und Sandoval ergibt sich keine Antwort auf diese Fragen. Carvajal kam zu dem Schluß, daß man Karl den Königstitel zugestehen müsse, nachdem der Papst, der Kaiser und andere christliche Herrscher ihn König genannt hatten. Anderenfalls würde man dem Ansehen des Königtums und der Person Karls großen Schaden zufügen und die künftige Autorität des Monarchen von vornherein schmälern.184 Nach schwierigen Beratungen setzte sich die Überzeugung durch, daß man sich dem Entschluß Karls, den Königstitel anzunehmen, nicht länger widersetzen könne, zumal Juanas Regierungsunfähigkeit bekannt war. Halb resigniert, halb erleichtert griff man auf historische Präzedenzfälle einer gemeinsamen Herrschaft von Mutter und Sohn zurück, wobei Kaiserin Helena und Kaiser Konstantin als leuchtende Beispiele zitiert wurden.185 Man einigte sich schließlich auf einen gemeinsamen Titel für Juana und Karl, wobei der Königin stets der Vorrang eingeräumt wird.186 Das entsprechende Schreiben wurde am 13. April 1516 in allen spanischen Reichen veröffentlicht. Endgültig bestätigt und anerkannt wurde Karl allerdings erst 1518 in Kastilien, 1519 in Aragon durch seine Eidesleistung vor den Cortes. Daß mit dem Beschluß des Rates und selbst mit dem Eid des Königs die Spannungen in Spanien keineswegs behoben waren, sondern in Aufständen und Bürgerkrieg ein Ventil fanden, wurde bereits geschildert.187 Vergleicht man die Darstellungen dieser für Karls Herrschaftsübernahme äußerst kritischen Phase in den beiden bedeutendsten deutschsprachigen Biographien Karls V., bei K. Brandi und A. Kohler, dann zeigt sich sehr deutlich, daß die Erschließung der beiden genannten Primärquellen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die involvierten Personen, die politischen Kräfte, kurz, die gesamte Situation in einem anderen Licht erscheinen läßt und deren neue Gewichtung in der biographischen Umsetzung erfordert. Brandis relativ ausführliche Schilderung der Brüsseler Totenfeiern für Ferdinand von Aragon und der anschließenden Königsproklamation fußt noch ganz auf der oben zitierten harmonisierenden Fassung Sandovals.188 Von den beiden Primärquellen und dem 184 Santa Cruz 113; Sandoval 81. 185 Santa Cruz 114. 186 Sandoval 83 führt den vollen Titel auf: Doña Juana y don Carlos su hijo, reina y rey de Castilla, de León, de Aragón, de las dos Sicilias, de Jerusalén, de Navarra, de Granada, de Toledo, de Valencia, de Galicia, de Mallorca, de Sevilla, de Cerdeña, de Córdoba, de Córcega, de Murcia, de Jaén, de los Algarbes, de Algecira, de Gibraltar, de las islas de Canaria, de las Islas [?], Indias y Tierra Firme del mar Océano, condes de Barcelona, señores de Viscaya y de Molina, duques de Atenas y Neopatria, condes de Ruisellón y de Cerdaña, marqueses de Oristán y de Gociano, archiduques de Austria, duques de Borgoña y de Brabante, condes de Flandes y de Tirol, etc. 187 Vgl. oben 297–302. 188 Brandi 1964, 49; ders. 1941, 83 nennt als seine Quellen Sandoval und A. Henne.

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darin enthaltenen Konfliktpotential hatte Brandi noch keine Kenntnis. Bekannt waren ihm allerdings aus den Chroniken des Santa Cruz und des Sandoval die ausführlichen Berichte über die langwierigen Verhandlungen zur Frage des Königstitels. So führt Brandi die anfänglichen Widerstände gegen den jungen Monarchen darauf zurück, daß Juana „durch keinerlei Erklärung ihre königlichen Rechte aufgegeben hatte“, und nicht zuletzt darauf, daß Karl bis soweit nicht vor den Cortes erschienen war.189 Besonderes Gewicht mißt Brandi der Position zu, die Kardinal Ximénes zu den Streitfragen einnahm: Der Regent, der sich als wahrer Sachwalter der Interessen Karls und einer friedlichen Zukunft Spaniens verstand, wollte „keinen Zweifel an der Eindeutigkeit der Regierungsgewalt aufkommen“ lassen.190 Damit zumindest einer der Vorbehalte der Gegner des jungen Königs entkräftet und klare Verhältnisse geschaffen werden konnten, war Karls Anwesenheit in seinen neuen Reichen unverzichtbar. Daher forderte Ximénes ihn immer wieder und immer dringender auf, seine Abreise zu beschleunigen. Waren Brandi also zwar die kontroversen Aussagen der lateinischen und der kastilischen Quelle unbekannt, so tritt das Kernproblem bei der Regierungsübernahme Karls in Spanien, nämlich die fehlende „Eindeutigkeit der Regierungsgewalt“, auch in seiner Darstellung klar zutage. Kohler hingegen konnte, ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen von Brandis Werk, die neuen Erkenntnisse zur Quellenlage berücksichtigen, wobei er sich in seiner Argumentation auf die Arbeit Edelmayers stützt.191 Damit ergibt sich eine unübersehbare Akzentverschiebung innerhalb der Darstellung der Brüsseler Ereignisse: Eine Beschreibung der prunkvollen Totenfeiern entfällt; sie sind auf das reduziert, was sie der Intention der Initiatoren nach sein sollten: Anlaß und Ausgangspunkt einer politischen Demonstration. Auf diese Weise wird erstmals in einer deutschsprachigen Biographie Karls V. einem größeren Leserkreis verdeutlicht, mit welcher „Doppelgleisigkeit“ (Kohler) Karls Herrschaftsantritt in Spanien vorbereitet wurde, um die „Eindeutigkeit der Regierungsgewalt“ mittels eines „Staatsstreichs“ herzustellen, und welche Gefahren dieses Vorgehen in sich barg. Ximénes, der mutmaßliche Verfasser der „entschärften“ kastilischen Textvariante, wird von Kohler mit warnenden Worten zitiert, die den jungen König zur Vorsicht mahnen sollten: Der Tod Ferdinands, Eures Großvaters, verleiht Euch in Kastilien kein Recht; jede Änderung könnte im Land Aufruhr verursachen und die Gefühle jener verletzen, die wohl notgedrungen die Unfähigkeit der Königin zu regieren eingestehen, sich jedoch weigern, sie ihrer Rechte zu berauben.192 189 Brandi 1964, 60. 190 Ebd. 191 Kohler 1999, 56–59. 192 Ebd. 58 (nach F. Pérez). Wie sehr die Titelfrage die Spanier beschäftigte, geht ferner aus einer hier bisher nicht ausgewerteten Passage des Memorandums des Manrique de Lara

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Kardinal Ximénes war nicht der einzige, der warnende Briefe nach Brüssel sandte. So sollen abschließend zu diesem Komplex zwei Briefe des Petrus Martyr hier nicht unerwähnt bleiben, mit denen der Humanist auf die Vorgänge in Brüssel reagierte und die einen zusätzlichen indirekten Beweis für die Korrektheit des lateinischen Textes liefern. Der erste der Briefe ist an Marlianus gerichtet, von dem Petrus Martyr vermutlich über den Verlauf der Leichenfeiern und die anschließende Ausrufung Karls zum Rex Hispaniarum informiert worden war. Petrus Martyr sieht darin eine übereilte, unkluge Handlung, mit der gegen Sitten und Gesetze der spanischen Königreiche verstoßen wurde: Die Proklamation erfolgte außerhalb des Landes und ohne die Zustimmung der Spanier, ohne Rücksicht auf die Stellung und die Rechte Königin Juanas. Den Einwand, daß Karl an Stelle seiner regierungsunfähigen Mutter die Herrschaft übernehmen müsse, läßt Petrus Martyr nicht gelten: Auch mit seinem rechtmäßigen Titel eines Prinzen hätte Karl die Regierungsgeschäfte führen können. Als Beispiel herrscherlicher Klugheit nennt der Humanist Ferdinand den Katholischen, der sich nach dem Tode Isabellas nicht eines (Königs-)Titels bemächtigte, der ihm von Rechts wegen nicht zustand. Damit konnte er jeden Unmut und Haß des Volkes von vornherein im Keim ersticken. Karls unbedachte Handlungsweise hingegen könnte Kastilien gegen ihn aufbringen, obwohl man seiner baldigen Ankunft bisher erwartungsfroh entgegengesehen hatte; und so warnt Petrus Martyr: [...] legum perversio, amorem solet in odium convertere.193 Einen Monat später konstatiert Petrus Martyr resigniert, daß der Kaiser befohlen und Kastilien zu gehorchen hat: Caesaris est reges creare. Carolum principem eius, ex Philippo rege nepotem, regem iubet appellari.194 Maximilian, der bei der Proklamation in Brüssel nicht anwesend war und bei dem umstrittenen Vorgang also nicht in Erscheinung trat, hatte zweifellos bei der Vorbereitung des „coup d’état“ eine ganz entscheidende Rolle gespielt:195 Um die Verleihung des vom 8. März 1516 hervor, auf die Kohler in diesem Zusammenhang verweist (QSKV. 38). Im Hinblick auf spätere Ereignisse erwähnt Karls Biograph bereits in diesem Zusammenhang, daß das Problem des Titels, bzw. der Rangfolge der Herrschertitel, sich mit der Wahl Karls zum Römischen König erneut stellte und durch die Zuerkennung der Würde des Erwählten Römischen Kaisers sich als noch komplizierter erweisen sollte. 193 Petrus Martyr, epist. 567 (p. 556 W., 30.4.1516). 194 Petrus Martyr, epist. 571 (p. 558 W., 31.5.1516). 195 Maximilians zeitweilige Pläne zur Ordnung der Nachfolge im Reich dürften dabei nicht unwesentlich ins Gewicht gefallen sein: Da der Infant Ferdinand nach Karls Regierungsübernahme Spanien verlassen und in den Niederlanden leben sollte, war es naheliegend, in ihm den Erben der österreichischen Länder und der Kaiserkrone zu sehen, ein Konzept, das sich hervorragend in die dynastische Verbindung mit der Jagiellonen-Prinzessin einfügte. So war es von großer Bedeutung, Karls Position in den spanischen Reichen abzusichern und damit eine Teilung des Erbes vorzubereiten. Gossart 1910, 40–45 geht sehr ausführlich auf die Faktoren und Kräfte ein, die anfänglich eine Bedrohung für Karls Stel-

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Königstitels an Karl sanktionieren zu lassen, wandte der Kaiser sich an Papst Leo X., der dem Ersuchen zustimmte. Vermutlich hat sich der Papst nur durch den Hinweis auf Juanas Geisteskrankheit zu diesem ungewöhnlichen Schritt bewegen lassen. Mittelalterlicher Auffassung nach wurde dem Monarchen, dem einen „von Gottes Gnaden“ Auserwählten, die Herrschaft direkt von Gott übertragen, einen zweiten König konnte es daneben nicht geben. Wenn davon abgewichen werden sollte, bedurfte es in einem derartigen Ausnahmefall der Einwilligung und des Segens des Vicarius Christi. Die Anwesenheit des kaiserlichen Gesandten und des päpstlichen Legaten bei dem Leichenbegängnis Ferdinands von Aragon sollten mit Sicherheit unter Beweis stellen, daß die Proklamation Karls zum Rex Hispaniarum mit vollem Einverständnis der höchsten weltlichen und geistlichen Autoritäten erfolgte. Damit wird noch einmal sehr deutlich, daß die Leichenfeiern für Ferdinand den Katholischen zu einer politischen Demonstration umfunktioniert wurden, für die das burgundische Zeremoniell insbesondere mit seiner religiösen Komponente den effektvollen Rahmen bildete.196 Von Karl selbst ist kaum die Rede: Außer, daß er als Akteur in der letzten Szene einige rituelle Handlungen vollzieht, wird er als Person nicht sichtbar. Mehr noch als 1507, als man der Würde Respekt zollte, die der Knabe an den Tag legte, und die bewegende Leichenrede vermutlich auch Mitleid mit den verwaisten Kindern aufkommen ließ,

lung in Spanien darstellten. Dabei läßt er auch durchblicken, daß Maximilian mit seinem Bemühen um die Krone Kastiliens für den Enkel diesem keinen guten Dienst erwies. 196 Die Vorgänge in Brüssel nehmen sich vergleichsweise dezent aus gegenüber dem, was sich nach dem Tode Maximilians abspielte, als die Leichenfeiern für den Wahlkampf um die Kaiserkrone instrumentalisiert wurden; vgl. darüber Schmid 1997, 210. Danach ließ Franz I. Mitte Februar 1519 in Paris Exequien für den Kaiser feiern, die bei Sanuto molto honorevole e sontuose genannt werden. Mit der Totenfeier für den „Erb- und Erzfeind“ war der französische König seinem Rivalen um die Nachfolge im Reich zuvorgekommen. Umso deutlicher waren die Zeichen, die Karl bei der Trauerfeier setzte, die er für seinen kaiserlichen Großvater am 1.–2. März in Barcelona abhalten ließ: „Bei der zweitägigen Feier waren kaiserliche Insignien allgegenwärtig. So lag auf dem Katafalk, der in der Kirche aufgerichtet war, eine goldene Kaiserkrone und wurden im Trauerzug das kaiserliche Zepter, eine Kaiserkrone, der Reichsapfel, das kaiserliche Schwert und mehrere kleine und eine große Reichsfahne mitgetragen. Nach der Meßfeier des zweiten Tages kam es in der Kirche zu einer förmlichen Erb- und Nachfolgezeremonie. Vier Herolde nahmen vier Fahnen, die die Erblande repräsentierten, vom Katafalk auf. Dreimal riefen sie in Französisch und Kastilisch den Namen Maximilians mit allen seinen Titeln in das Kirchenschiff hinein und fügten jedes Mal hinzu: er ist gestorben und ließen nach dem letzten Mal die Fahnen zu Boden fallen. Nachdem erneut dreimal gerufen worden war: er ist tot, nahmen die Herolde die Fahnen wieder auf und trugen sie vor Karl. Ein Herold rief [:] Lob König Karl, gebt ihm den Titel seiner Reiche mit den Herrschaften Österreich. Im Anschluß daran zog Karl ein neues Kleid mit einer Kappe an und legte sich den Orden des Goldenen Vlieses um. Nun trat der Schildträger vor Karl und übergab ihm das kaiserliche Schwert.“

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verdeckten 1516 das Zeremoniell und die „Sache“, die Übernahme des Königstitels, die Persönlichkeit des jungen Herrschers. Zu dem für ihn so entscheidenden Moment hat sich der Kaiser in seinen Memoiren mit einem einzigen Satz geäußert, der es allerdings an Deutlichkeit nicht fehlen läßt: Es war das Todesjahr Sr. kath. Majestät, und sofort nahm der Erzherzog den Königstitel.197

197 Kervyn van Lettenhove 1862, 5.

IV. Das Ende einer langen Vormundschaft: Zur Emanzipation des Herzogs von Burgund und ihren Begleitumständen 1. Der schwierige Prozeß der Loslösung Am 5. Januar 1515 wurde Karl, Herzog von Burgund, vor den versammelten Generalständen im Ständesaal des Herzogsschlosses in Brüssel mündig gesprochen. Nach burgundischer Sitte hätte die Emanzipation des jungen Fürsten an seinem 15. Geburtstag, am 24. Februar 1515, erfolgen sollen. Unter späteren Historikern hat diese vorzeitige Entlassung des Prinzen aus der Vormundschaft sehr viel mehr Beachtung gefunden als die anschließenden Huldigungsreisen des Herzogs und die joyeuses entrées, die ihm allerorts bereitet wurden. Letztere angemessen zu würdigen, blieb zunächst den zeitgenössischen Chronisten vorbehalten, ehe sich im 20. Jahrhundert in der Nachfolge Jacob Burckhardts die Festkultur der Renaissance als Forschungsfeld etablierte. Zieht man in Betracht, daß der Prinz nur etwa sieben Wochen vor dem üblichen Termin für majorenn erklärt wurde, so verwundert es zunächst, daß der Vorgang seinerzeit für einige Unruhe sorgte und ihm später in der Landesgeschichte, mehr noch als in den Biographien Karls, so erhebliche Bedeutung beigemessen wurde.1 Um beides zu verstehen, müssen einige Fragen geklärt werden: Weshalb wurde die Emanzipation früher vollzogen als üblich? Wer hatte ein Interesse daran? Erfolgte die Aufhebung der Vormundschaft im Einvernehmen mit den beiden Vormündern des Prinzen, Maximilian I. und Margarete von Österreich? Gab es eine rechtliche Grundlage, auf die man sich bei der Abweichung vom burgundischen Brauch stützen konnte? Geht man diesen Fragen nach, so stellt sich sehr schnell heraus, daß das Ereignis nicht nur als eine innerburgundische Angelegenheit betrachtet werden kann, sondern außenpolitische Konsequenzen in einer Zeit ständig wechselnder Allianzen der Großmächte zur Folge hatte. Fragt man nach den Gründen, so läßt sich nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen zur Persönlichkeitsentwicklung des Prinzen konstatieren, daß Karl 1

Unter den Biographen behandelt vor allem A. Walther (1911) die vorzeitige Emanzipation Karls ausführlich und unter Einordnung in größere Zusammenhänge. Bei Henne nimmt der Themenkomplex breiten Raum ein (1865, 173–200); konzentrierter und prägnanter ist die Darstellung bei Pirenne (1953, 79–83). Die spanischen Chronisten Santa Cruz und Sandoval gehen kurz auf das Ereignis selbst und auf die Festlichkeiten in den Niederlanden ein. Insbesondere durch die zeitliche Distanz zu dem Geschehen ergeben sich Akzentverschiebungen.

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sich weder durch außergewöhnliche Reife noch durch besondere Fähigkeiten zu selbständiger Herrschaftsausübung auszeichnete, so daß derartige Faktoren bei der Vorverlegung seiner Mündigsprechung keine Rolle gespielt haben können.2 Eine Teilantwort auf die erste der oben aufgeworfenen Fragen enthält bereits der einzige Satz, mit dem A. Kohler auf die Emanzipation Karls eingeht: „Auf Drängen der burgundischen Stände trat Karl schon 1515 seine Herrschaft als Herzog von Burgund in den Niederlanden an.“3 Die Generalstände, die 1506 Maximilian die Vormundschaft angetragen hatten, drängten also nun auf deren vorzeitige Aufhebung. Die Initiative dazu ist mit einiger Sicherheit von Chièvres ausgegangen, der den entsprechenden Antrag formulierte und den Generalständen unterbreitete, bei denen er „begeisterte Zustimmung fand“.4 Man wandte sich direkt an den Kaiser, der die Vormundschaft an seine Tochter nur delegiert hatte und bei dem man, unter Einsatz wohlgewählter Mittel, auf mehr Entgegenkommen zu treffen hoffte als bei der Regentin. Im Dezember 1514 fanden Verhandlungen zwischen den Generalständen und Maximilian statt, an denen Chièvres nicht unwesentlich beteiligt war und die man vor Margarete streng geheim hielt.5 In der knappen, präzisen Darstellung H. Pirennes kommt Chièvres die Rolle des Chefunterhändlers zu;6 gleichzeitig stellt sich ein unguter Eindruck von Komplizenschaft zwischen dem Gouverneur des Prinzen und dem Kaiser ein, die ihre Verhandlungen mit dem ausdrücklichen Ziel führten, die langjährige „Ersatzmutter“ Karls vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auch Margarete wußte allerdings, daß ihre Aufgabe als Vormund der burgundischen Kinder spätestens im Februar 1515 erfüllt sein würde, nachdem Prinzessin Maria bereits im Mai 1514 den Keyzerhof verlassen hatte und Isabellas Abreise

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Nur Sandoval sieht sich aus der Kenntnis der weiteren Entwicklung veranlaßt, bereits dem vierzehnjährigen Prinzen die Eigenschaften zuzuschreiben, die der König und Kaiser erst in einem langen Reifungsprozeß entwickelte (58): Y ya en este tiempo, el príncipe don Carlos era de catorce años y andaba en los quince, y se echaba de ver en él el valor, saber y prudencia que después mostró. Y todos juzgaban ser bastante para tomar la administración y gobierno de estos reinos, ansí en los de España como en los estados de Flandes. Kohler 1999, 50. Tamussino 1995, 167. Es ist davon auszugehen, daß Chièvres als ausgesprochener Gegner der Politik Margaretes bei den Verhandlungen eine ganz entscheidende Rolle spielte. Gestützt wird diese Vermutung durch eine Mitteilung des damaligen englischen Gesandten, die Walther 1911, 133 f. referiert (nach Brewer 1864, 44): „Am 6. Februar 1515 erzählt sie [Margarete] dem englischen Gesandten «fast weinend», der Kaiser habe «ohne ihre Kenntnis, mit dem Herrn von Chièvres, die Entlassung Karls aus der Vormundschaft abgemacht, zu großem Präjudiz für ihre Ehre».“ Auf diesen Gesandtenbericht verweist auch Pirenne 1953, 81. Pirenne ebd.

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nach Dänemark unmittelbar bevorstand,7 während die beiden ältesten Geschwister im Laufe des Spätsommers 1514 nach Brüssel übergesiedelt waren. Obwohl die Regentin sich darüber im klaren war, daß die Zahl ihrer Gegner im Lande, in den Generalständen und an ihrem eigenen Hofe im Laufe der vergangenen Jahre ständig gewachsen war, hatte sie erwarten können, in die Verhandlungen zur Mündigsprechung des Prinzen einbezogen zu werden, für dessen persönliches Wohlergehen sie acht Jahre lang ebenso verantwortlich gewesen war wie für die Förderung seiner politischen Belange. Es ist nur zu verständlich, daß sie sich nicht nur übergangen, sondern insbesondere durch das Verhalten ihres Vaters hintergangen und gedemütigt fühlte. Pirenne beschreibt die Gemütsverfassung Margaretes sehr treffend: „Elle se vit dépouillée de la régence sans même avoir été consultée, humiliée publiquement devant la noblesse et les États généraux triomphants, et l’on comprend sans peine son dépit et sa colère.“8 Maximilian hingegen trat mit sehr nüchternen Erwägungen in die Verhandlungen ein: Die Emanzipation Karls stand ohnehin unmittelbar bevor. Weshalb sollte sie nicht um wenige Wochen vorverlegt werden, wenn dies ein so dringendes Anliegen der Generalstände war? 1483 und 1494 war Maximilian unter ungleich härteren Bedingungen von den Ständen gezwungen worden, seinen eigenen Sohn aus der Vormundschaft zu entlassen.9 Er wußte um die Macht der Stände und darum, daß man das Land nur im Einvernehmen mit ihnen und nicht gegen sie regieren konnte. Der Widerstand, der sich im Lande, vor allem in den Generalständen, gegen die Politik der Regentin erhoben hatte, war ihm bekannt. Nach etlichen Kontroversen mit Margarete ahnte er, wie heftig sie auf das Ansinnen reagieren würde, ihre Regentschaft vorzeitig zu beenden. Eine derartige Emotionalisierung der Situation vor dem Herrschaftsantritt des Enkels konnte bereits bestehende Spannungen zwischen Karl und Margarete nur verschärfen und war daher zu vermeiden. Diese sachlichen Argumente für das Vorgehen Maximilians konnten gewiß auch Gegner des Kaisers akzeptieren. Es trug ihm jedoch Verachtung und Hohn von Seiten seiner Widersacher ein, daß er, der sich in ständiger Geldnot befand, seine Vormundschaftsrechte – und damit auch die Margaretes – verkaufte: Die Generalstände, die zuvor das Ersuchen des Kaisers um finanzielle Unterstützung abgelehnt hatten, bewilligten ihm eine einmalige Zahlung von 150.000 Florins für seine Zustimmung zur vorzeitigen Emanzipation Karls.10 7 8 9

Isabella verließ die Niederlande am 12. Juni 1515. Pirenne 1953, 81. Cauchies 2003, 10 f. Im Jahre 1489 wurde Maximilian zunächst wieder als Vormund und Regent anerkannt (ebd. 17). 10 Nach Pirenne 1953, 81; Walther 1911, 134 spricht von 140.000 Livres artois. Nach Gachard 1854, 3 Anm. 3 ordnete Karl die Zahlung der 150.000 Florins an, zahlbar nach seiner Emanzipation.

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Am 23. Januar 1515 überschrieb man dem Kaiser ferner die jährlichen Zahlungen von 20.000 Gold-Ecus, die Karl von Ferdinand von Aragon zu empfangen pflegte, und setzte ihm zusätzlich am 16. Mai 1515 eine jährliche Pension von 50.000 Livres aus.11 Nicht selten ist die finanzielle Seite der Vereinbarungen als der wahre Grund für Maximilians bereitwillige Preisgabe der Vormundschaft betont worden; auch bei Parteigängern des Kaisers hat die Transaktion Befremden, Bitterkeit und Beschämung ausgelöst. Die Worte, die der englische Gesandte Robert Wingfield seinem König 1517 schrieb, als England sich durch die doppelgleisige Bündnispolitik des Kaisers getäuscht sah, hätten ebenso 1515 gefallen sein können: Um Geld verkauft der Kaiser sein Blut und seine Ehre.12 Ähnliche Anwürfe waren bereits lautgeworden, als Maximilian sich als Heerführer, nicht als „Söldner“, 1513 dem in der Kriegführung unerfahrenen Heinrich VIII. im Feldzug gegen Frankreich zur Verfügung gestellt hatte – gegen Erstattung seiner Aufwendungen. 1514 wog die Aussicht auf die finanzielle Entschädigung für die Aufgabe der Vormundschaft sicher schwer, als der Kaiser seine Entscheidung treffen mußte. Zu seiner Ehrenrettung sollten die oben angeführten sachlichen Argumente dennoch nicht übersehen werden: Er fügte sich in das Unvermeidliche und zog den ihm dargebotenen Nutzen daraus. Maximilian mag darüber hinaus die Niederlegung der Verantwortung für den Enkel als ein Akt der Befreiung aus vermehrt auftretenden Konfliktsituationen erschienen sein: Je komplizierter die Bündnisverflechtungen der europäischen Mächte sich entwickelten und je häufiger Allianzen kurzfristig, einer momentanen Interessenlage entsprechend, wechselten, desto schwieriger wurde es für den Kaiser, die Belange Karls und der Niederlande mit denen des Reiches zu vereinbaren. Maximilian, der Vormund und Wahrer des burgundischen Erbes, lag oft im Widerstreit mit Maximilian, dem Kaiser. In einem Brief an Margarete kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck: [...] nous avons receu deux vos letres, [...] et par icelles entendu l’advis de vous et de ceulx de nostre privé conseil de par delà, sur le fait des trèves que nostre frère le roy d’Arragon a prises avec le roy de France [...] Nous devons, comme tuteur et maimbour de nostre fils Charles, accepter icelles trèves; de quoy sommes aussy bien de cette opinion, veu que par ledit traictié d’Angleterre nostredit fils et ses pays demeurent sans ce à la neutralité; mais quant à nostre personne comme empereur, nous sommes tenus de tenir audit roy d’Angleterre le traictié par vous conclud, et ainsi le voulons faire.13 11 Walther 1911, 134. 12 Zit. bei Wiesflecker 1981, 379, ebenso bei Walther 1911, 134 (nach Brewer 1864, 945). 13 Le Glay 1839, 2, 143–149 Nr. 494 (17.5.1513), Zitat 146 (Nachschrift vom 18. Mai). Der Brief bezieht sich auf folgende Situation: Der Kaiser, Ferdinand von Aragon und Heinrich VIII. hatten sich im April in der Liga von Mecheln gegen Frankreich zusammengeschlossen. Ferdinand verhandelte gleichzeitig mit Frankreich und schloß einen Waf-

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Formaljuristisch wurden die Verhandlungen am 23. Dezember 1514 mit der Unterzeichnung einer Vollmacht abgeschlossen, in der der Kaiser auf seine bisherigen Rechte als Vormund verzichtete und sein Einverständnis mit der vorzeitigen Emanzipation seines Enkels Karl erklärte.14 Damit ist die Mehrzahl der oben aufgeworfenen Fragen beantwortet, bis auf die nach den Motiven, die die Generalstände zu diesem Eilverfahren veranlaßten: Man wollte auf jeden Fall verhindern, daß Margarete ihre Vormundschaft und damit die Regentschaft über den üblichen Termin der Emanzipation hinaus verlängerte, worauf sie vielleicht hoffte. Indem man Maximilian seine Vormundschaftsrechte abkaufte, glaubte man einerseits, sich ein für allemal von neuerlichen Forderungen nach aides für die kaiserliche Politik zu befreien, andererseits aber vor allem die Regentin auszuschalten. Nach Auffassung der Niederländer, die anfangs ihre princesse naturelle begeistert empfangen hatten, rangierten in der Amtsführung Margaretes die dynastischen Interessen zu weit vor dem Wohl des Landes. Man warf ihr in erster Linie die Fortführung des immer wieder aufflammenden Geldrischen Krieges vor, der das Land seit Jahrzehnten belastete, für den es mit Verwüstung, wirtschaftlichem Niedergang und ungeheuren Summen für den Unterhalt der Armeen bezahlte. Margarete hatte diese Erblast bei Antritt ihrer Regentschaft von ihrem Vater und ihrem Bruder übernommen. Den Häusern Burgund und Habsburg gleichermaßen verpflichtet, war sie ebenso wenig wie Maximilian und Philipp vor ihr bereit, das von Karl dem Kühnen überkommene Erbe preiszugeben.15 Hatten die Generalstände sich 1508 noch bereitgefunden, die erforderlichen Mittel zur Rückgewinnung des Herzogtums zu bewilligen,16 so erhob sich im Laufe der folgenden Jahre immer lauter der Ruf nach Beendigung dieses Krieges, den die Generalstände als eine Angelegenheit der Dynastie Habsburg-Burgund betrachteten, für die man nicht länger Subsidien bereitstellen wollte. Als 1511 ein erneuter militärischer Vorstoß der Niederländer trotz der Unterstützung durch englische Truppen scheiterte, erhob sich Protest im Lande, und selbst die Regierung Margaretes wurde durch den passiven Widerstand einiger Mitglieder in ihrer Arbeit gelähmt. Damals wurden erstmals Forderungen laut, die auf eine Mündigkeitserklärung Karls abzielten. Selbstverständlich war allen Beteiligten klar, daß ein Elfjähriger nicht die Regierungsverantwortung übernehmen konnte. Dafür würde ein Regentschaftsrat, vorzugsweise aus nationalfenstillstand, nachdem er 1512 die französische Interessensphäre Navarra besetzt hatte. Ausführlich dazu Wiesflecker 1981, 473–476; zu den wechselnden Bündnissen vgl. auch oben 105–108. 14 Walther 1911, 133. 15 Zu den Anfängen des Krieges um Geldern vgl. oben 86–88 m. Anm. 222. 16 Gegen Ende des Jahres 1507 schien sich eine friedliche Beilegung des Konflikts anzubahnen, und 1508 gab der Vertrag von Cambrai vorübergehend Anlaß zu großen Hoffnungen.

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burgundischen Adligen zusammengesetzt, zuständig sein, der die „nationalen“ Interessen über die dynastischen stellte. Der Geldrische Krieg würde ein Ende finden, auch wenn Karl dadurch einen Teil seines Erbes verlöre. Den Ernst der Lage, mit der sie konfrontiert war, stellte Margarete in einem Schreiben dar, das ein Gesandter dem Kaiser überbringen sollte: Et desjà sourrent plusieurs devises entre le peuple, comme Monseigneur [Charles] approuche l’eaige pour estre mys hors de manbornie, et que si l’on ne treuve autre expédient de faire cesser ceste mauldicte guerre de Gueldres, qu’il le fault mettre hors de tutelle. Car pour le moien de Sa Majesté et de Madame qui luy veult conplaire, Monseigneur est destruict et ses pays perdus.17

Maximilian erwartete von der Tochter, daß sie gegenüber Geldern die Interessen des Hauses und des Erben, ihres Mündels Karl, auch mit kriegerischen Mitteln vertrat. Fragte ihn jedoch die Tochter brieflich um Rat in den niederländischen Angelegenheiten oder drängte sie auf sein Kommen, so ging er kaum darauf ein und eilte auch nur selten zu Hilfe.18 Die unpopulären Entscheidungen, die Margarete zu treffen gezwungen war, schadeten dem Ansehen der Regentin bei den Ständen und bei der Bevölkerung. Der Unmut traf mithin weniger den Kaiser, der meistens in der Ferne seinen vielfältigen Unternehmungen nachging, sondern seine Stellvertreterin vor Ort. Vom Frühjahr 1513 an geriet Margarete immer stärker in Bedrängnis. Die Maßnahmen, mit denen sie der neuerlichen Bedrohung des Landes von außen sowie der Auflehnung und den Intrigen in ihrem engsten Umfeld begegnen wollte, fanden keine Zustimmung oder erwiesen sich als wirkungslos.19 Sie hatte ihre Autorität als Regentin und als Vormund weitgehend eingebüßt. Die Unzufriedenheit im Lande und das unterschwellige Murren gingen in offene Opposition und feindselige Aktionen über. Die Stände verweigerten ihr jegliche weitere Unterstützung; sie machten die Emanzipation Karls zur Bedingung für die Bewilligung finanzieller Mittel, die dann direkt dem Herzog zufließen sollten. Auf diese Weise hofften sie, die Regentin zur Niederlegung ihrer Ämter drängen zu können. Margarete zog diesen Schritt offenbar nicht in Erwägung, sondern vertraute darauf, daß der Kaiser durch persönliches Eingreifen die Situation zum Besseren wenden könnte. Dies geht aus ihrem Brief vom 24. März 1513 (Gründonnerstag) hervor: Et au regard de vostre venue, Monseigneur, elle est plus que nécessaire; et sans icelle, les affaires de par deçà se pourteront mal; car les pays ne vueillent accorder ayde ny riens 17 Eigenhändiges mémoire Margaretes, zit. bei Walther 1911, 97 Anm. 1 (ohne nähere Angaben zur Fundstelle und zur Datierung). 18 So auch Walther 1911, 114 f. 19 Die Zuspitzung der Situation durch die Häufung und Verkettung bedrohlicher Entwicklungen ist an früherer Stelle im Einzelnen dargelegt worden: s. oben 107–115.

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donner; et fault que cecy procède d’estre mal menez par aucuns maulvais espritz, soubz coleur que brief, Monseigneur doit estre hors de tutelle, et que lors ilz accorderont les aydes à mondit seigneur. Et à quoy, Monseigneur, tiens que par vostre sens et prudence sçaurés bien pourveoir comme il apartient.20

Spätestens nachdem in der Nacht des Karfreitags Schmähschriften gegen die Regentin an den Kirchentüren angeschlagen worden waren,21 mußte Margarete sich eingestehen, daß dies kaum das Werk von aucuns maulvais espritz sein konnte: Die öffentliche Meinung im Land erhob sich gegen sie. An Rückzug aus dem Amt dachte sie dennoch nicht, sondern hoffte weiter auf die Hilfe des Kaisers, in dessen Sinne sie regiert hatte, immer auf den Vorteil und die Ehre Maximilians und Karls bedacht. Wie sehr sie sich in der eigenen Ehre getroffen fühlte, gibt sie in dem Brief nicht zu erkennen, in dem sie den Vater von den Vorkommnissen informiert.22 Mit zahlreichen Äußerungen in ihrer Korrespondenz läßt sich jedoch belegen, daß ihr die Ehre, die persönliche wie die des Hauses, und das Haus als die höchsten Güter galten, deren Wahrung Leitmotiv ihres Handelns war. Darin zeigte sie sich ganz als die Tochter Maximilians.23 1513 wurde für Margarete zu einem Jahr der Niederlagen – eine Entwicklung, die sich 1514 fortsetzte. Die Serie der Rückschläge, zunächst gegen Geldern und die Stände, wurde nur kurz durch den Triumph Maximilians an der Seite Heinrichs VIII. vor Thérouanne und die folgenden festlichen Tage von Lille unterbrochen. Selbst auf diese Zeitspanne fiel ein Schatten, als Margarete die Nachricht von der Unbotmäßigkeit Karls erhielt. Auch der beschwichtigende Brief Beersels befreite die Regentin nicht von der Sorge um die Lenkung des Prinzen.24 Der Vorfall, der sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte, wird sie in ihrem beharrlichen Insistieren auf einer Neuordnung der Erziehung des Heranwachsenden nur bestärkt haben. Über die Wirkungslosigkeit der Ordonnanz zum gouvernement de la personne des Prinzen ist an früherer Stelle das Nötige gesagt worden. Für Margarete stellte das Scheitern dieses Konzepts eine weitere Niederlage dar, gegenüber Chièvres und der Umgebung Karls, aber auch in den Augen der Öffentlichkeit: Es bedeutete ein Eingeständnis von Margaretes Versagen auch als Vormund. In den Augen der Niederländer muß es geradezu als Schande erschienen sein, wenn zur Erziehung ihres prince naturel auch Ausländer herangezogen werden sollten.

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Le Glay 1839, 2, 233 f. Nr. 557. Vgl. oben 106 f. Le Glay 1839, 1, 504–507 Nr. 380 (ca. 28.3.1513, vgl. oben 107 Anm. 286). Die Zitate, die oben (120) gleichsam als Motto vorangestellt sind, lassen deutlich werden, daß der Kaiser und seine Tochter, ungeachtet vieler Meinungsverschiedenheiten, sich dem gleichen Wertekanon verpflichtet fühlten. 24 S. oben 332–335.

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Die Emanzipation des Herzogs von Burgund

Das Jahr 1514 begann mit der Affäre um don Juan Manuel, in der Margarete keine glückliche Hand bewies. Juan Manuel, Diplomat aus einer der vornehmsten Familien Kastiliens,25 war der Anführer der Kastilier am burgundischen Hof, denen Ferdinand von Aragon vorwarf, dort gegen ihn zu intrigieren, Zwietracht zwischen dem König und dem Kaiser zu säen und Karl gegen den spanischen Großvater aufzuwiegeln.26 Die Regentin hatte die Ausschaltung des Kastiliers offensichtlich langfristig vorbereitet; sie wußte jedoch, daß sie nicht ohne die ausdrückliche Zustimmung des Kaisers vorgehen konnte. Daher wandte sie sich an Hans Renner, den langjährigen Sekretär Maximilians, um das schriftliche Einverständnis ihres Vaters zu erlangen: [...] ledit seigneur roy catolique nous a fait instamment et à diverses fois par ses ambassadeurs fait fère les remonstrances convenables, que sont en effet telles que cependant que l’empereur vouldra entretenir, favoriser et retraire ses malveillans comme sont lesdits Castilians, desquelz don Juan Manuel est le chief et principal conscillier et conduictier de ceste affère [...]. Parquoy requiert [...] que justice et raison soit faicte et administrée d’eulx, et qu’ilz ne soient soubstenuz au service du prince son filz et héritier contre son vouloir, offrant assés fère apparoir de leurs machinations par lettres et renseignemens souffisans. A ceste cause nous semble [...] qu’est une chose fort nécessaire pour le bien de ce josne prince, seroit nécessaire et expédient, que ledit empereur nous escripvit une bonne lettre, par laquelle il nous mandât et ordonnât pourveoir et remédier à ceste affère par le meillieur moien que verrons estre à fère [...].27

25 Als spanischer Gesandter ist Juan Manuel 1496 in Genua nachgewiesen; in derselben Eigenschaft erscheint er anschließend am Hofe Maximilians. Er begleitete 1503 den Römischen König in die Niederlande und blieb dort, ohne auf die wiederholte Abberufung durch Ferdinand von Aragon zu reagieren. 1505 wurde er ständiges Mitglied von Philipps conseil privé. Mit anderen kastilischen Flüchtlingen kehrte er nach 1506 an den burgundischen Hof zurück, wo er bis zu seiner Verhaftung politisch sehr aktiv war. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft Ende April 1514 wurde er auf kaiserlichen Befehl nach Wien gebracht, wo er sich bis zur Emanzipation Karls aufhielt. Völlig frei konnte er sich erst nach dem Tode König Ferdinands bewegen; damals kehrte er nach Brüssel an den Hof Karls zurück. In den folgenden Jahren war er Gesandter Karls u.a. in Rom, mußte aber während des kurzen Pontifikats Hadrians VI. von diesem Posten abberufen werden, da eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Papst aufgrund der Unvereinbarkeit der Auffassungen unmöglich war. Vgl. oben 305 f. u. 312 Anm. 495. 26 Diese Anschuldigungen bringt Margarete bereits im Oktober 1513 in ihrer Rechtfertigungsschrift gegenüber Chièvres vor. In einem ersten Entwurf wurde Juan Manuel sogar namentlich erwähnt, während in der überarbeiteten Fassung nur allgemeiner von les fugitifz d’Espaigne et autres maldisans de luy die Rede ist (zit. bei Walther 1911, 222). 27 Zit. nach Walther 1911, 224 f. (Margarete an Hans Renner, November 1513; Archives du Nord).

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Am 10. Januar gab der Kaiser die Erlaubnis, den Kastilier zu verhaften, „wenn er sich nach dem Gesetz strafbar gemacht habe“;28 darauf erfolgten die Festnahme am 17. Januar und die Überstellung Juan Manuels in das Staatsgefängnis zu Vilvorde. Ein eigenhändiges Schreiben des Gefangenen, aufgesetzt am 19. Januar, ist in Lille erhalten. Darin erklärt er, seine einzige Schuld sei die, nicht Diener des Königs von Aragon zu sein; wolle Margarete alle, die sich in derselben Lage befänden, bestrafen, so würden sehr wenig Kastilianer ohne Strafe bleiben.29 Die Verhaftung des Spaniers führte zu heftigen Protesten im Lande: Juan Manuel war Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies. Die Verhaftung und Aburteilung eines Ordensritters aber standen nur dem Ordenskapitel zu.30 Margarete hatte sich – man darf wohl sagen leichtfertig und ohne die Folgen abzuschätzen – über die Statuten des Ordens hinweggesetzt, die „damals durchaus die Geltung eines Staatsgesetzes hatten“.31 Als die Angehörigen des Gefangenen bei Margarete vorstellig wurden, sicherte sie ihnen zu, Juan Manuel nicht an Ferdinand von Aragon auszuliefern, ein Versprechen, das sie auch einhielt, während die zugesagten Hafterleichterungen unterblieben.32 Fast alle Biographen Karls gehen auf die anschließenden Auftritte der aufgebrachten Ordensritter vor der Regentin mehr oder minder ausführlich ein, da der Prinz dabei an prominenter Stelle hervortrat.33 Am 20. Januar 1514 erschien eine Abordnung der Ordensritter, angeführt von Erzherzog Karl, vor der Regentin. Sie verlangten von ihr, daß sie den Eid respektierte, den sie auf die Ordensstatuten abgelegt hatten und der ihnen nicht gestattete, den Gefangenen einer anderen als der Ordensgerichtsbarkeit zu überlassen. Margarete weigerte sich, den Gefangenen freizulassen und berief sich auf die Anordnungen des Kaisers. Mehr noch als die Beschwerden der Adligen empörte die Regentin das Auftreten Karls an der Spitze der Delegation, als Anführer der Opposition. In ihrer Erregung ließ sie sich dazu hinreißen, Karl vor den Ordensrittern zum Gehorsam zu ermahnen und ihn daran zu erinnern, daß er in 28 Walther 1911, 120. 29 Ebd. (Original: Archives du Nord). 30 Der Fall wurde schließlich 1516 während des ersten Ordenskapitels, dem Karl als Souverän in Brüssel vorstand, verhandelt. 31 Walther 1911, 120. 32 Dansaert 1942, 111. 33 Walther 1911, 120–122; Brandi 1964, 43; Habsburg 1967, 72 f.; Seibt 1990, 43. Ausführlich, aber ohne Quellenangaben, Henne 1865, 132 f., der allerdings die Ereignisse in das Jahr 1513 verlegt – ein Fehler, der zweifellos auf Datierungen im alten Stil mit Jahresbeginn zu Ostern zurückgeht (Ostern fiel 1514 auf den 16. April). Am eingehendsten behandelt Dansaert 1942, 109–114 die Vorgänge. Seine Darstellung basiert großenteils, oft wörtlich, auf Henne, von dem er auch die falsche Datierung übernimmt, unter Hinzuziehung einiger Briefpassagen aus der Correspondance. Angaben zu weiteren Quellen für seine ausführliche Schilderung fehlen.

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ihren Augen – und de facto – ein unmündiges Kind war, das den Vormündern, insbesondere dem Kaiser, Gehorsam schuldete.34 Diese Demütigung des Erzherzogs in Gegenwart der Ordensritter, deren Souverän er bald sein würde, vertiefte die bereits aufgebrochene Kluft zwischen Karl und Margarete und bestärkte den Prinzen nur in seinem Aufbegehren gegen die mühsam aufrecht erhaltene Autorität der Vormünder. Wie von Seiten der Bevölkerung und der Stände, so richtete sich auch die Rebellion Karls in erster Linie gegen Margarete, die vor Ort ihre Entscheidungen traf. Der Vierzehnjährige, ohnehin in der Phase pubertärer Auflehnung gegen elterliche Erziehungsmaßnahmen (wobei es keine Rolle spielt, daß sie nicht von den leiblichen, sondern von den „Ersatzeltern“ ausgingen), muß den öffentlich ausgesprochenen Tadel umso beschämender empfunden haben, als er von einer Frau erteilt wurde. Für Margarete schmerzlich und enttäuschend, psychologisch jedoch völlig verständlich, schloß sich Karl umso enger an die Männergesellschaft des Ordens an, die ihn als einen der Ihren behandelte und ihm als dem künftigen Oberhaupt Achtung entgegenbrachte. So führte er auch den zweiten Auftritt der Vliesritter vor der Regentin an, der noch weit heftiger verlief als der vorige. Dabei wurde nicht nur der Vorwurf wiederholt, daß sie die Ordensstatuten verletzt habe, sondern ihr wurden auch grundsätzliche Verfahrensfehler angelastet: So habe der Kaiser die Genehmigung zur Verhaftung des Kastiliers nicht aus eigener Initiative erteilt, sondern unter dem Einfluß ihrer einseitigen Informationen; ferner sei die Festnahme erfolgt, ehe man Juan Manuel die Anklagepunkte mitgeteilt habe. Daher verlangten sie die Herausgabe des Gefangenen und des Beweismaterials. Aufs höchste erregt, wandte sich die Regentin an Karl und erinnerte ihn nochmals daran, daß er den Anweisungen des Kaisers zu gehorchen habe. Sie verlor vollständig die Kontrolle über sich und schrie dem Neffen ins Gesicht: Ces démarches ne sont que l’effet de pernicieux conseils; elles sont tout à fait contraires à votre propre intérêt, qui seul me guide dans cette affaire.35 Den Ordensrittern erklärte sie, daß sie die volle Verantwortung für alle Maßnahmen zu übernehmen bereit sei, die gegen Juan Manuel getroffen würden. Was die Einhaltung der Statuten betraf, so schleuderte sie den Rittern die oft zitierten Worte entgegen: Il vous est libre d’interprêter vos statuts à votre guise, mais si j’estois homme comme je suis femme, je vous ferais chanter ces statuts par livre, et apporter les statuts avant.36 Dem Greffier machte die Regentin schwere Vorwürfe, weil er Karl in der Delegation gleichsam als Chef und Souverän des Ordens auftreten ließ: Ober-

34 Dansaert 1942, 111. 35 Ebd. 112. 36 Ebd.

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haupt der Vliesritter war vorerst noch der Kaiser.37 Margarete war nicht bereit, diesen Mangel an Respekt vor Maximilian zu tolerieren, sondern sah darin einen Akt von lèse-majesté. Ihre Empörung ist verständlich, denn in der Tat hatten die Ritter aus eigener Machtvollkommenheit, wenn auch nur für den Bereich des Ordens, Karls Emanzipation vorgegriffen. Die Audienz endete ohne Annäherung der Standpunkte in heftigen Wortwechseln. Unmittelbar im Anschluß setzten die Ordensritter ein Protestschreiben an den Kaiser auf, das von Karl als Duc Charles, chef et souverain38 und sieben weiteren Vliesrittern unterzeichnet wurde.39 Daß zu den Unterzeichnern auch die Herren von Beersel und von Ysselstein gehörten, die bisher zu den wenigen Getreuen Margaretes gehört und ihre Politik unterstützt hatten, ist ein weiterer Beweis dafür, daß die Regentin ständig an Rückhalt verlor. Maximilian zögerte seine Antwort an die Ordensritter hinaus: Der Fall präsentierte sich als höchst delikate Angelegenheit, die viel diplomatisches Geschick erforderte. Der Kaiser schwankte zwischen der Loyalität gegenüber der Tochter und der gegenüber dem Orden. Er wußte, daß Margarete im Unrecht war, und mußte einen Ausweg aus der heiklen Situation finden, ohne ihrem Ansehen zu schaden. Anfang März 1514 sandte er der Tochter ein eigenhändiges Billett, in dem er sie bat, Karl mitzuteilen, daß Juan Manuel Gerechtigkeit widerfahren und die Rechte des Ordens gewahrt werden würden.40 Ausführlicher antwortete er am 29. März 1514 Karl und den Ordensrittern. Danach hatte er Juan Manuel in „Schutzhaft“ nehmen lassen, um sich seiner Person zu versichern und Fluchtversuche zu verhindern. Um eine sorgfältige Untersuchung der gegen den Spanier erhobenen Anschuldigungen zu ermöglichen, wollte der Kaiser alle relevanten Materialien sammeln lassen. Die Unterlagen sollten dem Orden übergeben werden, damit die Ritter ihr Urteil fällen könnten: Surquoy vous signiffions que pour ce que nous avons esté bien notablement adverty, que ledit don Jehan avoit fait allencontre de vous nostre filz, et commis crime de lèsemagesté, sur ce comme prince et chief de nostre ordre de la thoison, avons permis qu’il ait esté appréhendé au corps et constitué prisonnier, non pour lui faire ou souffrir faire aucun mal, estroictement traicter ou contrevenir aux statuz de nostredit ordre, mais seullement pour estre asseuré de sa personne, et qu’il ne se rendit fugitif de noz pays depardelà, dont pluiseurs maulx et inconvéniens lui en eussent peu advenir. Et avons fait faire les informacions 37 Chef und Souverän des burgundischen Hausordens war stets der Herzog von Burgund. Wie schon zur Zeit der Minorität seines Sohnes Philipp fungierte Maximilian auch während seiner Vormundschaft über den unmündigen Enkel als Chef des Ordens. 38 Kalff 1963, 28. 39 Es waren dies Charles de Croy, Fürst von Chimay, Heinrich Graf von Nassau, die Seigneurs de Chièvres, de Sempy, de Beersel, du Rœulx und d’Ysselstein. 40 Ed. bei Walther 1911, 230 (Original: Archives du Nord).

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allencontre de lui, affin d’estre tant mieulx cerchiorez des cas et crimes, s’aucuns en a commis et perpétré, pour enoultre bailler et délivrer le tout et en faire le jugement selon les statuz, institucion et ordonnances dudit ordre.41

Damit hatte der kaiserliche Schiedsrichter Margaretes Gegnern zwar Recht gegeben, aber, ohne die Beteiligung der Regentin an der Affäre zu erwähnen, die Verantwortung für die Verhaftung und das weitere Vorgehen an sich gezogen. Der Gefangene wurde freigelassen und unter Bewachung an den Kaiserhof überstellt.42 In dem standfesten Einsatz Karls für die Rechte eines Ordensmitglieds haben manche Historiker eine erste selbständige Handlung des Erzherzogs erkennen wollen, während andere Zeichen von Eigeninitiative zuerst in seinem harten Einschreiten gegen eine Eheabsprache zwischen seiner Schwester Eleonore und dem Pfalzgrafen Friedrich von Baiern im Jahre 1517 sehen. Gegen die erste Auffassung lassen sich etliche Einwände vorbringen: Karl war von frühester Kindheit an im Geiste des Ordens erzogen worden. Seine drei Gouverneure, der seigneur de Beersel, der Fürst von Chimay und Chièvres, waren Ordensritter von hohem Ruf und entsprechendem Einfluß. Der dem Knaben von ihnen vermittelte Kanon ritterlicher Tugenden war und blieb eine wesentliche Richtschnur für Karl, bis an sein Lebensende. Daher dürfte es den Vliesrittern ein Leichtes gewesen sein, den Prinzen für die Teilnahme an ihren Protestaktionen zu gewinnen, zumal er die Empörung gegen das Vorgehen Margaretes zweifellos teilte. Der Anstoß zu den Auftritten und die Planung der einzelnen Schritte kann m.E. jedoch nicht von dem Vierzehnjährigen, sondern nur von den erfahrenen Ordensrittern ausgegangen sein. Wenn sie Karl den Titel des Ordenssouveräns zuerkannten, so gewiß nicht, um sich von dem Heranwachsenden wirklich leiten zu lassen, sondern weil sie hofften, ihren Forderungen durch seine Mitwirkung als Chef größeren Nachdruck zu verleihen. Außerdem versicherte man sich mit diesem Entgegenkommen des künftigen Herzogs auch für eventuelle spätere Anlässe. Der Prinz seinerseits, 41 Ed. bei Walther 1911, 230 f. (Original: Archives du Nord). Allerdings mußte Margarete am 19. Mai 1514 dem Kaiser mitteilen, daß man keine belastenden Schriftstücke gefunden habe. Juan Manuel habe genug Zeit gehabt, wichtiges Material zu beseitigen (ebd. 232 [Beil. 20]). 42 Der Regentin fiel es schwer, diese weitere Niederlage zu akzeptieren und sich die eigenen Fehlentscheidungen in der Affäre um den Spanier einzugestehen. Nur widerwillig ließ sie die Anordnungen des Kaisers vollziehen und machte kein Hehl aus ihrem Groll gegenüber Juan Manuel: Sie zögerte die Freilassung bis Ende April hinaus, gestattete dem Diplomaten nicht, vor dem Aufbruch nach Wien seine Angelegenheiten in den Niederlanden zu ordnen und verlangte überdies, daß er für die Unkosten aufkam, die sein Gefängnisaufenthalt verursacht hatte, also für „Kost und Logis“ in Vilvorde. Zwar war es damals üblich, daß Gefangene die Kosten zumindest für ihre Verpflegung zu tragen hatten, jedoch nur, wenn sie schuldig gesprochen wurden. Im Fall Juan Manuels war kein Urteil gesprochen worden, und so setzte sich die Regentin abermals ins Unrecht.

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der gegen die Fesseln der Vormundschaft rebellierte, ergriff ohne zu zögern die Gelegenheit, endlich als Mann unter Männern, unter den Rittern nicht nur als einer ihrer pares, sondern als ihr Chef auftreten zu können. So betrachtet, kann das Eintreten Karls für Juan Manuel nicht als erste selbständige Handlung des Prinzen gelten. Indem man ihm durch die Verleihung des Titels schmeichelte und ihn in dem Glauben bestärkte, für die Rechte des Ordens zu fechten, benutzte man ihn bei den Bemühungen, sich der Regentin zu entledigen, die allerdings in diesem Falle durch ihr allzu spontanes Vorgehen ihre eigene Autorität weiter untergrub. In den Zeitraum, als die Beziehungen zwischen Margarete und Karl durch die Affäre um Juan Manuel äußerst gespannt waren, hätten eigentlich die Vorbereitungen für die Hochzeit des Prinzen mit Mary Tudor fallen müssen, die zwischen dem 24. Februar und dem 15. Mai 1514 stattfinden sollte. Obwohl vielerlei Anzeichen darauf hindeuteten, daß Heinrich VIII. angesichts neuer politischer Konstellationen an der Verbindung seiner Schwester mit dem Herzog von Burgund nichts mehr gelegen war,43 fragte sich Margarete noch Ende April 1514, ob mit der Eheschließung die Vormundschaft enden würde. Gewiß auch im Hinblick auf ihre eigene künftige Position drängte sie den Kaiser, diesen Aspekt zu bedenken, damit sich die Angelegenheit in seinem Sinne regeln ließe: Monseigneur, aucuns me disent que la solempnization du mariage de Monseigneur faicte, il sera lors hors de tutelle. Parquoy seroit nécessaire que advisissiez pourveoir à toutes choses, de manière que ne trouvissiez à ceste cause les choses d’aultre sorte que n’entendez.44

Nur zwei Tage später teilte Maximilian der Tochter mit, daß er den Heiratsvertrag für seine Enkelin Isabella und König Christian II. von Dänemark abgeschlossen habe und daß sie und Karl sich auf die Ankunft der dänischen Diplomaten vorbereiten und sie entsprechend empfangen möchten.45 Margarete war offensichtlich von diesem Heiratsprojekt zuvor nicht unterrichtet worden. Aus der Correspondance geht eindeutig hervor, daß dieses nicht das erste und einzige Mal war, daß der Kaiser seine Tochter nicht in seine Pläne einweihte und sie an etlichen Entscheidungen, die ihre Aufgaben als Regentin und als Vormund tangierten, nicht beteiligte. Sie wurde oft vor vollendete Tatsachen gestellt. So erfuhr sie nur auf Umwegen durch den Gesandten Ferdinands von Aragon, daß Maximilian am 13. März 1514 den Waffenstillstandsvertrag zu Orléans geschlossen hatte, vor dem sie gewarnt hatte und der schließlich den Bruch mit dem englischen Verbündeten herbeiführte.46 In dem mémoire, das die Regentin am 6. Juli 1514 dem Kaiser

43 44 45 46

Vgl. oben 147–149. Le Glay 1839, 2, 247–250 Nr. 567 (28.4.1514), Zitat 250. Le Glay 1839, 2, 383 f. (appendice 6, 30.4.1514). Vgl. oben 148 Anm. 414.

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übermitteln ließ,47 wiederholte sie ihre Warnungen und äußerte ihre Befürchtungen, daß Heinrich VIII. sich völlig von allen Bindungen an Maximilian und sein Haus lösen und sich mit Frankreich verbünden könnte. Tatsächlich geschah, was Margarete vorhergesehen hatte: Am 7. August 1514 schlossen Ludwig XII. und Heinrich VIII. den Vertrag von London. Damit zerschlugen sich nicht nur die letzten Hoffnungen auf ein Zustandekommen der englischen Heirat, sondern Margarete verlor zudem mit Heinrich VIII. ihren wichtigsten Bündnispartner, der sie im Kampf gegen Geldern mit Truppen und Geld unterstützt hatte. Gerade die hier noch einmal genannten dynastisch-politischen Entscheidungen der vorhergegangenen Monate, von denen der Kaiser seine Tochter im Vorfeld nicht informiert hatte, dürften den Ausschlag dafür gegeben haben, daß Margarete in ihrem mémoire den Vater mit Nachdruck bat, sie über neue Entwicklungen und über seine Pläne zu unterrichten.48 Sie empfand es als unverdienten Mangel an Vertrauen, als Zweifel an ihrer Verschwiegenheit, wenn andere eher von den Vorhaben des Kaisers Kenntnis hatten als sie als Regentin. Abgesehen davon, daß sie sich durch das Mißtrauen des Vaters in ihrer Ehre gekränkt sah, fühlte sie sich vor allem außer Stande, die Regierungsgeschäfte nach den Vorstellungen Maximilians zu führen, wenn er sie nicht einweihte. Obwohl Margarete also hinreichend erfahren hatte, daß der Vater sie von wichtigen Entscheidungen ausschloß, muß es sie besonders getroffen haben, daß er ihr die Verhandlungen zur Emanzipation Karls verheimlichte, nachdem sie ihn zuvor um mehr Offenheit und Vertrauen gebeten hatte. Wirklich unerwartet und überraschend kann das Ende der Vormundschaft dennoch nicht gekommen sein. Nicht nur die zunehmende „Unregierbarkeit“ des Erzherzogs, sondern auch die fortgesetzten Umtriebe seiner engsten Vertrauten am Hofe schilderte Margarete dem Kaiser: Mißstände, die auch Maximilian und Margarete zum Schaden gereichen konnten, da die schwindende Zahl ihrer Getreuen einer Mehrheit von Befürwortern einer baldigen Emanzipation Karls gegenüberstand, die auf ihren eigenen Nutzen bedacht waren. Nur der Kaiser selbst konnte nach Margaretes Ansicht durch rasches Einschreiten vor Ort den Schaden noch abwenden: Et fait à craindre que, soubs couleur de tels troubles et inconvéniens, aucunes muteries ne se mettent sus par la faveur et assistance d’aucuns qui aiment mieulx noyse et débat que aultre chose, mesmes quand l’entretenance de la guerre leur fauldra, et au moyen de ce pourront, comme il fait à craindre, par actes extérieurs et apparens, s’avancer de vouloir mettre monseigneur hors de tutelle, plutost que sa Majesté ne l’entend, à quoy semblablement est nécessaire que sadite Majesté ait esgard, et tost si elle y veut obvier, autrement ne viendra jamais à temps. Car nous trouvons si petit nombre de serviteurs dudit seigneur Empereur pardeçà, que sans sa briefve venue il sera bien difficile à nous l’empescher, en tant que la 47 Ed. bei Walther 1911, 232–237 (Beil. 21; Original: Archives du Nord). 48 Ebd. 234.

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pluspart de tous ses serviteurs cuident trop mieulx faire leur prouffit de mondit seigneur, iceluy mis hors de tutelle, qu’ils ne font à présent, et à cause que comme sommes tenus portons ouvertement la partie de sadite Majesté et ferons jusques à la mort, nous trouvons dépourveu de tout serviteur, et ne cessent les maistres et leurs adhérans murmurer sur nous ou y mettre en l’entendement de monseigneur choses qui ne sont au service de sadite Majesté ny au nostre; pourquoy ne se peut en ce remédier sans sa venue et présence, qu’il sollicitera de son pouvoir à extrème diligence.49

Einem der Adligen, der besonders von der Volljährigkeitserklärung zu profitieren hoffte, ging es nach Margaretes Ansicht weder um den Prinzen noch um das Herzogtum, sondern allein um den eigenen Machtgewinn, den er am leichtesten zu erringen glaubte, wenn er die Regentin aus dem Lande trieb: Car, quant aux seigneurs de pardeçà, pour leur noyse et question, nully ne se soucie des affaires de leur prince ny du pays, et n’est question que de ung chescun fère son prouffit particulier et, pour ce que aucunes fois le leur remonstrons tout gracieusement, ils nous prendent en picque et font des raports à sa Majesté tels quels; tesmoing celuy qui avoit brassé de nous oster d’icy et envoyer en Alemaigne, lequel seroit bien encore de cest advis pour pouvoir avoir plus grande auctorité.50

Margarete nennt hier keinen Namen; für den Kenner der Verhältnisse am Hofe und der Beziehungen der wesentlichen Akteure zueinander, dürfte es keinen Zweifel daran geben, von wem hier die Rede ist. Pirenne spricht es klar aus: „L’échec de Marguerite était un succès pour le sire de Chièvres: il s’empressa d’en tirer parti. Depuis quelque temps déjà, il s’efforçait, d’accord avec les États des provinces, d’amener Maximilien à mettre Charles hors de tutelle.“51

Für den 7. Dezember 1514 berief die Regentin auf Anordnung Maximilians die Generalstände nach Brüssel ein. Im Beisein Margaretes und Karls ersuchte Gérard de Plaine, der Präsident des conseil privé, im Namen des Kaisers die Deputierten um Unterstützung:52 für die Mitgift Isabellas; für die Kosten einer Reise des Erzherzogs, die Maximilian dazu nutzen wollte, dem Enkel die österreichischen Erblande zu zeigen;53 für den Unterhalt einer Armee von 500 Mann, die dem 49 50 51 52

Walther 1911, 233 (wie Anm. 47). Ebd. 235. Pirenne 1953, 80 mit ausdrücklichem Hinweis auf die zitierte Passage aus dem mémoire. Gachard 1854, 1. Trifft dies zu, so kann von einer Geheimhaltung der Verhandlungen vor der Regentin keine Rede sein, wie sie sowohl Juste (1858, 72) als auch Walther (1911) und Pirenne (1953) voraussetzen. Vgl. oben 386 Anm. 5. 53 1503 hatte Maximilian Philipp nach Österreich und Süddeutschland gebracht und damit erstmals dessen Interesse für die väterlichen Länder, die Habsburgerdynastie und Fragen der Reichspolitik geweckt. Vermutlich hoffte der Kaiser, auch Karl in dieser Weise lenken zu können, indem er ihn zunächst einmal in die Länder einführte – dies erschien zumal dann geboten, wenn der Kaiser tatsächlich beabsichtigte, „das Kreuz zu nehmen“

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Schutz des Landes dienen sollte. Ohne zu den einzelnen Forderungen Stellung zu nehmen, wiesen die Generalstände das Ersuchen ab und erklärten que, d’après le droit commun et la coutume de recevoir les princes de ces pays, le petit-fils de l’empereur, leur légitime souverain, estoit en âge compétent pour estre reçu en ceste qualité; que son père avoit esté émancipé à tel ou moindre âge, et qu’il estoit plus raisonnable de le reconnoistre dans les pays qui lui estoient échus depuis huit ans, qu’en d‘autres qui ne lui adviendroient qu’après la mort de son aïeul.54

Sie verlangten die Emanzipation des Prinzen und dessen Übernahme der Herrschaft in allen Ländern des Hauses Burgund. Folgt man der Darstellung A. Hennes, so wurde nicht noch einmal ausdrücklich erwähnt – vielleicht weil es selbstverständlich war – daß die Stände dem jungen Herzog nach Antritt der Regierung Subsidien bewilligen würden. Wiederum nach Henne sollen die Stände bereits bei der Zusammenkunft mit Margarete ihrer Forderung nach der Emanzipation Karls hinzugefügt haben, daß sie dem Kaiser als Gegenleistung 100.000 Goldgulden zu zahlen bereit wären.55 Während Felix Graf von Werdenberg beauftragt wurde, dem Kaiser die Entscheidung der Generalstände zu überbringen, brachte Karl „par les paroles simples et affectueuses“ (Juste) den Deputierten gegenüber zum Ausdruck, was ihn in diesem Augenblick bewegte: Messieurs, je vous remercie de l’honneur et bonne affection que me portez. Soyez bons et loyaux subjects, je vous serais bon prince.56 Vielleicht hat Karl seine Unsicherheit und Ungeübtheit bereits bei dieser kurzen Ansprache hinter der Maske verborgen, die mehrere Historiker als Charakteristikum des Kaisers bei öffentlichen Auftritten noch in späteren

und gegen die Ungläubigen zu ziehen, wie G. de Plaine darlegte. Karls Denken war bis dahin allein auf Burgund gerichtet. Trotz der Spanier in seiner Umgebung hat ihn sein „Mutterland“ offensichtlich nicht beschäftigt. Keinerlei Hinweise gibt es darauf, daß er sich mit dem deutsch-österreichischen Teil seines voraussichtlichen Erbes befaßt hätte. In der Vollmacht zur Mündigkeitserklärung vom 23. Dezember 1514 verzichtete der Kaiser ausdrücklich auf die geplante Reise. Vgl. Walther 1911, 135. 54 Henne 1865, 178. 55 Ebd. 178 f. (nach Gachard 1854, 2). Sollten diese Worte tatsächlich in Margaretes Gegenwart gefallen sein, so muß sie gewußt haben, daß die Tage ihrer Regentschaft gezählt waren, da der Kaiser einem derartigen Angebot nicht würde widerstehen können. – Gachards Formulierung „la régente accueillit gracieusement le vœu des états“ steht in eklatantem Widerspruch zur anderweitig bezeugten Verbitterung Margaretes über ihre Ausschaltung, den kaiserlichen Mangel an Vertrauen und den Bruch im Verhältnis zu Karl (s. oben 397 f.). Sie war, wie es ihre Briefe und nachfolgenden Handlungen beweisen, keineswegs geneigt, sich freiwillig dem Willen der Stände zu fügen. Die hier mehrfach auftretenden Widersprüche erklären sich m.E. daraus, daß Gachards Darstellung den Akten der Stände und damit der Gegenpartei folgt (1854, 3 Anm. 2). 56 Gachard 1854, 2 f. Anm. 1; wieder bei Juste 1858, 72.

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Jahren erwähnen.57 Vermutlich hat Karl bei offiziellen Anlässen jedoch gerade in den frühen Jahren den Eindruck des Starren und Maskenhaften hinterlassen, wie es die in anderem Zusammenhang zitierten Worte des Pasqualigo und der Ausspruch Maximilians bezeugen, der seinen Enkel unbeweglich wie ein Idol nannte. Margaretes Möglichkeiten einzugreifen und zu verhindern, was sie als übereilten Schritt betrachtete, waren erschöpft. Wie oben geschildert, entließ Maximilian seinen Enkel aus der Vormundschaft. Allerdings mußte er schon kurz nach den Inaugurationsfeierlichkeiten erkennen, daß er einen schweren Fehler begangen hatte, als er nicht auf die Warnungen der Tochter hörte, die mit den Machtkämpfen und den Beziehungsgeflechten in der Umgebung Karls vertraut war. Daher mußte sich Maximilian in der folgenden Zeit um Schadensbegrenzung bemühen, wobei er erleben sollte, daß selbst das Gewicht seiner kaiserlichen Autorität auf die souveräne Regierung seines Enkels wenig Eindruck machte. Im Sommer 1514, als seine Vormünder, vor allem allerdings Margarete, sich mit den vielen Fragen auseinandersetzten, die durch die bevorstehende Emanzipation des Prinzen aufgeworfen wurden, bereitete sich Karl ebenfalls auf den neuen Lebensabschnitt vor. Für ihn bedeutete das, den Ort seiner Kindheit, den Keyzerhof zu Mecheln, hinter sich zu lassen und in das Hôtel de Brabant, das Herzogsschloß auf der Anhöhe des Caudenbergs über Brüssel, überzusiedeln. Nach dem Itinerar des Prinzen reiste Karl am 24. Mai 1514 über Löwen nach Brüssel,58 wo er seit Jahren einige Sommerwochen zu verbringen pflegte, in denen er vorwiegend seiner Leidenschaft für die Jagd in den umliegenden Wäldern frönte. Während dieses Aufenthalts in der Sommerfrische verursachte der Prinz am 5. Juni den bereits erwähnten tödlichen Jagdunfall. Schuldgefühle scheinen Karl nicht sonderlich belastet zu haben, denn bereits am 11. Juni nahm er in ausgelassener Stimmung an den Festlichkeiten teil, die im Herzogsschloß aus Anlaß der 57 Burke 2000, 462 f. führt das Bild von der Maske, hinter der sich der Kaiser verbarg, auf William Robertson zurück. In seiner History of the Reign of the Emperor Charles V (1769) stellte der schottische Gelehrte den Kaiser als einen Herrscher dar, der „seinen unstillbaren Ehrgeiz, seine grenzenlose Liebe zur Macht“ hinter einer Maske „aufgesetzten und erlernten Benehmens“ verbarg. Zwei Historiker des 20. Jahrhunderts, die das Bild der Maske aufgreifen, deuten es aus einem inzwischen gewachsenen Bemühen um ein tieferes Verständnis der Persönlichkeit des Kaisers in völlig anderer Weise: Poensgen (1960, 177): „Er meisterte sie [die unerhörten Anforderungen an die Geduld und Selbstbeherrschung des dem Alter nach noch jungen Mannes in den Jahren 1531/32] mit eiserner Disziplin, um so starrer, maskenhafter im Ausdruck, je isolierter er in der Treue zu seinen Idealen verharrte [...]“; Braudel (1994, 78): „Mit diesem unfreundlichen Vergleich [von Tizians Porträt des sitzenden Kaisers mit einer schlechten Photographie; A.S.] wollen wir nur sagen, daß dieses Bild wie so viele andere auch nicht das geheime Wesen abbildet, das hinter der Maske liegt, die er seit seiner frühesten Jugend tragen mußte [...].“ 58 Voyages II 13.

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Vermählung per procuram seiner Schwester Isabella mit Christian von Dänemark abgehalten wurden. Nachdem der Prinz von dem heftigen Fieber genesen war, das er sich vermutlich durch allzu ausgiebige Beteiligung an dem Fest zugezogen hatte, kehrte er nicht mehr nach Mecheln zurück. Er etablierte sich in dem Schloß der Herzöge von Brabant, noch bevor er für großjährig erklärt worden war. Mecheln stattete er, wie den anderen Orten seines Herzogtums, seinen Antrittsbesuch während seiner Inaugurationsreise ab;59 in den folgenden Jahren, auch während seiner Krönungsreise 1520–1522, hielt er sich dort jeweils nur wenige Tage auf.60 Darin ist mehr als eine reine Äußerlichkeit zu sehen und mehr auch als die bloße Wahrung der Tradition, nach der die Herzöge in Brüssel residierten: Mecheln als Herrschaftszentrum der Regentin war für Karl zu diesem Zeitpunkt gleichbedeutend mit der Unmündigkeit, von der er sich befreien wollte. Die Übersiedlung nach Brüssel dürfte also eines seiner ersten wirklich eigenen Anliegen gewesen sein, das mit Sicherheit von seinen engsten Beratern eifrig unterstützt wurde, denen nichts gelegener sein konnte als die Entfernung des Prinzen aus der Einflußsphäre Margaretes. Eleonore, Karls noch unverheiratete Lieblingsschwester, begleitete den Bruder nach Brüssel. Das Herzogsschloß war ein dreistöckiger Bau, der durch seine Dimensionen beeindruckte, allerdings, wie Ch. Moeller bemerkt, „un édifice sans style“:61 Der Kern der Anlage datierte aus dem 14. Jahrhundert und war im Laufe der Zeit durch Anbauten erweitert worden. Im Erdgeschoß befand sich u.a. der Ständesaal, den Philipp der Gute hatte erbauen lassen, der Ort also, an dem Karl mündig gesprochen werden sollte und an dem er über vierzig Jahre später seinen Rücktritt erklären sollte. Karl richtete seine Appartements vermutlich im ersten Stockwerk ein, Eleonore bezog die darüberliegende Etage. Beide statteten die schlichten Räume völlig neu aus. Mit kostbaren Möbeln, Teppichen, edlen Gefäßen und Nippsachen, vor allem aber mit einer Unzahl flämischer Tapisserien schufen sie ein Ambiente, dessen Pracht und Luxus viel bewundert wurde. Zeitgenossen waren der Ansicht, daß sich vom Regierungsantritt Karls an das schlichte Hôtel de Brabant in einen Palast verwandelte.62 Heute kann man sich nur anhand von Plä59 60 61 62

Karl feierte seine joyeuse entrée in Mecheln vom 4.–6. Februar 1515 (Voyages II 14). Voyages II 17. 19 f. 28. 30. 32. Moeller 1895, 178. Moeller 1895, 178. Die Neugestaltung des Schloßinneren hat vermutlich schon deshalb so viel Bewunderung erregt, weil damit das Hôtel de Brabant aus einer Art Dornröschenschlaf zu neuem, glanzvollen Leben erweckt wurde: Seit den Zeiten Philipps des Schönen war es nicht mehr ständig bewohnt gewesen. Wohl versammelten sich dort die Stände zu ihren Sitzungen in dem großen Saal, wohl nahmen der Kaiser und seine Regentin dort Quartier, wenn sie sich in Brüssel aufhielten, aber erst mit dem Einzug Karls wurde das Schloß wieder zur Residenz des Herzogs von Burgund, wenn auch nur für etwa drei Jahre.

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nen, Abbildungen und Inventarverzeichnissen eine Vorstellung von der Umgebung machen, in der das junge Geschwisterpaar lebte: Das Schloß wurde am 5. Februar 1731 durch einen großen Brand völlig zerstört.63 Die nüchternen Aufstellungen der Rechenkammern und der Hoflisten ermöglichen einen Einblick in die fürstliche Hofhaltung. So wie die Geschwister im Schloß getrennte Etablissements bewohnten, verfügten beide über ihren eigenen Haushalt (maison): In Karls Dienst standen nach der neuen Hofordnung vom 25. Oktober 1515 mehr als 500 Bedienstete,64 zu Eleonores Haushalt gehörten etwa 70 Personen.65 Der Hof des Herzogs umfaßte grande chapelle, petite chapelle, conseil, chambre und hôtel mit allen dazugehörigen Sparten und Ämtern; ebenso war der Haushalt seiner Schwester organisiert, wobei auf die grande chapelle verzichtet wurde und Eleonore eines conseil nicht bedurfte. Die doppelte Haushaltsführung, die doppelte Besetzung vieler Ämter verursachten außerordentlich hohe Kosten.66 Neben den täglich auszuzahlenden Bezügen in barer Münze hatten fast alle Bediensteten Anspruch auf die Lieferung von Naturalien wie Holz, Kerzen, Brot und Wein, etliche erhielten auch Tuch für die Dienstkleidung. Ferner stand vielen eine tägliche freie Mahlzeit zu.67 Pensionen erhielten nicht nur die Inhaber der höchsten Hofämter, sondern auch Angehörige der unteren Ränge, die schon in Mecheln zu Karls Haushalt gehört hatten. Damit ist der Rahmen der fixen Kosten der Hofhaltung umrissen. Nicht berücksichtigt sind dabei Sonderausgaben, etwa für Reisen des Souveräns mit dem angemessenen Gefolge und für die prunkvollen Feste, Turniere und Jagdgesellschaften, für die der Brüsseler Hof schon bald berühmt wurde. Wie zu Zeiten Philipps des Schönen wurde der Herzogshof zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Niederlande. Dort traf der burgundische Adel mit den zahlreichen auswärtigen Diplomaten zusammen, die dem Leben am Hof und in der Stadt internationales Flair verliehen. Der prunkvolle Rahmen des Hofes, die festlichen Anlässe verlangten ein entsprechendes Auftreten des jungen Herzogs und seiner Schwester: Beide gaben innerhalb kürzester Zeit außerordentlich hohe Summen für ihre Garderobe aus. Die Rechnungsbücher verzeichnen, daß Eleonore sich allein bei einem einzigen Tuchhändler innerhalb von vier Monaten für 894 Livres ausstatten ließ; der höchste Einzelbetrag ist für den Juli 1517 mit 734 Livres ausgewiesen; darin waren 63 64 65 66

Moeller 1895, 180. Brandi 1941, 415. Moeller 1895, 186. Die doppelte Haushaltsführung wurde strikt eingehalten: selbst wenn keine Gäste geladen waren, speisten Bruder und Schwester nicht etwa gemeinsam, sondern für jeden von ihnen bereitete der eigene hochspezialisierte Apparat ihrer hôtels die Mahlzeiten zu (Moeller 1895, 187). 67 Brandi 1941, 412.

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allerdings, wie Moeller entschuldigend vermerkt, die Aufwendungen für ein trousseau de voyage inbegriffen, da die Abreise nach Spanien bevorstand.68 K. Brandi ist in den Rechnungsbüchern den entsprechenden Ausgaben Karls nachgegangen.69 Binnen acht Monaten hat der junge Herzog nicht weniger als (umgerechnet) 300.000 Goldmark nur für seine Kleidung ausgegeben:70 ein Betrag, der geradezu ungeheuerlich erscheint, wenn man bedenkt, daß Margarete, die den Ruf einer sorgsamen und sparsamen Haushälterin genoß, kurz vor der Emanzipation Karls die Stände vergeblich um die Bewilligung der Mittel für Isabellas Mitgift und die Reise des Prinzen ersucht hatte. Dieses großzügige, ja sorglose Finanzgebaren Karls in diesen ersten Jahren hatte höchst bedenkliche Folgen für den Staatshaushalt. Moeller charakterisiert die prekäre Situation folgendermaßen: „Toutes ces sommes, dépenses de l’hôtel, argent de poche,71 frais de toilette, sont imputées au compte de la ‘recette générale des finances’, qui englobe, sans ordre, les finances personnelles du prince et les finances publiques de l’État. Il n’y avait, dans ce régime financier, aucune prévision budgétaire. L’on dépensait sans compter. Il est vrai que cette maison de Bourgogne passait pour l’une des plus riches de la chrétienté. Elle n’en était pas moins toujours endettée, par défaut d’ordre et de prévoyance.“72

Mit Hilfe des erwähnten Umrechnungsverfahrens hat Brandi tägliche Ausgaben des Hofes allein für Gehälter und Verpflegung von 10.000 Goldmark ermittelt, von mehr als 3½ Millionen pro Jahr.73 Trotz der Belastung, die sich daraus für das kleine Land ergab, genoß der Hof erhebliches Ansehen: „Er galt für prächtig, aber streng.“74 Dieses Urteil kann sich nur auf die guten Sitten am Hofe beziehen, 68 Moeller 1895, 186. 69 Brandi 1941, 81 (m. weiterer Lit.). 70 Brandi 1964, 46. Hier, wie auch im Zusammenhang mit den Besoldungsstufen des Hofpersonals, wie sie in den Hoflisten von 1515 und 1517 ausgewiesen sind (wiedergegeben in Brandi 1941, 410–412. 414 f.), hat Brandi versucht, in einem komplizierten Umrechnungsverfahren die Kaufkraft der Gehälter, die in sol(ido)s, deniers und livres angegeben sind, zu bestimmen und zu ermitteln, welchem Gegenwert sie in Goldmark entsprochen hätten. Zum verwendeten Umrechnungsmodus vgl. ebd. 413 f. Eine sinnvolle Auswertung von Gehaltslisten kann stets nur dazu dienen, den Wert zu ermitteln, der einer bestimmten Arbeit bzw. Dienstleistung zu einer bestimmten Zeit beigemessen wurde und ihn in Relation zu setzen zur Entlohnung für andere Tätigkeiten sowie zu möglicherweise überlieferten Preisen für Dinge des täglichen Bedarfs oder auch den Schneiderrechnungen einer Prinzessin. 71 Karl bewilligte u.a. seiner Schwester ein zusätzliches Taschengeld von 100 Livres im Monat. 72 Moeller 1895, 186. 73 Brandi 1964, 46. 74 Ebd. Die neue Hofordnung, die am 1. Januar 1516 in Kraft trat, hat mit Sicherheit dazu beigetragen, daß der gute Ruf seine Berechtigung hatte.

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auf deren Einhaltung Karl bestand. Ein lockeres Treiben der höfischen Gesellschaft, wie es zu Zeiten Philipps üblich gewesen war und an dem Karls Vater sich ausgiebig beteiligt hatte, duldete der Sohn nicht. Abgesehen davon, daß ein ausschweifender Lebensstil offensichtlich nicht dem Naturell des jungen Herzogs entsprach, läßt dieses Wahren von Anstand und guter Sitte die Wirkung erkennen, die Margaretes Erziehung und Vorbild hinterlassen hatten. Einfluß und Beispiel seines Gouverneurs und seines geistlichen Erziehers hatten in dieser Hinsicht ein Übriges getan. Wie streng die Regeln korrekten Verhaltens waren, zeigt die heute so befremdlich erscheinende Tatsache, daß die beiden Geschwister ihre täglichen Mahlzeiten getrennt einnahmen.75 Man hätte es als nahezu unschicklich empfunden, wenn Eleonore an der Tafel ihres Bruders erschienen wäre. Für den Zeitraum von 1516 bis 1517 lassen sich nur zwei Ausnahmen von der strengen Regel nachweisen: Am 30. Oktober 1516 nahm Eleonore an einem Diner teil, das für die Diplomaten des Kaisers und der Könige von England und Frankreich ausgerichtet wurde; der zweite Anlaß war ein Souper, das Karl am 15. Februar 1517 für den kaiserlichen Großvater gab. Trat die Prinzessin in seltenen Fällen selbst als Gastgeberin auf, hatte sie ebenfalls die strengen Sitten zu beachten: Sie durfte nur Damen der Hofgesellschaft wie Madame de Ravenstein oder Madame de Nassau an ihre Tafel bitten. Ein wenig Freiheit von den Fesseln der Etikette gewährten den Geschwistern die häufigen Ausritte, die sie entweder gemeinsam oder auch Eleonore in Begleitung ihrer Hofdamen und filles d’honneur unternahmen. Durch das neuerwachte höfische Leben gewann Brüssel seine Bedeutung als prinzelijke stad (Residenzstadt) zurück, wenn es auch keineswegs die Hauptstadt der Niederlande war und mit seiner Einwohnerzahl von etwa 60.000 hinter Antwerpen, Brügge und Gent zurückstand. Eine Kapitale, wie Frankreich sie damals bereits mit Paris besaß, ein Zentrum, das alle wesentlichen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Kräfte und Institutionen vereinte, hatte Karls Herrschaftsbereich nicht.76 In Brüssel begann sich unter dem Einfluß des Hofes ein elegantes, fast großstädtisches Leben zu entfalten. Der Adel, der seine hôtels nahe dem Herzogsschloß errichtet hatte, und der Zustrom von Diplomaten sorgten für eine kräftige Belebung von Handel und Gewerbe in der Stadt; durchreisende Fremde priesen deren Annehmlichkeiten. Die Brüsseler Bürger schauten auf den Hof und den Luxus, der dort herrschte, – jedoch nicht voller Neid, sondern um den höfischen Stil und die eleganten Moden nachzuahmen, so weit es die eigenen Mittel zuließen, oder sich, ebenfalls dem Beispiel des Hofes folgend, in den finanziellen Ruin zu stürzen. Moeller hat die sich ausbreitende Prunksucht und das 75 Moeller 1895, 184. 76 Vgl. oben 37.

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Wetteifern im Zurschaustellen des Reichtums mit einer ansteckenden Krankheit verglichen, die sich vom Schloß über die Adelshöfe bis hinunter in die Bürgerstadt ausbreitete. Obwohl die Häuser dort noch Holzbauten waren im Gegensatz zu den in Stein aufgeführten Adelssitzen, begann man, die Fassaden mit Skulpturen zu schmücken, die Fenster zu verglasen und die Türen mit eisernen Beschlägen zu versehen. Ebenso wie im Herzogsschloß entfaltete sich der eigentliche Luxus jedoch im Innern der Bürgerhäuser. Dazu zitiert Moeller einen zeitgenössischen Chronisten: Dans les chambres pompeuses de nos bourgeois et marchands de maintenant l’orgueil et pompe est si grand qu’il n’y a plus ordre, ni raison.77 Wenn Karl und seine Schwester sowie die Hofgesellschaft den Ton der Kleidermode bestimmten, so eiferten ihnen nicht nur die Bürgerinnen, sondern auch die Brüsseler Männerwelt nach. Laurent Vital, der Chronist der ersten Spanienreise, äußerte sich allerdings nur kritisch zur Verschwendungssucht der Damen: [les] superflus habitz de noz demiselles, qui ne se contentent de leur mary, si elles n’ont des robbes qui ont plus cousté que leurs revenues d’ung an ne portent.78 Kleideten sich die Bürger in Samt und Seide, so hüllten sich die Adligen fortan in Brokat, um sich vom Volk abzuheben. Schließlich sah sich Karl genötigt, dem Jahrmarkt der Eitelkeiten durch Luxusgesetze und Kleiderordnungen ein Ende zu bereiten.79 Ch. Moeller hat es verstanden, anhand von alten Darstellungen, Plänen und Reiseberichten ein außerordentlich anschauliches und lebensvolles Bild der prinzelijke stad und der Beziehungen zwischen Stadt und Hof zu entwerfen und somit die Lebenswelt neu erstehen zu lassen, in die Karl und Eleonore mit ihrer Übersiedlung nach Brüssel versetzt wurden und an deren Gestaltung sie selbst mitwirkten.80 Das höfische Leben in Brüssel kann sich allerdings erst vom Herbst und 77 Voyages III 141 (Vital, Premier voyage) = Moeller 1895, 176. Vital kontrastiert den Luxus der Bürgerhäuser mit der schlichten Kammer, in der Karls Schwester Katharina in Tordesillas lebte. 78 Voyages III 141. Auch hier hebt der Chronist den Kontrast hervor zwischen dem Aufwand, den die Brüsseler Damen betreiben, und der mehr als bescheidenen Kleidung der spanischen Schwester des Herzogs: Ceste belle princesse [...] ne estoit lors parée; par-dessus sa cotte simple, que de ung chamarre de cuir ou, pour mieulx dire, de une pliche d’Espaigne qui pouvoit valoir environ deux ducatz. Son [...] parement de teste estoit ung linge de [...] toilette blanche [...]. 79 Moeller 1895, 176: „La soie et le velours étaient devenus tellement communs que les gens de qualité ne s’habillaient plus, pour se distinguer, que de drap d’or et d’argent; c’est pour couper court à ces excès que Charles-Quint, par ses édits somptuaires, a fini par interdire aux bourgeois la soie et le velours, aux gens de qualité les draps d’argent et d’or.“ 80 Moeller 1895, 173–182. Als Moeller die Biographie Eleonores verfaßte, hatte Brüssel sein Gesicht bereits stark verändert. Bemerkenswert erschien ihm, daß kein Standbild Karls an die Herrschaft des Kaisers erinnerte. In St. Gudula jedoch, dem Ort großer Zeremonien des Hauses Habsburg-Burgund, waren Karl, seine Gemahlin Isabella, sein Bruder Fer-

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Winter 1515/16 an entfaltet haben: Zunächst mußte der Herzog seine Huldigungsreise antreten, die ihn bis zum Juli 1515 durch einen großen Teil des Landes führte; im Mai 1516 setzte er diese Reise fort.81 Noch bevor Karl am 3. Februar 1515 aufbrach, waren wichtige politische Maßnahmen einzuleiten; die vordringlichste Aufgabe war die Einsetzung einer Regierung.82 Mit der Ernennung des Jean le Sauvage zum Großkanzler war die Regierungsbildung am 17. Januar 1515 abgeschlossen. Es empörte Maximilian außerordentlich, daß Gérard de Plaine, seigneur de La Roche,83 durch Le Sauvage verdrängt wurde: Der franc-comtois La Roche hatte stets die Politik der frankreichfeindlichen Parteiung vertreten, während von seinem aus Flandern gebürtigen Nachfolger zu erwarten war, daß er den nationalen Interessen der Niederlande Vorrang einräumen würde. Das bedeutete in erster Linie eine Annäherung an Frankreich, um ein friedliches Zusammenleben mit dem großen Nachbarn und in der Folge auch ein Ende des Geldrischen Krieges herbeizuführen. Die Ernennung Chièvres’ zum premier chambellan und die Zusammensetzung des conseil des jungen Herzogs, in dem nicht nur die Familie Croy überproportional vertreten war, sondern in den auch ausgesprochene Feinde des Kaisers, wie Philipp von Kleve, seigneur de Ravenstein, berufen wurden, ließen ebenfalls die künftige Richtung der Politik klar erkennen: Im Mittelpunkt sollten die nationalen Interessen der Niederlande stehen. Dies war gleichbedeutend mit einer Abkehr von der Verfolgung der dynastischen Ziele des Hauses Burgund-Habsburg. Damit dinand, seine Schwestern Eleonore, Maria und Katharina in den farbigen Glasfenstern präsent. In der Reihe der Geschwister fehlt nur die früh verstorbene Isabella von Dänemark. Diese Fenster sind auch heute noch erhalten: s. dazu Lahnstein 1979, 64 f. Eine Abbildung bei Soly (Hg.) 2000, 323 gibt die Szene wieder, die Karl V. und Kaiserin Isabella im Gebet zeigt. In der Bildmitte ist Karl der Große, der Schutzpatron des Kaisers, in vollem Ornat und mit den Reichsinsignien dargestellt. Mit gleichsam segnender Gebärde hat er die Linke, die den Reichsapfel hält, über den Kopf des knienden Kaisers erhoben. Die Glasmalerei wurde vermutlich 1537 von Jan Hack geschaffen. Van Puyvelde (1960, 294) und Burke (2000, 399) weisen darauf hin, daß anhand der erhaltenen Kartons die Entwürfe Bernard van Orley zugeschrieben werden können. – In der Bildunterschrift ist die Kathedrale mit ihrem offiziellen Namen St. Michael bezeichnet: nach Lahnstein 1979, 64 fehlt St. Gudula als der volkstümlichen Namenspatronin die Anerkennung aus Rom durch Kanonisierung. 81 Voyages II 14–18 (Itinerar). 82 Zur Regierungsbildung und Maximilians vergeblichen Versuchen einzugreifen s. bereits oben 283–285. 83 La Roche, der Sohn von Philipps Kanzler Thomas de Plaine, war seit 1511 Präsident des conseil privé, hatte allerdings seinerseits durch Intrigen Le Sauvage zur Aufgabe seines Amtes veranlaßt (s. dazu Walther 1911, 97–99). Mit Le Sauvage wurde erstmals seit 1507 wieder ein Großkanzler berufen. Nach dem Tode des Thomas de Plaine war dieser Posten vakant geblieben; vgl. Pirenne 1953, 83.

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kehrte das Herzogtum Burgund zur Politik der frühen Jahre Philipps des Schönen zurück: Ein Richtungswechsel, der kaum verwundert, denn die bestimmenden Kräfte in der Regierung des jungen Karl waren dieselben, die schon seinen Vater geleitet hatten, und Karl selbst war zu diesem Zeitpunkt ebenso ein „Croit-Conseil“ wie einst Philipp. Mit einiger Verbitterung erkannte der Kaiser, daß er mit der Zustimmung zur Emanzipation auch jegliches Mitspracherecht in der burgundischen Politik preisgegeben hatte. Wahrscheinlich war er von der Annahme ausgegangen, daß man ihn, der die Geschicke des Herzogtums seit seiner Heirat mit der Tochter Karls des Kühnen ganz wesentlich bestimmt hatte, zu Rate ziehen und weitgehend seinen Vorstellungen folgen würde. Seine kluge Tochter hatte ihn vergeblich vor den Konsequenzen der vorzeitigen Emanzipation gewarnt und ihm geraten, seinen Einfluß auf die künftige Politik der Niederlande sicherzustellen: „L’année précédente, elle l’avait averti de prendre des mesures pour sauvegarder son influence dans les Pays-Bas lorsqu’il se déciderait à émanciper son petit-fils, et il n’avait point tenu compte de ce sage conseil. Il dut regretter amèrement sa légèreté quand il en aperçut les résultats. Chièvres, maître absolu de l’esprit du jeune prince, dominait maintenant son conseil et dirigeait sa conduite en opposition complète avec la politique autrichienne. [...] il [l’empereur] reconnaissait l’erreur qu’il avait commise en sacrifiant la régente et il lui rendit trop tard toute sa confiance.“84

Fast gleichzeitig mit dem Regierungsantritt Karls hatte in Frankreich Franz I. von Valois-Angoulême den Thron bestiegen, nachdem Ludwig XII. am 1. Januar 1515 verstorben war, ohne einen leiblichen Erben zu hinterlassen. Die Krönung des gerade zwanzigjährigen Königs sollte am 25. Januar in Reims stattfinden. Als Pair de France, als Erster Kronvasall des französischen Königs, war Karl verpflichtet, den Feierlichkeiten beizuwohnen, dem neuen König zu huldigen und den Lehnseid für das Artois und Flandern zu leisten, die der französischen Jurisdiktion unterstanden. Nun war Karl zu diesem Zeitpunkt durch seine neuen Pflichten, vor allem durch seine Inaugurationsreise, verhindert, an der Krönungsfeier teilzunehmen. Eine hochrangige Delegation unter der Leitung des Grafen Heinrich von Nassau wurde entsandt, die den Herzog vertreten und gleichzeitig seine Interessen wahrnehmen sollte. Die Wahl des Delegationsleiters, der sowohl ein enger Vertrauter des Herzogs als auch ein Freund Chièvres’ war, deutet bereits darauf hin, daß in den Verhandlungen die französischen Belange weitgehend berücksichtigt werden würden. Dagegen konnte auch Mercurino di Gattinara wenig ausrichten, der als conseiller Karls ebenfalls der Abordnung angehörte und den Margarete ausdrücklich beauftragt hatte, die Verhandlungen zu beobachten.85 Gattinara sollte 84 Pirenne 1953, 81 f. 85 Pirenne 1953, 84. Daß Gattinara die Verhandlungen ins Stocken oder gar zum Scheitern bringen sollte, wie Pirenne behauptet („et, si possible pour entraver les négociations...“),

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sich jedoch vor allem für die Ansprüche Margaretes auf verschiedene Bereiche der Franche-Comté einsetzen, die 1514 von Frankreich beschlagnahmt worden waren. Die Gesandten waren angewiesen, den detaillierten Instruktionen zu folgen, die am 19. Januar 1515 in Löwen ausgefertigt wurden und die zu den ersten Dokumenten zählen, die Karl nach seiner Emanzipation unterzeichnete.86 H. Pirenne faßt den Inhalt der umfangreichen Anweisungen wie folgt zusammen: „Il [Nassau] est chargé d’assurer le roi «que monseigneur, sur toutes choses, désire son amour et d’avoir bonne, vraye, ferme et entière amitié avec luy et son royaume», d’excuser Charles de tout ce qui, durant sa minorité, aurait pu être fait dans les PaysBas contre le désir de François, de solliciter de celui-ci son appui pour la récupération de la Gueldre, de lui faire hommage pour les fiefs français de la maison de Bourgogne, d’entamer des pourparlers pour le mariage de l’archiduc avec «Madame Renée», enfin de chercher à amener la France à une entente avec Maximilien, pour entraîner l’Autriche dans la politique pacifique des Pays-Bas.“87

Der belgische Historiker läßt keinen Zweifel daran, wie diese Instruktionen zu beurteilen waren: „Les instructions de Nassau constituent, en effet, un éclatant désaveu de la politique anti-française de l’ex-régente.“88 Die Abordnung verließ Brüssel am 22. Januar, traf jedoch erst am 3. Februar in Compiègne ein, wo sich Franz I. inzwischen aufhielt. Etliche Schreiben der Gesandten an den Herzog legen Zeugnis davon ab, wie die Weiterreise sich immer wieder verzögerte, nicht zuletzt, weil man an jeder Zwischenstation das Eintreffen der Depeschen aus Brüssel abwarten mußte.89 Hat man bereits bei Einsetzung der Delegation, die stellvertretend für den Herzog von Burgund dem französischen König huldigen und den Vasalleneid leisten sollte, den Eindruck, daß es sich um ein Ausweichmanöver handelte, so liegt die Vermutung nahe, daß die verspätete Ankunft der Gesandten von den entscheidenden Kräften in Brüssel durchaus beabsichtigt wurde. Durch diese raffinierten Winkelzüge ließ sich zweierlei erreichen: Das Auftreten Karls als Vasall des französischen Königs und die persönliche Eidesleistung wurden vermieden. Die verspätet eingetroffenen Gesandten gaben die „eidesstattliche Erklärung“ als Vertreter ihres Herzogs nicht vor den versammelten Großen in der Kathedrale von Reims, sondern in einer Privataudienz ab. Sollte eine zukünftige politische Entwicklung eine Verletzung dieses Treueschwurs erfordern, machte sich nicht der Herzog persönlich des

86 87 88 89

steht im Widerspruch zu einem Brief Margaretes an Gattinara vom 2. März 1515 (ed. bei Walther 1911, 241 f. [Beil.26; Original: Archives du Nord). Vollständige Edition: Le Glay 1845, 2, 2–8. Pirenne 1953, 84. Ebd. Lanz 1844, 2–5.

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Eidbruchs schuldig. Daß die in Paris beschworenen Freundschafts- und Eheverträge, wie die Mehrzahl derartiger Abmachungen, nur Stillhalteabkommen auf Zeit waren, wußten alle Beteiligten.90 Franz I. hatte bei seiner Thronbesteigung sogleich den Titel eines Herzogs von Mailand angenommen, obwohl Frankreich 1513 nach der Niederlage von Novara die Lombardei verloren hatte und das Herzogtum dem Massimiliano Sforza restituiert worden war.91 Mit der Annahme des Herzogstitels legte der französische König das politische Ziel offen, dem er vor allen anderen ererbten und ungelösten Problemen Priorität einräumte: die Rückeroberung der Lombardei. Damit war bereits der Keim gelegt für die späteren langjährigen Kämpfe zwischen dem französischen König und Karl, dem Römischen König und Erwählten Kaiser, zu dessen politischem Erbe von Seiten beider Großväter ebenfalls die Konflikte um eine „Neuordnung“ Italiens gehörten. Vorerst aber war Karl in diese Auseinandersetzungen noch nicht involviert, und Franz I. war sehr daran gelegen, sein Reich in Frieden und Sicherheit zu wissen, ehe er zu einem Kriegszug nach Oberitalien aufbrach. Daher empfing er die burgundische Delegation durchaus mit Wohlwollen; in seiner Begrüßungsrede sind allerdings die herablassenden Töne nicht zu überhören: Messieurs, jay bien oy et entendu que mavez dit et propose de la part de mon cousin le prince Despaingne. Et pour commencher a vous respondre, je vous advise, que me estez les tresbien venuz: et cognoiz par vostre charge la bonne amour et affection que mon cousin me porte, et le bon zele dont vous procedez, de ce quil me conjoyst la succession de la couronne de France. Je ne luj congratule point moins son emancipacion de tutelle, et suis joyeulx de povoir avoir a faire a ung homme hors manburnie. [...] Quant a ce quil desire faire tout tel devoir quil est tenu comme vassal a cause des contez de Flandres et Dartois, en ce faisant jl ne me trouvera point autre que raisonnable et comme mon parent et voisin. En regard de lamitie quil desire avecq moy je la desire semblablement avec tous mes voisins, et de tant plus avec luj que avec nul autre, a cause quil est extraict de la maison de France. [...] Touchant ses excuses, et de vous, messieurs, de non avoir este a mon sacre, pour avoir faiz les debvoirs telz quil eust peu ou deu faire, sil y eust este, je len tiens pour tout excuse, et repute bien son bon voulloir et les diligences par vous faictes pour effet et euvre. Au demeurant se avez quelque autre charge plusample, je vous donneray voulentiers audience, quant vouldrez.92 90 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Ludwig XII. ein Beispiel dafür geliefert hatte, welcher Wert der Eidesleistung eines Stellvertreters beizumessen war: 1505, zum Tag von Hagenau, auf dem der Vertrag von Blois erneuert werden sollte, entsandte er Georges d’Amboise, der die Heiratsabsprache zwischen Karl und Claude de France durch Schwur bekräftigte. Ludwig XII. jedoch hegte bereits andere Pläne und gab kurz darauf die Auflösung der Verlobung bekannt. S. oben 142 f. 91 S. oben 107 f. 92 Aus dem Bericht der Gesandten an Karl über die erste Audienz am 4. Februar 1515, in dem die Rede des Königs en la substance mitgeteilt wird; zit. nach Lanz 1844, 5–9, hier 6.

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Erst am 24. März waren die Verhandlungen mit Franz I. abgeschlossen und die Abkommen, die Frieden und Freundschaft sichern sollten, sowie der Ehevertrag für Karl und Renée de France in Paris beschworen. Hierzu hat H. Wiesflecker betont, daß Karl „hinter dem Rücken des Kaisers und König Ferdinands einen Friedensvertrag mit Frankreich schloß (24. März 1515), der ihm die Nachfolge in Spanien erleichtern sollte.“93 Maximilians Biograph will damit belegen, daß „sogar Erzherzog Karl bereit [war], die französische Italienpolitik zu dulden.“ Nun ist es zwar durchaus möglich und auch wahrscheinlich, daß der Kaiser im Frühjahr 1515 der Italienpolitik weniger Aufmerksamkeit schenkte, da er durch die Verhandlungen mit Polen und Ungarn, durch die Vorbereitungen auf den Wiener Kongreß und die Doppelhochzeit in Anspruch genommen wurde.94 Dennoch bleibt es schwer vorstellbar, daß ihm entgangen sein sollte, was im Laufe von zwei Monaten in Frankreich vereinbart wurde. Es liegt im Gegenteil ein Brief Margaretes an Gattinara vor, in dem sie entschieden dem Gerücht entgegentritt, daß sie selbst wie auch der Kaiser dem Heiratsplan entgegenarbeiteten: Et ne sçavons à quoy il a peu tenir, si ce n’estoit qu’on eust fait quelque sinistre informacion au roy ou sesdits ambassaseurs, devrions avoir voulu contrarier en ce mariage, ce que n’avons jamais pensé, ayns le désirons moyennant qu’il se face comme il apartient et du grey et contentement de l’empereur monseigneur et père [...].Ce que désirons bien remonstrés èsdits ambassadeurs et audit seigneur roy, s’il est besoing, requerrant lesdits ambassadeurs se emploier en cest affère, veu que c’est le propre affère de monseigneur mon neveur [!], et que en concluant si grosse matère comme est ledit mariage nous semble que nostredit affère ne doit demeurer derrère.95

Es überzeugt auch wenig, wenn in Wiesfleckers Darstellung Karl gleichsam als Initiator des Vertrags von Paris erscheint: Das würde voraussetzen, daß der Fünfzehnjährige, der zu dieser Zeit auf seiner Huldigungsreise von Stadt zu Stadt unterwegs war und sich mit joyeuses entrées feiern ließ, bereits eigene politische Eine Kurzfassung der Rede in modernem Französisch bei Henne 1865, 186. 93 Wiesflecker 1981, 364. Die Heiratsabsprache wird hier nicht erwähnt. 94 So Wiesflecker, ebd. 365. 95 Margarete an Gattinara, 2. März 1515 (Archives du Nord, ed. bei Walther 1911, 241 f. [Beil. 26]). Der letzte Teil des oben zitierten Paragraphen (nostredit affère) bezieht sich auf die Rückgabe der von Frankreich beschlagnahmten Besitzungen Margaretes, die Gattinara erwirken sollte. Vgl. dazu Walther 1911, 195: Die Beschlagnahmung ging auf einen Revancheakt Frankreichs zurück: Einer der führenden Männer am französischen Hof, Ludwig von Orléans, hatte etliche Besitzungen in der Franche-Comté. Als er 1513 in der Schlacht von Guinegate in englische Gefangenschaft geriet, kassierte Maximilian diese Ländereien und gab sie als don an die Grafen von Fürstenberg und Werdenberg. Da die Franche-Comté Reichslehen war, sah sich der Kaiser zu diesem Schritt berechtigt. Daraufhin setzte sich Frankreich in den Besitz der Güter Margaretes, die auf französischem Gebiet lagen oder davon eingeschlossen waren.

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Vorstellungen entwickelt und entsprechende Entschlüsse gefaßt hätte. Dagegen sprechen die Eindrücke der zeitgenössischen Beobachter, wie sie an früherer Stelle eingehend geschildert worden sind. Der Herzog befand sich in der Anfangsphase seiner politischen Lehrzeit. Über das Vorgehen gegenüber Frankreich und die Reaktionen auf die Italienpolitik Franz I. befanden Chièvres und die übrigen conseillers, die Karls volles Vertrauen genossen. Exakt formuliert müßte es also heißen: Der Vertrag von Paris wurde im Namen Karls geschlossen; die Initiative dazu wie auch die Billigung der französischen Italienpolitik gingen auf die gegen den Kaiser gerichtete Regierung des Herzogs zurück. Aus dem Briefverkehr des Kaiserhofes geht ferner hervor, daß sowohl Maximilian als auch Ferdinand von Aragon sehr wohl wußten, daß die burgundische Delegation in Frankreich über den offiziellen Zweck der Reise hinaus weitreichendere Ziele verfolgte, die den politischen Interessen des Kaisers wie des Königs zuwiderliefen. Es dürften vor allem die englischen Diplomaten und die allgegenwärtigen Agenten Heinrichs VIII. gewesen sein, die sie, nicht ganz uneigennützig, mit Informationen versorgten.96 Hatten die ersten außenpolitischen Schritte der neuen Regierung bereits für etliche Irritationen gesorgt, so erfuhren der Kaiser und die ehemalige Regentin in sehr viel direkterer Weise die veränderte Situation im Lande selbst. Darüber gibt der Briefwechsel zwischen dem Kaiserhof und Mecheln Aufschluß, der größtenteils zwischen Maximilian und seiner Tochter, gelegentlich aber auch von Maroton, dem Sekretär des Kaisers, und Marnix, dem Sekretär Margaretes, geführt wurde. Die ersten Monate nach der Emanzipation Karls, aber auch noch das Jahr 1516 bedeuteten für die beiden ehemaligen Vormünder eine Periode der Unsicherheit und der Versuche, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, sowohl was ihre eigene Stellung im Lande betraf als auch das gewandelte Verhältnis zu dem jungen Herzog. Es wird nochmals sehr deutlich, daß der Kaiser nicht bereit war zu akzeptieren, daß er mit seiner Einwilligung zur Emanzipation des Enkels einen Schritt getan hatte, der nicht rückgängig zu machen war. Noch glaubte er, durch kaiserlichen Befehl die Autorität Margaretes wiederherstellen zu können. So teilte am 29. Januar 1515 der Sekretär des Kaisers seinem Kollegen in 96 Hierher gehört ein Brief Karls an seine Diplomaten in Paris (Brüssel, BR, ms. II 240/9: Karl an Heinrich III. von Nassau und Antoine de Croy seigneur de Sempy, Gent 5.3.1515; Ed.: Lanz 1844, 30 f. Nr. 17; Verweij 2009 [m. Faks.]), der auf den Wunsch Maximilians Bezug nimmt, die Interessen seines Hauses hinsichtlich Mailands und Neapels durch einen Mann seines Vertrauens - Adrian - vertreten zu lassen, bis zu dessen Ankunft der Vertragsabschluß hinausgezögert werden solle. Sofort erging die höflich-sachliche Antwort (Lanz 1844, 31–33 Nr. 18) der burgundischen Vertreter, daß Adrians Anwesenheit und weitere Verzögerung nicht notwendig seien. Der Brief Karls widerlegt eindeutig Wiesfleckers Auffassung, der Kaiser habe an den Vorgängen in Paris keinen Anteil genommen.

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Mecheln mit: Chièvres habet mandatum a cesare ut in omnibus et per omnia serenissima domina mori [!] solito gubernet et quod teniat [!] manum ut sic fiat.97 Wenige Tage später brachte der Kaiser in einem eigenhändigen Schreiben an Margarete eben diese Auffassung erneut zum Ausdruck: Sie sollte weiterregieren wie bisher. Er war sehr zufrieden mit der Tochter und wollte, daß alle Welt dies erführe: Tant y a que noz sumus content de vous, outant que ung père se doyt contenter de sa bonne fylle, et voluns bien que tout le monde le sayche. En oultre désirant que continués en vostre gouvernement comme avés faet jusques issy au présent et vous nous faerés très singulier plaisir dont volentié vous assertissons.98

Nur einen Tag später bekräftigte Maroton in einem Brief an Margarete die Ansicht des Kaisers von der künftigen Ausübung der Herrschaft in den Niederlanden, insbesondere in Zeiten der Abwesenheit des Herzogs: Madame, l’empereur m’a dit qu’il fera tant que vostre pension vous sera continuée vostre vie durant, et que le conseil privé se tenra vers vous, et quant monseigneur sera pardecha gouvernerés comme avez fait.99

Während Margarete allem Augenschein nach ihre veränderte Position akzeptiert hatte und sich in dieser Zeit vordringlich um die Absicherung ihrer Zukunft und den Rückgewinn ihrer Besitzungen bemühte, trug die Vorstellung des Kaisers, daß seine Tochter das Land weiterhin regieren könne wie bisher, den einmal geschaffenen Realitäten nicht Rechnung. Ebenso wirklichkeitsfern muten die Äußerungen des Kaisers zu den Vorhaben an, mit denen er Karl selbst wiedergewinnen oder, falls sich dies als unmöglich erwiese, reglementieren wollte. So griff Maximilian, wenn auch auf Drängen Ferdinands von Aragon, den Plan wieder auf, auf den er bei der Mündigkeitserkärung ausdrücklich verzichtet hatte, nämlich Karl dem Einflußbereich Chièvres’ zu entziehen, um ihn in seinem Sinne lenken zu können. Bereits in dem oben zitierten Brief des Maroton an Margarete heißt es: L’empereur est fort solicité du roy d’Aragon de tirrer le prince pardecha, et par ung coureir qui ce part promet devant qu’il soit III mois le avoir icy.100 Maximilian mangelte es selten an skurrilen Einfällen. Die Drohungen aber, die er im Februar 1515 ausstieß, waren Zeichen der Hilflosigkeit in einer Situation, die er selbst heraufbeschworen hatte, Zeichen wohl auch der Reue und des Zorns gegen sich selbst. Er kündigte an, das Land gegen Karl aufzuwiegeln und den Enkel um sein Erbe zu bringen. Maroton berichtete dem Marnix nach einem 97 Maroton an Marnix (Archives du Nord, zit. bei Walther 1911, 135 Anm. 5). 98 Le Glay 1839, 2, 87 Nr. 447 (1512; richtig Walther 1908, 282 f.: 3.2.1515). 99 Maroton an Margarete, 4.2.1515 (Archives du Nord, zit. nach Walther 1911, 238 f. [Beil. 23], hier 239). 100 Wie Anm. 99.

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Gespräch mit dem Kaiser: Inter loquendum dixit: Si princeps noluerit acquiescere mandatis meis, ego me maritabo.101 Mehrfach noch, stets im Einvernehmen mit dem Katholischen König, kam Maximilian darauf zurück, daß ein Sinneswandel Karls nur durch eine Zusammenkunft im Reich, mit ihm, dem Großvater, herbeizuführen sei. Am 14. Februar schrieb Maroton wiederum an Marnix: Dixit Urreas102 esse dissimulandum et totum secretum latere ut princeps sit hic. Schon wenige Tage darauf, am 17. Februar, legte der kaiserliche Sekretär Margarete dar, was Maximilian seinen eigenen Worten nach plante: [...] quant sa Majesté eut assez pensé, me dit: Je ne voie que ung seul remède, c’est de avoir le prince en mes mains. Lors facillement à tout se poura bien porveoir. Et est délibéré brief se partir pour aller à Wormes et faire là venir le prince. Et au cas que ne veuile venir, a proposé de aller au bas et fair des malcontens.103

Allerdings ließ der Kaiser seinen starken Worten keine Taten folgen, was die englischen Diplomaten in ihren Briefen bitter beklagten: Karl kam nicht nach Worms, Maximilian stiftete weder Unruhe in den Niederlanden noch schloß er eine neue Ehe. Sie kümmern sich nicht um ihn, zitiert A. Walther aus den Briefen der Engländer:104 In Brüssel reagierte man nicht auf die Drohungen des Kaisers. So war auch einem weiteren Versuch Maximilians, der neuen Regierung der Niederlande seinen Willen aufzuzwingen, kein Erfolg beschieden: Der Pfalzgraf als Mitglied des conseil privé wurde angewiesen, den Etat Karls nicht abzuschließen, bevor er dem Kaiser zur Genehmigung vorgelegen hatte.105 Der conseil des Herzogs nahm keinerlei Notiz von der Anordnung aus Wien. Erst im Herbst 1515, als Karl seine Huldigungsreise unterbrach und sich vom 22. September bis zum 6. November in Brüssel aufhielt,106 wurde der Etat aufgestellt und zusammen mit der neuen Hofordnung am 25. Oktober 1515 von Karl unterzeichnet.107 101 Maroton an Marnix, 10.2.1515 (Archives du Nord, zit. bei Walther 1911, 136 Anm. 3). 102 Pedro de Urrea, der Gesandte Ferdinands von Aragon am Kaiserhof . 103 Beide Briefe in den Archives du Nord, zit. bei Walther 1911, 135 Anm. 4. 104 Walther 1911, 136 (nach Brewer 1864, 29 ff.). 105 Ebd. 135 f. 106 Voyages II 16 (Itinerar). 107 Brüssel, Archives du Royaume, fonds de l’Audience, Maisons des souverains et des gouverneurs généraux, II, fol. 7–19: Ordonnance de Charles, prince d’Espagne, archiduc d’Autriche, duc de Bourgogne, etc., pour le gouvernement de sa maison (Kopie, 17. Jh.); Edition: Voyages II 491–494 (Etat). 495–501 (Hofordnung). Der Etat von 1515 umfaßt nur den Bereich des conseil einschließlich der ihm zugeordneten Sekretäre. Alle Mitglieder sind namentlich und mit Angabe ihrer täglichen Besoldung aufgeführt. Die Hofordnung, als Ordonnances bezeichnet, ist in drei Abschnitte gegliedert und enthält minutiöse Anweisungen zur Amtsausübung und generelle Verhaltensregeln sowie Strafmaßnahmen im Falle von Verstößen. Der erste Abschnitt betrifft die grande chapelle, der zweite die Kammerherren

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Während der Kaiser mit geradezu hektischer Aktivität neue, zum Teil phantastische Pläne erwog, wie er seine Autorität gegenüber dem Enkel wiedergewinnen könnte, war Margarete keineswegs untätig. Der Eindruck, den der Venezianer Pasqualigo einige Monate später von der Erzherzogin gewann, täuscht. Nach seinen Worten lebe sie nur ihrem Vergnügen und ihrem Zeitvertreib und sei dabei schöner und frischer als je.108 Dies war allerdings nur die für die Öffentlichkeit bestimmte Schauseite. Ihre wahren Gefühle, ihre Verletztheit offenbarte Margarete nur engsten Vertrauten in ihren Briefen. Wäre es allein nach ihren Wünschen gegangen, hätte sie sich bereits zu Beginn des Jahres 1515 in die Franche-Comté zurückgezogen.109 Die Niederländer hätten es mit Sicherheit begrüßt, wenn auf diese Weise entschieden worden wäre, wer eigentlich die Regierung des Landes darstellte. Neben den politischen Kontroversen dürfte Margaretes finanzielle Lage ein weiterer Grund dafür gewesen sein, daß sie ihren Sitz in die Franche-Comté verlegen wollte: Zwar verfügte sie über Einkünfte aus dem ihr verbliebenen Teil der Freigrafschaft, über ihr savoyisches Witwengut und eine spanische Witwenrente, über ein stattliches Vermögen also, das es ihr aber dennoch nicht gestattete, den Hof zu Mecheln wie bisher zu führen.110 Karls Regierung hatte ihr die Pension, die sie als Regentin bezogen hatte und die zur Bestreitung der Repräsentationskosten diente, nicht wieder bewilligt.111 Im Mai 1515 ließ sie den Kaiser durch ihren Sekretär um die Erlaubnis bitten, sich in die Franche-Comté zurückziehen zu dürfen, ein Ersuchen, das sie gegen Ende des Jahres wiederholte. Sobald Karls Huldigungsreisen durch die restlichen Provinzen vorüber waren, auf denen sie den Neffen noch einmal begleiten wollte, hoffte sie, ihre Pläne verwirklichen zu können. Maximilian drängte die Tochter zum Bleiben: Sie war sein einziger Rückhalt in den Niederlanden, da die wenigen, denen er noch vertraut hatte, nach und nach in das burgundische Lager übergewechselt waren.112 Ein eigenhändiger Brief Maximilians vom Mai 1515 beweist, wie sehr ihm daran gelegen war, daß sie in und alle Bediensteten der chambre, der dritte die Gentilshommes et Officiers en général. Die Hofordnung, die am 1. Januar 1516 in Kraft trat, behielt ihre Gültigkeit bis 1545; vgl. oben 42 f. Anm. 80. 108 Walther 1911, 137; Pirenne 1953, 81 (nach M. Sanuto). 109 In dem oben (Anm. 93) zitierten Schreiben an Gattinara wird dieser Wunsch bereits deutlich ausgesprochen: [...] s’il vous sembloit qu’on peult bonnement fère ou dressier quelque bon traictié pour la seurté de nostre povre pays et conté de Burgogne, au grey de l’empereur y pourrés entendre ou d’icelluy et vostre advis nous advertir; à celle fin, que si demain ou après nous y retirions, comme en voions assés l’apparence, y puissions demeurer en paix et seurement. 110 Walther 1911, 168. 111 Ebd. Bereits in dem Schreiben Marotons vom 4. Februar 1515 wird diese Pension erwähnt, für deren Fortzahlung der Kaiser sich einsetzen wollte. Vgl. oben 413 m. Anm. 99. 112 Walther 1911, 169.

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der Nähe Karls blieb, wohl nicht nur, um von ihr zuverlässige Informationen über die Vorkommnisse in den Niederlanden zu erhalten, sondern in der Hoffnung, daß sie das Vertrauen des Neffen und damit auch einen gewissen Einfluß wiedergewinnen könnte. Er versprach ihr, auf Karl einzuwirken, damit er Margarete so behandelte, wie sie es verdiente, wobei er fest daran glaubte, daß der Enkel seiner Bitte Folge leisten würde: Ma bonne fille, j’ay despeché ce présent peurteur ver nostre fylz Charles désirant qu’il vous taingne vers lui et vous traicte comme ung bon nepver est obligé de tracter une sy virtueuse et bonne tante, comme vous estes, dont je suis assuré qu’il le fera. [...] Désirant de vous sur outant que nous amé [= aimez] et extimé vostre bon père, que demoré au près nostredit fylz et ne vous départé de là, car vostre présence est là bien nécessaire et nous ferés service fort agréable, ayant confidence en vous que en ce part comme en tout aultre chose avés esté jusques au présent nostre obésante fylle [...]113

Die Sorge um die Zukunft der Enkelgeneration, vor allem um Karl, lastete offensichtlich schwer und lange auf dem Kaiser, wie aus einem Brief an Margarete vom 2. März 1516 hervorgeht. Karl war inzwischen das Erbe Ferdinands von Aragon zugefallen, und die Erfahrung sagte Maximilian, daß es kein leichtes Erbe sein würde. Wieder bat er die Tochter, Karl zur Seite zu stehen, damit – hier nicht näher definierte – Angelegenheiten zu seinem Besten geregelt würden: [...] pensant jour et nuyt aux affaeres de mes hérytiers, me suis avisé, pour le bien principalement et honneur de mon fylz le roy Charles, d’y escripre à mes députés estant vers luy aulcune choses concernant le bien d’eux et leor subgés. Sachant que serés requise de mondit filz de acomplir charge honorable, désiruns et vous requiruns que le complisés; en ce faisant vous nous faerés chose fort agréable et honneur à vous [...]114

Immer wieder bringt Maximilian seine Zufriedenheit mit den Aktivitäten seiner Tochter zum Ausdruck, die ihr politisches Wirken keineswegs eingestellt hatte. Sie versuchte im Rahmen ihrer Möglichkeiten Chièvres’ Politik entgegenzuarbeiten, indem sie sich um die Wiederbelebung der alten Beziehungen zu England bemühte. Dabei konnte sie sich auf eine kleine Gruppe von Adligen, vor allem aus den nördlichen Provinzen der Niederlande, stützen, die auf eine Erneuerung der Handelsverträge hofften.115 Sie wollte Unterhändler an den englischen Hof zu Heinrich VIII. schicken,116 der sich einer erneuten Annäherung an die Nie113 Maximilian an Margarete, Mai 1515 (Archives du Nord, zit. nach Walther 1911, 243 [Beil. 29]). 114 Le Glay 1839, 2, 345 Nr. 638 (2.3.1516). Maximilian gibt hier seinem Enkel den Königstitel noch vor der umstrittenen Proklamation vom 14. März 1516. Vgl. dazu oben 382 f. 115 Walther 1911, 137 f. 116 Maximilian kündigte Instruktionen für diese Gesandtschaft an und wollte sogar die Reisekosten übernehmen. Margarete sollte die Anweisungen des Kaisers auch dem Herzog und

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derlande sehr geneigt zeigte, da er jeden Plan begrüßte, der die sich anbahnende Allianz des Herzogs von Burgund mit dem französischen König wenn nicht verhindern, so doch schwächen konnte.117 Karls Regierung wußte diese Gesandtschaft zu hintertreiben, und Margarete konnte ohne ein offizielles Amt ohnehin keine Verträge für die Niederlande schließen. Kaum war jedoch die burgundische Delegation nach dem Abschluß des Vertrages von Paris aus Frankreich zurückgekehrt, zog der Hof die Verhandlungen mit England an sich. Die Pläne von Karls Regierung gingen weit über das hinaus, was Margarete hatte einleiten wollen. Von getrennten Kommissionen beider Seiten wurde in einem schwierigen Prozeß nicht nur der Handelsvertrag erneuert, sondern auch ein Freundschaftspakt vereinbart: im nationalen Interesse.118 Zehn Jahre nach dem Vertragsabschluß durch Philipp den Schönen wurden die Abkommen am 24. Januar 1516 in Brüssel unterzeichnet. Die Rolle, die Karl bei den Verhandlungen spielte, erhellt ein einziger Satz H. Pirennes: „Après de longs débats pendant lesquels l’archiduc se déroba continuellement derrière son ministre, on renouvela finalement pour cinq ans l’entrecours de 1506 [...].“119 Auch auf das tiefe Mißtrauen, das am burgundischen Hof gegenüber dem Kaiser, der ehemaligen Regentin und den ihnen verbliebenen Getreuen herrschte, weist Pirenne hin: „[...] les hommes de confiance de Marguerite et de l’Empereur sont traités en suspects, s’ils ne sont persécutés.“120 Dahinter konnte sich nur, trotz des entschiedenen Auftretens Chièvres’ und seiner Räte, die tiefsitzende Sorge darüber verbergen, daß die Kräfte, die das Land bisher beherrscht hatten, noch genügend Einfluß besaßen, um den Zielen der kaum etablierten neuen Regierung entgegenzuwirken. Den Kaiser und die ehemalige Regentin konnte man nicht verfolgen; es war nicht gelungen, sich der Erzherzogin als der wichtigsten Vertrauten des Kaisers in den Niederlanden zu entledigen. Um Einsicht in mögliche Vorhaben von Vater und Tochter zu erlangen, begann man sie zu bespitzeln, indem man ihren Briefverkehr kontrollierte. Margaretes Post wurde ihr vorenthalten oder verspätet übermittelt, wobei deutliche Spuren darauf hinwiesen, daß die Briefe geöffnet worden waren. Dies betraf sogar Schreiben an den Kaiser, die dem Rat, nostre conseil privé [!], übermitteln: Le Glay 1839, 2, 275 f. Nr. 585 (11.2.1515 [1514 a.St.]). 117 Heinrichs VIII. kurzzeitige Allianz mit Frankreich war ein reines Zweckbündnis auf Zeit gewesen, das durch die Verheiratung seiner Schwester Mary an Ludwig XII. bekräftigt wurde. Das Zerwürfnis begann bereits mit dem Regierungsantritt Franz I., als man die junge Königinwitwe in Frankreich festhielt und ihre Mitgift nicht herausgeben wollte, so daß der englische König eingreifen und seine Schwester heimholen lassen mußte. 118 Sehr ausführlich zu dem Verlauf der Verhandlungen Walther 1911, 143 f. 119 Pirenne 1953, 85. 120 Ebd. 83.

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sie weiterleiten sollte. Margarete äußerte sich dazu Ende März 1515, kurz nach dem Abschluß des Vertrags von Paris, in einem Brief an Maximilian: [...] j’ay receuz hier bien tard une lettre de maistre Conrad Renner prévost de Louvain, votre serviteur, par laquelle il m’avertit que à sa venue à Paris il a trouvé toutes choses passées, faictes et conclutes, comment je tiens de ce il vous avertit plus à plein par ung pacquet de lettres qu’il m’a prié vous adresser, ce que je fais, mais il m’a semblé à veoir ledit pacquet que par l’audiencier m’a esté présenté, que, fust en France ou pardeçà, icelluy avoir esté ouvert, comme assés pourrés veoir par l’apparence d’icelluy. Dont je vous avertiz voulentiers à ce que ne pensissiés telle ouverture si faicte a esté procédée de moy.121

Wie einer Notiz A. Walthers zu entnehmen ist, ging man offensichtlich in dieser von Mißtrauen überschatteten Zeit dazu über, alle Schreiben vertraulichen Inhalts in Chiffre abzufassen.122 Für das Jahr 1516 läßt sich mit zwei Briefen des Kaisers an seine Tochter nachweisen, daß ihre Korrespondenz weiterhin überwacht wurde. Zu Beginn des Jahres schrieb Maximilian: Nous escripvons présentement à nostredit filz en vostre faveur [...] pareillement donnerons ung bon nota au maistre d’hostel Casins [!] qu’il face meilleur garde et extime de noz lettres que s’adressent à vous en les laissant au maistre des postes pour les vous délivrer, si n’est que particulièrement et par autre main les vous voulons faire tenir.123

Zum Ende des Jahres hatte sich offenbar an der Sachlage nichts geändert, obwohl der Kaiser sich, wie er es Margarete versprochen hatte, bereits im Januar direkt an Karl gewandt hatte. Aus diesem ausführlichen Schreiben sei hier zunächst die Passage zitiert, in der Maximilian seinen Enkel bittet, für einen ungehinderten und unzensierten Briefverkehr zwischen ihm selbst und der Tochter zu sorgen: [...] pour ce que désirons souvent avoir nouvelles d’elle [von Margarete] et aussi souvent luy escripre comme celle qui par vray sang et nature ayme nostre bien et honneur et le vostre, et nous trois par ensemble n’extimons estre que une mesme chose correspondant 121 Margarete an Maximilian, Ende März 1515 (Archives du Nord, zit. n. Walther 1911, 242 [Beil. 27]). 122 1911, 135 Anm. 3: „Es sind besonders aus den Jahren 1515–17 viele chiffrierte Briefe, meist von Des Barres auf einem losen Blatt entziffert, aber die Stücke seltsam zerstreut in den Portefeuilles [= der damaligen Aufbewahrung der Briefe in den Archives du Nord, A.S.].“ Die Sigel, die für Personen stehen, sind auch in den Entzifferungen oft beibehalten worden. Dies hat die gewaltige Aufgabe, die sich Le Glay (1839) mit der Edition der Correspondance gestellt hatte, nicht eben erleichtert und erklärt u.a. auch gelegentliche Fehler, die ihm bei der Ein- und Zuordnung unterliefen. – Des Barres war der Erste Sekretär Margaretes (Walther 1908, 255). 123 Le Glay 1839, 2, 339–342 Nr. 634 (18.1.1516), Zitat 341. Casins ist Transkriptionsfehler (auch in Brief Nr. 614): gemeint ist mit Sicherheit Casius Hacquenay, einst Vertrauter Maximilians, dann maître d’hôtel am Hofe Karls, der besonders die Korrespondenz nach Deutschland zu beaufsichtigen hatte; vgl. Walther 1911, 177.

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à ung mesme désir et affection, vous requérons ordonner à vostre maistre des postes de pardelà, que toutes les lettres qu’elle nous vouldra escripre, qu’il nous les envoye subitement, et pareillement qu’il baille et délivre les nostres qui viendront en sa main, sans estre tenu en prendre licence de quelque ung que ce soit, ne que nul autre les ait de luy à recevoir pour les délivrer et présenter à icelle nostredite fille. Car nous croyons qu’il desplairoit comme il feroit à nous, que lesdites lettres allassent à maulvais port ou qu’elles tumbassent à estre secrètement visitées.124

Ob Karl sich der Angelegenheit angenommen oder sie seinen Räten überlassen hat, ob sie ihn überzeugten, daß die Maßnahmen der Staatsräson dienten, ließ sich nicht feststellen. Margarete hat es aber offensichtlich für angezeigt gehalten, ihre Briefe an den Vater weiterhin zu chiffrieren, wie eines seiner Schreiben beweist.125 Verglichen mit den gleichzeitig sich abspielenden Ereignissen der großen europäischen Politik mögen die internen Querelen belanglos erscheinen. Im Zusammenhang gesehen mit der Entwicklung der Persönlichkeit Karls und dem gewandelten Verhältnis zu seinen „Ersatzeltern“ sind sie jedoch aufschlußreich und nicht ohne Gewicht. Die alterstypische Abkehr von den Bezugspersonen der Kindheit, die Suche nach einer neuen Leitfigur, die Karl in Chièvres gefunden zu haben glaubte – diese Phase der persönlichen Neuorientierung fiel für den jungen Fürsten zusammen mit der Übertragung der Regierungsverantwortung. Seine Unsicherheit und Unerfahrenheit im politischen Tagesgeschäft ließen ihn, kaum, daß er sich mit der Emanzipation aus einer Abhängigkeit gelöst hatte, in eine neue geraten: Willig überließ er anstehende Entscheidungen, ganz Croyconseil, seinem premier chambellan und dem conseil. So ist auch die Anordnung zur Überwachung der Korrespondenz Margaretes und des Kaisers mit Sicherheit von den Ratgebern ausgegangen. Daß Karl nicht auf die Bitten und Vorhaltungen Maximilians reagierte, stellt erneut die Dominanz seines engsten Beraters unter Beweis. Gleichzeitig offenbaren sich hier aber auch die geringen Möglichkeiten der Einflußnahme des Kaisers auf innere Angelegenheiten der einzelnen Reichsteile unter ihren selbstherrlichen Fürsten. Dies ist nicht Maximilian als Mangel an persönlicher Autorität anzulasten; vielmehr tritt hier eine der Ursachen für die Schwäche zutage, die das deutsch-römische Kaisertum über weite Zeiträume charakterisierte. Diese Schwäche zeigte sich vor allem in der Außenpolitik, denn in diesem Bereich fehlte es dem Kaiser an der Unterstützung durch die Reichsfürsten; von seinem Enkel konnte er keine Hilfe erwarten. 124 Maximilian an Karl, 18.1.1516 (Archives du Nord, ed. bei Walther 1911, 244 f. [Beil. 31]), Zitat 245. Von diesem Schreiben wurde Margarete gleichzeitig, vermutlich von der Kanzlei des Kaisers, eine Kopie übersandt. 125 Maximilian an Margarete, 7.12.1516 (Archives du Nord, zit. nach Walther 1911, 246 [Beil. 32]): Ma bonne fille. Nous avons veu la paine que prenez de nous escripre en ziffre de vostre main, et le vray désir que avez et l’affection filiale à l’honneur de nous et de nostre maison.

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Nachdem Franz I. seine Absicht, die Lombardei zurückzuerobern, unverblümt kundgetan hatte, stand die Politik der übrigen Großmächte Europas in den Jahren 1515/16 ganz im Zeichen sich neu formierender Allianzen gegen Frankreich. Daher schlossen sich zunächst Ferdinand von Aragon, der Papst, der Kaiser, die Eidgenossen und Mailand zu einem Schutzbündnis zusammen, das für die Erhaltung des derzeitigen Besitzstandes in Italien eintreten wollte; daraus ging eine neue Heilige Liga hervor, die nur offiziell gegen das Vordringen der Türken, tatsächlich aber gegen Frankreich gerichtet war. Nach dem Sieg Franz’ I. bei Marignano am 13. September 1515 trat nach langem Schwanken auch Heinrich VIII. der Liga bei, ließ es aber letztlich an finanzieller und militärischer Unterstützung fehlen, während Leo X. sich mit dem neuen Herrn der Lombardei verständigte.126 Im Herzogtum Burgund standen sich die Regierung Karls als Verbündete der Franzosen und Margarete, die Tochter des Kaisers und Wahrerin seiner dynastischen Interessen in den Niederlanden, unmittelbar gegenüber. Nichts kann diese Situation besser erhellen als zwei Briefe Karls, die er wenige Tage nach der entscheidenden Schlacht an Franz I. und an dessen Mutter, Louise von Savoyen, richtete: Am 23. September gratulierte der Herzog von Burgund dem französischen König, den er als mon bon père anredet, zu seinem Sieg, d.h. zur Niederlage der Liga, der seine beiden Großväter angehörten, und unterzeichnet als votre humble filz et vassal. Auch Louise von Savoyen übermittelt er seine Glückwünsche. Gleichzeitig bietet er sich als Vermittler zwischen dem französischen König und dem Kaiser an, damit die beiden Herrscher sich in Freundschaft zum Wohle der gesamten Christenheit zusammenschließen könnten.127 Wurde die Erzherzogin zu diesem Zeitpunkt auch von den Räten Karls weitgehend ignoriert und kaum zu Beratungen hinzugezogen, so pflegte sie doch ständig diplomatische Kontakte und führte Verhandlungen für den Kaiser. Obwohl sie keine offizielle Funktion mehr innehatte, war es nicht gelungen, sie völlig auszuschalten: mit Margarete war weiterhin zu rechnen. Sie war unbequem, und die Ratgeber Karls sorgten dafür, daß sich nachträgliche Kritik an ihrer Regentschaft artikulierte. Man warf ihr vor, daß sie weder den Geldrischen Krieg zu beenden noch den Frieden von Cambrai auf Dauer zu wahren gewußt und die Provinzen für kriegerische Unternehmungen sowie zu ihrer eigenen Bereicherung ausgebeutet habe. Voller Empörung setzte Margarete ein Memorandum auf, eine kämpferische Rechtfertigungsschrift, in der die ehemalige Regentin nichts zurücknahm, sich für keine ihrer Entscheidungen kleinlaut entschuldigte, sondern im Gegen126 Diese Ereignisse und die z. T. absurden Konstellationen, die sich aus den Bündnissen ergaben, sind bereits erwähnt worden; vgl. oben 284 m. Anm. 396. Ausführlich zu dieser wirren Phase des Ringens um Italien Wiesflecker 1981, 364–370. 127 Lanz 1844, 48 f. Nr. 26 (Karl an Franz I., 23.9.1515). 27 (Karl an Louise von Savoyen, 25.9.1515).

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teil ihrerseits Vorwürfe gegen Karl und Chièvres erhob.128 Am 20. August 1515 ließ sie das Memorandum in Anwesenheit des Herzogs, seines premier chambellan und der conseillers im Rat verlesen. Folgt man im wesentlichen der Darstellung E. Gossarts, so eröffnete sie ihr mémoire mit einem Angriff auf Chièvres, dem sie vorwarf, danach zu trachten, ihr die Zuneigung und die Gewogenheit ihres Neffen zu entziehen, trotz allem, was sie während seiner Minorität für ihn getan habe. Ohne Eigennutz und nur von ihrer Loyalität geleitet, habe sie sich mit ganzem Herzen ihrer Aufgabe gewidmet: „[...] elle protestait qu’elle avait administré [...]«de cœur et non pour me enrichir de vos biens».“129 So ihre eigenen Worte, mit denen Margarete sich hier vermutlich nicht nur gegen den Vorwurf der avarice zur Wehr setzte, sondern bereits darauf anspielte, daß Chièvres und andere Regierungsmitglieder dieses Lasters verdächtigt wurden.130 Bevor der eigentliche Rechenschaftsbericht über die Maßnahmen folgte, die sie während ihrer Regentschaft getroffen hatte, verlangte die Erzherzogin, daß im Anschluß an die Verlesung der Denkschrift die Mitglieder des conseil ihre Kritik in ihrer Gegenwart und im Beisein des Herzogs äußern sollten, da sie es vorzog, daß man ihr offen Rede und Antwort stand, statt hinter ihrem Rücken über sie zu sprechen.131 Im Zentrum des Memorandums stand ihr Tätigkeitsbericht, ein Resümee von Fakten, die den Anwesenden bekannt waren, die hier aber aus der Perspektive der ehemaligen Regentin interpretiert wurden. Sie legte dar, daß sie nach dem Tode ihres Bruders die Regentschaft und die Vormundschaft auf Geheiß ihres Vaters übernommen hatte, ohne Rücksicht auf ihre damals äußerst schwierige Lebenssituation, und daß sie in den folgenden Jahren ihre eigenen Interessen ihrer Aufgabe geopfert hatte. Aus Margaretes Sicht war es wesentlich zu betonen, daß alles, was sie getan oder angeordnet hatte, in Übereinstimmung mit dem Kaiser geschehen war.132 Nach der Rekapitulation aller Probleme, mit denen sie sich während ihrer Regentschaft hatte auseinandersetzen müssen, hob Margarete 128 Den Inhalt des Memorandums geben in seinen wesentlichen Punkten (teils wörtlich, teils referierend) wieder: Juste 1858, 83 f.; Gossart 1910, 170 f.; Dansaert 1942, 136 f. m. Anm. 110. Dabei übernimmt Dansaert die Fassung des von ihm geschätzten Gossart fast wörtlich. Alle Fassungen basieren auf L. Ph. C. Vandenbergh, Gedenkstukken tot opheldering der Nederlandsche geschiedenis, 3, Den Haag 1847, 117–136. 129 Gossart, Roi d’Espagne, 170. 130 Es sei in diesem Zusammenhang an das Memorandum des Manrique de Lara erinnert, der ein gutes halbes Jahr später allen Niederländern Habgier unterstellte. 131 Bei Gossart 1910, 170, wird sie mit den Worten zitiert: car j’aime trop mieux que l’on parle par devant moi que derrière. 132 An dieser Stelle verschweigt sie, daß sie oft ihre Entscheidungen allein treffen mußte, da Maximilian auf ihre Briefe nicht oder nur verspätet reagierte. Dennoch ist es korrekt, wenn sie behauptet, nie ohne Zustimmung des Kaisers gehandelt zu haben, wenn diese auch häufig nachträglich oder widerstrebend erteilt wurde.

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nochmals hervor, daß sie als Regentin keinerlei Staatsgelder für sich verwendet, sondern im Gegenteil einen beträchtlichen Teil ihres eigenen Vermögens eingesetzt hatte. Die anwesenden Räte durften sich sehr wohl durch den Zusatz angesprochen fühlen: daß nämlich keiner der Seigneurs es sich hätte bieten lassen, daß man ihm seine Pension vorenthielt, wie es der Erzherzogin widerfuhr.133 Ebenso sehr wie der Vorwurf, sich auf Kosten des Landes und ihres Neffen bereichert zu haben, trafen Margarete das Mißtrauen, das man gegen sie schürte, und die Verleumdungen, die ausgestreut wurden, um sie in Karls Augen herabzusetzen. Diese Klagepunkte griff Margarete erneut auf, denn sie sah sich damit in ihrer Ehre empfindlich verletzt. Mit einer letzten Passage, die direkt an den jungen Herzog gerichtet ist, steuert die Denkschrift ihrem emotionsgeladenen Höhepunkt zu: Vous pouvez estre asseuré, Monseigneur, que quand il vous plaira vous servir de moy et me traicter et tenir en telle estime que la raison veult, je vous serviray bien et léalement, et y exposerai ma personne et mes biens, comme j’ay ci-devant fait. Mais s’il vous plaist de croire légièrement ce qu’on vous dit de moy et me souffrir traicter comme je vois le commencement, aymerois trop mieulx de porvoir à mes petites affaires et me retirer gracieusement, comme desjà l’ay fait supplier à l’Empereur par mon secrétaire Marnix [...]134

Der überlieferte Text des Mémoire ist mit einer Protokollnotiz versehen: „Une note jointe à ce mémoire constate qu’il y «fut répondu par Monseigneur et le chancelier de sa part qu’on tenoit Madame pour bien deschargée de toutes choses, avec autres belles et bonnes paroles et promesses.»“135 Man war dem Ersuchen der Erzherzogin nachgekommen und hatte ihr Gelegenheit gegeben, sich gegen die erhobenen Vorwürfe zu verteidigen. Diskussionsbedarf bestand offensichtlich nicht. Die Gleichgültigkeit, mit der ihre Erklärung entgegengenommen wurde, die formelhaften Sätze, mit denen Karl und sein Kanzler sie entließen, konnten Margarete offensichtlich nicht zufriedenstellen. Mit einem zweiten Memorandum versuchte sie, den Vorwurf der avarice zu entkräften, indem sie mit aussagekräftigem Zahlenmaterial belegte, daß sie die Ausgaben des Hofes immer mehr eingeschränkt und sogar ihr Silber verpfändet hatte, um die Kosten für Reisen und Repräsentationsaufgaben decken zu können. Bestandteil dieses mémoire ist außerdem eine Liste der reichen Geschenke, die sie auswärtigen Diplomaten während ihrer Regentschaft hatte überreichen lassen. Diese Gastgeschenke, die genau beschrieben und mit Wertangaben versehen sind, stammten ausschließlich aus dem Privatbesitz der Regentin. Den Großteil hatten französische Diplomaten 133 Diesen deutlichen Angriff auf ihre Gegner in der Regierung erwähnt nur Juste (1858, 84). 134 Ebd. 135 Ebd.; ebenso Gossart 1910, 171; Dansaert 1942, 137.

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empfangen, einiges war auch an die Abgesandten des englischen Königs gegangen, damit sie die Belange Karls unterstützten, wie es ein Satz des Memorandums erläutert: Le tout donné pour de mieux nourrir paix et amour entre France et cette maison, ainsi que les affaires de Monsieur le requerroient.136 Man sollte sich hüten, aus heutiger Sicht darin Bestechungsversuche zu sehen: Die Regentin verfuhr nach dem uralten Prinzip des do ut des, der Vertragsformel des römischen Rechts, die zum Grundsatz diplomatischen Handelns wurde. Trotz der zahlreichen Belege, die Margarete zu ihrer Entlastung beibrachte, verfehlte auch das zweite Memorandum jede Wirkung auf die burgundische Regierung. Alle Versprechungen des Herzogs und seines conseil blieben leere Worte: Wie zuvor nutzte Chièvres seinen Einfluß, um Margarete zu desavouieren, alle Angelegenheiten von Belang ihrer Kenntnis vorzuenthalten und ihren Briefverkehr mit dem Kaiser zu überwachen. Schließlich – es waren fünf Monate seit der Verlesung der Denkschrift vergangen – sah sich der Kaiser genötigt, zwischen seiner Tochter und dem Enkel zu vermitteln. Er riet Karl dringend, seine Tante in allen wichtigen Fragen zu Rate zu ziehen und ihr in jeder Hinsicht zu vertrauen wie keinem anderen Menschen. Außerdem bat er den Herzog, Margarete die Pension weiterhin zu zahlen, die er ihr nicht nur wegen der Verwaltung des Herzogtums während seiner Minorität schuldete, sondern auch wegen der großen Zuneigung Margaretes zu Karl, die alle Hoffnung auf ihren ehemaligen Schützling setzte und ihn als ihren Erben betrachtete. Maximilian gab dem Enkel zu verstehen, daß er darauf vertraute, daß Karl sich in Zukunft der Tante gegenüber so verhalte, wie sie es verdient hatte.137 Wenn Pasqualigo im Sommer 1515 glaubte, Margarete lebe nur ihrem Vergnügen und Zeitvertreib, so irrte er sich also. Dennoch mag sein Eindruck insofern richtig gewesen sein, als sie wahrscheinlich tatsächlich frischer und schöner wirkte als zuvor: Von vielen Aufgaben befreit, konnte sie sich ihren persönlichen Interessen stärker widmen. Der Umbau des hôtel de Savoie war 1515 fürs erste beendet. Margarete stellte das Inventar ihrer Sammlungen auf und begann mit der Neuordnung ihrer Gemäldegalerie, die sie bis 1523 beschäftigte.138 Vor allem aber förderte sie unter Einsatz ihres privaten Vermögens Kunst, Literatur, Musik und Gelehrsamkeit. Was sie bereits zu Beginn ihrer Regentschaft eingeleitet hatte, konnte sie nun ungehinderter fortführen: So setzte die eigentliche Blütezeit des 136 Abschrift mit Randnotizen Margaretes (Archives du Nord, ed. bei Le Glay 1839, 2, 439 bis 441; Zitat 440). Dieses Memorandum hat in der Literatur weniger Beachtung gefunden. Henne 1865, 206 f. gibt eine Zusammenfassung der Hauptpunkte. 137 Maximilian an Karl, 18.1.1516 (wie Anm. 124). 138 Vgl. oben 121 f. und 126 m. Anm. 339. Die Inventur ihrer Besitztümer ist jedoch zweifellos auch im Zusammenhang mit ihrer Verteidigung gegen den Vorwurf der avarice, der Bereicherung aus den Mitteln des Landes, zu sehen.

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„Musenhofs zu Mecheln“ erst nach dem Ende der ersten Regentschaft Margaretes ein. Indem sie ihre Residenz zum geistig-kulturellen Zentrum des Landes, zum Anziehungspunkt für Künstler und Gelehrte machte, schuf sie einen bedeutenden Gegenpol zum prachtliebenden Herzogshof von Brüssel. Während Margarete nach der Emanzipation Karls von zahlreichen drückenden Pflichten befreit war, wuchs dem jungen Herzog neue Verantwortung zu: Mit seiner Mündigkeit wurde er auch Chef des Hauses Burgund. Die wesentlichen Aufgaben und Entscheidungen in der Regierung seines Herzogtums wurden zwar zunächst für ihn von seinem conseil wahrgenommen, Angelegenheiten seines Hauses jedoch konnte er nicht delegieren. Schon bald wurde ihm die Beteiligung an einer ersten schwierigen und delikaten Mission angetragen. In dem bereits mehrfach erwähnten Brief vom 18. Januar 1516 bat ihn der Kaiser, sich für seine Schwester Isabella einzusetzen, die blutjunge Königin von Dänemark, die unter dem Lebenswandel und der Untreue ihres Gemahls Christian zu leiden hatte und gedemütigt wurde: Par voz lettres et autres sommes adverty la desplaisante et honteuse vie que tient nostre frère et beaufilz le roy de Danmark avec une concubine au grand deul et desplaisir de nostre fille vostre seur sa compaigne et blasme de tous ses parens.139

Maximilian fühlte sich nicht nur als Großvater Isabellas verpflichtet, Christian zur Änderung seines Verhaltens zu veranlassen, sondern auch als Chef des Hauses Habsburg: Was hier einem Mitglied der Dynastie angetan wurde, betraf alle140 und befleckte die Ehre des Hauses. Zudem lastete die Verantwortung für das Schicksal der Enkelin doppelt auf dem Kaiser, weil er es gewesen war, der sie aus dynastischen Erwägungen an den zwanzig Jahre älteren zeitweiligen Herren der drei Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden verheiratet hatte,141 den die Zeitgenossen den „Nero des Nordens“ nannten. Daher entsandte Maximilian seinen langjährigen Ratgeber Sigismund von Herberstein an den dänischen Hof. Er sollte begleitet werden von einem Vertreter des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, da dieser Fürst als Verwandter Christians seinerzeit am Zustandekommen des Heiratsvertrags beteiligt gewesen war. Als der Kaiser den Herzog von Burgund bat, sich ebenfalls mit einem Mann seines Vertrauens an dieser Mission zu beteiligen, wandte er sich nicht an Karl als den älteren Bruder der unglücklichen Königin, sondern an den Chef des Hauses Burgund: Si désirons et vous requèrons y vouloir semblablement incontinent envoyer quelque notable homme des vostres, pour parensemble et conjoinctement povoir exécuter leur charge à la fin que dessus, et aussi que ledit roy par plusgrand respect se doibve régir et gouverner à la voye de raison, d’honneur et de salut, et délaisser sadite concubynne. 139 Maximilian an Karl vom 18. Januar 1516 (wie Anm. 124), zit. nach Walther 1911, 245. 140 Vgl. oben 123 f. 141 Vgl. oben 158 Anm. 453.

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Dieser Brief läßt im Ton und in der Wortwahl einen Wandel im Verhältnis Maximilians zu seinem Enkel erkennen. Der Kaiser hat die Rolle des Vormunds abgelegt, an der er zunächst trotz seiner Einwilligung zur Emanzipation mit großer Zähigkeit festgehalten hatte. Er ordnet nicht mehr an, er droht nicht mehr, sondern erteilt allenfalls Ratschläge – und bittet.142 Es ist kein Zufall, daß er Karl ersucht, seinen Einfluß in drei Angelegenheiten geltend zu machen, die zwar auch eine politische Dimension haben, aber gleichzeitig – was für den Kaiser vermutlich vorrangig war – die Loyalität innerhalb der Dynastie und die Ehre des Hauses berühren. Der Chef des Hauses Habsburg spricht den Chef des Hauses Burgund als einen Gleichrangigen an, dem er zutraut, daß er seiner Rolle gerecht wird und die damit verbundenen Verpflichtungen übernimmt. Auf dieser Basis hofft er, in Karl einen Verbündeten zu finden, der ihm bei der Verteidigung der Interessen der vereinigten Häuser Habsburg-Burgund zur Seite steht, wenngleich der Enkel in seiner Position als Herzog von Burgund für eine Politik verantwortlich zeichnet, die der des Kaisers meistens entgegengesetzt ist. Allerdings zeitigte dieser Brief des Kaisers keine Wirkung: So, wie die ersten seiner Anliegen bei Karl kein Gehör fanden, so war auch dem Versuch, Isabellas Lage durch gemeinsames Einschreiten zu verbessern, kein Erfolg beschieden.143 Wenige Tage, nachdem der Kaiser seinen Appell an Karl gerichtet hatte, trat mit dem Tod Ferdinands von Aragon eine grundlegende Veränderung der politischen Konstellationen in Europa ein. Der Katholische König war die treibende Kraft in den Bündnissen der Großmächte gegen Frankreich gewesen. Karl dagegen, dem das spanische Erbe zufiel, war mit Franz I. verbündet, durch die nahezu zeitgleiche Erneuerung der Verträge mit England auch mit dessen Gegner Heinrich VIII. Für Karl, der nun als Herzog von Burgund und „König der Spanien“ in 142 In allen drei Abschnitten des Briefes begegnet immer wieder das Bitten oder höfliche Ersuchen in verschiedenen Formen des Verbs requérir. 143 Christian brachte auch nach dem Tod seiner Konkubine seiner Gemahlin nicht die ihr gebührende Achtung entgegen; man entzog ihr sogar die Erziehung ihres Sohnes. 1522 erhoben sich die Skandinavier gegen den brutalen und unwürdigen Monarchen, der daraufhin vom dänischen Adel abgesetzt wurde. Tamussino 1995, 196 f. erwähnt, daß in der offiziellen Erklärung „die Lieblosigkeit und Untreue gegenüber der so noblen und tugendhaften Königin“ als wesentliche Gründe für die Absetzung aufgeführt wurden. Vergebens versuchten die Adligen, Isabella, die sie weiterhin als ihre legitime Königin anerkannten, als Regentin für ihren unmündigen Sohn im Lande zu halten. Durch die leidvollen Jahre geschwächt und ohnehin nicht mit der Intelligenz und Tatkraft ausgestattet, wie sie Margarete auszeichneten, folgte sie mit ihren drei Kindern ihrem Gemahl ins Exil in den Niederlanden, wo die Tante für die Familie in Lierre den „Hof von Dänemark“ einrichtete. Isabella starb dort im Alter von 25 Jahren. Margarete gelang es in langjährigen Bemühungen, dem verantwortungslosen Verwandten das Sorgerecht für die Kinder abzukaufen, indem sie seine Schulden bezahlte und ihm eine Pension aussetzte. Damit konnte auch die nächste Generation von „enfants abandonnés“ an ihrem Hofe heranwachsen.

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einer Person für zwei Mächte stand, die bisher feindlichen Lagern angehört hatten, führte Chièvres, der „in diesen Jahren fast alle organisch wichtigsten Fäden der Weltpolitik in seiner Hand hatte“,144 die weiteren Verhandlungen mit beiden Großmächten, die am 19. April 1516 in ein Defensivbündnis mit England und am 13. August in den Vertrag von Noyon mündeten.145 Ziel der Politik Chièvres’ war es, eine friedliche Regierungsübernahme Karls in Spanien zu sichern. Das gleiche Motiv leitete auch den Kaiser, als er sich 1517, selbst für einige seiner engsten Berater überraschend, wenn auch insgeheim langfristig angebahnt, mit einer volte face der burgundischen Frankreichpolitik anschloß. Heinrich VIII. hatte nach dem Abschluß des Vertrages von Noyon versucht, Maximilian für ein neues antifranzösisches Bündnis mit dem Papst und Juana, der legitimen Königin von Kastilien, zu gewinnen. Der Plan sah vor, daß der Kaiser sich in die Niederlande begeben, Karl von den Lenkern seiner Politik befreien und zum Beitritt zu der neuen Koalition bewegen sollte.146 Als der Kaiser im Januar 1517 in den Niederlanden eintraf, ging er den in Mecheln und Brüssel versammelten englischen und französischen Gesandten aus dem Wege und traf sich mit Margarete im hôtel de Savoie, wo beide, kurz zuvor noch die beherrschenden Persönlichkeiten des Landes, sich im Geheimen wie Verschwörer beraten mußten. Der Kaiser hatte seit längerem vergeblich nach einem Weg gesucht, sich mit beiden Großmächten gleichermaßen zu arrangieren, wie er seiner Tochter bei ihrer Zusammenkunft gestand: He said that many phantasies ran in his mind, and even then chiefly he thought by what means he might so order himself that it might both satisfy your grace [Henry VIII] and not miscontent the Frenchmen, but to satisfy them also [...]147

So war es keineswegs seiner oft monierten Unberechenbarkeit oder Unzuverlässigkeit zuzuschreiben, als er sich entschloß, dem burgundischen Bündnis mit Frankreich beizutreten und den Bruch der Allianz mit England zu riskieren. Diesen Schritt konnte Heinrich VIII., sein langjähriger Bundesgenosse, nur als einen eklatanten Fall von Verrat bezeichnen. Die geschwächte Position des Kaisers nach den Niederlagen in Italien und seine völlig ruinierten Finanzen mögen dazu beigetragen haben, daß Chièvres’ Politik den Sieg über alle anderen Erwägungen davontrug und Maximilian am 14. Februar 1517 seinen Beitritt zum Vertrag von

144 Walther 1911, 174. 145 Zum Vertrag von Noyon vgl. oben 155. 146 Pirenne 1953, 87. 147 Brewer 1864, 922 Nr. 2865 (Bericht Worcesters und Tunstals an Heinrich VIII., hier über ein Gespräch Tunstals mit Margarete über den Kaiser, Mecheln 3.2.1517). Moeller 1895, 278–280 schildert auf dieser Grundlage den Ablauf der Beratungen ausführlich.

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Noyon besiegelte, zweifellos in der Hoffnung, damit seinen Beitrag zur ungehinderten Herrschaftsübernahme Karls in Spanien zu leisten. Während die spanischen Cortes auf Karls baldiges Erscheinen in Spanien drängten, stellten sich dem Aufbruch des jungen Königs in seine neuen Länder mancherlei Hindernisse entgegen: Der Geldrische Krieg flammte wieder auf, es fehlte an Mitteln, eine Flotte auszurüsten, und die Frage der Regentschaft in den Niederlanden während der Abwesenheit des Herzogs von Burgund warf beträchtliche Probleme zwischen den „Nationalisten“ einerseits und den Verfechtern dynastischer Interessen andererseits auf. Bis zu einer endgültigen Regelung sollten mehrere Jahre vergehen. In einem Brief des allerdings nicht unumstrittenen Sekretärs des Kaisers, Louis Maroton, an Margarete findet sich ein früher Hinweis darauf, wie sich Maximilian anfangs die Lösung der Regentschaftsfrage vorstellte: Madame, l’empereur est tout délibéré sans jamais changer propoz, de incontinent venir pardelà, et non se partir jusques à tant, que le roy catholique [d.h. jetzt Karl; A.S.] soit embarquiez, en prendant le gouvernement des pays-bas en ses mains pour le mettre en voz mains [...]148

Trotz aller bisher gemachten Erfahrungen vertraute der Kaiser offenbar auf seine Autorität und glaubte, an die Regelung während der Minorität Karls anknüpfen zu können. Als aber Maximilian im Januar 1517 der burgundischen Regierung seinen Plan unterbreitete, erneut die Regentschaft zu übernehmen, stieß er auf Ablehnung. Auch die Hinwendung des Kaisers zur burgundischen Frankreichpolitik bewirkte keine Änderung der Haltung der Räte in der Frage der Regentschaft. Als schließlich die Regentschaft erneut an Margarete übertragen wurde, vollzog sich dies nicht so problemlos, wie man es nach der Darstellung Tamussinos zunächst annehmen könnte,149 die auf dem zeitgenössischen Journal des voyages de Charles-Quint des Jean Vandenesse fußt. Bei Tamussino heißt es: „Da seine Räte Chièvres und Sauvage den jungen König nach Spanien begleiten sollten, traf Karl bezüglich der Statthalterschaft die einzig richtige Wahl: Er berief seine Tante Margarete erneut in das Amt, das sie schon einmal so verantwortungsvoll ausgeübt hatte.“150

Die Biographin Margaretes belegt dies mit Auszügen aus dem Journal des voyages, wo der entsprechende Passus lautet:

148 Maroton an Margarete, 12.12.1516 (Archives du Nord, zit. nach Walther 1911, 247 [Beil. 33]). 149 Vgl. oben 115 f. 150 Tamussino 1995, 202.

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En l’an mil cincq cens dix-sept,151 ne pouvant laisser ledict Roy catholique ses royaulmes à luy nouvellement advenus, feit convocquer les estatz de sesdicts pays d’embas en sa ville de Gand [...] Ayant sa confiance en madame sa tante, la laissa pour régente et gouvernante desdicts pays, et, avec semblable confiance de la fidélité en ses subjectz, print congié d’eulx et se partist [...]152

Es ist einleuchtend, daß der Chronist153 die verschiedenen Pläne zur Einsetzung von Regenten, die nicht verwirklicht wurden,154 hier übergeht. Weniger verständlich ist jedoch, weshalb er in seinem Bericht eine Situation vorwegnimmt, die so erst zwei Jahre später eintrat und die nur mit einem schwer erklärlichen völligen Richtungswechsel in Chièvres’ Politik begründet werden könnte. Als Karl sich am 7. September 1517 einschiffte, hatte er weder einen Regenten noch einen Generalstatthalter eingesetzt. Ein Rat war beauftragt worden, in gemeinsamer Verantwortung die laufenden Geschäfte zu erledigen. Diesem Gremium gehörte Margarete als Beraterin in Rechtsfragen an – ohne Titel, ohne herausgehobene Position. Mit der Einbeziehung der „Prinzessin von Geblüt“ in die Verwaltung des Landes war gleichzeitig die Frage nach der Präsenz eines Mit-

151 Nach Tamussino (ebd.) am 16. Juni 1517; L. Gachards Itinerar zufolge (Voyages II 20) hielt sich Karl vom 1.–21. Juni in Gent auf. 152 Voyages II 57. 153 Zu Vandenesse s. Gachard in Voyages II, S. VII–XI. Nach eigenem Bekunden hat der Chronist seinen Fürsten von 1514 an auf allen Reisen und Kriegszügen begleitet. In den Hoflisten taucht sein Name weder 1517 noch 1521 auf; ein Diplom Karls vom 20. April 1524 bestätigt jedoch, daß Jean Vandenesse bereits zum Gefolge des Königs auf der ersten Spanienreise gehört hatte. Die Funktion des Chronisten bei Hofe ist nicht genau definiert; er selbst bezeichnete sich als contrôleur de la maison de Charles-Quint. 154 Moeller 1895, 273–275. 281 f. 292 f. geht auf zwei weitere Möglichkeiten der Besetzung des Amtes ein, die damals ernsthaft in Erwägung gezogen wurden: Karl favorisierte zeitweilig die Regentschaft seiner 18jährigen Schwester Eleonore, da damit dem Prinzip Genüge getan werden konnte, daß das Haus in den verschiedenen Ländern des Königs stets durch ein Mitglied repräsentiert werden sollte (274. 284 f.). Der conseil wünschte Eleonore ohne offizielles Amt, ohne Titel zu lassen; sie sollte allein mit ihrer Anwesenheit in den Niederlanden als dynastisches Bindeglied zwischen dem abwesenden König und der Bevölkerung der verschiedenen Provinzen dienen. Die zurückhaltende Prinzessin, der es an der Tatkraft und Entschlossenheit Margaretes fehlte, zog es schließlich vor, ihren Bruder nach Spanien zu begleiten. – Auch hinter dem zweiten Konzept standen dynastische Erwägungen, und zwar wurden sie von Chièvres für die maison des Croy gehegt: Selbst kinderlos, verheiratete er eine Nichte mit dem Erben des Hauses Luxemburg. Der Chef dieses Hauses, Jacques II de Luxembourg, seigneur de Fiennes, verwaltete als Gouverneur der Grafschaft Flandern bereits etwa die Hälfte des Landes; setzte man ihn als Generalstatthalter ein, wäre ihm auch die andere Hälfte anvertraut worden. Chièvres’ Plan, die Statthalterschaft an das Haus Croy zu binden, zerschlug sich, als der seigneur de Fiennes bereits im Juli 1517 starb.

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gliedes der Dynastie gelöst.155 A. Henne würdigt die Berufung Margaretes in den conseil als erstes Anzeichen eines Wandels in der burgundischen Politik: „[...] l’augmentation de pouvoir qu’eut bientôt après Marguerite, si restreinte qu’elle fût encore, peut être considérée comme le premier indice du changement complet qui allait s’accomplir dans la politique.“156

Ob allerdings, wie Henne vermutet, die Rückkehr der ehemaligen Regentin in ein offizielles Regierungsorgan auf den Einfluß Maximilians zurückging, der lange Gespräche mit Karl geführt hatte, darf bezweifelt werden: Gerade während dieses gemeinsamen Aufenthalts nannte der Kaiser seinen Enkel unbeweglich wie ein Idol, womit er sich vielleicht nicht nur auf dessen steife äußere Haltung bezog. Wahrscheinlicher ist es, daß man Margarete heranzog, weil es an geeigneten Männern fehlte, die genügend politische Erfahrung hatten, um das Land zu verwalten: Alle Mitglieder des Hofes, soweit sie nicht durch Alter, Krankheit oder Familienangelegenheiten entschuldigt waren, begleiteten den König nach Spanien.157 Die widersprüchlichen Angaben der Quellen und demzufolge auch der späteren Autoren zu der Funktion, die Margarete 1517 übertragen wurde,158 erinnern an die ungenaue Definition ihres Amtes und ihrer Kompetenzen im Jahre 1507, als sie erstmals von Maximilian zur Regentin ernannt wurde. Damals wurde erst 1509 die Rechtslage mit lettres patentes geklärt. A. Walther, der sich im Rahmen seiner Forschungen zu den burgundischen Zentralbehörden eingehend mit den Berufungen Margaretes befaßt hat, macht auf den Unterschied aufmerksam, der zwischen dem „unüberlegten“ Verfahren Maximilians und dem eher planmäßigen Vorgehen Karls bzw. seiner Räte bestand: „Während Maximilian zuerst alles versprach und dann in langen Verhandlungen das meiste wieder in Frage stellte, gibt die Regierung Karls ihr nach einiger Wartezeit zunächst nur eine Hoffnung, dann werden ihr auf ihre Bitte zuerst drei einzelne Elemente leitender Autorität und erst zuletzt der Titel bewilligt.“ 155 Die Einsetzung dieses conseil wurde am 23. Juli 1517 durch eine Ordonnanz bekanntgegeben (zit. bei Moeller 1895, 293 nach dem Recueil des Ordonnances des Pays-Bas, 2, 1, Brüssel 21894). Bereits 1839 verwendete Le Glay das Dokument; in seiner Notice sur Marguerite im Anhang der Edition der Correspondance heißt es: „Quand le nouveau roi quitta les Pays-Bas pour se rendre en Espagne, il laissa le gouvernement à un conseil de régence où sa tante n’avait guère que voix consultative [...]“ (Le Glay 1839, 2, 441). 156 Henne 1865, 224. 157 Moeller 1895, 290 f. 158 Noch 1981 schrieb H. Wiesflecker (328 f.): „Erzherzog Karl, bald auch König von Spanien, erkannte rasch, was er an seiner Tante Margarete besessen hatte. Als er zur Herrschaftsübernahme nach Spanien fuhr, überließ er ihr – einem Herzenswunsch des Großvaters entsprechend – zunächst einen Teil der niederländischen Regierungsgewalt. Da sie sich auch im Wahlkampf so erfolgreich für Karl eingesetzt hatte, übertrug er ihr die volle Statthalterschaft, welche sie bis zu ihrem Tode führen sollte.“

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Dabei ist allerdings zu bedenken, daß Maximilian 1507 nicht unüberlegt, sondern in einer unvorhergesehenen Notlage zum Handeln gezwungen war, während 1516/17 genügend Zeit zur Beratung zur Verfügung stand. Walther fügt wertend hinzu: „So hat Margarete in den Jahren vom Tode Ferdinands von Aragon bis zu der Zeit, als das Ringen um die Kaiserkrone begann, eine maßgebende Rolle nicht gespielt.“159

Dem ist entgegenzuhalten, daß Margarete in diesen Jahren zwar kein Amt bekleidete, aber dennoch eine im Wortsinn außerordentliche Rolle in der Politik der Niederlande spielte, indem sie die Interessen des Landes wahrte sowie gleichermaßen die Belange Karls und der Dynastie nach Kräften förderte. Karl und seine Regierung wußten es zu schätzen, daß sie ihre Aufmerksamkeit und Anstrengungen ganz auf die schwierige erste Phase der Regierungsübernahme in Spanien konzentrieren konnten, während im Herzogtum Burgund die ehemalige Regentin sich im Rahmen der ihr zugestandenen Befugnisse kompetent und selbstlos für die Erledigung der laufenden Regierungsgeschäfte, für Recht und Ordnung einsetzte. Die Verdienste Margaretes fanden ihre Anerkennung mit der Übertragung von „drei einzelnen Elementen leitender Autorität“160 durch ein Edikt Karls, ausgefertigt in Zaragoza am 24. Juli 1518: Damit erhielt Margarete das Recht, alle Urkunden zu unterzeichnen, d.h. Rechtsgeschäfte auf staatlicher Ebene zu vollziehen; mit der Bewahrung des Finanzsiegels wurde ihr die Oberaufsicht über den Staatshaushalt anvertraut; ferner war sie befugt, über die Besetzung aller Ämter zu entscheiden.161 H. Pirenne vermutet wohl zu Recht, daß dieser Schritt auf dem Wege der Wiederannäherung unter dem Einfluß Gattinaras getan wurde.162 Der langjährige Vertraute und Berater Margaretes war nach dem Tode des Jean le Sauvage im Juni 1517 zum burgundischen Großkanzler berufen worden, zum Regierungschef Karls, und bald darauf in Spanien eingetroffen. Während in der bisherigen Regierung Chièvres als premier chambellan die führende Rolle gespielt hatte, übernahm mit Gattinara eine dominierende Persönlichkeit die Kanzlerschaft, die sich der altburgundischen feudalistischen Denkweise Chièvres’ nicht unterordnete.163 Ein Wandel in der Haltung Karls 159 Beide Zitate: Walther 1911, 174. 160 Ebd. 161 Le Glay 1839, 2, 441 (Notice sur Marguerite). Dort unter Anm. 1 ein Auszug aus der Präambel des Edikts, in der Karl die Verdienste Margaretes in der Vergangenheit und der Gegenwart hervorhebt, die ihn veranlassten, ihr durch die formelle Übertragung der genannten Rechte mehr Ansehen und Autorität zu verleihen. 162 Pirenne 1953, 89. 163 Nachdem seine Berufung bereits im Juni 1518 ernsthaft erwogen worden war, erfolgte Gattinaras Vereidigung am 15. Oktober 1518 in Zaragoza (Walther 1911, 187 Anm. 1).

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gegenüber Margarete hatte sich jedoch bereits vor der Amtsübernahme Gattinaras angedeutet: Der König hatte sich für die Belange seiner Tante eingesetzt, indem er sich in die Verhandlungen um die Rückgabe der ihr zu Unrecht vorenthaltenen Besitzungen einschaltete.164 Es dürfte für den Kaiser tief befriedigend und beruhigend gewesen sein, daß sich nach seinen vergeblichen Bemühungen um eine Überbrückung der Kluft zwischen Karl und Margarete noch in seinen letzten Lebensjahren eine erneute Annäherung seines Enkels an die ehemalige Regentin und die allmähliche Wiederherstellung des alten Vertrauensverhältnisses anbahnten. In einem der letzten von Le Glay herausgegebenen Briefe Maximilians an seine Tochter gibt der Kaiser seiner Freude darüber Ausdruck, daß Karl als guter Neffe zunehmend die Autorität Margaretes stärke und daß er hoffe, daß sie ihre Aufgaben so wahrnehmen könne, daß ihre Position noch an Bedeutung gewinne. Ohne es direkt auszusprechen, deutet Maximilian damit an, daß er eine neuerliche Übertragung der Regentschaft an Margarete erwartet: [...] nous avons receu voz lettres du XXVe d’octobre, et par icelles entendu l’honneur et auctorité que nostre bon filz le roy catholique vous a puis naguères fait et baillé, dont sommes très joyeulx et avons bon espoir que vous acquiterez tellement au bien, adresse et conduicte de ses affaires, qu’il aura cause non seullement s’en contenter, mais augmentera vostredite auctorité de plus en plus, comme vostre bon nepveur. En quoy faisant, ne nous sauroit faire chose plus agréable.165

In der Wahlkampagne, die unmittelbar nach dem Tode Maximilians um den Titel des Römischen Königs und damit um die Kaiserwürde einsetzte, verfocht Margarete, ganz die Tochter Maximilians, die Interessen Karls und der Dynastie. Dem Haus das Kaisertum zu erhalten war ihr ureigenstes Anliegen. Sie nutzte ihre weitreichenden Beziehungen und das hohe Ansehen, das sie sich im Laufe vieler Jahre erworben hatte, und wurde, indem sie die neuen Druckmedien einsetzte, zur „Image-Managerin“ ihres Neffen: So definierte Peter Burke ihre Funktion mit dem Vokabular des 20. Jahrhunderts.166 Karl war sich dessen bewußt, daß Margarete seine Belange wirkungsvoller vertrat als er es selbst vermocht hätte, und brachte seinen Dank und seine Anerkennung zum Ausdruck.167 Mit der neuerlichen Ernennung Margaretes zur Regentin der Niederlande, einem Amt, das sie 164 Karl an Maximilian, 12.3.1518 (Archives du Nord, zit. bei Walther 1911, 247 f. [Beil. 34]). 165 Le Glay 1839, 2, 372 Nr. 659 (Maximilian an Margarete, 12.12.1518). 166 Burke 2000, 439. 167 Le Glay 1839, 2, 444 f. Anm. 1 veröffentlicht einen Brief Karls an seine Tante vom 22. Februar 1519, in dem der junge König ihr für ihren Einsatz für seine Interessen, insbesondere in Deutschland, d.h. bei den Kurfürsten, mit beredten Worten dankt.

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de facto bereits ausübte, würdigte Karl ihre Verdienste offiziell und bekundete ihr sein volles Vertrauen. Die entsprechenden lettres patentes unterzeichnete er bereits am 1. Juli, noch bevor er vom Ausgang der Wahl erfuhr.168 Der hier geschilderte langwierige Prozeß der Loslösung Karls von den Bezugspersonen der Kindheit, der nicht zum endgültigen Bruch führte, sondern in ein neues Vertrauensverhältnis mündete, vollzog sich gleichzeitig mit der Einbindung des jungen Fürsten in Konzepte der politischen Neuorientierung. Während der Darstellung der ersten politischen Maßnahmen Karls bzw. seiner Regierung in der Literatur viel Raum gegeben wird, findet die Tatsache weniger Berücksichtigung, daß die Jahre zwischen der Emanzipation und der Kaiserwahl die ganz wesentliche Phase seiner Persönlichkeitsentfaltung vom rebellischen Jugendlichen zum jungen Erwachsenen umfaßten, wobei diese Entwicklung 1519 noch keineswegs abgeschlossen war. Die spanischen Chronisten gehen auf diesen schwierigen, oft schmerzhaften Prozeß nicht ein: Sie erwähnen seine Entlassung aus der Vormundschaft und die joyeuses entrées, um sich anschließend sogleich wieder den spanischen Angelegenheiten zuzuwenden. So schreibt Santa Cruz: En este tiempo aconteció en Flandes que, como el Príncipe D. Carlos fuese mayor de catorce años, el Emperador Maximiliano, su abuelo, envió á mandar á Madama Margarita, su hija, á quien él había dado cargo de la gobernación del Estado de Flandes y de los otros señoríos que eran del Rey Don Felipe hasta que el Príncipe D. Carlos fuese mayor de edad para que todo se lo entregase y le pusiese en la posesión de ello, y ella lo hizo así, y el Príncipe D. Carlos fué jurado en Bruselas por Conde de Flandes, donde se quebraron sellos y confirmaron privilegios y se hicieron todas las solemnidades que en el tal auto se suelen hacer, y como el Príncipe fué jurado procuró luego de visitar todas sus tierras y fué á Gante y á Amberes y á Brujas, en todas las cuales dichas ciudades le fueron hechos grandes recibimentos con muchas fiestas y regocijos [...]169

Noch knapper faßt Sandoval die Ereignisse zusammen, wobei es ihm gelingt deutlich zu machen, daß dem Kaiser und den Ständen die Emanzipation Karls nach den langen Jahren der Vormundschaft und Regentschaft als ein Akt der Befreiung erschien: Estando, pues, las cosas en este estado, andando ya el príncipe don Carlos en los quince años de su edad, el emperador Maximiliano se exoneró de la gobernación de los países de Flandes, cediendo y trapasándola en el nieto. Y madama Margarita, que era su curadora, 168 Tamussino 1995, 215. Im Frühjahr 1522, ehe Karl sich nach seiner Krönungsreise nach Spanien zurückbegab, betraute der Römische König und Erwählte Römische Kaiser seine Tante erneut mit der Regentschaft in den Niederlanden, die sie dann bis zu ihrem Tode im Jahr 1530 ausübte: L’Empereur rétablit l’archiduchesse Marguerite dans les fonctions de régente et gouvernante des Pays-Bas et ordonne de lui obéir comme lui-même. (ebd. 230 ohne Quellenangabe). 169 Santa Cruz 85.

Inauguration und joyeuses entrées

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se la entregó con gran demostración de gozo de todos los estados, y solemnes fiestas y triunfos que en todas las ciudades se le hicieron: tomándole la jura los príncipes y diputados de ellos, con demostración de un gozo increíble, cual nunca se hizo con príncipe de ellos.170

Die Memoiren des Kaisers sagen über diesen Lebensabschnitt so gut wie nichts aus. Seine knappen Sätze lassen nichts von den Turbulenzen der Jugendjahre ahnen. Er klammert die Phase der Unsicherheit und der schwankenden Loyalitäten aus, was zu sachlichen Unstimmigkeiten innerhalb seiner Vita führt: In der Folge dieses Ereignisses [der Belagerung von Tournai; A.S.] begab sich der Erzherzog Karl, des Kaisers Enkel, nach Tournay, welches sich damals im Besitz des Königs Heinrich befand, und nach Lille, wo derselbe seine erste Zusammenkunft mit diesem König hatte, bei welcher unter andern über dessen Volljährigkeitserklärung unterhandelt und dieselbe beschlossen wurde [!]. Dies hatte im Jahre 1515 statt, worauf er sofort in den genannten Staaten als Landesherr anerkannt wurde.171

Man darf davon ausgehen, daß Karl die Ereignisse dieses Lebensabschnitts nicht vergessen, vielleicht aber zum Teil verdrängt hatte. Vor allem jedoch sollte man den Adressaten der kaiserlichen Memoiren nicht aus den Augen verlieren: Sie waren für Karls Sohn Philipp (II.) bestimmt, dem der Vater mit seiner stark verkürzten Darstellung den geraden und konsequenten Weg zur Macht aufzeigen wollte.

2. Inauguration und joyeuses entrées: Das Land feiert seinen seigneur naturel 2.1. Der Akt der Emanzipation Karls und sein Regierungsantritt als Herzog von Burgund am 5. Januar 1515 Für den 5. Januar 1515 wurden die Generalstände nach Brüssel einberufen, wo sie im großen Ständesaal des Herzogsschlosses der Mündigsprechung des Prinzen Karl beiwohnen sollten. Das Datum war nicht, wie es aus heutiger Sicht erscheinen mag, willkürlich gewählt: In einer Epoche, in der das Jahr durch die kirchlichen Feste strukturiert war, zählte der 1. Januar als Neujahrstag wenig.172 Der 5. Januar hingegen hatte aus religiöser Sicht besondere Bedeutung, da er mit 170 Sandoval 58. 171 Kervyn van Lettenhove 1862, 4. 172 Nach Grotefend 1991, 11 hat sich das ganze Mittelalter hindurch für den 1. Januar der Name neujarstag im bürgerlichen Leben erhalten. Diese Jahresform, als civilis sive vulgaris annus bezeichnet, befand sich somit in Übereinstimmung mit dem römischen Kalender, während die Kanzleien der europäischen Herrscher, Erzbistümer und Städte z.T. noch bis

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einer Vigil das erste Hochfest des neuen Jahres, den Epiphaniastag, einleitete.173 Dieser sehr volkstümliche Feiertag, mit dem die Kirche des Westens seit dem 4. Jahrhundert an die Anbetung des Jesusknaben durch die Magier, die „Heiligen Drei Könige“, erinnert (festum regum), kann als das eigentliche kirchliche Neujahrsfest angesehen werden. Daß man sich in Burgund am Anfang des 16. Jahrhunderts noch der Tatsache bewußt gewesen wäre, daß im hellenistischen Milieu eine Verbindung des religiösen Festes mit der Feier der Epiphanie eines weltlichen Herrschers bestanden hatte, darf bezweifelt werden; in Anbetracht der sakralen Komponente des mittelalterlichen Herrscheramtes ließen sich jedoch die Worte der römischen Feiertagsliturgie Ecce advenit dominator dominus: et regnum in manu eius et potestas et imperium174 offenbar ohne religiöse Skrupel auf die Einsetzung des neuen Landesherrn übertragen. Wird bereits vor diesem Hintergrund deutlich, daß der Tag der Emanzipation des Prinzen mit Bedacht gewählt worden war, damit der „Tag der Könige“ zum ersten Tag der Herrschaft Karls über Burgund werden konnte, so war für Burgund das Datum zusätzlich mit der Erinnerung an ein historisches Ereignis von großer Tragweite verknüpft: Am 5. Januar 1477 war Karl der Kühne vor Nancy gefallen. Der Chronist Jean Vandenesse versäumt es nicht, darauf hinzuweisen, daß sich der Todestag des unvergessenen und legendenumwobenen Herzogs zum 38. Mal jährte, als der Urenkel, der denselben Namen trug, die Herrschaft antrat.175 Ohne es direkt auszusprechen, bindet Vandenesse den jungen Herzog damit in die burgundische Tradition ein, die zugleich Verpflichtung ist. Karl selbst, geprägt durch die Erzählungen der Kampfgefährten seines Vorfahren, durch die Lektüre des Chevalier délibéré176 und seine Erziehung zum burgundischen Ritter, betrachtete sich zum Zeitpunkt seines Regierungsantritts als der eigentliche Erbe seines Urgroßvaters, dem es aufgegeben war, das alte Herzogtum Burgund wiederzugewinnen, eine Idee, die zu realisieren er lange vergeblich versuchte, die ihn aber bis an sein Lebensende begleiten sollte. Zieht man dieses Verhältnis des jungen Karl zu seinem burgundischen Erbe in Betracht, so ist es durchaus anzunehmen, daß Vandenesses Hinweis auf eigene Worte des Prinzen zurückgeht, wie es sein Historiograph Remy Dupuys darstellt:

ins 18. Jahrhundert an anderen Jahresanfängen festhielten. Die kaiserliche Kanzlei stellte im Laufe des hier behandelten Zeitraums auf den style de Rome um. 173 Die Vigil und die auf das Epiphaniasfest folgende Oktav wurden erst 1956 von Rom aufgehoben. – Zu den nur dürftig belegten Ursprüngen des Festes, seiner unterschiedlichen Bedeutung im Osten und im Westen sowie zur Entwicklung und praktisch-theologischen Gestaltung bis ins 20. Jh. sehr ausführlich Mann 1982 und Schmidt-Lauber 1982. 174 Mann 1982, 767. 175 Voyages II 55. 176 Vgl. oben 34 f.

Emanzipation und Regierungsantritt

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[...] à linstance et treshumble requeste de ses vassaulx et subiectz a esté procedé solenellement à lemancipation dicelluy [= du jeune prince], [...] le cinquiesme iour de Januier quinze cens et quatorze [a.St.], trentehuyt ans après le trespas de feu monsieur le duc Charles de Bourgoigne son grant ayeul, comme il fut dict par sa propre bouche incontinent ce faict et quil fut de retour en sa chambre. A tel iour que huy [!] dict il tumba sur ces pays la douloureuse perte du tresvictorieux duc Charles, et ce mesme iour il a pleu à Dieu leur en rendre ung aultre.177

Über den Ablauf der feierlichen Handlung der Mündigsprechung liegen m.W. keine ausführlichen Berichte vor, so daß man davon ausgehen muß, daß sie unter strikter Beachtung eines Rituals vollzogen wurde, das den Anwesenden bekannt war. Auch der Zeitzeuge Jean Vandenesse beschränkt sich darauf, die Persönlichkeiten aufzuführen, die außer den Deputierten der Generalstände an der Zeremonie teilnahmen:178 An erster Stelle wird Erzherzogin Margarete genannt, gefolgt von Pfalzgraf Friedrich und Felix Graf Werdenberg, die der Kaiser als seine Stellvertreter entsandt und mit allen Vollmachten ausgestattet hatte. Sie überbrachten die formelle Einverständniserklärung Maximilians I. zur Entlassung seines Enkels aus der Vormundschaft. Vandenesse zufolge war der Adel, die princes du sang, vollzählig versammelt, als die Herrschaft des Landes dem noch nicht Fünfzehnjährigen anvertraut wurde. Die Niederländer, befreit von den drückenden Lasten, die ihnen die Regentin auferlegt hatte, und von der Einbindung in die Unberechenbarkeiten der maximilianischen Politik, begingen den Herrschaftsantritt ihres seigneur naturel mit Freudenfesten179 und begannen, die festlichen Empfänge vorzubereiten, mit denen sie Karl auf seiner Inaugurationsreise willkommen heißen wollten. Die Vorfreude auf diese joyeuses entrées des jungen Herrschers verband sich für die Bevölkerung mit hohen Erwartungen an die neue Regierung: Man hoffte, daß der Herzog sich mit aller Energie der Verbesserung der Zustände in seinem Land widmen werde; dies bedeutete in erster Linie, die Ordnung der Finanzen, der Verwaltung und des Heeres wiederherzustellen. Alle Kräfte und Ressourcen sollten genutzt werden, um den Wohlstand des Landes zu fördern. Frieden mit Frankreich und der Verzicht auf außenpolitisches Engagement wurden als unerläßliche Voraussetzungen für eine Gesundung des burgundischen Staates angesehen.180 Von Karl erwartete man nicht weniger, als daß er die Probleme, die sich während der langen Vormundschaft aufgestaut hatten, in absehbarer Zeit löste und sein Land zu Frieden, Ordnung und Wohlstand zurückführte. 177 Dupuys 4 f. 178 Voyages II 55. 179 Wiesflecker 1981, 371. 180 Henne 1865, 183.

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Wenige Tage nach seiner Emanzipation informierte der Herzog die oberste Justizbehörde, den grand conseil in Mecheln, in einem formellen Schreiben von seinem Regierungsantritt181 und verfügte, daß künftig alle Urkunden und Rechtsentscheidungen in seinem Namen ausgefertigt werden sollten – d.h.: unter Aufführung aller Titel, die ihm nunmehr zugefallen waren. Sie werden hier aufgeführt, weniger, um den Blick auf die Vielzahl seiner Besitzungen zu lenken, sondern auf den unterschiedlichen Status, den Karl in seinen burgundischen Herrschaftsgebieten besaß: Charles, par la grace de Dieu, prince d’Espaigne, des deux Cecilles, de Hierusalem, etc., archiduc d’Austrice, duc de Bourgoingne, de Lothier, de Brabant, de Stiere, de Carinte, de Carniole, de Limbourg, de Luxembourg et de Gheldres, comte de Flandres, de Habsbourg, de Tirol, d’Artois, de Bourgoingne, palatin et de Haynault, lantgrave d’Elsate, prince de Swave, marquis de Burgauw et du St. Empire, de Hollande, de Zeelande, de Ferrette, de Kybourg, de Namur et de Zuitphen conte, seigneur de Frise, des marches d’Esclavonie, de Portenauw, de Salins et de Malines.182

Als Herzog von Burgund erkannten ihn die 17 Provinzen der Niederlande an, als das einzige Bindeglied zwischen den Bestandteilen eines Herrschaftsgebietes, das nicht einmal über einen einheitlichen Namen und eine gemeinsame Sprache verfügte.183 Die einzelnen Provinzen und Städte wachten jedoch eifersüchtig darüber, daß der Herrscher ihre Rechte achtete und ihre Privilegien gewahrt blieben. Dem Herzog von Brabant oder von Luxemburg standen seinerseits andere Befugnisse zu als dem Grafen von Flandern, dem Marquis von Holland oder Seeland oder dem Seigneur von Friesland oder Mecheln. Aus dieser uneinheitlichen, schwierigen Struktur des Herzogtums Burgund ergab sich die Notwendigkeit der ausgedehnten Inaugurationsreisen, die Karl zunächst von Mitte Januar bis Ende Juli 1515 und dann im Mai/Juni 1516 durch die Grafschaft Flandern führten. Jeder Landesteil mußte besucht werden; an mindestens einem der Hauptorte legte der Fürst den Eid ab, wie er seinem dortigen Status entsprach, und nahm die Huldigungen entgegen. H. Pirenne hat die diffizile Situation innerhalb des Herzogtums Burgund, wie sie sich nicht nur dem unerfahrenen Herzog, sondern auch später dem Kaiser präsentierte, komprimiert dargestellt:

181 Gachard 1833, 283 f. (9.1.1514 a.St. = 9.1.1515). Ebd. 285 f. eine frühe Verfügung Karls, auf die bereits (oben 181 f.) eingegangen wurde: Am 5. August 1515 gab Karl den Klagen der Bewohner Hollands und Frieslands statt und ordnete an, daß das thiois neben dem Französischen als Gerichtssprache zuzulassen sei. Auch dieses Schreiben ist an das Appellationsgericht in Mecheln adressiert. Beide Briefe befinden sich in den Archives du Royaume in Brüssel. 182 Gachard 1833, 284. 183 Vgl. oben 37 Anm. 64.

Die Inaugurationsreisen

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„Sans doute les dix-sept provinces reconnaissent le même prince, mais c’est à des titres divers et dans des conditions très différentes que ce prince règne sur chacune d’elles. Si grand qu’il soit et quelque fierté que sa grandeur inspire à ses sujets, l’empereur se rapetisse pourtant à la taille d’un duc de Brabant dans ses rapports avec les Brabançons; il n’est que comte de Flandre pour les Flamands, comte de Hainaut pour les Hennuyers, etc., si bien que ses pouvoirs si modifient à la frontière de chacun des territoires qu’il possède. Comme sous les ducs de Bourgogne, les institutions monarchiques n’ont point absorbé les autonomies provinciales. Elles s’y superposent sans les supprimer, et, dans la constitution de l’État, les franchises du moyen âge se conservent sous les innovations modernes, de même que le style gothique s’accole au style de la Renaissance dans un si grand nombre de monuments.“184

2.2. Die Inaugurationsreisen In seinem Aufsatz „Les Joyeuses Entrées et la peinture flamande“ verweist Leo van Puyvelde auf die lange und reiche Tradition der festlichen Einzüge der Grafen von Flandern in ihre Städte, wobei Gent und Brügge stets Zentren des Geschehens waren.185 Die flandrischen Chroniken dokumentieren schon seit 1301 in aller Ausführlichkeit die Empfänge, die dem jeweiligen Landesherrn bereitet wurden. Die „lebenden Bilder“ und die Theaterstücke, die auf eigens errichteten Podesten dargeboten wurden, die Ausschmückung der Straßen, durch die der Weg des Grafen führte, die Triumphbögen, die ebenso schnell entfernt wurden, wie sie aufgebaut worden waren, erregten zu ihrer Zeit bereits Bewunderung, wurden aber in den Schatten gestellt durch den Glanz, der von den entrées Philipps des Guten ausstrahlte, nachdem Flandern bereits 1384/85 an Burgund gefallen war. Mit burgundischem Prunk zog der Herzog 1440 in Brügge ein, wo man ihm zu Ehren Episoden aus der Geschichte der Stadt und Szenen aus dem Alten Testament darstellte. Die Stadt Gent versuchte die Rivalin Brügge zu übertreffen. Der ganze Stolz ihrer Bürger galt damals einem Kunstwerk, das einer der Ihren für eine Kapelle in St. Bavo gestiftet hatte: 1432 hatte Jan van Eyck die Gemälde des großen Flügelaltars vollendet, der, nach dem ungewöhnlichen Sujet seines Mittelbildes als die „Anbetung des Mystischen Lammes“ bezeichnet, bald über die Stadtgrenzen hinaus berühmt wurde.186 1458 wurde zur joyeuse entrée Philipps des Guten ein gewaltiges Podium auf der place du Marais errichtet, auf dem als 184 Pirenne 1953, 184. Daß die Rechtslage unverändert kompliziert geblieben war, bezeugen die Berichte über die Inaugurationsreise Philipps (II.) von 1549, die Karls Sohn und Erbe als neuer Herzog von Brabant in Begleitung seines Vaters unternahm. 185 Puyvelde 1960, hier 288. 186 Als Schöpfer des Genter Altars gelten gemeinhin die Brüder Hubert und Jan van Eyck. Trotz einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Farbschichten freigelegten Inschrift, die beide Künstler nennt, neigen Kunsthistoriker heute dazu, den überwiegenden Anteil an

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lebende Bilder die vielfigurigen Szenen der einzelnen Altartafeln nachgestellt wurden: eine Inszenierung, die ihresgleichen suchte. Für die Planung und Ausführung derartiger tableaux vivants und kleiner szenischer Darbietungen auf öffentlichen Plätzen waren die „Rhetorikerkammern“, im Niederländischen rederijkers genannt, zuständig.187 Diese Bruderschaften, deren Mitglieder vorwiegend aus dem Kleinbürgertum und der Handwerkerschaft stammten, stellten eine Erscheinung des literarischen Lebens dar, die nur aus den Niederlanden und einigen Randgebieten des nördlichen Frankreichs bekannt ist. Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts hatten sich in nahezu jedem Dorf Männer zusammengefunden, die sich als rhétoriciens unter der Anleitung eines facteur der Pflege von Poesie und Drama widmeten. In den Städten existierten meistens sogar mehrere literarische Gesellschaften dieser Art; so wetteiferten z.B. in Gent um 1500, zur Blütezeit der Rederijkers, fünf Rhetorikerkammern miteinander. Bei den regelmäßigen Zusammenkünften in ihrem Vereinslokal (chambre) wurden jedoch nicht nur literarische Werke gemeinsam gelesen: Hauptanliegen der rhétoriciens war es, selbst auf dem Gebiet der Dichtkunst schöpferisch tätig zu sein. In diesen Zirkeln verfaßte man Gedichte und Chansons und studierte Dramen geistlichen und erbaulichen Inhalts aus der Feder des facteur ein.188 Von der Mitte des 15. Jahrhunderts an begannen Stoffe aus der Mythologie und der Geschichte der Antike die religiösen Themen in den Hintergrund zu drängen. Da es keine festen Theater gab, erfreuten sich die Aufführungen auf den Bretterbühnen der Marktplätze großer Beliebtheit. An Anlässen für diese dramatischen Darbietungen fehlte es nicht: Hochzeiten, Geburten oder Kindtaufen im Fürstenhaus, joyeuses entrées oder ein landjuweel, ein Wettstreit unter den Rederijkers der verschiedenen Städte.189 Da die rhétoriciens besser als die meisten Bürger mit literarischen Vorbildern und allegorischen Darstellungen vertraut waren, fiel ihnen auch die Aufgabe zu, die Konzepte für die kurzlebigen Bauten und Schaubilder zu entwerfen, die die Städte zum Einzug ihrer Fürsten errichteten. Am 13. Januar 1515 brach Karl zur ersten Etappe seiner Huldigungsreise auf. Ein zusammenhängender Bericht über den gesamten Verlauf der monatelangen der Gesamtkonzeption und der Ausführung Jan van Eyck zuzuschreiben. Zur Geschichte und Deutung des Werkes recht ausführlich Domke 1964, 236–247. 187 Zur Entwicklung der Rederijkers und zum Höhepunkt ihres Wirkens in der Zeit Karls V. vgl. Elslander 1960. 188 Diese Werke, meistens für einen festlichen Tag geschrieben, blieben ephemere Erscheinungen wie die zu den entrées errichteten Kunstbauten. Die Erinnerung an die Darbietungen hat sich jedoch in den Chroniken der Städte erhalten. 189 Die Bedeutung, die dem landjuweel beigemessen wurde, läßt sich daran ablesen, daß Karl seine Reiseroute 1515 so abstimmte, daß er am 21. und 22. Juli dem Wettstreit beiwohnen konnte, der in jenem Jahr in Mecheln ausgetragen wurde.

Die Inaugurationsreisen

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Fahrten durch die verschiedenen Provinzen existiert m.W. nicht. Einen Überblick über die Reiseroute vermittelt das von L. Gachard erstellte Itinerar des Herzogs.190 Danach besuchte Karl zunächst die nördlich von Brüssel gelegenen Landesteile (bis Ende Juli 1515); im November des gleichen Jahres suchte er noch einige südlich gelegene Orte auf; erst im Mai/Juni 1516 setzte er seine Huldigungsreise durch den Süden seines Herrschaftsbereiches fort.191 Es sind die lokalen Quellen unterschiedlicher Art, wie z.B. Rechnungsbücher, Chroniken und Festschriften, die den nüchternen Daten des Itinerars Leben verleihen. Ihrem jeweiligen Zweck und Charakter entsprechend, erhellen diese Zeugnisse verschiedene Aspekte der joyeuses entrées und ergänzen einander somit. Für die Auswertung des verfügbaren Materials erwies sich dies als Vorteil, da sich aus diversen Perspektiven ein Gesamtbild entwickelt, das sich nicht auf den berühmten Einzug Karls in Brügge beschränkt. Alle Quellen belegen eindeutig, daß Karl auf seinen Inaugurationsreisen von einem großen Gefolge begleitet wurde. Sofern die Biographen Karls den joyeuses entrées einige Zeilen widmen, erwähnen sie nur, daß die ehemalige Regentin es sich trotz aller erfahrenen Kränkungen nicht nehmen ließ, ihren Neffen in seinen Herrschaftsbereich einzuführen. Ch. Moeller fügt dem hinzu, daß Eleonore im Juni 1516 an dem letzten Abschnitt der Reise durch die wallonischen Provinzen teilnahm, nachdem Isabella nach Dänemark aufgebrochen war.192 Daß der junge Herzog mit Mitgliedern seiner Regierung, vor allem mit seinem Kanzler Le Sauvage und seinem premier chambellan Chièvres,193 mit conseil und maison, einschließlich der Bogenschützen, in seine Städte einzog, dürften die genannten Historiker als selbstverständlich betrachtet haben. Die Anwesenheit der wichtigsten Berater diente nicht nur repräsentativen Zwecken: Sie hatten – was über die Schilderung der Festlichkeiten oft vergessen wird – die politischen Fragen zu lösen, die sich durch den Regierungsantritt Karls ergaben. Dabei ging es vor allem um die Bestätigung von Privilegien der einzelnen Städte und um die Festsetzung der Subsidien, die in jedem Fall gesondert ausgehandelt werden mußten. Diesen Aufgaben waren nur erfahrene Politiker gewachsen, nicht aber Karl, der nun zwar mündig war, sich jedoch im frühen 190 Voyages II 14–18. Gachard hat das Itinerar durch nützliche Fußnoten ergänzt, in denen er auf besondere Ereignisse an den einzelnen Stationen der Huldigungsfahrt hinweist; insbesondere nennt er für viele Orte das Datum der Eidesleistung. 191 Etliche der Städte im südlichen Landesteil, in die Karl als Graf von Flandern und Herzog von Burgund Einzug hielt, liegen heute auf französischem Territorium, so z.B. Lille, Douai und Arras. 192 Moeller 1895, 187. 193 Obwohl das Itinerar, das G. Dansaert seiner Biographie des premier chambellan beigegeben hat, lückenhaft ist, liefert es doch den Nachweis, daß Chièvres den Herzog auf der gesamten Reise begleitete (Dansaert 1942, 297–302, hier 300).

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Stadium seiner „minorité politique“194 befand. Nach dem, was über Chièvres’ Methoden der politischen Erziehung Karls bekannt ist, wird der Herzog an den Verhandlungen teilgenommen haben, die in seinem Namen geführt wurden; die erzielten Abkommen hatte er zu unterzeichnen. Dieser Aspekt der Antrittsreise wird in den Chroniken allenfalls angedeutet. Nach der Klärung der generellen Begleitumstände der Huldigungsfahrt soll nun untersucht werden, was die lokalen Quellen über die festlichen Einzüge in einige der zahlreichen von Karl besuchten Städte aussagen.

Der traditionelle Auftakt: Löwen Der Beginn der Reise stand im Zeichen der Tradition: Am 23. Januar traf Karl in Terbanc (Le Banc) ein, einem Kloster in der Nähe von Löwen, um an diesem Ort seinen ersten Herrschereid zu leisten, wie es für die Herzöge von Brabant seit altersher der Brauch war.195 Noch am selben Tag kehrte der Herzog mit seinem Gefolge nach Löwen zurück, wo man Quartier genommen hatte, um dort seinen Einzug zu feiern. Eine Schilderung seiner joyeuse entrée aus der Feder eines Löwener Chronisten stand mir nicht zur Verfügung. Darin ist allerdings kein Mangel zu sehen, da das große Schauspiel, das sich in seinen Grundzügen in allen Städten wiederholte, durch die Berichte über die Einzüge in Gent und Brügge in aller Ausführlichkeit bezeugt ist, die im folgenden der Darstellung zugrundeliegen, und da die Vielzahl der entrées ohnehin ein exemplarisches Vorgehen erfordert. Mit einem Auszug aus den Rechnungsbüchern der Stadt kann hier jedoch ein Dokument ausgewertet werden, das – wiederum beispielhaft für vergleichbare Belege aus anderen Orten – das große Ereignis aus einer anderen Perspektive zeigt, indem es gleichsam einen Blick hinter die kunstvoll errichteten Kulissen gestattet. Ter Blyder Incompst van hertoge Karle, coninck van Castillen [!],196 als hy d’lant Loevene ontfinck, des disendachs XXIII januarij a o XV C XIIII, stilo Brabantie ist dieser Auszug aus dem Rechnungsbuch der Stadt Löwen überschrieben.197 Der Stadtkämmerer hat darin peinlich genau, bis zum letzten Deut,198 alle Ausgaben der Stadtkasse

194 Gossart 1910, 163 f. 195 Voyages II 14 Anm. 1. 196 Falls die Überschrift nicht nachträglich hinzugefügt wurde, hat man in Löwen den Ereignissen vorgegriffen: Der spanische Erbfall trat erst auf den Tag genau ein Jahr später ein, die Übernahme des Königstitels erfolgte erst am 14. März 1516. „Prinz von Kastilien“ wäre 1515 die korrekte Titulatur gewesen. 197 Louvain, AM, Compte de la Ville 20.7.1514–20.7.1515, zit. nach der Edition in Voyages II 519–523 (appendice III). 198 Niederld. duit, damals die kleinste Münze, etwa dem Heller gleichzusetzen.

Löwen

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notiert, die für die Vorbereitung der incompst, während ihres Verlaufs und als Folgekosten anfielen.199 Die wesentlichsten Posten seien hier aufgeführt: Am 2. Januar 1515 wurde von der Stadt eine fünfköpfige Delegation unter der Leitung des Bürgermeisters nach Brüssel entsandt, wo sie sich sechs Tage aufhielt und der Versammlung der Generalstände beiwohnte, in der ihnen die Einwilligung des Kaisers zur Emanzipation Karls mitgeteilt und eine Übereinkunft über dessen Huldigungsreise erzielt wurde. Der Rentmeister wurde sodann nach Antwerpen geschickt, um dort drei silberne, vergoldete Krüge zu erwerben, die dem Herzog zum Geschenk gemacht werden sollten. Nach vier Tagen kehrte er unverrichteter Dinge zurück. Drei silberne Krüge konnten schließlich in Löwen selbst gekauft werden: Zwei davon stammtem aus dem Nachlaß einer Witwe, einer aus dem Besitz eines Bürgers. 7½ Unzen englischen Blattgolds wurden in Teilmengen bei mehreren Bürgern beschafft und ein Goldschmied damit beauftragt, die Krüge zu vergolden und auf den Deckeln das Löwener Wappen einzugravieren. Um letzte Einzelheiten mit Chièvres zu klären, begab sich am 13. Januar eine Abordnung nach Brüssel. Drei reitende Boten wurden ebenfalls nach Brüssel geschickt, um den genauen Ankunftstermin des Herzogs nach Löwen zu melden. Einer dieser Boten sollte den Augenblick abwarten, in dem der Herzog aufsaß und der Zug sich in Bewegung setzte. Ein weiterer Bote zu Pferde wurde mit versiegelten Briefen nach Thienen und Leeuwe beordert, um die dortigen Deputierten zur Teilnahme an der Versammlung der Stände in Löwen aufzufordern. Auf Anordnung des Bürgermeisters stellte der Stadtschreiber für die vier Hauptorte Brabants die wichtigsten Punkte zusammen, die bei der entrée des Herzogs zu beachten waren. Zur Ausschmückung der Wegstrecke, die Karl in der Stadt zurücklegen würde, beschaffte der örtliche Schneidermeister diverse Stücke schwarzen Löwener Tuches, die zum Teil in Seidenstickerei mit dem Löwener Wappen verziert wurden, zum Teil auch als Dekoration des abgegrenzten Platzes vorgesehen waren, auf dem Karl seinen Eid leisten sollte. Ein Tapissier stellte gegen eine Leihgebühr den Wandteppich zur Verfügung, der den Saal schmückte, in dem sich die Deputierten Brabants versammelten, die für diesen einen Tag nach Löwen kamen. Der Zimmermeister wurde für die Arbeiten entlohnt, mit denen er die Quartiere der hohen Gäste hergerichtet und öffentliche Gebäude für den Empfang vorbereitet

199 Dabei sind nicht nur die Beträge aufgeführt, sondern etliche der Leistungen ausführlich erläutert. Auf die Nennung der einzelnen Summen wird hier verzichtet, da sie nur sinnvoll wäre, wenn eine Auswertung unter finanziellen Gesichtspunkten erfolgte. Es geht im Rahmen meiner Untersuchung jedoch darum, die vielfältigen Aktivitäten und die organisatorische Kleinarbeit sichtbar zu machen, die der Antrittsbesuch des Herzogs von den Bürgern verlangte: Heute würde man dies als „logistische“ Vorbereitungen bezeichnen.

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hatte. In dem Hof, den Karl bewohnen sollte, ließ der Meister einen Schrein mit den Figuren der zwölf Apostel aufstellen. Eine besondere Herausforderung für die Stadt stellte die Verköstigung der Deputierten und vor allem die des großen herzoglichen Gefolges dar. Dem Concièrge des Stadthauses wurden die Unkosten erstattet, die ihm für die Verpflegung der Abgeordneten entstanden waren. Die Mitglieder der herzoglichen maison empfingen Geld für ihre Weinrationen aus der Stadtkasse. Zum Wein gab es reichlich Hammelbraten; da kein Bauer die erforderliche Zahl von Schlachttieren liefern konnte, mußten sie von zehn verschiedenen Besitzern angekauft werden. An Karl, den genedigen heere, und an vrouwe Margrieten waren bereits am 20. Januar zwei Fuhren Wein gesandt worden. Hochgestellte Persönlichkeiten, unter ihnen der Greffier des Vliesordens, der Präsident von Burgund und der Herr von Ijsselstein, empfingen ebenfalls Weinpräsente. Ebenso wurden die Städte Brüssel und Antwerpen sowie die Sänger der herzoglichen Kapelle bedacht. Wo Karl, Margarete und der hohe Adel speisten, geht aus der Aufstellung nicht hervor, mithin können der Stadt keine Kosten für ein aufwendiges Festmahl entstanden sein. Möglicherweise lud der Herzog seine engste Umgebung und die Honoratioren der Stadt zum Diner. Wie sich die joyeuse entrée gestaltete, wie die Eidesleistung erfolgte und die Huldigung vollzogen wurde, läßt sich aus dem Rechnungsbuch nicht ablesen. Immerhin erfährt man, daß Karl unter Glockenklang in die Stadt einzog, da der Küster von St. Peter dafür bezahlt wurde, daß er die große Glocke geläutet hatte. Zum Festprogramm muß die herzogliche Kapelle einen bemerkenswerten Beitrag geleistet haben, sonst wäre sie wohl kaum mit einer Weinspende belohnt worden. Einen Hinweis darauf, daß auf dem Marktplatz eine kleine Aufführung stattgefunden hat, liefert der letzte Eintrag im Rechnungsbuch, der bescheinigt, daß ein rhétoricien aus Béthune und sein Begleiter von der Stadt entlohnt wurden. An Folgekosten schlug die Fahrt des Bürgermeisters mit zwei Begleitern nach Brüssel zu Buche, die im Auftrag der Stadt unternommen wurde. Auf Wunsch des Herzogs hielt sich die Abordnung drei Tage in der Residenzstadt auf, um mit Herrn von Chièvres die Beschlüsse zu besprechen, die während der Tage von Löwen von den Deputierten gefaßt worden waren. So findet sich unerwarteterweise im Rechnungsbuch der Stadt eine Andeutung, daß während der joyeuses entrées auch politische Entscheidungen gefällt wurden. Für den Historiker hat das Studium dieser Finanzunterlagen einen äußerst bereichernden Nebeneffekt, da er nicht nur Einblick erhält in die Aufwendungen und Aktivitäten, die das große Ereignis erforderte, sondern ebenso in das Gemeinwesen einer flandrischen Stadt. Im Falle Löwens präsentierten sich die Handwerksmeister als die tragenden Kräfte des städtischen Lebens, anderenorts fiel der Kaufmannschaft diese Rolle zu. Diese tatkräftigen, umsichtigen Män-

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ner nahmen neben ihrer Berufsarbeit öffentliche Ämter wahr.200 Auf ihrer Arbeit beruhte trotz der vorhergegangenen schweren Zeiten noch immer ein gewisser Wohlstand der Stadt, der es erlaubte, den Empfang des jungen Herzogs festlich und würdig zu gestalten, wenn auch übertriebener Prunk offensichtlich vermieden wurde. Man wollte als Stadt Ehre einlegen, nicht nur in den Augen des Herrschers und seines Gefolges, sondern auch vor den Deputierten anderer Orte und den Besuchern, die von auswärts herbeiströmten. Dafür stellte man seine Fähigkeiten in den Dienst des Gemeinwesens und nutzte die heimischen Ressourcen. Auf diese Weise wurde gleichzeitig dafür gesorgt, daß das gute Löwener Geld in der Stadt blieb. Auf ihre gemeinschaftliche Leistung durfte die Bürgerschaft stolz sein. Mit dem Beweis, daß die Stadt aus eigener Kraft große Aufgaben bewältigen konnte, wuchsen jedoch das ohnehin vorhandene Selbstbewußtsein und das Streben nach möglichst großer Eigenständigkeit, d.h. die Bereitschaft zur Verteidigung althergebrachter Rechte. Trotz aller Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Herzog erleichterte dieser Umstand nicht eben das Regieren eines Landes, in dem es zahlreiche Städte wie Löwen gab. Wie Maximilian und Margarete vor ihm sollte auch Karl diese Erfahrung in späteren Jahren machen. Nach seinem Antrittsbesuch in Löwen kehrte Karl zunächst nach Brüssel zurück. Obwohl er dort seit Monaten residierte, wurde sein Regierungsantritt am 28. Januar mit einer entrée offiziell gefeiert und am folgenden Tag durch den Herrschereid bestätigt.201 Über Mecheln, wo Karl sich vom 4.–6. Februar aufhielt und wo er am Ankunftstag den Eid ablegte, setzte er die Reise fort nach Antwerpen.202

Antwerpen In der Chronik von Flandern gibt es einen kurzen Eintrag zum Antrittsbesuch des neuen Herzogs in der größten Stadt seines Herrschaftsbereichs, die sich in eben jenen Jahren zum reichsten Handelszentrum Europas entwickelte:

200 G(h)elden de Nausnyder war beispielsweise auch Rentmeister der Stadt; Meister Jan Stevens gehörte zu den Deputierten und nahm als Pensionaris und damit zweitwichtigster Mann nach dem Bürgermeister an den politischen Gesprächen in Brüssel teil. 201 In diesem Punkt unterschied sich die prinzelijke stad nicht von anderen: Eid und Huldigungsadresse galten für die Stadt Brüssel; keinesfalls ging von ihnen irgendeine Wirkung auf das gesamte Herzogtum aus. 202 Berichte über den Einzug Karls in die Stadt seiner Kinder- und Jugendjahre sind mir nicht bekannt geworden. – Wichtige Zwischenstationen der Huldigungsfahrt, zu denen keine Quellen ausgewertet werden, sind im folgenden nur aufgeführt, um die Route in großen Zügen zu markieren.

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[In het jaar 1515] des Saterdaechs naer lichtmisse (3 Februari), doen quam die hertoghe Karel Tantwerpen in,203 ende wert daer seer costelic ontfanghen boven alle ander steden van Brabant. Des anderdaechs des sondaechs doen quam hi ter kercken met schoonen state, ende hy wert ghehult, ende ontfinc voort alle het landt.204

Bei dieser Passage aus der Chronik, in der der Stolz der Stadt anklingt, den köstlichsten – d.h. hier: den kostspieligsten – Empfang ausgerichtet und alle anderen Städte Brabants übertroffen zu haben, könnte man es belassen, wenn nicht ein Druck existierte, der im August 1515 in Antwerpen im Zusammenhang mit dem Einzug Karls erschien und der durchaus bemerkenswert ist. Es handelt sich um ein höchst eigenartiges Werk, von dem nur drei von einander abweichende Exemplare bekannt sind: W. Nijhoff nennt es im Vorwort der von ihm veranlaßten Faksimile-Ausgabe „dit fraaie [= schöne] en in menig opzicht merkwaardige boek“.205 „Schön“ nennt Nijhoff das Werk sicherlich wegen der je zwei ganzseitigen Holzschnitte am Anfang und Ende des Drucks, ferner wegen etlicher Vignetten auf den Textseiten sowie der kunstvollen Initialen, „merkwürdig“ wegen des Inhalts. Es handelt sich um ein Sammelwerk lateinischer Texte,206 das zunächst ohne Titel erschien. Zusammengestellt sind längere Prosaabschnitte, teils durch 203 Im Vergleich mit dem von Gachard erstellten Itinerar (Voyages II 14) liegt hier eine Unstimmigkeit der Datierungen vor, die ich nicht klären konnte. Die Chronik setzt die entrée für den 3. Februar, die Eidesleistungen für den 4. Februar an. Die Angabe der Wochentage ist korrekt, wie ein Vergleich mit der Jahresübersicht für 1515 bei Grotefend ergab. Nach dem Itinerar befand sich Karl aber am 4. Februar noch in Mecheln, seinen Aufenthalt in Antwerpen setzt Gachard für die Zeit vom 9.–22. Februar an. Ebd. Anm. 14 gibt er den 11. Februar als Tag der entrée an. Auch Chièvres ist für den 11. Februar in Antwerpen nachgewiesen. 204 Zitiert aus der Excellente Cronike van Vlanderen (Antwerpen 1531) von W. Nijhoff in seiner Einleitung der Lofzangen (unpag.). 205 Nijhoff fand den Druck bemerkenswert genug, um ihn in seine Bibliographie der Niederlande aufzunehmen: Nijhoff/Kronenberg 1923, 536–539 Nr. 1505. Zum Zeitpunkt der Aufnahme waren nur ein Londoner und ein Hamburger Exemplar bekannt; beide bestehen aus 20 teils doppelseitig bedruckten Blättern. 1924, noch vor dem Erscheinen der Faksimile-Ausgabe, wurde ein drittes Exemplar in Löwen gefunden; inzwischen ist ein weiteres in Sevilla bekannt. Von dem Drucker, Jan de Gheet aus Antwerpen, ist nur dieses eine Werk überliefert. Vgl. dazu aus musikwissenschaftlicher Sicht jetzt Wouters/Schreurs 1995; der Versuch der Autoren, anhand von Antwerpener Archivalien die Einbindung der vier enthaltenen Musikstücke in die entrée zu erschließen, führt auf ein ähnliches Grundmuster wie bei den hier behandelten Einzügen in die anderen Städte. 206 Das Hamburger wie das Londoner Exemplar enthalten am Anfang und am Ende einen mit Erläuterungen versehenen Überblick über den Inhalt in niederländischer Sprache, vermutlich, um das Werk auch Lesern nahezubringen, die des Lateinischen nicht mächtig waren. (fol. 1v und 20r). Dem Faksimile (= Lofzangen) sind auch die beiden entsprechenden lateinischen Texte aus dem Löwener Exemplar beigegeben.

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eingeschobene kurze Verse gegliedert, Lob- und Preisgedichte und -lieder, zwei Humanistenbriefe und Dankgebete. Inhaltlich verbindet diese unterschiedlichen Texte die eine Intention ihres oder ihrer Verfasser: Maximilian zu loben und zu ehren. Der Titel, unter dem W. Nijhoff das Faksimile herausgab, ist daher gut gewählt: Lofzangen ter eere van Keizer Maximiliaan en zijn Kleinzoon Karel den Vijfde.207 Wirklich zutreffend wäre allerdings noch eher Lofzangen ter eere van Keizer Maximiliaan: Karl kommt eine eher untergeordnete Rolle zu, wenn auch das Werk anläßlich seines Einzugs in Antwerpen erschien. Das Bemerkenswerte an den Lofzangen ist die Tatsache, daß sie zu einem Zeitpunkt verfaßt wurden, als die Bevölkerung Flanderns dem neuen Herzog zujubelte, der, so hoffte man, nun endlich von der Vormundschaft Maximilians und Margaretes befreit, sein Land zu Frieden und Wohlstand zurückführen werde, zu einem Zeitpunkt, als das Ansehen des Kaisers in den Niederlanden auf einen Tiefpunkt gesunken war. Dennoch wird er hier temporalis Monarchie totius mundi divina favente clementia gloriosissimus ac Invictissimus Maximilianus genannt.208 Was aber können der oder die Verfasser zu seinem Lob und zur Rettung seiner Ehre anführen? Gerade die ersten beiden Texte, unterstützt durch eindrucksvolle und symbolträchtige Holzschnitte, machen deutlich, daß die Verdienste des Kaisers vor allem in seinem unablässigen Bemühen um inneren Frieden im Reich, um Einigkeit unter den Fürsten und die Förderung des Gemeinwohls gesehen werden. Damit sind drei Punkte angesprochen, die auch der Bevölkerung besonders am Herzen lagen und die die fundamentalen Voraussetzungen für die Durchsetzung aller weiteren Schritte der Reichsreform waren, um die Maximilian von seiner Regierungsübernahme bis zu seinem Tode bemüht war. Dieses zentrale Anliegen des Kaisers hat H. Wiesflecker in einem Aufsatz prägnant herausgearbeitet und gleichzeitig Maximilian als einen Herrscher an einer Epochenschwelle gekennzeichnet, der einen Plan für die Zukunft entwarf, ihn aber mit dem Rückgriff auf mittelalterliche Tugenden und Überzeugungen zu verwirklichen hoffte, worin bereits der Keim des weitgehenden Scheiterns lag: „Nur eine tiefgreifende Erneuerung konnte dem Reich jene Kraft zurückgeben, deren es bedurfte, wenn es sich im überstürzenden Gleichgewichtsspiel der Mächte behaupten wollte. In diesem Sinne vertrat Maximilian von Anfang an auf das entschiedenste eine durchgreifende Reichsreform. So wie alle Nachbarstaaten einer kraftvollen Einheit zustrebten, sollte auch das Reich durch Stärkung der königlichen 207 Der Zusatz zum Titel sagt etwas über die Ausstattung des Druckes aus: Met houdsneden en muziek van G. en B. de Opitiis. G[eorgius] und B[enedictus] de Opitiis (Opicijs), Söhne des seinerzeit bekannten Musikers Petrus de Opitiis, gelten als die Schöpfer der neuen Melodien und vielleicht auch der Texte dazu. Benedictus ist von 1514–1516 als Organist in Antwerpen nachgewiesen. Vgl. Nijhoffs Vorwort (Lofzangen o.S.). 208 Lofzangen fol. 21.

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Zentralgewalt, durch Sicherung von Recht, Frieden und Ordnung zu neuen Kräften gelangen. Für Maximilian war das Heilige Römische Reich trotz seines gegenwärtigen Verfalls immer noch eine politische Realität und die besondere Aufgabe der Deutschen Nation. „Römisches Reich Deutscher Nation“, ein Name, der seit dem 15. Jahrhundert immer allgemeiner wird, sollte keine Einschränkung des Imperiums auf die deutschen Lande bedeuten, sondern vielmehr den Anspruch der Deutschen auf die Reichsherrschaft ein für allemal sicherstellen. [...] Die Reichsreform sollte vor allem das Imperium wiederherstellen. Das Reich aber könne nur wiederhergestellt werden, so meint der Kaiser in einer Denkschrift, durch die Erneuerung der Vätertugenden, durch Tapferkeit und ritterlichen Sinn, durch Liebe zum Römischen Reich und zum christlichen Glauben, durch Treue und Gehorsam zum Kaiser, durch Pflichterfüllung gegenüber Kirche und Religion, durch Einigkeit und Frieden im Innern und durch die Zusammenfassung aller Kräfte nach außen. In krassem Gegensatz zu solchen kaiserlichen Reformgedanken stand das politische Denken der Kurfürsten und Fürsten, die ganz den Interessen ihrer Länderstaaten hingegeben waren.“209

Gerade der Tatsache, daß der Kaiser stets auch die Zukunft im Blick hatte, verdankte die Stadt Antwerpen viel: Während andere Städte, insbesondere Brügge, an ihre goldene Vergangenheit anknüpfen wollten, hatten die Antwerpener Kaufherren die Zeichen der Zeit erkannt und neue Wege des Handels eröffnet: Spanien wurde zum wichtigsten Handelspartner; über den Mittelmeerraum gelangten auch orientalische Güter in die Niederlande. Mit den Waren kamen die ausländischen Seefahrer und die Kaufleute, die kaiserlichen Schutz genossen und ihre Niederlassungen errichten durften. Antwerpen wurde zur internationalen Handelsmetropole und überflügelte Brügge, das sich allein auf seine Tuchproduktion und den Handel mit England verlassen hatte. J. Jacquot faßt diese Entwicklung und das besondere Verhältnis Antwerpens zu Maximilian zusammen: „Bruges et Gand soutinrent contre lui [l’empereur] une longue lutte tandis qu’Anvers faisait cause commune avec lui et obtenait au détriment de ces dernières des avantages qui lui permirent d’attirer les commerçants étrangers dans ses murs.“210

Wie Maximilian mit seiner Friedensliebe, mit Milde und Gnade und nicht zuletzt mit dem Beistand des Heiligen Geistes den Widerstand der Fürsten und Kurfürsten gegen die Reichsreform überwand, sollen die beiden ersten großen Holzschnitte veranschaulichen: Der erste (fol. 1r) zeigt den Cessar als Ritter hoch zu Roß, der an der Spitze eines mächtigen Heeres zu einem Fürstentag einzieht;211 in einer Vignette über dem großen Bild sieht man den Papst im Kreise von Kardinälen: Sollte das Friedenswerk gelingen, würde der Papst allen Beteiligten seinen Segen spenden. Der zweite Holzschnitt (fol. 2r) mit dem Titel Speculum effectus 209 Wiesflecker 1969, 13 f. 210 Jacquot 1960, 416. 211 Abb. bei Wouters/Schreurs 1995, 102.

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patientie stellt den thronenden Kaiser dar, der die versammelten Kurfürsten auffordert, dauerhaften Frieden zu schaffen: hortor ut assidue pacis beginnt die Mahnung des Kaisers an die weltlichen und geistlichen Landesherren. Der Heilige Geist, dessen Gegenwart durch eine Taube über dem Haupt des Kaisers symbolisiert wird, bewirkt schließlich das Nachgeben der Kurfürsten, so daß Maximilian den allgemeinen Landfrieden verkünden kann.212 In Gebeten und Lobgesängen wird der Jungfrau Maria, der Fürsprecherin himmlischen und irdischen Friedens, dafür gedankt, daß die Eintracht zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht, an dieser Stelle repräsentiert durch die geistlichen Kurfürsten, zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Schwert, wiederhergestellt werden konnte.213 Wie im Reich, so läßt sich der Frieden in der Welt nur schaffen, wenn geistliche und weltliche Macht dieses Ziel gemeinsam anstreben: Papst und Kaiser, denen die Herrschaft von Gott anvertraut ist, müssen daher die Geschicke des Erdkreises und seiner Bewohner in Eintracht lenken (fol. 1v und 4v).214 Indem die Gestalter dieser Lob- und Preisschrift zu Ehren Maximilians dessen Bemühungen um dauerhaften Frieden an den Anfang stellen, verleihen sie dem vordringlichen Wunsch der Niederländer Ausdruck und schließen auch unausgesprochen die Hoffnung ein, daß Karl das Friedenswerk seines Großvaters fortführen und vollenden möge. Über Karl, den Erben Maximilians, kann der Verfasser des Textes noch nichts aussagen. Betrachtet man ihn jedoch als den Fortführer der Politik und Vollender der Ziele seines Großvaters, dann gewinnen einige Zeilen aus dem Loblied auf den Kaiser an Gewicht: [...] Monarcham Imperatorem Maximilianum qui Imperii Coronam non electione solum meruit: qua communiter caeteri quoque Imperatores constituuntur.215 Würde der Enkel erreichen, was dem wahrhaft kaiserlichen Maximilian versagt geblieben war: nämlich die Kaiserkrone aus der Hand des Papstes zu empfangen? Als Karl am 3. Juli 1519, mehr als ein Jahr vor seiner Krönung zum Römischen König in Aachen, seine Wahlkapitulation für die Kaiserwahl aufsetzte, veranlaßte ihn vermutlich mehr als persönlicher Ehrgeiz zu der Erklärung: und nachvolgent, so wir die kuniglich chron, wie obsteet, emphangen han, 212 Abb. bei Wouters/Schreurs 1995, 105. 213 Hier findet sich im Text der ausdrückliche Hinweis auf die mittelalterliche Lehre von den zwei Schwertern: Concludendo maxime totius ecclesie militantis conducere paci concordiam duorum gladiorum spiritualis scilicet et temporalis (Lofzangen fol. 21; niederl. Fassung auf fol. 1v). 214 Von seiner Krönung zum Römischen König im Jahre 1486 bis zu seinem Tode 1519 hatte Maximilian sich mit fünf Päpsten darüber zu verständigen, was dem Frieden und dem Gemeinwohl der Christenheit dienlich sei; sieht man von den kurzlebigen Heiligen Ligen ab, standen sie oft genug, im Bunde mit anderen Mächten, auf verschiedenen Seiten. 215 Lofzangen fol. 13v.

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uns zum besten befleissigen, die kaiserlich chron auch in zimlicher gelegner zeit zum schiersten zu erlangen [...]216 Nicht nur Erwählter Römischer Kaiser wollte er sein: es war eine Verpflichtung gegenüber dem Hause Österreich, dessen Chef er war, die Kaiserkrone wiederzugewinnen und der Dynastie das Kaisertum zu erhalten. Daß der Verfasser des zweiseitigen Textes Pro supradicte Imperatorie maiestatis potentie declaratione et auctoritate217 sich zum Zeitpunkt von Karls Regierungsantritt in Flandern Gedanken darüber macht, wem die Herrschaft über das Reich einmal zufallen wird, bringt er erst in den letzten Zeilen seiner gelehrten Abhandlung zum Ausdruck, nachdem er (nicht ohne sich auf Augustus, die Bibel und die Kirchenväter zu beziehen) die Ursprünge der geistlichen und der weltlichen Macht erklärt sowie deren Grenzen definiert hat. Er greift die mit der Kaiserkrönung Karls des Großen zu neuer Bedeutung gelangte Vorstellung der translatio imperii auf, eines der Fundamente, auf dem das mittelalterliche Kaisertum ruhte: Translato ad alemannos romano imperio, quo solidiori firmitate subsisteret fundatum (16r). Als die alemanni, an die das Imperium übertragen worden war, konnten 1515 nur die Habsburger gelten. In diesen Kontext gehört auch die – von ihrer literarischen Form her höchst eigenartige – Eloge auf das Haus Österreich,218 die in den Zeilen gipfelt Cum fausto gradu Austriae Conservet tam Caesarie Per infinita secula.

Für die Zeit nach Maximilian kam demnach – das ist hier impliziert – Karl die Kaiserwürde zu. Nicht ohne triftigen Grund läßt der Verfasser bereits an dieser Stelle die Frage der Nachfolge anklingen: Das Auftreten Franz I. ließ erwarten und befürchten, daß er sich in seinem Streben nach Erweiterung seines Herrschaftsbereiches nicht mit der Rückeroberung der Lombardei begnügen würde, sondern sich die Vormachtstellung in Europa sichern wollte, um dann Anspruch auf die Kaiserkrone erheben zu können. Zudem hatte Maximilian selbst schon 1513, nach dem Sieg über die Franzosen bei Thérouanne, seinen Verbündeten, den englischen König, zu seinem möglichen Nachfolger ausersehen: „Da er sich alt und müde fühlte, dachte er an Heinrich VIII. als Römischen König und nächsten Kaiser, dem dann der junge Karl (V.) folgen sollte.“219 In der Tat sollte 1519 216 QSKV. 58 (nach RTA I). 217 Lofzangen fol. 15v–16r. 218 Ebd. fol. 12r–15v, Zitat 15r. 219 Wiesflecker 1981, 128. Zu den verschiedenen Pläne Maximilians für ein „Zwischenkaisertum“, mit dem er Karl eine gewisse Reifezeit zusichern wollte, s. ebd. 404 f. 1515 kam Heinrich VIII. als Kandidat allerdings nicht mehr in Frage: Das Bündnis mit dem Kaiser war zerbrochen, und durch das Scheitern des Heiratsabkommens zwischen Karl und Mary

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Karls Zugehörigkeit zum Hause Habsburg, seine „deutsche“ Abstammung, eines der Hauptargumente im Wahlkampf werden220 und – neben dem Geld der Fugger – ganz wesentlich zu seinem Sieg über den einzigen verbliebenen Gegenkandidaten, den französischen König, beitragen. Es stellt sich die Frage nach dem oder den Urheber(n) der panegyrischen Texte, die Maximilian gewidmet sind und gleichzeitig die Hoffnungen und Erwartungen erkennen lassen, die auf dem Enkel ruhten. Sie geben ihre Identität nur verschlüsselt preis, und zwar mit ihren Initialen in dem ersten der beiden oben erwähnten Humanistenbriefe;221 einige Hinweise auf ihre Person liefern ferner die Anrede und die Schlußzeilen dieses Briefes. Gerichtet ist das Schreiben, in dem es um Beiträge zu dem vorliegenden Buch geht, an N., einen decretorum ac artium doctor canonicus et scholasticus Novimagensis preceptor; unterzeichnet hat R.K.D.N. quem noscis, der sich als Gloriosissime Imperialis maiestatis humilis ac deditissimus servitor tuusque dudum alme universitatis Colloniensis in studio collega et conthoralis zu erkennen gibt. R.K.D.N. ist auch der Autor eines Gedichtes zum Lobe Maximilians;222 seiner Widmung hat er hinzugefügt vestre maiestatis in dutatu [!] Gelriae secretarius. Trotz dieser spärlichen Angaben gelingt es unter Hinzuziehung der Kölner Matrikel, Namen und Herkunftsort der beiden Verfasser festzustellen, auf die vermutlich die Mehrzahl der Texte zurückgeht: N. war ein Johannes Neve (de Novimagio), also aus dem heutigen Nijmegen; R.K.D.N. steht für Rutger Kynen de Novimagio.223 Während die Namen der beiden in den folgenden Überlegungen keine Rolle spielen, verhelfen die zusätzlichen Informationen zu einem besseren Verständnis des Sammelwerks und der Intention der Autoren. Wie die Texte bereits vermuten lassen, waren ihre Verfasser humanistische Gelehrte, von denen der eine, Neve, die Rechte und Theologie studiert hatte, als Kanoniker in seiner Heimatstadt wirkte und überdies ein geistliches Lehramt innehatte: ein Mann der Kirche also. R.K.D.N., sein ehemaliger Kommilitone, hatte, so ist anzunehmen, die gleichen Fächer studiert und war als Sekretär seiner Majestät in den Staatsdienst getreten, und zwar im Herzogtum Geldern, seiner Heimat. Aus diesen biographischen Daten erklärt sich nicht nur die Vertrautheit mit der

Tudor waren die verwandtschaftlichen Beziehungen stark reduziert. Durch seine Ehe mit Katharina von Aragon war Heinrich nur noch ein „angeheirateter Onkel“ Karls. 220 Wie viel oder wie wenig „deutsches“ Blut in Karls Adern fließen mochte: Als Habsburger von direkter Abstammung im Mannesstamm und Chef des Hauses Österreich galt er als Deutscher. Die fremde Herkunft der Gemahlinnen der Habsburger hatte darauf keine Auswirkung. Ausführlich zu den Vorfahren Karls: Tyler 1959, 31–36. 221 Lofzangen fol. 5r. 222 Ebd. fol. 17v. 223 Nijhoff/Kronenberg 1923, 538, Anm.

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Geschichte,224 den Schriften der Kirchenväter und den Rechten der weltlichen und der geistlichen Macht, sondern auch die immer wieder in die Texte eingeschobenen, heute schwer verständlichen frommen Verse, die Verbindung von Herrscher-, Gottes- und Marienlob. So befremdlich dieses Konglomerat aus der Sicht des 21. Jahrhunderts erscheint, so selbstverständlich muß diese Verknüpfung für den Kaiser gewesen sein, der als tiefgläubiger Mensch der Überzeugung war, daß ihm das Herrscheramt von Gott anvertraut war und er seine schwere Aufgabe nur mit dem Beistand der himmlischen Mächte erfüllen könne. Wenn die beiden geistlichen Autoren immer wieder die Frömmigkeit Maximilians preisen und Gott danken für die wunderbaren Werke, die er an dem Kaiser getan hat,225 so besteht hier eine direkte Beziehung zu dem, was vielen Gläubigen als das „Wunder von Trier“ erschien und was dementsprechend in den Lofzangen in Prosa und in Versform gewürdigt wird: zu der „wunderbaren Wiederauffindung“ des Trierer Rockes in Anwesenheit des Kaisers am 14. April 1512.226 Der „unzertrennte Rock Christi“,227 wie er damals genannt wurde, zählt neben den Splittern vom Kreuz und der santa sindone (jetzt im Dom von Turin) zu den auch heute noch hochverehrten Reliquien von Golgatha, die die Kaiserin Helena von ihrer Pilgerreise ins Heilige Land nach Europa brachte. Ein Wunder war die Erhebung der Reliquie allerdings höchstens für schlichte Gläubige und für diejenigen, die, fern von Trier, das Heiltum nur vom Hörensagen kannten; unter ihnen waren vielleicht auch die beiden Geistlichen aus Nijmegen. Der Erzbischof von Trier, Richard von Greiffenclau, und mit ihm der hohe Klerus der Domstadt sowie der Kaiser und einige seiner Vertrauten aber wußten, wo sie 224 Der Umgang der Autoren mit dem, was sie als historische Fakten ansahen und was sie auch zur Bekräftigung ihrer Aussagen heranzogen, darf nicht an den strengen Kriterien moderner Forschung gemessen werden. In der Historia floß alles zusammen, was aus fernster Vergangenheit und jüngster Zeit bis hin zu aktuellen Ereignissen mündlich oder schriftlich überliefert war. Der Begriff der Wissenschaft im heutigen Sinne begann sich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts herauszubilden. Ehe die Geschichte sich als Wissenschaft etablierte, sollten noch einige Jahrhunderte vergehen. 225 Lofzangen fol. 16v–17r. 226 Ebd. fol. 20r und 22 (Prosa); 17v (Verse). Der Kaiser war am 3. April 1512 mit 400 Reitern in Trier eingezogen, wo in der Woche nach Ostern ein Reichstag abgehalten werden sollte. Vom Karfreitag bis zum Ostersonntag nahm Maximilian an den großen kirchlichen Feiern teil und begab sich am Karsamstag sogar im Büßergewand zum Kloster St. Maximin. Nach dieser geistlichen Vorbereitung vollzog sich am Mittwoch nach Ostern das „Wunder“. Vgl. darüber Wiesflecker 1981, 270. 227 In das Gewand, ist nach heutigem Kenntnisstand die eigentliche Reliquie eingenäht: ein 30×30 cm großes Gewebestück, das angeblich von der Tunika Christi stammt. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Stoffes hat bisher nicht stattgefunden. Vgl. auch www. bistum-trier.de.

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nach der Reliquie zu suchen hatten, die seit über 300 Jahren, genauer gesagt, seit dem 1. Mai 1196, zwar verschwunden, an die die Erinnerung jedoch nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Gläubigen getilgt war. An jenem Datum war der Hochaltar im neuen Ostchor des Domes geweiht worden,228 er war zum Reliquiar bestimmt für eines der am meisten verehrten Heiltümer nördlich der Alpen, das darin eingemauert wurde. In diesem Zusammenhang wird die „Tunika Christi“ erstmals urkundlich erwähnt. Der Erzbischof von Trier widersetzte sich zunächst dem Ansinnen des Kaisers, die Reliquie in Anwesenheit weniger Eingeweihter zu heben und anschließend feierlich zur Verehrung öffentlich auszustellen, um im Volk Glauben und Frömmigkeit zu stärken. So ist auch in den Lofzangen zu lesen: Videlicet ut ipse [Maximilianus] mereretur illas venerabilissimas Reliquias: diu muris interclusas in Treveri detegere ad fidei quoque nostre cultum honorifice exaltare.229 Schließlich geschah alles, wie es der Vorstellung des Kaisers entsprach. In Verbindung mit einem feierlichen Totenamt für die Ende 1510 verstorbene Kaiserin Bianca Maria wurde die Reliquie erstmals den Gläubigen präsentiert und löste große Erschütterung unter ihnen aus. Hunderttausende strömten in den folgenden Monaten nach Trier, eine für die damalige Zeit gewaltige Zahl.230 Von der Kritik, die schon bald von Geistlichen und auch aus der Umgebung des Kaisers an dieser Manipulation des Volkes durch das „Wunder“ laut wurde, berichten die geldrischen Geistlichen nichts.231 Ob sie davon erfahren haben, läßt sich nicht ergründen. In jedem Falle wäre ein Hinweis darauf der Zielsetzung ihres Buches zuwidergelaufen. Dem an dieser Stelle vielleicht aufkeimenden Verdacht, es könne sich bei den Lofzangen um ein Auftragswerk handeln, möchte ich mit einigen Fragen und Argumenten begegnen: Wer hätte ein Interesse daran gehabt, den Kaiser, dessen Ansehen und Einfluß in den Niederlanden gesunken waren, derart zu loben und zu preisen? Der Kaiser selbst, der sich nach der Emanzipation des Enkels nur schwer aus der niederländischen Politik zurückzog, hätte gewiß nicht zwei nahezu anonym bleibende Humanisten und einen nahezu unbekannten Drucker mit einem solchen Auftrag betraut; ihm hätten in Wien und anderenorts im Reich bewährte Kräfte zur Verfügung gestanden. Maximilian, im Einsatz der Medien seiner Zeit erfahren, hätte zudem für eine größere 228 Im Kern stammt der Dom aus dem 4. Jahrhundert, er wurde im 11.–13. Jahrhundert erweitert. 229 Lofzangen fol. 22r. 230 Wiesflecker 1981, 270 f. Wallfahrten mit Ausstellung des Rockes fanden in der Folge von 1513–1517 statt, dann in größeren Abständen. 231 Man warf Maximilian vor, daß es ihm darauf angekommen sei, die Spendenfreude der Gläubigen anzuregen: Eine fromme Spende für einen Kreuzzug war leichter zu erlangen als die Reichssteuer: Wiesflecker 1981, 271.

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Verbreitung gesorgt. Fühlten sich N., der Inhaber hoher kirchlicher Ämter, und R.K.D.N., der kaiserliche Sekretär, von Amts wegen veranlaßt, diesen Panegyricus zu verfassen? Wäre es nicht in ihrem eigenen Interesse und somit naheliegender gewesen, dem jungen Herzog eine Huldigungsschrift zu widmen? Was aber sollte man an Karl loben, der noch nichts Preisenswürdiges geleistet hatte und dessen Herrschaft vorläufig unter dem Motto nondvm stand? Lob und Würdigung hingegen verdienten die Bemühungen des Kaisers um inneren Frieden im Reich, um diese Grundlage allen Gemeinwohls, des Rechts und der Ordnung sowie die Zeugnisse seiner Frömmigkeit. Hier kommen zwei Männer aus Geldern zu Wort, ob nun aus eigenem Antrieb oder vielleicht von Landsleuten ermuntert, deren Heimat unter den jahrzehntelangen Kriegen am meisten gelitten hatte. Sie sind Niederländer, die sich dem Reich zugehörig fühlen und die nicht unter einer Herrschaft leben wollen, die in ihrem Bestand von Frankreich und dessen jeweiliger Interessenlage abhängig ist. Auch die Studienjahre in Köln können dazu beigetragen haben, ihnen ihre enge Verbundenheit mit dem Reich bewußt zu machen. Wie die meisten Bewohner der nördlichen Provinzen der Niederlande gehörten sie ihrer Sprache und Kultur nach zur „deutschen Nation“. Es sei daran erinnert, daß auch Adrian von Utrecht sich als Deutscher verstand. Maximilian hatte stets mit wechselndem, nie dauerhaftem Erfolg für die Rückgewinnung und den Verbleib Gelderns bei den Niederlanden gekämpft. Zwar hatte er den Geldrischen Krieg geführt, um dem Enkel, der Dynastie und dem Reich das burgundische Erbe zu erhalten, doch sah die Bevölkerungsmehrheit in Geldern in ihm denjenigen, der auch ihren Interessen und ihrem politischen Willen Geltung verschaffen konnte. Der Geldrische Krieg, die „ewig blutende Wunde des niederländischen Staates“,232 wird in den Lofzangen nie erwähnt; bezieht man ihn aber in seine Überlegungen ein, so rückt Karl, bis soweit im Hintergrund und nur in Anspielungen erwähnt, in den Blickpunkt, und es wird klar, weshalb die Geistlichen aus Geldern das Loblied auf Maximilian zur entrée seines Enkels verfaßten: Was dem Kaiser nicht gelungen war, erhofften sie nun von seinem jungen Nachfolger.233 Daher ist W. Nijhoff Recht zu geben, der den Höhepunkt der Lofzangen in einem einzigen Satz sieht, der allerdings zukunftsweisend ist: Want [= Denn] die duecht des soens is een glorie des vaders bzw. in der lateinischen Fassung: Et cum (!) virtus filii est gloria patris.234 Nijhoff zufolge ging es den Verfassern in erster Linie darum, in dem

232 Diese damals geprägte Metapher zitiert Wiesflecker 1981, 320. 233 1518 konnte Karl einen allerdings kurzlebigen Waffenstillstand herbeiführen. 1528 fand der Geldrische Krieg ein (vorläufiges) Ende. 234 Lofzangen fol. 20r und 22r.

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Sohn vor allem dem Vater zu huldigen und den Sohn auf den Vater als Vorbild zu verweisen.235 Karl sollte sich also ein Beispiel an seinem Großvater nehmen und ihm Ehre machen. Das heißt: Er sollte ihm an virtus gleichzukommen versuchen, die Regierung im Sinne Maximilians fortführen und dessen Nachfolge im Reich anstreben. Aus dieser Perspektive, vom Schluß der Lofzangen aus betrachtet, erschließt sich die eigentliche Absicht, die die Verfasser mit ihrem Werk verbanden: Das Bild Maximilians, des mit höchsten Herrschertugenden ausgestatteten Kaisers, das sie entwerfen, entspricht der zeitgenössischen Vorstellung von einem idealen Fürsten: Fromm, friedliebend, für Gemeinwohl, Recht und Ordnung sorgend, dazu milde und gnädig sollte er sein.236 Führte der friedliebende Kaiser dennoch Krieg, so nur, weil er dazu gezwungen wurde: durch feindliche Invasionen, tückisch vorgetäuschte Friedensabkommen, durch den Bruch von Bündnissen, Verschwörungen gegen seine Person oder Aufstände. Es handelte sich also in jedem Falle um ein bellum iustum, aus dem Maximilian als Caesar invictissimus et triumphans hervorging, nicht zuletzt, weil Gott und die Jungfrau Maria der gerechten Sache zum Sieg verhalfen und ihre schützende Hand über den Kaiser hielten. Dies ist die Quintessenz der Argumente, mit denen der Verfasser des zweiten Humanistenbriefes,237 vermutlich Neve, die Feldzüge des friedliebenden Kaisers rechtfertigte, denn verhehlen ließen sie sich wohl kaum. Gleichzeitig fügte er damit dem Bild Maximilians eine bisher fehlende Facette hinzu, die im 16. Jahrhundert unabdingbar mit der Vorstellung von einem idealen Herrscher verbunden war: Er mußte ein großer, tapferer und natürlich siegreicher Heerführer sein.238 So stellt sich schließlich das „schöne und in vieler Hinsicht merkwürdige 235 Nijhoff, Vorwort (Lofzangen o.S.): „[...] de hoofdzaak, waar het om ging: de vader werd hier in den zoon gehuldigd, de zoon op den vader als voorbeeld gewezen.“ 236 Alles, was das Idealbild trüben könnte, bleibt unerwähnt: Maximilians Finanzgebaren, seine Rastlosigkeit und die daraus resultierende Unstetigkeit seiner Politik, oft als Unzuverlässigkeit gerügt, der Einsatz nicht immer lauterer Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele, kurz: alles, was Verbündete und selbst Vertraute wie seine Tochter Margarete irritierte, zu Entfremdung und zum Bruch von Allianzen führte. 237 Lofzangen fol. 19v. 238 Machiavelli, der akribische Beobachter und scharfe Kritiker, kannte Maximilian sehr gut aus den langen Jahren seiner diplomatischen Tätigkeit für die Republik Florenz am Hofe des Kaisers. Wie er den Monarchen beurteilte, hat er in seinen Aufzeichnungen festgehalten: Der Florentiner rügt die Verschwendungssucht Maximilians, in deren Folge er unter ständigem Geldmangel leidet, und seine „Veränderlichkeit“, die ihn keinen eben gefaßten Plan zu Ende führen läßt. Dagegen lobt er den Kaiser als „großen Kriegsmann“, der sein Heer mit Gerechtigkeit und Ordnung führt. Mutig in der Gefahr, abgehärtet gegen alle Strapazen steht er als Feldherr keinem nach. Seine gute, nachgiebige Natur wird von seiner Umgebung ausgenutzt, so daß er oft hintergangen wird. Er besitzt eine Menge Tugenden,

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Buch“ als der mühsam zu entschlüsselnde Entwurf eines Fürstenspiegels heraus, als Richtschnur für zukünftiges Handeln dem jungen Herzog zu seinem Regierungsantritt zugedacht. In der graphischen Gestaltung des Werkes wird diese Absicht der Autoren durch zwei große Holzschnitte von erheblicher Aussagekraft aufgegriffen: Sie füllen das zweite bzw. das vorletzte Blatt des Buches fast völlig aus,239 schließen gleichsam als A und O die Lofzangen zwischen sich ein. Das erste der beiden Bilder wurde oben bereits kurz beschrieben und im historischen Kontext der Reichsreform, vor allem der Durchsetzung des Landfriedens, gedeutet. Setzt man diese Darstellung des Kaisers in Beziehung zu der seines Enkels am Ende des Buches, so erschließt sich eine zusätzliche Interpretationsebene: Der Künstler hat das Konzept des Fürstenspiegels aufgegriffen und in sein Medium übersetzt. Man sollte beide Bilder nebeneinander betrachten, um die Parallelen und die Unterschiede wahrnehmen zu können. Beide sind nach dem gleichen Kompositionsschema aufgebaut: Eine wappengeschmückte Bogenarchitektur umschließt, einer Ehrenpforte vergleichbar, die Szene, in deren Mittelpunkt jeweils einer der beiden Herrscher steht. Ein weiteres gemeinsames kompositorisches Element ist die Anordnung der Personengruppen, die das Herrscherbild flankieren: Im Falle Maximilians sind es die Kurfürsten, während Karl die Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies zur Seite stehen. Nicht zu übersehen ist in dem Maximilian gewidmeten Bild die kaiserliche Streitmacht, die hinter den Kurfürsten Aufstellung genommen hat und deren Lanzen zu beiden Seiten des Kaiserthrons bis zum Horizont aufragen. Karl dagegen verfügt nur erst über ein bescheidenes Heer, wie die überschaubare Zahl der Lanzen zeigt, die in seinem Ehrenbogen aufgerichtet sind. Den zahlreichen Parallelen im Bildaufbau steht die sehr differenzierte Darstellung der Herrscher gegenüber: Mit einer Apotheose Maximilians wird in dem ersten Holzschnitt die Verherrlichung des Kaisers eingeleitet, die in den anschließenden Texten ihre Fortsetzung findet. Drei Stufen führen zu seinem Thron empor. Damit wird der Herrscher nicht nur über die Kurfürsten zu seinen Füßen erhoben, sondern ihrem Kreis gleichsam entrückt. Allein der König von Böhmen, der ranghöchste der Kurfürsten, genießt das Privileg größerer Herrschernähe. Sein und wenn er sich in den zwei obengenannten Punkten mäßigte, so würde er ein ganz vollkommener Mann sein. Denn er ist ein vortrefflicher Feldherr, er hält große Gerechtigkeit in seinem Lande aufrecht, in den Audienzen ist er gefällig und freundlich, und er besitzt viele andere Eigenschaften des besten Fürsten, so daß man schließen muß, es würde ihm alles gelingen [...] (QSMI. 306 f. nach einem undat. Auszug aus den Aufzeichnungen des Florentiner Gesandten). Selbst nach Machiavellis strengen Maßstäben war Maximilian also, von wenigen, allerdings gravierenden Schwächen abgesehen, ein Herrscher, der dem Nachfolger als Vorbild dienen konnte. 239 Lofzangen fol. 2r. 18r. Letzterer ist abgebildet bei Wouters/Schreurs 1995, 108.

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Platz ist auf der untersten Stufe vor dem Thron: die Distanz bleibt gewahrt. Drei Spruchbänder rahmen das Bild des Kaisers wie eine Mandorla ein. In höchster Erhabenheit – im ursprünglichen wie im heutigen Sinne des Wortes – thront der Electus Imperator Romanorum, ein Augustus, vor einem in antikisierender Manier gestalteten Rund, das mit seinen Säulen und Kolonnaden Rom symbolisieren könnte. Auch ungekrönt wird er so zum wahren Imperator Romanorum und ist mit den Insignien kaiserlicher Macht ausgestattet, mit Krone, Zepter und Reichsapfel. An breiter Ordenskette ruht der burgundische Vliesorden auf der Brust des Herrschers. Das ernste Gesicht des Monarchen, das durchaus erkennbare, individuelle Züge trägt, ist von den Spuren des Alters und der Bürde des Amtes gezeichnet: ein kampfesmüder Kaiser, für den die Zeit gekommen ist, seine Nachfolge zu ordnen und Karl, seinem jungen Erben, den Weg zur Herrschaft zu bereiten. Noch aber ruht der Segen des Himmels auf Maximilian und vor allem auf seinem Friedenswerk: Der Heilige Geist, anwesend in Gestalt der Taube, sendet seine Strahlen herab und versichert ihn des göttlichen Beistands. Speculum effectus patientie ist der Holzschnitt überschrieben: Das ständige Bemühen des Kaisers um Frieden hat den Künstler veranlaßt, ihn über alle Großen des Reiches erhöht zu zeigen und gleichsam in den Himmel zu heben. Wie die Verfasser der Texte; so kann auch der Schöpfer des zweiten Holzschnitts über den jungen Herzog noch nicht viel aussagen. Er hat daher das Ereignis im Bilde festgehalten, das aus Karls Sicht und Selbstverständnis gewiß das bedeutsamste seines bisherigen Lebens war: der Augenblick, in dem die Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies ihn als neuen Chef und Souverän anerkannten, indem sie vor ihm ihren Eid auf den Orden und seine Regeln erneuerten und Karl „mit Hand und Mund“ Gehorsam gelobten. Die Worte ihres Eides sind auf einem Spruchband zu lesen, das den Ehrenbogen überspannt: Sunt nobis pro domino dextere parrate nostro. Karl steht frei unter dem Ehrenbogen, in leichtem Abstand von den chevaliers zu seiner Rechten und seiner Linken. Dargestellt ist er als der burgundische Ritter, als der er sich selbst verstand: in glänzender Rüstung, geschmückt mit der Ordenskette, ein üppiges Federbarett auf dem Kopf, mit der rechten Hand die von seinem Wimpel umflatterte Lanze haltend, mit der linken den Schwertknauf umgreifend. Fest steht der schöne, junge Ritter mit beiden Füßen auf dem Boden, eine Stufe erhöht gegenüber den chevaliers, die ihm an Jahren, aber nicht an Rechten einiges voraus haben. Karl ist Primus inter pares, den Gesetzen des Ordens verpflichtet wie jedes andere Mitglied. Seine Haltung verrät die Entschlossenheit, jederzeit für die Rechte des Ordens einzutreten, wie er es schon 1514 vor Margarete getan hatte, damals noch unter dem vorzeitig angemaßten Titel des Ordenssouveräns. Jetzt, da er ihn zu Recht trägt, strahlt er das Bewußtsein seiner neuen Würde aus. Vor dem Betrachter steht hier, mit den geschönten, aber unverkennbaren Gesichtszügen Karls, das „junge, edle Blut“, wie

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Luther 1520 den Römischen König und Erwählten Römischen Kaiser kurz nach dessen Wahlsieg genannt hat.240 Dem Bild beigegeben ist ein Text, der unter dem Titel Summaria illustrissimi Karoli Castelle legionis et granatorum Regis || Necnon Archiducis Austrie ducisque Bourgon.e de prenarratis Conclusio Karl als Ansprache an die Ordensritter in den Mund gelegt wird.241 Aus der fiktiven Perspektive des Enkels wird zusammengefaßt, was Maximilian, der an ihm Vaterstelle vertreten hat, für ihn getan und ihn durch sein Beispiel gelehrt hat. Zu dem ersten Holzschnitt, der Maximilians machtvollen Einzug zum Reichstag darstellt und den man als Vorspann zu dem gesamten Werk bezeichnen kann, gibt es kein Pendant am Ende des Buches, obwohl ein Bild von Karls gewiß glanzvoller entrée sich als „Nachspann“ angeboten hätte. Dessen Stelle nimmt eine Ansicht Antwerpens ein, der stolzen, hochgebauten Stadt, die von mächtigen Kirchtürmen überragt wird, während die Schiffe auf der Schelde als die Garanten des wachsenden Wohlstands den gesamten Mittelgrund des Bildes beherrschen.242 Der beigefügte Lobeshymnus auf die so gesegnete Stadt enthält keinerlei Hinweis auf den Einzug des Herzogs, wie man es auf diesem Ruhmesblatt erwarten könnte. – Ob Maximilian oder Karl das „schöne und merkwürdige Buch“ jemals zu Gesicht bekamen, ließ sich nicht feststellen.

Gent In denkbar größtem Kontrast zu dem Antwerpener Lobgesang, der über den Verlauf der dortigen joyeuse entrée nichts aussagt, steht der Quellentext, der sich auf Karls Einzug in seine Geburtsstadt Gent bezieht. L. Gachard hat ihn als „Relation de la joyeuse entrée et de l’inauguration de l’archiduc Charles à Gand, les 3 et 4 mars 1515“ veröffentlicht,243 was dem Charakter des Dokumentes nur zum Teil entspricht: Wenn Gachard unter „relation“ nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit einen ausführlichen Bericht versteht,244 so vernachlässigt er, daß hier ein Dokument vorliegt, das als Beweisurkunde konzipiert ist. Die minutiöse Darstellung 240 In Luthers An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen standes besserung heißt es in dem Abschnitt, der Der allerdurchleuchtigisten, Groszmechtigisten Keyserlichen Majestet und Christlichen Adel deutscher Nation gewidmet ist: Got hat uns ein jungs edlisz blut zum heubt gegeben, damit viel hertzen zu groser guter hoffnung erweckt [...] (WA 6, 405). 241 Lofzangen fol. 18rv. Wie die Bürger von Löwen in ihrem Rechnungsbuch verleihen die Verfasser der Antwerpener Festschrift Karl bereits 1515 den Königstitel im Vorgriff auf die Ereignisse des folgenden Jahres. 242 Abb. bei Wouters/Schreurs 1995, 107. 243 Gent, Stadtarchiv, reg. Nieuwen Geluvenboek B, fol. 327v, veröffentlicht in Voyages II 524–530 (appendice IV). 244 Damit rückt Gachard den Text in die Nähe der relazioni der venezianischen Gesandten, die allerdings auch nicht nur als detailreiche Schilderungen anzusehen sind, sondern in

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der einzelnen Phasen des Einzugs ist der Narratio einer Urkunde gleichzusetzen, in der Anlaß und Begleitumstände von Rechtshandlungen erläutert werden.245 Da im vorliegenden Fall die juridisch wirksamen Akte nicht nur per dispositionem für die Zukunft angekündigt, sondern als Teil der Feierlichkeiten noch am Tag der entrée vollzogen wurden, konnten sie im selben Dokument als gesichert festgehalten werden. Auf weitere Merkmale, die den Text als Urkunde ausweisen, wird an gegebener Stelle hingewiesen. Zunächst einmal soll, der Narratio (Gachards „relation“) folgend, das Geschehen am Einzugstag zusammengefaßt werden. Am Samstag, den 3. März, morgens gegen 8 Uhr, brach Karl in Begleitung zahlreicher Adliger von Swynaerde, wo man die Nacht im dortigen Schloß verbracht hatte, nach Gent auf.246 Bittsteller strömten in Scharen herbei, vorwiegend aus der Heimat Verwiesene oder Verbannte, die Petitionen überreichten und von dem neuen Landesherrn Gnade und den Erlaß ihrer Strafe erhofften. Für „Karl von Gent“ war der bevorstehende Einzug in seine eigene Geburtsstadt als Graf von Flandern Anlaß genug, eine Amnestie verkünden zu lassen, so daß jeder der Verbannten in seinen Heimatort zurückkehren konnte. Vorerst aber schlossen sie sich dem Zuge an, der inzwischen beträchtlich angewachsen war, da auch viele Bewohner des Umlandes das große Ereignis miterleben wollten. Durch die Peselleporte, ein Stadttor, das nach uraltem Brauch am Tag eines Herrschereinzugs weit offenstand, ritt Karl in Gent ein. In feierlicher Prozession schritt ihm der Klerus der Stadt entgegen, dem Ereignis angemessen in goldene und seidene Meßgewänder gekleidet. Zur Begrüßung des Fürsten, die mit allen denen die Diplomaten vor dem Dogen und dem Senat Rechenschaft darüber ablegten, was sie im Auftrag und zum Nutzen der Serenissima in Erfahrung gebracht hatten. 245 Nur für diesen Teilaspekt des vorliegenden Textes wäre Gachards Bezeichnung „relation“ als wörtliche Übersetzung von narratio zutreffend, wobei allerdings diesem Begriff im Urkundenwesen eine festumrissene Bedeutung zugewiesen ist. 246 Wie im Falle Antwerpens liegt auch hier eine Differenz vor zwischen den Daten des Itinerars und der Angabe in der Quelle. Nach Voyages II 14 traf Karl am 25. Februar in Gent ein; ebd. Anm. 5 findet sich zu diesem Tag sogar der Zusatz „l’Archiduc fit son entrée“. Auch Chièvres’ Itinerar (Dansaert 1942, 300) bezeugt dessen Anwesenheit in Gent für denselben Tag. Karl hat sich dem Itinerar zufolge zunächst bis zum 2. März in der Stadt aufgehalten; am 3. März war er in Swynaerde, um dann wieder nach Gent zurückzukehren, wo er bis zum 15. April blieb. Da die äußerst exakte Datierung der Quelle die entrée des Herzogs für den 3. März belegt, ist dieses Datum als korrekt anzusehen. Der Widerspruch läßt sich m.E. wie folgt erklären: Der 25. Februar war der Tag der Ankunft Karls, an dem jedoch nicht die joyeuse entrée gefeiert wurde. Es ist durchaus denkbar, daß nach der wochenlangen Reise unter winterlichen Bedingungen der Prinz, auf dessen zarte Gesundheit so oft verwiesen wird, vielleicht auch die Damen seines Gefolges, vor dem nächsten öffentlichen Auftritt einige Ruhetage benötigten. Eine Stadt wie Gent war eher als kleinere Orte geeignet, das große Gefolge länger zu beherbergen. Karl und die Personen von Rang mögen im Prinsenhof logiert haben.

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Zeichen der Ehrerbietung, aber auch der Freude erfolgte, hatten die Geistlichen das Kreuz und verschiedene Reliquien zum Ort dieser ersten Begegnung mitgeführt. Die herausragende Gestalt unter den Klerikern war Egidius Boele, Abt des Genter Klosters St. Bavo und Bischof von Ronse. In Pontifikalgewändern, mit Mitra und Bischofsstab, bot er dem jungen Herzog das Kreuz zum Kuß dar. Inzwischen hatten sich auch die Repräsentanten der Stadt eingefunden, um ihrem Landesherrn die Reverenz zu erweisen. Der Abordnung gehörten die Dekane, der Bürgermeister, die Schöffen, Rechtsgelehrten und weitere Beamte an, alle in ihrer Amtstracht, die hier nach Humanistenart als toga bezeichnet wird. Dazu hatte sich eine unüberschaubare Menschenmenge eingestellt, die aufgeregt und erwartungsfroh dem Eintreffen des Herzogs entgegensah und ihn schließlich jubelnd empfing. Gefolgt von den Vertretern der Kirche schlug Karl den Weg ein bis zu dem Platz, der ten Spriete (Zum Heiligen Geist) genannt wurde. Dort verabschiedete sich der Fürst in feierlicher Form von den Geistlichen und zog, begleitet von den Amtspersonen der Stadt und einer großen Schar von Bürgern, zum Benediktinerkloster St. Peter auf dem Blandinusberg hinauf. An der Spitze dieser Prozession ritten die Herolde mit den Wappenschilden des Herzogs. Abt Johannes Cauwerburch, auch er in Pontifikalgewändern, mit Mitra und Hirtenstab, schritt dem jungen Landesherren zusammen mit dem Prior und den Mitgliedern des Konvents entgegen und geleitete ihn zum großen Südportal, wo sie dem hohen Gast zu Ehren ihre kostbarsten Reliquien präsentierten. Im Anblick des „lebendigen, wahrhaften Holzes vom Kreuze Christi“ saß Karl vom Pferde ab und kniete vor dem Abt nieder, der ihm freundlich begegnete und mit geistlichem Ritual willkommen hieß: Mit Weihwasser besprengt, küßte Karl unter Weihrauchdüften das Evangelienbuch und das Kreuz. Anschließend geleitete der Abt den Herzog und sein Gefolge in die Klosterkirche, wo Karl in einem eigens mit kostbaren Seidenstoffen geschmückten Oratorium der feierlichen Messe beiwohnte, deren musikalischer Rahmen von den Sängern der herzoglichen Kapelle gestaltet wurde. Dem Anlaß entsprechend galten die Fürbitten des Abtes dem Heil und Glück des neuen Herrschers, den er dem Beistand des Heiligen Geistes empfahl. Während dieser sakralen Handlung war die weltliche Seite der Macht stets in Gestalt der Herolde präsent, die die Wappenschilde Flanderns hochhielten. Sie folgten ihrem Herzog auch zum Opfertisch, wo Karl ein Tuch, aus puren Goldfäden gewebt, und drei Goldmünzen, sog. Philippi, die unter der Herrschaft seines Vaters geprägt worden waren, als Meßopfer darbrachte. Missa finita: Karl stieg die Stufen zum Hauptaltar hinauf und kniete vor dem Abt nieder, der nochmals für den Fürsten betete und ihm seinen Segen erteilte. Die anschließende rituelle Handlung stellte für die Benediktiner von St. Peter wie für das für fromme Eindrücke empfängliche Gemüt des Herzogs einen der Höhepunkte der Feiern von Gent dar: Abt Johannes umgürtete ihn mit dem „Schwert des Glaubens“,

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wobei er die überlieferte Formel sprach: Accingere gladio tuo super femur tuum, potentissime, et attende quia sancti, non gladio sed per fidem, vicerunt regna.247 Hier wird also der Fünfzehnjährige einzig zum Hüter des Glaubens und der Kirche berufen, wobei allerdings vorerst nur Kloster und Kirche von St. Peter seine Schutzbefohlenen sind.248 Der Bereich, in dem Karl als Schutzherr der Kirche auftreten sollte, blieb also einstweilen überschaubar: Schon wenige Jahre später, bei seiner Krönung zum Römischen König in Aachen 1520, wurde Karl durch ein ähnliches Ritual, das unverzichtbarer Bestandteil des Krönungsordo war, auf den Schutz des Glaubens und der ganzen, einen, heiligen katholischen Kirche vereidigt, ein Eid, den er bei seiner Kaiserkrönung 1530 in Bologna vor dem Papst erneuerte und bekräftigte. Vor dem Hauptaltar kniend, mit der rechten Hand auf dem Evangelienbuch, leistete Karl den Schwur in französischer Sprache (sub ydiomate gallico): Nous, Charles, conte de Flandres, jurons à garder, comme bon et loyal gardien, sans moyen, bien et loyalement contre tous et vers tous, tous les priviléges, libertez, franchises, usaiges, coustumes, biens, possessions, personnes, subjects et familiers de ceste esglise de Sainct-Pierre au mont Blandin, fondée de noz prédécesseurs royz de France. Ainsy me veulle Dieu ayder, les sainctz dont les corps reposent cyens [céans] et tous les sainctz du paradis. Amen.249

Nach dem Abschluß der sakralen Handlung bat der Abt den Herzog zu einem Imbiß in sein Haus. Vor dem Betreten der Abtswohnung spielte sich eine kleine Szene ab, die der Verfasser des Textes, der sonst auf schmückendes Beiwerk verzichtet, gewiß nicht ohne Absicht erwähnt: Der Abt und sein Gast trugen einen höflichen Disput darüber aus, wem der Vortritt gebühre. Schließlich gab Karl den inständigen Bitten des Geistlichen nach und schritt voran. Mit Sicherheit soll damit mehr als die bonnes mœurs des Jünglings, mehr als seine humanitas und modestia unter Beweis gestellt werden: Ich möchte das Einflechten dieser Begebenheit darüber hinaus als Exemplum verstehen, das bereits in diesem frühen Stadium der Herrschaft Karls darauf verweist, wem im Falle etwaiger zukünftiger ernsthafter Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Macht der Vorrang zukommen sollte. Herolde mit flandrischen Fahnen und Wappen zogen dem Herzog voran, als er vom gastlichen Haus des Abtes aus auf kürzestem Wege auf die Stadt zuritt. 247 Voyages II 526. 248 Als Karl 1507 und 1516 das Schwert des Vaters bzw. des spanischen Großvaters verliehen wurde, schloß dieser Akt zwar auch die Verpflichtung zum Schutz der Kirche ein, verlieh ihm aber in erster Linie weltliche, insbesondere richterliche Gewalt. 249 Voyages II 527. Das Kloster wurde im 9. Jahrhundert gegründet; fondée de noz prédécesseurs royz de France kann sich nur auf die Zeitspanne beziehen, als Gent im Zuge der Reichsteilungen zum Westfrankenreich unter den französischen Karolingern gehörte.

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Deren Territorium betrat er auf einem großen Platz, damals Nova Platea genannt, über den dem Vernehmen nach die unsichtbare Grenze zwischen den Herrschaftsbereichen des Klosters und der Stadt verlief. Dort, auf städtischem Boden, erwarteten die weltlichen Vertreter Gents den Herzog. Es waren im wesentlichen dieselben Personen, die am Morgen zu Karls Empfang am Stadttor bereitgestanden hatten: die Juristen und hohen Verwaltungsbeamten. Sie geleiteten den Fürsten zur St.-Johannis-Kirche,250 an den Ort, an dem nach altem Brauch der Landesherr und Graf von Flandern den Eid auf seine Besitzungen, das Vaterland und die Grafschaft, auf sein Land und Volk von Flandern ablegte. In der Kirche und auf den umliegenden Plätzen hatte sich bereits eine vielköpfige Volksmenge eingefunden. Der Herzog251 durchschritt die Kirche unter Glockengeläut und stieg die Stufen vor dem Hochchor empor, so daß er auf diesem erhöhten Platz für die Abgesandten der vier Hauptorte Flanderns, der Städte und Dörfer des Genter Gebiets, für die bereits genannten Amtsträger der Stadt, den Adel und das Volk gut sichtbar war, als er als ihr neuer Landesherr durch Johannes Alaerdt im Namen der obersten Gerichtsbarkeit Gents (nomine clerici causarum sanguinis et criminalium) vereidigt wurde, wie es der Brauch war. Kniend sprach Karl die feierliche Eidesformel in der flämischen Landessprache: Dat zweerdi gherecht heere ende grave van Vlaenderen te zyne, ende datter toebehoort de heleghe kercke haer recht te houdene ende doen houdene, dlant van Vlaenderen in vrede, in recht ende in wette [= Gesetz] te houdene, ende te doen houdene, de vryheden, etc.252

Nach seinem Schwur führte Karl einige kleine Zeremonien aus, die traditionsgemäß den Regierungsantritt eines Grafen von Flandern begleiteten: So zog er beispielsweise das von roter Seide umflochtene Glockenseil und läutete die Glocke der größten Kirche von Gent – für die draußen Ausharrenden das Zeichen, daß die Stadt einen neuen Herren hatte. Einem Fünfzehnjährigen, auch wenn er von so ernsthafter Natur war wie Karl, müßte dies ein Vergnügen gewesen sein – aber davon berichtet die Quelle nichts.

250 Die größte Kirche Gents (seit 1559 auch Kathedrale) war damals Johannes geweiht; in früheren Kapiteln dieser Arbeit wurde sie unter ihrem späteren (und heutigen) Namen St. Bavo mehrfach als Ort großer Zeremonien erwähnt; so wurde Karl V. am 7. März 1500 in St. Bavo getauft. 251 Die Bedeutung des Augenblicks wird im Text dadurch unterstrichen, daß Karl nicht nur als illustrissimus princeps noster bezeichnet wird, sondern mit dem vollen Gewicht seiner großen Titel einzieht als illustrissimus et serenissimus princeps noster Karolus, princeps Hispanie, archidux Austrie, dux Burgundie et comes Flandrie. Auch die detaillierte Aufzählung der Zeugen der Zeremonie, unter denen alle flandrischen Orte und Stände vertreten sind, verleiht dem Bericht das nötige Gewicht. 252 Voyages II 528.

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Nach dem Verlassen der Kirche begab sich Karl über den großen Platz, den der Humanist forum Diei Veneris nennt, eine wohlklingende Latinisierung des Genter Vrijdagmarkt,253 zum Hoochhuus, wo sich die Bevölkerung zu Veranstaltungen und Zusammenkünften verschiedenster Art zu versammeln pflegte. Begleitet von einer großen Zahl von Schöffen stieg der Herzog zum Söller im oberen Stockwerk hinauf, während die übrigen Schöffen, die Dekane, die Geschworenen und Beamten gemeinsam mit vielen Gentern vor dem Gebäude auf dem weiten Platz ausharrten. Nachdem Ruhe geboten worden war, verkündete Johannes Alaerdt der wartenden Menge, daß Karl, der sich nun dem Volk am Fenster zeigte, durch seinen Eid Flandern und Gent in Besitz genommen habe und daß es jetzt an jedem einzelnen der Versammelten gelegen sei, die Einsetzung des Fürsten zu bestätigen. Alaerdt erläuterte die Bedeutung des tradtionellen Eides für die Gemeinschaft und den Einzelnen, ehe nach einem weiteren Moment der Stille die buntgemischte Menge, „das Volk von Gent“, mit erhobenen Händen und natürlich in der flämischen Muttersprache dem jungen Herzog Unterordnung, Gehorsam und Treue gelobte: Dat zweerdy uwen gherechten heere den prince van Spaengen, eertshertoghe van Oostenrycke, hertoghe van Bourgoingnen, als grave van Vlaenderen, die hier present ende voor ooghen es, goet ende ghetrauwe te zyne, zyne eerfachtichede, seignorien, heerlicheden ende palen te houdene ende helpen houdene, ende al te doene dat goede ondersaten haren gherechten heere sculdich zyn van doene. Alzo moet u God helpen ende alle Gods heleghen.254

253 Der Vrijdagmarkt war in der Vergangenheit oft Schauplatz feierlicher Versammlungen und fröhlicher Feste gewesen. Karl selbst hatte als Kind zusammen mit seiner Tante Margarete seinen Großvater Maximilian im Februar 1508 bei dessen Einzug in Gent begleitet, hatte den enthusiastischen Empfang miterlebt, den die Bevölkerung dem Kaiser bereitete und war Zeuge gewesen, als Maximilian auf dem Vrijdagmarkt den feierlichen Eid als Vormund ablegte und schwor, die Privilegien Gents zu respektieren und zu wahren. Vielleicht hatte er mit dem Großvater sogar den anschließenden Turnieren beigewohnt, die seiner Begeisterung für die Welt der Ritter neue Nahrung geboten haben können (n. Elslander 1960, 282). Diese Festlichkeiten wurden von den rhétoriciens beschrieben und in 300 Exemplaren im Druck veröffentlicht, die wohl sämtlich als verschollen anzusehen sind. 254 Durch die uneinheitliche Struktur von Karls Herrschaftsbereich waren unterschiedliche Formen der Eidesleistung bedingt, wie aus den Berichten über die Einzüge des Herzogs hervorgeht. Die Eide selbst unterschieden sich geringfügig im Wortlaut, jedoch nicht im Inhalt: Der Landesherr und das Volk versicherten sich der gegenseitigen Loyalität. Der Fürst gelobte ferner, die Kirche unter seinen Schutz zu stellen sowie die Rechte der Witwen und Waisen zu wahren. In den Landesteilen mit überwiegend frankophoner Bevölkerung wurden die Eide in französischer Sprache abgelegt; vgl. dazu die Berichte über Karls entrées in Namur (22.–24. November 1515) und Douai (15./16. Mai 1516) in Voyages II 553–558 (appendice VII/VIII, aus den jeweiligen Stadtarchiven).

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Das Amen des Eides war kaum verklungen, als das Volk in Jubel und Applaus ausbrach, worauf einer der Herolde des Herzogs Münzen mit dem Bilde Karls aus den Fenstern des Hoochhuus warf, die dazu beitragen sollten, den Eid, aber auch die Freude des denkwürdigen Tages im Gedächtnis zu bewahren. Ein letzter symbolischer Akt beschloß die öffentliche Zeremonie: Franciscus de Masteyn, seigneur de Masseme, Hoogh-Bailli von Gent,255 und sein Kollege, der Bailli Petrus de Hertoghe, übergaben ihre Amtsstäbe bescheiden und untertänigst dem Herzog als Zeichen des Gehorsams, den sie ihm schuldeten. Karl nahm ihre Herrschaftsinsignien entgegen und würdigte die symbolische Geste in angemessener Form. Darauf gab er den beiden die Amtsstäbe zurück: In seinem Namen und in Übereinstimmung mit seinen Anordnungen sollten sie wie bisher ihres Amtes walten. Unter Ausschluß der großen Öffentlichkeit versammelte Karl anschließend die Schöffen und die Rechtsvertreter der Stadt,256 die er zunächst mit milden Worten ermahnte, stets ihres Eides eingedenk zu sein, um sie dann in ihren Ämtern zu bestätigen. Mit der Protokollierung dieses für die Zukunft relevanten Rechtsakts endet die Narratio, die sich auf die genaue Darstellung der Ereignisse des 3. März beschränkt. Auch in diesem Punkt trifft die von Gachard hinzufügte Überschrift nicht den Sachverhalt, denn die Quelle verweist – ihrem Zweck und Charakter entsprechend – mit keinem Wort darauf, daß Gent am folgenden Tag ganz im Zeichen der joyeuse entrée stand. Dabei ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß Gent dem Sohn der Stadt einen glänzenden, wahrhaft freudigen Empfang bereitete, daß die Bürger, insbesondere die Zünfte, ihren Ehrgeiz darein setzten, die Häuser, Straßen und Plätze auf das Prächtigste herauszuputzen, daß sie mit lebenden Bildern und Darbietungen der Rederijkers ihren seigneur naturel feiern und erfreuen wollten. Ein knapper Hinweis darauf findet sich bei A. van Elslander.257 Diese Festlichkeiten mochten in der Chronik der Stadt beschrieben werden. In einem Dokument, das gegebenenfalls als Beweismittel herangezogen werden konnte, wären sie fehl am Platze gewesen. Für die Zukunft schriftlich fixiert wurden nur die vollzogenen Rechtsakte und das zugehörige Zeremoniell, von dessen Einhaltung die Wirksamkeit und Rechtsverbindlichkeit einer Hand255 Das Stadtregiment lag in den Händen des Hoogh-Bailli (supremus ballivus), was im Deutschen am besten mit „Stadtschultheiß“ wiederzugeben ist. 256 Sie werden hier maior et sanior pars genannt, womit mittelalterlicher Sprachgebrauch zwar nicht unbedingt den größeren Teil eines Gremiums oder einer Volksmenge bezeichnet, jedoch den entscheidenden, den vernünftigeren und urteilsfähigen. 257 1960, 283: „En 1515 le duc Charles est déclaré majeur et partout où le jeune prince se laisse inaugurer ont lieu des festivités et des représentations par les rhétoriciens, entre autres à Gand, à Bruges et à Middelbourg, où on donne des figurations tirées de l’Ancien Testament.“.

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lung abhängen konnten. Die Narratio läßt eindeutig erkennen, daß Karl am 3. März 1515 von einer Rechtshandlung zur nächsten eilte. Über diesen inhaltlichen Punkt hinaus weist die Quelle weitere klare Merkmale einer Beweisurkunde mittelalterlichen Typs auf, wenn diese auch nicht immer so sauber getrennt erscheinen wie in den Papst- oder Kaiserurkunden:258 (1.) Am Anfang steht die Invocatio mit der Anrufung der Heiligen Dreifaltigkeit. (2.) Intitulatio, Inscriptio und Arenga fehlen. (3.) Der Kontext beginnt mit der Publicatio: Presentis publici instrumenti serie cunctis pateat evidenter et sit notum [...], an die sich die genaue Datierung more Romano anschließt. Angegeben werden die Indiktion und die Pontifikatsjahre Leos X. Bemerkenswert ist, daß die Kaiserjahre Maximilians I. nicht aufgeführt sind: Er war nur Erwählter, nicht gekrönter Kaiser. Die „Ersatzhandlung“ von 1508 in Trient hatte nicht den päpstlichen Segen. (4.) Es folgt die oben ausführlich behandelte Narratio. (5.) Der Charakter der Urkunde macht Dispositio und Sanctio überflüsssig. Die Paragraphen, die an die Narratio anschließen, lassen sich dem strengen Grundmuster nicht exakt zuordnen, enthalten aber alle erforderlichen Elemente einer Beweisurkunde. Zunächst galt es festzustellen, daß alle Zeremonien und Rechtsakte, die in der Narratio beschrieben sind, so vollzogen worden waren, wie es dem alten Brauch entsprach, der vielfach mündlich überliefert und in den Kirchenbüchern und Registern des Klosters und der Kirche von St. Peter schriftlich festgehalten war.259 Fehlt, wie oben erwähnt, in dem Dokument die Intitulatio, so führt der Verfasser im nächsten Paragraphen aus, daß er die Urkunde auf ausdrücklichen Wunsch Karls zur fortwährenden Erinnerung, als Zeugnis und 258 Zu dem für derartige große Urkunden verbindlichen Formenapparat Brandt 1998, 90 f. 259 Voyages II 529. Dieser Vermerk beweist, daß die Abfolge und der zeremonielle Rahmen der rechtlich relevanten Handlungen auf einem schriftlich fixierten, also auf „ewige“ Gültigkeit angelegten Ordo basierten, daß der Anlaß zu wichtig war, als daß man sich auf Tradition und mündliche Überlieferung verlassen hätte, wie die häufige Verwendung von antiqua consuetudo, consuetum est u.ä. im Urkundentext zunächst vermuten läßt. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Ordo in Anlehnung an das Zeremoniell für den Einzug der französischen Könige entstanden, da die ersten Herzöge von Burgund dem Hause Valois entstammten. Unverkennbar zeichnen sich in dem Zeremoniell für den Einzug des Herzogs von Burgund und Grafen von Flandern jedoch auch die Phasen ab, die sich seit dem 10. Jahrhundert für den Introitus der Herrscher anläßlich ihrer Krönung zum Römischen König bzw. Kaiser herausgebildet haben und in den entsprechenden Ordines festgeschrieben wurden: die Nächtigung vor den Toren der Stadt, adventus, occursio, deductio. Auch die Verleihung des Schwertes zur Verteidigung von Kirche und Glauben gehört in diesen Kontext. Die Ordines konnten bis zu einem gewissen Grade flexibel gehandhabt werden; eine Anpassung an lokale Gegebenheiten, an den Zeitrahmen und besondere Situationen war möglich. So erklärt sich für Gent die Abweichung von der klaren Gliederung des Einzugs durch die mehrfache Überschreitung der Grenzen zwischen geistlichem und weltlichem Territorium.

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zur Bestätigung des Geschehens ausgefertigt, öffentlich gemacht und notariell beglaubigt habe.260 Es folgen nochmals eine genaue Angabe der verschiedenen Örtlichkeiten, an denen die Rechtsakte vollzogen wurden, ferner ein Hinweis auf die eingangs erwähnte Datumsangabe und die namentliche Aufführung der Zeugen, die während aller relevanten Handlungen anwesend waren. Genannt sind u.a. Philipp von Ravenstein, conseiller und Verwandter des Herzogs, Pfalzgraf Friedrich, der bereits bei der Emanzipation in Brüssel als Vertreter Maximilians zugegen gewesen war, Jean le Sauvage, der Regierungschef, hier als „Erzkanzler“ bezeichnet, Antonio Metteneye, Protonotar des Heiligen Stuhls. Es fällt auf, daß Guillaume de Croy-Chièvres nicht in dieser Liste erscheint. Obwohl der Einflußreichere, hatte er hier hinter dem ranghöheren Kanzler zurückzutreten. Am Schluß des Dokumentes gibt der Verfasser im Notariatsinstrument der Urkunde seine Identität preis: [...] ego, Guillermus Bertrandi, presbiter, decretorum doctor, ecclesie collegiate Sancte Pharaildis opidi Gandensis, Tornacensis diocesis, prepositus, sacra apostolica auctoritate vicecomes et notarius publicus juratus [...]261

Der Priester und Jurist Guillermus Bertrandi war also ein von geistlichen wie weltlichen Autoritäten anerkannter Notar, der einen weiteren Geistlichen, den Magister Artium und Kanoniker Cornelius Van der Varent, ebenfalls sacra et apostolica et imperiale auctoritatibus notarius publicus et juratus, zur Beglaubigung der Urkunde hinzuzog. Um Fälschungen vorzubeugen, beschreibt Bertrandi die äußere Form des Dokuments und erwähnt das wichtige Beweismittel eines roten Wachssiegels.262 Über den jungen Herzog, der in Gent eine der ersten Bewährungsproben seiner Regierungszeit zu bestehen hatte, sagt die Quelle nur indirekt etwas aus. Er erscheint nahezu entpersonalisiert als der illustrissimus princeps, der alle Rechtshandlungen den Vorgaben des Ordo gemäß vollzieht – und nur diese Tatsache soll die Urkunde für spätere Zeiten festhalten. Die Person Karl ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung: Sie verschwindet auch hier, wie schon am Beispiel der burgundischen Leichenfeiern gezeigt, hinter dem Zeremoniell. Daran ändern auch die schmückenden Zusätze wenig, die Bertrandi gelegentlich 260 Voyages II 529. 261 Ebd. 262 Ebd. 530. Nach zwei Zusätzen, die der Beglaubigung folgen, handelt es sich bei dem Genter Dokument um eine 1532 angefertigte und durch zwei Unterschriften beglaubigte Zweitkopie des Originals, das sich seinerzeit (1518) in Riplemonde/Rupelmonde befand. Angefertigt wurde sie auf ausdrückliche Anordnung Karls und sorgfältig mit dem Original verglichen. Blattzahl, Anordnung des Textes und Bindung sind genau beschrieben und das Ganze durch den damaligen Finanzminister und Verwalter der flandrischen Urkunden besiegelt.

Gent

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einflicht, um den Eindruck wiederzugeben, den Karl auf die Augenzeugen des Tages von Gent machte, so z.B. gloriose et seriose intravit; valefactione solempniter facta ad clerum; cum omni humanitate [...][virgas] eisdem ballivis restituit; scabinos bene et humaniter admonuit.263 Dies sind Topoi, die häufig dazu dienen, das Auftreten von Herrschern bei feierlichen Anlässen zu beschreiben und, ausgehend von einer Ausnahmesituation, für die Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild des jeweiligen Fürsten zu kreieren. Im Falle Karls stehen sie jedoch im Einklang mit dem, was unbefangene und nicht amtlich bestellte Beobachter in Briefen und Berichten mitteilen und lobend hervorheben. So wurden der feierliche Ernst, die beeindruckende Würde des jungen Herrschers bereits mehrfach erwähnt – Eigenschaften, die hier durch die humanitas mit ihrem weiten Bedeutungsspektrum ergänzt werden, sich zum Teil aber auch mit ihr decken: humanitas schließt auch Würde ein, dazu Milde, Freundlichkeit, Höflichkeit und ein Gefühl für das angemessene Verhalten gegenüber anderen in den unterschiedlichsten Situationen. Wenn der Fünfzehnjährige so auftrat (und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln), trug die langjährige Erziehung durch Margarete, aber auch durch Adrian von Utrecht, hier ihre Früchte. Die bewunderswerte Haltung und das hohe Maß an Konzentration, mit denen der jugendliche Fürst die Anforderungen meisterte, die ihm an den verschiedenen Stationen dieses langen Tages abverlangt wurden, dürften nicht zuletzt auf das Wirken und den Einfluß seines politischen Lehrmeisters Chièvres zurückzuführen sein. Als Gouverneur hatte er seinem Zögling früh die ritterlichen Tugenden vermittelt, sein Pflichtbewußtsein gestärkt und ihn nach der Emanzipation sogleich in eine harte Schule genommen, wie man aus Du Bellays Bericht weiß. So wird der premier chambellan den Herzog auf alle Details seiner entrée genauestens vorbereitet haben. Karl durfte keinen Fehler machen. Bisher hatte er nur kurze Ansprachen vor einem begrenzten Personenkreis gehalten. Jetzt mußte er die Scheu vor großen Auftritten überwinden, die er schon wegen seiner sprachlichen Behinderung empfand. Es ist anzunehmen, daß selbst die wenigen Szenen, die sich außerhalb des Protokolls abspielten, geplant waren. Hätte man beispielsweise Scharen von Verbannten in die unmittelbare Nähe des Herzogs vordringen lassen, wenn nicht eine Amnestie als Beweis der fürstlichen Gnade und Milde vorgesehen gewesen wäre? Die Vermutung, daß auch der kleine Disput vor dem Haus des Abts sich nicht zufällig ergab, sondern Teil der Inszenierung des neuen Herrschers war, wurde bereits angedeutet. Sorgfältiger Vorüberlegungen bedurfte gewiß die zum offiziellen Pflichtprogramm zu zählende Begegnung Karls mit den Schöffen und anderen Hütern des Rechts, die er in ihren Ämtern bestätigen sollte. Dafür gab es zwar feste Formeln, denn es handelte sich um einen Rechtsakt – mit welchen wohlgesetzten Worten erinnert aber ein 263 Voyages II 525. 529.

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Fünfzehnjähriger bene et humaniter weit ältere, erfahrene Männer an ihre Pflichten? Spontane Äußerungen wären unangemessen und von Karl ohnehin nicht zu erwarten gewesen, der nie, selbst nicht in reiferen Jahren, die Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit Maximilians erlangte. Der Quellentext legt Zeugnis ab von einer gelungenen und allen rechtlichen Aspekten Rechnung tragenden entrée Karls in seine Geburtsstadt Gent,264 er zeigt nicht, welche gründlichen Vorbereitungen und erheblichen Anstrengungen erforderlich waren, um einen reibungslosen Ablauf des Zeremoniells an den verschiedenen Stationen zu gewährleisten. Ebenso wenig läßt er erkennen, daß der noch unerfahrene Herzog während der monatelangen Inaugurationsreisen einem ständigen und schwierigen Lernprozeß unterworfen war: Auch dies war ein Teil seiner politischen Lehrzeit. Wenn sich die Zeremonien zum Einzug auch in vieler Hinsicht glichen, so daß er eine gewisse Routine erwerben konnte, stellte dennoch jede einzelne Stadt mit ihren Besonderheiten und den Eigenarten ihrer Bewohner eine neue Herausforderung dar. Der weitaus belastendere Teil dieses Lernprozesses muß jedoch der Kampf mit den eigenen Schwächen gewesen sein, mit der Unsicherheit und Unbeholfenheit in unerwarteten Situationen, und der Zwang, jederzeit dem Bild entsprechen zu müssen, das sich das Volk von seinem seigneur naturel machte oder machen sollte. Die Unfreiheit der frühen Jahre endete also keineswegs mit der Emanzipation.

Brügge Mögen auch andere flandrische Städte ihr Bestes gegeben haben, um ihren jungen Herrscher würdig und festlich zu empfangen, so hat doch keiner seiner Einzüge auf dieser Antrittsreise derartige Beachtung unter den Zeitgenossen und Widerhall in der Nachwelt bis heute gefunden wie „La triomphante et solennelle entrée de Charles-Quint en sa ville de Bruges, le 18 avril 1515“265 – so der auf neuzeitliches Maß verkürzte Titel der Beschreibung des Einzugs des Herzogs von Burgund in

264 An keiner Stelle wird übrigens diese besondere Beziehung Karls zu Gent erwähnt. 265 Unter diesem Titel erschien 1850 in Brügge ein transkribierter Nachdruck des 1515 von Gilles de Gourmont in Paris gedruckten Originals (u.a. Paris, BNF, Rés. Oc. 1659; Brüssel, BR, B 1553 [vgl. Puyvelde 1960, 289]; Dresden, SLUB, Hist. Belg. A.28) einschließlich der 33 darin enthaltenen Holzschnitte. Das Originalmanuskript im Besitz Margaretes (Wien, ÖNB, cod. 2591) ist bereits im ersten, 1516 darüber angelegten Inventar verzeichnet (unter dem irreführenden Titel L’entrée de Beges [!], couvert de velours vert, historyé et illuminé, qui se ferme à rubans de soye vert: Le Glay 1839, 2, 476); im Inventar von 1523/24 wird es aufgeführt als Item ung aultre moien, couvers de velours verd, qui se nomme: L’entrée de Bruges (Zimmerman 1885, CXV Nr. 663).

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Brügge aus der Feder seines Indiziars und Historiographen Remy Dupuys.266 Dieses Werk hat die großartige Inszenierung mit ihren Kunstbauten und tableaux vivants, die für nur einen Tag durch die gemeinschaftlichen Anstrengungen der Bürger von Brügge geschaffen wurden, über Jahrhunderte vor dem Vergessen bewahrt. Das Datum der entrée, das Dupuys im Titel seines Berichts nennt, stimmt überein mit den Angaben in Karls Itinerar: Am 18. April 1515 traf der Herzog, von Maldeg(h)em kommend, in Brügge ein. Der Tag der Eidesleistung war der 23. April. Wie in Gent war auch in der altehrwürdigen Handelsstadt ein längerer Aufenthalt vorgesehen. Erst am 10. Mai wurde die Reise fortgesetzt.267 Das Werk des Dupuys, in dem der Augenzeuge sich auf die Beschreibung der überaus prächtigen Gestaltung der joyeuse entrée beschränkt,268 ergänzt in vortrefflicher Weise das oben besprochene Dokument aus Gent, das allein die rechtlich relevanten Akte des Herrschaftsantritts beurkundet. Im Zusammenhang betrachtet ergeben beide Quellen ein Gesamtbild dessen, was eine joyeuse et solennelle entrée ausmachte. Der Einzug Karls in Brügge vollzog sich nach dem Muster, das die Ordines für den Introitus eines Herrschers vorgeben: Der Herzog hatte die Nacht außerhalb Brügges, in Maldeg(h)em, verbracht. Gegen Mittag des 18. April brach er von dort zu Pferde mit seinem Gefolge auf. Auf Schloß Male, dem alten Sitz der Grafen von Flandern,269 wurde ein Souper eingenommen, ehe man sich auf die letzte Weg266 Zu ihm sind nur wenige biographische Einzelheiten bekannt (das Folgende nach Strelka 1957, 34 f. und 163 Anm. 8–10). Gesichert ist, daß er „auf Vorschlag Margaretes von Österreich zum Historiographen des Kaisers Maximilian und Erzherzog Karls“ ernannt wurde, wie es ein Patent vom 15. Februar 1511, gegeben zu Mecheln, belegt. Er wurde damit zum direkten Nachfolger des Jean Lemaire, der sich damals in Frankreich aufhielt. Vielleicht war er in die Intrigen verwickelt, die letzten Endes zur Verdrängung Lemaires aus dem Dienst des Mechelner Hofes führten. Von Dupuys sind drei Werke erhalten, in denen er herausragende Ereignisse im Herrscherhaus in der altburgundischen Tradition des Olivier de La Marche darstellt: Es sind „malerische Beschreibungen fürstenhöfischer Zeremonien“ (35), eher Literatur als frühe Beispiele moderner Geschichtsschreibung. Die Entrée de Bruges ist das bekannteste dieser Werke; Dupuys verfaßte außerdem eine Beschreibung der Brüsseler Totenfeiern für Ferdinand von Aragon (163 Anm. 9). Ein Exemplar dieses Werkes, das auch im Druck erschien, ist im Inventar der Bücher Margaretes von 1523/24 aufgeführt (Zimmerman 1885, CXI Nr. 538); heute gilt es als verschollen. Vgl. oben 371 f. Anm. 159. Die dritte überlieferte Arbeit, eine Beschreibung der ersten Spanienreise Karls, liegt nur im Manuskript vor (Brüssel, BR. Ms. 10489; vgl. Strelka 1957, 163 Anm. 10). 267 Am 26./27. April stattete der Herzog L’Écluse (heute: Sluis, Grenzort auf niederl. Staatsgebiet) von Brügge aus seinen Antrittsbesuch ab. Alle genannten Daten nach Voyages II 15. 268 Obwohl Dupuys in seiner préface ausdrücklich erklärt, daß er nur einen Gesamteindruck des festlichen Geschehens vermitteln kann und will, um nicht durch Weitschweifigkeit zu ermüden, füllt seine Schilderung gut 50 Seiten. 269 Domke 1964, 58.

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strecke begab: Hier begann das Zeremoniell mit dem Adventus. Aus dem glänzenden Gefolge Karls seien hier nur einige herausragende Persönlichkeiten genannt: An erster Stelle Margarete von Österreich, ferner der Gesandte von Aragon, der Pfalzgraf Friedrich, der Herr von Ravenstein, der Fürst von Chimay, der Herr von Chièvres, Felix Graf Werdenberg, der Vizegraf von Gent als Vertreter der Konkurrentin Brügges, die Bischöfe von Arras und Badajoz, der seigneur de Fieves,270 dazu weitere Mitglieder des burgundischen Adels, Barone und Ritter en tresgrant nombre.271 Kurz vor den Toren Brügges erwartete den Herzog das Empfangskomitee der Stadt, das ihm „entgegengeeilt“ war, wie es der Ordo mit der Occursio vorsah. An der Spitze der Abordnung standen die seigneurs de la loy, die hohen Vertreter von Recht und Gesetz, mit den ihnen untergeordneten Beamten; die Bürger waren durch angesehene Kaufleute und Handwerker vertreten. Während die Juristen ihre roten Samtroben angelegt hatten, traten die Repräsentanten der Gilden und Zünfte in den burgundischen Farben des jungen Herzogs auf: in Rot, Weiß und Gelb. Selbst die 500–600 Pferde der Herren waren „burgundisch“ aufgezäumt und mit Federbüschen geschmückt. Von dieser leuchtenden Farbenpracht hob sich die Gruppe der seigneurs de la loy du Franc ab, die in ihrer schwarzseidenen Amtstracht erschienen waren: Sie vertraten den fränkischen Teil Flanderns, in dem fränkisches Recht, d.h. die Lex Salica, galt.272 Es fällt auf, daß die Geistlichkeit Brügges bei diesem Empfang nicht in Erscheinung trat, während deren Rolle bei der Beschreibung vergleichbarer Ereignisse meistens hervorgehoben wird. Die Bürgerschaft wollte ihren jungen seigneur naturel demütig und dabei doch freudig und voller Zuneigung begrüßen und ihm für die Zukunft Gehorsam versprechen. Diese Empfindungen fanden ihren Ausdruck in der lateinischen Ansprache des von der Stadt beauftragten greffier oraison. Dupuys gibt dieses Muster einer untertänigen Empfangsrede in voller Länge in französischer Übersetzung wieder.273 Bekundungen der Freude über die hohe Ehre, die der Stadt mit dem Besuch des Herzogs widerfährt, und die unvermeidlichen Bescheidenheitstopoi umrahmen einen überschwenglichen Panegyricus auf den jungen Herrscher, der von Gott auserwählt ist, die Schwachen zu unterstützen, die Verzweifelten zu trösten, jeden Zwist und Aufruhr zu beseitigen, Ruhe und Eintracht im Lande herzustellen. Schon seine Abkunft von königlichen Eltern, von kaiserlichen und königlichen Großvätern und nicht zuletzt von Herzog Karl von Burgund, Graf 270 Zweifellos ist hier der seigneur de Fiennes gemeint, der Gouverneur der Grafschaft Flandern. Vgl. oben 428 Anm. 154. 271 Dupuys 7. 272 Die Grafschaft Flandern bestand aus vier Landesteilen, manchmal auch Hauptorte genannt: Gent, Brügge, Ypern und le Franc. Das „Frankenland“, von Dupuys auch als plat pays bezeichnet, war von Philipp dem Guten mit Privilegien und Immunitäten ausgestattet und in die Grafschaft Flandern aufgenommen worden. 273 Dupuys 8 f.

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von Flandern, läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß dessen junger Nachfahre von Geburt an mit allen Herrschertugenden ausgestattet ist. Was die Natur Karl an hervorragenden Anlagen mitgegeben hatte, war durch seine Erziehung und den Rat erfahrener Männer zu voller Entfaltung gebracht worden. An dieser Stelle flicht der Redner eine Lobeshymne auf den Kaiser ein, der den verwaisten Enkel und dessen Länder mit weiser Hand während der langen Minorität gelenkt und den rechten Zeitpunkt erkannt hatte, an dem er die Herrschaft über das Erbe in Karls Hände legen konnte. Die Zeitgenossen, die um das gespannte Verhältnis Maximilians zu Brügge wußten, muß diese Passage der Rede haben aufhorchen lassen. Auch der heutige Leser ist zunächst irritiert, ehe er die Absicht hinter den Worten des greffier oraison erkennt: Das größte Verdienst des in jeder Hinsicht unübertrefflichen Kaisers bestand in seiner Zustimmung zu der vorzeitigen Emanzipation des Enkels, dessen langersehnte Ankunft man nun in Brügge festlich begehen konnte. Margaretes Anteil an der Erziehung des Prinzen und der Regentschaft über seine Länder wurde mit keinem Wort gewürdigt. Man hatte weder die Lasten vergessen, die sie dem Land auferlegt hatte, noch ihren Widerstand gegen Karls Entlassung aus der Vormundschaft. Sobald Karl dem Redner mit huldreichen Worten gedankt hatte, begann die letzte Phase des Einzugszeremoniells, die Deductio: Die Vertreter der Stadt zogen ihrem hohen Gast voran und geleiteten ihn bis zum Stadttor. Dem Zug der Bürger schloß sich, in hierarchisch aufsteigender Rangfolge, die Begleitung des Herzogs an. Die Mitglieder der maison eröffneten den Zug, der Kanzler und der conseil, die Ordensritter, die Bischöfe und Prälaten folgten,274 Trompeten und Hörnerklang kündigten das Nahen des Herzogs an. Der Oberstallmeister schritt mit dem Zeremonialschwert dem Fürsten voran, der ein edles spanisches Pferd ritt. Dupuys, der in seinem Bericht auf Details eigentlich verzichten wollte, wird an dieser Stelle seinem Vorsatz untreu und beschreibt ausführlich die glänzende Erscheinung von Roß und Reiter, vergißt auch nicht zu erwähnen, daß die Ausstattung des Herzogs für diesen einen Tag an die 100.000 Ecus gekostet habe. Im Stile der älteren Rhetoriker, der „pompösen Wortführer des schwer drapierten burgundischen Ideals, Chastellain, La Marche und Molinet“,275 bemüht Dupuys zusätzlich die Mythologie, um das zweifellos eindrucksvolle Bild vom Einzug des Herzogs von Burgund in literarisch überhöhter Form festzuhalten: [...] son acoustrement [...], dont au moyen de sa beauté naturelle et maintien confit en toute grace royalle, il sembloit mieulx à verité dire, ung Apollo, ou ung Mercure que ung corps humain entre ses princes.276

274 Dupuys 9. 275 Huizinga 1975, 471. 276 Dupuys 10. Karl sind im Laufe seines Lebens zahllose Lobpreisungen gewidmet worden. Daß er aber seiner „natürlichen Schönheit“ wegen dem Apollo gleichgesetzt wurde, dürfte

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Durch die porte Sainte Croix bewegte sich der Zug in die Stadt. Am Tor, das mit den Wappen Karls, Flanderns und Brügges geschmückt war, grüßte die Stadt ihren neuen Herrn mit einem lateinischen Gedicht, in dem die Hoffnung zum Ausdruck gebracht wurde, daß Karl den Niedergang Brügges aufhalten werde.277 An dem langen Weg, den der Zug des Herzogs durch die Stadt nahm, bis zum Hof der Herzöge von Burgund (Prinsenhof ), waren alle Häuserfronten mit Tüchern in den burgundischen Farben behängt und mit Wappen geschmückt; die Straßen wurden durch den Schein zahlloser Fackeln erhellt. Dupuys weist ausdrücklich darauf hin, daß die entrées stets nach Einbruch der Dunkelheit stattfanden, da in der Festbeleuchtung alle kunstvollen Dekorationen um vieles schöner erschienen als bei Tageslicht. Ein zusätzlicher Effekt wurde erzielt, als die Ältesten und Vorsteher der Zünfte in aschgrauen Gewändern und mit Fackeln in den Händen herantraten, um den Zug zu begleiten, und fünfzig junge Bürger, in burgundische Farben gekleidet, dem Herzog wie die Pagen bei höfischen Zeremonien das Geleit gaben.278 In gemeinsamer Anstrengung hatten die Bürger, insbesondere die Vertreter der Kaufmannsgilde und der Handwerkerzünfte, unter der geistigen Führung der heimischen Rederijkers ein Konzept entwickelt, dem sich die Einzelbeiträge zur Ausgestaltung der Einzugsroute mit kunstvollen Aufbauten unterordneten. Das beherrschende Thema, das alle Kunstbauten und Szenerien aufgriffen und variierten, war die Geschichte Brügges von den ersten sagenhaften Anfängen über den Aufstieg zur reichen Handelsmetropole bis zum Niedergang und dem beklagenswerten Zustand zum Zeitpunkt von Karls Regierungsantritt. Da nun die Stadt alle Hoffnung darauf setzte, daß Karl ihr zu neuer Blüte verhelfen würde, wurde er gleichsam in die Darstellungen zur Stadtgeschichte einbezogen als derjenige, der die Tugenden eines guten Herrschers in sich vereinte und dem es gegeben war, den Launen der Fortuna Einhalt zu gebieten. Die ephemeren Bauten, von denen einige die Höhe von vier Stockwerken erreichten, waren teils Repliken bedeutender Bauwerke der Stadt, teils Phantasieschöpfungen in Gestalt von Schlössern, Türmen, Toren, Triumphbögen und Galerien. Obwohl manche dieser vergänglichen Werke den Eindruck erweckten, als seien sie aus Marmor oder festem Mauerwerk, war alles in Holz von den kunstfertigen Zimmerleuten der Stadt aufgeführt worden. Man hatte diese Bauten nicht wie die echten Bürgerhäuser an diesem festlichen Tag mit farbigem Tuch oder Tapisserien behängt, sondern ihnen durch entsprechende reiche Bemalung das Aussehen wirklicher Gebäude verliehen: eine Illusion, die im Schein der Fackeln vollendet zur Geltung kam. Wo es sich anbot, hatte man auf einmalig sein. Unfreiwillig liefert der Chronist in seinem Überschwang hier ein Beispiel dafür, wie weit sich das Herrscherlob von der nüchternen Realität zu entfernen pflegte. 277 Dupuys 11. 278 Ebd. 12.

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den Kunstbauten Trompeter und Hornisten mit silbernen Instrumenten postiert, die dem Herzog, wenn er vorbeiritt, einen musikalischen Gruß entboten. Fast alle Bauwerke hatten zwei große Fenster oder Portale, die aufgeklappt werden konnten wie die Flügel eines Altars. Sobald der Festzug des Herzogs nahte, öffneten sich durch einen raffinierten Mechanismus diese Flügel, die auf der Innenseite mit den Figuren von Propheten oder allegorischen Gestalten bemalt waren. Deren Aufgabe bestand darin, mit den ihnen beigegebenen Schriftbanderolen auf das jeweilige Hauptmotiv zu verweisen, das durch zwei tableaux vivants illustriert wurde, die nach der Öffnung der Portale in den dahinterliegenden Kammern sichtbar wurden. Eine der Darstellungen bezog sich in der Regel auf ein Ereignis oder eine Phase der Stadtgeschichte, während das zweite Bild als Pendant ein vergleichbares Geschehen nach den Geschichten des Alten Testaments, aus der antiken Historie oder Mythologie wiedergab. Einige der Figuren der tableaux vivants konnten durch versteckte Mechanismen für Momente zum Leben erweckt werden, wenn sie nämlich zum Entzücken und Staunen der Betrachter bestimmte Bewegungen ausführten. Dupuys erwähnt mehrfach das lebhafte Interesse, das Karl diesen technischen Spielereien entgegenbrachte. Wie man aus diesem generellen Überblick schließen kann, war dem Historiographen mit der Beschreibung der mit vielerlei Details ausgestatteten Schaubilder keine leichte Aufgabe übertragen worden, mußte er doch jedes einzelne würdigen, um die Bürger nicht zu verletzen. Wo sich aus seiner Darstellung wegen der Kompliziertheit des Gegenstandes oder der Überfülle an Einzelheiten kein eindeutiges Bild ergibt, tragen die 33 Holzschnitte zur Klärung bei, die dem Druck beigegeben sind, auch wenn sie gelegentlich nicht völlig mit Dupuys’ Text übereinstimmen. Da von jedem der Kunstbauten, von jedem lebenden Bild eine Botschaft an Karl ausging, kann man sich nicht mit allgemeinen Bemerkungen zur Pracht und Schönheit der Dekorationen begnügen. Nur wenn man der Einzugsroute folgt, kristallisiert sich in aller Klarheit das eine Anliegen Brügges an Karl als das Thema heraus, das in immer neuen, einprägsamen Variationen veranschaulicht wurde. Auf dem ersten Schaugerüst hatte man einen großen Wald erstehen lassen, aus dem ein „wilder Mann“ hervortrat: Liederic, der sagenhafte Gründer Brügges, der sein Land und seinen Waldbesitz unter seine Kinder aufteilte. Seinen Sohn Ganymedes ließ er an der Herrschaft teilhaben und setzte ihn zum ersten Herrn und Richter über Brügge ein. Das zweite Schaustück war eine genaue Nachbildung des Portals der Stiftskirche Sint-Donaas.279 Eine Inschrift wies auf eine der 279 Sint-Donaas, zunächst der Heiligen Jungfrau geweiht, befand sich am heutigen Burgplatz von Brügge. Errichtet wurde die Kirche um 900 nach dem Vorbild des Aachener Doms innerhalb der neuen Burganlage der ersten Grafen von Flandern. Das angeschlossene Klo-

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ersten historisch faßbaren Gestalten aus den Anfängen Brügges hin: Graf Balduin I., genannt Eisenarm (d’Yserin), der Stifter der Reliquie des heiligen Donatianus. Das zugehörige Tableau zeigte die Übergabe des Reliquienschreins an die Stadt Brügge, die durch eine schöne, mit dem Stadtwappen geschmückte Jungfrau verkörpert wurde: Hüterin der Reliquie zu sein bedeutete eine Auszeichnung und gleichzeitig künftigen Segen für Brügge. Wie groß die Verehrung war, die der Reliquie entgegengebracht wurde, läßt sich aus dem Pendant des Tableaus erkennen: Dem Schrein des St. Donaas entsprach dort die Bundeslade, die David unter Freudenbekundungen in seine Stadt führte. Während diese ersten Aufbauten, die die Anfänge und Fundamente des Gemeinwesens veranschaulichten, offenbar auf die vereinten Anstrengungen der Bürgerschaft zurückgingen, hatten die neun membres der Stadt – die Kaufmannsgilde, die Zünfte und religiösen Bruderschaften der Handwerker – die Gestaltung der weiteren Schaubilder übernommen. Dabei stellten sie mit den Kunstbauten und den Tableaus in den meisten Fällen eine direkte Beziehung zu ihrem jeweiligen Gewerbe her. Die Kaufmannsgilde, deren Mitglieder dem Patriziat Brügges aus reichen Kaufleuten und Grundbesitzern angehörten, wurde durch einen detailgetreuen Nachbau des Schöffenhauses repräsentiert. Damit verwies sie auf ihre Rolle in der Stadtgeschichte, denn bis ins 13. Jahrhundert wahrte die Gilde das Privileg, allein aus ihren Reihen die Schöffen zu stellen.280 Eine liebliche Melodie erklang, als sich beim Eintreffen Karls die Portale vor den Tableaus öffneten: Sichtbar wurde ein Abbild des Grafen Dietrich von Elsaß, der im 12. Jahrhundert in Flandern regierte und dem Aufruf zum zweiten Kreuzzug folgte.281 Für seinen selbstlosen Einsatz im Kampf um die heiligen Stätten und sein tapferes Ausharren nach dem Abzug Ludwigs VII. von Frankreich und Kaiser Konrads III. empfing der Graf aus den Händen König Balduins III. von Jerusalem und des Patriarchen Weihnachten 1148 eine Phiole mit einigen Tropfen vom Blute Christi. Nach der Rückkehr des Grafen wurde für die kostbare Reliquie in Brügge eine eigene Kapelle errichtet, in der sie noch heute gehütet wird.282 Das Tableau sollte gewiß ster, im 13. und 14. Jahrhundert Wirkungsstätte der Brügger Buchmaler, und die Kirche fielen der Französischen Revolution zum Opfer. Vgl. Domke 1964, 75. 83. 103. 133. 280 Als die Handwerker zu Wohlstand gelangten und sich ständisch organisierten, setzten sie mit neugewonnenem Selbstbewußtsein ihren Anspruch auf Mitwirkung in allen städtischen Angelegenheiten durch (s. Domke 1964, 77). 281 Dupuys 15. Das zweite Tableau stellte den siegreichen Heraclius dar, der der Stadt Jerusalem das heilige Kreuz übergab. Vermutlich ist der Träger dieses Namens gemeint, der 451 als comes am Konzil von Chalkedon teilnahm und 470 über die Vandalen in Africa siegte (Adolf Lippold, Art. Herakleios 4, in: Der Kleine Pauly 2 [1975] 1046). 282 Zur Legende vom Heiligen Blut und zur Geschichte der Reliquie wie auch der ihr geweihten Kapelle s. Domke 1964, 118–123; ebd. 123–128 schildert D. aus eigener Anschauung die Heilig-Blut-Prozession, die alljährlich im Mai zahllose Gläubige und Schaulustige

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auch eine Botschaft an Karl übermitteln: Man hoffte, daß er eines Tages dem Beispiel Dietrichs von Elsaß folgen und sich einem Kreuzzug anschließen, für die Befreiung des Heiligen Landes von der Herrschaft der Ungläubigen kämpfen und dem Vordringen der Türken nach Europa Einhalt gebieten würde. Die Bedeutung der einzelnen Zünfte für das Wirtschaftsleben der Stadt ließ sich aus der Reihenfolge ihrer Kunstbauten an der Einzugsroute ablesen: Die Zunft der Tuchmacher, in der die vier Gewerbe zusammengeschlossen waren, die in der Tuchherstellung eine Rolle spielten, war die angesehenste und lange Zeit auch die reichste der Handwerkervereinigungen. Wie die Kaufleute hatten sie ein repräsentatives Gebäude der Stadt als Schaustück errichtet, zu dem ihr Berufsstand in enger Beziehung stand: die alte Markthalle, als deren Keimzelle die sog. Lakenhalle gilt und aus der das berühmteste Bauwerk Brügges, der mächtige Belfried, emporwächst. Dupuys rühmt die vollendete Gestaltung des Nachbaus: [...] lesquelz [les quatre mestiers] firent à lexemple des bourgeois haultement eslever et bastir au vray, en perfection de toutes les parties les maisons marchande appellée la vielle halle avec sa tour en la mesmes forme quelle est assise sur le marche de la dite ville [...]283

Mit der Gestalt des Louis de Nevers wurde in dem einen Tableau an den Grafen von Flandern erinnert, der Brügge reiche Privilegien verliehen hatte. Wie hoch dieser Rechtsakt für die Entwicklung der Stadt und ihrer Gewerbe eingeschätzt wurde, ließ das Pendant des Bildes erkennen, auf dem Moses zu sehen war, der mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabstieg. So ging auch von dieser Darstellung ein Appell an Karl aus: Er sollte sich für die Erneuerung der für die Stadt lebenswichtigen Privilegien für den Englandhandel einsetzen. Das große Schaubild, mit dem die Zunft der Fleischer und Fischhändler die Bedeutung ihrer Gewerbe für das Land herausstellen wollte, fiel deutlich aus dem Rahmen des bisher Gezeigten: Auf ein Podest hatten sie ein Landschaftsbild montiert, das allerdings höchst untypisch war für die Niederlande. Zwei hohe Berge ragten auf, von denen der eine üppige Weiden trug, auf denen wohlgenährtes Vieh graste, während der andere, kahl und felsig, den Fischreichtum der Bäche und Seen vorführte. Zunächst etwas unmotiviert mochte es den Betrachtern erscheinen, daß man in dieser unwirtlichen Gebirgsszenerie auch die Gestalten von Seeleuten erblickte.284 Dennoch ließ sich das Bild deuten: Die beiden Zünfte wollten ihre Gewerbe als Glieder in einer Kette verstanden wissen und alle diejenigen mit einbeziehen, die mit ihrer Arbeit die Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln sicherten: Bauern, Hirten und Fischer, aber auch die Seeleute, die nach Brügge führt. Allem Anschein nach versteht man in der flandrischen Stadt noch heute höchst eindrucksvolle Feierlichkeiten auszurichten. 283 Dupuys 17. 284 Ebd. 18 f.

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auf ihren Schiffen Fleisch und Fisch als Handelsgüter transportierten. Gewerbefleiß und Handel hatten Brügge bisher reich gemacht, so die etwas verschlüsselte Aussage des Bildes. Siebzehn Handwerksberufe hatten sich zusammengefunden, um den nächstfolgenden Bau zu errichten, dessen Formen wieder der Konvention entsprachen, der jedoch durch seine gewaltigen Ausmaße auffiel. Ganz aus Holz war ein Schloß mit siebzehn Türmen und Türmchen errichtet worden, wobei jeder Turm das Wappen eines der Gewerbe trug. Zwischen zwei dicken Türmen war ein vergoldetes Tor eingelassen. Als es sich öffnete, erschien ein stattlich aufgerichteter Löwe, das Wappentier Flanderns und seines Landesherrn. In einer Pranke hielt er ein Eisen, in der anderen einen Feuerstein: beide symbolträchtige Bestandteile des Colliers des Ordens vom Goldenen Vlies. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich die Begeisterung des jungen Ordenschefs vorzustellen, als der Löwe Eisen und Feuerstein aufeinanderzuschlagen begann, so daß die Funken sprühten.285 Die fünfte Zunft, die der Schmiede (einschließlich der Goldschmiede), hatte für ihr Bauwerk die außergewöhnliche Form eines Ziboriums gewählt. Auch diese Konstruktion gab zwei Tableaus frei: Eine Szene zeigte Philippe le Hardi, der das Stadtregiment Brügges ordnete, indem er zehn Bezirke einrichtete und sie sechs nobles homs unterstellte, welchen er die Schlüssel und den Schutz der Stadt anvertraute. Der Seitenflügel dieses Bildes war mit einem kunstvoll verschlungenen B verziert, das eine Krone trug: Nur eine Erinnerung an die königliche Abstammung der Burgunderherzöge oder auch Ausdruck der Hoffnung auf Erneuerung des Königtums durch Karl? Das Pendant zum ersten Tableau ließe sich ohne Dupuys’ Text und die Darstellung auf dem zugehörigen Seitenflügel für den heutigen Betrachter kaum deuten: Die abgebildete Gruppe von Männern in recht schlichten, der Tracht des 16. Jahrhunderts entsprechenden Gewändern steht für Romulus und hundert adlige Römer, die der Stadtgründer als Senatoren und erste Stadtregierung einsetzte. La cité de Romme, paincte bien au vray auf dem Seitenflügel läßt sich allenfalls durch die Figur des Erzengels Michael identifizieren, der

285 Dupuys 19. Vgl. dazu Prigent 1998, 71: „Le choix de la Toison d’or pour un ordre de chevalerie était riche de symboles. L’histoire de Jason était connue à la cour de Bourgogne principalement par les Métamorphoses d’Ovide. Dans l’optique de Philippe le Bon et de son entourage, les Argonautes devenaient les ancêtres des chevaliers et leur expédition préfigurait la croisade que le duc souhaitait mener pour libérer les lieux saints tombés aux mains des Infidèles. Pour ces raisons le duc adopta comme emblèmes de l’ordre et comme ornements du collier la toison d’or du bélier ainsi que des fusils d’où jailissent des étincelles qui évoquent les flammes que crachaient le dragon et les taureaux sauvages chargés de garder le bélier de Colchide.“

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sich übergroß mit seinem Schwert auf dem Castel Sant’Angelo erhebt; eines der runden Bauwerke soll vermutlich das Pantheon darstellen.286 An der St.-Johannes-Brücke wurde der erste Abschnitt der Darbietungen der Stadt zu Ehren des Herzogs mit einem Tribut an ihn selbst und seine Familie beschlossen: Die beiden Georgsbruderschaften der Holzhandwerker und Steinmetzen hatten ihr dort gelegenes Logenhaus mit den Porträts aller sechs Kinder Philipps des Schönen geschmückt, die in den Schein von 400 Fackeln getaucht wurden.287 An dieser Stelle gaben die Bürger Brügges die Regie der großen Inszenierung vorerst ab; hier begann das, was Dupuys le tryumphe des nations nennt: Von der Brücke bis zum Platz vor der ehemaligen Börse bewegte sich der Festzug durch die Quartiere der in Brügge ansässigen Ausländer. Obwohl die Stadt als Handelsplatz an Bedeutung verloren hatte, waren dort damals 34 Königreiche, Staaten und Kommunen durch Diplomaten, Bankiers und Kaufleute vertreten. Spanier und Italiener waren so zahlreich, daß sie kleine Kolonien gebildet hatten, die in enger Nachbarschaft in eigenen Quartieren lebten, an die noch heute Straßennamen erinnern.288 Die Nationen,289 die sich Karl in besonderer Weise verbunden fühlten, hatten es sich zur Ehre angerechnet, seinen Einzug mitzugestalten. Fackelschein erhellte auch ihre Straßen, die Häuser waren mit Tüchern und Wappen geschmückt, aber an die Stelle der Farben und Embleme Burgunds traten die der Nationen. Ihre aufwendigen Kunstbauten und Tableaus beschworen keine Erinnerungen an das mittelalterliche Brügge herauf. Sie feierten Karl nach ihren eigenen Traditionen und mit Zeugnissen ihrer Kultur. Wie einige Beispiele zeigen werden, sahen sie in ihm mehr als den neuen Herzog von Burgund. Die Spanier stellten ihn als ihren künftigen König dar, obwohl die Frage der Nachfolge noch keineswegs entschieden war.290 Übertroffen wurde diese Präsentation der Spanier durch Triumphbauten, die Karl bereits als Erben der Kaiserwürde und Weltenherrscher verherrlichten. Die Aragonesen hatten verständlicherweise keine derartigen Zukunftsvisionen in Bauten und Bilder umgesetzt. Ihr Beitrag bestand in zwei grundverschiedenen, ausgeklügelten technischen Konstruktionen, die jede auf ihre Art die Teilnehmer des Festzuges, nicht zuletzt den Herzog, außerordentlich beeindruckten. Bei dem ersten Bauwerk handelte es sich um 286 Dupuys 21. 287 Ebd. 22. 288 Domke 1964, 81. 289 Dupuys’ Verständnis von nation ist noch ganz mittelalterlich. Als Gestalter des Triumphzuges nennt er Biscayns, Arrogonnoys, Ostrelins (die Deutschen oder Oosterlinge, meistens als Vertreter der Hanse aufzufassen; A.S.), Espaignolz (manchmal, jedoch nicht konsequent, für die Kastilier verwendet) sowie die trois nations Italicques, Geneuoys, Florentins, et Lucoys. 290 Es ist allerdings zu bedenken, daß es sich bei den Spaniern in den Niederlanden vorwiegend um ehemalige „Felipisten“ handelte, die zu überzeugten „Carlisten“ geworden waren.

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einen hohen Turm, der im Erdgeschoß zwei Tore aufwies. Soldaten in den Farben Aragons traten zum Klang von Pfeifen und Trommeln unter der gelb-roten Standarte ihres Landes zum Angriff auf die Zugänge zum Turm an. Dabei bedienten sie sich der modernsten Waffen ihrer Zeit: Sie fuhren schwere Artilleriegeschütze auf. Wenn der Beschuß auch nur eine fingierte Attacke auf einen hölzernen Turm war, so löste er doch gewaltigen Lärm aus, unter dem das Bauwerk in Trümmer fiel. Karl, der Enkel des kriegerischen Ferdinand und Maximilians, dessen Artillerie damals die modernste der Welt war, begeisterte sich so für das Schauspiel, daß er es noch einmal bei Tageslicht sehen wollte. Selbstverständlich war man bereit, dem Herzog diesen Wunsch zu erfüllen; nur mußte vorher ein neuer Turm errichtet und die Technik neu installiert werden. Soweit Dupuys es verstanden hat und zu erklären vermag, wurde der Turm von innen regelrecht verkabelt: Von der Kanone, wo das Pulver gezündet wurde, führten verborgene Zündschnüre, über die sich das Feuer und die Explosionen fortpflanzten, bis zur Spitze des Turmes. Am folgenden Sonntag sollten Karl und ein glücklicherweise kleines Gefolge die Wiederholung dieser pyrotechnischen Inszenierung aus sicherer Entfernung, von der Brücke aus, verfolgen. Dies wäre nicht erwähnenswert, wenn sich dabei nicht ein Zwischenfall ereignet hätte. Möglicherweise hatte der Feuerwerker, der das Pulver zünden sollte, sich in der Zeit verschätzt, so daß das Feuer in dem Augenblick aus dem Turm herausschoß, als Karl und Margarete sich in unmittelbarer Nähe aufhielten und die Holzkonstruktion mit großem Getöse zusammenstürzte. Dupuys als Augenzeuge beschreibt die Reaktionen von Menschen und Rössern: gens et chevaulx si hastivement surprys du grant bruyt ensemble de la flamée et fumée [...] furent moult estonnez.291 Karl, hoch zu Roß, sah sich von allen Seiten von Menschen umgeben, die zu Boden geschleudert worden waren, wurde aber durch seine Lakaien bald aus der bedrängten Lage befreit. Margarete hingegen, in ihrer Sänfte zwischen Menschenmassen eingeschlossen, mußte länger auf Hilfe warten. Nachdem alles glimpflich ausgegangen und außer versengten Kleidern kein Schaden zu beklagen war, dürfte der fünfzehnjährige Herzog den Zwischenfall als kleines, nicht unwillkommenes Abenteuer in Erinnerung behalten haben. Unweit des besagten Turmes hatten die Aragonesen drei kunstvoll bemalte Tabernakel errichtet. In der offenen Kammer des mittleren erblickte man die Figuren eleganter Kavaliere und Damen, die, auf geheimnisvolle Weise bewegt, zum Klang von Tambourins zu tanzen begannen: en tresgrant plaisir et recreation du prince et de tout les passans.292 Ein völlig anderes Bild bot sich am Platz der Oosterlinge, die sich mit ihren Schaustücken als Vertreter des Reiches und treue Anhänger des Kaisers zu erken291 Dupuys 24. 292 Ebd. 25.

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nen gaben. Rote Tücher, auf denen die Wappen des Kaisers, der Kurfürsten und der „Nation“293 prangten, bedeckten die Häuserfronten. Drei große Portale, als Triumphbögen konzipiert, wenn auch etwas „hölzern“ geraten, waren am Eingang, an einer Seite und am Ausgang des Platzes errichtet worden. Sie waren mit großformatigen Szenen bemalt, deren sehr eindeutige Aussage vermutlich manchem Niederländer mißfallen hat. Die dem Platz zugewandte Schauseite des ersten Bogens zeigte Atlas, trotz seiner Stärke gebeugt und unter der Last fast zusammenbrechend, denn auf seinen Schultern ruhte nicht das Himmelsgewölbe, sondern die Bürde der ganzen Welt. Ihm kam ein mächtiger Löwe zu Hilfe, der mit seinen starken Vorderpranken die Weltkugel stützte. Denjenigen, die trotz der angebrachten Wappen des Kaisers, des Herzogs und des Reiches die Darstellung nicht zu deuten wußten, lieferte Dupuys die Interpretation: Ce que ie nentends signifier aultre chose fors que le prince du lyon [Karl, der „flandrische Löwe“; A.S.] viendra soubz la charge; cest à entendre au regne et domination de luniversel monde.294 Das noch größere Gemälde über dem zweiten Portal bekräftigte diese Aussage: Abgebildet war der junge Alexander auf seinem wilden Roß Bukephalos, das er als einziger zu zähmen wußte, während Philipp von Makedonien dem Sohn in die Zügel griff und ihm den Rat erteilte, sich ein größeres Reich zu suchen, da das des Vaters für ihn zu klein sei. Pikanterweise trug der Bukephalos auf seinen Hufen die Buchstaben G, B, F und Y, die für die vier Landesteile Flanderns standen.295 Wie Alexander sich das ungebärdige Roß gefügig machte, sollte Karl als naturel et droicturier seigneur das aufsässige Flandern zum Gehorsam zwingen. Dupuys versucht dem Bildgehalt etwas an Brisanz zu nehmen, indem er dem Kaiser andere Worte in den Mund legt, als sie Philipp zugeschrieben wurden: Danach sollte Karl nicht nach fremden Reichen streben, sondern die empfangen und bewahren, die ihm rechtmäßig zustanden. So der Text; die Worte des Verses, der in großen Lettern über dem Bild jedermann sichtbar war, konnte Dupuys damit nicht entschärfen und nahm sie in seine Beschreibung auf: Quant Philippe vit rendre ainsi Bucifal dompt Si dict à Alexandre, tout le monde test prompt. Le pareil te promet Charles trespuissant Cesar, puysque à toy est Flandres obéissant.296

293 Dupuys 26: maintz riches blasons des armes de lempereur, des electeurs, et de la dicte nation. Weder aus dem Text noch aus dem zugehörigen Holzschnitt wird klar, was Dupuys hier unter nation versteht. 294 Ebd. 295 Dies geht nur aus Dupuys’ Text hervor; auf dem Holzschnitt, wie er wenigstens im Nachdruck von 1850 wiedergegeben ist, fehlt jede Andeutung davon. 296 Dupuys 27.

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Als Hofhistoriograph schrieb er nicht für das flandrische Volk, das sich durch diese Zeilen angegriffen fühlen und Unterdrückung fürchten konnte, sondern im Sinne Karls, des neuen Alexander, der mit berechtigten Hoffnungen auf ein großes Erbe gerade am Anfang seiner Herrschaft stand. So gesehen relativieren sich auch Dupuys’ abmildernde Worte von der Beschränkung auf die Wahrung des rechtmäßigen Erbes, da dieses größer sein konnte als selbst das Reich Maximilians. Die dritte Triumphpforte zeigte ein großes Bild des Kaisers, der erhöht über den Kurfürsten thronte. Zwar entsprach diese Anordnung der Figuren derjenigen des Antwerpener Holzschnitts,297 doch die Grundstimmung des Gemäldes war eine andere: Hier war kein von der Bürde des Amtes gezeichneter, apotheotisch verklärter Maximilian dargestellt, sondern ein kraftvoller Kaiser in seiner ganzen irdischen Machtfülle und imperialen Majestät. Die Präsenz der Kurfürsten im Bilde könnte allerdings auf ihr Gewicht als „Kaisermacher“ hinweisen, die eines Tages den Nachfolger Maximilians zu küren haben würden, an dessen Identität für die Oosterlinge jedoch kein Zweifel bestand. Die Straße der Spanier betrat Karl mit seinem Gefolge durch das mittlere Tor eines zinnengekrönten Schloßbaus, der durch seine Bemalung wie aus festem Mauerwerk aufgeführt wirkte. Die Wappen Spaniens und Burgunds betonten, daß Karl durch seine Eltern beiden Ländern gleichermaßen verbunden war.298 Offenbar führte die Straße der Spanier an einem der Wasserzüge Brügges entlang, denn anders wäre das eindrucksvolle Spektakel nicht zu inszenieren gewesen, das sich Karl und seiner Begleitung nach dem Durchschreiten des Schloßtores bot: Auf dem Gewässer wurde eine Seeschlacht ausgetragen, in der die Kräfteverhältnisse höchst ungleich verteilt waren, wie es der Holzschnitt mehr als deutlich vor Augen führt: Ein gewaltiges, drachengeschmücktes türkisches Kriegsschiff, mit Kanonen ausgerüstet, stark bemannt mit Seeleuten und lanzenschwingenden Soldaten, alle gekleidet à la turquesse, beherrscht das Bild. Im Vordergrund sieht man zwei christliche Galeeren, wenig bewaffnet und klein wie Ruderboote, die den scheinbar aussichtlosen Kampf mit den Ungläubigen aufnehmen. Das Gefecht, dessen Ausgang vorhersagbar ist, wurde vor den Zuschauern ausgetragen: Die christlichen Seefahrer enterten das Kriegsschiff; die Türken leisteten kraftvoll Widerstand; schließlich kämpfte man mit bloßen Händen Mann gegen Mann. Nach etwa einer Stunde war der türkische Widerstand gebrochen. Damit hatten die Spanier ein Schauspiel geboten, das alle Anwesenden begeisterte und nach dem Herzen des jungen Herzogs gewesen sein dürfte, der, durch die Lektüre der Ritterromane für den Kreuzzugsgedanken entflammt, es sich zum Ziel setzte,

297 Vgl. oben 446 f. 454 f. 298 Dupuys 29.

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selbst gegen die Ungläubigen zu ziehen. Daher dürfte die Inschrift, die über den Galeeren angebracht war, ganz in seinem Sinne gewesen sein: Prince puissant accepte le presaige De tous les Turcs soubmectre à ton servage.

Für Karl hätte es der erläuternden Worte seines Historiographen nicht bedurft: Car ce combat ne vouloit signifier aultre chose que lunyverselle et tresglorieuse victoire advenyr à ce noble prince de tous les ennemys de la foy chrestienne [...].299

Auf der Augustinerbrücke hatten die Spanier einen weiteren gewaltigen Schloßbau errichtet, der, in der Konstruktion dem ersten ähnlich, mit seinem Wappenschmuck auf Kastilien verwies. Über das große Mittelportal verlief ein Spruchband mit den eindeutigen Worten: Tres noble sang des Espaignes vray hoir A toy seuffrent veuillez les recepuoir.

Als sich das Portal öffnete, erblickte man einen jungen König, der – das ist selbst im Holzschnitt unverkennbar – die Züge Karls trug. Die Abgesandten der Königreiche Kastilien, León, Aragon, Sizilien, Granada, Neapel und Navarra, kenntlich an ihren Wappenröcken, knieten, sechs Stufen tiefer als der Thron, vor dem neuen Herrscher und brachten ihm ihre Kronen dar. Dazu verkündete ein Spruchband ihre Worte: Sire nous te requerons de commander et prendre le règne sur nous. Zu beiden Seiten des Throns standen die Vertreter der drei Stände Kastiliens: die Geistlichen, die Granden und die Abgeordneten der Kommunen. Sie unterstellten sich dem König, indem sie der Reihe nach bekannten: Sire ta haulteur nous est touiours en memoire. – Tu es nostre chief si voulons obeyr à tes commandemens. – Tu es loeil de nostre direction si te debvons bien aymer et cherir. Dem Herrscher wiederum wurden Worte der Demut in den Mund gelegt, mit denen er die Aufgabe annahm, zu der Gott ihn berufen hatte und die er nach besten Kräften zu erfüllen gedachte.300 Versteht man die Darstellung dieser Huldigungsszene als reinen Ausdruck des Wunschdenkens der Exilspanier, dann hat man die harmlosere der möglichen Interpretationen gewählt. Nach den bekanntgewordenen politischen Aktivitäten dieser Parteiung am burgundischen Hof sehe ich hier jedoch den propagandistischen Versuch, ein Präjudiz zu schaffen, d.h. die spanische Thronfolge Karls einer breiteren Öffentlichkeit als unumstößliches Faktum zu präsentieren, zumal die Worte der in das Bild integrierten Gelöbnisse die Huldigung als bereits vollzogen erscheinen lassen. Selbst wenn man sich der ersten Deutung anschließt, bleibt das Tableau eine ungeheuerliche Anmaßung und eine Herausforderung Aragons, 299 Dupuys 30. 300 Ebd. 31.

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dessen Kronen die Exulanten, die eingeschworenen Gegner König Ferdinands, unter dem Wappen Kastiliens darbringen ließen. Die Reaktion des Botschafters von Aragon, der als einer der ranghöchsten Repräsentanten im Gefolge des Herzogs stets an der Seite der Erzherzogin Margarete genannt wird, ist ebenso wenig bekannt wie die seines Königs, der zweifellos von dem Vorkommnis unterrichtet wurde. Kennt man die weitere Entwicklung, so verstärkt sich der Verdacht, daß der „Staatsstreich“ vom März 1516 hier bereits gedanklich vorbereitet und dem jungen, beeinflußbaren Herrscher suggeriert wurde. Mit zwei weiteren Schaustücken, deren Schönheit einen fremdartigen Zauber ausstrahlte, präsentierten die Spanier ihr Land in einem ganz anderen, verlockenden Licht: Vor dem „Haus der Spanier“ erhob sich auf einer Art Baldachin, gestützt von zierlichen Pfeilern, ein Brunnen, aus dessen Schale eine kleine Säule aufragte. In der geschwungenen Architektur und den filigranen Pflanzenornamenten, die das gesamte Bauwerk überzogen, waren Anklänge an die reichen Zeugnisse maurischer Kunst in Spanien unübersehbar. Die Farben, in denen die Schmuckelemente ausgeführt waren, nämlich Gold, Silber und Azurblau, dürften den Eindruck des Exotischen unterstrichen haben. Ästhetisch weniger überzeugend, als Stilbruch, wirkt zumindest im Holzschnitt die kleine, etwas plumpe Gestalt eines nackten Mannes, der, zuoberst auf der Säule stehend, mit beiden hochgereckten Armen Weinranken hält. Für die Aussage des Bildwerks war er jedoch unentbehrlich, denn aus den Ranken strömte spanischer Wein, was den Brunnen für die Vorüberziehenden umso reizvoller machte. Wie eine Inschrift erläuterte, sollte Spanien hier als Quelle natürlicher Reichtümer dargestellt werden, die sich unter der Herrschaft des künftigen, mit allen Tugenden ausgestatteten Königs voll erschließen und damit Überfluß und Wohlergehen für das ganze Land bringen würden. Beim Eintreffen Karls erklangen aus den Fenstern des Spanierhauses harmonische Melodien, die ihn noch mehr entzückten als der schöne Anblick. In fürstlicher Manier dankte er, indem er reichlich Gold und Silber unter das Volk werfen ließ.301 Wie der köstliche Brunnen sollte auch ein zweites Schaubild vor Augen führen, wie Karl durch seine Herrschaft, wenn er sie richtig ausübte, Spanien in einen blühenden Garten verwandeln konnte, in dem Friede und Eintracht regierten. Wie man sich dieses Paradies vorstellte, demonstrierte ein Lustgarten, den man auf einem hohen Podest angelegt hatte. Von Girlanden umrankt, war er mit seinen exotischen Pflanzen, fruchttragenden Bäumen und zierlichen Blüten eine wahre Augenweide. In der Mitte des Gartens aber saß, in der Tracht eines zeitgenössischen Edelmannes, Orpheus, die Harfe schlagend.302 Seine sanften Weisen lockten von 301 Dupuys 32. 302 So der Text; der Holzschnitt zeigt ihn allerdings mit einer Viola oder Gambe.

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allen Seiten Vögel herbei. Auf die recht exotischen Tiere, die sich in dem Garten um den Harfenspieler tummelten, hatten seine Melodien die bekannte Wirkung. Sie war so stark, daß selbst zwei Wilde Männer, die offenbar in den Garten hatten eindringen und seinen Frieden stören wollen, hingebungsvoll lauschend am Zaun verharrten und ihre mächtigen Knüppel sinken ließen. Mit seiner Interpretation knüpft Dupuys die Verbindung zwischen Orpheus und Karl: Nicht mit Gewalt, sondern, wie Orpheus durch seine Musik, soll Karl durch seine Tugenden herrschen und auf sanfte Weise auch seine Gegner für sich gewinnen.303 Die Spanier, die Karl ebenso wie die Bewohner Flanderns ihrer Nation zurechneten, hatten neben der Brügger Bürgerschaft die meisten Beiträge zu seiner joyeuse entrée ersonnen. So folgten den oben beschriebenen lieblichen Intermezzi noch zwei Schaustücke, die dem jungen Herrscher vor Augen führten, was man von ihm erwartete und ihn auf seine künftigen Pflichten hinwiesen. Nach der Öffnung der Portale des ersten, schloßartigen Bauwerks boten sich den Blicken der Betrachter drei prächtige, wappengeschmückte Königssäle dar. In dem mittleren thronte der junge König über dem Rad der Fortuna, an dem die spanischen Kronen angebracht waren. Der Lauf des Rades wurde durch zwei allegorische Frauengestalten aufgehalten, die an ihren Attributen als die Tugenden Fortitudo und Temperantia zu erkennen waren. Auf der dritten, unteren Ebene des Bildes stand die ihrer Macht beraubte Fortuna zwischen den Verkörperungen der Justitia und der Prudentia. Die Hände der Entthronten wurden von den beiden Tugenden in Fesseln gehalten. Sie konnte in den Schicksalslauf nicht mehr eingreifen, und ein Spruchband verkündete: Je qui tout vainctz par vertus suys vaincue.304

Dieses Tableau hätte sich bestens zur Illustration eines Fürstenspiegels geeignet. So hat es auch Dupuys verstanden und entsprechend ausführlich kommentiert: Gott, die Natur und die hervorragenden Tugenden seiner Vorfahren haben Karl zum Herrscher über sechs [?] Königreiche bestimmt. Je größer aber der Herrschaftsbereich ist, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt, desto stärker ist er bedroht von dem unaufhaltsamen Lauf der Welt, den allein das Rad der Fortuna zu bestimmen scheint. Doch Fortuna ist nicht allmächtig: Durch die Befolgung weiser Ratschläge und die Wahrung herrscherlicher Tugenden kann ihrem Wir303 An dieser Stelle scheint auch Dupuys dem Zauber von Orpheus’ Spiel verfallen zu sein, denn ihm sind wohllautende Formulierungen in die Feder geflossen, als er mit Begriffen aus der Musik beschrieb, was man sich von Karls Herrschaft erhoffte (36): [il doit] si doucement accorder linstrument de sa conduyte, cest à dire linstitution de son regne en parfaicte consonance et melodieuse armonye de toutes excellentes vertus, que pour generalement attraire prochains et loingtains à la suyte [...]. 304 Dupuys 33.

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ken Einhalt geboten werden. Die mächtigen Reiche der Assyrer, der Perser, der Griechen und der Römer erlebten ihren Niedergang, als die Herrscher vom Pfad der Tugend abwichen, als gute Sitten sich in ihr Gegenteil verkehrten und damit die Schicksale der alten Weltreiche den Launen der Fortuna preisgegeben wurden. An dieser Stelle greift der Hofchronist die alte Vorstellung von der translatio imperii auf und, indem er bei seiner Auslegung des Bildes Karl in diesen großen Zusammenhang stellt, deutet er an, daß er in dem jungen Herzog den künftigen Römischen Kaiser und Träger des Imperiums sieht, den Weltenherrscher, dessen Thron nicht wanken wird, solange er mit Mut und Tapferkeit, Recht und Gerechtigkeit, Klugheit und Umsicht regiert und stets das rechte Maß wahrt.305 Ein Fürstenspiegel wäre unvollständig ohne Exempla. Auch die Gestalter des spanischen Tableaus verzichteten nicht darauf: In den beiden Thronsälen zur Linken und zur Rechten König Karls waren die römischen Kaiser dargestellt, die er sich zum Vorbild nehmen sollte: Traian le tres iuste empereur des Rommains natif d’Espagne [...] et Theodose tres chrestien et tres clement empereur des Rommains. Dem ist hinzuzufügen, daß auch Theodosius aus Spanien stammte.306 Wie am Eingang ihrer Straße hatten die Spanier auch am Ende ein großes Tor erbaut. Es wurde bekrönt durch die Türme und Kuppeln Jerusalems, die nach Ansicht des Chronisten wirklichkeitsgetreu nachgebildet waren: toutes ses 305 Dupuys 33–35. 306 Ebd. 34. Den Stolz der Spanier auf die drei römischen Kaiser, die Söhne ihres Landes gewesen waren – neben den oben genannten auch Hadrian –, nutzte gut fünf Jahre später Pedro de la Mota, damals Bischof von Palencia, in einer brillanten Rede am 31. März 1520 vor den Cortes in Santiago de Compostela. Als Karl nach seiner Wahl zum Römischen König und Kaiser von Spanien aus zu seiner Krönungsreise nach Aachen aufbrechen wollte, begegnete er erheblichem Widerstand von Seiten der Städte. Man fürchtete, daß der Kaiser seinen Sitz in Deutschland nehmen und Spanien auf Dauer fremden Statthaltern überlassen würde. Seine spanischen Reiche wären dann zur bloßen Geldquelle zur Finanzierung der kaiserlichen Politik herabgesunken. Daher verweigerte man ihm schon im Frühjahr 1520 die geforderten zusätzlichen Mittel (vgl. oben 297 f.). In dieser Situation ergriff Dr. Mota das Wort. Seine Argumentationslinie wird selbst in der knappen Zusammenfassung Habsburgs (1967, 146) deutlich: „Er pries vorerst die Größe Spaniens und seines Monarchen, ehe er geschickt den Gedanken einfügte, daß die Wahl Karls zum römisch-deutschen Kaiser eine große Ehre bedeute, nicht nur für den Herrscher, sondern noch mehr für das ganze Land. Denn seit eh, bekräftigte er, waren nur die Könige der Franken und der Deutschen zur höchsten politischen Würde der Christenheit gelangt. Zum erstenmal hatte ein Spanier echte Aussichten auf den Thron Karls des Großen. Als Kaiser sei der Spanier der König der Könige; sein Ruhm würde auf alle Spanier zurückstrahlen. Mota verwies auf die Geschichte und rief seinen Landsleuten in Erinnerung, daß ihre Heimat einst ein bedeutender Teil des Römischen Reiches gewesen war, dem es drei seiner ruhmreichsten Herrscher schenkte: Trajanus, Hadrian und Theodosius. Nun sei der Augenblick gekommen, diese Tradition wieder aufzunehmen.“ Diese Rede trug wesentlich dazu bei, daß die Cortes einlenkten, wenn auch widerstrebend und unter Auflagen.

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parties [contrefaicte(s)] bien au vray selon quelle siet auiourduy en Syrie. Das zugehörige Tableau zeigte den jungen König kniend vor dem Tor der heiligen Stadt, während drei Engel ihm den Sieg über die Ungläubigen prophezeiten. Noch deutlicher als in der fingierten Seeschlacht wurde damit die Kreuzzugsthematik wieder aufgegriffen. Karl mußte sich direkt angesprochen fühlen, als die Engel seinem Ebenbild im Tableau als symbolische Gaben das Stadtwappen, die Krone des Königreichs Jerusalem und die Schlüssel zum Stadttor mit den folgenden Worten überreichten: Nostre Seigneur est avec toy prince tres puissant, va et en icelle puissance deliveras Hierusalem. – La couronne te sera octroyée pour toy et les tiens à perpituité. – Je te donray les clefz de ce royaulme.307 Mit diesem unmißverständlichen Auftrag entließen die Spanier den künftigen Erben der Katholischen Könige, der sodann mit seinem Gefolge Einzug hielt auf dem weiträumigen Börsenplatz, den die drei italienischen Nationen der Genuesen, der Florentiner und Lucchesen in eine wahre via triumphalis verwandelt hatten. Den Eingang zum Platz wie den Ausgang bildeten zwei imposante Triumphbögen, à lantique, et selon questoit coustume de faire aux Rommains pour honorer leurs princes victorieux, wie der Chronist bewundernd vermerkt. Die lorbeerumrankten Bögen waren auf der rechten Seite durch eine hohe Galerie verbunden, während auf der linken Seite die geschmückten Häuser der Italiener den Platz begrenzten. In silbernen Lettern grüßte man den Herzog: A Charles qui doibt dompter le monde.308

Auf den beiden Triumphbögen führten Heldengestalten aus der antiken Mythologie und Geschichte dem jungen Fürsten vor, wie sie im Kampf gegen das Böse in der Welt und mächtige Feinde den Sieg davongetragen hatten. So erblickte man auf dem ersten Triumphbogen Bellorophon im Kampf mit der Chimaira, der Inkarnation aller Laster, sowie Kadmos in seinem Ringen mit dem heiligen Drachen. Die Helden auf dem zweiten Bogen streckten Karl entweder die Waffen entgegen, mit denen sie den Sieg errungen hatten, oder aber ihre kostbare Beute als Siegeszeichen.309 Perseus präsentierte seinen spiegelnden Schild, den er der gorgonenhäuptigen Medusa entgegengehalten hatte, Herkules einen der goldenen Äpfel, die er in Afrika erbeutet hatte,310 Odysseus die Waffen und den Harnisch 307 Dupuys 37. 308 Alle Grußworte, Inschriften und Spruchbänder entlang der gesamten Einzugsroute waren in lateinischer Sprache abgefaßt. Dupuys hat sie ins Französische übersetzt und z.T. auch versucht, die Versform wiederzugeben. 309 Dupuys 38. Die Geste erinnert an die Triumphzüge im antiken Rom, bei denen die wertvollsten Beutestücke im Gefolge des Triumphators mitgeführt wurden. 310 Auf einige frühe Beispiele der Verknüpfung Karls mit der mythischen Gestalt des Herkules, bis hin zur Identifikation, gehe ich in einem Exkurs am Schluß dieses Abschnitts ein.

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Achills. Alexander der Große vermachte das Schwert, mit dem er die die ganze Welt erobert und sich unterworfen hatte, dem jungen Fürsten als Geschenk, wie eine begleitende Inschrift besagte: Tres puissant prince ceste espée duyt à ton costé.311 Der Chronist erwähnt ausdrücklich, daß die Helden nach antiker Manier gekleidet waren (accoustrés à lantique bien richement): Weder erschienen Odysseus oder Alexander in mittelalterlichen Rüstungen, noch trat Herkules im Gewand eines zeitgenössischen Edelmannes auf. Damit, wie auch mit den von ihnen errichteten Kunstbauten, verbreiteten die Italiener im noch ganz mittelalterlichen Brügge einen Hauch von Renaissance: Les deux arcz furent moult ingenieusement eslevez, [...] et de si vielle façon questoit chose nouvelle et tres ioyeuse à veoir.312 Große Bewunderung erregte die Galerie zwischen den Triumphbögen; Dupuys nennt sie nompareille. Auf einer Breite von sechs bis sieben Häusern hatte man azurblaue Stoffbahnen geschickt zwischen porphyrfarbenen, also „kaiserlichen“ Pfeilern gespannt. Mit goldenen Sternen besteckt, verwandelte sich die Galerie im Fackelschein in ein gestirntes Firmament, an dem auch Sonne und Mond erstrahlten.313 In der Mitte der Galerie erblickte man vor einem Hintergrund aus Goldbrokat einen Thron, der in seiner Pracht nur dem des Königs Salomon vergleichbar war. Dies war der Herrschersitz des gefeierten Triumphators, eines sehr schönen Jünglings, nach Dupuys eagie denviron quinze ans. Vier Jungfrauen, schön wie Göttinnen, nach italienischer Mode gekleidet, saßen zu Füßen des Throns; sie hielten Spruchbänder mit Lobpreisungen des Königs, die in den Worten gipfelten: Benoist soit Dieu qui a ce iourduy envoyé le tressaige filz de David pour regner dessus ce peuple.314 Die Schönheit all dessen, was die Italiener bisher aufgeboten hatten, wurde durch einen Brunnen übertroffen, der in der Mitte des Platzes aufgerichtet worden war. Aus einer silbernen Schale erhob sich eine Säule von neuartiger Form, auf der drei bezaubernde, nackte Mädchengestalten sich dem Betrachter zuwandten. Aus ihren Brüsten strömten weißer und roter Wein und auch Rosenwasser in die Brunnenschale und besprühten sogar die Passanten. Die Gestalten der Mädchen waren von solchem Liebreiz und wirkten so lebensecht, daß die Vorübergehenden verweilten und sich von dem Anblick kaum trennen mochten. Auch der Chronist war von dem „Triumph“ der Italiener derart überwältigt, daß er eingestand, man könne die Eindrücke nicht in Worte fassen: [...]

311 Dupuys 41. 312 Ebd. 38 (beide Zitate). 313 Die mittelalterliche Gleichsetzung der beiden Himmelskörper mit Papst und Kaiser ist vermutlich in die Gestaltung der Galerie eingegangen. 314 Dupuys 39. Einen Eindruck von diesem Schaubild der Italiener vermittelt eine Miniatur aus dem Wiener Cod. 2591 (vgl. oben 467 Anm. 266), die ich als Titelbild dieses Bandes ausgewählt habe.

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la richesse, beauté, artifice et melodie mises avant au pourprys dicelle place furent telles et si excessives, que lon peult les plus contempler ne descrire.315 Als der Festzug die Quartiere der Ausländer verlassen hatte, gelangte er auf den Kraanplein am Ufer der Reie, wo sich eines der Wahrzeichen Brügges, der alte Kran (grue) befand, der zur Feier des Tages mit burgundischen Farben und Wappen geschmückt worden war. Davor hatte man ein hübsches Gärtchen angelegt, in dem, von Weinstöcken umgeben, der gleichnamige Vogel grue, ein Kranich, bien contrefaicte apres le vif, weißen Wein aus seinem Schnabel sprudeln ließ.316 Die vier Zünfte, denen die Gestaltung des letzten Abschnitts der Einzugsroute übertragen worden war, hatten ihre kunstvollen Aufbauten und prächtigen Schaubilder dem einen Thema gewidmet, das Brügge vorrangig bewegte: dem Niedergang der Stadt und der Hoffnung auf eine Schicksalswende durch das Eingreifen des jungen Herzogs. Wenn auch räumlich durch kurze Wegstrecken und Intermezzi getrennt, standen die vier Tableaus in direktem inneren Zusammenhang, da sie in reicher allegorischer Verbrämung drei Phasen des Absinkens der einst reichen Handelsstadt in Armut und Bedeutungslosigkeit vorführten, um im letzten Bild auf Karl als möglichen Retter hinzuweisen. Die Zunft der Gerber hatte einen weitgespannten Brückenbogen konstruiert, auf dessen Scheitelpunkt sich ein mächtiger, zinnengekrönter Turm erhob, dessen gesamte Vorderfront von einem Tableau eingenommen wurde. An der Seite des dort – in mittelalterlicher Kaiserpracht – thronenden Jupiter erblickte man eine imposante Frauengestalt, die Dupuys la deesse ieune sa compaigne dame de richesse317 nennt und die J. Jacquot richtig als Juno identifiziert hat.318 Sie ist hier als Verkörperung des Reichtums (Abundantia) aufzufassen. Zu Füßen des Götterpaares saßen zwölf Jungfrauen – die neun Musen und die drei Grazien –, die Brügge in den vergangenen goldenen Zeiten mit ihren Gaben beschenkt hatten, so daß alle Wissenschaften, Tugenden und gute Sitten sich reich entfalteten und der Stadt zu Wohlstand und Ansehen verhalfen. Auf den Zinnen des Turmes war in einer goldenen Weltkugel die alle315 Dupuys 40 f. (Zitat 41). 316 Ebd. 42. 317 Ebd. 43. Dupuys’ mißverständliche Formulierung geht auf seine eigene fehlerhafte Übertragung der lateinischen Inschrift zurück, die sich auf das Bild bezog. Der Chronist gibt die Verse wie folgt wieder: Dame ieune de richesse habondante, || Princesse siet et regne triumphante. Die korrekte französische Namensform der Göttin lautet Junon. Juno als dame de richesse zu bezeichnen, ist nur insofern gerechtfertigt, als man in der Juno Moneta die Hüterin der römischen Münze gesehen hat, da sich die Münzstätte in in der Nähe ihres Tempels auf dem Kapitol befand. Allerdings ist dies eine sekundäre Verknüpfung: Ursprünglich handelte es sich bei der Juno Moneta um eine mahnende, warnende Gottheit (zu monere). Vgl. Werner Eisenhut, Art. Iuno, in: Der Kleine Pauly 2 (1975) 1563 bis 1568, hier 1566. 318 Jacquot 1960, 415.

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gorische Gestalt der „Dame Brügge“ zwischen den Burgunderherzögen Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen zu sehen, die mit ihren Privilegien gewinnbringenden Handel ermöglicht und gefördert hatten. Personifikationen des Gayn (reicher Gewinn) und der Marchandise (Handel) erschienen daher auf den Seitenflügeln des Tableaus als Begleiter der „Dame Brügge“. Der gesamte Kunstbau mit den integrierten Tableaus muß, dem Holzschnitt nach zu urteilen, wie ein profaner Altar gewirkt haben. Pagane Gottheiten und allegorische Gestalten nahmen die Stelle des thronenden Christus, der Heiligen und Engel ein. Gewidmet, um nicht zu sagen: geweiht, war er der „Dame Brügge“, deren Haupt Strahlen wie ein Heiligenschein umglänzten. Auch Dupuys hat offensichtlich den Eindruck gehabt, daß hier die allegorische Gestalt gleichsam zur Gottheit erhoben wurde, wenn er sie beschreibt als une souveraine moult belle dame [...] reluysante comme une tres clere deesse [...].319 Unweit dieser glorifizierenden Darstellung des goldenen Zeitalters von Brügge hatte die Zunft der Schneider die erste Phase des Niedergangs ins Bild umgesetzt, indem sie an das Programm des „Altars“ anknüpfte und es weiterentwickelte. Ein tabernakelähnliches Bauwerk zeigte hier die nämliche „Dame Brügge“, die ihren Strahlenkranz schon nahezu eingebüßt hatte, auf einem silbernen Thron. Ihr Haupt war schwer, das Gesicht voller Sorge und Traurigkeit, denn die Figuren, die Gewinn und Handel verkörperten, hatten sich bereits von ihr entfernt und schienen im Begriff, völlig aus ihrem Umkreis zu entschwinden. So leitete das „silberne Zeitalter“ den Niedergang und das allmähliche Herabsinken Brügges zur Bedeutungslosigkeit ein. Drei Prophetengestalten wandten sich mit den Worten auf ihren Spruchbändern direkt an Karl: Sie baten um Mitleid, Milde und Gnade für die geschwächte Stadt. Wie um zu beweisen, daß Brügge trotz der Klagen noch Kräfte besaß, die auch dem Herzog vielleicht einmal nützen konnten, hatte man nahe der neuen Markthalle fünfzig schwere Artilleriegeschütze aufgefahren, die zu feuern begannen, als Karl sich auf dem Platz befand, und die einen „geradezu wundervollen“ Lärm (un mervilleux bruyt) machten.320 Da man auch den Vertretern des Frankenlandes die Mitwirkung an der Gestaltung der joyeuse entrée zugestanden hatte, folgte ihr Beitrag an dieser Stelle, gewissermaßen als retardierendes Moment, bevor dem Herzog und seinem Gefolge der weitere bedrückende Verlauf der Stadtgeschichte vor Augen geführt wurde. Die seigneurs du Franc waren stolz auf die Privilegien, die ihnen Philipp der Gute erteilt hatte, als er sie in die Grafschaft Flandern aufnahm, denn sie garantierten ihnen ein gewisses Maß an Selbständigkeit und die Wahrung ihrer Identität. Dafür dankten die Franken dem Herzog und seinen Nachfolgern mit unverbrüchlicher 319 Dupuys 44. 320 Ebd. 46 f.

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Loyalität. Ihre besondere Stellung innerhalb Flanderns und die Grundlagen ihrer Herrschaft hatten die fränkischen Herren zum Gegenstand ihres Kunstbaus und ihrer Bilder gemacht. Da es in ihrem Stammesgebiet, dem plat pays, kein städtisches Zentrum gab, besaßen sie in Brügge ihr eigenes Justizgebäude, in dem nach salischem Recht geurteilt wurde. Selbstbewußt hatten sie einen Nachbau errichtet, den die Wappen Karls, Flanderns und des Frankenlandes sowie diejenigen der 36 dort vertretenen Gewerbe zierten. Zum Gegenstand ihres Tableaus hatten die fränkischen Niederländer die entscheidende Szene ihrer Geschichte gemacht: Als zentrale Gestalt war Philipp der Gute in seiner ganzen herrscherlichen Pracht zu erkennen. Zur Linken des Throns knieten fränkische Edle, die aus der Hand des Herzogs das gesiegelte Dokument entgegennahmen, das ihnen Privilegien und Immunitäten zusicherte. Für die Deutung der Szene, die zur Rechten des Throns dargestellt war, muß man sich ganz auf die Beschreibung bei Dupuys verlassen, denn der Holzschnitt gibt das Bild mit seinem Figurenreichtum in so gedrängter Form wieder, daß dessen Aussage dahinter verschwindet. Unter Zuhilfenahme der antiken Mythologie hatten die Franken den Wandel des unbebauten Landes, das man ihnen einst überlassen hatte, zur Kulturlandschaft dargestellt, deren reiche Erträge aus Ackerbau und Viehzucht zur Lebensgrundlage der Bevölkerung und zum Fundament der Herrschaft der Seigneurs geworden waren. Versinnbildlicht wurde dieser Entwicklungsprozeß durch das Auftreten Saturns, der schon die Römer den Ackerbau gelehrt hatte, durch die Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen Kybele und Ceres und nicht zuletzt durch Pan, den bocksfüßigen, nymphenjagenden Hirtengott. Diese pastorale Idylle ist nicht nur als generelle Idealisierung des einfachen, friedlichen Landlebens zu verstehen, sondern gleichzeitig als ein Loblied auf die fränkischen „Niederlande“, wo diese schlichte Lebensform noch galt und gepflegt wurde.321 Das Leitmotiv der Stadtgeschichte wurde anschließend in dem Schaubild wieder aufgenommen, das die Bäckerzunft in einem großen Zelt errichtet hatte, welches ganz in burgundischen Farben gehalten war. Das Tableau blieb zunächst hinter den Zeltplanen verborgen und präsentierte sich den Vorüberziehenden erst, nachdem sich die Planen durch einen raffinierten, phantasievoll versteckten 321 Dupuys 48–51. Der Autor flicht hier einen moralischen Diskurs zur Verteidigung des einfachen Lebens ein: Mit dem Auftreten der Pallas Athene als Lehrmeisterin der Menschen kam die Zivilisation in die Welt, mit ihr Gesetze und politische Ordnungen. Als Folge davon verwandelte sich Weisheit in Bosheit, alle Tugenden wurden korrumpiert, Betrug und Täuschung verdrängten die virtus der Alten. Justitia suchte Zuflucht bei der schlichten Landbevölkerung, ehe sie sich in den Himmel zurückzog, von dem sie einst gekommen war. Was zunächst als unmotivierter Einschub, noch dazu aus der Feder eines Hofchronisten, erscheint, ist vermutlich als kritischer Kommentar zu den Bildern vom Abstieg Brügges zu deuten, dessen Bewohner die tradierten Wertbegriffe verachtet hatten und an Stolz und Überheblichkeit zugrundezugehen drohten.

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Mechanismus gehoben hatten: Zwei seltsame Vogelgestalten hielten die Enden der Planen in ihren Klauen. Sobald der Festzug eingetroffen war, hoben und senkten sich diese eigenartigen Türsteher und zogen die Planen in die Höhe. Mit dieser vielbestaunten Konstruktion stellten die Handwerker Brügges ihren Erfindungsreichtum und ihre Kunstfertigkeit aufs neue unter Beweis. Nach diesem ersten, erheiternden Eindruck von der Kreation der Bäcker wirkte das Tableau umso düsterer. Wieder erblickte man die „Dame Brügge“, doch nun allen Glanzes beraubt, in armseligen Gewändern auf einem Thron aus Eisen. Sie war so geschwächt, daß sie sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrechthalten konnte. Gestützt wurde sie von einem Geistlichen und einem Vertreter der Handwerkerschaft, der durch die Zunftzeichen auf seinem Rock zu identifizieren war. Zu Füßen des eisernen Throns sah man die aus den voraufgegangenen Tableaus schon bekannten allegorischen Gestalten des Gayn und der Marchandise, die nach verschiedenen Seiten enteilen wollten. Nur durch den festen Zugriff eines gelehrten Juristen und eines Mitglieds der Bruderschaft vom Heiligen Blut wurden sie zurückgehalten. Allein die vereinten Anstrengungen der Bürger und geistlicher Beistand hatten das Gemeinwesen bis soweit noch vor dem völligen Ruin bewahrt. Diese Aussage des Bildes kam auch in dem beigegebenen Vers zum Ausdruck: Du trosne aurain suys en celle roullée, Par marchandise qui de moy prent congée, Et si nestoit mon commun et clergée Trop plus seroye de misere soullée.322

Wie nahe die Gefahr des Sturzes war, veranschaulichte das Pendant des Bildes nach dem Alten Testament: Dargestellt war die Vision des Nebukadnezar von dem schön gewachsenen, starken Baum, von dessen Früchten sich allerlei Getier nährte, während Fabelwesen an den Wurzeln nagten und die Axt bereits tief im Stamm steckte. Die Zunft der Fuhrleute hatte eine langgestreckte Galerie errichtet, durch deren weite Toröffnung sich der Festzug bewegte. Von den Zinnen erklang Musik aus zwölf silbernen Trompeten, als sich die Portale vor den beiden Tableaus öffneten. In dem einen Bild waren die bisher verwendeten Allegorien und Symbole zu einem großen Finale vereint: Auf einem riesigen goldenen Rad der Fortuna waren in gleichen Abständen vier Figuren plaziert. Zuunterst, gleichsam auf dem Tiefpunkt angelangt, sah man die „Dame Brügge“ in großer Schlichtheit auf ihrem eisernen Thron. Den Platz hoch oben auf dem Rad dagegen nahm eine prächtig gewandete, gekrönte Frauengestalt ein, die in der Rechten statt eines Zepters einen Dreschflegel hielt und in der Linken einen Brotkorb. Dupuys bezeichnet sie als die Charité, die ihre tyrannische Herrschaft über Brügge angetreten hatte. Da 322 Dupuys 52 f. (Zitat 53).

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sich mit der Caritas üblicherweise die Vorstellung von Milde und Güte verbindet, bedarf es zur Deutung des Bildes eines gedanklichen Umweges: Sie ist auch die Spenderin von Almosen, und von ihr, die den Platz der launischen Fortuna besetzt hat, ist Brügge abhängig geworden. Sie regiert mit harter Hand und läßt der Stadt, wenn sie botmäßig ist, eine Spende aus ihrem reichgefüllten Brotkorb zukommen. Auf den mittleren Speichen des Rades saßen sich die Personifikation des Gayn und – in Gestalt eines mittelalterlichen Kriegers – Mars als Gegenspieler gegenüber: Der Krieg läßt friedlichen Handel nicht zu und vernichtet allen erzielten Gewinn. Damit war noch einmal die Situation veranschaulicht, in der Brügge sich damals befand. Doch es gab Zeichen der Hoffnung, denn unterhalb des Rades standen zwei Personen bereit zum Eingreifen: Der Herzog, kenntlich an seinem Wappenrock, und die Marchandise hatten die Hände schon an das Rad gelegt, um es in Bewegung zu setzen und den Lauf der Geschichte zu lenken, damit die Stadt Brügge die ihr gebührende Position wiedererlangen konnte. Wieviel dabei von Karl erwartet wurde, erläuterte das Pendant ebenso wie die Spruchbänder in den Händen der Propheten zu beiden Seiten des Tableaus. Sire ne retire ta main de layde de tes povres subiectz und Il n’est œuvre tant royale que survenir aux desolez las man auf den Banderolen. Ein weiterer Prophet, Nehemia aus Juda, war dargestellt, wie er demütig vor dem mächtigen Perserkönig Artaxerxes kniete und den Herrscher um die Erlaubnis bat, Jerusalem, die Stadt seiner Väter, wieder aufbauen zu dürfen, eine Bitte, die der König ihm gnädig gewährte. Damit stellt das Bild die direkte Verbindung zur Gegenwart des Einzugstages her: Auch die Stadt Brügge bat ihren neuen Herrscher in einer Petition, die ihm vor dem letzten Schaubild überreicht wurde, flehentlich um Hilfe.323 Dupuys beschließt seinen Bericht über Karls joyeuse entrée in Brügge, indem er auf diese Bittschrift eingeht: Er gibt seiner festen Überzeugung Ausdruck, daß der Herzog, den man in so großartiger Weise gefeiert hat, alles in seiner Macht Stehende daransetzen werde, um die Stadt und ihre Bürger aus ihrer elenden Lage zu befreien. In einem Postscriptum erwähnt er noch die unter diesen Umständen üppigen Geschenke, die dem Prinzen anläßlich seines Antrittsbesuches von den vier Landesteilen Flanderns gemacht wurden, wie es der Brauch war: Es handelte sich immerhin um 20.000 Ecus als erste „Rate“, eine zweite Zahlung von 800.000 Ecus erfolgte später. Wie für Löwen liegt auch für Brügge eine exakte Aufstellung aller Kosten vor, die der Stadt im Zusammenhang mit der joyeuse entrée entstanden waren.324 Da bereits am Beispiel Löwens ein Blick hinter die Kulissen geworfen wurde, bleiben nur einige Punkte zu ergänzen, die im dortigen Rechnungsbuch nicht 323 Dupuys 54 f. (Zitate 54). 324 Brügge, Stadsarchief, Compte de la Ville 7.9.1514–2.9.1515, 121–128; zit. nach der Edition („État des dépenses faites par la ville de Bruges pour la joyeuse entrée de l’archiduc Charles, au mois d’avril 1515“) in Voyages II 531–542 (appendice V).

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auftauchen: (1.) Auffallend hoch sind die Kosten, die den Zimmerleuten erstattet wurden. Nach dem, was oben über die Aufrichtung der zahlreichen ephemeren Bauten und deren aufwendige Gestaltung gesagt wurde, bedürfen sie keiner weiteren Erläuterung. (2.) Das große Konzept, dem sich die Beiträge der Stadt und der Zünfte einfügten, war von einem Festkomitee erarbeitet worden, dem außer dem Bürgermeister und dem Stadtkämmerer auch mehrere rhétoriciens angehörten, von denen sechs namentlich genannt werden. Sie alle erhielten eine „Aufwandsentschädigung“. Gelegentlich wurden auch Handwerksmeister zu den Sitzungen hinzugezogen. Getagt wurde im Allgemeinen im Gasthaus „Zum Blinden Esel“, wie eine Aufstellung der angefallenen Verzehrkosten nachweist. (3.) Auf die Sprachgrenze, die durch Flandern verlief, weist ein Eintrag hin, nach dem zwei Übersetzer dafür bezahlt wurden, daß sie den Text eines Rhetorikers zum Empfang des Herzogs vom Flämischen ins waelsche übertrugen, womit hier nur das Französische gemeint sein kann. (4.) Remy Dupuys wurde für die Mühe und Arbeit entlohnt, die er auf sich genommen hatte, um in walsche den triumphalen Einzug des Herzogs zu schildern.325 (5.) Aus dem Rechnungsbuch geht ferner hervor, daß die Stadt im Mai noch weitere Anstrengungen unternahm, um Karl und seiner Begleitung den Aufenthalt angenehm und abwechslungsreich zu gestalten: Am 6. Mai richteten die Rechtsvertreter der Stadt im Schöffenhaus ein Bankett zu Ehren Karls aus, zu dem auch Margarete von Österreich, die Ordensritter sowie viele Adlige und Damen des Hofes geladen waren. Ebenfalls im Mai arrangierte Jacob von Luxemburg, Herr von Auxy, unter großem Kostenaufwand ein Turnier auf dem Grote Markt, ter eeren ende recreacie van onsen gheduchten heere ende prince. Dafür mußte nicht nur der traditionelle Austragungsort ritterlicher Schaukämpfe vorbereitet, sondern für die Dauer der Veranstaltungen auch zwei der Bürgerhäuser am Marktplatz gemietet werden, von deren Fenstern aus hohe Gäste die Turniere zu verfolgen pflegten.326 In einem dieser Häuser, der berühmten Cranenburg, nahmen Karl und Margarete diese Logenplätze ein.327 (6.) Erwähnenswert ist ein Betrag von rund 41 Philipps-Gulden, der Jean le Sauvage, dem Kanzler von Burgund, aus Anlaß seiner Ernennung naer costume gezahlt wurde. (7.) Nicht aufgeführt ist im Rechnungsbuch Brügges Anteil an dem großzügigen Geldgeschenk (don) der flandrischen Landesteile, das Dupuys am Schluß seines Berichtes erwähnt. Vermutlich war dafür ein Sonderetat eingerichtet worden, denn aus dem regulären Haushalt der Stadt wären derartige Summen nicht aufzu325 Gachard hat für das Jahr 1516 einen weiteren Hinweis auf Zahlungen an Dupuys gefunden, die im Zusammenhang mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits erschienenen Druck seines Werkes erfolgt sind (Voyages II 531 Anm. 1). 326 Domke 1964, 95. 327 Im Untergeschoß dieses geschichtsträchtigen Hauses hatten die rebellierenden Bürger den jungen Maximilian 16 Wochen lang, vom März bis zum Mai 1488, gefangengehalten.

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bringen gewesen. (8.) Alle genannten Kosten betreffen nur die Beiträge der Stadt zur Blyder Incomste ihres Herzogs. Den erheblichen Aufwand für den tryumphe des nations bestritten die Ausländerkolonien aus eigenen Mitteln. Am 10. Mai 1515 setzte Karl seine Inaugurationsreise durch den nördlichen Teil Flanderns fort und besuchte u.a. Middelburg, Rotterdam und Amsterdam. Vom 19. Juni bis 9. Juli hielt er sich in Den Haag auf, wo am 24. Juni in Gegenwart der Gesandten des französischen Königs der Vertrag von Paris beschworen wurde. In diesem Zeitabschnitt machte Du Bellay seine Beobachtungen zur politischen Erziehung des Herzogs. Über etliche kleinere Zwischenstationen kehrte Karl am 23. Juli nach Brüssel zurück. Das Itinerar seines premier chambellan, der seinen Zögling und Herrn stets begleitete, weist für den genannten Zeitraum nur den Eintrag „en Hollande“ auf.328 Die Ortsangaben in Karls Itinerar, vor allem Héverlé, Brüssel, Tervueren,329 lassen darauf schließen, daß er sich von Ende Juli bis gegen Ende September bei der Jagd von den Strapazen der Reise erholte. Im November stattete er, wie bereits erwähnt, einigen Orten in der Nähe Brüssels, u.a. Mons und Namur, seinen Antrittsbesuch ab. Den Winter verbrachte er in Brüssel, wo ihn Anfang Februar 1516 die Nachricht vom Tode Ferdinands von Aragon erreichte. Erst im Mai 1516 ließen es die vielfältigen neuen Verpflichtungen des „Königs der Spanien“ zu, daß er in seiner Eigenschaft als Graf von Flandern seine Huldigungsfahrt fortsetzte, wobei er u.a. in Douai, Arras und Lille empfangen wurde und seinen Eid ablegte.330 Mit der ausführlichen Darstellung des Geschehens an verschiedenen Stationen dieser Reise ist in den vorhergehenden Abschnitten das erste bedeutende Ereignis nach dem Regierungsantritt Karls in den Blickpunkt gerückt worden, dem in den großen Karlsbiographien wie auch in der Landesgeschichte Belgiens notwendigerweise wenig Raum gegeben wird.331 Der Kaiser selbst erwähnt seine Antrittsreise durch Flandern nicht in seinen Memoiren. Selbst die joyeuse entrée zu Brügge hat als Einzelereignis m.W. kaum Beachtung als Forschungsgegenstand gefunden; sie wird lediglich in Arbeiten zu dem weiter gefaßten Thema der Festkultur der Frühen Neuzeit berücksichtigt, wie sie u.a. in dem hier herangezogenen Kongreßband Fêtes et cérémonies au temps de Charles Quint vorliegen. Dabei unterschied sich der von der Stadt Brügge und den dort ansässigen Ausländern festlich gestaltete Einzug Karls in einem durchaus erwähnenswerten Punkt von 328 Dansaert 1942, 300. 329 Voyages II 16. 330 Voyages II 17 f. 331 Brandi 1964, 45 widmet den Huldigungsreisen insgesamt kaum sechs wenig aussagekräftige Zeilen, Henne (1865, 183) äußert sich in sieben Zeilen zu dem Gesamtkomplex. Ein Hinweis auf das Werk des Remy Dupuys findet sich bei beiden Autoren nicht.

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den weit besser erforschten und vielfach interpretierten Feierlichkeiten etwa zur Krönung in Aachen 1520 oder zur Kaiserkrönung in Bologna 1530: Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Ausgestaltung dieser bedeutenden, prunkvollen Zeremonien wurde in Wort und Bild ein bestimmtes „Image“ des Herrschers kreiert, das dank der neuen drucktechnischen Möglichkeiten weite Verbreitung fand. 1519, schon während des Wahlkampfes, und 1520 ging die Initiative dazu von Margarete von Österreich aus, die sich der schöpferischen Kräfte aus ihrem künstlerischen und humanistischen Umfeld bediente, um den in Deutschland weitgehend unbekannten Neffen als den oft prophezeiten zweiten, größeren Karl erscheinen zu lassen.332 1530 lag die Verantwortung dafür, wie der Kaiser als weltliches Haupt des Erdkreises präsentiert wurde, zunächst vor allem bei dem päpstlichen Zeremonienmeister Blasius de Cesena; er lieferte die Vorgaben für die Künstler und Chronisten, die die in Bologna empfangenen Eindrücke mit ihren jeweiligen Medien – häufig im Auftrage des Hofes – publikumswirksam umsetzten. Damit wurde dem Volk das von höchster Instanz gebilligte Herrscherporträt vorgeführt.333 1515 hingegen entwarf das Volk von Brügge sein eigenes Bild des jungen Fürsten. Es wurde oben vielfach darauf hingewiesen, daß man Karl in die Darstellungen etlicher Tableaus einbezogen hatte, und bei der Erläuterung der einzelnen Szenen auf seine Rolle in dem betreffenden Zusammenhang eingegangen. Die Bürger von Brügge hatten ihren Herzog so abgebildet, wie sie ihn sehen wollten. Sie projizierten ihre Hoffnungen und Erwartungen in dieses Idealbild eines 332 Ein Indiz dafür, daß die Deutschen kaum etwas mit dem Namen des Herzogs von Burgund und Königs der spanischen Reiche verbanden, liefert die Sammlung der historischen Volkslieder der Deutschen, die Rochus von Liliencron im 19. Jahrhundert aus Liederhandschriften und frühen Drucken zusammenstellte. Die Verse, die sich vorwiegend auf politisch bedeutsame Ereignisse beziehen, feiern z.B. den Wiener Kongreß von 1515 und gedenken Philipps des Schönen und Maximilians I. nach deren Tod. Ihr Erbe und Nachfolger Karl wird jedoch erst nach seiner Wahl und anläßlich seiner Aachener Krönung besungen. Relevant sind hier die unter dem Titel „Von König Karls Erwählung“ (Liliencron 1867, 229–237 Nr. 309–312) aufgeführten Lieder: Ein newes lied von künig Karolus, Ein new lied von künig Karel, Ein newes lied gemachet durch Pamphilum Gengenbach zu lob dem allerhochgebornsten großmechtigosten Carolo, erwelter römscher küng, küng in Hispanien Ungern Granaden Napels etc. ein geborner erzherzog in Österreich, herzog von Burgund etc. Vivat Carolus rex potentissimus sowie ein Lied ohne Titel in niederdeutscher Sprache aus dem Raum Braunschweig-Hildesheim. 333 Erst ab 1530 begann der gekrönte Kaiser selbst stärker darauf Einfluß zu nehmen, welches Herrscherbild der Öffentlichkeit vermittelt werden sollte, d.h. wie er gesehen werden wollte. Durch die Nutzung der neuen Medien seiner Zeit, vor allem durch den Druck von Holzschnitten, sorgte der Kaiser dafür, daß sich immer mehr Angehörige seiner Völker die „richtige“ Vorstellung von ihrem Monarchen machten. Sehr ausführlich zu diesem Thema unter dem Aspekt der Herrscherpropaganda Burke 2000; ferner Bosbach 2002.

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Herrschers, das allerdings ebenso wenig mit der Realität gemeinsam hatte wie die offiziellen Porträts. Nicht anders verfuhren die Spanier, die Oosterlinge und die Italiener in ihren Beiträgen. So gerieten die Schaubilder in ihrer Gesamtheit auch zu einer Inszenierung Karls. Für den Herzog bedeutete dies, daß er sich während des gesamten Einzugs immer wieder mit seinem eigenen Bild konfrontiert sah. Er befand sich gleichermaßen in der Rolle des Zuschauers wie in der des Darstellers. War diese Situation bereits eigenartig genug, so dürfte die eigentliche Schwierigkeit für den realen Karl darin bestanden haben, sich mit seinem idealen Pendant zu identifizieren, mit dem Herrscher, der nicht nur als König über alle spanischen Reiche gebieten, sondern der nach dem Vorbild Trajans und des Theodosius zum Weltenkaiser aufsteigen sollte, der mit dem Welteroberer Alexander verglichen, dem die Krone Jerusalems prophezeit wurde und der mit einem Handgriff den Lauf des Schicksals seiner Stadt Brügge lenken konnte. Man weiß nicht, wie Karl auf die Doppelrolle reagierte, die ihm zugewiesen wurde. Wurde ihm unter der Überfülle der Eindrücke bewußt, daß jedes der Tableaus Ausdruck hoher Erwartungen war, daß ihm auf Schritt und Tritt vor Augen geführt wurde, welch gewaltige Aufgaben er in der Zukunft bewältigen sollte? Glaubte der Fünfzehnjährige, mit dem Mut eines burgundischen Ritters und im Vertrauen auf seine erfahrenen Ratgeber, daß er alles, was die Bilder so eindrucksvoll suggerierten, erreichen würde? Oder genoß er mit jugendlicher Unbefangenheit einfach das Schauspiel, das man zu seinen Ehren inszeniert hatte? Karl und sein Chronist Dupuys bleiben die Antworten auf diese Fragen schuldig. Während in der Urkunde von Gent der junge Herzog zwar nicht als Individuum sichtbar wird, so tritt er dort doch als Handelnder auf: als der neue Graf von Flandern. In Brügge jedoch geht Karl nach seinem glänzenden Einzug durch das Stadttor in der Menge der Teilnehmer des Festzugs nahezu unter. In den wenigen Momenten aber, in denen Dupuys ihn hervortreten läßt, gewinnt die Gestalt des jungen Herrschers an Leben, weil persönliche Züge erkennbar werden: Seine Freude an der Musik, sein Interesse an technischen Spielereien und mechanischen Instrumenten, das sich in späteren Jahren in seiner Uhrensammlung zeigen sollte, und die Begeisterung des im Umgang mit Waffen geübten Jünglings angesichts der „Seeschlacht“ und der Artillerieattacke auf den Turm der Aragonesen. Ob sich hier bereits der spätere Heerführer ankündigte oder ob es das Vergnügen eines Jugendlichen an einem lautstarken Spektakel war, sei dahingestellt.

Exkurs: Karl V. – ein Nachfahre des Herkules? Von der Emanzipation an gewinnt die Gestalt des Herkules in der Darstellung und – sehr viel später – auch in der Selbstdarstellung Karls zunehmend an Bedeutung. Der Halbgott und Heros, der allgemein in der Herrscherpanegyrik eine so herausragende Rolle spielt, figurierte an dem Triumphbogen der Italiener zunächst

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nur als Vorbild für den Herzog, während Karl im Laufe seines Herrscherdaseins häufiger wohl als jeder andere Monarch in allen zeitgenössischen Medien als Reinkarnation des mythischen Helden gefeiert wurde. Mit dieser Identifikation wurden dem Kaiser geradezu übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben, die ihn Taten vollbringen ließen, an denen bisher jeder andere gescheitert war. Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar, vor allem, wenn man die Interpretationen der bildlichen Darstellungen mit einbezieht. Dies belegen bereits die Referenzen in drei Aufsätzen von E. Rosenthal und S. Sider, die sich allein mit seinem Motto plvs vltra und den „Säulen des Herkules“ in seinem Wappen befassen.334 Zur Fülle der Bezüge und der Literatur bemerkt Sider: „The atmosphere surrounding the Plus Ultra device, supercharged with the evocative power of symbolic logic, ultimately derived from a multiplicity of emblematic connections between Charles V and Hercules, in all his permutations. This paper cannot possibly cover every aspect of this Herculean subject. The literary evidence alone would fill a book – and has, more than once.“335

P. Burke berührt das Thema ebenfalls in seinem bereits mehrfach zitierten Aufsatz „Präsentation und Re-Präsentation“. Reiches Bildmaterial ergänzt die Aufsätze, wobei besonders die farbigen Reproduktionen des Sammelbandes „Karl V. und seine Zeit“ aus dem Jahr 2000 die unterschiedlichen Auffassungen der Künstler und die Vielfalt der benutzten Techniken veranschaulichen.336 Die Wurzeln der besonderen, ganz persönlichen Beziehung Karls zu seinem von Marliano ersonnenen Wappen und zu dem antiken Heros als Identifikationsfigur sind bereits in den Genealogien aufzuspüren, die sich die Herrscherhäuser im 15. und 16. Jahrhundert von eigens dafür angestellten Gelehrten konstruieren ließen, deren Aufgabe es war, den Ursprung der Dynastie auf alttestamentliche und mythische Stammväter zurückzuführen. Derartige Ahnennachweise hatten auch die Häuser Burgund, Österreich und Trastámara erstellen lassen. Dabei beriefen sich alle drei Dynastien, die sich in Karl vereinigten, auf Herkules als einen ihrer frühen Ahnen. Im Zusammenhang mit der Gestaltung des Wappens für den jungen Herzog und Ordenssouverän durch Luigi Marliano geht E. Rosenthal auf die Bedeutung des mythischen Helden für den jungen Karl ein: „Marliano’s choice of the Herculean columns must have delighted the Burgundian Court in Flanders. As early as 1454, the Labours of Hercules figured prominently in tapestries that adorned the famous Banquet of the Pheasant Oath at Lille and also the festivities for the marriage of Charles the Bold to Margaret of York in Bruges in 1468. This early interest and the extraordinary importance given to the story of Hercules 334 Rosenthal 1971; ders. 1973; Sider 1989. 335 1989, 260. 336 Burke 2000; Soly (Hg.) 2000.

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in Raoul Lefèvre’s „Recueil des hystoires de Troyes“ (commissioned by Charles the Bold in 1464) have been related to the ducal claim to direct descent from Hercules. Lefèvre also reported the legend that Hercules, by way of his grandson Hispanus, had founded the Spanish royal line. [...] When one adds that the House of Austria also claimed Hercules as a forebear (duly noted by Luigi Marliano in 1516), it is evident that Charles’s descent from the ancient hero was recognized by way of at least three family lines – the Burgundian, the Castilian and the Austrian. The convergence of these lines in the person of young Charles could not have been accepted as mere chance but, to the contrary, as a clear indication of the heroic role he would play in the advance of the Order and the Christian Faith. In view of these associations, the reference to Hercules had a distinctly personal significance for young Charles.“337

In dem hier untersuchten Lebensabschnitt Karls V. entstanden zwei literarische Werke, die als die frühesten gelten, in denen Karl als Herkules auftritt. Sie sollen daher nicht unerwähnt bleiben. Der Wiener Kaiserhof hatte sich kurz nach 1500 zu einem Zentrum humanistischen Geisteslebens entwickelt, wo das Humanistendrama zu voller Entfaltung gelangte und Aufführungen vor Maximilian I. und einem höfischen Publikum sich großer Beliebtheit erfreuten. In ihren Dramen griffen die Verfasser, überwiegend Geistliche, die an der Universität Ingolstadt und geistlichen Kollegien lehrten, Stoffe der antiken Dichtung und Mythologie auf, die im Gewand der Allegorie moralisch-erzieherisch wirken sollten. Da das Drama seinen Platz im humanistischen Bildungsprogramm hatte, traten Studenten und Kollegiaten bei den Aufführungen als Schauspieler auf. In diesem Umkreis verfaßte Johannes Pinicianus einen Prosadialog mit dem Titel Virtus et Voluptas, der 1510 vor dem Kaiser aufgeführt wurde.338 Wie der Titel bereits ahnen läßt, handelt es sich um eine der zahllosen Variationen über das uralte Thema des „Herkules am Scheidewege“, wobei dem zehnjährigen Karl von Burgund die Rolle des Herkules zufällt: Karl-Herkules hat sich während der Jagd im Wald verirrt und muß am Scheideweg seine Wahl zwischen dem Pfad der Virtus und dem der Voluptas treffen. Der Prinz widersteht den schmeichelnden Worten der Voluptas und folgt dem Rat der Virtus. Das Argumentum, mit dem der Dialog eingeleitet wird, läßt keinen Zweifel daran, wer im Mittelpunkt der kleinen Szene steht: Carolus adulescens. illustrissimus Burgundiae princeps. dum uenationi operam dat. uenit in solitudinem. Heremitae genus nomen / et erroris sui causam indicat. A Voluptate dein multis dum moratur blanditiis Virtute duce ereptus. per graues et immensos labores immortalitatem ueram esse consequendam edoctus est.339 337 Rosenthal 1973, 211 f.; ausführliche Literaturangaben ebd. 212 Anm. 67. Dort wird auch angeführt, daß in Maximilians Ahnenreihe Herkules nach Noah, Cham und Osiris an 4. Stelle stand und Maximilian selbst sich bereits 1502 als Hercules Germanicus darstellen ließ. 338 Gedruckt im März 1511 von Johannes Othmar in Augsburg (Pinicianus 1511). 339 Pinicianus 1511, fol. a iii r.

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Der Wiener Kongreß von 1515, der mit der Doppelhochzeit seiner Enkelkinder Maria und Karl bzw. Ferdinand mit Ludwig von Ungarn und Anna von Böhmen sowie dem Abschluß von Friedens- und Freundschaftsverträgen den Höhepunkt der Ostpolitik Maximilians darstellte, war von einem glanzvollen Festprogramm umrahmt. Dabei bot sich auch die Gelegenheit, die Volljährigkeit Karls mit einem allegorischen Schauspiel zu feiern – allerdings in Abwesenheit des Herzogs von Burgund. Der Dreiakter in lateinischen Hexametern, der am 10. März 1515 im Beisein Marias, der künftigen Königin von Ungarn, zur Aufführung gelangte, stammte von Benedictus Chelidonius (Schwalbe), dem Abt des Wiener Schottenklosters,340 der adlige Schüler des Stiftes als Darsteller einsetzte. Der Titel des Stückes, Voluptatis cum Virtute disceptatio, läßt schon eine inhaltliche Verwandtschaft mit Pinicianus’ Prosadialog erkennen.341 Die Handlung schildert einen Streit zwischen den Göttinnen Venus und Pallas, in dem es nicht, wie in der Sage vom Urteil des Paris, darum geht, wer den Preis der Schönsten erringt, sondern um den Sieg der Tugend über das Laster. Venus, die sich als dea laeta einführt, läßt durch Satan allerlei Gestalten aus der Unterwelt heraufführen, die die verschiedenen Laster personifizieren, denen es aber nicht gelingt, Seelen zu fangen. Zu den Anhängern der Venus zählt auch Epikur, der den Zuschauern seine Morallehre darlegt, wie sie zeitgenössischer Auslegung entsprach: „epikureisch“ wurde hier gleichgesetzt mit lasterhaft und genußsüchtig. Pallas erscheint und verspricht denen, die ihr folgen, Größe und Ruhm für ihr irdisches Dasein und über den Tod hinaus. Als Venus ihre Gegenspielerin an deren Niederlage vor Paris erinnert, nimmt der Streit an Heftigkeit zu und kann nur durch einen Prozeß vor einem gerechten Richter, und zwar dem Erzherzog Karl, entschieden werden. Venus bringt die widerwärtigen Gestalten aus der Unterwelt als Zeugen bei, während Pallas bei Herkules Unterstützung findet, dem Inbegriff aller Tugenden. Damit ist die Entscheidung bereits gefallen, denn wem als dem Vertreter der Virtus könnte der Siegeslorbeer gebühren? Herkules und der iudex Karl sprechen zwar bei der Urteilsverkündung noch mit zwei Stimmen, verkörpern aber zwei Seiten ein und derselben Person: Der Herzog erweist sich nicht nur als weiser Richter, sondern auch als Mann der Tat, der die Anhänger des Lasters unverzüglich ihrer gerechten Strafe zuführt. Venus und Epikur werden in die Hölle verbannt; die Monster aus der Unterwelt, wie den Riesen Antaeus und die Amazone Hippolyta, besiegt er eigenhändig. Nachdem die Mächte des Bösen aus der Welt geschafft sind, steht einer Herrschaft des erzherzoglichen Schiedsrichters unter dem Schutze der Pallas nichts mehr im Wege. Der Bezug auf den jungen Herzog Karl ist mit der Wid340 Relativ kurz zu den beiden Autoren Pinicianus und Chelidonius: Rupprich 1970, 646 f. 341 Gedruckt im Juni 1515 von Johannes Singrenius in Wien (Chelidonius 1515); Exemplare u.a. in: ÖNB Wien, Forschungsbibliothek Gotha, ThULB Jena.

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mung auf dem Titelblatt eindeutig hergestellt: Carolo Burgundiae duce Illustrissimo, Divique Caesaris Maxaemiliani Nepote, litis diremptore aequissimo. Im Vergleich zu dem Prosadialog des Pinicianus hat die Figur des HerkulesKarl bei Chelidonius ebenso wie ihr lebendes Vorbild, der Herzog von Burgund, eine Entwicklung durchgemacht: Während der Zehnjährige, noch auf Rat angewiesen, nach dem rechten Weg suchte, tritt der nunmehr Volljährige, der sich für den Pfad der Tugend entschieden hat, als Richter auf, der sein Urteil zu fällen weiß über Laster und Tugend, über Recht und Unrecht. Es könnte darin auch eine Anspielung liegen auf die höchstrichterliche Gewalt, über die Karl seit seinem Regierungsantritt in Burgund verfügte. Der Herkules des Titelholzschnitts allerdings, der einen doppelköpfigen Wilden Mann angreift, ist von äußerst stämmiger Gestalt und weist keinerlei Ähnlichkeit mit dem schmächtigen Herzog Karl auf; durch seinen Wappenschild mit dem Doppeladler und die Bildunterschrift ist die Zuordnung jedoch auch an dieser Stelle eindeutig: Sustulit alcides342 non uno monstra labore Caesar idem peragit, par gloria cedat utrique.

Mit einer geschickten Wendung schließt Chelidonius in das Herrscherlob den Kaiser ein, der selbst, herkulesgleich, große Werke vollbracht und dem Enkel den rechten Weg gewiesen hat.

3. Vom Mündel zum Vormund 3.1. Erste Kontakte zwischen Karl und seinem Mündel, dem Infanten Ferdinand Es war erst ein Jahr seit der Mündigsprechung Karls vergangen, als ihm als Teil des spanischen Erbes die Vormundschaft über seine jüngeren Geschwister, den dreizehnjährigen Infanten Ferdinand und die neunjährige Infantin Katharina, zufiel: Die Verantwortung und Fürsorgepflicht für die spanischen Enkel ging also nicht an den Kaiser über, sondern an den noch nicht sechzehnjährigen Chef der Häuser Burgund und Trastámara. Solange beide Großväter lebten, hatte es zwischen ihnen stets Konsultationen gegeben, wenn es um Pläne für die Zukunft der burgundischen bzw. der spanischen Kinder ging. So holte Maximilian u.a. die Zustimmung Ferdinands zur Verheiratung Isabellas und Marias ein, was als 342 Herkules tritt hier unter dem Namen Alcides auf: Alkaios, ein Sohn des Perseus und der Andromeda, galt in der griechischen Mythologie als Großvater des Herakles. In der Verwendung des Patronymikons und dem Verweis auf den Großvater sehe ich eine Anknüpfung an die „genealogischen Nachweise“, wie sie oben erwähnt wurden.

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reine Formsache anzusehen ist. Schwierig blieb es jedoch, eine Einigung herbeizuführen, sobald die unterschiedlichen Vorstellungen der beiden Herrscher von der Zukunft der Enkel Karl und Ferdinand betroffen waren. Dies galt nicht nur für die Frage der spanischen Erbfolge. Es sei in diesem Zusammenhang an die Rivalität des Kaisers und des Katholischen Königs erinnert, als beide Herrscher sowohl den burgundischen als auch den spanischen Prinzen in ihre machtpolitischen Konzepte einbezogen und sie als Heiratskandidaten der Renée de France gegeneinander auszuspielen versuchten.343 Dies ist wohl das prägnanteste Beispiel dafür, daß die Interessenkonflikte der Großväter zunehmend auf die Erben projiziert wurden, in dem Maße, wie Kaiser und König die Last des Alters zu spüren begannen und ihr Haus für „die Zeit danach“ bestellen wollten. Margarete von Österreich, die stets mit ihrem einstigen Schwiegervater Ferdinand von Aragon in Verbindung geblieben war, hatte sich immer wieder um Vermittlung zwischen den rivalisierenden Herrschern bemüht. Sie schätzte den Katholischen König, sah ihn jedoch keinesfalls unkritisch und warnte den eigenen Vater vor den Winkelzügen des Aragonesen.344 Die Erzherzogin in ihrer damaligen Funktion als Vormund der burgundischen Kinder mahnte die Großväter wiederholt zur Eintracht im Interesse der gemeinsamen Enkel, vor allem Karls, und der vereinigten Dynastien. Die ungelösten Konflikte der älteren Herrschergeneration gingen mit dem spanischen Erbfall auf Karl und nicht minder auf den Infanten über, so daß das Verhältnis zwischen den Brüdern vorbelastet war, ehe sie sich 1517 erstmals begegneten. Daher stand Karl vor einer äußerst diffizilen Aufgabe, als ihm die Vormundschaft übertragen wurde. Zwar war die Frage der spanischen Thronfolge durch das letzte Testament Ferdinands von Aragon eindeutig geklärt, die über Jahre von den Großvätern forcierte Rivalität der Brüder damit aber keineswegs beseitigt. Strikte Neutralität, sachliches Abwägen dessen, was dem Bruder zum Besten diente, war von Karl nicht zu erwarten, da jede Entscheidung, die er für Ferdinands Zukunft treffen würde, Auswirkungen auf seine eigene Position nach sich ziehen mußte. Frei war er in seinen Entschlüssen ohnehin nicht, da er die Verfügungen des Katholischen Königs zu berücksichtigen hatte. So darf man das Testament vom 22. Januar 1516 als letzten Schachzug des sterbenden Aragonesen im europäischen Kräftespiel betrachten, aus dem er den Infanten nicht ausgeschlossen wissen wollte. Das heißt: Der junge Ferdinand wurde nicht einfach für die entgangene Krone mit anderen Titeln, mit Besitzungen und Einkünften abgefunden, sondern sein politisches Schicksal mit dem des Erstgeborenen verknüpft. Auf diese Weise übte Ferdinand von Aragon über seinen Tod hinaus Macht über

343 Vgl. oben 114 m. Anm. 311; 149 f. 344 Le Glay 1839, 2, 225–229 Nr. 555 (24.2.1514). Vgl. auch oben 115. 147 f.

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seinen Erben aus, wie es der Absicht des Monarchen entsprach, dem der Abschied von der Macht schwerer fiel als der vom Leben.345 Es ist nur zu verständlich, daß Karl unter den gegebenen Voraussetzungen der ersten persönlichen Begegnung mit dem Bruder keineswegs nur mit freudiger Erwartung, sondern mit gewisser Sorge und Mißtrauen entgegensah. Man kann nur vermuten, daß der Wunsch nach einem Aufschub des Zusammentreffens einer der Gründe für das Hinauszögern des Aufbruchs nach Spanien war. Obwohl ständig offizielle wie auch geheime Informationen zwischen Spanien und den Niederlanden ausgetauscht wurden und Karl durch die – gewiß nicht unparteiischen – Spanier am Brüsseler Hof sowie durch seinen Leibarzt Marliano, den Briefpartner des Petrus Martyr, stets über alle Vorgänge wohl unterrichtet war, ließ sich schwer abschätzen, wie der Infant auf die Zurücksetzung gegenüber dem älteren Bruder reagieren würde, nachdem er seit frühen Kindertagen auf die Thronfolge vorbereitet worden war. Noch ungewisser war, welche Haltung die spanische Kronprinzenpartei, vorwiegend Mitglieder des hohen Adels aus der direkten Umgebung des Infanten, Karl gegenüber einnehmen würde. Sie besaßen genügend Einfluß, um einen friedlichen Herrschaftsantritt des Königs zu gefährden oder sogar zu vereiteln. Unter diesen Umständen konzentrierten sich alle Überlegungen Karls hinsichtlich seiner Aufgaben als Vormund auf den jüngeren Bruder. Auf Katharina, sein zweites Mündel, scheint der junge König ebenso wenig Gedanken verschwendet zu haben wie schon seine Großväter vor ihm: sie spielt in den Plänen Maximilians nur einmal eine Rolle als mögliche Heiratskandidatin für Ludwig von Ungarn; Ferdinand von Aragon erwähnt die Prinzessin in seinem Testament nicht. Karl hat offensichtlich – so jedenfalls die Quellenlage – vor seiner Emanzipation kaum Kontakt mit dem Bruder, geschweige denn mit der jüngsten Schwester gehabt. In der Correspondance liegt ein Brief Maximilians vom 6. Januar 1512 vor, in dem er Margarete bittet zu veranlassen, daß Karl an seine spanischen Familienmitglieder schreibt und seinem Bruder auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers den Titel eines Erzherzogs von Österreich verleiht: [...] nous désirons et vous requérons que [...] vous faictes escripre nostre filz, l’archiduc Charles, quelques bonnes lettres en walon au roy d’Arragon, son grant-père, à la royne sa mère et à son frère dom Fernande et qu’il lui baille le titre d’archiduc d’Autriche; car nostre plaisir est tel.346 345 Machiavelli, für den der Katholische König in vieler Hinsicht dem Idealbild des principe entsprach, wie aus etlichen Passagen der gleichnamigen Schrift hervorgeht, dürfte voller Genugtuung registriert haben, daß der spanische Herrscher sich bis zur letzten Stunde treu blieb, indem er die Erbfolge im Sinne der Staatsräson regelte, der Machtentfaltung des Nachfolgers aber Grenzen setzte. 346 Le Glay 1839, 2, 79 Nr. 440. Es ist nicht ersichtlich, nach welchem Kalenderstil Maximilian hier datiert. Nach der – von A. Walther nicht korrigierten – Einordnung in die

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Ob Karl dem Wunsch des Großvaters damals nachkam, ist m.W. nicht nachzuweisen.347 Der früheste bisher bekannt gewordene Brief Karls an seinen Bruder ist vom 4. Dezember 1514 aus Brüssel datiert, einen Monat vor der Emanzipation des Herzogs und zu einem Zeitpunkt, als der Gesundheitszustand des Königs von Aragon bereits Anlaß zu großer Sorge gab. Das kurze, formelhafte Schreiben ist das einzige in dem von D.C. Spielman 1983 in Wien entdeckten Konvolut,348 das in französischer Sprache geschrieben und so erhalten ist, während die späteren (ab Nr. 3) vom spanischen Sekretariat in Brüssel, dem auch Dr. Mota angehörte, in Kastilianisch abgefaßt wurden. Karl hofft von seinem Bruder Auskunft über den Zustand des Großvaters zu erhalten und versichert dem Infanten bereits zu diesem Zeitpunkt, daß er sich für dessen Belange einsetzen wolle: Mon bon frere. Je me recommande à vous de bon cueur. J’envoye ce porteur à diligence par-delà pour entendre de l’estat, santé et prosperité du roy, nostre seigneur, et de vostre disposicion semblablement, vous priant que par lui m’en veullez avertir et signifier s’il est chose que pour vous faire puisse m’y employer de tres bon cueur.349

Das zweite Schreiben, gegeben am 30. Juli 1515 in Brüssel, ließ Karl dem Infanten durch Jacques, sieur de Marsilles, überbringen, der noch vor Adrian von Utrecht nach Spanien entsandt wurde, um zuverlässige Informationen über die dortige Lage einzuholen. Wieder begegnen dem Leser die formelhaften Sätze und Höflichkeitsbekundungen sowie die Zusicherung, daß Karl – inzwischen mündig

Briefsammlung müßte das Schreiben am 6. Januar 1513 (style de Rome) verfaßt sein. Die Verleihung des Erzherzogtitels ließe sich gut mit dieser Datierung vereinbaren, da Ferdinand am 10. März d.J. das 10. Lebensjahr vollendete. 347 Die zweite Bitte Maximilians mutet eigenartig an, da der Titel eines Erzherzogs seit 1453 nach einem Gesetz Friedrichs III. allen Mitgliedern des Hauses Habsburg zukam (bis 1918; vgl. Hamann (Hg.) 1988, 12 [B. Hamann]). War nicht Ferdinand, Sohn derselben Eltern wie Karl, nach dem Gesetz ohnehin Erzherzog wie sein älterer Bruder? Wenn eine ausdrückliche Verleihung des Titels erfolgen mußte, wäre es doch an Maximilian als Chef des Hauses gewesen, diese Formalität zu vollziehen. Kohler (2003, 56) erwähnt, daß Ferdinand während seiner niederländischen Jahre (1518—1521) nun öfter Erzherzog genannt wurde. 348 Spielman/Thomas 1984. Bei der systematischen Erfassung aller Quellen des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs entdeckte Danila Cole Spielman 1983 ein schmales Konvolut von zwölf Briefen Karls an Ferdinand, von denen zehn aus den Jahren 1514–1517 stammen. In ihrer archivgeschichtlichen Einleitung schildert Christiane Thomas akribisch die Spurensuche, mit der die beiden Historikerinnen klären konnten, weshalb es Wilhelm Bauer um 1900 nicht gelungen war, diese Bestände aufzufinden und seiner verdienstvollen Arbeit zu Ferdinand I. einzugliedern. Die Antwortschreiben Ferdinands sind nicht erhalten. 349 Wien, HHStA, Familienkorrespondenz A 1, fol. 68, zit. nach Spielman/Thomas 1984, 20 Nr. 1.

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und Herzog von Burgund, Graf von Flandern, etc. – sich nach Kräften für Ferdinands Interessen verwenden will: Mi hermano [...] Yo embio allá a mi servidor Jaques de Marzilla levador desta a visitar al rey mi señor y padre y a la reyna nuestra madre y también a vos para saber de su estado y dispusición, y assimismo lleva cargo de vos advertir de mis nuevas. Plegaos creerle, y fazerme saber por él de vuestro estado y disposición para mi plazer, y juntamente si hay alguna cosa que por vos pueda fazer para me emplear en ella de buen coraçón [...].350

In beiden Briefen spricht Karl den Jüngeren schlicht als Bruder an: Mon bon frere bzw. mi hermano; er unterzeichnet eigenhändig als Vostre bon frere – dem er allerdings bereits 1514 (!) yo el principe hinzufügt – bzw. als Vuestro buen hermano Charles. Ein Vergleich der beiden Schriftstücke zeigt, daß sie im Wortlaut und Inhalt nahezu übereinstimmen: Wendungen, wie sie von der burgundischen Kanzlei als Versatzstücke aneinandergereiht und dem Anlaß angepaßt wurden, könnten dazu verleiten, die Briefe als reine Pflichtübungen abzuwerten. Doch hinter den wenigen Sätzen der Kanzleisprache verbirgt sich mehr. Zudem muß man sich stets ins Gedächtnis rufen, daß die sog. Familienkorrespondenz keine Privatpost im heutigen Sinne war. Die Vorgaben der Briefe wurden in Konsultationen des conseil im Beisein Karls und in Abstimmung mit ihm entworfen; ausformuliert wurden sie von der Kanzlei, ehe sie vom Fürsten durch seine Unterschrift inhaltlich bestätigt und genehmigt wurden.351 Das vorrangige Anliegen beider Briefe ist nicht, Genaueres über den Gesundheitszustand Ferdinands von Aragon in Erfahrung zu bringen, denn dafür hatte der burgundische Hof seine Informanten in Spanien, sondern diese Familienangelegenheit als Ausgangspunkt zur Schaffung einer Vertrauensbasis zwischen den beiden Brüdern zu benutzen, die für die zu erwartende Entwicklung in Spanien unerläßlich war. Mindestens ebenso wichtig war es für Karl und seine Berater, Einblick zu gewinnen in die Zukunftspläne des spanischen Prinzen. Wenn Karl sich wiederholt erkundigte, ob er etwas für den Bruder tun könne, so hoffte man, daß Ferdinand ihm seine Vorstellungen und Absichten offenbarte. Will man Karls wiederholtes Anerbieten nicht als bloße Floskel abtun, so muß man sich fragen, ob Karl den Bruder realiter in irgendeiner Form hätte unterstützen können. Auf den dritten der Briefe des Konvoluts wurde an früherer Stelle bereits kurz eingegangen, denn es handelt sich um das Kondolenzschreiben Karls an

350 Wien, HHStA, Familienkorrespondenz A 1, fol. 69 (Übers. des frz. Orig.), zit. nach Spielman/Thomas 1984, 21 Nr. 2. Mit den nuevas, von denen der Abgesandte berichten soll, sind vermutlich Karls Emanzipation und der Verlauf des ersten Teils der Inaugurationsreise gemeint. 351 Zum Charakter der sog. Familienkorrespondenz vgl. Kohler 2003, 25 f.

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den Bruder nach dem Tode des Katholischen Königs.352 Auf die konventionellen Beileidsbekundungen und frommen Formeln des Trostes wurde oben verwiesen. Hier ist das Schreiben jedoch deshalb von Bedeutung, weil Karl hier erstmals das neue Verhältnis zwischen den Brüdern anspricht: Er hat die Vormundschaft übernommen und vertritt nun Vaterstelle an Ferdinand.353 Der Bruder soll sich trösten, denn er wird in Karl künftig einen wahren Vater haben, der alles für sein Wohlergehen tun wird: Por ende yllustrissimo e muy amado hermano, muy affectuosamente vos ruego que asy lo hagáys vos y que os alegréys y consoléys, que para vuestro bien y acrescentamiento de vuestra yllustrissima persona en mi tenéys verdadero hermano y padre como veréys.

Karl bittet Ferdinand, ihm regelmäßig zu schreiben, und legt ihm nahe, seinem Gesandten Adrian von Utrecht volles Vertrauen zu schenken.354 Ferner hofft er, den Bruder bald zu sehen. Auffällig ist an diesem Schreiben der Übergang zu einer formelleren Anrede, die von diesem Zeitpunkt an in allen weiteren Briefen des Konvoluts beibehalten ist: Yllustrissimo ynfante don Hernando, nuestro muy caro e muy amado hermano. Diese Formulierung kann auf die Usancen der spanischen Kanzlei zurückgehen, die nun die Briefe ausfertigte, ist aber auch geeignet, Distanz zu schaffen. Am 2. März schon schrieb Karl dem Bruder erneut, nachdem er eine Antwort von Ferdinand erhalten hatte. Inhaltlich bietet Karls Brief nichts Neues gegenüber dem vorhergehenden; er bekräftigt nochmals den Vorsatz des Älteren, dem Infanten als wahrer Vater zur Seite zu stehen. Aus den folgenden Briefen Karls geht hervor, daß Ferdinand ihm regelmäßig geschrieben und auch in Angelegenheiten seines Haushalts um Rat gefragt haben muß. Bedauerlicherweise ist nur die eine Seite des Briefwechsels erhalten. Vom 22. April 1516 stammt der erste Brief Karls an Ferdinand, der mit yo el rey unterzeichnet ist.355 In einem zweiten Schreiben gleichen Datums sah Karl sich zum ersten Mal veranlaßt, als Vormund mahnend aufzutreten, weil Ferdinands Einverständniserklärung zu seiner Vermählung mit Anna von Böhmen noch nicht in Brüssel eingetroffen war.356 Die Frist von 352 Vgl. oben 368 f. Anm. 148. Dort wurde die Version herangezogen, die bei Santa Cruz 101 und Sandoval 77 vorliegt. Das Original (Spielman/Thomas 1984, 21–23 Nr. 3) ist in zeitgenössischem Castellano abgefaßt, wodurch sich geringfügige Textabweichungen ergeben. 353 Der Bote mit der Todesnachricht und dem Testament des Katholischen Königs erreichte Brüssel am 8. Februar 1516. Der Kondolenzbrief wurde am 15. Februar abgefaßt. 354 Diesen Rat hat Ferdinand offenbar befolgt und den ehemaligen Lehrer seines Bruders sehr zu schätzen gelernt. Im Frühjahr 1516 muß er Karl empfohlen haben, Adrian das vakant gewordene Bistum Tortosa zu übertragen. Dies geht aus Karls Antwortschreiben vom 29. Juni 1516 hervor (Spielman/Thomas 1984, 26 f. Nr. 7). 355 Ebd. 24 f. Nr. 5. 356 Ebd. 25 f. Nr. 6.

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einem Jahr, innerhalb der Maximilian von der stellvertretend für einen seiner Enkel geschlossenen Ehe zurücktreten konnte, lief am 20. Mai 1516 ab.357 Karls Drängen auf Erledigung der Formalität ist verständlich, denn das Vertragswerk betraf die Dynastien Habsburg, Burgund und Trastámara gleichermaßen, und so schreibt er hier nicht nur an Vaterstelle, sondern auch im Namen des Kaisers und als Chef der Häuser Burgund und Trastámara: La Majestad del enperador y yo deseamos vuestro bien e acreçentamiento, como es razón. Para lo qual os avemos pedido vuestro poder para poderse çelebrar en vuestro nombre el acto de vuestros desposorios con la muy ylustre ynfanta doña Anna de Ungría, hija del serenisimo rey de Ungrría. Y tenéys a leal a minuta de como se ha de otorgar y hazer, e no es venido. Muy afectuosamente vos rogamos le enbiéyes en forma luego, que conviene mucho para la paçificaçión e seguridad de todos aquellos nuestros reynos e bien de la christiandad e de otros muchos provechos que plaziendo a Dios se conseguiran de tan bien aventurado matrimonio.358

Die mehrfach in Aussicht gestellte Abreise Karls in seine neuen Reiche verzögerte sich immer wieder. Er kündigte seine Ankunft für das nächste Frühjahr an und versicherte dem Bruder, ihn als ersten von seinem Aufbruch zu unterrichten. In der Zwischenzeit sollte Ferdinand sich um gutes Einvernehmen mit Kardinal Ximénes bemühen, dem der König und Königin Juana für seine Regentschaft zu Dank verpflichtet waren.359 Auch empfahl er ihm, einem wichtigen Mitglied seines Rates, das in Spanien eintreffen würde, sein Vertrauen zu schenken.360 357 Zu dem komplizierten Doppelheiratsvertrag von Preßburg und Maximilians Rolle als „stellvertretender Bräutigam“ vgl. oben 152 f. 358 Ferdinand traf offensichtlich keine Schuld an der Verzögerung. Nach Spielman/Thomas 1984, 26 hat der Infant die Vollmacht am 24. März 1516 unterzeichnet, was von Ximénes und Adrian von Utrecht als Karls Stellvertretern bezeugt wurde (Wien, HHStA, Allgemeine Urkundenreihe [Orig.]; ebd., Maximiliana 35, Konvolut 2, fol. 85 f. [Kopie]). Zu der Bedeutung der Vollmacht, die Karl für den Minderjährigen bestätigen mußte, s. Kohler 2003, 50. M. Fernández Álvarez äußert (CDCV I 74 Anm. 26) zu dem Schreiben vom 22. April 1516 die Auffassung, daß es sich bei der Heiratsabsprache für Ferdinand und Anna um eine Übereinkunft zwischen Maximilian und Karl handelte, ein politisches Manöver, mit dem man Ferdinands Entfernung aus Spanien betreiben wollte, und das man unter dem Deckmantel inszenierte, Ferdinands Position durch eine vorteilhafte Heirat zu verbessern und ihm mehr Geltung zu verschaffen. Der lange Vorlauf der Verträge zur Wiener Doppelhochzeit und deren Abschluß 1515 werden in dieser Deutung vernachlässigt. 359 Ximénes hatte stets, schon zu Lebzeiten Ferdinands von Aragon, Karls Anspruch auf die Thronfolge unterstützt. 360 Spielman/Thomas 1984, 28 f. Nr. 8 (10.10.1516). Bei dem angekündigten Mitglied des conseil handelte es sich um Charles de Poupet, seigneur de La Chaulx, der, burgundisch und frankreichfreundlich gesinnt, seine Karriere bei Hofe unter Philipp dem Schönen begonnen und den Prinzen Karl in den ritterlichen Sportarten unterwiesen hatte. Vgl. oben 202 f. m. Anm. 132.

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Unmittelbar vor dem Auslaufen der Flotte, die den neuen König endlich nach Spanien bringen sollte, schrieb Karl am 7. September 1517 in Middelburg den inhalts- und folgenschwersten Brief, der aus der Korrespondenz der frühen Jahre mit dem Bruder überliefert ist.361 Der Ältere hat als Vormund grundlegende Veränderungen in Ferdinands Haushalt – also in dessen engster Umgebung – angeordnet, die er dem Infanten in diesem Schreiben mitteilt. Dieser Schritt ist vergleichbar mit Margaretes Versuch, 1513 durch die Ordonnanz pour le gouvernement de la personne de Monseigneur die Erziehung Karls in die gewünschten Bahnen zurückzulenken.362 Während für Karl die angestrebte Neuordnung, wie oben gezeigt, ohne Konsequenzen blieb, setzte er als Vormund sein Vorhaben ohne Abstriche durch. Verständlich werden der Brief und die darin erwähnten Maßnahmen nur im Zusammenhang mit ihrer Vorgeschichte, d.h. mit den Ereignissen der äußerst bewegten Kinder- und Jugendjahre des Infanten, von seiner Geburt 1503 bis zum Zeitpunkt von Karls Einschreiten.

Exkurs: Der „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon Kaum ein Historiker, der sich mit der Jugend Ferdinands I. und mit einer Gegenüberstellung der Brüder Karl und Ferdinand auseinandersetzt, versäumt es hervorzuheben, daß Ferdinand der „Lieblingsenkel“ des Katholischen Königs gewesen sei. Häufig wird daraus der Schluß gezogen, daß der Jüngere aus diesem Grunde eine glücklichere Kindheit verlebt habe als der burgundische Bruder363 und sich infolgedessen zu einer aufgeschlosseneren, harmonischeren und liebenswürdigeren Persönlichkeit entwickeln konnte. In seiner Biographie Ferdinands I. kann Kohler daher nicht umhin, das oft wiederholte Wort vom „Lieblingsenkel“ aufzugreifen, um es sogleich zu hinterfragen: „Meist hat man im Infanten den Lieblingsenkel Ferdinands des Katholischen gesehen. Aber was bedeutete es wirklich, sich der «Fülle der großväterlichen Liebe» des Königs von Aragonien sicher zu sein? Fand der Infant in seinem aragonesischen Großvater wirklich die uneingeschränkte Unterstützung bis hin zu einer Nachfolge in den spanischen Königreichen anstelle seines älteren Bruders Karl?“364 361 Dieser Brief ist nicht eigentlich zu den bisher unbekannten zu zählen, da er seiner Bedeutung entsprechend bereits in Abschrift in frühen Quellensammlungen überliefert ist. Er liegt in drei (v.a. in Orthographie und Interpunktion) leicht voneinander abweichenden Fassungen vor; inhaltliche Differenzen betreffen nur das Postscriptum: (1.) Wien, HHStA, Familienkorrespondenz A 1, fol. 76 f. (Ed. u. Komm.: Spielman/Thomas 1984, 29–33 Nr. 9); (2.) Bauer 1912, 6–9 Nr. 8 (nach einer älteren Ausgabe von Ch. Weiß); (3.) Madrid, BN, Ms. 1778, fol. 27v (Abschrift des Chronisten Páez de Castro zwischen 1555 und 1570; Ed.: CDCV I 71–74 Nr. XII). 362 Vgl. oben 112. 363 Z.B. Poensgen 1960, 174. 364 Kohler 2003, 39.

Der „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon

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In der Tat stellt es sich bei näherer Betrachtung als eine Simplifizierung sehr viel komplexerer Sachverhalte heraus, wenn man die Jugendjahre des Infanten bis 1516 vorwiegend unter dem Aspekt seiner Rolle als Favorit des Großvaters beurteilt. Der Ursprung mancher Fehldeutungen ist in den dürftigen und einseitigen Zeugnissen zu diesem Lebensabschnitt Ferdinands zu suchen.365 Das beginnt bereits mit einer Überbewertung der pompösen Tauffeiern und der Namenswahl für den zweiten Sohn Philipps und Juanas, der am 19. März 1503 vom Erzbischof von Toledo, Francisco Ximénes de Cisneros, auf den Namen des spanischen Großvaters getauft wurde.366 Nach den Schicksalsschlägen, die den Katholischen Königen im Laufe weniger Jahre drei mögliche Thronerben – Juan, Isabella von Portugal und Miguél – genommen hatten, ist die Freude über die Geburt des zweiten Enkelsohnes verständlich, die ihren Ausdruck in den prächtigen Festlichkeiten fand. Mit der Namensgebung für dieses Kind verschaffte sich die stolze spanische Linie Geltung, nachdem der Erstgeborene mit dem Rückgriff auf Karl den Kühnen in die burgundische Tradition gestellt worden war und schon mit dieser Anknüpfung den Anspruch des Hauses auf die Wiederherstellung der alten Besitzverhältnisse wachhalten sollte. Mit der Namenswahl für den Infanten war aber keineswegs eine Vorentscheidung für die Thronfolge in Kastilien und Aragon gefallen, wie das Testament Isabellas von Kastilien von 1504 belegt, in dem sie ausdrücklich Karl zum Erben der kastilischen Krone bestimmt, für den – falls Juana nicht regieren könne oder wolle – Ferdinand von Aragon bis zum 20. Lebensjahr die Regentschaft übernehmen soll.367 Gegen eine frühzeitige Festlegung auf den Infanten Ferdinand als Nachfolger in den spanischen Reichen sprechen auch die wiederholten Bemühungen zunächst beider spanischer Großeltern, nach 1504 die des Königs, Karl zur Erziehung nach Spanien bringen zu lassen.368 Der kleine spanische Prinz blieb nach seiner Geburt nur wenige Monate in seinem Geburtsort Alcalá de Henares in der Nähe seiner Mutter. Königin Isabella, die selbst damals schon leidend war, erkannte bald, daß Juana keinerlei Interesse für ihr Kind aufbrachte, und nahm sich des Enkels an, den sie zunächst nach Segovia, dann nach Arévalo bringen ließ, wo sie ihm einen Wiegenhaushalt einrichtete, der anfangs nur 25 Personen umfaßte. Die Leitung wurde don 365 Die ausführlichste Quelle für die Kinder- und Jugendjahre Ferdinands ist Sandoval, der sich – in einem zeitlichen Abstand von fast 100 Jahren – auf die relación (Historia del Príncipe Don Fernando: Kohler 2003, 38) des Dominikaners Alvaro Osorio de Moscoso von 1512 stützt, der von 1505 an Lehrer des Infanten war, später zum Bischof von Astorga aufstieg und zu denen gehörte, die 1517 auf Karls Anordnung aus der Umgebung Ferdinands entfernt wurden. Die Tendenz der Primärquelle dürfte damit deutlich sein. 366 Sehr ausführlich dazu Sandoval 22–24. 367 Petrus Martyr, epist. 276 (p. 431 W., 19.11.1504). 368 Vgl. oben 26 m. Anm. 32; 63.

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Diego Ramírez de Guzmán, dem Bischof von Catania, übertragen, der damit eine Stellung einnahm, die der des Gouverneurs des burgundischen Kinderhaushalts entsprach. Zur Erzieherin (aya) Ferdinands wurde doña Isabel de Carvajal bestimmt.369 Wie in Burgund wurden also auch in Kastilien Mitglieder der Aristokratie mit der Verantwortung für den Prinzen betraut. Angehörige der Familie Guzmán sollten bis 1517 eine wichtige Rolle im Leben des Heranwachsenden spielen. Zu erwähnen ist noch der Leibarzt des Infanten, Dr. Juan de la Parra.370 Im März 1504 vermochte Isabella ihre Tochter nicht mehr daran zu hindern, in die Niederlande aufzubrechen. Wohl mehr zu ihrer eigenen Beruhigung als auf Wunsch der Prinzessin ordnete die Königin den Bischof von Catania zu Juanas Begleitung ab, der als Leiter des prinzlichen Haushalts für die Zeit seiner Abwesenheit durch Antonio de Rojas, den Bischof von Mallorca, vertreten wurde. Juana hat offenbar nie in Erwägung gezogen, ihr jüngstes Kind, das der Vater bisher nicht gesehen hatte, auf die Reise mitzunehmen. Angesichts der Gleichgültigkeit Juanas gegenüber ihrem Sohn dürfte es die Thronfolgerin wenig berührt haben, daß die Katholischen Könige den Infanten als „Faustpfand“ behielten.371 Juana sollte ihre Mutter nicht wiedersehen. Isabella starb am 25. November 1504 in Medina del Campo. König Ferdinand mußte – zunächst vorläufig – die Regentschaft über Kastilien und gleichzeitig die Fürsorge für den Enkel übernehmen. Die kastilischen Granden und Cortes drängten auf ein baldiges Kommen des Thronfolgerpaares, damit die Herrschaft des Aragonesen bald ein Ende fände und in die Hände ihrer rechtmäßigen Königin überginge. Ferdinand von Aragon hingegen war an vorhersehbaren Auseinandersetzungen mit dem Schwiegersohn nicht gelegen und riet von der Reise nach Spanien ab.372 Statt der Eltern sollte Prinz Karl kommen, um Kenntnisse der Sprache und Sitten des Landes zu erwerben und sich so auf seine künftige Herrschaft vorzubereiten. Als sich die Ankunft Philipps und Juanas weiter verzögerte, versammelten sich zu Beginn des Jahres 1505 alle Vertreter des Adels und der Städte in Toro, um in Gegenwart des 369 Sandoval 66. Die aya ist nicht identisch mit der ama, der Amme und Kinderfrau Ferdinands, die der Infant nach ihrer Entlassung aus seinen Diensten belohnen wollte. Karl, der sich selbst zeitlebens seiner Amme voller Dankbarkeit erinnerte (vgl. oben 24 f.), stimmte dem zu und riet, die Frau wieder einzustellen (Spielman/Thomas 1984, 24 Nr. 5 [22.4.1516]). 370 Ich konnte nicht feststellen, ob es sich bei Dr. de la Parra um den Arzt gleichen Familiennamens handelte, der Philipp den Schönen während seiner letzten Erkrankung behandelte und der auch den Bericht über deren Verlauf verfaßte. Cauchies 2003, 204 gibt dessen Vornamen allerdings mit Gonzalo an. Vgl. auch oben 80 Anm. 198. 371 Sutter 1971, 17*. 372 Auf die unmittelbar nach dem Tode Isabellas einsetzenden Streitigkeiten zwischen Philipp dem Schönen, der selbstherrlich den Titel eines Königs von Kastilien angenommen hatte, und seinem Schwiegervater wurde bereits eingegangen (s. oben 27 f.).

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Katholischen Königs ihren Eid auf Juana als Königin von Kastilien und auf ihren Sohn Karl als Erbprinzen und möglichen Nachfolger abzulegen.373 Eine Berücksichtigung des Infanten bei der Übernahme des kastilischen Erbes ist damals offensichtlich nicht in Erwägung gezogen worden. Noch bevor dessen Eltern in Spanien eintrafen, ergriff Ferdinand von Aragon die Initiative und ordnete den Haushalt des Prinzen neu. Indem der König vollendete Tatsachen schuf, wollte er zweifellos Kontroversen mit dem burgundischen Schwiegersohn und der unberechenbaren Tochter über die Erziehung des Infanten vermeiden, denn für König Ferdinand stand fest: Da die habsburgisch-burgundische Seite es verhindert hatte, daß der Erstgeborene in Spanien erzogen wurde, sollte dem jüngeren Bruder, den die Eltern ohne Anordnungen zu treffen zurückgelassen hatten, die Erziehung und gründliche Bildung zuteil werden, die einem spanischen Prinzen gebührte, so wie die Katholischen Könige sie auch ihren eigenen Kindern, insbesondere dem Prinzen Juan, hatten angedeihen lassen. Die Ordnung für den Haushalt des Infanten, die der König am 6. Mai 1505 verfügte, behielt ihre Gültigkeit bis zum Eingreifen Karls 1517. Die Positionen, auf denen die größte Verantwortung ruhte, wurden neu besetzt: Zum Erzieher (ayo) des Prinzen und gobernador des Haushalts wurde Pedro Nuñez de Guzmán, der Schlüsselmeister des Calatrava-Ritterordens, ernannt,374 der bereits Kammerherr des Prinzen Juan gewesen war. Gonzalo de Guzmán, zuvor Kaplan Königin Isabellas, rückte zum capellán mayor des Infanten auf. Moderne Historiker haben, wie erwähnt, vielfach kritisiert, daß Karls Erzieher sich in fortgeschrittenem Alter befanden und daher ihren Zögling nicht angemessen auf seine Aufgaben an der Schwelle eines neuen Zeitalters vorbereiten konnten. Die hier genannten Guzmáns dürften aber ebenfalls der älteren Generation angehört haben, da sie bereits seit langem im Dienst des spanischen Königshauses standen. Im Herbst 1505 erhielt der Prinz den Dominikaner fray Alvaro Osorio de Moscoso als ersten Lehrer.375 Eine Verteilung der Aufgaben auf einen geistlichen und einen ritterlichen Erzieher scheint es nicht gegeben zu haben. Dr. Parra, der Arzt des Infanten, gehörte zu den wenigen Mitgliedern des Haushalts, die Ferdinand in ihren Ämtern beließ. Mit der Neuordnung des Hofstaats ging dessen Vergrößerung auf 62 Personen einher. Wie in den Niederlanden gehörten auch in Spanien Edelknaben zum Hof eines Prinzen, die dessen Erziehung teilten. Wenn die Bildungsinhalte, die dem Infanten im Laufe der Jahre vermittelt wurden, sich auch stark von dem Lehrstoff unterschieden, den man seinem bur373 Sandoval 26. 374 Ebd. 66. Pedro Nuñez de Guzmán war der Bruder des Amtsvorgängers Diego Ramírez de Guzmán. Zur Neubesetzung der Ämter ausführlich Kohler 2003, 38. 375 Nach Sandoval 66. 68 war auch Osorio mit der Familie Guzmán verwandt, vermutlich ein Vetter des ayo.

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gundischen Bruder nahezubringen versuchte, so folgte die Organisation ihres Hofes und ihrer Erziehung doch dem gleichen Konzept, wie es für Prinzen der europäischen Fürstenhäuser als verbindlich angesehen wurde. Darüber hinaus treten bei einem Vergleich der Haushalte der beiden Brüder Parallelen zutage: Die leitenden Ämter wurden Angehörigen der bedeutendsten Adelsfamilien des Landes anvertraut, wobei in beiden Fällen eine Familie besonders hervortritt. Waren es in Burgund die Croys, so entsprachen ihnen in Spanien die Guzmáns. Ein gemeinsames Element der Prinzenerziehung in beiden Ländern ist der Einfluß der Ritterorden. Die Gouverneure gehörten zu den angesehensten Ordensrittern ihres jeweiligen Landes und machten die Heranwachsenden früh mit den Zielen und Idealen dieser adligen Elite vertraut und bereiteten sie auf ihre führende Rolle innerhalb der Orden vor. Wie sein älterer Bruder ist der Infant mit Sicherheit in den adligen Sportarten unterwiesen worden, und wie Karl wurde er ein leidenschaftlicher Reiter und Jäger. Zwei kurze Briefe Ferdinands von Aragon bezeugen, daß Großvater und Enkel die Vorliebe für die Jagd teilten und der König es bedauerte, wegen seines schlechten Gesundheitszustands vorerst keine gemeinsamen Jagdausflüge mit dem Prinzen unternehmen zu können.376 Noch bevor das Thronfolgerpaar in Spanien eintraf, war Ferdinand von Aragon am 18. März 1506 seine zweite Ehe mit der achtzehnjährigen Germaine de Foix eingegangen, von der er sich einen Sohn und Erben erhoffte, der Karl von seiner Position in der Erbfolge verdrängen konnte.377 Von einer Bevorzugung des Infanten kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Bis zur Ankunft seiner Eltern in Spanien verlief das Leben des Infanten in Arévalo in ruhigen, wohlgeordneten Bahnen. Er wurde sorgfältig behütet, denn schon Isabella und später König Ferdinand hatten den ayo verpflichtet, nie von der Seite des Kindes zu weichen. Sie wußten nur zu gut um die Machtkämpfe unter den Granden, um deren feindselige Einstellung gegenüber dem Aragonesen und die daraus resultierende Parteinahme zahlreicher Adliger für Philipp den Schönen. Als Philipp nun selbst im Lande war und der Gegensatz zwischen ihm und seinem Schwiegervater zu offener Feindschaft eskalierte, wurde das dreijährige Kind tatsächlich zum Faustpfand, dessen sich die verschiedenen Parteiungen zu bemächtigen versuchten. Der Kampf und die Intrigen um den Infanten müssen etwa Anfang Juni 1506 begonnen haben; sie endeten erst zehn Monate nach Philipps Tod, nachdem Ferdinand von Aragon am 20. Juli 1507 aus Süditalien zurückgekehrt war. Die Aussagen der Quellen zu dieser bewegten Phase differie376 Bauer 1912, 3 Nr. 3–4 (12.11. und 14.12.1515). Sandoval 83 behauptet, daß der junge Ferdinand, als er 1516 von der Testamentsänderung seines Großvaters erfahren hatte, seine Enttäuschung und Anfälle von Melancholie zu überwinden versuchte, indem er sich auf die Jagd begab. 377 Vgl. oben 63 Anm. 141.

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ren außerordentlich hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Tendenz: Der Verfasser des Berichtes über Philipps zweite Spanienreise begnügt sich mit einem Satz, der nichts von der Dramatik der Ereignisse andeutet, die Sandovals vierseitige Schilderung (nach Osorio) in geradezu verwirrender Fülle bietet.378 In dem Bericht zum Deuxième voyage heißt es nur: Le roy de Castille,379 estant audict Tudelle [Tudéla de Duero] jusques au premier jour de septembre, [...] fit mené son fils Fernande à Wailledoly [Valladolid], et depuis à Cymanque [Simancas], et puis se tira envers la ville de Burghes [Burgos].380

Damit unterstellt der anonyme Verfasser des Reiseberichts, daß Philipp sich erst mehr als vier Monate nach seinem Eintreffen in Spanien entschloß, seinen Sohn nicht länger den Getreuen seines Schwiegervaters zu überlassen. Einige erhaltene Briefe aus der Korrespondenz Philipps mit seinem Vertrauten Diego de Guevara381 beweisen allerdings, daß bereits Anfang Juni 1506 Versuche unternommen wurden, den Infanten dem Einflußbereich des Aragonesen zu entziehen.382 Damit gewinnt die Darstellung Sandovals, der ich im wesentlichen folge, an Glaubwürdigkeit.

378 Sandoval 66–69. 379 Zu diesem Zeitpunkt durfte Philipp zu Recht König von Kastilien genannt werden: Am 27./28. Juni 1506 war der Vertrag von Villafávila geschlossen worden, in dem die Abmachungen von Salamanca (1505) der neuen Situation angepaßt wurden (vgl. oben 78 f.). Philipp und Juana wurden darin als Könige von Kastilien anerkannt. Aufgrund ihrer Erkrankung, die an dieser Stelle erstmals offiziell dokumentiert ist, wurde Juana jedoch von einer Regierungsbeteiligung de facto ausgeschlossen. Nach außen hin wurde klugerweise der Schein gewahrt: Am 12. Juli 1506 legte das Herrscherpaar gemeinsam in Valladolid den Eid ab, ferner erneuerten und bekräftigten die Cortes ihre Treueide von 1502 und 1505, allerdings ohne Berücksichtigung der Sonderklausel des Vertrags von Villafávila. Ihr Schwur galt der Königin Juana und Philipp, dem roi consort. Karl als Erbe der Königin wurde ausdrücklich in den Eid einbezogen. Ferdinand von Aragon zog sich nach Abschluß des Vertrages in sein Königreich zurück, um sich kurz darauf nach Neapel zu begeben. Vgl. Cauchies 2003, 196. 198. 380 Voyages I 449. 381 Diego de Guevara war damals maître d’hotel de la reine (Cauchies 2003, 192). 382 Voyages I 520 (appendice XVIII, Philipp an Guevara, 6.6.1506: Jehan [an anderer Stelle: Juan] Velasques, den Philipp zum contador mayor ernannt hat, soll schwören und sich verpflichten, mit Leib, Leben und allem Besitz den Infanten zu schützen sowie Stadt und Festung von Arévalo Philipp zu übergeben). 533 (appendice XXII, Guevara an Philipp, 9.6.1506: Velasques hat den Infanten nicht mehr in der Festung von Arévalo vorgefunden. Es ist während der Abwesenheit von Philipps Beauftragten das geschehen, was man hatte verhindern wollen: Der Infant war an einen bis soweit unbekannten Ort gebracht worden). 539 f. (appendice XXVII, Guevara an Philipp, 12.6.1506: Remond de Cardone, König Ferdinands Regent in Neapel und Sizilien, war in geheimer Mission in Arévalo eingetroffen. Die Frau des Velasques hörte davon und bat ihn ins Haus. Zweifellos war

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Philipp selbst begann erst nach dem Abschluß des Vertrages von Villafávila, vermutlich sogar erst nach seiner Eidesleistung, aktiv in die Lebensumstände seines Sohnes einzugreifen. Die Maßnahmen, die er traf, müssen demnach dem Zeitraum zwischen Mitte Juli und Anfang September 1506 zugeordnet werden. Aus dem Bericht Sandovals lassen sich die Stationen des „Wanderlebens“ des Infanten in dieser Zeit ablesen: Pedro de Guzmán, der ayo des Prinzen, erschien in Valladolid vor dem König, um ihm seine Reverenz zu erweisen und die Pläne des Vaters für den Infanten in Erfahrung zu bringen. Philipp wünschte seinen Sohn zu sehen und ließ ihn umgehend nach Valladolid bringen. Allerdings zog er das Kind nicht an seinen Hof, sondern quartierte es für einige Tage im Hause des Marqués de Astorga ein. Daraus kann man den Schluß ziehen, daß Philipp sehr genau wußte, daß er mit dem Königstitel keineswegs auch die Herrschaft über das Land errungen hatte. Mißtrauen, Unzufriedenheit und schlecht verhohlene Feindseligkeit waren spürbar und ließen den Hof als einen gefährlichen Aufenthaltsort für ein kleines Kind erscheinen. Auf Anraten des notorischen don Juan Manuel, der seine eigenen Ziele verfolgte, soll Philipp erwogen haben, Pedro de Guzmán als ayo und gobernador seines Sohnes durch Garcilaso de la Vega (den Vater des Dichters) zu ersetzen und alle Mitglieder von Ferdinands Haushalt zu entlassen. Um das Angebot verlockender erscheinen zu lassen, stellte er de la Vega in Aussicht, ihm die verantwortungsvolle Aufgabe auch für den Prinzen Karl zu übertragen, wenn dieser nach Spanien übergesiedelt sei; sobald Karl im Lande eingetroffen sei, müsse nämlich der Infant nach Flandern gebracht werden. Falls Sandoval, der mit seinen Materialien großzügig verfährt, den Text des Osorio hier korrekt referiert, hat Philipp also bereits 1506 mit dem Gedanken an die „Rochade“, den Austausch der beiden Brüder, gespielt.383 Der Plan Philipps zu einer Neuordnung des Haushalts seines Sohnes fiel in die kurze Phase nach seinem Regierungsantritt, als er sich mit der Neubesetzung er wegen des Infanten gekommen, den er aber nicht vorfand. Guevara hofft, daß Philipp inzwischen gute Nachrichten von seinem Sohn hat). 383 Konkreter formuliert wurde dieser Plan dann im Vertrag von Blois (1509) zwischen Maximilian I. und Ferdinand von Aragon sowie in den capitulaciones, die Adrian von Utrecht mit dem Katholischen König aushandelte. Vgl. oben 291 Anm. 419. Umgesetzt wurde die Vereinbarung allerdings erst nach dem Regierungsantritt Karls in Spanien; darauf wird unten eingegangen. Überlegungen, wie man einen Machtkampf der Brüder um das spanische Erbe verhindern könnte, hat es vermutlich schon früh gegeben. Santa Cruz 24 deutet für die Zeit unmittelbar nach Philipps Tod ebenfalls die Möglichkeit einer „Rochade“ an, wobei zunächst geplant war, daß Maximilian seinen Enkel Karl nach Spanien begleiten sollte, um auf der Rückreise den Infanten nach Flandern zu führen. Dieses Vorhaben stieß in Spanien auf Ablehnung: So sehr man Karls Ankunft wünschte, so wenig willkommen war Maximilian.

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zahlreicher Ämter, die er an Gegner Ferdinands von Aragon oder an flamencos vergab, Unmut zuzog und Feinde machte. Aus der Rückschau betrachtet war es ein Glücksfall für das Kind Ferdinand, daß es Philipp nicht gelang, de la Vega für das Amt des gobernador zu gewinnen, denn vermutlich hätte Ferdinand von Aragon diesen Schritt nach Philipps Tod umgehend rückgängig gemacht. Die letzte Anordnung, die Philipp für seinen Sohn traf, war dessen Übersiedlung nach Simancas, wo er ihn sicherer glaubte. Philipp selbst begab sich nach Burgos, wo er am 7. September 1506 eintraf und wo ihn drei Wochen später der Tod ereilte. Als sich Gerüchte von Philipps Tod im Lande zu verbreiten begannen, drohten Unruhen, die vor allem von den Adligen geschürt wurden, die sich durch den König ihrer Ämter und Rechte beraubt fühlten. Es war nur dem energischen Durchgreifen des Erzbischofs von Toledo, Francisco Ximénes de Cisneros, der auch das Amt des Kanzlers von Kastilien innehatte, und des Consejo Real zu verdanken, daß mit ihrer Übernahme der Regentschaft die Ordnung im Lande leidlich aufrechterhalten wurde. Ximénes, aber auch die Erzieher Ferdinands erkannten sofort die Gefahr, in der der Infant nun schwebte. Unverzüglich ergriffen beide Seiten Maßnahmen zu seiner Sicherheit. Der Bischof von Catania, don Diego Ramírez de Guzmán, schickte bereits Ferdinands Lehrer Osorio von Valladolid nach Simancas zu seinem Bruder Pedro de Guzmán, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, daß keine Hoffnung mehr für den König bestand. Der ayo des Prinzen bewaffnete sich und sicherte den Ort, um den Infanten gegen mögliche Entführungsversuche der kastilischen Granden verteidigen zu können. Dazu ließ er die Tore versperren und die Mauern instandsetzen; ferner informierte er die Einheimischen, die sich daraufhin bereiterklärten, sich für die Rechte der Königin und den Schutz des Infanten einzusetzen. Obwohl man in Simancas keine Gewißheit über den tödlichen Ausgang der Krankheit des Königs hatte, hielten der gobernador und seine Männer die ganze Nacht Wache, weil sie mit dem Anrücken von Bewaffneten unter dem Befehl von gewissen Granden rechneten. Der Bischof von Catania schickte dem Bruder Verstärkung. Bei Tagesanbruch näherten sich berittene Bogenschützen in den Farben Philipps, die von Diego de Guevara und Felipe de Ávila, einem weiteren Günstling des Königs, angeführt wurden. Pedro de Guzmán gewährte nur den beiden Anführern Zutritt zu der Stadt, da sie erklärten, im Auftrag des Königs zu kommen. Sie übergaben dem gobernador Briefe, von denen einer die Unterschrift des Königs trug. In Anbetracht der ungewissen Lage bezweifelte Guzmán zunächst die Echtheit des Schreibens, die aber durch einen zweiten Brief, von der Hand des Ximénes, bestätigt wurde. Damit lag Guzmán die letzte Verfügung Philipps darüber vor, was mit dem Infanten geschehen sollte: Ferdinand sollte den beiden Gewährsleuten des Königs übergeben werden, die ihn aus der Stadt Simancas auf die Festung bringen sollten, die Philipp einem flandrischen Ritter zu Lehen gege-

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ben hatte.384 Da der gobernador keine Bestätigung der Todesnachricht erhalten hatte, zögerte er die Übergabe seines Schützlings hinaus. Er ließ die Abgesandten des Königs den Infanten sehen und beherbergte sie im Schloß. Den gesamten folgenden Tag ließ Guzmán den Infanten unter den Schutz seiner Bewaffneten stellen. Währenddessen verhandelte der Bischof von Catania in Valladolid über Maßnahmen zum Schutze des Prinzen mit der Chancillería, denn sie stellte nach dem Tode des Königs und in Anbetracht der Regierungsunfähigkeit der Königin die höchste Instanz königlicher Gerichtsbarkeit dar.385 Man beschloß, ganz Valladolid aufzurufen, sich zu bewaffnen und den Infanten in die eigene Stadt zu geleiten, wo er sicherer wäre. 3000 Bewaffnete zu Fuß und zu Pferde sollen sich daraufhin aufgemacht haben, um den Prinzen zu schützen. Sie durften allerdings die Stadt Simancas nicht betreten. Eingelassen wurden nur der Bischof und die Rechtsvertreter, denen ebenfalls gestattet wurde, sich davon zu überzeugen, daß der Infant wohlauf war. In dieser angespannten Situation erhielten die Abgesandten beider Parteiungen, die unter dem Dach der Festung von Simancas vereint waren, am folgenden Tag die Bestätigung der Todesnachricht. Da mit dem Tode des Königs seine letzte Verfügung hinfällig wurde, hing das weitere Vorgehen von der Entscheidung der Königin ab. Man verständigte sich darauf, das Kind von seinen Erziehern unter dem Schutz Bewaffneter nach Valladolid bringen zu lassen. Dort wurde der Infant in den Gebäuden der Chancillería untergebracht, während man Osorio nach Burgos entsandte, damit er von der Königin weitere Anweisungen einhole. Der Zustand Juanas nach dem Tode Philipps ist in einem früheren Kapitel hinreichend geschildert worden. So verwundert es nicht, daß sie Osorio keine Audienz gewährte, sondern ihm lediglich mitteilen ließ, daß sie alles gutheiße, was der Bischof bisher für ihren Sohn getan habe. Nach der erfolglosen Mission des Osorio ließ Pedro de Guzmán den Infanten in das Colegio de San Pablo bringen, wo man ihn mit Freuden empfing, wenn auch der Aufenthalt in dem geistlichen Haus für das Kind bedeutete, daß es für einige Zeit auf die Betreuung durch die Kinderfrauen verzichten mußte, die das Kolleg nicht betreten durften. Durch eine Verordnung des Consejo Real, der sich in Burgos versammelt hatte, wurde dem ayo die alleinige Verantwortung für Ferdinand entzogen: Die Sorge für dessen Sicherheit mußte er sich mit den Räten von Valladolid teilen; zur Bewachung des Kindes wurden zusätzlich Bewaffnete aus Valladolid abgeordnet. Aus dem Haushalt der Königin wurde ferner ein Dutzend Leibgardisten zum Schutz des Prinzen abgestellt; der Katholische König erhöhte deren Zahl 384 Nach Fernández Álvarez 2000, 146 handelte es sich um La Chaulx. 385 Juanas Regierungsunfähigkeit aufgrund ihrer Geisteskrankheit wird an dieser Stelle ausdrücklich benannt: la reina no tenía sano el juicio para gobernar (Sandoval 68).

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nach seiner Rückkehr auf 26. Vorerst aber bedurfte es einiger Verhandlungen, bis die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Consejo Real, der Stadt Valladolid und dem gobernador beigelegt waren. Wie lange der Infant in Valladolid blieb, ließ sich nicht feststellen. Gegen Ende Dezember 1506 muß er sich dort noch aufgehalten haben, wie aus den gelegentlich eingestreuten Daten im Bericht zur zweiten Spanienreise Philipps hervorgeht.386 Bei Sandoval heißt es dazu nur: Despachada así por el Consejo esta provisión, el infante estuvo en la guarda del clavero [Pedro de Guzmán] pacíficamente sin que se intentasen otras novedades, hasta que el Rey Católico volvió a gobernar en Castilla.387

In den Quellen und in der biographischen Literatur finden sich jedoch einige – allerdings sehr vage – Hinweise darauf, daß Ferdinand, vermutlich zwischen April und Oktober 1507, eine Weile bei der Mutter lebte, in der Zeit also, als die Königin ruhelos mit dem Leichnam Philipps durch das Land zog. Im Januar hatte sie ihre Irrfahrt in Torquemada notgedrungen unterbrechen müssen: Dort wurde am 14.1. ihr sechstes Kind, die Tochter Katharina, geboren. Ende April, als die wohl übliche Ruhezeit nach der Entbindung vorüber war, brach die Königin erneut auf und setzte das Neugeborene den Strapazen des täglichen Ortswechsels aus.388 Möglicherweise hat sie während ihres Aufenthalts in Torquemada auch den Sohn zu sich rufen lassen; diesen Schluß hat A. Kohler in seiner Biographie Karls V. gezogen: „Johanna kam zunächst nur bis Torquemada, wo sie ihre Tochter Katharina zur Welt brachte. Hier blieb sie bis April 1507, rief ihren Sohn, den Infanten Ferdinand zu sich, und hielt sich dann, von einigen Zwischenstationen abgesehen, in Arcos auf.“389 In seiner Biographie Ferdinands I. erwähnt Kohler dieses Zwischenspiel nicht mehr, obwohl er auf die Einsetzung der Erzieher des Infanten und die Versuche der Parteiungen eingeht, sich des Infanten zu bemächtigen. Abschließend zu diesem Lebensabschnitt des Kindes heißt es dort nur: „Er [der aragonesische Großvater] verhinderte zunächst, daß Ferdinand seiner Mutter Johanna anvertraut wurde; vielmehr kümmerte er sich selbst um dessen Zukunft.“390 Ganz ähnlich ist B. Sutter verfahren: Er sagt einiges über die Erzieher Ferdinands und über die Wirren, in die das Kind hineingezogen wurde, wobei er sich 386 Nachdem der Verfasser bereits auf Ereignisse eingegangen ist, die sich um Weihnachten zugetragen haben, fährt er fort: Et ceulx de la ville de Wailledolif [...] prindent le seigneur don Fernande [...] et le menèrent en leur ville, en laquelle il est encoires de présent (Voyages I 454). 387 Sandoval 69. 388 Fernández Álvarez 2000, 150: „A fines de abril, pasada la cuarentena de su parto, Juana pone otra vez en marcha el funébre cortejo [...].“ 389 Kohler 1999, 46. 390 Kohler 2003, 39.

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allerdings auf die Phase nach Philipps Tod beschränkt, und schreibt dann zum Eingreifen Ferdinands von Aragon in die Erziehung seines Enkels: „Am 20. Juli 1507 fuhr Ferdinand der Katholische unter ungeheurem Jubel in den Hafen von Valencia ein. Wenige Monate später sah er sich gezwungen, im Dorfe Arcos [...] seiner Tochter Juana zu eröffnen, daß sein Enkelsohn Ferdinand nicht bei ihr bleiben könne, da er unter Männern aufwachsen müsse.“391 Daraus läßt sich nur der Schluß ziehen, daß der Infant zu diesem Zeitpunkt bei der Mutter lebte. Den Beweis dafür, daß die verwirrte Königin tatsächlich ihre beiden kleinen Kinder zumindest zeitweise auf ihrem gespenstischen Zug durch das Land mitführte, liefert ein Brief des Petrus Martyr: Rex natam compellavit, ut ex sancta Maria campi in amplam urbem aliquam curia duceretur. Annuit patris mandato, discessimus quisque suo more, matutinis Rex, nocturnis Regina itineribus. Suoque ferali curru, & duobus filiis, mare Fernando, Catharina foemina infantibus in Hispania natis comitata. Arcos villa est itinere recto ad urbem Burgensem ad stadia quindecim, ea iter faciebamus, quom Regina ignara prius quo duceretur, progredi recusavit.392

Ob der Infant in dieser Zeit von seinen Erziehern begleitet wurde, geht aus dem Brief nicht hervor. Das Eingreifen Ferdinands von Aragon in dieser Situation ist nur zu verständlich, ja mehr als gerechtfertigt, wenn auch Juana sich zunächst dagegen wehrte, wie Sandoval berichtet: Entonces trajo consigo al infante, aunque la reina su madre lo quería tener; mas el rey no lo consintió, porque como ella no tenía el juicio asentado, no le dejaba salir de unos aposentos, y hacíale comer demasiado, y temióse que con tal desorden perdería el niño la salud y aún la vida. Así lo trajo siempre consigo el rey [...].393

M. de Ferdinandy glaubt, daß die kranke Königin ihrem Vater „die Entführung des kleinen Ferdinand nie verziehen hat“.394 Es ist offenbar nicht erwogen worden, die wenige Monate alte Katharina ebenfalls aus der bedrückenden Gegenwart ihrer Mutter in eine zuträglichere Umgebung zu versetzen. Vergleicht man, was den Brüdern Karl und Ferdinand in ihren ersten Kinderjahren widerfuhr, so kommt man schwerlich zu dem Schluß, daß Ferdinand die „bessere“, glücklichere Kindheit hatte. Auch er war ein „enfant abandonné“ wie seine burgundischen Geschwister. Nicht verlassen wurde nur Katharina: Sie blieb bis zu ihrer Heirat an die kranke Mutter gefesselt als die eigentliche „Gefangene von Tordesillas“. Wenn das Kind Ferdinand schon in seinen ersten Jahren ebenso wie sein älterer Bruder als Spielball im Kampf um Macht und Herrschaft benutzt 391 Sutter 1971, 21*. 392 Petrus Martyr, epist. 366 (p. 463 W., 12.10.1507). 393 Sandoval 69. 394 Ferdinandy 1966, 201.

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wurde, so doch auf ganz andere, direkt spürbare Weise. Während die Heiratsabkommen, die für Karl geschlossen wurden, das friedliche Leben des Kindes im stillen Mecheln nicht beeinträchtigten, war der Jüngere dem Ringen um seine Person unmittelbar ausgesetzt. In der biographischen Literatur trifft man dort, wo sie auf die frühen Jahre der Kinder Philipps und Juanas eingeht, gelegentlich auf eine gleichlautende Formulierung, daß sie nämlich „in der Obhut“ Margaretes bzw. der spanischen Großeltern aufwuchsen.395 Das bedeutet zunächst einmal, daß die Erzherzogin wie auch die Katholischen Könige die Verantwortung für das Wohlergehen und die Erziehung der Kinder übernahmen und deren maison entsprechend ausstatteten. Diese Maßnahmen wurden in den Niederlanden wie in Spanien ganz im Sinne der üblichen Grundsätze zur Erziehung fürstlicher Kinder durchgeführt. Doch in Hinsicht auf das, was man unter „Obhut“ darüber hinaus versteht, nämlich Zuwendung zu den anvertrauten Kindern, war der Unterschied groß: Von Margaretes liebevoller Fürsorge, von ihrer Anteilnahme an den Freuden und Leiden der burgundischen Geschwister war ausführlich die Rede, auch davon, daß sie die gute, ja bessere Mutter genannt wurde. Sie war zur Stelle, wenn die Kinder sie brauchten. Königin Isabella empfand wohl eine zärtliche Zuneigung zu dem kleinen Ferdinand, starb aber, als der Enkel 1½ Jahre alt war. Der Katholische König, der durch seine Herrscherpflichten nicht nur in Spanien, sondern auch in Unteritalien, durch zahlreiche Kriegszüge und politische Verhandlungen ein ebenso unstetes Leben führte wie der habsburgische Großvater, war selten in der Nähe seines Schützlings und gerade in äußerst kritischen Situationen in weiter Ferne. Davon, daß er Ferdinand und Katharina (!) erzog, kann somit keine Rede sein,396 wenn man unter Erziehung mehr versteht als die Einstellung von Lehrern. Auch wenn Sandoval behauptete: así lo trajo siempre consigo el rey, darf man daraus nicht schließen, daß der König den Enkel fortan auf seinen Reisen und Kriegszügen mitführte. Als sich Ferdinand von Aragon ab 1507 stärker des Prinzen annahm, sorgte er dafür, daß dessen Erziehung unter der Leitung des Pedro de Guzmán und des Osorio in geregelten Bahnen verlief. In den folgenden Jahren muß dem Infanten die gründliche Bildung, die auch humanistische Studien einschloß, vermittelt worden sein, die an ihm oft lobend hervorgehoben wird, wenn der Kontrast zu seinem lernunwilligen Bruder betont werden soll. Es ist ein Glück für das Kind wie für den Heranwachsenden gewesen, daß er über mehr als zehn Jahre von denselben Erziehern geleitet wurde, von denen er selbst während der „Entführungen“ nie ganz verlassen wurde. Diese Tatsache hat gewiß dazu bei395 Für Karl und seine burgundischen Schwestern: Baumgarten 1885, 13; Rassow 1963, 13; für Ferdinand I.: Kohler 2003, 36. 396 Dies behauptet Rodríguez-Salgado 2000, 49.

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getragen, daß der Infant die unruhigen Zeiten unbeschadet überstand, denn die Erfahrung lehrt, daß Kinder Ortswechsel hinnehmen und gut verarbeiten, wenn die vertrauten Personen ihrer engsten Umgebung sie dabei begleiten. Häufige Wechsel des Aufenthaltsortes wurden für den Infanten auch nach 1507 zur Gewohnheit: Wenn sein Großvater in Spanien weilte, zog der Enkel mit seinen Erziehern an den Ort, wo Ferdinand von Aragon und seine Gemahlin Germaine Hof hielten.397 Während dieser häufigen Begegnungen lernte der König seinen Enkel besser kennen, und es verwundert nicht, daß seine Zuneigung zu dem Knaben wuchs, der als begabt, aufgeschlossen und von liebenswürdiger Wesensart geschildert wird. Zwangsläufig wurde der Infant, der dem König im Gegensatz zu seinem Bruder im wahren Sinne des Wortes nahe stand, zum „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon, der ihn in die Pläne für seine Nachfolge einbezog, vor allem, nachdem der Knabe, den ihm seine junge Gemahlin Germaine 1509 geboren hatte, noch am Tag seiner Geburt verstarb und der alternde König die Hoffnung auf einen Sohn und Erben aufgeben mußte. Die Empfindungen, die Ferdinand von Aragon für seinen spanischen Enkel hegte, müssen ganz persönlicher Natur gewesen und über alles politische Kalkül hinausgegangen sein, das die Lösung der komplizierten Erbschaftsfragen erforderte. Äußerungen des Königs und ein Bericht seines Gesandten Gabriel Orti offenbaren, wie sehr der junge Ferdinand dem Großvater ans Herz gewachsen war, und fügen dem bisher gewonnenen Bild des machtbewußten Aragonesen einen weichen, fast sentimentalen Zug hinzu: Als die Frage anstand, ob der Infant nach Italien und Deutschland geschickt werden sollte, um die Sprachen und Sitten beider Länder zu studieren, gab der Großvater sein Einverständnis, „obgleich sich von jenem zu trennen für den König fast so viel bedeute, als sich des Lebens zu berauben“.398 Gabriel Orti weilte 1514 zu Verhandlungen am Kaiserhof und berichtete Maximilian: Jedesmal, wenn sein König über die Nachfolge des Infanten spreche, „treten ihm Tränen in die Augen, so sehr sei er in Liebe zu seinem Enkel entbrannt und von Befriedigung über ihn erfüllt. Auch prophezeit er, daß er ein mächtiger Herr einst werde, denn er habe die ausgezeichnetsten Anlagen.“399 Das Bild des fremden burgundischen Enkels, das sich Ferdinand von Aragon nach den tendenziösen Berichten seiner Diplomaten und Agenten machte, dürfte seine Verbundenheit mit dem Infanten weiter verstärkt haben. Karl verkörperte danach das genaue Gegenteil all dessen, was der König an dem jungen Ferdinand liebte und schätzte: Er war verschlossen und linkisch, vor allem aber wurde er durch seine burgundischen Erzieher auf eine frankreichfreundliche Politik vorbe397 Bucholtz 1831, 61. 398 Kohler 2003, 41 (nach W. Bauer). 399 Ebd. 42 (dgl.).

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reitet400 und zeigte sich allem Spanischen gegenüber abgeneigt. Selbst wenn der König gerechterweise die Schuld daran nicht dem Enkel, sondern dessen Erziehern anlastete, fürchtete er, daß Karl von ihnen auch die überhebliche Geringschätzung Spaniens übernehmen könnte, wie Ferdinand sie bei Philipp dem Schönen und mehr noch bei den flamencos in dessen Gefolge gespürt hatte. Ferdinands Diplomaten schürten das Mißtrauen ihres Königs, während gleichzeitig die kastilischen Exulanten in den Niederlanden, die ehemaligen Günstlinge Philipps, Einfluß auf Karl gewannen.401 In diesen Kontext gehört die Denkschrift, die Diego Lopez de Castro am 7. April 1515 an Karl richtete. Die Absicht, Zwietracht zu säen zwischen Karl und dem spanischen Großvater und dem Bruder, ist mehr als eindeutig. Vermutlich erhoffte sich der Verfasser eine bevorzugte Stellung am Hofe Karls als Lohn für seine Warnung.402 Günstige Berichte über die Entwicklung seines ältesten Enkels erhielt Ferdinand von Margarete, allerdings nur bis 1513, als die Erzherzogin als Vormund Karls sich genötigt sah, in das gouvernement de la personne de Monsieur regulierend einzugreifen und auch König Ferdinand durch einen Repräsentanten in die Neuordnung einzubeziehen.403 Dem Wunsch des Katholischen Königs hätte es verständlicherweise entsprochen, seinem „Lieblingsenkel“ das spanische Erbe zu übergeben, dessen Teilung für ihn außer Frage stand.404 Seine Gemahlin Isabella und er selbst hatten Kastilien und Aragon in Matrimonialunion regiert in der Hoffnung, daß beide Königreiche unter ihrem Erben in Personalunion vereint werden würden. Verfügen konnte Ferdinand jedoch ohnehin nur über Aragon und seine weiteren eigenen Besitzungen, vornehmlich über Unteritalien. Wie das spanische und das burgundisch-habsburgische Erbe unter die Enkel aufgeteilt werden sollte, mußte er mit Maximilian I. aushandeln. Gebunden war er zudem an die letztwilligen Verfügungen Isabellas von Kastilien. Sie zu ignorieren verbot ihm die Achtung vor seiner ersten Gemahlin sowie die Sorge vor der Reaktion der Spanier, die ihre große Königin auch nach deren Tod verehrten. Nicht unerheblich war ferner die 400 Die kurzen Perioden der Annäherung des Aragonesen an Frankreich, insbesondere seine Ehe mit der Nichte des französischen Königs und die Verhandlungen zu einem Ehevertrag zwischen dem Infanten und Renée de France, erklären sich aus Gründen der Staatsräson und änderten nichts an der grundsätzlich mißtrauischen bis feindseligen Einstellung Ferdinands gegenüber Frankreich. 401 Vgl. oben 102. 110 f. 113. 402 Kohler 2003, 47 f. zitiert aus der Denkschrift, in der „der aragonesische König als bedingungsloser und einseitiger Förderer des Infanten [erscheint]“ (nach W. Bauer). 403 Vgl. oben 111. 404 Belege dafür, daß König Ferdinand nach dem Tod von Germaines Sohn „Spanien insgeheim (!) seinem Enkel Ferdinand vererben wollte“ (Sutter 1971, 22*), habe ich nicht gefunden.

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Frage, welchem der Brüder die drei spanischen Ritterorden zufallen sollten,405 deren Großmeisterschaften politischen Einfluß auf und Unterstützung durch den Adel, aber auch erhebliche Einkünfte bedeuteten. Der Katholische König soll einmal gesagt haben, daß die Großmeisterschaften der drei Orden von weit größerem Wert seien als sein Königreich im Süden Italiens.406 Unter den günstigen äußeren Rahmenbedingungen der Liga von Cambrai kam es unter Vermittlung des französischen Königs zu Verhandlungen zwischen dem Kaiser und dem König von Aragon, deren Ergebnisse am 12. Dezember 1509 im Vertrag von Blois niedergelegt wurden. Darin wurden die Nachfolgerechte Karls in Kastilien bestätigt, wie sie im Testament der Königin Isabella festgelegt waren.407 Erbansprüche des Infanten wurden in dem Vertrag noch nicht geregelt.408 Er war jedoch insofern involviert, als eine „Rochade“ der Brüder vereinbart wurde,409 die allerdings nur für einen relativ kurzen, begrenzten Zeitraum gelten sollte, wenn nämlich Karl seine Mutter zu besuchen wünschte. Der König von Aragon verpflichtete sich, eine Flotte auszurüsten, die den Infanten in die Niederlande bringen sollte, wo er sogleich dem Kaiser oder dessen Stellvertreter zu überantworten war. Die Flotte sollte auf dem Rückweg Karl nach Spanien führen. Vor der Aussendung der Flotte verlangte Ferdinand von Aragon Garantieerklärungen in Form von eidlichen Versprechen Maximilians und Margaretes sowie von je sechs Vertretern der niederländischen Städte und Provinzen, „den Erbprinzen nach Spanien zu senden und umgekehrt den Infanten auszuliefern, wenn Karl zurückkehrt“.410 Die Vereinbarung von 1509 verleiht der „Rochade“ 405 Es handelte sich um den Santiago-, den Calatrava- und den Alcántara-Orden. 406 Kohler 2003, 41. 407 Die Cortes erkannten 1510 in Madrid Karls Erbberechtigung an; s. Kohler 1999, 46. Nach dems. 2003, 39 f. wurde der Anspruch des Katholischen Königs auf die Regentschaft allerdings verlängert: Er sollte sie ausüben, bis Karl das 25. Lebensjahr vollendet hatte, fünf Jahre länger, als ursprünglich verfügt. Damit wäre dem Aragonesen viel Zeit eingeräumt worden, das Land in seinem Sinne zu lenken. Andere Autoren behalten den 20. Geburtstag Karls als Zeitpunkt der Regierungsübernahme bei. Kohler folgt hier möglicherweise Bucholtz (1831, 58). 408 Als Gesandter des Kaisers in Blois wie auch bei der Ratifizierung in Madrid am 6. Oktober war Mercurino Gattinara anwesend (Kodek 2004, 131–133). 409 Kohler 2003, 40 gibt an, daß dieser Schritt 1509 erstmals erwogen wurde, während Santa Cruz und Sandoval ihn bereits als Plan Philipps des Schönen für 1506 erwähnen. Vgl. oben 510 Anm. 383. 410 Kohler 2003, 40 (nach W. Bauer). Die hier wiedergegebene Fassung entspricht inhaltlich in etlichen Punkten dem, was Santa Cruz 89 f. als Teil der Vereinbarungen des Katholischen Königs mit Adrian von Utrecht für Ende 1515/Januar 1516 aufführt. Dort fehlt allerdings (und darin besteht ein gravierender Unterschied zwischen den Abmachungen) der Passus über die Garantieerklärungen.

Der „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon

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eher den Charakter einer Geiselstellung, während die Maßnahmen zum Austausch der Brüder, wie sie 1515/16 vereinbart und 1518 durchgeführt wurden, der Vermeidung von Unruhen im Lande und der Gewährleistung einer friedlichen Regierungsübernahme durch Karl dienen sollten. Über die Großmeisterschaften der spanischen Orden wurde in Blois noch nicht verfügt. Drei Briefe aus der Correspondance zwischen Margarete und Maximilian belegen, daß sich beide der Bedeutung der Großmeisterschaften bewußt waren.411 Margarete und der conseil privé sprachen sich gegen deren Übertragung an den Infanten aus. Maximilian schloß sich dieser Auffassung nach einigem Zögern an und schickte Gattinara zur Klärung der Frage nach Spanien. Ferner versprach er der Regentin, sich eilends mit Ferdinand von Aragon in Verbindung zu setzen und ihn zu einer Entscheidung zu drängen. Doch erst in seinem letzten Testament vom 22. Januar 1516 übertrug der Katholische König die Großmeisterschaften ohne jede Einschränkung seinem Nachfolger Karl. Dem waren sorgfältige Erwägungen und Verhandlungen mit Leo X. voraufgegangen, der Ferdinands Standpunkt bestätigte, daß die Großmeisterschaften untrennbar mit der Krone Kastiliens verbunden waren. Solange der König lebte, hatte er als Regent die Ämter inne; mit seinem Tode endete seine Verfügungsgewalt, so daß sein Nachfolger völlig frei in seinen Entscheidungen war.412 Dies betraf vor allem die Besetzung der hohen Ämter in den Orden. Es war also durchaus rechtens, wenn es seinerzeit auch Unruhe auslöste, daß Karl die bisherigen Inhaber der Würden durch Männer seines Vertrauens ersetzte.413 Daran, daß nur Karl als dem von Isabella bestimmten Erben der Krone Kastiliens die Großmeisterschaften zustanden, gab es keinen Zweifel mehr, nachdem selbst der Papst die Bindung der Orden an die Krone bestätigt hatte. Es sei an dieser Stelle noch einmal deutlich unterstrichen, daß Ferdinand von Aragon zu keinem Zeitpunkt in seinen Verfügungen Karls Erbrecht zugunsten seines „Lieblingsenkels“ antastete, weder in seinem Testament vom Mai 1512 (Testament von Burgos),414 noch in den Vereinbarungen, die er mit Adrian von Utrecht traf 415 und die zur Grundlage 411 Le Glay 1839, 1, 271 f. Nr. 207 (21.5.1510). 274–276 Nr. 209 (29.5.1510). 291 Nr. 221 (27.6.1510). 412 Santa Cruz 90 führt die Überlegungen an, die Ferdinand zu seiner Entscheidung veranlaßten und die ihren Niederschlag in den mit Adrian von Utrecht ausgehandelten capitulaciones fanden. Zu diesem Zeitpunkt bestimmte der König noch, daß Karl als Inhaber der Großmeisterschaften seinem Bruder die Jahreseinkünfte aus einem der Orden überlassen sollte. Dieser Punkt ist in Ferdinands Testament vom Januar 1516 nicht mehr aufgeführt. 413 Im Zusammenhang mit Karls Brief an den Bruder vom 7. September 1517 komme ich darauf unten (525) zurück. 414 Vgl. oben 285. 415 Vgl. oben 291.

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des endgültigen Testaments wurden. Die wesentlichen Punkte, in denen sich die letztwilligen Verfügungen von 1512 und 1516 unterscheiden, seien hier noch einmal resümiert:416 (1.) Karl, nicht Ferdinand, wurden die Großmeisterschaften der drei Orden übertragen. Dabei spielten die Einkünfte, die er daraus ziehen sollte, eine untergeordnete Rolle gegenüber der Erkenntnis, daß es der Krone Schaden zufügen würde, wenn der Regent und spätere König das Land nicht im Einvernehmen mit den Ordensmitgliedern, den Vertretern des höchsten Adels, sondern in Opposition zu ihnen regierte.417 (2.) Der Infant wurde 1516 nicht mehr zum Regenten für die Zeit bis zu Karls Ankunft in Spanien bestimmt. Mit diesen Verfügungen wurde allen Hoffnungen ein Ende gesetzt, die der Katholische König selbst für eine Zukunft des „Lieblingsenkels“ in Spanien gehegt und die er in dem Prinzen geweckt hatte. Die von Ferdinand von Aragon angeordnete „Rochade“ der Brüder markierte das Ende der spanischen Jugendjahre des Infanten. Nicht nur im Verteilungskampf um das von beiden Großvätern zu erwartende Erbe und in der „Rochade“ wurde Ferdinand wie sein älterer Bruder für die politischen Schachzüge der Häupter ihrer Häuser eingesetzt. Wie Karl wurde er in die dynastischen Heiratsprojekte Maximilians und Ferdinands von Aragon einbezogen. Allerdings verlobte man ihn, im Gegensatz zu seinem Bruder, nur zweimal, wobei eine seiner Bräute, Anna von Böhmen, tatsächlich 1521 seine Gemahlin wurde. Das Pikante an der Situation war, daß die Prinzessinnen, mit denen Ferdinand verlobt wurde, entweder gleichzeitig oder zu einem späteren Zeitpunkt Karl versprochen waren. Waren Karl und Ferdinand demnach auch als Heiratskandidaten Rivalen? Sie konnten es allenfalls in den Augen ihrer Großväter sein. Als Maximilian I. ab 1506/1507 den Plan einer Doppelverbindung seines Hauses mit den böhmisch-ungarischen Dynastien zu verfolgen begann, dürften weder Karl noch Ferdinand, sechs bzw. drei Jahre alt, Kenntnis davon noch Verständnis dafür gehabt haben. Selbst im Sommer 1515 war es noch nicht entschieden, welcher der Prinzen Anna von Böhmen heiraten sollte, obwohl Karl zu diesem Zeitpunkt bereits mit Renée de France verlobt war, die 1513 für kurze Zeit zur Gemahlin Ferdinands ausersehen war. Dank diesem französischspanischen Heiratsprojekt ist eine Beschreibung des Infanten erhalten, die verfaßt wurde, um ihn als Heiratskandidaten zu empfehlen, ihn also im günstigsten Licht erscheinen zu lassen. Da es nur wenige, sehr allgemein gehaltene Aussagen über die Persönlichkeit des Infanten als Heranwachsenden gibt, greifen Historiker gern

416 Vgl. oben 292 Anm. 421. 417 Im Prinzip unterschied sich die Situation in Kastilien nicht von der in Burgund: Auch der Herzog von Burgund war auf die Unterstützung des hohen Adels angewiesen, dessen herausragende Vertreter dem Orden vom Goldenen Vlies angehörten.

Der „Lieblingsenkel“ Ferdinands von Aragon

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auf diese Beschreibung zurück,418 die Sandoval nach dem Manuskript des Osorio überliefert hat. Sie soll auch hier nicht fehlen, um dem „Lieblingsenkel“ ein Gesicht und individuelle Züge zu verleihen: [...] el infante era de linda y graciosa disposición, blanco y colorado, bien proporcionado en el cuerpo, derecho y bien sacado, los cabellos rubios mucho y muy bien puestos, la boca grosezuela, el rostro lleno, las narices cortas y bien hechas, los ojos grandes y hermosos, el semblante agradable, que llevaba las voluntades de todos que le miraban. Era ingenioso y agudo mas de lo que su edad pedía, y junto con la agudeza era tanta su memoria. [...] Era muy sufrido, sabía disimular, inclinado al campo y monterías. Naturalmente era amigo de justicia y de verdad. [...] No era muy liberal, que en esto y en todas las demás condiciones, y en el gesto y en el andar, era un retrato parecido sobremanera a su abuelo el rey don Fernando. [...] Era demás de esto, amigo de algunas artes de manos, como pintar, esculpir, y sobre todo de fundiciones de metal y hacer tiros de artillería y pólvora y dispararlos. Holgaba de que le leyesen corónicas y contasen hechos de armas. [...] Era muy osado, que casi de nada había miedo [...]419

Selbst wenn man berücksichtigt, daß dieses Porträt den Prinzen so darstellt, wie sein Großvater ihn vermutlich sah und wie man ihn am französischen Hofe sehen sollte, so deuten sich doch bereits Charaktermerkmale an, die auch später dem König und Kaiser zugeschrieben wurden.420 Sieht man von dem habsburgischen Erbe ab, das auch Ferdinands Physiognomie prägte, so daß er nach landläufiger 418 U.a. Sutter 1971, 26* (ohne Quellenangabe); Kohler 2003 (41 in knapper Form; ausführlicher dann nochmals 90 bei einem Vergleich der Brüder Karl und Ferdinand). Ebd. 40 f. gibt Kohler an, daß Ferdinand der Katholische 1513 seinen Sekretär Pedro de Quintana in geheimer Mission an den Hof Ludwigs XII. entsandte, um Vorverhandlungen für das spanisch-französische Heiratsprojekt zu führen. Bei dieser Gelegenheit soll Quintana die positive Schilderung des Infanten vorgetragen haben. 419 Sandoval 69 f. Das große Interesse an der Beschreibung des Infanten erklärt sich auch dadurch, daß er im Gegensatz zu seinem Bruder bis 1518 kaum im Bilde festgehalten wurde. Abgesehen von den an früherer Stelle besprochenen Kinderbildnissen des Prinzen, die nicht au vif entstanden sein können, ist kein frühes Porträt Ferdinands bekannt. Ein erstes Bildnis „nach der Natur“ schuf erst (vermutlich) der Meister der Magdalenenlegende 1518 im Auftrag der Erzherzogin Margarete in den Niederlanden. Es ist nicht auszuschließen, daß Margarete damit einem Wunsch ihres Vaters nachkam, der sich bis zu diesem Zeitpunkt noch kein wahres Bild von seinem spanischen Enkel machen konnte und die Tochter bat: [...] nous désirons et vous requérons que faictes paindre et pourtraire nostre filz dom Ferdinande, et nous envoyez icelle pourtraicture par les postes, en quoy faisant nous ferez chose agréable (Le Glay 1839, 2, 369 Nr. 656 [Okt. 1518]). – Ein nur wenig später (um 1520) entstandenes Porträt des 17jährigen Ferdinand zeigt Abb. 12. 420 Kohler 2003, 90–93 zitiert Auszüge aus den Berichten mehrerer venezianischer Gesandter, deren Interesse an Ferdinand ab 1531, nach seiner Wahl zum Römischen König, erheblich zunahm. Züge, die schon den jugendlichen Ferdinand kennzeichneten, treten in den relazioni besonders deutlich hervor, weil die Diplomaten vielfach den Kontrast zwischen den Persönlichkeiten der Brüder betonen.

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Sicht wahrlich nicht schön genannt werden konnte, so war er doch von der Natur günstiger bedacht worden als sein Bruder. An Ferdinands „Temperament“ hat das Saturnische (melancolía), das unselige Erbteil der Mutter, offenbar keinen erkennbaren Anteil gehabt. Seine Entwicklung zu einer harmonischeren Persönlichkeit dürfte daher weniger seiner „besseren Jugend“ als seiner ausgewogeneren, glücklicheren Veranlagung zu verdanken gewesen sein.

3.2. Von einschneidenden Sofortmaßnahmen des Vormunds zur zukunftsträchtigen „Rochade“ Als Ferdinand von Aragon starb, hielt sich der Infant mit seinem Hof in Guadalupe auf, wo ihm die Todesnachricht übermittelt wurde. Nicht ohne Grund hielt man den Inhalt des Testaments des Katholischen Königs zunächst vor ihm und seiner Umgebung geheim.421 Ein Satz in Santa Cruz’ Crónica deutet an, aus welcher Richtung in der veränderten Situation Gefahr drohte: Lo cual [die Abfassung des Testaments, A.S.] se hizo muy secreto que nunca lo supo el Infante D. Fernando [...], ni Gonzalo de Guzmán, su ayo, ni Fray Alvaro Osorio, Obispo de Astorga, su maestro [...].422

Man fürchtete weniger die Reaktion des noch nicht dreizehnjährigen Infanten auf die Abänderung des Testaments von Burgos als vielmehr die seiner Erzieher und Vertrauten, vor allem der Guzmáns. In der Gewißheit, zum engsten Kreis des künftigen Regenten zu gehören, der noch über Jahre während seiner Minorität ihrem Rat folgen würde, hatten sie damit gerechnet, an entscheidender Stelle die Geschicke des Landes beeinflussen und ihrem Zögling doch noch zur Königswürde verhelfen zu können. Die Mitglieder des Consejo Real fürchteten eben diese Entwicklung, die nicht ohne Gegenreaktion der untereinander verfeindeten Adelsfaktionen bleiben würde, wobei die „feindlichen Linien“ selbst durch die weitverzweigte Sippe der Guzmáns verliefen. Im Glauben, Regent von Kastilien zu sein, setzte Prinz Ferdinand nach Erhalt der Todesnachricht als El Infante Botschaften an die Mitglieder des Consejo Real auf, in denen er sie aufforderte, sich in Guadalupe zu Beratungen einzufinden. Als man ihm eröffnete, daß ihm dieser Titel offiziell nicht mehr zustehe, soll er nicht rebelliert, sondern sich loyal der Entscheidung seines Großvaters gefügt haben.423 Bei der anschließenden Zusammenkunft der Granden in Guadalupe, an der auch Adrian von Utrecht als Vertreter Karls teilnahm, zeigte sich die unüberbrückbare 421 Vgl. oben 370. 422 Santa Cruz 94, der hier den ayo Pedro de Guzmán und den capellán mayor Gonzalo de Guzmán verwechselt. 423 Sandoval 72.

Maßnahmen Karls bis zur „Rochade“

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Kluft zwischen den Ratgebern des Infanten und den kastilischen Granden einerseits, die ihre eigenen Interessen verfochten, und den Mitgliedern des Consejo Real andererseits, die den letzten Willen des Königs durchsetzen wollten. Die Gegensätze verschärften sich, als zusätzlich – infolge einer Vakanz durch einen Todesfall – die Neubesetzung der höchsten Ämter des Calatrava-Ordens notwendig wurde. Eine Entscheidung darüber hätte Karl als Großmeister zugestanden. Da die Lage rasches Handeln erforderte, besetzte Adrian als sein Stellvertreter das Amt des Großkomturs (Comendador mayor) mit Pedro de Guzmán, dem ayo des Infanten, der bisher „Schlüsselträger“ (clavero) des Ordens gewesen war.424 Dabei ließ Adrian keinen Zweifel daran, daß es sich nur um eine Übergangslösung handeln konnte. Mit der Entscheidung Adrians waren zahlreiche Ordensmitglieder nicht einverstanden; Widerstand regte sich auch in den anderen Orden. Schließlich bestritt man selbst die Legitimation der Regenten: Adrian, obwohl von Karl mit allen Vollmachten ausgestattet, wurde als einem Ausländer jedes Recht auf die Regentschaft abgesprochen. Ximénes hingegen, der inzwischen eingetroffen war, verweigerten zahlreiche Granden die Anerkennung, weil er von Ferdinand von Aragon eingesetzt worden war, der, selbst nur Regent von Kastilien, sich mit der Berufung des Kardinals ein Recht angemaßt habe, das nur dem König von Kastilien zukomme. Als alleiniger Regent hätte Adrian von Utrecht dieser Situation vermutlich hilflos gegenübergestanden. Nicht so Ximénes, mit dem er sich zuvor auf eine gemeinsame Ausübung der Regentschaft geeinigt hatte. Mit den ständigen Machtkämpfen der Adligen vertraut, hielt er denjenigen, die seine Position anfochten, entgegen: Con estos poderes que el rey me dió, gobierno yo y gobernaré a España hasta que el príncipe nuestro señor venga a gobernarlos.425 Als es nicht bei verbalen Auseinandersetzungen zu bleiben drohte, ordnete er an, daß die Regenten ihren Sitz in das sicherere Madrid verlegten und den Infanten mit sich führten. Etliche Adlige, die die Gelegenheit gekommen sahen, auch alte Streitigkeiten auszutragen, stellten aus ihren Vasallen Truppen auf. Ximénes wollte den drohenden Unruhen mit der Aufstellung eines stehenden Heeres, einer Bürgerwehr der Städte, begegnen.426 Der Plan scheiterte am Widerstand der Städte, die in 424 Santa Cruz 90. Sandoval 73 gibt den Namen des ayo fälschlich – wie zuvor Santa Cruz – mit Gonzalo de Guzmán an. In der Wiedergabe des Sachverhalts stimmen die beiden Chroniken überein; wie auch an anderer Stelle übernimmt Sandoval ganze Passagen von Santa Cruz. Auf die Verwechslung des Erziehers mit dem Erzkaplan weist auch Spielman (Spielman/Thomas 1984, 32 Anm. 3) hin.. 425 Sandoval 74. 426 Ximénes war nicht ohne militärische Erfahrung. Nach dem Tode Philipps des Schönen, als Ferdinand von Aragon trotz drohender Unruhen in Kastilien seinen Aufenthalt in Italien nicht abbrach, hatte Ximénes auf eigene Kosten in Burgos ein Heer von 500 Mann zur Wahrung der Ruhe und zum Schutz Juanas aufgestellt. Mit seiner Erhebung zum

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Friedenszeiten diese Truppen unterhalten sollten, während für Kriegszeiten eine Finanzierung durch die Staatskasse vorgesehen war. Adel und Städte einte in diesem Augenblick die Gegnerschaft zu den Regenten und dem Consejo Real. Überall im Lande, besonders in Andalusien, brachen Aufstände aus. Am 20. Februar 1516 richtete der Consejo Real ein Schreiben an Karl, in dem er dringend gebeten wurde, zum Wohle des Landes und seiner Bewohner sobald wie möglich nach Spanien zu kommen.427 Ehe eine Antwort aus Brüssel eintraf, spitzte sich die Lage derart zu, daß der Rat sich genötigt sah, am 4. März einen weiteren Brief nach Flandern zu senden, den beide spanischen Chronisten für so bedeutsam halten, daß sie ihn in voller Länge wiedergeben. Dieses Mal beschränkten sich die loyalen Vertreter von Karls Interessen nicht auf eine untertänige Bitte um sein Erscheinen vor Ort, sondern führten in allen Einzelheiten die Gefahren auf, die nicht nur Kastilien (vor allem der Provinz Andalusien) drohten, sondern die dem ganzen Staat, dem Gemeinwohl und nicht zuletzt der Krone schwersten Schaden zufügten. Dem Consejo war außerdem bekannt geworden, daß es Bestrebungen gab, Karl zur Annahme des Königstitels zu bewegen. Die Räte warnten ihn: Ferdinand von Aragon, selbst nur Regent von Kastilien, hatte dem Enkel nur die herrschaftsrechtliche Stellung übertragen können, die er selbst innegehabt hatte. Rechtmäßige Königin war Juana; zwei Könige eines Reiches durfte es nach göttlichem und menschlichem Recht nicht geben. Sollte Karl den Königstitel dennoch annehmen, wäre ein weiterer Konflikt unvermeidlich: [...] y aun parece que el intitularse Vuestra Alteza desde luego Rey, podría traer inconvenientes y ser muy dañoso para lo que conviene al servicio de Vuestra Alteza, oponiendo como opone contra sí el título de la Reina nuestra señora, de que se podría seguir división, y siendo como es todo una parte, hacerse dos, donde los que mal quisiesen vivir en estos Reinos, y les pesa de la paz y unión de ellos tomarían ocasión, so color de fidelidad, de servir unos á Vuestra Alteza y otros á la muy poderosa Reina vuestra madre, como se tiene por experiencia cierta de tiempos pasados.428

Zehn Tage später ließ Karl sich zum König ausrufen. Ob ihn die Warnungen seiner spanischen Räte noch vorher erreicht hatten, konnte nicht festgestellt werKardinal wurden 1507 seine Verdienste um das Land gewürdigt. Vor allem aber hatte er – wiederum aus eigenen Mitteln – die Flotte und die Truppen finanziert, die im Mai 1509 das maurische Oran eroberten. Der Kardinal, der das Unternehmen als Fortsetzung der Reconquista, als „heiligen Krieg“ gegen die Ungläubigen, aber auch als Strafexpedition gegen die maurischen Piraten initiiert hatte, erschien selbst vor der belagerten Stadt und feuerte die Soldaten an (s. hierzu Konetzke 1931, 229–232; ausführlich zu den militärischen Maßnahmen des Kardinals 1516/17: Merriman 1962, 17–19. 427 Santa Cruz 104 f.; Sandoval 74. 428 Aus dem zweiten Brief des Consejo Real an Karl vom 4. März 1516, nach Santa Cruz 106–110, Zit. 108 f.; gleichlautend bei Sandoval 79.

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den. Wie auch immer die Proklamationsformel gelautet haben mag,429 so wurde doch mit diesem eigenmächtigen Akt einer friedlichen Herrschaftsübernahme ein zusätzliches Hindernis in den Weg gestellt. Während das Land nicht zur Ruhe kam und die Ankunft Karls sich weiter verzögerte, hatte der Kardinal ein wachsames Auge auf den Infanten. Zwar glaubte er nicht, daß von dem Knaben Gefahr für den älteren Bruder ausging, fürchtete jedoch, daß die Aufrührer und Gegner Karls sich seiner bemächtigen könnten. Im August 1517 begaben sich die beiden Regenten und der Consejo Real mit dem Infanten von Madrid in den Norden Kastiliens, um dem König entgegenzuziehen, mit dessen Ankunft nun gerechnet wurde, und ihn in Aranda de Duero in größerer Sicherheit zu erwarten. Kardinal Ximénes, der noch hoffte, den jungen Herrscher begrüßen und ihn beraten zu können, befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in sehr schlechtem Gesundheitszustand.430 Dennoch führte der 81jährige alle Maßnahmen zur Neuordnung von Ferdinands Haushalt durch, wie sie Karl unmittelbar vor seiner Einschiffung in Middelburg am 7. September 1517 in einem Schreiben an die Kardinäle Ximénes und Adrian niedergelegt hatte.431 Als Anlaß für die notwendigen Veränderungen im Umfeld seines Bruders führt Karl an, daß es seine Aufgabe (als Vormund) sei, Ordnung in den Haushalt Ferdinands zu bringen, nachdem man ihn mehrfach und von verschiedenen Seiten davon informiert hat, daß die Personen der unmittelbaren Umgebung des Prinzen diesen höchst nachteilig beeinflussen und sein Denken in falsche Bahnen lenken, was sich zum Nachteil des Königs und zur Gefahr für den Infanten selbst entwickeln könnte. Im Hause Ferdinands mißachtete man demnach die Person des Herrschers und versuchte, den Frieden und die Ruhe des Landes zu stören, indem man den Infanten in Intrigen verwickelte. So hatten die Unruhestifter verschiedenen Städten und Adligen mitgeteilt, daß sie die Abwesenheit Karls dazu nutzen wollten, den Infanten in ihre Gewalt zu bringen und ihn im Namen der Königin zum Regenten zu ernennen. Karl verfügt, daß die Personen, die versucht haben, den Infanten für ihre Ziele einzuspannen, unverzüglich vom Hofe entfernt werden. Das betraf den ayo Ferdinands, den Großkomtur des CalatravaOrdens Pedro de Guzmán,432 ferner Osorio, den Bischof von Astorga und Lehrer des Infanten, sowie den Erzkaplan Gonzalo de Guzmán. Am schwersten belastet Karl in seinem Schreiben den Bischof von Astorga. Obwohl Karl diese Entschei429 Vgl. dazu oben 375–380. 430 Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, daß durch den Tod des Kardinals diese Begegnung nicht mehr zustande kam. Vgl. oben 295 f. m. Anm. 432. 431 CDCV I 75–78 Nr. XIII. 432 Auch als Würdenträger des Ordens war Pedro de Guzmán damit nicht mehr tragbar. Karl machte 1517 von seinem Recht Gebrauch, alle wichtigen Ämter in den Orden mit Spaniern seines Vertrauens zu besetzen.

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dung den Betroffenen wie auch dem Infanten schriftlich mitteilen wird, bittet er seine Stellvertreter, den Prinzen im persönlichen Gespräch vorsichtig auf die Veränderungen vorzubereiten. Die Stellen der entlassenen Erzieher besetzt der Vormund mit Männern seines Vertrauens, mit Diego de Guevara und La Chaulx. Bis beide eintreffen, soll don Alonso Tellez Girón ihre Aufgaben übernehmen.433 Einer dieser drei zuverlässigen, vertrauenswürdigen Männer soll künftig das Schlafgemach des Infanten teilen, so, wie es Karl seit seiner Jugend von Chièvres gewohnt ist. Karl wünscht, daß Ferdinand sich vollkommen den Sitten und der Lebensweise Burgunds anpaßt.434 Aus der folgenden Passage geht hervor, daß Osorio sich zuvor in den Niederlanden aufgehalten haben muß. Dort ist ihm die conclusión, die Karl für sein Mündel Ferdinand gefaßt hat, in Gegenwart des Kaisers und der Erzherzogin Margarete unterbreitet worden.435 Der Kardinal soll klärende Gespräche mit Pedro de Guzmán und Osorio führen und ferner Sorge tragen, daß beide keine Gelegenheit mehr haben, den Infanten zu sehen oder mit ihm zu sprechen. Die ama des Prinzen, die von seinem gobernador aus Ferdinands Haushalt entfernt worden ist, soll ihren Posten wieder übernehmen: Sie ist eine gute, ehrliche Frau, die nicht nur Ferdinand, sondern auch Karl stets eine verläßliche Dienerin gewesen ist.436 Der Kapitän der Garde, der zum Schutze des Infanten abgeordnet wird, hat sich als treuer Bediensteter erwiesen. Dennoch soll der Kardinal in Stellvertretung des Königs ihn durch erneuten Eid zu unbedingter Loyalität verpflichten. Der König betont abschließend, daß der Kaiser und die Erzherzogin Margarete von allen im Brief genannten Maßnahmen in Kenntnis

433 Diego de Guevara, der als kastilischer Exulant seit Jahren in den Niederlanden lebte, und La Chaulx, der Karl in den ritterlichen Disziplinen ausgebildet hatte, wurden im Verlauf dieser Darstellung bereits häufiger genannt. Alonso Tellez Girón gehörte zum Rat des Kardinal Ximénes und war ein enger Freund Adrians (vgl. Spielman/Thomas 1984, 33). Da auch der Letztgenannte nicht vor Ort war, betraute Ximénes zunächst den Marqués de Aguilar mit dem Amt des gobernador (Sandoval 118). 434 Obwohl die „Rochade“ in diesem Brief nicht erwähnt wird, deutet dieser Passus unmißverständlich darauf hin, daß Ferdinand in nächster Zukunft in die Niederlande geschickt werden soll. 435 Dies muß bei dem letzten Zusammentreffen Maximilians mit seinem ältesten Enkel in Lierre, wohl Ende Januar 1517, geschehen sein. Zum Zeitpunkt der Begegnung Wiesflecker 1981, 381; in Karls Itinerar (in: Voyages II) ist dieser Aufenthalt nicht aufgeführt. 436 Was unter der Formulierung servidora nuestra y suya [des Infanten] zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Schluß des Satzes: [...] rogamos vos que luego la torneis a casa del dicho Illmo. Ynfante para que esté y duerma en ella con tanto que sea de su cama, como está ordenado y hablalda como os paresciere conbiene a nuestro servicio, por manera que della sepais lo que pasare. Mit der ama hatte Karl unmittelbar im Hause des Bruders eine Person, die im Tagesablauf unauffällig die Einhaltung aller Anordnungen des Vormunds überwachen und Karl von allen internen Vorkommnissen unterichten konnte.

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gesetzt worden sind und daß die Ausführung unter höchster Diskretion und strikter Geheimhaltung erfolgen soll. Der Brief, den Karl, ebenfalls am 7. September 1517, an den Infanten sandte, ist bereits kurz angesprochen worden.437 Da er im Zusammenhang mit dem Schreiben an die Kardinäle zu sehen ist, komme ich an dieser Stelle noch einmal auf ihn zurück. Es geht in beiden Briefen um die Gründe, die Karl zum Eingriff in den Hofstaat des Bruders veranlassen, und um die einzelnen Maßnahmen, zu denen er sich gezwungen sieht. Sehr unterschiedlich aber ist die Gewichtung beider Punkte in den Schreiben. Während die Schritte zur Neuordnung des Haushalts in dem Brief an seine Regenten den meisten Raum einnehmen, teilt er dem Infanten die Veränderungen in seinem Hofstaat nur kurz mit. Einzelheiten wird Ferdinand von den Kardinälen erfahren. Dem Bruder und Vormund liegt vor allem daran, dem Jüngeren die Gründe für sein Eingreifen verständlich zu machen. Karl kann es nicht dulden, daß Mitglieder von Ferdinands Haushalt, wie ihm schon im August mitgeteilt worden ist, ungestraft gegen seine Person agitieren, das Ansehen der Königin herabsetzen und Ferdinand damit schaden. Die betreffenden Personen beabsichtigen, Zwietracht zwischen den Brüdern zu säen, indem sie in Karl Unzufriedenheit mit Ferdinand, in Ferdinand aber Mißtrauen gegenüber Karl wecken. Die Hauptschuld schreibt Karl den leitenden Persönlichkeiten von Ferdinands Haushalt zu, die nicht nur Mitwisser, sondern auch Akteure in diesen Umtrieben sind. Wie weit Ferdinand dem Einfluß seiner Erzieher erlegen war, ob er sich in seiner Enttäuschung über die entgangene Regentschaft den umstürzlerischen Plänen seiner Umgebung geneigt gezeigt hatte und entsprechende Äußerungen dem Bruder zugetragen worden waren, bleibt offen. Mehrfach, in jedem Paragraphen des Briefes, betont Karl, daß er nur aus Liebe zu Ferdinand eingreife, daß nichts ihm mehr am Herzen liege als dessen Wohlergehen und Fortkommen, damit der Jüngere den Rang in der Welt erhalte, der ihm gebühre. Unter diesem Gesichtspunkt hat er auch die neuen Leiter von Ferdinands Haushalt ausgewählt. Er bittet den Bruder um Vertrauen in seine Person, auf seine Zuneigung und darauf, daß alle notwendigen Veränderungen zu seinem Besten dienen werden. Wenn auch Karls Beteuerungen seiner brüderlichen Liebe trotz ihrer mehrfachen Wiederholung mit der gebotenen Skepsis zu sehen sind, so läßt die gesamte Tendenz des Briefes dessen Zweck und Ziel eindeutig erkennen: Karl und vor allem seine spanischen Berater, darunter Männer wie Dr. Mota und Diego de Guevara, wußten genau, daß die Regierungsübernahme in Spanien kein leichtes Unterfangen sein würde und daß der junge, fremde König mit Ablehnung und Gegnerschaft aus verschiedenen Lagern rechnen mußte. Somit war es ein 437 Vgl. oben 504.

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dringendes Gebot, alles zu unterbinden, was zu Zwietracht und offener Rivalität der Brüder führen und damit einer Polarisierung zwischen „Carlisten“ und „Ferdinandisten“ im Lande weiteren Vorschub leisten konnte. Einschneidende Maßnahmen, wie sie angeordnet wurden, waren nur ein Mittel, dem zu begegnen. Wichtiger war es, Ferdinand für Karl zu gewinnen, ihn von der Richtigkeit und Notwendigkeit der eingeleiteten Schritte zu überzeugen. Zwar muß Karl den Bruder zunächst tadeln, weil Ferdinand die verschwörerischen Umtriebe in seinem Haushalt zumindest geduldet hat, indem er jedoch anschließend sein Vorgehen ausführlich, ja geduldig erklärt, auch verspricht, bald im persönlichen Gespräch entscheidende Fragen zu erörtern, d.h. indem er den Bruder bis zu einem gewissen Grade ins Vertrauen zieht, verfügt er nicht einfach kraft seines Amtes als Vormund über den Unmündigen, sondern appelliert an dessen Einsicht und Loyalität gegenüber dem Haus – schließlich hat man auch Juanas Namen in die Intrigen hineingezogen. Auf jeden Fall mußte der Konflikt beigelegt werden, bevor die Brüder sich in Spanien begegneten. Dazu mußte seinen Urhebern die Möglichkeit direkter Einflußnahme entzogen werden. Bei ihren gemeinsamen Auftritten vor einer gespannten spanischen Öffentlichkeit mußten Karl und Ferdinand ein Bild brüderlicher Eintracht und gegenseitiger Achtung bieten. So interpretiert, geht der Inhalt des Briefes deutlich über das hinaus, was M. Fernández Álvarez als knappes Regest seiner Edition voranstellt:438 „Recrimándole por su comportamiento, con el que autorizaba la conspiración de algunos de sus servidores.“ Abschließend soll zu diesem Brief noch das Postscriptum erwähnt werden, das keineswegs eine private Zusatzbemerkung ist, weil dem Schreiber nachträglich etwas eingefallen wäre, was er dem Empfänger noch mitteilen möchte. Spielman und Fernández Álvarez legen verschiedene Versionen vor, bei Bauer fehlt dieser Passus. Nach Spielman heißt es im Original: Por ser esta carta tan larga nota de my mano: pero es esto lo que conviene a my servicio y a vuestro provecho. Y asy os ruego que lo ayáys por bueno y lo compléis. De my mano vuestro buen hermano yo el rey.439

Fernández Álvarez gibt das Postscriptum nach der spanischen Kopie wie folgt wieder: Por ser esta carta tan larga, no va de mi mano, pero es esto lo que conviene a mi servicio y a vuestro provecho. Y así os ruego que lo hayais por bueno y lo cumplais.440

438 CDCV I 71–74 Nr. XII; Zit. 71. Vgl. auch oben 504 Anm. 361. 439 Spielman/Thomas 1984, 31. 440 CDCV I 74.

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Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Fassungen liegt also in den zwei Buchstaben des Wörtchens no. In den ausführlichen Anmerkungen zu ihrer Edition kommentiert Spielman: „Geradezu verblüfft stellt man fest, daß hier eine sehr frühe Anwendung jenes Grundsatzes vorliegt, den Horst Rabe [...] als Merkmal für den Gebrauch der Eigenhändigkeit K’s herausgearbeitet hat: Alles das, was K selbst niederschrieb, hatte absolute Gültigkeit, hatte unwidersprochen zu bleiben, war seine unwiderruflich letzte Entscheidung.“441

Das betrifft in dem vorliegenden Fall natürlich die von Karl angeordneten Veränderungen in Ferdinands Hofstaat; Verhandlungen darüber waren somit ausgeschlossen. So tritt hier im Nachsatz der Vormund mit seiner Verfügungsgewalt klar in Erscheinung. Der spanische Kopist des 16. Jahrhunderts wußte wohl kaum, welches Gewicht dem Postscriptum damit zukam. Möglicherweise erschien es ihm in der vorliegenden Form widersinnig, während es eher einleuchtete, daß der König einen relativ langen Brief nicht eigenhändig schrieb, sondern seinen Sekretär damit beauftragte. So mag der Kopist das no (va) eingefügt oder auch nota falsch gelesen haben; der bekräftigende Zusatz de my mano fehlt denn auch in seiner Abschrift, ebenso die Unterschrift des Königs. In Aranda führten die beiden Briefe vom 7. September 1517 zu einem höchst beunruhigenden Zwischenfall, der einerseits deutlich vor Augen führt, wie berechtigt die Sorge des Kardinals um die Sicherheit des Infanten war, da es weiterhin Kräfte gab, die sich seiner als Faustpfand oder Galionsfigur bei der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen bedienen wollten, und der andererseits einen Hinweis auf die sehr enge Verbundenheit des Prinzen mit seinen Erziehern liefert sowie auf die heftige Reaktion Ferdinands auf deren Entfernung. Nach Karls sorgfältig durchdachtem Plan sollte zunächst der Brief an die Kardinäle ausgeliefert werden, so daß sie Ferdinand auf die Neuordnung seines Haushalts vorbereiten konnten, bevor man ihm das Schreiben des Bruders aushändigte. Durch das Zusammentreffen unglücklicher Umstände aber erhielt der Infant seinen Brief zuerst, so daß ihn die Anordnungen seines Vormunds völlig unvorbereitet trafen,442 von denen er seine Erzieher sofort informierte. Das Vorhaben des Königs versetzte seinen Bruder und dessen Hofstaat in höchste Erregung. Der Kardinal vollzog die Entlassung der drei von Karl namentlich genannten Personen sowie 27 weiterer Mit441 Spielman/Thomas 1984, 33 Anm. 4. 442 Eine Erklärung dafür, daß die Briefe nicht in der von Karl vorgesehenen Reihenfolge übergeben wurden, könnte in Ximénes’ kurzzeitiger Abwesenheit vom Hofe liegen – wegen seiner Erkrankung hatte sich der Kardinal für einige Tage in ein Kloster seines Ordens nahe Aranda zurückgezogen. Einen Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Abwesenheit des Kardinals vermutet auch Kohler 2003, 52; ähnlich Baumgarten 1885, 79 f.

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glieder des Hofstaats, unmittelbar nachdem er das Schreiben des Königs in Händen hatte, und besetzte den Posten des gobernador vorläufig mit dem Marqués de Aguilar. Weil er fürchtete, daß von den so unvermutet ihrer Ämter Beraubten Gefahr für die Sicherheit des Infanten drohte, daß die Guzmáns mit ihren weitreichenden Beziehungen sich Verstärkung verschaffen und Ferdinand in ihre Gewalt bringen könnten, ließ er die Stadttore schließen und von der Leibgarde strengstens bewachen. Der Prinz suchte in dieser Situation Rat und Hilfe bei Kardinal Ximénes und muß seine Position so gewandt vertreten haben, daß Ximénes darüber in Erstaunen geriet. Helfen, wie der Infant es erhoffte, konnte er jedoch nicht. Als Vertreter des Königs konnte er dessen Anordnungen nur ausführen, und der Infant hatte sich dem zu fügen. Ein Wortwechsel muß sich angeschlossen haben, wie Santa Cruz und Sandoval übereinstimmend berichten: En lo cual pasaron algunas palabras de que ni el infante se tuvo por bien contento del cardenal, ni el cardenal de él. Porque antes solían ser amigos, y de aquí adelante no se trataban así.443

Die Kunde von den Vorgängen am Hofe des Infanten hat sich offenbar rasch verbreitet und für erhebliches Aufsehen gesorgt, zumal sich das Geschehen vermutlich kurz nach der Landung des Königs in Tazones am 19. September abgespielt haben muß. Die drei hier herangezogenen spanischen Quellen gehen ausführlich darauf ein.444 Eine annähernde Datierung erlaubt der entsprechende Brief des Petrus Martyr, der am 25. September 1517 in Madrid abgefaßt wurde.445 Die nächste Nachricht mit Bezug auf die Entlassung der Erzieher ist ein Brief Karls an Kardinal Ximénes, der vom 27. September aus Llanes datiert ist.446 Trotz der schwierigen Kommunikationslage in der unwegsamen Gegend muß der König bereits im Besitz der „Vollzugsmeldung“ gewesen sein, denn er dankt dem Regenten wortreich für die Erledigung des Auftrags, den dieser bereitwillig und mit der ihm eigenen Klugheit und Umsicht ausgeführt hat. Karl wird auch dem Infanten schreiben, von dem er nach seiner Ankunft noch keine Nachricht empfangen hat. Der Kardinal, der Infant und sein Hof sollen dem König nicht weiter entgegenziehen, zum einen aus Rücksicht auf Ximénes’ schlechten Gesundheitszustand, zum anderen, weil Karls Reiseroute infolge der widrigen Umstände immer wieder abgeändert werden muß. Karl bittet den Kardinal, dem Infanten aufs Neue zu 443 Santa Cruz 155; Sandoval 118. 444 Neben Santa Cruz und Sandoval auch Petrus Martyr, epist. 600 (p. 571 W., 25.9.1517). 445 Von der Landung Karls in Tazones berichtet Petrus Martyr in seinem unmittelbar vorhergehenden Brief (epist. 599 [p. 570–571 W., 21.9.1517]). Der König und sein Gefolge müssen sich zum Zeitpunkt des Ereignisses auf dem beschwerlichen Weg nach Llanes befunden haben. Vgl. oben 348. 446 Madrid, BN, Ms. 1778, fol. 30v–31; Ed.: CDCV I 79 f. Nr. XIV.

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versichern, daß alle Vorkehrungen nur zu seinem Besten getroffen worden seien und er dem Jüngeren ein wahrer Bruder und Vater sein werde. Auf den Vorfall in Aranda geht der König nicht ein, so daß man nicht sicher sein kann, ob der Kardinal ihn in seinem Brief erwähnt oder Karl aus anderer Quelle davon erfahren hat. Unklar ist ferner, ob ein Satz gegen Schluß des Briefes mit der Entfernung der Erzieher und den Folgen in Verbindung zu bringen ist, in dem es heißt: Del movimiento de don Pedro Girón nos desplaze y como quiera que Nos tenemos por cierto que habeis probeydo lo que combiene para que aquello cese y que él habrá obedesçido lo que habreis mandado, pero porque tenemos especial cuydado de la paz y sosiego de estos reynos.447

Der Name des Pedro Girón fällt immer wieder im Zusammenhang mit Kämpfen der Adelsgeschlechter um Besitz- und Sukzessionsrechte, aber auch mit Aufständen gegen das regierende Haus oder die Regenten. Da er mit den Guzmáns verfeindet war, ist allerdings ein Eintreten für sie und ihre Rechte schwer vorstellbar.448 Denkbar ist, daß Pedro Girón die Abwesenheit Karls, Ximénes’ Krankheit und die unruhige Lage in Aranda für seine Zwecke nutzte. Obwohl Karl seinem Bruder versprochen hatte, ihn als ersten von seiner Ankunft in Spanien zu unterrichten und ihm mitzuteilen, wo ihre Begegnung stattfinden sollte,449 nahm er die Verbindung zu Ferdinand erst am 26. Oktober 1517 in Aquilar de Campo auf. Selbst wenn man die Unwägbarkeiten der beschwerlichen Reise und Karls Erkrankung berücksichtigt, die ihn bis zum 12. Oktober in San Vincente festhielt, dürfte das Ausbleiben einer Nachricht den Infanten schwer enttäuscht haben. Man fragt sich, ob der Vormund ihn mit seinem Schweigen für seine Unbotmäßigkeit strafen, ihm eine Toleranzgrenze aufzeigen wollte, oder ob die Situation sich erst einmal beruhigen sollte, ehe er wieder Kontakt aufnahm. In dem kurzen Schreiben, dem letzten des von Spielman und Thomas aufgefundenen und edierten Konvoluts, legt Karl dem Bruder dar, daß 447 CDCV I 80. 448 Walther 1911, 39–50 („Königtum und Adel in Kastilien“) versucht einen Überblick über die verwirrenden Verflechtungen der kastilischen Adelfamilien zu geben, über ihre Rivalitäten und Fehden innerhalb und außerhalb der Familienverbände sowie über Parteiungen und Haltung zum Herrscherhaus. Zu Pedro Girón aus dem Hause Acuña heißt es dort (48 f.): „Nicht weniger oppositionslustig war der Zweig der Girón. [...] Juan Tellez Girón [der Vater des Pedro] war Inhaber der Grafschaft Ureña bis an seinen Tod 1528. Sein Sohn Pedro Girón, der dritte Graf von Ureña, hat auch vor dem Antritt der Erbschaft seines Vaters die Welt von sich reden machen, sowohl durch seinen Anspruch auf das den Guzmán gehörige Herzogtum Medina Sidonia, wie später durch seine Teilnahme an dem Aufstand von 1520, dessen Sache verloren war, als er sie verließ.“ – Zum Aufstand von 1520 vgl. oben 297–302. 449 Spielman/Thomas 1984, 25 Nr. 6 (22.4.1516).

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es seine vordringliche Pflicht sei, zunächst die Mutter in Tordesillas aufzusuchen. Nach dem Besuch bei der Königin wird er Ferdinand Ort und Zeitpunkt ihres ersten Zusammentreffens mitteilen. In Kenntnis der Umstände, die den König zu dieser Spanienreise veranlaßten, und der umstrittenen Annahme des Herrschertitels zweifelt man an der Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit Karls, wenn man die folgenden Worte liest: La prinçipal causa que me compelió a venir en estos reynos fue por veer e servir e consolar a Su Alteza en todo lo a mi posible. E asy queriendo cunplir esto he determinado primero e antes que en ninguna otra cosa del reyno entienda ni me ocupé, de yr mi camino derecho a vesar las manos de Su Magestad, e llevar conmigo a la ylustrisima ynfante doña Leonor nuestra hermana,lo qual os hago saber porque sé que dello abréys plazer.450

Karl, Eleonore und ihr Gefolge erreichten Tordesillas am 4. November 1517 und hielten sich dort eine Woche auf. Die Begegnung Juanas mit ihren beiden ältesten Kindern, die sie 1505 in den Niederlanden zurückgelassen hatte, ist – von einer einzigen Quelle ausgehend –451 so oft geschildert worden, daß sie hier nur kurz gestreift werden soll, allerdings unter Hervorhebung sonst wenig beachteter Details. Arrangeur und Regisseur des ersten kurzen Zusammentreffens ist zweifellos Chièvres gewesen, der die Königin vorsichtig und mit diplomatischem Geschick auf die „Antrittsvisite“ ihrer Kinder vorbereitet hatte. Karl und Eleonore traten ihrer Mutter in deren schlichtem, düsteren Zimmer452 nicht allein gegenüber, wie es manche Autoren darstellen,453 sondern in Begleitung einer petite et privée compaignie von sorgfältig ausgewählten Personen wie Madame de Chièvres, Anne de Beaumont, La Chaulx und natürlich Chièvres selbst, die in Juanas 450 Wien, HHStA, Familienkorrespondenz A 1, fol. 78; Ed.: Spielman/Thomas 1984, 33 f. Nr. 10 (26.10.1517). Für R. Merriman ist unzweifelhaft, weshalb Karl dem Besuch bei der Mutter Priorität einräumte: „Political ambition rather than filial affection was the dominant note.“ (1962, 29). 451 Voyages III 132–137 (Laurent Vital). Vital war selbst nicht Zeuge der Begegnung. Nach eigener Aussage (133) geht seine Schilderung auf das zurück, was er den Gesprächen der Entourage Karls entnommen hat. Petrus Martyr, der nicht in Tordesillas war, widmet der Begegnung vier Zeilen: Die Königin war vom Anblick ihrer Kinder entzückt. Ausnahmsweise (!) hatte sie zu dem Anlaß Sorgfalt auf ihre Kleidung verwandt. Da die spitze Feder des Humanisten bekannt ist, erlaubt der Satz filios gratis donavit muneribus: de regnis nulla est Reginae cura (epist. 603 [p. 572 W., 10.11.1517]) durchaus eine Interpretation mit politischem Hintersinn. 452 Vital (Voyages III 133) versäumt nicht, den Kontrast zwischen diesem einfachen Gemach und den aufwendig ausgestatteten Räumen hervorzuheben, in denen Karl, Eleonore und Chièvres im Schloß von Tordesillas logierten, das keineswegs die düstere Zwingburg war, als die es oft geschildert wird. 453 Seibt 1990, 46 schließt sogar Eleonore von der Begegnung aus. Nach seiner Darstellung gab es keine Zeugen bei dem Zusammentreffen von Mutter und Sohn.

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kurzen niederländischen Jahren bereits zum burgundischen Hof gehört hatten. Damit wurde dem Besuch ein halboffizieller, förmlicher Charakter verliehen, wie es vermutlich der Absicht Karls entsprach. Hätte das Treffen von Tordesillas im Zeichen einer privaten Zusammenkunft der Mutter mit ihren Kindern gestanden, so wäre es nur natürlich gewesen, auch Ferdinand daran teilnehmen zu lassen, den Juana seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. In Anbetracht der bevorstehenden „Rochade“ hätte sich damit eine letzte Gelegenheit zum Wiedersehen von Mutter und Sohn ergeben. Ein gemeinsamer Auftritt vor der Mutter und Königin mit dem noch unbekannten Bruder widersprach den Interessen, die Karl nach Tordesillas geführt hatten, denn Ferdinand war nicht nur der Bruder, sondern auch der Rivale, dem er zunächst auf neutralem Boden begegnen wollte. Die Ereignisse von Aranda hatten mehr als deutlich werden lassen, daß der Infant von einflußreichen Adelsfaktionen unterstützt wurde. Karls Position als „König der Spanien“ war hingegen keineswegs gefestigt. Ferdinands Anwesenheit in Tordesillas hätte Karl gefährlich werden können, denn es war nicht absehbar, welchen ihrer Söhne die unberechenbare Königin favorisieren würde. Sollte sie zu erkennen geben, daß sie Ferdinand als Regenten bevorzugte, hätte sie damit der Opposition gegen Karl, den Ausländer, neue Argumente geliefert. So war es nur das burgundische Geschwisterpaar, das sich der Fremden, die ihre Mutter war, unter strenger Beachtung höfischer Formen näherte: Mit dreimaligen tiefen Verneigungen erwiesen sie ihr die Reverenz. Als Karl Anstalten machte, der Königin die Hand zu küssen, durchbrach erstaunlicherweise Juana das steife Zeremoniell und umarmte erst den Sohn, dann die Tochter. Zu Karls wohlgesetzten Begrüßungsworten lächelte die Königin und schaute dabei unverwandt ihre erwachsenen Kinder an, bis sie schließlich die Worte fand, die später so oft zitiert werden sollten: Mais estes-vous mes enfans? Et que vous estes en peu temps devenuz grants.454 Mit einigen weiteren freundlichen Sätzen verabschiedete sie ihre Kinder fürs erste. Nach Vitals Bericht soll Chièvres anschließend Gelegenheit gehabt haben, der Königin Karls vortreffliche Eigenschaften zu schildern und geschickt den eigentlichen Zweck des Besuchs anzusprechen: die Übertragung der Regierungsgeschäfte an Karl, der sie im Namen seiner Mutter führen und dabei zu ihren Lebzeiten das Land zu regieren lernen sollte.455 Durch Chièvres’ geschickte Wortwahl und seine überzeugenden Argumente sah sich Juana als unangefochtene Herrscherin bestätigt und soll der vorgeschlagenen Regelung gern und erleichtert zugestimmt haben. Schenkt man Vitals Darstellung Glauben, so kann man den Historikern nur beipflichten, die in Karls Besuch bei der Mutter vorrangig ein Mittel sehen, seine eigene Position zu klären und zu stärken. Selbst J. Brouwer, dessen Schilderung 454 Voyages III 136 (Vital). 455 Ebd. 137.

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der Begegnung ins leicht Sentimentale abgleitet, kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß das machtpolitische Motiv Priorität vor allem Persönlichen hatte: „Die Worte, in welche Vital [...] die Beschreibung der Rührigkeit des Herrn von Chièvres kleidet, enthalten unseres Erachtens manch feine Anspielung auf die Motive, die Chièvres und Karl beseelt haben. Und diese Beweggründe hatten weniger die Interessen Johannas im Auge als die unverzügliche Erhebung Karls zur königlichen Würde, mit allem, was daraus erfließt.“456

Weniger häufig erwähnt, wenn auch nicht gänzlich unbeachtet geblieben, sind Vitals Aussagen über Katharina, Karls jüngste Schwester und zweites Mündel. Sie sind hier von besonderer Bedeutung, da die spärlichen Informationen über Karls Eingreifen als Vormund der damals Zehnjährigen m.W. auf dieser einen Quelle beruhen.457 Vital rühmt die Schönheit der kleinen Prinzessin, die, besonders wenn sie lächelte, ihrem Vater, Philipp dem Schönen, mehr als ihre Schwestern ähnelte. Sie soll sanft, anmutig und freundlich gewesen sein, klug für ihr Alter und äußerst sittsam. Am Hof von Tordesillas war sie der erklärte Liebling aller. Vital erfuhr, vermutlich von der Dienerschaft, daß man es für eine Schande hielt, daß die Königin das liebenswerte Mädchen so einsam und von der Welt abgeschlossen aufwachsen ließ. Schweigsam soll Katharina gewesen sein, was nicht verwundert, da ihre einzige Gesellschaft aus zwei alten Dienerinnen bestand.458 Wann und unter welchen Umständen Karl und Eleonore die Bekanntschaft ihrer Schwester machten, wie sie sich begrüßten, schildert Vital nicht. Der äußere Kontrast zwischen den Geschwistern hätte bei diesen ersten Begegnungen kaum größer gewesen sein können: Die beiden Ältesten waren auf das Prächtigste ausgestattet – man erinnere sich der Kosten für Eleonores trousseau de voyage –, während Katharina, wie ihre Mutter, äußerst schlicht gekleidet war und die für junge Mädchen landesübliche Zopffrisur trug. Karl und Eleonore waren betroffen von dem krassen Unterschied zwischen ihrem eigenen luxuriösen Ambiente und den Lebensverhältnissen Katharinas.459 Eleonore, die fürsorgliche große Schwester, beschloß sogleich, etwas für eine bessere Ausstattung der Jüngsten zu tun. Auch Karl sah sich zum Eingreifen veranlaßt: Obwohl das Schloß von Tordesillas über viele gut eingerichtete Räumlichkeiten verfügte, bewohnte Katharina seit ihren frühesten Tagen eine enge, fensterlose Kammer, zu der es nur einen Zugang durch das Zimmer ihrer Mutter gab. Niemand konnte Zutritt zu der Prinzessin erlangen, ohne von der Königin bemerkt zu werden, die in der ständigen Angst lebte, daß man ihr die Tochter entreißen könnte. Als Karl erkannte, daß ein Umzug 456 Brouwer 1995, 130 f. 457 Voyages III 140 f.; 237–246 (Vital). 458 Ebd. 140 f. 459 Vgl. oben 406 Anm. 77 f.

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Katharinas innerhalb des Schlosses auf den Widerstand der Mutter stoßen würde, veranlaßte er, daß einige Monate später das Zimmer vergrößert und mit einem Fenster versehen wurde. Damit sorgte er, soweit es die Umstände erlaubten, dafür, daß Katharina nicht mehr völlig von der Außenwelt abgeschnitten war. Sie soll über Jahre Ablenkung und Vergnügen darin gefunden haben, das Leben auf der Straße zu beobachten und den Kindern des Ortes beim Spielen unter ihrem Fenster zuzuschauen, denen sie gelegentlich kleine Münzen zuwarf. Es blieb Karl nicht verborgen, daß die Erziehung seiner Schwester vernachlässigt wurde. Juana hatte weder Erzieherinnen noch Lehrer bestellt, die Katharina in den honnestes choses hätten unterweisen können, die den standesgemäßen Bildungskanon einer königlichen Prinzessin ausmachten.460 Karl beschloß, als Vormund korrigierend in die Erziehung Katharinas einzugreifen, doch zunächst drängten andere Aufgaben, und später geriet sein Vorsatz offenbar in Vergessenheit. In Tordesillas erreichte Karl die Nachricht vom Tode des Kardinal Ximénes. Von dessen starker, kämpferischer Persönlichkeit war stets eine polarisierende Wirkung ausgegangen. Unter den Adligen, die mit allen Mitteln ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten, hatte er sich viele erbitterte Feinde gemacht, da er sein verantwortungsvolles Amt ganz als Dienst an der Krone Kastiliens verstand. Auf dieser Amtsauffassung beruhte seine Loyalität gegenüber Karl als dem von Königin Isabella bestimmten Erben. Obwohl der König wußte, was der Einsatz des Kardinals für die Stärkung seiner Position bedeutete, hatte er ihm gegenüber eine respektvoll-distanzierte bis skeptische Haltung bewahrt, die wesentlich auf den Einfluß der Spanier an seinem Hof zurückging, die sich von ihrer Herrschernähe die Förderung der eigenen Anliegen versprachen. Mit dem Tode des Kardinals entstand ein Machtvakuum, das Adrian von Utrecht nicht ausfüllen konnte. Bevor die streitbaren Adelsgruppierungen die Situation für ihre Zwecke nutzen konnten, mußte Karl als rechtmäßiger Herrscher auf den Plan treten, um die Lage zu stabilisieren. Er mußte vereidigt werden und die Huldigungen entgegennehmen und sich damit der Loyalität der einflußreichsten Vertreter des Landes versichern. Das dringendste Gebot der Stunde war es, vor den Zeremonien von Valladolid Ferdinand zu treffen, der, falls er in die Hände seiner Anhänger geriet, zur Gefahr für Karl werden konnte. Bis zum Einzug in Valladolid durfte er dann nicht mehr aus den Augen gelassen werden. Es galt nicht nur, Kontrolle über den Infanten auszuüben, sondern bei dem gemeinsamen Auftritt vollkommene Eintracht unter den Brüdern zu demonstrieren und im Huldigungsakt durch Ferdinands Unterordnung unter den Erstgeborenen alle Zweifel an der Legitimität des neuen Königs zu beseitigen.

460 Voyages III 238 (Vital).

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Am 12. November 1517 begegneten sich die Brüder erstmals vor den Toren von Mojadoz. Stärker noch als der Antrittsbesuch bei der Mutter wurde das Treffen, das sich über zwei Tage hinzog, vom höfischen Zeremoniell bestimmt, in dem für private Momente des Kennenlernens kaum Raum blieb. Alonso d’Aragón, der Erzbischof von Zaragoza und Regent von Aragon, hatte das Zusammentreffen Karls mit seinem Bruder in der angemessenen Form arrangiert und schritt selbst, von 200 Reitern begleitet, dem König entgegen, um ihm seine Reverenz zu erweisen und ihn anschließend zu seinem Bruder zu geleiten. Laurent Vital, der im Gefolge Karls Augenzeuge des Geschehens war, verbirgt seine Bewunderung nicht, wenn er den Aufzug der militärischen Formationen beschreibt, der dem Erscheinen des Infanten voranging.461 Drei- bis vierhundert Reiter machten den Anfang; ihnen folgten Hunderte von bewaffneten Fußsoldaten, die mit wehenden Bannern unter dem Klang von Trommeln und Pfeifen dem Infanten und seiner hochrangigen Begleitung aus kirchlichen Würdenträgern, Adligen und grants maistres (wohl Juristen in hohen Staatsämtern) voranzogen. Als Ferdinand des Königs ansichtig wurde, saß er vom Pferde ab, um Karl die Reverenz zu erweisen. Vergeblich versuchte der Ältere diese Demutsgeste des Bruders zu verhindern: Ferdinand folgte unbeirrt den Instruktionen, die man ihm für diesen schwierigen Augenblick gegeben hatte. Wie für Karl bei seinen Auftritten der frühen Jahre, so bedeuteten vermutlich auch für den Infanten die strengen Regeln höfischen Verhaltens ein Moment der Sicherheit, an das er sich in der ungewöhnlichen Situation halten konnte. Sobald Ferdinand dem Bruder die Reverenz erwiesen hatte, hieß Karl ihn wieder aufsitzen und führte ihn zu Eleonore und ihren Damen, damit er sie begrüßte und küßte. Zusammen zogen die Geschwister in Mojadoz ein, wo der Infant in einem Haus mit dem König logierte. Beim gemeinsamen Souper stand Ferdinand jedesmal, wenn der König sich die Hände wusch, mit entblößtem Haupt an seiner Seite, um ihm das Handtuch zu reichen. Während Vital diese Szene ohne Kommentar beschreibt, erwähnt Kohler, daß dies „ein Vorgang [gewesen sein soll], «der nicht unbemerkt blieb und zu verschiedenen Erörterungen Anlaß gab.» Das waren Zeichen der Unterwürfigkeit.“462 Leider geht aus diesen Zeilen nicht hervor, wer sich veranlaßt sah, Ferdinands Verhalten zu kommentieren; wesentlich wäre auch, zu wissen, ob es Zeitgenossen oder Historiker des 19. Jahrhunderts waren, die so ihre Kritik äußerten.463 Wer in dem Dienst, den Ferdinand dem königlichen Bruder erwies, ein Zeichen der Unterwürfig461 Voyages III 146. 462 Kohler 2003, 53 (nach W. Bauer). 463 Obwohl die wiedergegebenen Sätze der Interpunktion nach dem (adaptierten) Text des Laurent Vital zuzuordnen sein müßten, sind sie in der von mir benutzten Fassung des Reiseberichts nicht enthalten. – Die spanischen Chronisten gehen auf die Begegnung der Brüder nur kurz ein: knapp und sachlich Santa Cruz 163, während Sandoval 121 sich

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keit entdecken wollte, hat übersehen, daß es seit altersher nur den Ranghöchsten zukam, den König beim Mahl zu bedienen und daß dies Vorrechte waren, die während des Mittelalters an die Kurwürde gebunden waren bzw. bedeutenden Häusern als Erbämter verliehen wurden. Augenfällig wurden diese Privilegien bei ganz besonderen Anlässen, vor allem bei den sog. „Schauessen“ bei den Krönungsmählern. Nicht selten soll es zu heftigen Streitigkeiten um die Ehre gekommen sein, den Herrscher bedienen zu dürfen.464 Auch das erste gemeinsame Mahl der Brüder war ein herausragendes Ereignis. Ferdinand kannte offensichtlich das Protokoll besser als die oben erwähnten Kritiker: Nach dem Bruder nahm er den höchsten Rang unter den Anwesenden ein. Dem König das Handtuch reichen zu dürfen, war ein Privileg seiner Stellung. Es wäre unvorstellbar gewesen, etwa einem Lakaien diese an sich bescheidene Aufgabe zu übertragen. Wie so häufig in seinem Reisebericht verleiht Vital seinen Protagonisten durch kleine Randglossen menschliche Züge: So ließ Karl den Bruder schließlich an seiner Rechten Platz nehmen, wo Ferdinand mit ungewohnt fröhlicher Miene und dem gesunden Appetit eines Vierzehnjährigen den Genüssen der Tafel zusprach, die alles übertrafen, was ihm sonst serviert wurde. Nach dem Essen erwies er dem König die Ehrenbezeugung, bevor er sich unter Beachtung aller Höflichkeitsformen ent-

im wesentlichen auf die Aufzählung des Gefolges und die Beschreibung der glanzvollen Ausstattung des Königs beschränkt. 464 Rotthoff-Kraus 2000. Einige Passagen aus diesem Aufsatz, die sich auf die Aachener Krönungen Maximilians I. und Karls V. beziehen, belegen den außerordentlichen Rang dieser Ämter. Zum Krönungsmahl Maximilians I. (1486) heißt es dort (578 f.) u.a.: „[...] das Krönungsmahl dauerte vier Stunden und verlief in einer von komplizierten und langwierigen zeremoniellen Formen bestimmten Atmosphäre. Die Eröffnung oblag dem Pfalzgrafen als Erztruchseß. Er begab sich zur Küche, kehrte mit zwei silbernen Schüsseln, begleitet vom Erzmarschall, Herzog Ernst von Sachsen, zum Festsaal zurück. Beide schritten, geführt vom Reichsherold und weiteren Herolden, Schleppenträgern adligen Standes, Trompetern und weiteren Musikanten zum königlichen Tisch und servierten unter Assistenz des Grafen Friedrich von Zollern und des Schenken von Limburg in Vertretung des Böhmenkönigs die beiden ersten Gerichte. Die weiteren Gänge wurden, ebenfalls unter zeremonieller adliger Begleitung, von anderen Fürsten serviert [...]. Zum Abschluß des Mahles reichte der Herr von Weinsberg als Erbkämmerer in Vertretung des fehlenden Markgrafen von Brandenburg den Majestäten das Wasser zur Handwaschung.“ Beim Krönungsmahl Karls V. (1520) kam es zu einem der genannten Streitfälle (579): „Wie bereits bei früheren Krönungsmählern wurde auch diesmal die Feierlichkeit des Zeremoniells von einem Rangstreit überschattet. Sowohl die Gesandten des abwesenden Erzschenken, also des böhmischen Königs, wie auch der Erbschenk von Limburg beanspruchten das Recht, dem König den ersten Wein zu kredenzen. Da keine Einigung möglich schien, übte schließlich der Pfalzgraf zu seinem Truchsessen- auch das Schenkenamt aus.“

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fernte. Vital kann nicht umhin hinzuzufügen, daß der junge Prinz mit seinem Verhalten seinen Erziehern alle Ehre machte.465 Karl selbst hat den Begegnungen mit Mutter und Bruder offenbar erhebliches Gewicht beigemessen, sonst hätte er sie nicht in seinen Memoiren erwähnt. Einblick in das, was ihn in diesen Augenblicken bewegte, gewährt er erwartungsgemäß nicht; auch den letzten Halbsatz sollte man nicht dahingehend überinterpretieren: Die Reise nach Tordesillas fortsetzend, begab [Se. Majestät] sich dorthin, um der Königin, ihrer Mutter, die Hand zu küssen, und von da nach Mojados, wo sie den Infanten Don Ferdinand, ihren Bruder, antraf und den sie mit großer brüderlicher Liebe empfing.466

Trotz des guten Einvernehmens, das während des kurzen Aufenthalts in Mojadoz zwischen den Brüdern herrschte, sorgte Karl dafür, daß Ferdinand in den folgenden Tagen im Auge behalten wurde und in seinem Gefolge blieb. Am 18. November 1517 zog Karl in Begleitung seiner beiden Geschwister in Valladolid ein. Der Rahmen, in dem sich sein Eintritt vollzog, war durchaus den joyeuses entrées seiner burgundischen Heimat vergleichbar. Allerdings hatte man darauf geachtet, daß im Festzug Spanien und Burgund gleichermaßen vertreten waren, sowohl bei den militärischen Formationen wie bei den Repräsentanten des Adels, der Orden und der hohen Beamtenschaft. Karl wurde, dem Einzugsordo entsprechend, das Zeremonialschwert als Symbol der Gerichtsbarkeit vorangetragen. Das Erscheinen des künftigen Herrschers mit seinen Geschwistern Ferdinand und Eleonore bildete den Höhepunkt des Schauspiels; es folgten der Kanzler und der Rat,467 ehe eine Formation der königlichen Leibgarde, bestehend aus einhundert Bogenschützen, den Zug beschloß. Entlang der Einzugsroute, die Karl zunächst zur Kirche, dann in sein Quartier führte, hatte man ihm zu Ehren Schaubilder errichtet, vermutlich als Zugeständnis an die Bräuche seines Heimatlandes.468 Dem jungen Ferdinand verlieh Karl noch am Tag des Einzugs den Orden vom Goldenen Vlies,469 so daß der „Spanier“ sich als zur Elite Burgunds gehörig betrachten durfte.

465 Voyages III 146 f. 466 Kervyn van Lettenhove 1862, 6. 467 Adrian von Utrecht kam ein Ehrenplatz im Gefolge seines ehemaligen Zöglings in dessen Nähe zu. Adrian wurde in diesen Tagen seine Erhebung zum Kardinal mitgeteilt. Die feierliche Messe, bei der er den Kardinalshut empfing, fand am 25. (oder 26.) November in der Kirche des Dominikanerklosters San Pablo in Gegenwart Karls statt. Eine Beschreibung der Feierlichkeiten gibt Vital (Voyages III 158 f.). 468 Voyages II 58 f. (Vandenesse). 469 Kohler 2003, 53.

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Am 12. Dezember 1517 erging der Aufruf an die Vertreter der 18 Städte, die Sitz und Stimme in den Cortes hatten, sich Anfang Januar 1518 in Valladolid einzufinden. Karl hoffte auf eine rasche Anerkennung seiner Position durch die Abgeordneten. Es durfte nicht viel Zeit verstreichen zwischen seinem Einzug und seiner Legitimierung als König von Kastilien durch seine Eidesleistung mit der anschließenden Huldigung durch Adel und Städte. Eine längere Periode der Ungewißheit hätte seinen Gegnern Gelegenheit gegeben, sich zu formieren und Unruhe zu stiften. Die procuradores legten jedoch im Namen ihrer Städte umfangreiche Kataloge von Petitionen vor, so daß sich die Vorverhandlungen bis Anfang Februar hinzogen.470 Am 5. Februar begann mit der Eröffnung der Cortes, d.h. mit der eigentlichen Sitzungsperiode, die entscheidende Phase. Dank der geschickten Vermittlung Dr. Motas, des Präsidenten der Cortes, verständigte man sich in den meisten der vorgetragenen Punkte bald. Keine Einigung konnte über zwei Fragen erzielt werden, die in direktem Zusammenhang standen. Karl sollte schwören, keine Ämter, Benefizien, Würden oder Regentschaften an Ausländer zu übertragen und damit die entsprechende Klausel im Testament der Königin Isabella zu respektieren. Soweit dies jedoch im Vorgriff geschehen sei oder Ausländern Naturalisierungsurkunden ausgestellt worden seien, um diesen Passus zu umgehen, sollten diese Schritte rückgängig gemacht werden.471 Um vor allem den möglichen Übergang der Regentschaft an einen Fremden im Fall von Karls Abwesenheit zu verhindern, sollte der Infant im Lande bleiben, um notfalls den Bruder vertreten zu können, bis Karl sich verheiratet hatte und ein Erbe geboren war.472 Dem konnte Karl auf keinen Fall zustimmen: Die „Rochade“, die spätestens seit 1516 beschlossene Sache war und ursprünglich nicht von ihm selbst initiiert worden war, hätte längst vollzogen sein sollen, wenn nicht ihre planmäßige Durchführung durch den Tod Ferdinands von Aragon verhindert worden wäre. Die jüngsten Erfahrungen hatten gelehrt, daß die Entsendung Ferdinands in die Niederlande keinen Aufschub duldete. So antwortete Karl zu diesem Punkt ausweichend und erklärte, daß alles, was er veranlassen würde, zum Besten des Bruders und Spaniens dienen sollte. Auch in der Frage der Vergabe von Ämtern an Fremde wich er einer eindeutigen Stellungnahme aus, gelobte jedoch Besserung und künftig erhöhte Wachsamkeit in diesem strittigen Bereich. Etliche procuradores gaben sich mit diesen vagen Zusagen nicht zufrieden und weigerten 470 Die spanischen Chronisten geben die Forderungen der Abgeordneten sowie die Stellungnahmen Karls zu jedem der Punkte wieder (Santa Cruz 170–182; Sandoval 123–132). Die Zahl der Forderungen wird dort mit 74 angegeben; Sutter (1971, 28*) nennt 88. Die Differenz dürfte sich durch eine unterschiedliche Zusammenfassung der Punkte erklären. 471 Sandoval 128 Nr. 5. 472 Ebd. Nr. 3. Aus dieser Forderung der Cortes wird deutlich, daß niemand in der Versammlung daran glaubte, daß Juana das Land allein regieren könnte, falls Karl verhindert wäre.

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sich, für ihre Städte den Eid auf den König abzulegen. Auch einem Kompromiß, den Mota am zweiten Sitzungstag herbeiführte, wollten sich nicht alle Abgeordneten anschließen, so daß man ihnen harte Strafen wie den Verlust von Ämtern und Besitz androhte, falls sie ihren Widerstand aufrechterhielten. Am späten Nachmittag erschien der König in der Versammlung, begleitet von Ferdinand, der zu seiner Rechten Platz nahm, sowie von hohen geistlichen und weltlichen Würdenträgern, unter ihnen, sehr zum Mißfallen der procuradores, auch Chièvres und Le Sauvage, die als Ausländer in den Cortes höchst unerwünscht waren. Die procuradores legten ihren Eid ab und küßten zu seiner Bekräftigung dem König die Hand. Dr. Mota verkündete sodann die Eidesformel, auf die man sich für den König geeinigt hatte, deren Inhalt Sandoval wie folgt referiert: [...] el obispo Mota dijo que Su Alteza juraba los privilegios de las ciudades y los buenos usos y costumbres y las leyes, y que guardaría y cumpliría lo contenido en el capítulo que los procuradores de las ciudades habían dado. [...] Y así lo juró Su Alteza, salvo que no expresó los oficios no haberse de dar a extranjeros, aunque había jurado el guardar las leyes generalmente, donde se incluía este capítulo.473

Nicht allen procuradores genügte das generelle Bekenntnis Karls zu den Gesetzen und Bräuchen Spaniens; sie forderten, daß er den „Ausländerparagraphen“ ausdrücklich beschwören sollte. Karl wich mit den Worten esto juro ins AllgemeinUnverbindliche aus, ohne sich in dieser Frage festzulegen. Bereits in dieser ersten Cortes-Sitzung, an der er teilnahm, dürfte dem jungen König klargeworden sein, daß er mit dem heftigen Widerstand einflußreicher Kräfte zu rechnen hatte, ohne dessen Überwindung er sich als Herrscher in diesem fremden Land nicht würde durchsetzen und behaupten können. In seinen Erinnerungen übergeht der Kaiser den schwierigen Prozeß der Einigung mit den Cortes völlig; dort heißt es einfach: [...] Die Reise weiter fortsetzend [von Mojadoz] kam Se. Majestät nach Valladolid, wo sie die Cortes der Reiche von Castilien versammelte und zugleich mit der Königin, ihrer Mutter, als König anerkannt wurde.474

Am Sonntag, dem 7. Februar 1518, vollzog Adrian von Utrecht seine erste Amtshandlung als Kardinal: Er zelebrierte in der Kirche von San Pablo die feierliche Messe, die in der Huldigung und der Leistung des Loyalitätseides gipfelte. Als Erster trat der Infant vor und legte den Schwur auf das Evangelienbuch ab; als er anschließend dem König die Hand küssen wollte, duldete Karl es nicht, sondern umarmte den Bruder herzlich. Ferdinand führte dann seine Schwester Eleonore zum König und blieb während des weiteren Verlaufs der Zeremonie mit entblößtem Haupt zur Rechten des Bruders stehen. Auch Eleonore versprach dem Bruder 473 Sandoval 125. 474 Kervyn van Lettenhove 1862, 6.

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Treue, der ihr, wie Ferdinand, nicht gestattete, ihm die Hand zu küssen, sondern stattdessen selbst seine Lieblingsschwester küßte. Nach dieser Demonstration geschwisterlicher Liebe und Eintracht erfolgte die Huldigung durch die Granden und procuradores in der vom Protokoll vorgeschriebenen Form. Höhepunkt der feierlichen Handlung war der Augenblick, in dem der König seinerseits Loyalität gelobte und nochmals den Schwur bekräftigte, den er vor den Cortes geleistet hatte. Wenn Karl anschließend seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, daß Gott der Königin Juana, der rechtmäßigen Herrscherin des Landes, eines Tages wieder Gesundheit verleihen möge, damit sie allein regieren könne, mag man die Aufrichtigkeit seiner Worte zwar bezweifeln, klug gewählt waren sie auf jeden Fall: Die Königin, nach der Karl an zweiter Stelle rangierte, wurde in das Zeremoniell durch eine Loyalitätserklärung ihres Sohnes einbezogen, die auch die Anhänger Juanas nicht überhören konnten und sollten. Dem politischen Ringen mit den Cortes und den abschließenden Zeremonien folgten im März 1518 in Valladolid fröhliche Feste und glanzvolle Turniere. Karl und wohl auch Eleonore bedauerten, daß ihre Schwester Katharina von den Festesfreuden ausgeschlossen bleiben sollte. Die Königin hätte unter keinen Umständen eine Reise der Tochter nach Valladolid gestattet. Im Vollgefühl seiner noch frischen Würde als Vormund entwickelte Karl einen abenteuerlichen Plan, um Katharina ohne Wissen der Mutter für kurze Zeit aus Tordesillas zu entführen.475 Das Vorhaben und seine Durchführung muten an wie ein Kapitel aus den Ritterromanen, der Lieblingslektüre des jungen Karl. Es ist nicht anzunehmen, daß der Plan nach Beratungen Karls mit seinem conseil entworfen wurde, wie Vital glauben machen will.476 Die gesetzten und vorsichtig taktierenden burgundischen Adligen hätten ihm wohl kaum zugestimmt. Eingeweiht waren nur diejenigen, die an dem riskanten Unternehmen beteiligt waren: ein langjähriger Diener, einer der wenigen im Haushalt Juanas verbliebenen Niederländer, ferner seigneur de Traseignies, der chevalier d’honneur Eleonores, Eleonore selbst sowie einige, vermutlich jüngere, Damen, die das Abenteuer reizte. Der Diener Bertrand verschaffte sich in der Nacht zum 15. März über eine Galerie von außen Zugang zum Zimmer Katharinas, beruhigte die verstörte Kammerfrau und die aufgeschreckte Prinzessin mit der Versicherung, daß er im Auftrag des Königs gekommen sei, um dessen Schwester nach Valladolid zu bringen. Das junge Mädchen scheute zunächst vor dem Unternehmen zurück, weil es ahnte, wie die Mutter auf sein 475 Während Petrus Martyr, epist. 615 (p. 577 W., 20.3.1518), Santa Cruz 169 und Sandoval 134 der „Entführung“ der Prinzessin und ihrer Rückkehr zu der verzweifelten Mutter nur wenige Zeilen widmen, läßt Vital seiner Erzählfreude – und seiner Phantasie – freien Lauf und schildert Einzelheiten, die er selbst nur aus dem Munde direkt Beteiligter oder Dritter erfahren haben kann (Voyages III 237–247). 476 Ebd. 238.

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Verschwinden reagieren würde. Bertrand zerstreute ihre Bedenken und geleitete sie über die Galerie ins Freie, bis zu der Brücke, wo der chevalier d’honneur mit einer Sänfte und den „Anstandsdamen“ die Prinzessin erwartete. Mit fröhlichem Geplauder und Gesang heiterten die Damen Katharina auf, bis man Valladolid erreichte und die Prinzessin der Obhut ihrer Schwester übergeben werden konnte. Eleonore stattete das junge Mädchen mit schönen Gewändern aus und ließ es von ihrem Ehrenkavalier, Madame de Chièvres und Anne de Beaumont in die höfische Gesellschaft einführen. Katharinas Schönheit, Anmut und freundliches Wesen riefen allgemeines Entzücken hervor. Mit Freuden bezog man sie in die Festlichkeiten ein, und die Prinzessin schien für einige Tage alle Gedanken an Tordesillas und die verlassene Mutter verscheucht zu haben. Bertrand hatte von Karl den Auftrag erhalten, das Verhalten der Königin genau zu beobachten und regelmäßig Bericht zu erstatten.477 Nachdem die Königin am zweiten Tag nach Katharinas Entführung das Verschwinden der Tochter bemerkt hatte, verfiel sie in tiefe Schwermut, verweigerte jegliche Nahrung, schlief nicht mehr, sondern wanderte ruhelos durch das Schloß und die nächste Umgebung, um eine Spur der Vermißten zu entdecken. Diese beunruhigenden Nachrichten aus Tordesillas veranlaßten Karl, der Mutter die Tochter nach wenigen Tagen selbst zurückzubringen. Er benutzte die Gelegenheit, um Juana einige notwendige Veränderungen in Katharinas Haushalt und Lebensführung anzukündigen. Dabei berief er sich auf den dringenden Rat der Granden und grantz maistres, die ernstlich um Gesundheit und Leben der Prinzessin fürchteten, wenn sie weiterhin ohne Gesellschaft, ohne Möglichkeit zu Spiel und Bewegung an frischer Luft in dem düsteren Gemach verbliebe. Daher sollte nun die Vergrößerung und Umgestaltung des Zimmers in Angriff genommen werden, Katharina die Erlaubnis erhalten, sich außerhalb des Schlosses zu bewegen, und einen eigenen kleinen Haushalt bekommen. Ferner beabsichtigte Karl, einige junge Damen als Gefährtinnen für seine Schwester auszuwählen. Die Königin, erleichtert über die Rückkehr der Tochter und dankbar für die Erklärungen des Sohnes, stimmte dessen Plänen ohne Einwände zu. Damit glaubte Karl fürs erste seinen Pflichten als Vormund der Schwester genügt zu haben. Er mußte sich anderen drängenden Aufgaben zuwenden: Ferdinands Abreise stand bevor, letzte Anordnungen für dessen Begleiter und den künftigen Haushalt waren zu erteilen, und sein Erscheinen vor den Cortes in Zaragoza duldete keinen Aufschub mehr. Noch bevor der König im März 1518 477 Es war bekannt, daß sich Juana 1507, als ihr Ferdinand von Aragon den Infanten entzog, zwei Tage lang gegen die Entscheidung ihres Vaters aufgebäumt hatte, ehe sie sich darein fügte und nie mehr nach ihrem Sohn fragte, so, als ob sie jede Erinnerung an ihn aus ihrem Gedächtnis getilgt hätte. Daher schloß Karl nicht aus, daß Juana nach kurzer Zeit auch ihre jüngste Tochter vergessen könnte und ihm, als Katharinas Vormund, die Entscheidungen über deren weiteren Lebensweg überlassen blieben.

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nach Aragon aufbrach, setzte er den Marquis von Denía als Zivil- und Militärgouverneur von Tordesillas sowie als Schloßvogt ein, der gemeinsam mit seiner Frau über die Königin wachen sollte. Allein dem König verantwortlich, führte der Marquis ein hartes Regiment, unter dem nicht nur Juana, sondern auch Katharina zu leiden hatte. Die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände, die Karl Katharina versprochen hatte, wurden nur zum geringsten Teil umgesetzt. Von den jungen Damen, die der Prinzessin Gesellschaft leisten sollten, war keine Rede mehr. Erst kurz vor Antritt seiner Krönungsreise im Frühjahr 1520 kam Karl nochmals für wenige Tage nach Tordesillas.478 Für Katharina, die große Hoffnungen mit diesem Besuch verbunden hatte, bewirkte er keine Änderung der bedrückenden Verhältnisse.479 Ihre Lage verschlimmerte sich, als nach der Niederschlagung des Comuneros-Aufstands der Marquis von Karl in seiner Position bestätigt und ausdrücklich zur strengen Überwachung der Prinzessin angehalten wurde. Aus der Darstellung Brouwers geht hervor, daß Katharina sich mehrfach hilfesuchend an den Bruder wandte.480 Sie bat ihn zu veranlassen, daß der Mutter mehr Freiheit gewährt und ihr selbst mehr Achtung erwiesen würde. Der Marquis von Denía kontrollierte sogar Katharinas Briefverkehr. Karl enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen seiner Schwester erneut. Statt dem jungen Mädchen, das weiterhin ärmlich gekleidet war und als Tochter und Schwester von Königen über keinerlei Besitz verfügte, Verständnis entgegenzubringen, entrüstete sich der Vormund darüber, daß Katharina den Truppen der Rebellen, die Tordesillas kurzzeitig besetzt hatten, freundlich begegnet war. Den Marquis beauftragte er, darauf zu achten, daß Katharina weder Puder noch Creme, sondern nur Wasser zu ihrer Pflege gebrauchte. Lope Hurtado beschrieb die Vierzehnjährige als la más gentile dama del mundo,481 was Karl argwöhnen ließ, daß seine schöne Schwester eitel werden oder sich vielleicht – ähnlich wie einige Jahre zuvor Eleonore – auf eine zarte Liebesbeziehung einlassen könnte. Er hatte andere Pläne und als Vormund und Chef des Hauses auch die Verfügungsgewalt, sie durchzusetzen. Mit einem dynastischen Heiratsprojekt wollte er, wie schon seine Großeltern, die Katholischen Könige, vor ihm, alle Länder der Iberischen Halbinsel unter einer Krone

478 5.–8. März 1520 (Voyages II 26). 479 Daß Karl die strikten Kontrollmaßnahmen billigte, mit denen der Marquis jeden Kontakt der Königin zu anderen Personen unterband, geht aus einem Brief des Königs hervor (an den Marquis de Denía, 14.1.1520; CDCV I 82 f.Nr. XVI) 480 Brouwer 1995, 174–177 (ohne Quellenangabe). 481 Zitiert ebd. 177.

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vereinigen. 1524 wurde Katharina mit Johann III. von Portugal vermählt.482 Damit endete Karls Vormundschaft.483

3.3. Das Vorgehen Karls im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt Der Vollzug der „Rochade“ aus der Sicht der Chronisten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts Im März 1518 hatte die Durchführung des zweiten Schrittes der „Rochade“ Vorrang vor den Belangen Katharinas. Die Maßnahme, die die Großväter bereits 1509 im Vertrag von Blois vereinbart hatten und die Ferdinand von Aragon 1516 in seinen capitulaciones in adaptierter Form bestätigte, hat bei den zeitgenössischen Chronisten wie bei späteren Historikern außerordentliche Beachtung und sehr unterschiedliche Bewertung gefunden. Während die einen – ohne Berücksichtigung der Vorgeschichte – Ferdinands Entsendung in die Niederlande als eine von Karl befohlene Abschiebung des Infanten betrachten, erkennen andere darin einen Schritt, der dazu beitragen sollte, Ferdinand auf Aufgaben im Reich vorzubereiten, wenn diese auch noch nicht näher definiert waren. Auch die Vertreter dieser Auffassung verkennen keineswegs, daß machtpolitische Interessen im Spiel waren: Spanien hatte nicht Raum für beide Brüder. Die heftigen Auseinandersetzungen in den Cortes hatten die Befürchtungen bestätigt, die Ferdinand von Aragon zu seiner Verfügung veranlaßt hatten. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, wie die Entsendung Ferdinands in die Niederlande in zeitgenössischen Zeugnissen dargestellt wird. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Chronisten, deren Werke hier ausgewertet werden, nur die eine Seite repräsentieren: Sie standen im Dienste des Königs und Kaisers bzw. eines seiner Nachfolger. Der Unabhängigste unter ihnen dürfte Petrus Martyr gewesen sein. Als Ausgangspunkt bietet sich ausnahmsweise ein Paragraph aus den Commentaires Karls V. an:

482 Die angestrebte Verbindung der Reiche kam auch durch diese Heirat nicht zustande. Katharina jedoch, die durch den Mangel an jeglicher formaler Erziehung kaum für ein Herrscheramt prädestiniert schien, griff schon bald in die Politik ein. Johann III. übertrug ihr 1557 kurz vor seinem Tode die Regentschaft für den dreijährigen Enkel Dom Sebastian. 1569 zog sich Katharina aus den Regierungsgeschäften zurück, überwachte aber die Erziehung des Enkels bis zu dessen Mündigkeit. Sie starb 1578 in einem Kloster in Lissabon. Vgl. Pieper 1988. 483 Rodríguez-Salgado 2000, 60 geht auf die inneren Konflikte ein, in die Katharina durch die bevorstehende Trennung von der Mutter geriet. Sie stützt sich dabei auf zeitgenössische Briefe.

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In dieser Zeit, d.h. im Jahre 1518, reisten Se. Majestät und der Infant, ihr Bruder, von Valladolid nach Saragossa; auf dieser Reise trennte sie sich zu Aranda vom Infanten, der von da nach Santander ging, um sich dort einzuschiffen und zu Meer nach Flandern sich zu begeben, allwo er von Madame, seiner Tante, in Empfang genommen wurde.484

Knappe Sätze, das nackte Gerüst der Fakten also, wie es dem Stil der kaiserlichen Memoiren insgesamt entspricht. Gründe und Hintergründe der Abreise Ferdinands werden nicht erwähnt, auch der vorhergehende Text liefert keine Erklärung. Aus der Tatsache, daß der Kaiser aus seinen Erinnerungen Privates üblicherweise fast völlig ausspart, läßt sich schließen, daß es auch hier nicht um Persönliches, um die Abreise des Bruders geht, sondern um die des Infanten, um ein Ereignis von höchster politischer und zukunftsweisender Bedeutung. Aranda, wo sich Karl und Ferdinand trennen, wird zum Scheidepunkt ihrer Wege: der Ferdinands führt zunächst in eine ungewisse Zukunft, während Karl unbewegt und zielstrebig nach Aragon zieht, um die nächste Krone zu erlangen. Als der Kaiser seine Memoiren diktierte, waren mehr als dreißig Jahre vergangen, seit Ferdinand Spanien für immer verlassen hatte. Karl wußte, welche Konsequenzen sich aus diesem Schritt für ihn selbst, für Ferdinand und für die Machtverhältnisse in Europa ergeben hatten. Daher ist er ihm einer Erwähnung wert. Petrus Martyr begleitete den König auf dem Weg von Valladolid nach Zaragoza. Seine Briefe beziehen sich auf das Tagesgeschehen, wobei er in seiner unverblümten Art auch Details einflicht, die die Hofchronisten zum Teil verschweigen. Noch aus Valladolid berichtet er vom Aufbegehren der Bevölkerung, als sich die Nachricht von der „Entführung“ Ferdinands verbreitete. An den Portalen von St. Franziskus hatte man ein Papier mit höchst beunruhigendem Inhalt angeheftet, das mehr oder minder direkt zum Widerstand aufrief. Doch es blieb bei Worten. Das Volk murrte weiter, zu den befürchteten Unruhen kam es nicht: [...] de mittendo in Flandriam Infante Fernando sermo est exortus, inde ad beati Francisci portas effixum est chirographum perturbativum, ita inquiens. Veh tibi Castella, si abduci Fernandum Infantem patieris, haec Hispano ydiomate, fuerunt populi varia murmura, nil tamen ultra.485

Petrus Martyr wußte, daß Karl – wenn auch mit erheblicher Verzögerung – eine der von Ferdinand von Aragon und Adrian von Utrecht ausgehandelten Begleitmaßnahmen zu seinem Regierungsantritt durchführte: Noch unmittelbar vor dem Tode des Katholischen Königs hatte er die Vereinbarungen zusammengefaßt, die zum Ausgangspunkt und Bestandteil des Letzten Willens des Königs wurden:

484 Kervyn van Lettenhove 1862, 7. 485 Petrus Martyr, epist. 615 (p. 578 W., 20.3.1518).

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[...] Pacta vero haec fuere: quod Carolus ilico veniet [...] eatque Fernandus eius frater, qui classe non descendat: nisi prior Carolus suam ascenderit: in Hispaniam venturus.486

Nachdem sich die Wege des Königs und seines Bruders bereits in Aranda getrennt hatten, ohne daß jemand gegen Ferdinands „Abschiebung“ eingeschritten wäre, äußerte sich Petrus Martyr aus Zaragoza zu den neuerlichen Veränderungen im Haushalt des Infanten, die Karl kurz vor dessen Abreise getroffen hatte: Fast alle Spanier seiner Umgebung waren entlassen worden. Petrus Martyr sieht darin in erster Linie die üblen Machenschaften der Ratgeber des Königs, die Mißtrauen und Eifersucht zu schüren wußten. Allen voran nennt er Chièvres, den magnus Caper. Chièvres nutzte nach Petrus Martyr außerdem die Gelegenheit, sich eines lästigen Widersachers zu entledigen, indem er ihn dem König als Begleiter und Gouverneur Ferdinands empfahl: Ex eo municipio [Aranda Doriana] proceribus, qui aderant, non prohibentibus, Fernandus Infans dimissus est. Sublatis ei familiaribus Hispanis maiori ex parte boni regis rectores hoc astruunt, ne quid restet eorum cogitatibus adversum. Regni suspicio, & zelotipia male ferunt socium. Quanta sit huius magni Capri versutia hinc colligito. sub honoris specie cum rege tractavit, ut competitor eius Mons. de Beure oeconomus, Infantem ducat in Flandriam, eiusque domum gubernet.487

Von Zaragoza aus verfolgte Petrus Martyr die Nachrichten, die über den Verlauf von Ferdinands Reise und von dessen glücklicher Ankunft in Flandern eintrafen: Ab oceano canthabro Don Fernandum Infantem conscendisse classem allatum est, qua vectandus erat ad Glaciale fretum. defuit illi Dacarum regis navis ingens, quae in sicco littore dum restauraretur, combusta est. Iam tutum dormitabunt regii Belgae ac Galli rectores. Sublatus est illis metus, sublata est Castellae adipiscendae valitudinis spes.488 Illustrissimus Infans Don Fernandus, superatis oceani tumoribus, in Flandriam apulsus est incolumis. est amabilis nature pronus est in benignitatem erga venientes ad se, colunt illum Belgae Flamingi vulgo.489 486 Petrus Martyr, epist. 563 (p. 554 W., 22.1.1516). 487 Petrus Martyr, epist. 616 (p. 578 W., 6.5.1518). Den Namen des oeconomus, den Chièvres entfernt wissen will, gibt Petrus Martyr mit de Beure an; so nennt ihn auch Santa Cruz (182), bei Sandoval (134) hat er sich zu De Beurren gewandelt. Ein Mitglied von Ferdinands Haushalt dieses oder ähnlichen Namens taucht in der Auflistung Vitals (Voyages III 262) nicht auf. Fagel (2003, 38 m. Anm. 13) hat „de Beure“ wohl zu Recht mit Ferry de Croy, seigneur de Roeulx, identifiziert, dessen Abreise aus Spanien nach Konflikten mit Chièvres notwendig geworden war. Bucholtz 1831, 77 nennt als Begleiter des Infanten de Vere, wohl eine Verwechslung mit dem burgundischen Adligen Philibert, seigneur de Veyré, der unter Philipp dem Schönen als Spezialist in spanischen Angelegenheiten tätig war. De Veyré starb jedoch bereits 1512 (Cauchies 2003, 65). 488 Petrus Martyr, epist. 620 (p. 580 W., 29.5.1518). 489 Petrus Martyr, epist. 622 (p. 580 W., 4.7.1518).

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Aus eigener Anschauung geht Petrus Martyr hier also in den beiden ersten der hier aufgeführten Briefe auf gewisse Begleitumstände der „Rochade“ ein. Die Worte des Humanisten verraten seine Sorge um mögliche politische Folgen der Maßnahme in Spanien sowie seine kritische Haltung gegenüber den Anordnungen des Königs, die die Neubesetzung der Ämter in Ferdinands Haushalt betreffen. Da Petrus Martyr in Chièvres den Initiator dieses Vorgangs sieht, läßt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, erneut seine Aversion gegen den magnus Caper zum Ausdruck zu bringen und dessen Bild weitere negative Züge hinzuzufügen. Während Petrus Martyr auf den Aufenthalt in Aranda und den Abschied der Brüder nicht eingeht, schildert Laurent Vital den Auszug Ferdinands aus dem Land seiner Geburt in allen Einzelheiten, beginnend mit dem Aufbruch aus Valladolid, über die Abschiedszene in Aranda bis hin zur Einschiffung des Prinzen in Santander. Über die abenteuerliche Seereise berichtet er ebenso wie über die Ankunft des Infanten in den Niederlanden.490 Vital, der Karl seit dessen Kindertagen als Kammerdiener betreut hatte und das Vertrauen seines jungen Herrn genoß, gehörte auf dessen Anordnung hin während der gesamten Reise Ferdinands zum Gefolge des Infanten und hatte den ausdrücklichen Auftrag, alles, was sich unterwegs ereignete und was er in Erfahrung bringen konnte, zu sammeln und festzuhalten. Seine Aufgabe brachte es auch mit sich, daß er die Seereise auf dem Schiff des Infanten zurücklegte: Et combien que je y [auf dem Schiff des Infanten] estoye, ce n’estoit point par nécessité, mais par l’ordonnance de mondict seigneur, et n’y servoye que de recoeullir et mectre en mémoire ce qui survenoit durant le voiage et de quoy je povois avoir cognoissance.491

Man darf davon ausgehen, daß Karls Order nicht dem Wunsch entsprang, die Erinnerung an die Ausreise des Infanten festzuhalten, sondern daß sie vom tiefen Mißtrauen des Königs und seiner Räte gegenüber den Anhängern Ferdinands diktiert wurde. Damit erklärt sich der Auftrag zu exakter Berichterstattung an seinen Diener, den er als aufmerksamen, wenn auch naiven Beobachter kannte und auf dessen Loyalität Verlaß war. Nach Vitals Angaben brach Karl am 22. März 1518 mit großem Gefolge aus Valladolid auf;492 außer seinen Geschwistern Ferdinand und Eleonore begleitete auch Germaine de Foix, die junge Witwe Ferdinands von Aragon, den König auf seinem Weg nach Aragon. Aranda (bei Vital stets Herande) wurde am 30. März, dem Dienstag vor Ostern, erreicht. Die seigneurs und die Bevölkerung empfingen ihren König voller Freude und gaben 490 Voyages III 259–304. 491 Ebd. 279. 492 Schon im Februar 1518 erwähnt Vital die aufrührerischen Plakate an den Kirchenportalen in Valladolid (Voyages III 234 f.: De ung libelle de diffamation attachiet aux portaulx des églises à Vailledoly, qui contenoit pluisieurs malédictions).

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ihm das Ehrengeleit in die Stadt, deren Häuser und Straßen man mit Tapisserien und frischem Grün geschmückt hatte. Für Ferdinand muß sich die Rückkehr an diesen Ort allerdings mit bedrückenden Erinnerungen verbunden haben, denn dort hatte er sich im September des Vorjahres von den Erziehern und Vertrauten seiner Kinderzeit trennen müssen. Vital geht darauf nicht ein. Nachdem das Osterfest in feierlicher Form begangen worden war, nutzte der König die verbleibenden Tage bis zu seinem Aufbruch nach Aragon dazu, letzte Vorkehrungen für Ferdinands Abreise zu treffen. Vermutlich folgte er dem Rat seiner conseillers, als er zunächst einer breiteren Öffentlichkeit, d.h. den vielen Uneingeweihten in seinem Haushalt und den Spaniern am Ort, erklären ließ, weshalb der Infant das Land in Bälde verlassen sollte. Die Vorgeschichte und die wahren Hintergründe der „Rochade“ dürften nur den engsten Beratern des Königs bekannt gewesen sein und schienen wenig geeignet, publik gemacht zu werden. Um möglichen Spekulationen über die Gründe von Ferdinands Entsendung in die Niederlande vorzubeugen und Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden, wurde daher eine Version verbreitet, die allgemein einleuchten mußte, in der das Gesicht beider Brüder gewahrt wurde und die auch Vital kritiklos übernimmt. Danach hatte Karl den Generalständen versprochen, den Niederländern zum Trost über seine Abwesenheit seinen lieben Bruder zu schicken: Pendant que nostre sire le Roy estoit en ce plaisant lieu de Herande [...] affin de acquictier sa promesse qu’il avoit faict aux Éstas de pardechà, de leur envoyer son tres chier frère don Fernande, pour leur consolation, il luy ordonna ung estas de pluisieurs chevaliers et gentilzhommes, et de tout plain de gens de bien [...]493

Wie sich der Hofstaat zusammensetzte,494 der dem Infanten ein ehrenvolles Geleit geben und für seine Sicherheit sorgen sollte, führt Vital anschließend aus: Doncques désirant que mondict seigneur son frère fust de tant plus honorablement acompaigniet, et seurement conduict, sçaschant le seigneur du Reux, preux et vertueulx chevalier, bien expérimenté par mer et par terre, luy bailla la charge, conduicte et gouvernement de la personne de monseigneur l’archiduc son frère, pour, quant il seroit arrivet pardechà, le mectre ès mains et gouvernement de monseigneur le prince de Chimay, comme il feist. Après, le Roy lui ordonna deulx aultres bons personnaiges pour le servir en estat de chambellan, de quoi l’ung fut le seigneur de Sainct-Py [Antoine de Croy, seigneur de Sempy], et l’autre le seigneur de Moulembais, et deulx josnes gentilzhommes, assavoir: 493 Voyages III 262. Die kurze Abschiedsrede vor den Generalständen enthält allerdings kein derartiges Versprechen, zumindest nicht in der Wiedergabe Vitals (ebd. 31), sondern nur die Zusicherung, daß der Herrscher so bald wie möglich zurückkehren wird. 494 Fagel 2003, 37 weist darauf hin, daß Ferdinand am 10. März 1518, als er nach burgundischem Recht volljährig wurde, einen eigenen Hofstaat bekommen hatte, der nach burgundischem Modell vier états umfaßte: chapelle, chambre, hôtel, écuries. Die Besetzung der Ämter wurde in Aranda den Erfordernissen der Reise angepaßt.

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l’aisné filz du seigneur de Lalaing, et le filz du seigneur de Croysilles; aussi le seigneur de Berghem en estat de chambellan, Charlo d’Achey [Auxy], natif de Bourgoingne, pour estre son escuyer d’escuirie, le seigneur de Ravele, capitaine de ces archiers de corps.495

Die Zahl der nachgeordneten Chargen, die für den Dienst des Infanten abgeordnet wurden und die Vital anschließend nicht ohne Stolz aufführt, war beträchtlich. An späterer Stelle erwähnt er, daß auch ung médecin espaignol auf dem Schiff des Infanten mitreiste.496 Dabei kann es sich nur um Ferdinands Leibarzt Juan de la Parra gehandelt haben, der bis zu seinem Tode 1521 in Worms zum Hof Ferdinands gehörte. Er war einer der wenigen Spanier, die man in Ferdinands Umgebung belassen hatte.497 Die Leitung der gesamten Reise, das gouvernement des Prinzen während dieser Zeit wie auch die Spitzenämter in den verschiedenen Sparten des Hofstaats übertrug Karl Angehörigen des burgundischen Adels, von denen etliche als Ritter des Vliesordens ihm als ihrem Souverän doppelt zu Gehorsam und Loyalität verpflichtet waren. Auffällig ist, daß die weitverzweigte Familie Croy im Hofstaat dreifach vertreten ist: Ferry de Croy, seigneur de Roeulx, dem die Gesamtverantwortung für die Reise übertragen worden war und der in dieser Zeit als gouverneur Ferdinands fungierte, Charles de Croy, prince de Chimay, der das Amt des gouverneurs des Prinzen in den Niederlanden übernehmen sollte, was noch 1518 geschah,498 und Antoine de Croy, seigneur de Sempy, als Kammerherr. Mit dieser Neubesetzung der Ämter durch Vertreter des burgundischen Adels wurde der Prozeß der „Burgundisierung“ Ferdinands bereits eingeleitet, ehe er Spanien verlassen hatte.499 Der 20. April 1518 war zum Tag des Aufbruchs der Brüder bestimmt. Karl bestand darauf, den Jüngeren ein Stück Weges bis zum Stadtrand zu begleiten, um dort von ihm Abschied zu nehmen. Offenbar schauten viele, darunter auch Laurent Vital, den beiden Reitern nach, die ein Bild vollkommener brüderlicher Eintracht boten. Die rührende Abschiedsszene, die Karls Diener beschreibt, kann er so wohl aus der Ferne kaum beobachtet haben: 495 Voyages III 262 f. 496 Ebd. 277. 497 Kohler 2003, 57 erwähnt Parra als Erzieher Ferdinands, der dem Prinzen in den Niederlanden die Institutio principis Christiani des Erasmus erläuterte, deren zweite, 1518 erschienene Auflage Ferdinand gewidmet ist. Auch Fagel 2003, 44 nimmt nach sehr dürftigen Angaben in den Quellen an, daß Parra diese Tätigkeit zumindest für eine gewisse Zeit anvertraut wurde, da Erasmus es – wie schon früher – abgelehnt hatte, in den Dienst des Hofes zu treten. 498 Chimay konnte auf Erfahrung in diesem Amt zurückblicken: von 1506 bis 1509 war er gouverneur der burgundischen Kinder gewesen. 499 Dazu auch Fagel 2003, 37.

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[...] ilz montèrent ensamble, et allèrent hors de la ville de Herande, bien une demye lieue, tout le chemin que mondict seigneur don Fernande devoit aller, et jusques à ung chemin croisiet, là où se feist la départie de ces deulx nobles frères. Là volut ledict seigneur don Fernande descendre, pour mectre pied en terre: mais le Roy ne le volut souffrir. Mais tout à cheval, à chiefz nudz, se entreaccollèrent, en recommandant l’ung l’autre en la garde de Dieu, aveucq peu de parolles, parce que leurs ceurs estoient tous confiz en larmes. Puis se élongèrent l’ung de l’autre, le Roy retournant vers Herande, et mondict seigneur tirant le chemin vers la mer.500

Kaum nach Aranda zurückgekehrt, beauftragte Karl den Marqués de Aguilar, den zeitweiligen comendador mayor des Calatrava-Ordens und gobernador des Infanten, Ferdinand zu folgen und in dessen Nähe zu bleiben, bis er sich eingeschifft habe. Ferdinand erreichte Santander erst am 4. Mai, da unterwegs mehrfach von der direkten Route abgewichen wurde. Angeblich waren zahlreiche Orte von der Pest heimgesucht, so daß man sie umgehen mußte. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß man den geraden Weg mied, um der Gefahr vorzubeugen, daß der Infant noch in letzter Minute entführt wurde. Solange er sich auf spanischem Boden befand, war derartiges zu befürchten. Nicht ohne Hintergedanken hatte Karl den Marqués dem Bruder nachgeschickt – gewiß nicht nur, um ihm, wie Vital gutgläubig schreibt, Grüße zu übermitteln und ihm die Brüsseler Jagdgründe zu empfehlen. Die Gegenwart des spanischen Adligen bot mehr Schutz als die der landesunkundigen burgundischen Herren. Die Bevölkerung von Santander empfing den Infanten mit großer Freude und geradezu königlichen Ehren. Wider Erwarten bekam Ferdinand Gelegenheit, die Hafenstadt näher kennenzulernen, denn es vergingen drei Wochen, ehe die fünf Schiffe, die ihn und sein Gefolge in die Niederlande bringen sollten, in See stechen konnten. Obwohl der König frühzeitig den Befehl erlassen hatte, die Schiffe bereitzumachen und 400 Soldaten als Geleitschutz abzuordnen, waren seine Anordnungen nicht befolgt worden.501 Ferdinand vertrieb sich die Zeit am Meer, auf der Jagd und beim Fischen, während seine neue Dienerschaft ihn nach und nach an niederländische Kost gewöhnte. Erst zu Pfingsten, am 23./24. Mai, konnten die Schiffe auslaufen. Der Marqués de Aguilar blieb an Bord, bis das Schiff des Infanten die Flußmündung erreicht hatte und die Fahrt auf das offene Meer begann. Erst dann ließ er sich gemeinsam mit einem jungen Adligen, der als Eilkurier dem König die Nachricht von der Ausreise Ferdinands überbringen sollte, an Land zurückrudern.502 500 Voyages III 270. 501 Vital (Voyages III 273) gibt an, daß diejenigen, die der König mit den Vorbereitungen beauftragt hatte, einander die Schuld für die Verzögerung gaben. M.E. ist Sabotage von seiten der „Ferdinandisten“ nicht auszuschließen, die Zeit zur Ausführung ihrer Pläne gewinnen wollten. 502 Ebd. 276.

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Karl konnte sich beruhigt den aragonesischen Angelegenheiten zuwenden: Die entscheidende Phase der „Rochade“ war ohne Zwischenfälle vollzogen, die Verantwortung für Ferdinand würde in Kürze weitgehend in die Hände Margaretes von Österreich übergehen. In Sicherheit war Ferdinand allerdings vorerst noch nicht: er und seine Begleiter hatten eine höchst abenteuerliche Seereise zu überstehen, in deren Verlauf es sie bis nach Irland verschlug.503 Erst am 16. Juni betrat er in Vlissingen erstmals niederländischen Boden. Tags darauf traf der Prinz in Gent seine Tante Margarete, die ihm entgegegengeeilt war und unter deren sorgsamer Lenkung der „Spanier“ in das geistige und künstlerische Umfeld des burgundischen Hofes hineinwachsen sollte. Mit den Briefen des Petrus Martyr und dem Bericht des Laurent Vital liegen Quellen vor, die in den von beiden Verfassern erwähnten Fakten übereinstimmen. Die Texte gewinnen an Glaubwürdigkeit, weil beide Zeit- und Augenzeugen unabhängig voneinander schrieben: Der Humanist und der Kammerdiener dürften sich kaum begegnet sein. Zieht man die entsprechenden Passagen aus den Chroniken von Santa Cruz und Sandoval zum Vergleich heran, stellt man vor allem in bei ersterem erhebliche Abweichungen von den früheren Quellen fest, die sich nicht allein aus der zeitlichen Distanz und aus dem Wissen des Historiographen um die Konsequenzen aus der „Rochade“ erklären lassen.504 Beide Spanier gehen auf den seinerzeit so umstrittenen Schritt nur relativ kurz ein; für sie hat er aus der Rückschau an Gewicht verloren und ist zu einem der zahllosen Ereignisse im Herrscherleben Karls V. geworden. Santa Cruz liefert folgende Version vom Zustandekommen und von der Durchführung der einschneidenden Maßnahmen von 1518: Acabadas las Cortes y pasadas las fiestas [...], y como Mr. de Chievres y el gran Caciller [!] sintiesen, hablando con algunos caballeros en las Cortes de Valladolid, [...] cómo el Rey Don Carlos era aborrecido de muchos, y el Infante, su hermano, amado de todos, al cual tenían por Príncipe natural y á su hermano por Rey extranjero, acordaron de consultarlo con el Rey Don Carlos, y le aconsejaron cómo convenía que le enviase fuera del Reino, porque si en algún tiempo algunos caballeros se amotinasen en España no tuviesen al Infante Don Fernando por cabeza; lo cual pareció muy bien á Su Alteza, y estando en Aranda de Duero lo envió á Flandes con su mayordomo mayor, Mr. de Beure, quitándole la mayor parte de los criados españoles que tenía [...]; y partió de Aranda de Duero á 4 de Abril, y se embarcó en Portugalete á 18 del mismo mes, y dieron mucha prisa en su 503 Vital (Voyages III 279–302) beschreibt die Gefahren und Abenteuer der Reise außerordentlich lebendig und anschaulich. 504 Die Quellen, aus denen Santa Cruz seine Kenntnisse bezog, sind zum Teil schwer feststellbar und nicht unumstritten. Sandoval, der sich sonst häufig der Crónica bedient, hat in diesem Fall offensichtlich andere Materialien zugrundegelegt. Die Briefe des Petrus Martyr könnten beiden bekannt gewesen sein. Es ist auszuschließen, daß ihnen der in französischer Sprache für den König verfaßte Reisebericht des Vital zur Verfügung stand.

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embarcamiento, antes que los del Reino tuviesen sentimiento de ello. En esto tuvieron á Chievres todos por muy cuerdo y á los de España fué tenido á poco saber, por dejarlo así llevar; [...] por do parece que la tal ida fué por permisión de Dios para lo que convenía al Rey Don Carlos y al bien del Reino, por lo que después sucedió de las Comunidades en Castilla, donde si el Infante en ella estuviera ellos hicieran de él cabeza y fuera mucho peor de lo que fué.505

Diese Darstellung des Geschehens ist aus mehreren Gründen äußerst befremdlich: Im 1. Buch seiner Crónica hat Santa Cruz sehr ausführlich die schwierigen Verhandlungen zwischen Adrian von Utrecht und Ferdinand von Aragon geschildert und als deren Ergebnis die capitulaciones aufgeführt;506 im 2. Buch nun stellt er Chièvres als den weisen, vorausschauenden Ratgeber des jungen Herrschers dar, der die Gefahr erkannte, die von den Adligen ausging, die den Infanten an die Spitze ihrer Erhebung gegen den ungeliebten König stellen wollten. Schnell entschlossen, bevor die Gegenpartei davon erfahren konnte, entließ Karl, hier ganz Croy-conseil, die meisten der spanischen Bediensteten des Bruders und schickte den Infanten in höchster Eile außer Landes.507 Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß Karl sich mit Chièvres eingehend beriet, ehe er die Abreise Ferdinands anordnete und vorbereitete. Ebenso gewiß ist, daß Chièvres von den Verfügungen Ferdinands von Aragon Kenntnis hatte. Es ist jedoch mehr als unwahrscheinlich, daß die Darstellung des Geschehens in der Crónica dem tatsächlichen Ablauf entspricht: (1.) Es wäre höchst uncharakteristisch für Karl wie für Chièvres gewesen, einen derart schwerwiegenden Schritt, der nicht ohne Konsequenzen für die politische Zukunft beider Brüder bleiben konnte, spontan und in höchster Eile zu vollziehen. (2.) Karl und Chièvres hätten ihre Maßnahmen nicht allein auf Gerüchte und zufällig aufgefangene Gesprächsfetzen gründen können. Die angemessene Reaktion auf derartig unsichere Informationen wäre gewesen, den Infanten im Lande sorgsam bewachen zu lassen und für seine Sicherheit zu sorgen. Dies geschah offensichtlich, wie aus den Augenzeugenberichten hervorgeht: Karl behielt den Bruder bis Aranda stets in seiner Nähe und sorgte für Geleitschutz 505 Santa Cruz 182 f. 506 Ebd. 88–92; vgl. oben 292 Anm. 421. 507 Die von Santa Cruz angegebenen Daten der Abreise des Infanten lassen sich weder mit dem Itinerar Karls noch mit den Angaben Vitals vereinbaren. Welcher Quelle die Daten des Chronisten entstammen, ließ sich nicht feststellen. Daher kann hier nicht entschieden werden, ob ihm ein Fehler unterlief oder ob er unterstreichen wollte, in welcher Hast das Unternehmen seiner Auffassung nach durchgeführt wurde. Die falschen Datierungen finden sich noch in Arbeiten des 20. Jahrhunderts; sie betreffen vor allem den Tag der Abreise, den z.B. Walther 1911, 163 mit dem 27. März 1518 angibt. Die Ankunft in Gent am 19. Juni stimmt mit den Daten bei Vital überein. Ferdinands Seereise dauerte zwar länger als erwartet, aber ein Vierteljahr für die Fahrt von Santander nach Vlissingen anzusetzen ist doch gewagt.

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bis zur Ankunft in den Niederlanden. (3.) Die Entlassung der meisten spanischen Mitglieder aus Ferdinands Haushalt erfolgte keineswegs spontan, sondern war von langer Hand vorbereitet, wie die Briefe Karls an die Kardinäle und an seinen Bruder belegen. Der Wechsel wurde schrittweise ab September 1517 eingeleitet und war erst im April 1518 abgeschlossen. (4.) Die praktische Durchführung des Unternehmens erforderte langfristige, sorgfältige Planung. Neben den Ungereimtheiten, die die Darstellung in der Crónica als wenig glaubwürdig erscheinen lassen, befremdet der Tenor der abschließenden Sätze der Passage: Santa Cruz unternimmt gleichsam den Versuch der Rechtfertigung einer vor Jahrzehnten vollzogenen Maßnahme, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte als richtig erwiesen hat. Als Santa Cruz diese Sätze niederschrieb, war Karl spanischer König, Römischer Kaiser und Herr der „Neuen Welt“; Ferdinand gebot als König über drei Reiche. Wenn der Chronist zu diesem Zeitpunkt noch Spekulationen darüber anstellt, welche verheerenden Folgen für das Land eine Anwesenheit Ferdinands in Spanien während der Comuneros-Aufstände gehabt haben könnte, so kann er damit nur einen Zweck verfolgen: klarzustellen, daß der König schon in jungen Jahren eine weise Entscheidung getroffen hat und daß – was nicht übersehen werden sollte – auf seinem Vorgehen der Segen Gottes ruhte. Den Primärquellen wesentlich näher steht die Schilderung des gesamten Vorgangs in der Historia des Sandoval: El infante don Fernando tenía su casa en Aranda de Duero, bien poco favorecido de su hermano el rey [...] Tratóse de que con brevedad le enviasen a Flandes, que para las cosas de allá importaba su presencia. También para asegurarse de la de acá, convenía tenerle ausente, que no quiere compañía la impaciente codicia de reinar. Dada, pues, la mejor orden que fué posible en las cosas tocantes al buen gobierno de Castilla, el rey partió de Valladolid para Aragón [...] llevando consigo a la infanta doña Leonor, su hermana, y a la reina Germana. Tomaron el camino para la villa de Aranda, donde el infante don Fernando, su hermano, había vuelto con muy poco gusto, por la priesa que había en sacarlo de España. Detúvose el rey algunos días en Aranda, en los cuales despacharon al infante para Flandes, como estaba determinado. Y hecho esto se partió el rey para Aragón. Y con el infante fué monsieur De Beurren, mayordomo mayor del rey [...]. Y esto dicen que fué traza de monsieur de Xevres, por apartarlo de la presencia del rey, porque entre ellos había habido grandes discordias. Todos los más criados que el infante llevó fueron extranjeros, y pocos castellanos. Hizo su viaje en una buena armada que estaba aparejada en el puerto donde se embarcó. [...] Por la ida del infante de estos reinos pesó a muchos, y se comenzó a murmurar, porque les parecía que no se debía hacer hasta que el rey se casase y tuviera hijos.508

Der wesentlichste Punkt, in dem sich Sandovals Darstellung von der des Santa Cruz unterscheidet, ist die klare Aussage, daß die Abreise des Infanten eine längst 508 Sandoval 134.

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beschlossene Sache war (como estaba determinado), wenn auch an dieser Stelle nicht darauf erwähnt wird, wer diesen Beschluß wann gefaßt hatte.509 Ferdinand war davon informiert, daß er sein Geburtsland schon in Kürze würde verlassen müssen. Wenn er den Eindruck hatte, daß man in aller Eile an die Ausführung des Plans ging, so mag das zwar seine persönliche Empfindung gewesen sein; hätte aber Karl die Vorgaben seines Großvaters buchstabengetreu erfüllt, so wäre Ferdinand im April 1518 bereits in den Niederlanden gewesen. Zwei Gründe führt Sandoval für die Entsendung des Infanten an: (1.) Nicht näher definierte Umstände erforderten angeblich die Anwesenheit Ferdinands in den Niederlanden. Der Chronist hatte also offenbar Kenntnis von dem Argument, das Karl seinerzeit zur Beruhigung der Spanier vorgebracht hatte. (2.) Der Infant mußte Spanien verlassen, bevor in ihm die Lust zum Herrschen erwachte. Diese Begründung kommt der Wahrheit näher, wenn auch, wie schon zuvor betont wurde, die Gefahr zum Zeitpunkt der „Rochade“ vor allem von seinen Anhängern ausging. Sandovals Text läßt vermuten, daß der Chronist Zugang zu den Briefen des Petrus Martyr hatte.510 Zu nennen ist hier insbesondere der Hinweis darauf, daß die Abordnung des monsieur de Beurren in die Niederlande auf den Einfluß Chièvres zurückging, der einen Gegenspieler entfernen wollte. Mit esto dicen deutet Sandoval jedoch an, daß es sich dabei nur um eine Vermutung handelt. Die Behauptung, daß dem so gewesen sei, stellt in den mir bekannten Quellen nur Petrus Martyr auf. Aus seinen Briefen kann Sandoval ebenfalls von der Unzufriedenheit erfahren haben, die die Bevölkerung erfaßte, als der Infant das Land verlassen mußte. Allerdings vermengt er in dem letzten Satz der oben zitierten Textpassage einmal mehr verschiedene Quellen, indem er einige Forderungen der Cortes, die er kurz zuvor in voller Länge wiedergegeben hat,511 zum Ausdruck der Volksmeinung umformuliert. Abweichend von der Sandoval zugänglichen Primärquelle und dem Bericht Vitals nennt der Chronist Aranda als Aufenthaltsort Ferdinands für die Zeit, als Karl sich in Valladolid aufhielt.512 Die Aussagen der Zeitzeugen sind sehr viel glaubwürdiger, die bestätigen, daß Karl den Bruder in der angespannten Situation

509 An früherer Stelle (60) hatte Sandoval das Ergebnis der Verhandlungen Adrians mit Ferdinand von Aragon knapp zusammengefaßt; dort heißt es u.a.: [...] el Rey Católico asentó y concertó con Adriano que el príncipe viniese pacíficamente y que su hermano el infante don Fernando fuese luego a Flandes [...]. 510 Das Opus Epistolarum erschien erstmals 1530 im Druck, vier Jahre nach dem Tode des Humanisten. 511 Sandoval 128 Nr. 3. 512 Seit Mitte November 1517 hielt sich der König, von kurzen Besuchen in Tordesillas abgesehen, in Valladolid auf (Voyages II 22 [Itinerar]).

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an seinem Hof hielt.513 Insgesamt entspricht die Darstellung Sandovals wohl dem tatsächlichen Ablauf des Geschehens, so daß es gerechtfertigt ist, wenn sein Werk auch für diese Phase in der Geschichte Karls V. in den Quellenangaben späterer Historiker an hervorragender Stelle steht. Aus dem Vergleich der spanischen Quellen ergibt sich, daß ihre Verfasser mit Ausnahme Sandovals, der auf eine frühere Vereinbarung hinweist, die Entsendung Ferdinands in die Niederlande eher als die Abschiebung eines Rivalen erscheinen lassen, die 1518 angesichts möglicher bedrohlicher Entwicklungen von Karl und seinen burgundischen Räten beschlossen wurde, und zwar obwohl Petrus Martyr wie auch Santa Cruz die Verfügungen Ferdinands von Aragon kannten.514 Keiner der Autoren macht deutlich, daß Karl als Vormund seines Bruders handelte und ausführte, was Ferdinand von Aragon ihm mit den capitulaciones als Auftrag und Teil der mit dem Erbe verbundenen Verpflichtungen zur Vollstreckung hinterlassen hatte, wenngleich die Verfügungen des Großvaters in höchstem Maße der Interessenlage des Enkels entsprachen.

Zur Darstellung der „Rochade“, ihrer Begleitumstände und Folgen in biographischen Werken vom 19. Jahrhundert bis heute Die Gegenüberstellung der wichtigsten Primär- und Sekundärquellen zu dem gesamten Komplex der „Rochade“ zeigt, daß sie sowohl im Inhalt als auch in der Tendenz erheblich divergieren. Dennoch gehören sie seit dem 19. Jahrhundert zu dem Fundus, auf den die Historiker nicht verzichten können, wenn sie den Anfängen Karls V. und den frühen Jahren Ferdinands I. in Spanien nachgehen und/oder ihre besondere Aufmerksamkeit der kurzen Phase im Leben beider Brüder zuwenden – ihre gemeinsame Anwesenheit im „Mutterland“ währte nur etwa ein halbes Jahr –, die durch die Maßnahmen des älteren und das letztliche SichFügen des jüngeren geprägt war und die mit der Entsendung Ferdinands in die Niederlande endete. 513 Die knappen, sachlichen Angaben Vandenesses (Voyages II 58 f.) belegen ebenfalls, daß Ferdinand nach dem Zusammentreffen mit dem Bruder in Mojadoz Karl nach Valladolid begleitete und an seinem glanzvollen Einzug teilnahm. 514 Die niederländischen Quellen können unter diesem Aspekt vernachlässigt werden: Vital als dem Kammerdiener des Königs waren die capitulaciones mit Sicherheit nicht bekannt. Anzeichen einer Rivalität zwischen den Brüdern hat Vital, der seine Loyalität gegenüber dem König auch auf dessen Bruder ausdehnte, offensichtlich nie bemerkt. Auch Vandenesse war in die politischen Hintergründe nicht eingeweiht und kannte die alten Absprachen nicht. Er geht davon aus (Voyages II 59), daß der Beschluß, Ferdinand in die Niederlande zu senden, erst in Valladolid gefaßt wurde. L. Gachard wies in seiner Einleitung bereits darauf hin, daß man von Vandenesse keinen Aufschluß über politische „Geheimnisse“ erwarten dürfe (Voyages II, V).

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In der biographischen Literatur zu Karl V. läßt sich die Verwendung der Werke des Petrus Martyr, des Sandoval und des Laurent Vital seit Baumgartens „Geschichte Karls V.“ nachweisen, deren hier einschlägiger erster Band 1885 erschien.515 Für die erste – und für mehr als 170 Jahre einzige – vollständige Biographie Ferdinands I., das neunbändige Werk von F. B. v. Bucholtz,516 ist der Quellennachweis schwierig, da der Verfasser auf entsprechende Anmerkungen verzichtet. Die Hauptgrundlage der Arbeit bilden die Bestände des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, die Bucholtz als erster mit großer Gründlichkeit auswertete. In erster Linie auf die reichen Materialien, die nach der Öffnung der belgischen Archive zugänglich wurden, stützen sich die biographischen Studien Th. Justes zu Karl V. (1858). Die genannten Quellen werden in seinen Annotierungen nicht aufgeführt. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts fehlen sie jedoch nicht mehr in den Literaturverzeichnissen der Karlsbiographien (mit der Einschränkung, daß die Crónica des Santa Cruz erst nach ihrem Erstdruck 1920 herangezogen werden konnte). Die schon früh von den Biographen Karls benutzten Berichte von Diplomaten, vor allem die relazioni der venezianischen Gesandten und die Calendars bzw. Letters & Papers der englischen Agenten und Botschafter, wurden nach der Öffnung weiterer europäischer Archive durch eine unüberschaubare Fülle von Materialien ergänzt, deren Aufarbeitung bis heute nicht abgeschlossen ist. Für den hier behandelten kurzen Zeitabschnitt waren sie wenig aufschlußreich. Auch W. Bauers Edition der Familienkorrespondenz Ferdinands I.517 enthält nur zwei Stücke, die sich auf die „spanische Phase“ beziehen. Gerade dabei handelt es sich jedoch um Briefe Karls an Ferdinand, die bereits aus anderen Veröffentlichungen vorlagen.518 Spielmans und Thomas’ Entdeckung und sorgfältige Edition der zehn oben besprochenen Briefe Karls an Ferdinand aus dem Zeitraum zwischen dem 4. Dezember 1514 und dem 26. Oktober 1517 bedeutete daher eine außerordentliche Bereicherung. Wie oben gezeigt wurde, tragen sie erheblich zur Klärung dessen bei, was im Vorfeld der „Rochade“ geschah. Gerade zu diesem Punkt schweigen die vor 1984 bekannten Quellen oder sind voller Widersprüche. Dementsprechend unübersichtlich, uneinheitlich 515 Die Briefe des Petrus Martyr (1530) erschienen 1674 in einem Nachdruck in Amsterdam. Der Erstdruck von Sandovals Historia erfolgte 1603; Nachdrucke erschienen 1634 in Pamplona, 1675 in Madrid und – am weitesten verbreitet – 1681 in Antwerpen. Die Berichte des Laurent Vital publizierten Gachard und Piot ab 1874. Nach Brandi 1941, 19 war L. v. Ranke bereits aus Rom eine Handschrift der Crónica des Santa Cruz bekannt (vgl. auch F. de Laiglesia y Auser im Vorwort [1920] zu Santa Cruz, m. Hinweisen zur Geschichte der Handschrift). 516 Bucholtz 1831 (= Bd. 1). 517 Bauer 1912. 518 Beileidsbrief Karls an Ferdinand nach dem Tode Ferdinands von Aragon (15. Februar 1516): Bauer 1912, 4 f. Nr. 5 = Sandoval 77; Karl an Ferdinand (Middelburg, 7.9.1517): Bauer 1912, 6–9 Nr. 8, zuvor bereits (1841) veröffentlicht von Charles Weiss in seinen „Papiers d’Etat du Cardinal de Granvelle I“. Dort ist auch das oben benutzte Schreiben Karls an die Kardinäle Ximénes und Adrian von Utrecht vom 7.9.1517 veröffentlicht (wieder in CDCV I 75–78 Nr. XIII). Weiss’ Arbeit wurde bereits von Juste verwendet.

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oder vage sind die diesbezüglichen Aussagen der meisten Biographen Karls. Erst in den neuesten Arbeiten konnten die Forschungsergebnisse von Spielman und Thomas berücksichtigt werden. Dies gilt besonders für die Biographien Karls V. und Ferdinands I. aus der Feder Alfred Kohlers. Wie die erwähnten Briefe Aufschluß über den Vorlauf der Ereignisse von 1517/18 geben, so ermöglicht der Aufsatz von R. Fagel „Don Fernando in den Niederlanden“ (2003) einen Ausblick auf „die Jahre danach“ (1518–1521), denen sich die Forschung bisher wenig zugewandt hatte.

An dem Grundgerüst der Fakten, wie es sich schon aus den bekannten Quellen und aus Bucholtz’ Werk herausarbeiten läßt, haben die Erkenntnisse späterer Forschergenerationen allerdings nicht gerüttelt: (1.) Unter den zahlreichen Unwägbarkeiten, die Karl bei seinem Herrschaftsantritt in Spanien gewärtigen mußte, stellte die Haltung Ferdinands das größte Problem dar. Er konnte Karl gefährlich werden. Die Bedrohung ging weniger von seiner Person aus als von dem beträchtlichen Teil der kastilischen Aristokratie, der ihn zu seiner Galionsfigur erhoben hatte. Die Adligen versuchten, die Enttäuschung des vom Großvater übergangenen Infanten in Ressentiments gegenüber dem Bruder umzumünzen. Indem sie vorgaben, für seine Interessen einzutreten, hofften sie ihre eigenen Belange während seiner Minorität durchzusetzen, wenn sie dem jungen Regenten zur Seite stehen und auf seine Erhebung zum König hinwirken konnten. Sie durften dabei auf breite Unterstützung über die Standesgrenzen hinweg zählen, denn die Sympathien des spanischen Volkes waren auf der Seite des príncipe natural. (2.) Diejenigen, die den Infanten am stärksten beeinflussen und in ihrem Sinne lenken konnten, waren seine seit Kindertagen vertrauten Erzieher, Mitglieder einer der mächtigsten Adelsfamilien Kastiliens. Sie mußten daher aus ihren Ämtern entlassen und durch Personen ersetzt werden, an deren Loyalität Karl keinen Zweifel hegte. Die entsprechenden Anordnungen an die Kardinäle ergingen vor der Abreise des Königs aus Middelburg im erwähnten Brief vom 7. September 1517. (3.) Der von eigennützigen Motiven geleiteten Faktion des kastilischen Adels stand Kardinal Ximénes als tatkräftiges Haupt derjenigen gegenüber, die sich allein dem Dienst an der Krone Kastiliens und der Wahrung der Einheit des Landes verpflichtet fühlten. Ximénes’ Einsatz für Karl galt nicht dessen persönlichen Belangen, sondern dem legitimen Erben der Katholischen Könige. (4.) Eine erste Begegnung der Brüder fand am 12. November 1517 in Mojadoz statt. Wenige Tage später, am 18. November, leistete Ferdinand seinem Bruder, dem König, den Treueid. (5.) Im Frühjahr 1518 wurde mit der Abreise Ferdinands in die Niederlande der zweite Schritt der „Rochade“ vollzogen, den nahezu alle Historiker als die Realisierung einer alten Abmachung anerkennen. (6.) Ferdinand hielt sich von Mitte Juni 1518 bis 1521 in den Niederlanden auf, wo er der lenkenden Hand der Erzherzogin Margarete anvertraut war. Dann begab er sich

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über Worms, wo er mit dem Bruder zusammentraf, nach Linz, wo er am 26. Mai 1521 mit der sechzehnjährigen Anna von Böhmen getraut wurde. Neben diesen gesicherten Fakten gibt es Fragen, die weiterhin offen sind, und Gesichtspunkte, die erst in jüngster Zeit stärker in den Blickpunkt der Forschung gerückt sind: (1.) Über die Beziehung der Brüder zueinander in der ersten Phase der Kontaktaufnahmen und des gegenseitigen Kennenlernens läßt sich auch heute wenig Konkretes sagen. Die Briefe Ferdinands an Karl aus dieser Zeit, auf die der Bruder z.T. eingeht, sind nicht bekannt.519 Daß sich ein derart inniges Verhältnis, wie es Vital schilderte, in der kurzen Zeit entwickeln konnte, ist in Anbetracht des auf beiden Seiten zunächst vorhandenen Mißtrauens und der bekannten Zurückhaltung Karls sehr zu bezweifeln. In Ermangelung weiterer aussagekräftiger Quellen hat die Mehrzahl der Historiker vermutlich aus der späteren Haltung der Brüder zueinander Rückschlüsse auf das frühe Stadium ihrer Beziehung gezogen. Unstrittig ist, daß Ferdinand 1517/18 dem Bruder Gehorsam und Loyalität erwies. Ein Zeichen von Schwäche möchte ich darin nicht erkennen, sondern eher Klugheit und das Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Haus und dem Gesamterbe. Nach außen hin wahrte Ferdinand bis in Karls späte Regierungsjahre unbedingte Loyalität, obwohl schwere politische Konflikte das Verhältnis der Brüder auf das Äußerste belasteten.520 (2.) Eine unvoreingenommene, positive Beurteilung der niederländischen Jahre Ferdinands findet man erst in neuesten Arbeiten, obwohl dieser Lebensabschnitt zwischen seinem 15. und 18. Lebensjahr entscheidend zur Prägung des aufgeschlossenen, lernwilligen Prinzen beitrug und Ferdinand nach seiner Übersiedlung nach Wien dem geistigen und kulturellen Leben im Umkreis seines Hofes außerordentliche Impulse vermittelte, die nicht ohne Folgen für die kulturhistorische Entwicklung Österreichs blieben. Nachhal519 Ch. Thomas in der archivgeschichtlichen Einleitung zu Spielman/Thomas 1984, 3. 520 Auf die erste schwere Belastungsprobe, die das Einvernehmen der Brüder schon 1519 bedrohte, kann hier nur kurz verwiesen werden, denn der zeitliche Rahmen dieser Arbeit schließt ein ausführliches Eingehen auf die Umstände der Kaiserwahl aus: Margarete von Österreich versuchte, um die Krone dem Haus Habsburg zu erhalten, Ferdinand als dritten Kandidaten neben Karl und Franz I. von Frankreich in den Wahlkampf einzubeziehen. Zweifellos wurde sie dabei von der Befürchtung geleitet, daß die Kurfürsten dem „Spanier“ Karl ihre Stimmen verweigern könnten. Ehe daraus eine neue Rivalität der Brüder aufgebaut werden konnte, schritt Karl ein und verbot Margarete ausdrücklich, weitere Maßnahmen zu ergreifen, die Ferdinands Position fördern konnten. Das Hauptargument, das Karl in seinem langen Schreiben an Margarete und ihre niederländischen Räte (5.3.1519; Ausz. in: QSKV. 41–44 Nr. 4 nach RTA I 352–355; ebd. 43 Anm. 1 ein Auszug aus dem Brief Karls an Ferdinand in derselben Angelegenheit) anführt, richtet sich nicht gegen die Person des Bruders, sondern gegen eine Spaltung der Interessen der Häuser Trastámara, Österreich und Burgund, denn nichts konnte dem Franzosen gelegener sein. Zu Margaretes Plänen für eine Alternativkandidatur Ferdinands bei der Kaiserwahl s. Kohler 2003, 56–59.

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tig beeindruckt durch die Jahre am „Musenhof“ Margaretes, der ihm als Vorbild diente, wurde Ferdinand auf kulturellem Gebiet der wahre Erbe Maximilians und wuchs in dieser Hinsicht über seinen Großvater hinaus.521 (3.) In den wenigsten der hier untersuchten Biographien522 findet sich eine eindeutige Bewertung der 1517/18 durchgeführten Maßnahmen, insbesondere der „Rochade“. Einige Autoren können nicht umhin, wenn auch mit der unter Historikern gebotenen Zurückhaltung gegenüber dieser Frage, sich Gedanken darüber zu machen, „was geschehen wäre, wenn...“. Ein Vergleich der unterschiedlichen Biographien zu Karl V. und Ferdinand I. fördert Abweichungen von oder auch Ergänzungen zu den generell akzeptierten Fakten zutage. Oft sind es nur Details, mit denen ein Autor dennoch Akzente setzt. So deuten etliche Biographen an, daß durch ein früheres Auftreten Karls in Spanien der Aufruhr im Lande und die Umtriebe des „parti national“,523 der den Infanten zum König erheben wollte, zwar nicht völlig hätten verhindert werden, eine Ausweitung der Unruhen von Andalusien auf Aragon524 und die Agitation im Haushalt Ferdinands aber hätten vermieden werden können. E. Gossart weist auf die ausdrücklichen Warnungen hin, die Karl bereits im März 1516 in einem Brief des Consejo Real zugingen,525 sowie auf einen Brief des Petrus Martyr an Marliano, in dem er Karls Sache verlorengibt, wenn der herrscherlose Zustand des Landes nicht rasch beendet werde. In diesem Schreiben schloß der Humanist nicht aus, daß der Infant zur Gefahr werden könnte: Ni properaveritis ruent omnia, nescit Hispania parere non regibus, aut non ligitime regnaturis. Nauseam inducit magnanimis viris huius fratris, licet potentis & rei publicae amatoris, gubernatio. Est quippe grandis animo & ipse, ad aedificandum, literatosque viros fovendum natus magis quam ad imperandum, bellicis colloquiis & apparatibus gaudet.526

521 Die Bedeutung der Regierungsjahre Ferdinands für die Kultur- und Literaturgeschichte Österreichs hat bereits Strelka (1957, 106–152) gewürdigt. 522 Bucholtz 1831; Juste 1858; Gachard 1872; Baumgarten 1885; Gossart 1910; Walther 1911; Merriman 1962; Brandi 1964; Ferdinandy 1966; Sutter 1971; Fernández Álvarez 1977; Thomas 1988; Seibt 1990; Kohler 1999; Rodríguez-Salgado 2000; Schorn-Schütte 2000; Kohler 2003; Fagel 2003. 523 Gossart 1910, 45. 524 Walther 1911, 162 erwähnt (nach Sanuto), daß der Erzbischof von Zaragoza, der Regent von Aragon, in ein Komplott der kastilischen Granden verwickelt war, da er sich von der Regentschaft bzw. Königsherrschaft des unmündigen Infanten eine Stärkung seines eigenen Einflusses versprach. 525 Gossart 1910, 47. Es handelt sich um das Schreiben der Räte vom 4. März 1516, wiedergegeben bei Sandoval 77–79. Vgl. oben 427; 524 f. 526 Petrus Martyr, epist. 572 (p. 559 W., 15.7.1516).

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Daß Maximilian ganz ähnliche Befürchtungen hegte und daher auf Karls Abreise nach Spanien drängte,527 führt schon Bucholtz aus: „Der Kaiser erkannte es ebenfalls für dringend, daß derselbe [Karl] die Regierung anträte; er befürchtete auch, daß bei längerer Dauer eines Zwischenzustandes man sich des Namens des Don Ferdinand dennoch bedienen möchte, um die Nation wider Carl in Bewegung zu bringen.“528

Derjenige, auf dem während der Abwesenheit Karls von Spanien die größte Verantwortung ruhte, war Ximénes, der die Rechte Karls wahren sowie den Infanten schützen und dessen Verstrickung in Intrigen verhindern mußte. Die verschiedenen Versuche der Parteiungen, sich in Zeiten unsicherer Herrschaftsverhältnisse des Infanten zu bemächtigen,529 waren ihm in lebhafter Erinnerung. E. Gossart, B. Sutter und A. Kohler betonen, mit welcher Eile der Achtzigjährige reagierte, als dem Infanten die Nachricht von Tode des Großvaters überbracht und dessen Letzter Wille verkündet wurde:530 Sofort begab sich der Kardinal nach Guadalupe, dem Aufenthaltsort des Infanten, und verhinderte, daß Ferdinand, in dem Glauben, Regent zu sein, als erste Regierungshandlung den Consejo Real einberief. Von diesem Augenblick an ließ Ximénes den Infanten nicht mehr aus den Augen. Gossart hat der Korrespondenz des Kardinals sogar entnommen, daß Ferdinand sein Appartement nicht mehr verlassen durfte.531 Kohler gibt an, daß die Entsendung von Ayala, dem Sekretär des Kardinals, schon zu diesem frühen Zeitpunkt (im April 1516) dazu dienen sollte, bei Karl die Genehmigung zur Umbildung von Ferdinands Hofstaat zu erwirken.532 Sutter führt die Entlassung von Ferdinands Erziehern ebenfalls auf die Initiative des Kardinals zurück: „Der Kardinal übertrieb nicht, wenn er klagte, wie beschwerlich es für ihn sei, den Infanten zu behüten, und wenn er nach Brüssel schrieb, es möchte der Hofmeister Don Ferdinands durch zwei Herren, die keine Spanier seien, ersetzt und Adrian von Utrecht als Lehrer bestellt werden, damit die Dinge keinen gefährlichen Lauf nehmen könnten.“533

Karl war also über die Situation, die sich in Ferdinands Haushalt entwickelt hatte, frühzeitig informiert. Sein Entschluß einzuschreiten, ist – seinen eigenen Worten

527 Vgl. oben 346. 528 Bucholtz 1831, 75. 529 Vgl. oben 504–510. 530 Gossart 1910, 47; Sutter 1971, 23*; Kohler 2003. 50. 531 Gossart 1910, 47 (nach einer 1876 erstmals publizierten Instruktion des Kardinals an Diego Lopez de Ayala, der nach Flandern entsandt war, vom April 1516). 532 Kohler, Ferdinand I., 50. 533 Sutter 1971, 25* (ohne Angabe des Zeitpunkts und der Quelle).

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nach – erst durch kurz vor seinem Aufbruch nach Spanien empfangene Nachrichten ausgelöst worden: Agora por diversas cartas que con las dos postas postreras reçebí he sido ynformado que aquello pasa adelante muy desordenadamente, y que las personas que goviernan vuestra casa son las mas culpadas [...]534 H. Baumgarten räumt ein, daß Ximénes die Lage für so gefährlich hielt, daß er Ferdinand ständig bewachen ließ, sieht aber weder in dem Kardinal noch in Karl selbst die Urheber der „so auffallenden Maßregel“ (der Entfernung der Erzieher), die der preußische Historiker nicht billigt: Er vermutet, daß sie von den flandrischen Räten Karls ausging, die „dem Beginn ihrer Thätigkeit in Spanien mit Sorge entgegen sahen“. Wenn Baumgarten von „flandrischen Räten“ spricht, zielt dies in erster Linie auf Chièvres. Die ausgesprochen negative Beurteilung des frankophilen premier chambellan durch Baumgarten ist bereits in anderem Zusammenhang hervorgehoben worden.535 Selbst wenn andere Biographen keine weiteren Informationen über die brisante Lage beisteuern, so betonen sie insgesamt die Gefahr, die von der Anhängerschaft des Infanten ausging. Die Order zur Neubesetzung der Ämter in Ferdinands Haushalt erging also nicht aus einem plötzlichen Entschluß seines Vormunds und Bruders heraus und keineswegs erst, nachdem der König bereits spanischen Boden betreten hatte. Diese Auffassung vertritt in den hier untersuchten biographischen Arbeiten nur Rodríguez-Salgado: „Nach dem Tod Ferdinands von Aragon beklagte sich Karl in einem Schreiben an seinen Bruder über den Einfluß seiner mißgünstigen Berater. In Spanien eingetroffen, ließ er sogleich unerwünschte Personen aus dem Umfeld Ferdinands entfernen, einige davon, so wird berichtet, durften sich von dem Prinzen, den sie erzogen und behütet hatten, nicht einmal verabschieden, auch wenn dies als grausam und demütigend kritisiert wurde. Statt dessen ernannte Karl nun Staatsdiener, die ihm selbst treu ergeben waren.“536 Ein derartiges Vorgehen wäre nicht nur höchst unklug gewesen in Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden ersten Begegnung der Brüder, sondern auch unvorsichtig im Hinblick auf mögliche Reaktionen aus der Bevölkerung: Karl hätte mit einer Handlungsweise, wie sie Rodríguez-Salgado beschreibt, bei seiner Ankunft einen Sturm der Entrüstung ausgelöst und für seine entrée in seine neuen Länder die denkbar ungünstigsten Bedingungen geschaffen. Da die Neuordnung des Haushalts jedoch noch vor Karls Ankunft

534 Spielman/Thomas 1984, 30 Nr. 9 (Karl an Ferdinand, 7.9.1517). Spielman (ebd. 31) betont – in Anlehnung an W. Bauer – ebenfalls die Bedeutung der Worte dos postas postreras in diesem Kontext. Danach hat Ayala im Frühjahr 1516 Chièvres über gegen Karl gerichtete Bestrebungen unterrichtet und weitere Mahnungen des Kardinals wegen ab Herbst 1516 befürchteter Unruhen übermittelt. Karl hat bestätigt, daß ihn Warnungen – ob von Ximénes oder von anderer Seite – erreichten. Eine Äußerung Karls gegenüber dem Bruder in dieser Angelegenheit ist nicht bekannt. 535 Baumgarten 1885, 78. Vgl. oben 227–229. 536 Rodríguez-Salgado 2000, 55 f.

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im September vollzogen wurde, hatte sich die erste Erregung gelegt, als sich Karl und Ferdinand im November gegenübertraten und wenige Tage später gemeinsam in Valladolid einzogen. Möglicherweise ist das wochenlange Herumziehen des Königs und seines Gefolges in abgelegenen Gegenden Spaniens teilweise als Verzögerungstaktik anzusehen, mit der Konfrontationen vermieden werden sollten.537 Mit seiner recht ausführlichen Behandlung von Ferdinands Aufbegehren – wie es u.a. auch Sandoval schildert – stellt Baumgarten unter den Biographen eine Ausnahme dar. Er bringt dabei Kritik an Ximénes’ hartem Durchgreifen zum Ausdruck: „Jiménes mußte gegen den Prinzen seine ganze harte Autorität, in Aranda ernste militärische Maßregeln aufbieten, um die Weisung Karls zum Vollzug zu bringen. Er verschärfte sie unnötig, indem er auch Ferdinands Spielkameraden entfernte.“538 Baumgarten kannte auch den Brief des Petrus Martyr, in dem der Humanist schildert, wie schwer Ferdinand die Trennung von dem gleichaltrigen Gefährten fiel, daß er ihn nur mit Tränen in den Augen davonziehen sah. Mit ihm gemeinsam war er unterrichtet worden, hatte sich mit ihm im ritterlichen Sport gemessen und auch fröhlich gespielt: Coetaneum puerum Altemirae comitem, Episcopi nepotem, fuit Infanti durissimum amittere, non sine fletu discedentem inspexit. est is mirae indolis puer, corpore agillimus, ingenio ad quamcumque rem spectantibus gratam eleganti & prono. cum illo erant Infantis exercitia universa gratiora, sive pertractandis armis, sive seriis, sive iocosis ludis intenderetur, ad literarum studia suis temporibus divertebant invicem, comitis patruo Episcopo dirigente, amborum eruditore.539 Offenbar hat Baumgarten aber übersehen, daß es sich bei dem „Spielkameraden“, dem Grafen Altamira, um den Neffen des Bischofs von Astorga, Ferdinands Erzieher Osorio, handelte, um ein Mitglied der Familie Guzmán.540 Die Bezeichnung „Spielkamerad“ stellt eine Verharmlosung dar: Ferdinand, Altamira und vermutlich auch die Neffen des Pedro de Guzmán waren coetanei, also etwa vierzehn Jahre alt und damit in der Entwicklungsphase, in der sich das Aufbegehren gegen Autoritäten regt und sich u.U. nicht nur in Worten artikuliert, sondern nach Taten drängt. Karl hatte im gleichen Alter gegen Margarete als Vormund rebelliert. Das lag erst gut drei Jahre zurück. Jetzt stand er auf der anderen 537 Ähnlich schon Walther 1911, 163. 538 Baumgarten 1885, 80 (unter Verwendung der Anales breves des L. Galindez Carvajal). Die entsprechende Passage aus Sandoval (118) weist Baumgarten als leicht veränderte Abschrift zurück. 539 Petrus Martyr, epist. 600 (p. 571 W., 25.9.1517). 540 Sutter 1971, 18* erwähnt ebenfalls den Grafen Altamira als „Spielgefährten“ Ferdinands, weist aber auf dessen verwandtschaftliche Beziehung zu Osorio hin. Aus den Chronisten geht hervor, daß sich unter den jungen Adligen, die mit Ferdinand erzogen wurden, mehrere Mitglieder der Familie Guzmán befanden, die 1517 alle vom Hof verwiesen wurden. Vgl. Santa Cruz 155: En este tiempo, que sería casi en principio de Septiembre, el Rey, nuestro señor, desde Flandes escribió al cardenal y Deán de Lovaina, sus Gobernadores, para que quitasen de la compañía del Infante al Comendador mayor de Calatrava Pero Núñez de Guzmán, su ayo, y ciertos sobrinos suyos, hijos de Ramiro Núñez [...]. Fast wortgleich Sandoval 118.

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Seite, war selbst Vormund und mußte Entscheidungen treffen, die auf Unverständnis und Widerstand bei dem jüngeren Bruder stießen. Als Karl sich 1514 vehement gegen Margaretes Verletzung der Ordensgesetze zur Wehr setzte, standen ihm keine gleichaltrigen Freunde, sondern die Ordensritter zur Seite. Aus Ferdinand aber und seinen „Spielkameraden“ hätte leicht die verschworene Gemeinschaft einer „Kronprinzenpartei“ mit engster Verbindung zum kastilischen Adel werden können. 1517 ging es um mehr als um die Verhaftung eines Ordensritters: Die Kronen Spaniens standen auf dem Spiel. Wenn Karl den Einfluß der Guzmáns ausschalten wollte, mußte er auch deren jüngere Generation aus der Umgebung seines Bruders entfernen.

Auf die Periode, die zwischen den tief greifenden Veränderungen am Hofe Ferdinands und der Ausreise des Infanten lag, gehen die meisten Biographen nur kurz ein. Grund dafür mag die dürftige Quellenlage sein: Primärquellen sind die knappen Sätze Karls, Petrus Martyr und der überschwengliche Bericht des Vital.541 Dem war nicht viel hinzuzufügen, wenn man von der Übernahme der Schilderungen des prachtvollen burgundischen Einzugs und der Festlichkeiten in Valladolid absieht. Auffällig ist, daß Bucholtz weder die Begegnung der Brüder in Mojadoz noch die Teilnahme Ferdinands an der Vereidigung seines Bruders erwähnt. Gerade das erste Zusammentreffen, für Karl und Ferdinand ein gewiß bedeutsamer, mit Spannung erwarteter Augenblick, wird auch in anderen Biographien kaum berücksichtigt. Gelegentlich, so bei Gossart,542 entsteht sogar der Eindruck, als seien sich die Brüder in Valladolid erstmals begegnet. K. Brandi faßt beide Ereignisse, die Begegnung in Mojadoz und den Einzug in Valladolid, kurz zusammen: „Auf das erste Erblicken der eigenen Mutter folgte für Karl das erste Zusammensein mit dem noch nie gesehenen, nun schon fast fünfzehnjährigen Bruder. Dieser stieg vom Pferd, um den König zu begrüßen. Karl gab sich, wie schon brieflich, alle Mühe, ihn seiner brüderlichen Gesinnung zu versichern. Daß Ferdinand bald danach vor Tisch Karl das Handtuch hielt, war keine Demütigung, sondern höfisch gesehen, die Ausübung eines hohen Vorrechts. Er nahm auch in gebührender Ehre teil an dem prunkvollen Einzuge in Valladolid, bei dem sich für die Spanier die Augenweide der Tage Philipps des Schönen wiederholte.“543 Bemerkenswert ist, daß Brandi in seiner knappen Darstellung ausdrücklich auf den Ehrendienst eingeht, den Ferdinand dem König erwies, und dessen Bedeutung im Rahmen des höfischen Zeremoniells klarstellt. Ihm waren die Mißdeutungen der Szene durch Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Sicherheit bekannt. Als Brandi an späterer Stelle die Eidesleistungen und die feierliche Huldigung vom 7. Februar 1518 anspricht,

541 Für die spanischen Chronisten haben die Verhandlungen der Cortes mit Karl, die in diesen Zeitraum fielen, Vorrang vor weniger zukunftsträchtigen Tagesereignissen. 542 1910, 59. 543 Brandi 1964, 67.

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erwähnt er nicht, daß Ferdinand dem König, noch dazu als erster, seine Loyalität beeidete. Ähnlich knapp wie Brandi äußern sich M. Fernández Álvarez und B. Sutter zur Begegnung der Brüder und den Ereignissen in Valladolid. Beide erwähnen aber zumindest, daß Ferdinand kniend seinem Bruder das „homagium“ erwies.544 Auf A. Kohlers Darstellung des Treffens der Brüder und Ferdinands „unterwürfiger“ Haltung bei dem gemeinsamen Souper wurde schon früher eingegangen und darauf verwiesen, daß Ferdinands Biograph hier der Version Bauers von Vitals Bericht folgt.545 Die Huldigung durch Ferdinand wird ähnlich kurz gestreift wie bei den gerade genannten Historikern. Aus dem Rahmen fällt die Behandlung der beiden Episoden bei Baumgarten. Zunächst sei hier daher seine Schilderung der Begegnung und des Soupers zitiert: „Am 12. brach der König nach Mojados auf, [...] wo er jetzt zum erstenmal seinen Bruder Ferdinand sah. Es war gewiß ein eigenes Zusammentreffen dieser beiden jungen Herren, welche bisher einander wie feindliche Brüder gegenüberstanden, von denen der eine die Macht des anderen erst kürzlich so bitter empfunden hatte. Ferdinand bewies die größte Untertänigkeit. Er stieg von seinem Pferde, da er Karl [...] erreichte. Ja noch mehr. Karl ließ ihn mit sich in demselben Hause wohnen. Sie speisten auch zusammen. «Aber», schreibt Vital, «wenn man dem Könige Waschwasser bot, stand er mit entblößtem Haupte dabei und hielt das Handtuch.» Wenn das wirklich so geschah, so sollte der junge vierzehnjährige Prinz wohl recht gründlich gedemütigt werden.“546 Wo andere Biographen sachlich die wenigen bekannten Tatsachen referieren, bringt Baumgarten mit seiner Wortwahl seine Vorbehalte gegenüber Karl zum Ausdruck und nimmt damit gleichzeitig Partei für Ferdinand.547 Er setzt deutlich emotionale Akzente, wenn er von „feindlichen Brüdern“, von „Untertänigkeit“ und „demütigen“ spricht. Hier von Feindschaft zu sprechen, halte ich für verfehlt. Ferdinand war über die Maßnahmen des Bruders empört, ja aufs Höchste erregt gewesen. Karl hatte ihn als Vormund – wenn auch nicht uneigennützig – in seine Grenzen verwiesen, ihm aber mehrfach bekundet, daß er sich dafür einsetzen werde, daß auch dem Zweitgeborenen der gebührende Rang zuteil werde. Rivalität zwischen den Brüdern darf somit eingeräumt werden, Feindschaft jedoch nicht. Zeichen von Untertänigkeit in Ferdinands Verhalten bei der ersten Begegnung mit dem Bruder, dem König, sehen zu wollen, zeugt ebenso wie die Fehlinterpretation des Dienstes, den der Infant dem König erwies, der auch sein Bruder war, entweder von der Unkenntnis mittelalterlicher Rituale, Ehrbezeugungen und Privilegien oder von deren ganz bewußter Ablehnung, die sich in entstellenden Formulierungen ausdrückt. Letzteres möchte ich hier annehmen. Brandi hat die Interpretation seines Lehrers Baumgarten und damit auch die

544 Brandi 1964, 72; Fernández Álvarez 1977, 26; Sutter 1971, 27* f. 545 Vgl. oben 536–538. 546 Baumgarten 1885, 84. 547 Baumgarten fehlte es offenbar an Verständnis für die Motive, die Karl leiteten, und die Zeitgebundenheit seines Handelns. Vgl. Brandi 1941, 27: „Leider hat Baumgarten zu seinem Helden kein inneres Verhältnis gewonnen [...].“

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W. Bauers mit wenigen Worten zurückgewiesen und betont, daß „Baumgarten von der spanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts“ herkam, also kein Mediävist war.548

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in den meisten Biographien das Ereignis von nachhaltigster Wirkung, die Entsendung Ferdinands in die Niederlande, als Umsetzung einer alten Abmachung erscheint.549 In der Darstellung ergibt sich jedoch eine erhebliche Bandbreite. K. Brandi und R. Merriman erwähnen den Austausch der Brüder nur mit wenigen Worten als den Vollzug eines seit langem bestehenden agreement. Auch A. Walther beschränkt sich darauf zu konstatieren, daß es sich um die Erfüllung der seit 1509 bestehenden Verträge handelt.550 Andere nehmen ausdrücklich Bezug auf den Vertrag von Blois, den Maximilian I. und Ferdinand von Aragon 1509 geschlossen hatten. Die ausführlichste Wiedergabe des Vertragsinhalts findet sich bei F. v. Bucholtz im chronologischen Kontext der Ereignisse des Jahres 1509; daher kann sich Ferdinands Biograph, wenn es sich 1518 um die Durchführung der Vereinbarungen handelt, mit einem kurzen Verweis begnügen. Von den Umständen allerdings, unter denen Ferdinand davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß er in Kürze die Heimat verlassen sollte, liefert Bucholtz eine Version, die wohl kaum dem tatsächlichen Geschehen entsprechen kann: „Carl sprach sodann [auf dem Wege nach Aranda, nach einem Besuch in Tordesillas; A.S.] seinen Bruder Ferdinand zu Aranda del Duero und bewog ihn, mit dem Herrn von Vere nach Flandern zu gehen.“551 Da Bucholtz weder das Treffen der Brüder in Mojadoz noch den gemeinsamen Aufenthalt in Valladolid zuvor erwähnt hat, müßten Karl und Ferdinand sich also in Aranda erstmals 548 1941, 26. Die Eidesleistung Ferdinands nimmt in Baumgartens Werk weniger Raum ein als seine Bemerkung zum Zustand spanischer Straßen (1885, 93): „Der König allein begab sich zu Pferde nach dem großartigen Kloster San Pablo, Prälaten und Granden begleiteten ihn trotz dem tiefen Schmutz, welcher die Straßen bedeckte, zu Fuße. Kardinal Adrian las eine feierliche Messe, dann, nachdem Karl neben Adrian vor dem Altare Platz genommen hatte, schwuren zuerst Ferdinand und Eleonore [...]“. Baumgarten übernimmt diese Zustandsbeschreibung von Laurent Vital; eine ähnliche Äußerung gibt er schon an früherer Stelle (86) im Zusammenhang mit dem Einzug Karls in Valladolid wieder. Was dem niederländischen Kammerdiener und aufmerksamen Beobachter fremdländischer Verhältnisse auf seiner ersten und einzigen Auslandreise erwähnenswert erschien, ist zwar für den heutigen Leser höchst informativ, z.T. auch erheiternd, verdient im Rahmen einer Kaiserbiographie jedoch kaum Erwähnung. 549 Vgl. oben 557, Nr. 5. 550 Brandi 1964, 67; Merriman 1962, 18; Walther 1911, 163. Im Rahmen des Kapitels „Die Heilige Liga“ ist Walther auf die Verhandlungen zwischen den beiden Herrschern eingegangen. Später (100 Anm. 2) führt er ein undatiertes spanisches Memoriale an, in dem vermerkt ist, daß Ferdinand von Aragon die Vereinbarungen über den Austausch seiner Enkel feierlich beeidet hat. Nach den Angaben im Kontext müßte das zwischen Oktober 1510 und April 1511 geschehen sein. 551 Bucholtz 1831, 58 f. und 77 (Zitat: 77).

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gegenübergestanden haben. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, so müßte man Karl höchst unkluges und unvorsichtiges Vorgehen anlasten, denn mit heftigen Reaktionen und Widerstand Ferdinands wäre durchaus zu rechnen gewesen, wenn er überfallartig mit dem Beschluß des nie zuvor gesehenen Vormunds über seine Zukunft konfrontiert worden wäre. Nach Bucholtz begehrte Ferdinand nicht auf – der Bruder bewog ihn, Ferdinand gehorchte widerspruchslos. So kann es nicht gewesen sein. Ähnlich wie Bucholtz verfährt Kohler, wenn er zunächst ausführlich auf das Zustandekommen und die Klauseln des Vertrags von Blois im Rahmen der chronologischen Darstellung eingeht, um an späterer Stelle552 diese Abmachungen nur noch einmal in Erinnerung zu rufen. Da in dieser jüngsten Biographie Ferdinands im Gegensatz zu der frühesten die Stationen Mojadoz und Valladolid nicht übergangen, sondern die dortigen Ereignisse hinreichend geschildert werden, darf man annehmen, daß Kohler voraussetzt, daß Ferdinand rechtzeitig von seiner bevorstehenden Abreise informiert wurde. Deren Begleitumstände, einschließlich der Neubesetzung der Hofstaatsämter vorwiegend mit Niederländern, entnimmt Kohler dem Reisebericht Vitals. In krassem Gegensatz zu den beiden Biographien, die als Ausgangspunkt für die „Rochade“ den Vertrag von Blois deutlich herausstellen, erscheint der Vorgang in zwei Lexikonartikeln als spontane Maßnahme Karls, auf einen einsamen Beschluß des Vormunds zurückgehend. So heißt es bei Gachard: „A Aranda de Duero il se sépare de son frère, qu’il avait résolu d’envoyer aux Pays-Bas et qui va s’embarquer à Santander.“553 In Ch. Thomas’ knappem Artikel zu Ferdinand I. wiederum hätte der Einschub eines erläuternden Satzes genügt, um Ferdinand nicht nur als das Opfer der ehrgeizigen Pläne seines älteren Bruders erscheinen zu lassen: „Der Tod Ferdinands V. 1516 stellte die Weichen für die Zukunft des Enkels und führte ihn vom Südwesten Europas an die östliche Grenze des römischen Reiches. Denn das Testament des Aragonesen enthielt keine spezielle Regelung für die Stellung des noch nicht vierzehnjährigen Ferdinand. Dies erleichterte dem älteren Karl die Durchführung seiner Pläne als einzig Erbberechtigtem. Als die Brüder einander am 12. November 1517 zum ersten Mal sahen, hatte Karl bereits den Entschluß gefaßt, Ferdinand aus Spanien zu entfernen, und er hatte auch schon dessen Hofstaat aufgelöst. 1518 mußte Ferdinand sein Heimatland verlassen und fand in seiner Tante Margarete einen neuen Mentor.“554 Zwischen den beiden Extremen der Darstellungsweise finden sich weitere Varianten. So greift Th. Juste die Erklärung für die Entsendung Ferdinands auf, die schon Laurent Vital gutgläubig übernommen hat:555 Karl hatte demnach vor Antritt seiner Spanienreise den Generalständen angekündigt, in Kürze seinen Bruder Ferdinand in die Niederlande zu schicken. Einen Beleg für dieses frühzeitig abgegebene Versprechen liefert Juste nicht. 552 Kohler 2003, 39 f. und 53. 553 Gachard 1872, 531. Angesichts des Umfanges von Gachards Abhandlung ist die Kürze, mit der dieser entscheidende Punkt abgehandelt wird, zumindest bemerkenswert. 554 Thomas 1988, 102. 555 Juste 1858, 96. Zu Vital vgl. oben 548.

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Falls es tatsächlich geleistet wurde, könnte man es als Beruhigungsmaßnahme einstufen, da zu diesem Zeitpunkt in der Frage der Regentschaft nur eine vorläufige Regelung getroffen worden war. Es existiert allerdings in mehreren Exemplaren ein Rundschreiben Karls an die Hauptorte der Niederlande vom 10. Mai 1518, verfaßt, nachdem er am Vortag seinen Einzug in Zaragoza gehalten hatte. Ferdinand befand sich zu diesem Zeitpunkt in Santander, wo er auf das Auslaufen der Flotte warten mußte. Karl teilt den Niederländern zunächst mit, daß er nun als König von Kastilien vereidigt ist, daß sein Aufenthalt in Spanien aber länger dauern wird als angenommen. Zum Zeichen dafür, daß er mit dem Herzen stets den Niederlanden verbunden ist, schickt er seinen geliebten Bruder: [...] Et combien que nostre personne vous soit eslongniée, néantmoins nostre cœur et bon vouloir vous demeure prochain, vous ayant continuellement en nostre bonne souvenance et recommandation. Et pour tant plus le démonstrer envoyons par-delà nostre très-amé frère, don Fernande, lequel est passé six jours au port de mer attendant vent propice pour partir.556 E. Gossart weist zunächst sehr eindringlich auf die Gefahren hin, die Karls Herrschaft bedrohten, um dann die Erklärung für Ferdinands Ausreise zu referieren, die sich schon bei Sandoval findet.557 Aus Gossarts Wortwahl und dem kommentierenden Nachsatz geht hervor, daß er den hier benutzten Vorwand durchschaut hat: „En partant de Valladolid, le 22 mars 1518, pour aller tenir les cortès d’Aragon à Saragosse, Charles avait emmené Ferdinand avec lui; le mois suivant, il l’envoyait dans les Pays-Bas sous prétexte que sa présence y était nécessaire, mais on pouvait croire qu’il voulait ainsi écarter un rival.“

Ein Beleg dafür, daß 1518 die Entsendung Ferdinands tatsächlich mit dem Argument begründet wurde, daß die Anwesenheit des Infanten in den Niederlanden erforderlich sei, weil er dort im Namen Karls die Regierung übernehmen mußte, findet sich in der Historia de Carlos V Sepúlvedas,558 aus der A. Alvar Ezquerra zitiert: Había dispuesto Carlos que nada más llegar a España, su hermano Fernando se trasladara a los Paises Bajos, tanto para que gobernase en su nombre aquellos estados, único motivo para esta resolución que se alegaba ante el pueblo, como evitar que se originasen sectarismos y sublevaciones, según suele suceder en los reinos por la presencia de un hermano [...]559

Bedeutsam ist an dieser Stelle der Wortlaut: Nur hier ist mit para que gobernase en su nombre eine mögliche Übertragung der Regentschaft an Ferdinand angedeutet, ein Plan, der in Karls Schreiben an die Niederländer nicht auftaucht. Da Sepúl556 Juste 1858, 100 Anm. 1 (Auszug aus dem Exemplar in Ypern). 557 Gossart 1910, 47. 82 (Zit.); vgl. oben 554. 558 Der Humanist Sepúlveda war ab 1536 kaiserlicher Coronista, später Lehrer des Prinzen Philipp (II.); s. Brandi 1941, 17. 559 Sepúlveda, Historia II, 5, zit. bei Alvar Ezquerra 2002, 108.

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veda diese Zeilen jedoch erst schrieb, als Karls Beschluß etwa 20 Jahre zurücklag, waren daraus keine Konsequenzen mehr zu erwarten. Entlarvend ist in diesem Satz der deutliche Hinweis darauf, daß nur diese Begründung der Maßnahme des neuen Königs dem Volk einleuchten und damit Erhebungen verhindern konnte – ein eklatantes Beispiel dafür, daß auch im 16. Jahrhundert jedes Mittel recht war, um der Bevölkerung unter Ausnutzung von deren Uninformiertheit unpopuläre Schritte schmackhaft zu machen. Welcher einfache Spanier wußte, daß Karl zur gleichen Zeit Anstalten machte, Margarete schrittweise in ihre alten Rechte als Regentin wieder einzusetzen, was zunächst durch das Edikt vom 24. Juli 1518 bestätigt wurde, bevor Karl die erneute Übertragung des Amtes an die Erzherzogin durch lettres patentes am 1. Juli 1519 beurkundete?560 Wer machte sich Gedanken darüber, ob ein fünfzehnjähriger Prinz, in Regierungsgeschäften völlig unerfahren, weder mit den dortigen politischen Verhältnissen, Sitten und Gesetzen vertraut noch der Landessprachen kundig, geeignet war, stellvertretend für den Bruder die Herrschaft über die Niederlande auszuüben? Wenn auch die spanische Bevölkerung, trotz bereits umlaufender Gerüchte, erst spät erfuhr, wie der neue König über den im Lande so beliebten Infanten zu verfügen beabsichtigte, so waren die Kastilier, die Karl am burgundischen Hof berieten, lange zuvor von dem Plan unterrichtet, wie aus einem hier bisher nicht behandelten Abschnitt des Memorandums des Manrique de Lara an Kardinal Ximénes vom 8. März 1516 hervorgeht.561 Kohler zitiert erhellende Passagen daraus im Zusammenhang mit den Reaktionen und Aktivitäten, die der Tod Ferdinands von Aragon in Brüssel auslöste.562 Aus dem Schreiben des Bischofs von Badajoz wird mehr als deutlich, welches Gewicht in Brüssel der „Rochade“ beigemessen wurde, die so bald wie möglich durchgeführt werden sollte, solange nämlich der Infant563 noch in so jungem Alter war, daß dem Prinzen [Karl] durch ihn in Spanien keine Ungelegenheiten entstehen konnten. Zeitweilig hatte man in Brüssel erwogen, auch Katharina in die Niederlande zu bringen, von diesem Vorhaben aber Abstand genommen, weil es für ihre Anwesenheit in den Niederlanden keine vernünftigen Gründe gab. Stattdessen sollte Eleonore ihren Bruder nach Spanien begleiten, wo sie sich um Katharinas standesgemäße Erziehung und die Einrichtung eines eigenen Hofes für die Infantin kümmern sollte. Bis zu ihrer Verheiratung sollte die jüngste der Schwestern in Spanien bleiben. Was mit Ferdi560 S. dazu oben 427–432. 561 Zum Memorandum s. oben 179. 220–222. 562 Kohler 1999, 59. 563 Die in QSKV. 32–41 publizierte Übersetzung bezeichnet Ferdinand mehrfach als das „Kind“ und greift somit auf die Grundbedeutung des spanischen infante zurück. Damit ist genau das betont, was Manrique als Argument für einen baldigen Austausch der Brüder anführt: Der Infant ist noch ein Kind.

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nand nach seiner Übersiedlung nach Flandern zu geschehen hatte, darüber sollte der Kardinal zu gegebener Zeit befinden.564 Wie sehr man sich in Brüssel bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit Detailfragen befaßte, die die Ausstattung des Infanten aus dem großen Erbe betrafen und Teilungsvorschläge dazu entwarf, verschweigt der Bischof nicht: Es ist übrigens in Ordnung – da Gott dem Prinzen eine so große Erbschaft zur Aufteilung gegeben hat und ihm auch noch eine andere bereithält –, daß er sie mit seinem Bruder teilt, um so mehr als der Besitz von Österreich, Pfirt und Tirol sich ebenso teilen läßt, wie der des Hauses Burgund.565

Zwar hatten sich schon die Großväter vor Jahren, mehrfach im Zusammenhang mit in Aussicht genommenen Heiratsprojekten, Gedanken darüber gemacht, wie das Erbe einmal zwischen den Enkeln aufgeteilt werden sollte, und auch mit seiner Tochter hatte Maximilian diese Fragen erörtert; wenn aber ein spanischer Exulant sich zu internen Belangen der Häuser äußert, so wirft dies ein ganz besonderes Licht auf die ungewöhnliche Vertrauensstellung, die Karls Berater genossen. Manrique erscheint hier als eine Art Vordenker, der Pläne entwirft, die Karl später tatsächlich in Angriff nahm oder zumindest in Erwägung zog. Indem Kohler auf diese Passage des Memorandums verweist, zeigt er auf, in welchem Maße der unerfahrene junge König in seinen Entscheidungen nicht nur, wie immer betont wird, von seinem burgundischen conseil, sondern auch von seinen kastilischen Beratern gelenkt wurde. Ganz anders hat dies lange zuvor H. Baumgarten gesehen, obwohl auch er das Memorandum kannte. Für den preußischen Historiker am Ende des 19. Jahrhunderts ergibt sich mit seinen Ausführungen zur „Rochade“ eine weitere Gelegenheit, eine von ihm mißbilligte Vorgehensweise den flandrischen Räten anzulasten, obgleich er an früherer Stelle seines Werkes über die Abmachungen berichtet, die Adrian von Utrecht mit Ferdinand von Aragon getroffen hat.566 Als Baumgarten aber in seiner Biographie Karls V. an dem Punkt angekommen ist, an dem er auf die Umsetzung der capitulaciones eingehen muß, werden diese Abkommen nicht mehr erwähnt: „Wir haben früher gehört, wie Karls Räte gegen Ferdinand vorgehen zu müssen glaubten, um jede Gefahr zu beseitigen, welche aus der Vorliebe der Spanier für diesen entstehen könnte. Aus demselben Grunde schien es ihnen zweckmäßig, Ferdinand überhaupt aus Spanien zu entfernen. Da der Hof auf der Reise von Valladolid nach Zaragoza in Aranda angekommen war, wurde Ferdinand nach Santander expediert, von wo er zu Schiffe nach den Niederlanden gehen sollte.“

564 Die Tatsache, daß Karl zu diesem Zeitpunkt bereits Vormund seines Bruders war und über dessen Zukunft zu entscheiden hatte, läßt der Bischof hier außer acht. 565 QSKV. 37. Es muß darauf hingewiesen werden, daß der Bischof in einem Punkt schlecht informiert war: Der burgundische Besitz durfte nicht geteilt werden. 566 Baumgarten 1885, 135 (dort auch das folgende Zitat) und 27.

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Gegen wen sich Baumgarten hier im Besonderen richtet, geht schon daraus hervor, daß er Petrus Martyr als Kronzeugen bemüht, dessen Abneigung gegen die burgundischen Ratgeber Karls Biograph teilt. Er zitiert den Humanisten, der in diesem Falle zwar keinen Namen nennt, der aber in zahlreichen anderen Briefen aus seinem Haß auf den magnus Caper wahrlich kein Hehl macht:567 Die Lenker des guten Königs ersinnen dieses, damit ihren Plänen kein Hindernis mehr im Wege stehe.568 Abschließend zu diesem Punkt sollen zwei spanische Biographen Karls mit ihrer Sicht der „Rochade“ zu Worte kommen. Erfreulich sachlich und fundiert sind die Ausführungen von M. Fernández Álvarez,569 der von einer klugen Maßnahme Karls angesichts der in Spanien gegebenen Umstände spricht. Er vermutet, daß die Schritte, die Karl hinsichtlich der Zukunft seines Bruders veranlaßte, auf Anraten Maximilians erfolgten. Damit hat er gewiß nicht Unrecht: Die ursprünglichen Abmachungen waren unter Beteiligung und mit Billigung des Kaisers zustande gekommen, und Maximilian wird mit Sicherheit dem unerfahrenen Enkel bei ihrer letzten Zusammenkunft in Lierre Ende Januar 1517 dringend geraten haben, den lange geplanten Schritt auszuführen. Darauf weist auch D. Spielman in ihren Anmerkungen zu Karls Schreiben an Ferdinand vom 7. September 1517 hin,570 wenn sie die „Januar-Regelungen“ anspricht. Das Ergebnis der Absprachen zwischen Maximilian und Karl ist in einer Mitteilung vom 18. Februar 1517 enthalten, die Cyprian von Serntein, dem Kanzler des Kaisers, zuging: So wirdet kunig Verdinand in Hispanien beleiben, biss kunig Karl hinein kumbt, und darnach erst herauss ziehen.571 So wird, was Fernández Álvarez zunächst nur als Vermutung äußerte, durch neuere Forschungsergebnisse bestätigt. Es liegt dem spanischen Historiker daran klarzustellen, daß Karl mit der Entsendung Ferdinands in die Niederlande eine Maßnahme ergriff, die der Situation angemessen war und für die die Entscheidung bereits vor der Einschiffung des Königs nach Spanien gefällt worden war. Dieser sachlichen Beurteilung aus der Sicht eines Spaniers stehen die wenigen Zeilen Rodríguez-Salgados gegenüber, die die nötige Distanz zu den Ereignissen von 1518 vermissen lassen, von Ressentiments nicht nur gegen Karl, sondern offenbar auch gegen die Niederlande geprägt sind und den Tatsachen nicht ganz gerecht werden: „Ohne größere Anstalten wurde Ferdinand zur Abreise aus Spanien gezwungen und mußte in den Niederlanden einige Jahre in schmachvoller Tatenlosigkeit und relativer Isolation verbringen, statt ehrenvoll mit einer Regentschaft betraut zu werden. Ferdinand scheint sein Schicksal mit einer Würde und einem Gleichmut getragen zu

567 Vgl. oben 239–243. 568 Petrus Martyr, epist. 616 (p. 578 W., 6.5.1518): Fernandus Infans dimissus est. Sublatis ei familiaribus Hispanis maiori ex parte boni regis rectores hoc astruunt, ne quid restet eorum cogitatibus adversum. 569 Fernández Álvarez 1977, 28. 570 Spielman/Thomas 1984, 32 Anm. 2. 571 Ebd. (nach dem Schreiben des Reichvizekanzlers Maximilians I., Niklas Ziegler, Wien, HHStA, Maximiliana 36, Konvolut 3, fol. 66v).

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haben, die bei solch jungem Alter überraschen. Kein Wort des Grolls über sein Exil ließ er vernehmen.“572

Nach eingehender Beschäftigung mit dem gesamten Themenkomplex, den die spanische Historikerin in drei knappen Sätzen zusammenfaßt, kann man ihre Aussagen nicht widerspruchslos akzeptieren. Daher sollen im Folgenden vier Gesichtspunkte, die hier gebündelt erscheinen, einzeln untersucht und, wo nötig, Fakten korrigierend herangezogen werden. Wenn damit Ferdinand nochmals in den Mittelpunkt der Recherchen rückt, so ist dies deshalb gerechtfertigt, weil es allein darum geht, wie er während seiner niederländischen Jahre auf die bereits getroffenen und die noch folgenden Anordnungen seines Vormunds reagierte,573 der gleichzeitig sein Souverän als Herrscher wie als Chef des Vliesordens, dazu Haupt der Dynastien Trastámara und Burgund574 und schließlich sein Bruder war. Karl, mit all der Macht, die er über Ferdinand ausüben konnte, bleibt also auch hier stets präsent. Folgende Aussagen bzw. Formulierungen Rodríguez-Salgados sind demnach zu überprüfen: (1.) die Feststellung, Ferdinand sei „ohne größere Anstalten [...] zur Abreise gezwungen“ worden; (2.) die Gegenüberstellung einer „schmachvolle(n) Tatenlosigkeit“ mit einer „ehrenvollen Betrauung mit einer Regentschaft“; (3.) das Wort von der „relativen Isolierung“ Ferdinands und (4.) die Aussage, daß jener „kein Wort des Grolls über sein Exil vernehmen“ habe lassen. Zu (1.): Über den Vorlauf zur Abreise des Prinzen ist oben ausführlich gehandelt worden. Dabei wurde deutlich, daß Karl die Entfernung Ferdinands aus Spanien keineswegs übereilt anordnete, sondern dem Bruder erheblich mehr Zeit ließ, sich auf die Veränderung einzustellen, als der ursprüngliche Plan vorsah. Der Bericht Vitals zeigt ferner, daß durchaus etliche vorbereitende Anstalten getroffen wurden. „Gezwungen“ wurde Ferdinand insofern, als sein Vormund die entsprechenden Anordnungen traf und er als Mündel zu gehorchen hatte. Ohne die 572 Rodríguez-Salgado 2000, 56. 573 Sehr hilfreich sind hier die Forschungsergebnisse Raymond Fagels, die er 2003 in dem schon mehrfach zitierten Aufsatz „Don Fernando in den Niederlanden. Die Jugendjahre eines spanischen Prinzen“ vorlegte. Da von der Korrespondenz Ferdinands aus diesen Jahren nur wenig erhalten ist, hat Fagel die Bestände der Chambre des comptes in den Archives du Nord (Lille) zu Rate gezogen: Ähnlich wie Charles Moeller u.a. für die Mechelner Jahre der burgundischen Kinder konnte Fagel anhand der Rechnungsposten ein detailreiches Bild vom täglichen Leben Ferdinands, von seinen Freizeitbeschäftigungen, vom Hofstaat und von Anschaffungen rekonstruieren sowie ein Itinerar des Prinzen von seiner Ankunft 1518 bis zum Ende des Jahres 1520 erstellen. Eine komprimierte Darstellung dieses kurzen Abschnitts im Leben Ferdinands I. gibt Kohler 2003, 56–59. 574 Als Ferdinand nach burgundischem Recht 1518 volljährig wurde, gab Karl allein seine Stellung als Chef beider Häuser (ab 1519 auch des Hauses Habsburg) noch weitreichende Befugnisse.

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entsprechenden Hintergrundinformationen läßt Rodríguez-Salgado Ferdinands Entsendung in die Niederlande allerdings wie eine Exilierung erscheinen. Da die Autorin das Wort „Exil“ in der Folge verwendet, darf man den Schluß ziehen, daß sie diesen Eindruck ganz bewußt erwecken will. Zu (2.): Dazu sollte in Erinnerung gerufen werden, daß Ferdinand fünfzehn Jahre alt und nach burgundischem Brauch gerade mündig geworden war. Da ihm die Regentschaft in Spanien entgangen war, mußte er zweifellos mit einer Würde und dem zugehörigen Besitz ausgestattet werden, die seinem Rang entsprachen. Das konnte nur aus dem habsburgischen oder dem burgundischen Erbe geschehen. Stellt man sich die Frage, welche Regentschaft Karl dem Bruder 1518 hätte übertragen können, so wäre zu diesem Zeitpunkt dem Buchstaben nach nur das Amt in den Niederlanden verfügbar gewesen. Gerade dort stand Karl jedoch im Begriff, Margarete schrittweise in ihre alten Rechte wieder einzusetzen, sehr zum Wohle des Landes. Es wäre höchst unklug gewesen, in einem Augenblick, als sich die Verhältnisse in den Niederlanden nach den Unsicherheiten der vorhergegangenen Jahre gerade wieder stabilisierten, durch die Einsetzung Ferdinands als Regenten einer kontinuierlichen Arbeit der Regierung neue Hindernisse in den Weg zu legen. Gegen Ferdinands Regentschaft hätten sich die gleichen Vorbehalte erhoben, die Karl während seiner Anfänge in Spanien entgegengebracht wurden. Wie seinem Vater vor ihm hat man Karl lange angelastet, daß er weder die Landessprache beherrschte noch Kenntnis hatte von den Gesetzen, Sitten und Bräuchen Spaniens; seinen Vormündern hat man den Vorwurf gemacht, den Prinzen nicht angemessen auf die Herrschaft über ein Land vorbereitet zu haben, das grundverschieden von seiner Heimat war. Die gleichen Vorwürfe hätte man Karl machen können, wenn er mit Ferdinand einem jungen, in Regierungsgeschäften völlig unerfahrenen Prinzen, der auf eine derartige Aufgabe nicht vorbereitet war, die Regentschaft übertragen hätte, zudem auch Ferdinand mit den Gesetzen und der Kultur seiner neuen Heimat nicht vertraut war und keine der Landessprachen beherrschte. Darauf, daß eine spätere Übernahme der Regentschaft nicht ausgeschlossen wurde, scheint zu deuten, daß Ferdinand nach der spanischen nun eine burgundische Erziehung zuteil wurde. Der Infant war mit dem castellano als Muttersprache aufgewachsen, außerdem hatten ihm seine Erzieher gründliche Lateinkenntnisse vermittelt, so daß er – anders als sein Bruder – den Anforderungen des diplomatischen Verkehrs gewachsen war. Zur Einführung in die burgundisch-niederländische Kultursphäre gehörte für den sprachbegabten Prinzen das Erlernen der Landessprachen. Bereits während der Wartezeit und auf der langen Seereise hat Ferdinand nach der Aussage von Zeitzeugen begonnen, sich das Waals anzueignen. Dazu zitiert R. Fagel den conseiller Margaretes und Gouverneur von Bresse, Laurent de Gorrevod: Il mect toute la poyne qu’il peult à apprendre à parler

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valon et crois quant il viendra Pardelà qu’il le parlera bien.575 Da sein neuer Hofstaat fast ausschließlich aus Burgundern bestand, dürfte er reichlich Gelegenheit gehabt haben, sich in der ungewohnten Sprache zu üben. Ob auch das Flämische (thiois) auf seinem Stundenplan stand,576 ist eher zu bezweifeln, da es am Hof nicht gesprochen wurde; Fagel liefert dafür keinen Nachweis. 1519 versuchte Margarete, Erasmus von Rotterdam als geistlichen Erzieher des Prinzen zu gewinnen. Der Gelehrte lehnte das Angebot ab, obwohl er seit 1515 als Rat Karls eine Pension bezog und Margarete ihn seit Jahren als Mäzenin unterstützte. Er wollte unabhängig bleiben und sich an keinen Hof binden.577 An seiner Stelle empfahl er Juan Luís Vivés, der zum Lehrer des Prinzen wie kaum ein anderer geeignet schien, da er selbst aus Valencia stammte und erst als Zwanzigjähriger in die Niederlande gekommen war. Doch auch diese Berufung scheiterte.578 Ferdinands humanistische Erziehung lag also weiterhin in den Händen des Juan de la Parra. Am Hof Margaretes wurde der junge Erzherzog, wie Ferdinand nun meistens genannt wurde, mit der ganzen Fülle der burgundischen Kultur vertraut: Die Bibliothek mit ihren reichen Schätzen an Handschriften und einer beträchtlichen Zahl an Drucken stand dem wißbegierigen jungen Mann offen; Margarete dürfte ihren Neffen durch die Gemäldegalerie geführt und dabei die Gelegenheit genutzt haben, dem Prinzen die Mitglieder der Häuser Burgund und Habsburg im Bilde vorzustellen und ihm bewußt zu machen, daß auch er diesen Dynastien angehörte. Das Musikleben am Hof, die Sänger, die kirchliche Zeremonien und weltliche Feste mitgestalteten, weckten vielleicht Erinnerungen an die Kinderjahre: Philipp hatte seine berühmte burgundische Hofkapelle mit nach Spanien genommen, selbst Juana behielt nach dem Tode ihres Gemahls niederländische Sänger in ihrer Umgebung, und die großen Messen, die Karl in Spanien feierte, wurden 575 Fagel 2003, 37 Anm. 9 (aus einem Brief an Margarete von Österreich vom 27. April 1518 aus Calatayud). Während Waals heute das Wallonische bezeichnet, eine Variante nordfranzösicher Dialekte, die noch in Teilen Belgiens gesprochen wird, dürfte Gorrevod darunter das am Brüsseler und Mechelner Hof übliche Französisch verstanden haben. Maximilian forderte z.B. Karl 1513 auf, an die spanischen Verwandten en walon, d.h. auf Französisch, zu schreiben (Le Glay 1839, 2, 79 Nr. 440 [6.1.1513]). 576 So Kohler 2003, 56. Daß Ferdinand Flämisch sprach, nimmt auch Strelka 1957, 108 an. 577 Der Prinz begegnete Erasmus einige Male am Hof von Mecheln (Fagel 2003, 44 Anm. 44). Von den 1520er Jahren bis zu Erasmus’ Tod 1536 standen beide im Briefwechsel (Kohler 2003, 57). 578 Es war bereits 1518 der weitverzweigten Familie Croy gelungen, Vivés zu verpflichten, und zwar als Lehrer des Kardinals (!) Croy in Löwen. Dabei handelte es sich um Wilhelm von Croy, Chièvres’ jungen Neffen, dessen Erhebung zu Ximénes’ Nachfolger auf dem Erzstuhl von Toledo Spanien in helle Empörung versetzt hatte. Der Kardinal wollte nicht auf Vivés verzichten und behielt ihn bis zu seinem frühen Tode 1521 in seinen Diensten. Zu Vivés vgl. Strelka 1957, 81–86.

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von den burgundischen Sängern musikalisch umrahmt. In Begleitung Margaretes bereiste der Erzherzog die flandrischen Provinzen, wobei man ihm allerorten einen freundlichen Empfang bereitete. Die Comptes de Lille belegen die außerordentlich hohen Summen, die für Ferdinands Reitpferde und Hunde, für Jagdwaffen und die entsprechende Ausstattung des jungen Jägers ausgegeben wurden. Damit wurde alles getan, damit er seiner Lieblingsbeschäftigung und großen Leidenschaft, dem Reiten und Jagen, ausgiebig nachgehen konnte, wobei der Hintergedanke, ihn auf diese Weise zufrieden zu halten und von politischen Ambitionen abzulenken, ohne Zweifel eine Rolle spielte. Tatenlos war Ferdinand also gewiß nicht in diesen Jahren, und als „schmachvoll“ kann man diese Phase der adulescentia, in der er seine Erziehung vervollkommnete, sich mit der burgundischen Kultur vertraut machte und seinem Vergnügen nachging, wohl nur charakterisieren, wenn man das Regieren als einzig angemessene Tätigkeit für einen jungen Mann ansieht, dessen eigene Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.579 Als Zurücksetzung, vielleicht sogar als schmachvoll mag Ferdinand es empfunden haben, daß man ihn von zwei glanzvollen und politisch bedeutsamen Großereignissen fernhielt: dem Zusammentreffen seines Bruders mit Heinrich VIII. in Gravelines und Calais im Juli 1520 und der Krönung Karls zum Römischen König in Aachen im Oktober 1520. Als Karl auf seiner Krönungsreise vom 1. Juni bis zum 22. Oktober 1520 in den Niederlanden weilte, trafen sich die Brüder mehrfach zwischen dem 3. Juni und dem 3. Juli sowie zwischen dem 21. Juli und dem 8. Oktober.580 Während Karl sich am 3. Juli auf den Weg nach Gravelines und Calais machte, begab sich Ferdinand zunächst nach Groenendal, anschließend nach Tervueren, vermutlich um zu jagen. R. Fagel hält es für wahrscheinlich, daß Ferdinand versuchte, von seinem Bruder die Erlaubnis zu erwirken, der Begegnung mit Heinrich VIII. beiwohnen zu dürfen.581 Die Comptes de Lille belegen die Ausgaben für eine Reise des Gabriel de Salamanca, damals premier secrétaire des Erzherzogs, nach Calais, wo er im Auftrag Ferdinands mit Karl verhandeln und dessen Antwort überbringen sollte.582 Ferdinand reiste jedoch ebenso wenig nach Calais wie zur Krönung nach Aachen. Auch Margarete hat sich offenbar nicht für Ferdinands Wünsche verwendet. Als Karl und Margarete 579 In diesem Sinne auch Fagel 2003, 54: „Nicht nur nach außen – in seiner dürftigen Korrespondenz – scheint der junge Ferdinand seine unbekümmerte Jugend genossen zu haben, dort wo Karl vielleicht viel zu früh die Last des Regierens tragen mußte.“ 580 Nach den Rechnungsbüchern aus den Archives du Nord speiste Ferdinand in diesem Zeitraum elfmal mit dem Bruder als dessen Gast. Näheres über diese Treffen ist offenbar nicht bekannt (Fagel 2003, 47). 581 Fagel 2003, 46. 582 Der Zweck dieser Reise ist in den Rechnungsbüchern nur sehr vage mit aucunes choses [...] desquelz nest besoing icy faire declaration angegeben (Fagel ebd.).

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sich am 8. Oktober von Löwen aus auf die letzte Etappe der Krönungsreise begaben, ging Ferdinand wieder in den Wäldern um Tervueren der Jagd nach. Eine Erklärung dafür, daß Karl den Bruder von der Teilnahme an diesen Ereignissen ausschloß, ist schwer zu finden. Karl hatte sein Ziel erreicht: Er war zum Römischen König gewählt worden und durfte sich nach der Krönung „Erwählter Römischer Kaiser“ nennen. Ferdinand war kein politischer Rivale mehr, er war „nur“ Erzherzog von Österreich, ein Prinz ohne Land. Wenn er den Wunsch hatte, bei einem Treffen der Großen, bei der Krönung des eigenen Bruders, dabei zu sein, so war dies das völlig verständliche Anliegen eines jungen Mannes, der im Begriffe stand, selbst in die Welt der Großen einzutreten. Was fürchtete Karl also? Mit öffentlichem Aufbegehren Ferdinands war ebenso wenig zu rechnen wie mit Manifestationen der Bevölkerung zugunsten des Jüngeren wie 1518 in Spanien. Die einleuchtendste Antwort auf diese Frage ist m.E., daß Karl befürchtete, daß bei einem gemeinsamen Auftreten mit dem Bruder der unausbleibliche Vergleich ihrer Persönlichkeiten zu seinen Ungunsten ausfallen konnte. Karl, noch unsicher gegenüber den vielen ungewohnten Situationen, von Natur aus zurückhaltend, ja gehemmt, gar sprachbehindert, mag sich dem unbefangenen, im Umgang mit Menschen geschmeidigen und liebenswürdigen, polyglotten Bruder unterlegen gefühlt haben. Er wollte, daß ihm, dem Römischen König, die alleinige Aufmerksamkeit gelten sollte. Diese wünschte er nicht mit dem Bruder zu teilen, weder vor dem englischen König noch vor den Großen des Reiches, denen Karl sich in Aachen erstmals präsentierte. Letztlich sah Karl in dem Bruder doch den Rivalen, und zwar auf ganz persönlicher Ebene; sein Mißtrauen war nicht gewichen. So war in diesem Falle ausnahmsweise nicht ein politisches Problem ausschlaggebend für Karls Entscheidung, sondern ein psychologisches. In seinen Commentaires hält der Römische König, wie zu erwarten, nur die Fakten fest, aus denen eindeutig hervorgeht, daß Ferdinand weder in Calais noch in Aachen zur Begleitung seines Bruders gehörte:583 [...] Von [England] setzte [Se. Majestät] in ihre Staaten von Flandern über, wo sie von Madame, ihrer Tante, und dem Infanten, ihrem Bruder, bewillkommnet wurde. Dies war die erste Rückkehr Sr. Majestät in ihre flandrischen Staaten: sie hatte eine dritte Zusammenkunft zwischen dem Kaiser und dem König Heinrich von England in Gravelingen und Calais zur Folge. Von da reiste er ab und setzte seine Fahrt nach Aachen fort, wo er gekrönt wurde. Hierauf kehrte Madame Margarethe, seine Tante, zurück, 583 Fagel 2003, 47 weist darauf hin, daß W. Bauer irrtümlich annahm, Ferdinand sei bei dem Treffen mit Heinrich VIII. zugegen gewesen. Vermutlich basiert Bauers Aussage auf Brewer 1867, 804. Noch Alvar Ezquerra 2002, 107 Anm. 6 schreibt: „Sie [die Brüder] werden sich erst bei der Krönung Karls in Aachen wiedersehen [...].“ und beruft sich dabei auf M. Fernández Álvarez’ 1960 erschienene Ausgabe von Karls Memorias, die er zugleich (114 Anm. 17) als die beste Edition seit der Wiederauffindung der Memoiren würdigt.

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um zum zweiten mal die Regierung in den genannten Staaten von Flandern zu führen. Er liess in denselben auch den Infanten, seinen Bruder, und hielt seinen ersten Reichstag in Worms. [...] Bei seiner Anwesenheit am Reichstage berief Se. Majestät den Infanten, seinen Bruder, zu sich, der dann von Worms abreiste, um sich mit der Schwester des Königs Ludwig von Ungarn zu vermählen, gemäss den von Kaiser Maximilian getroffenen Anordnungen.584

Zu (3.): Die Formulierung Rodríguez-Salgados von der „relativen Isolierung“ Ferdinands kann sich nur auf die weitgehende Isolierung des Erzherzogs von spanischen Bediensteten und Einflüssen beziehen. Ansonsten lebte der Prinz keineswegs in Abgeschiedenheit: Zu seiner Umgebung gehörten junge gentilzhommes, unter denen mindestens ein Spanier war, der Sohn des Marqués de Aguilar, des Mannes also, der bei der Einschiffung Ferdinands zunächst an Bord geblieben war und der Karls volles Vertrauen genoß. Margarete führte ihren Neffen in das höfische Leben in Mecheln und Brüssel ein, wo er dem burgundischen Adel, Gelehrten und Künstlern begegnete. Es war übrigens gerade der Persönlichkeit Margaretes zu verdanken, daß der junge Neffe das Gefühl der Fremdheit bald überwand und in seiner neuen Umgebung heimisch wurde. Margarete, die aus der Zeit ihrer ersten kurzen Ehe und ihres Aufenthalts am Hofe Isabellas von Kastilien Spanien kannte, stellte ein Bindeglied zwischen Ferdinands Kinderheimat und Burgund dar. Bei ihr fand er Verständnis, wenn er anfangs von den niederländischen Verhältnissen und Gepflogenheiten befremdet war und irritiert Vergleiche mit spanischen Usancen anstellte. Mit ihr konnte er vertrauensvoll sprechen, wenn ihn ein Anflug von Heimweh überkam; sie hatte seine Großeltern gekannt und den Kontakt mit Ferdinand von Aragon stets aufrechterhalten. Margaretes eigenem Temperament kam das aufgeschlossene, liebenswürdige Wesen Ferdinands weit mehr entgegen als die verschlossene Natur Karls, so daß sich zwischen der Tante und ihrem jüngeren Neffen bald ein Verhältnis entwickelte, das von Vertrauen und menschlicher Nähe bestimmt war, eine Beziehung, wie sie zwischen Margarete und Karl so nie bestanden hatte, trotz der vielen Jahre, in denen die Tante die Mutter ersetzte. Unter Margaretes kluger, behutsamer Lenkung begann Ferdinand seine neue Stellung innerhalb der Dynastien zu verstehen und zu akzeptieren: Der Infant aus dem Hause Trastámara wurde zum Erzherzog von Österreich, zum Habsburger.585 Etliche Familien des burgundischen Adels rechneten es sich zur Ehre an, Ferdinand auf ihre Besitzungen einzuladen, wo er oft mehrere Tage verbrachte.586 Fagel vermerkt dazu, daß es erstaunlich sei, „daß keine Mitglieder der einflußrei584 Kervyn van Lettenhove 1862, 8 f. 585 Dazu auch Sutter 1971, 30* f. 586 Fagel 2003, 47; ebd. 55–59 auch genaue Zusätze zu Ferdinands Itinerar.

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chen Familie Croy Ferdinand die Ehre erwiesen.“587 Umso erstaunlicher ist dies, als Charles de Croy, prince de Chimay, Ferdinands Gouverneur war. Zu (4.): Wenn Rodríguez-Salgado Ferdinands Aufenthalt in den Niederlanden als „Exil“ bezeichnet, so deckt sich das nur teilweise mit dem, was man gemeinhin mit diesem Wort verbindet. Gewiß, der Prinz hatte sein Geburtsland nicht freiwillig verlassen und war von den Personen, die ihm seit seiner Kinderzeit vertraut waren, getrennt worden. Er wurde in eine Umgebung versetzt, die ihm fremd war. Im Gegensatz zu anderen Exilanten, denen auf höheren Befehl ein möglichst trübseliger, entlegener Ort an den Grenzen des Herrschaftsgebietes als Aufenthaltsort zugewiesen wurde, von dem aus Kontakte zu Familie und Freunden kaum möglich waren und jeder Briefverkehr streng überwacht wurde, schickte Karl den Bruder in das „Vaterland“, wo ihn Margarete freudig empfing und ihm von allen Seiten Wohlwollen entgegengebracht wurde. Ferdinand mußte sich nicht gegen eine feindselige Umgebung behaupten, sondern wurde als Mitglied der Häuser Burgund und Habsburg in die Gesellschaft einbezogen. Dem Streit der spanischen Parteiungen um seine Person entzogen, konnte ihm mehr Freiraum gewährt werden, als es in seinem Geburtsland je möglich gewesen war. Pflichten hatte er kaum, sondern konnte seinen vielfältigen Interessen nachgehen. Dazu hatte er reichlich Gelegenheit, da er nicht an einen tristen Ort, sondern in eines der reichsten, wenn nicht sogar das damals blühendste Kulturzentrum nördlich der Alpen verpflanzt worden war, dessen Anregungen er begierig aufnahm. Materielle Sorgen kannte er nicht. Ferdinand hatte seinen eigenen Hof und verfügte über einen beträchtlichen Hofstaat, in dem zwar die Niederländer überwogen, aber auch etliche Spanier vertreten waren. Den Unterlagen der Chambre des comptes hat R. Fagel entnommen, daß die Kosten für Ferdinands Hofhaltung für die Periode vom 1. April 1518 bis zum 31. Dezember 1520 insgesamt 100.000 Pfund betrugen.588 Die Ausgaben, die darüber hinausgingen, müssen nach Fagels Erkenntnissen erheblich gewesen sein. Sie wurden aus der allgemeinen Kasse für die habsburgische Verwaltung bestritten.589 Ein beträchtlicher Posten entfiel dabei auf die Ausstattung des Prinzen und seines Gefolges. Ähnlich wie sein älterer Bruder und auch Prinzessin Eleonore 1515 große Summen für ihre Garderobe ausgegeben hatten, verfuhr nun auch Ferdinand. Fagel sieht darin, wohl zu Recht, eine Übernahme der burgundischen Hofkultur mit all ihrer Pracht und einen Teil der „kulturellen Burgundisierung“ des Prinzen. Die Verbindung zu Spanien und seiner Kultur war jedoch auch nicht gänzlich abgerissen, sondern wurde durch Karls Geschenke an den Bruder aufrechterhalten. Er schickte ihm z.B. edle Pferde 587 Fagel 2003, 47. 588 Ebd. 48 nach Archives du Nord B 2286 und B 2294. 589 Ebd.

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sowie ein Maultier und ließ durch spanische Handwerker Dinge nach spanischer Mode für Ferdinand herstellen. Es wurde sogar eigens ein Diener nach Spanien geschickt, um spanische Armbrüste zu holen.590 Aus Briefen Ferdinands an Maximilian vom Oktober 1518 und an seine Schwester Maria kann man entnehmen, daß er die freundliche Aufnahme, die er gefunden hatte, und die Annehmlichkeiten seiner neuen Lebensverhältnisse durchaus zu schätzen wußte. In einem Brief an Maria heißt es: Le bon, grant et honnorable recueil, deduit et passetemps que je trouve par deça me font oublier tous regretz et desplaisirs que j’ay euz a mon passaige.591

R. Fagel kommentiert das Verhalten Karls gegenüber dem Bruder in dessen burgundischen Jahren als eine „Politik des Verwöhnens, die Ferdinand gegen eine mögliche politische Einflußnahme abschirmen und ihn an seinen Bruder Karl binden sollte. Ferdinand scheint sich dieser Form angepaßt zu haben [...]“.592 Das Mißtrauen des Älteren gegenüber dem Jüngeren war also keineswegs gewichen, obwohl dieser im „Exil“ keine Möglichkeiten hatte, Unruhe zu stiften und Kräfte gegen den König zu mobilisieren.593 Abgesehen von den wenigen Augenblicken, in denen der Prinz sich zurückgesetzt und erneut übergangen fühlte, scheint Ferdinand die niederländischen Jahre genossen zu haben. Dank seiner Klugheit und Anpassungsfähigkeit begehrte er nicht gegen die „Verbannung“ auf, sondern machte das Beste aus seiner Lage. So wurde die burgundische Phase zu einer Zeit der Bereicherung; die Impulse, die Ferdinand damals empfing, kamen voll zur Wirkung, als er seinem Hof und seiner Residenzstadt Wien von den 1530er Jahren an neue kulturelle Geltung verschaffte.594 Die Anpassung an die gegebene Situation wird Ferdinand auch dadurch erleichtert worden sein, daß ihm klar war, daß Burgund für ihn nur 590 Fagel 2003, 48 f. 591 Archives du Nord, B 18879, lettres missives 32760, zit. b. Fagel 2003, 49. 592 Ebd. 593 Das Mißtrauen zeigte sich auch in kleinen Maßnahmen, die wohl vielfach unbeachtet blieben: Im Oktober 1519 ließ Karl zwei große Siegel mit dem Wappen Ferdinands anfertigen, die für provisions et autres depeches bestimmt waren, die im Namen Ferdinands ausgestellt werden sollten. Die Kontrolle über den Gebrauch der Siegel sicherte sich Karl, indem er sie Antoine de Lalaing, seinem eigenen Zweiten Kammerherrn, anvertraute und nicht einem Mitglied von Ferdinands Hofstaat, den er selbst bzw. Margarete ausgewählt hatte (Fagel 2003, 50 nach Archives du Nord, B 2286 fol. 325r). 594 Wie für die humanistische Gelehrsamkeit, die Ferdinand in Wien neu belebte, hatte bereits Maximilian auch für die burgundische Kultur den Boden bereitet. Durch seine Ehe mit Maria von Burgund und als langjähriger Hüter ihres Erbes hatte er, wie nun sein Enkel, eine „kulturelle Burgundisierung“ erfahren, deren Auswirkungen in Innsbruck und vor allem in Wien ihre Spuren hinterließen.

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eine Durchgangsstation auf dem Wege zu einem eigenen Herrschaftsbereich sein würde. Wenn dieser zu Lebzeiten Maximilians I. auch noch nicht fest umrissen war, so deutete bereits alles darauf hin, daß er im Südosten des Reiches, in Österreich liegen würde. Als Ferdinand am 2. April 1521 in Worms eintraf, wurde ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil, da sein Bruder, der Erwählte Römische Kaiser, das „junge, edle Blut“, für die Fürsten und Beobachter nach mehrmonatiger Anwesenheit den Reiz des Neuen verloren hatte.595 Den Eindruck, den der junge Prinz aus Spanien machte, gibt ein Brief des Gesandten Brunner wieder: Ertzherzog Ferdinand ist frisch und frolich, wurdet ein weis, frolich, frisch, geschickt und freuntlich Man.596 Das „Exil“ hatte also offenbar keine nachteiligen Spuren bei Ferdinand hinterlassen, der in Worms Aufschluß darüber erwartete und auch erhielt, welcher Anteil aus dem habsburgischen Erbe ihm zufallen sollte: ein Punkt, der geklärt werden mußte, ehe Ferdinand nach Linz aufbrach, um die Ehe mit Anna von Böhmen zu schließen.597 Nach dem Reichstag trennten sich die Wege der Brüder: Beide 595 Nach seiner Krönung in Aachen am 23. Oktober 1520 hatte Karl über Köln die Reise nach Worms angetreten, wo er nach einigen Zwischenstationen, u.a. in Mainz, am 28. November eintraf und sich bis zum 30. Mai 1521 aufhielt. Ferdinand erhielt die Aufforderung, am Reichstagsort zu erscheinen, frühestens im Januar 1521 (Fagel 2003, 46 f. Anm. 52). 596 An den Kurfürsten Friedrich, 27. Mai 1520; zit. bei Fagel 2003, 54. Brunner war Ferdinand in Gent begegnet. 597 Ein näheres Eingehen auf die Teilung des maximilianischen Erbes ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Daher seien nur die wichtigsten Punkte genannt: Maximilian hatte in seinem Letzten Willen beide Enkel als Erben eingesetzt, doch keinerlei Verfügungen über die Nachfolge oder die Teilung des Erbes hinterlassen. In seinem Testament, aufgesetzt in Wels am 30. Dezember 1518, heißt es unter 4. nur: Nachvolgend bevelhen und ubergeben wir nach unserm abgang all unser land und leut unsern lieben sunen, kunig Karln von Hyspanien und ertzherzog Ferdinanden, printzen daselbs, als unsern rechten, natürlichen erben (Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Landschaftliche Urkunden A/26a, Edition: QSMI. 289–295 Nr. 82, Zitat: 290). Ferdinand, der aus dem aragonesischen Erbe nur finanzielle Einkünfte hatte, hatte seit der Wahl Karls zum Römischen König auf die Teilung des Erbes gedrängt, um in Territorialbesitz zu gelangen. Kohler 2003, 70 f. faßt die komplizierten Regelungen, auf die man sich in Worms einigte, zusammen: „Im Wormser Vertrag vom 28. April 1521 erhielt er [Ferdinand] die fünf «niederösterreichischen Länder» zugesprochen, allerdings ohne Görz, Friaul und Triest, also jene Gebiete, die an die nördliche Adria grenzten. Die «oberösterreichschen Länder» – Tirol und die Vorlande – verblieben, ebenso wie das 1519 erworbene Württemberg, zunächst noch bei Karl. In den Brüsseler Verträgen (1522) übergab Karl nicht nur die an die Adria grenzenden Gebiete an Ferdinand, sondern trat auch die oberösterreichischen Länder, Württemberg (erblich), Pfirt und Hagenau (auf Lebenszeit) an seinen Bruder ab, allerdings nur in einem Geheimvertrag, was de facto bedeutete, daß Ferdinand dort die Herrschaftsrechte nicht ausüben, sondern nur als Statthalter seines Bruders fungieren konnte; erst 1525 ließ Karl diesen Vorbehalt fallen.“ – Karls Vorgehen läßt darauf schließen, daß er Ferdinand und dessen

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begaben sich in die Länder, in denen sie ihren Lebensmittelpunkt finden sollten. Wie die Durchführung der „Rochade“ hatten sie die habsburgische Erbteilung unter Hintanstellung ihrer Ressentiments zumindest vor den Augen der Welt einvernehmlich gemeistert. L. Schorn-Schütte ist zuzustimmen, wenn sie in dem „dynastischen Prinzip der Solidarität“, das von den Brüdern gewahrt wurde, die Basis erkennt, auf der eine Einigung überhaupt möglich wurde.598 Daraus auf ein Vertrauensverhältnis zwischen den Brüdern zu schließen, stellt eine Vereinfachung der Beziehung dar. Karl hat Ferdinand wiederholt seiner brüderlichen Liebe und seiner Sorge für dessen angemessenen Rang versichert, allerdings nicht selten in Situationen, in denen Ferdinand der Benachteiligte war: so bereits in dem Schreiben vom 7. September 1517, in dem Karl dem Bruder die Veränderungen in seinem Haushalt ankündigt, sehr deutlich dann in dem Brief vom 5. März 1519, der auf den Plan Margaretes, Ferdinand als Ersatzkandidaten für die Kaiserwahl in Betracht zu ziehen, und auf das Drängen des Bruders auf Teilung des Erbes Bezug nimmt: Was den guten Willen anlangt, den Sie haben, sich auch weiterhin loyal zu verhalten, so hoffe ich, daß Sie es mit Gottes Hilfe auch tun werden. Sie müssen mir glauben, daß das für mich die größte Freude sein wird, die ich haben kann. [...] Wie immer dem sei, sobald ich nur vermag, daß dieser Punkt ausgeräumt wird [d.h. daß die Kaiserwahl entschieden ist; A.S.] bin ich ganz und gar auf Ihren Anteil festgelegt und darauf, Sie dabei nicht nur vernunftgemäß zu behandeln, sondern wie ein richtiger Bruder; denn einen solchen werden Sie an mir finden, und ich bitte Sie, denen keinen Glauben zu schenken, die das Gegenteil davon behaupten.599

Zwischen Karls Versicherungen und seinen Handlungen bestanden, zumindest aus der Sicht Ferdinands, erhebliche Widersprüche, wobei A. Walther wie auch A. Kohler davon ausgehen, daß Karl bei der Durchführung der „Rochade“600 ebenso wie bei dem ersten Schritt der österreichischen Erbteilung601 dem Rat seiner „Leiter“, d.h. vor allem Chièvres, folgte. Kohlers Kommentar zu dem erstgenannten Schreiben vom September 1517 muß man daher differenzierter betrachten:

politischen Ambitionen weiterhin mißtraute. Im Verlaufe des Reichstags ernannte der Kaiser seinen Bruder zum Statthalter im Reich für die Perioden seiner eigenen Abwesenheit. Römischer König wurde Ferdinand erst 1531, nachdem Karl 1530 in Bologna die Kaiserkrone empfangen hatte. 598 Schorn-Schütte 2000, 14. 599 QSKV. 43 Nr. 4, Anm. 1 (nach RTA I 354 Anm. 2). 600 Walther 1911, 163. 601 Kohler 2003, 71.

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„[Mit diesem Brief ] war der Grundstein für ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Brüdern gelegt und für die Loyalität, die der jüngere Bruder, von Krisen abgesehen, sein ganzes Leben lang dem älteren bezeugte.“602

Während mir hinsichtlich des Vertrauensverhältnisses erhebliche Skepsis angebracht scheint, ist Kohler vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er die lebenslange Loyalität Ferdinands gegenüber Karl hervorhebt.603 B. Sutter charakterisiert das Verhältnis der Brüder, indem er zunächst feststellt, daß „der ältere Bruder von [der ersten Begegnung in Mojadoz] Ferdinands Schicksal [war]“, um anschließend auszuführen, daß Karl seinerseits auf die Unterstützung durch den Bruder, insbesondere im Reich, angewiesen war: „Ferdinand wuchs über die ihm zugedachte Rolle, einfach der jüngere Bruder des Kaisers zu sein, weit hinaus. Er hat zwar die Politik Karls lange gedeckt und für sie Jahrzehnte hindurch Opfer gebracht, aber er ist niemals dessen willenloses, gefügiges Werkzeug gewesen, das man beliebig gebrauchen oder zur Seite legen konnte. Er war sich seines Wertes, aber auch der Opfer wohl bewußt, die er für den Älteren zu bringen hatte und die er denn auch mehr als einmal dem Bruder sehr kühl und genau vorgerechnet hat. [...] Er hat dem Bruder in Deutschland den Rücken freigehalten und gedeckt, und es ist ihm zu verdanken, wenn das Haus Habsburg seine Stellung im Zentrum Europas behaupten konnte.“604

Damit wird Sutter der Rolle Ferdinands in den Beziehungen der Brüder gerechter als F. Seibt, der es als „das politische Los“ des Zweitgeborenen bezeichnet hat, „Stellvertreter zu sein“ und „von dem älteren Bruder auf diese Weise an der Herrschaft beteiligt“ der „zweite Mann“ nach dem Kaiser zu bleiben.605 Seibts Interpretation erweckt damit den Anschein, als sei Karl stets der Vormund des Bruders geblieben, der seinerseits vom Mündel zum Stellvertreter avancierte. Ferdinand jedoch nur als Stellvertreter zu sehen, heißt Karls Abhängigkeit von der Unterstützung durch den Bruder zu verkennen. An anderer Stelle ergänzt Seibt allerdings seine Aussage zum Verhältnis der Brüder durch eine wesentliche Komponente: „Dynastische Solidarität prägte Karls Politik, [...]. Sie schloß den jüngeren Bruder nicht aus. Die dynastische Solidarität fügte sie beide vielmehr zusammen.”606 602 Kohler 2003, 52. 603 Daß dieses Ferdinand oft schwer gefallen ist, hat er später, am 8. Dezember 1528, seinem Bruder zu verstehen gegeben. Er beauftragte seine Vertreter beim Kaiser, Karl daran zu erinnern, welche Ergebenheit, Liebe und Demut er ihm stets erwiesen habe, vor allem, als er den Anordnungen des Bruders gehorchte und Spanien verließ (Sutter 1971, 28* f.). Ein Hinweis auf diese Instruktion Ferdinands für seine Gesandten (Wien, HHStA, Spanische Korrespondenz 1, Konvolut 4, fol. 2r) auch bei Spielman/Thomas 1984, 32. 604 Sutter 1971, 27*. 605 Seibt 1990, 46. 606 Ebd. 38.

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Definiert man Solidarität als ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung verpflichtet, dann wertet Seibt hier Ferdinands Rolle im Vergleich zu seiner oben zitierten Einschätzung deutlich auf. Wohl nicht zufällig fügen Sutter und Seibt ihre Beurteilungen des Verhältnisses der Brüder chronologisch an der gleichen Stelle ein, nämlich im Anschluß an die Erwähnung der ersten Begegnung in Mojadoz 1517. Was bei beiden Historikern als ein Fazit erscheint, das sie aus der Kenntnis der weiteren Entwicklung, aus etwa vierzig Lebens- und Herrscherjahren der Brüder gezogen haben, deutete sich als künftiges Leitmotiv ihrer Beziehung bereits zu diesem frühen Zeitpunkt an. Die bis hierher referierten Auffassungen von dem Verhältnis zwischen Karl und Ferdinand stammen von deutschen und österreichischen Historikern. Ihre Sicht soll ergänzt werden durch eine höchst interessante Überlegung, die so wohl nur von spanischer Seite angestellt werden konnte. Rodríguez-Salgado versucht ein Bild der „rätselhaften Persönlichkeit“ Ferdinands zu entwerfen. Etliche Charakterzüge, die auch im Verlauf der vorliegenden Untersuchung herausgestellt wurden, werden zunächst bestätigt, dann aber heißt es: „Willensstark und entschlossen strebte er danach, sich in seiner Zeit zu behaupten, Ehre, Ansehen und Besitz zu erwerben; seine Jugendjahre hatten seine Instinkte geschärft und seinen Ehrgeiz verstärkt. Vielleicht glich er in weit größerem Maße als man gemeinhin annimmt seinem raffinierten, kühl kalkulierenden Großvater Ferdinand, dem König von Aragon. War erst Karls anfängliches Mißtrauen verflogen, tat er so, als hätte er es erst gar nicht bemerkt. Bis 1550 war sich Karl völlig sicher, Ferdinand für seine eigenen Pläne benutzen und als Erfüllungsgehilfen verwenden zu können.“607

Abwegig erscheint dieser Gedanke nicht, wenn man sich daran erinnert, daß zeitgenössische Beobachter stets die erstaunliche Ähnlichkeit betont haben, die der „Lieblingsenkel“ mit seinem Großvater hatte.608 Im hier gegebenen Zusammenhang läßt der Interpretationsversuch Rodríguez-Salgados Ferdinands Persönlichkeit und seine Beziehung zu dem älteren Bruder in neuem, ungewohntem Licht erscheinen. Bereits dieses eine Beispiel zeigt, wie unterschiedlich und – im besten Falle – einander ergänzend historische Persönlichkeiten, Beziehungen und Ereignisse sich aus der Perspektive verschiedener Nationen darbieten. Mit dieser an sich banalen Feststellung gelangt man auf ein Terrain, das sich für biographische Untersuchungen zu Karl V. wie zu Ferdinand I. als äußerst schwierig erweist. Wird eine Lebensphase der Brüder behandelt, in der beide als noch nicht ausgereifte, zum Teil noch gelenkte Persönlichkeiten Gegenstand der Recherchen sind, potenzieren sich die Schwierigkeiten gleichsam. Wo die Gründe dafür zu suchen 607 Rodríguez-Salgado 2000, 59 f. 608 Vgl. oben 521.

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sind, ist im Verlauf dieser Untersuchung wiederholt angeklungen, soll hier jedoch noch einmal zusammengefaßt und vertieft werden. Die Suche nach den Ursachen führt zurück in die frühen Kindertage der Brüder, als die „burgundischen“ und die „spanischen“ Geschwister getrennt aufwuchsen, d.h. Karl und Ferdinand als „Söhne derselben Eltern, aber verschiedener Länder“.609 Daraus ergibt sich, daß die ohnehin dürftigen Quellen zu den Kinder- und Jugendjahren der beiden Prinzen stets einseitig ausgerichtet sind. Wird über die jeweils andere Seite berichtet, so werden Informationen aus bestenfalls zweiter Hand gezielt weitergegeben. Obwohl weder Karl noch Ferdinand von ihrer Abkunft her einer „Nation“ zuzurechnen waren, beanspruchten ihre jeweiligen Geburtsländer die Heranwachsenden zunehmend für sich als ihren prince naturel bzw. príncipe natural und sahen in Karl in erster Linie den Nachfolger seines Vaters als Herzog von Burgund, Graf von Flandern, etc., und in Ferdinand den Erben der Katholischen Könige. In diesem Geist und mit der Ausrichtung auf ihre künftige Rolle wurden die Prinzen seit ihrer frühen Kindheit erzogen und gelenkt. Die neue Konstellation, die sich durch die Entscheidungen und Ereignisse der Jahre 1516–1518 ergab, mußte zwangsläufig ihren Niederschlag in den schriftlichen Zeugnissen finden. Trotz der Fülle an Quellen, die seit dem 19. Jahrhundert vor allem zu Karl V., aber auch zu Ferdinand I. entdeckt und erforscht worden sind, bleibt der Bestand, der über die Jugendjahre der Herrscher etwas aussagt, schmal und berücksichtigt jeweils eine Sichtweise. Auf dieser Basis entstanden die biographischen Werke, die hier untersucht wurden. Bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts läßt sich in vielen der Arbeiten die nationale Ausrichtung der Quellen verfolgen, die durch entsprechende Auswahl und Gewichtung noch verstärkt wird. Zu dem Faktum, daß jeder Historiker nur aus der Perspektive seiner eigenen Zeit auf Vergangenes schauen kann, tritt im Falle der Darstellungen und Beurteilungen Karls V. und Ferdinands I. die Einbindung nicht nur der Protagonisten, sondern – und dies gilt besonders für Karl – auch ihrer Biographen in die Nationalgeschichte verschiedener europäischer Länder. Dem kommt zusätzliches Gewicht zu, weil ein erheblicher Teil der untersuchten Werke in einer Epoche stark ausgeprägter Nationalismen entstand. Eine entsprechende Akzentuierung erklärt sich von selbst, wenn man in Betracht zieht, daß unter den Biographen Deutsche, Österreicher (darunter M. de Ferdinandy mit ungarischem Hintergrund), Belgier, Niederländer, Spanier und Amerikaner vertreten sind.610 Die treffenden Worte, mit 609 W. Bauer, zit. bei Sutter 1971, 27*. 610 Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang ein Aufsatzband, der kürzlich in der Reihe „Geschichte in der Epoche Karls V.“ erschienen ist und in dem Forscher aus verschiedenen Ländern, darunter auch aus solchen, die nicht zum Herrschaftsbereich Karls V. gehörten, die Wahrnehmung und Bewertung des Kaisers in der Historiographie ihrer jeweiligen

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denen E. Gossart 1910 die Schwierigkeiten zusammengefaßt hat, die sich einer Aufarbeitung der Regierungsjahre Philipps des Schönen und der frühen Phase der Herrschaft Karls in Spanien entgegenstellen, lassen sich auf die hier behandelte Periode übertragen: „Malgré l’abondance des sources, il reste des points obscurs, soit à cause du manque d’informations suffisantes, soit parce que la passion, l’esprit de parti chez les contemporains, les préventions chez les autres ont dénaturé les intentions et les faits.“611

Eine Passage aus F. v. Bucholtz’ „Geschichte der Regierung Ferdinands I.“ ist geeignet zu veranschaulichen, wie die Sichtweise der eigenen Zeit und die nationale Interessenlage die biographische Arbeit beeinflußten. Mit den folgenden Zeilen zieht Bucholtz die Bilanz aus dem ersten Abschnitt seines umfangreichen Werkes, der „Jugend-Epoche Ferdinands“ überschrieben ist: „Der Erzherzog Ferdinand war auf Anordnung seines Bruders nach Brüssel abgereiset; er verließ das Land worin er aufgewachsen und erzogen war, als achtzehnjähriger Prinz, um es nie wieder zu sehen, dagegen um in einem so vorzüglichen Sinne Deutschland anzugehören und an dessen große Schicksale geknüpft zu seyn. – Carl aber, in den deutschen Niederlanden erzogen, bestieg den Thron jener südlichen Reiche, und wenn ihn gleich die kaiserliche Würde in der Folge mehrmals nach Deutschland rief, so blieb er dennoch der Nation immer einigermaßen fremd, so ernst er auch später die Reichsangelegenheiten nahm.“612

Um diese harmonisierende Darstellung einordnen zu können, bedarf es einiger Erläuterungen zu den Umständen der Entstehung der ersten Biographie Ferdinands. Sie finden sich im letzten Teil von B. Sutters Einführung zum Neudruck des Werkes. Dort heißt es: „Dieses Werk steht im Zusammenhang mit der historisch-konservativen Willensrichtung des Ballhausplatzes. Die Metternichsche Ära maß ja der Geschichtswissenschaft grundsätzlich hohen Wert bei, sie hatte nur den Boden der politischen Neutralität nicht zu verlassen und durfte nicht österreichfeindlich oder revolutionär sein. Metternich wünschte, daß an einer Geschichte Kaiser Karls V. gearbeitet werde, und Leopold von Ranke hat in jungen Jahren reiche Förderung in Wien erfahren. Neben der Biographie Karls V. sollte die Ferdinands I. stehen. Bucholtz hat diese gewaltige Aufgabe übernommen.“613 Nation untersuchen: C. Scott Dixon/Martina Fuchs (Hgg.), The Histories of Charles V. Nationale Perspektiven von Persönlichkeit und Herrschaft, Münster 2006. 611 Gossart 1910, VII. 612 Bucholtz 1831, 81. 613 Sutter 1971, 183*; ebd. 180*–186* weitere wertvolle Hintergrundinformationen mit einer Vita des Franz Bernard Ritter von Bucholtz (1790–1838). Bucholtz enstammte einer reichbegüterten, streng katholischen Familie des Münsterlandes und hatte nach Studien-

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Österreichfeindlich ist Bucholtz’ Resümee mit Sicherheit nicht. Auffällig ist vielmehr, daß der Landesname „Österreich“ überhaupt nicht erwähnt wird, daß aber insgesamt dreimal von Deutschland bzw. den „deutschen Niederlanden“ die Rede ist. Wenn zudem auf die Nation, der Karl immer fremd blieb, Bezug genommen wird, kann damit nur die deutsche gemeint sein. War Karl, selbst wenn er es in seiner Wahlwerbung vom Juni 1519 betont, ein – in den deutschen [!] Niederlanden – geporner und erzogner teutscher?614 Der Teil der Niederlande, in dem Karl aufwuchs, war im Gegensatz zu den nördlichen Provinzen wallonisch, niemals „deutsch“, wenn er auch, zum Burgundischen Reichskreis gehörig, Teil des Reiches war. Aus heutiger Sicht ist es allenfalls gerechtfertigt zu erwähnen, daß „die kaiserliche Würde [Karl] mehrmals nach Deutschland rief“, da sich dessen Aktivitäten im Reich vorwiegend auf das Territorium beschränkten, das heute diesen Namen trägt. „Gehörte“ Ferdinand jemals „Deutschland an“? Wie sein Bruder vor ihm war er Römischer König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – nicht deutscher Kaiser. Bucholtz’ Diktion kommt den Vorstellungen seines Auftraggebers entgegen, spiegelt aber auch seine eigene Sicht wider: Hier offenbart sich die Tendenz, im Zuge der Metternichschen Restaurationsbestrebungen nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf eine großdeutsche Lösung hinzuarbeiten, indem man den zur Zeit Karls und Ferdinands gültigen Begriff einer deutschen Kulturnation wiederbelebte. A. Walther hingegen, einer Epoche sich ständig verschärfender nationaler Gegensätze in Europa angehörig, in der alles auf kriegerische Auseinandersetzungen der Großmächte hinsteuerte, stellte Überlegungen an, ob es nicht besser und segensreicher gewesen wäre, wenn die Teilung des gewaltigen spanischen, burgundischen615 und habsburgischen Erbes anders erfolgt wäre als tatsächlich geschehen: „Wer wollte heute leugnen, daß es wahrscheinlich ein unermeßlicher Segen gewesen wäre, wenn die Hoffnung Ferdinands des Katholischen hätte in Erfüllung gehen können, daß sein zweitgeborener Enkel [...] Herr der spanischen Reiche werde. Dann hätte wohl Karl V. [...] die vielen verbindenden Strebungen und Nöte der Lande vom englischen Kanal bis zu den ungarischen Steppen begreifen und sie zusammenfassen können zu einem lebendig-einheitlichen Körper [...]“616 jahren in Münster und Göttingen Kontakt zu führenden Persönlichkeiten des geistigen und politischen Lebens. Eine Professur für Philosophie in Breslau schlug er aus Abneigung gegen den preußischen Staatsdienst aus. Über etliche Umwege, u.a. über den Deutschen Bundestag, gelangte er in den Dienst der österreichischen Staatskanzlei und wurde noch kurz vor seinem Tode wirklicher k.k. Staatskanzleirat. Historiker in strengem Sinne war Bucholtz nicht. 614 QSKV. 46–48 Nr. 6, hier 47. 615 In Burgund wurde ohnehin an der Primogenitur festgehalten; eine Teilung des Erbes war verboten. 616 Walther 1911, 163.

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Hinter der etwas schwülstigen, verschwommenen Ausdrucksweise Walthers läßt sich die Vermutung erkennen, daß ein von Karl zusammengeschweißtes Imperium, das vom äußersten Nordwesten des europäischen Festlands bis in den Südosten des Kontinents reichen sollte, aufgrund der vielen gemeinsamen Interessen die Zeiten überdauert hätte und als festgefügtes Zentrum für alle nationalistischen, imperialistischen, nach Hegemonie strebenden Kräfte von außen unangreifbar gewesen wäre. Das sind vom Wunschdenken geleitete Spekulationen eines Historikers in einer Zeit, als der Friede in Europa auf das Äußerste bedroht war. Allerdings hätte Walther nicht übersehen dürfen, daß Karls Imperium ein Vielvölkerstaat gewesen wäre und daß gerade in seiner eigenen Zeit die zentrifugalen nationalen Bestrebungen in dem Teil Europas, der sich zum Teil mit dem von ihm gedachten Reich deckte, nennen wir ihn kurz die Donaumonarchie, nur mit Mühe und unter Blutvergießen unterdrückt wurden. Sechzig Jahre später stellte B. Sutter die Frage, ob es für Spanien nicht besser gewesen wäre, „wenn es unter dem jüngeren der beiden Brüder seinen Weg hätte gehen können, ohne daß es in die Universalmonarchie Karls eingefügt und der imperialen Idee dienstbar gemacht worden wäre.“617 Während Walther die Sorge um die Entwicklung in Mitteleuropa zu seinen Überlegungen veranlaßte und er auf mögliche Folgen nicht einging, die die von ihm bevorzugte Lösung der Erbfrage für Spanien u.U. gehabt hätte, beschränkte sich Sutter darauf, die bis heute in der spanischen Geschichtsschreibung divergierenden Auffassungen vorzustellen.618 Folgende zwei Hauptrichtungen stehen einander dabei gegenüber: Die einen betrachten Karls weltumspannendes Kaisertum als Grundlage höchster spanischer Machtentfaltung und kultureller Geltung weit über die Iberische Halbinsel hinaus, während die anderen betonen, daß unter Karls Herrschaft Spaniens nationale Kräfte bis zur Erschöpfung fremden dynastischen Interessen geopfert wurden, so daß das Land seinen Platz unter den Führungsmächten Europas für immer verlor. Zum Schaden Spaniens, so argumentieren die Vertreter dieser Richtung, habe Karl die Politik der Katholischen Könige nicht fortgesetzt, die das Land im Innern zu reformieren und zu einem modernen Staatswesen umzugestalten begonnen hatten. Den Vertretern dieser Auffassung hält Sutter die Verdienste Karls um die Einigung Spaniens entgegen, „[...] daß nämlich die beiden Königreiche Kastilien und Aragón erst durch die von Karl gestellten universalen Aufgaben über ihr eigenwilliges, separatistisches Traditionsbewußtsein hinausgewachsen und in die spanische Einheit hineingewachsen sind.“619 617 Sutter 1971, 24*. 618 Sutter folgt hier nach eigenen Angaben St. Skalweit. 619 Sutter 1971, 24*.

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Vielleicht hätte er noch hinzufügen sollen, daß Karl zumindest in diesem Punkt konsequent auf dem von Isabella und Ferdinand eingeschlagenen Weg fortschritt und vollendete, was die Katholischen Könige mit der Matrimonialunion ihrer Reiche vorbereitet hatten. In nuce bringen die beiden konträren Richtungen spanischer Geschichtsinterpretation zum Ausdruck, daß die Vertreter der einen Seite Karl bei aller Universalität seines Wirkens als einen der Ihren schätzen, während die anderen darauf beharren, in ihm den Exponenten einer fremden Dynastie zu sehen.620 Ob letztere eine Vorstellung davon entwickelt haben, wie die Entwicklung Spaniens verlaufen wäre, wenn Ferdinand das Erbe der Katholischen Könige angetreten hätte, läßt Sutter offen. Abgesehen von diesen Einzelfällen, in denen noch nach einem halben Jahrtausend mit dem Verlauf der Geschichte gehadert wird, hat sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend ein grenzüberschreitender Blick auf die beiden Brüder aufgetan: Die europäische Dimension ihrer familiären Bindungen und dynastischen Verflechtungen, ihrer Lebenswege und Herrschaftsbereiche hat die Nationalitätenfrage weitgehend in den Hintergrund gerückt. Von Karl heißt es, daß er als Burgunder geboren wurde und als Spanier starb; dazwischen war er Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen (Kultur-) Nation er trotz aller wortreichen Beteuerungen nie angehörte. Für Ferdinand ist auf den vorhergehenden Seiten gezeigt worden, wie er vom Spanier zum Burgunder mutierte. In Österreich wurde er „zum eigentlichen Schöpfer und Träger einer österreichischen Gesamtstaatsidee – und nach spanischem Vorbild – einer eigenen ‹nationalen› österreichischen Entwicklung.“621 – „Man sollte in Ferdinand einen Europäer sehen,“ postuliert Alfred Kohler.622 Das Gleiche gilt, jenseits aller Versuche nationaler Einvernahme, für Karl.

620 Soweit man es mit gebotener Vorsicht in Kenntnis nur einer Arbeit der Historikerin beurteilen kann, scheint Rodríguez-Salgado dieser Auffassung zuzuneigen. 621 Sutter 1971, 29*. 622 2003, 18.

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Resümee und plus ultra Mit der vorliegenden Untersuchung verfolge ich zwei Ziele: zum einen die Jugendjahre Karls V. zwischen 1500 und 1520, die in den umfassenden Lebensbeschreibungen des Kaisers eher summarisch behandelt werden, biographisch zu erschließen; zum anderen die These zu belegen, daß das Milieu, in dem der Prinz aufwuchs, die Erziehung, die ihm zuteil wurde, und die Menschen, die ihn begleiteten, wesentlich zur Ausbildung von Zügen und Auffassungen beitrugen, die Karl zu einem „Fremdling in seiner Zeit“1 und zum „letzten Kaiser des Mittelalters“2 werden ließen. Diesem Epitheton spreche ich allerdings volle Berechtigung nur für die frühen Herrscherjahre Karls V. (bis etwa 1530) zu. In jenem Jahr starben mit Margarete von Österreich und Mercurino Gattinara die beiden letzten starken Persönlichkeiten, die Karl bis in die frühen Jahre seines Kaisertums begleitet und gelenkt hatten. Damit endete für den Kaiser ein Lebensabschnitt. Er mußte sich mit neuen Gegebenheiten auseinandersetzen und suchte fortan seinen Weg allein. Dabei traten die Leitmotive seiner Jugend zurück, gingen aber nicht verloren. Am Ende meiner Arbeit soll daher nicht nur ein Resümee der Forschungsergebnisse zu den frühen Jahren des Kaisers stehen, sondern dies soll ergänzt werden – plvs vltra – durch Ausblicke auf einige Momente seiner späteren Jahre, in denen Karl als der „letzte Kaiser des Mittelalters“ erscheint, und zwar explizit auf solche, in denen die Prägung durch das burgundische Milieu, durch seine Erziehung und Wegbegleiter evident ist. In der Einleitung habe ich ausdrücklich betont, daß ich die seit Jahrzehnten andauernde Diskussion um die „Epochenfrage“ nicht fortsetzen würde, da ein Aufgreifen dieser komplexen Materie den hier gesetzten Rahmen sprengen müßte. Wenn es an dieser Stelle darum geht, die Verwurzelung Karls V. im Mittelalter resümierend darzustellen, ist es jedoch angezeigt, die derzeit vorherrschenden Auffassungen zu referieren. Die Tendenz geht eindeutig zur Postulierung von „Großepochen“, deren Grenzen je nach Standort der Forscher und nach der Disziplin, in der ihr Schwerpunkt liegt, erheblich differieren.3 Die hier relevante Großepo1 2

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Walther 1911, 212. So der Untertitel der Biographie Rassows (1963). Im folgenden wird durch einige Beispiele zu belegen sein, daß diese Zuordnung Karls V. zu den Herrschern des Mittelalters, die Rassow vor über einem halben Jahrhundert vornahm, ihre Verfechter auch unter jüngeren Historikern hat. Die Teilnehmer des Kolloquiums „Epochenschwelle und Epochenbewußtsein“ (1983) haben sich bemüht, in ihren Beiträgen die „ausschließliche Bindung einer nur heuristisch wertvollen Epochennomenklatur an den Standort des Historikers zu vermeiden“ (Herzog/ Koselleck 1987, VII). Die Beiträge der Kongreßteilnehmer lassen bei allem Streben nach

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che, in der Spätmittelalter und Frühe Neuzeit zusammengesehen werden, faßt, soweit ich sehe, H. Schilling am weitesten, indem er sie zwischen 1250 und 1750 ansetzt,4 während sich für E. Hassinger dieselbe Großepoche lediglich zwischen 1300 und 1600 erstreckt.5 Bei aller Neuorientierung hat man an der Trias der Begriffe Altertum, Mittelalter, Neuzeit festgehalten, wie sie Christoph Cellarius zwischen 1685 und 1696 nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges in seiner Historia Universalis in dem Bewußtsein formulierte, einen Neuanfang, den Anbruch einer „neuen Zeit“ zu erleben.6 Allerdings ergab sich im 19. Jahrhundert durch den außerordentlichen Zuwachs an Quellen und Erkenntnissen die Notwendigkeit, den Bedürfnissen von Forschung und Lehre nachzukommen und eine Feinstrukturierung der Epochen einzuführen, d.h. zunächst zwischen Früh-, Hoch- und Spätmittelalter zu unterscheiden. Um 1890 „entdeckte“ Alois Riegl die Spätantike, während sich der Begriff „Frühe Neuzeit“ erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Charakteristisch für die Neuansätze in der Frage der Periodisierung ist das Zurücktreten starrer Epochengrenzen hinter der an sich banalen Erkenntnis, daß Geschichte ein fortlaufender Prozeß des Wandels ist. Jedoch läßt sich nicht bestreiten, daß sich in der geschichtlichen Entwicklung Zäsuren feststellen lassen, die durch ein „epochales“ Ereignis oder durch die Ballung derartiger Ereignisse markiert sind, auch wenn deren Bedeutung von den Zeitgenossen zunächst meistens nicht wahrgenommen wird. Ernst Schulin geht in der Einleitung zu seiner Karlsbiographie auf die grundsätzlichen Probleme einer Periodisierung ein und speziell auf die Frage, wo in diesem System Karl V. seinen Platz hat.7 Dabei erkennt er – trotz einiger Einschränkungen – eine sehr wichtige Zäsur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, eben an dem Zeitpunkt, der nach traditioneller Auffassung den Beginn der Neuzeit bezeichnete und der mit Karls Geburtsjahr 1500 zusammenfällt. Da Schulin die Geschichte des „übergroßen Wirkungsbereichs“ des Kaisers schreibt,

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Gemeinsamkeiten deutlich werden, daß selbst in den Ländern „Alteuropas“ (so der in den 1960er Jahren von Otto Brunner wiederbelebte Terminus Jacob Burckhardts) „die Uhren verschieden gingen“ und daß sich z.B. Wandel im politischen oder sozialen Bereich keineswegs zeitgleich mit neuen Ansätzen in Kunst und Literatur vollziehen mußte. Schilling 1999. Im Jahre 1250 begann mit dem Tod Friedrichs II. die „kaiserlose, die schreckliche Zeit“ (F. Schiller); 1750 entwarf Montesquieu mit seiner Schrift De l’esprit des lois das Konzept einer Staatsform, die auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht und die sich in der politischen Realität in einer konstitutionellen Monarchie verwirklichen ließ. Hassinger 1966. Mit der von ihm erkannten diversitas temporum und der Schaffung einer bis heute gebräuchlichen Nomenklatur lieferte Cellarius einen der seltenen Belege für „subjektives Epochenbewußtsein“, wie es zuvor für Francesco Petrarca und Ulrich von Hutten bezeugt ist. Vgl. zu diesen Fragen Graus 1987; Schreiner 1987; Stierle 1987. Schulin 1999, 1–11.

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tritt, wenn man ihn einer Epoche zuordnen will, zu der zeitlichen die räumliche Dimension hinzu. Karl herrschte über ein Weltreich, in dessen Teilen „die Uhren verschieden gingen“, die – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – unterschiedliche Phasen ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung durchliefen. So konstatiert Schulin: „Durch diesen Wirkungsbereich war Karl V. mit allen wesentlichen neuen Fragen seiner Zeit zentral, in verantwortlicher Weise verbunden wie keiner seiner Zeitgenossen, auch mit den neuen Erscheinungen, die unter sich nicht verbunden waren wie die Entdeckungen und die Reformation.“8

Diese Feststellung führt auch Schulin unweigerlich auf die Frage, ob Karl V. unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten noch der „letzte Kaiser des Mittelalters“ genannt werden könne. Meine These sehe ich davon nicht berührt, denn Schulins zitierte Aussage trifft in erster Linie auf die Zeit nach der Zäsur von 1530 zu, als von dem Kaiser in nunmehr alleiniger Verantwortung richtungsweisende Entscheidungen zu Fragen und Problemen erwartet wurden, die ihm ebenso neu waren wie den meisten Zeitgenossen und auf die er nicht vorbereitet war: Selbst der Lösung der „Lutherfrage“ hatte er sich mit seiner langen Abwesenheit vom Reich und seiner Konzentration auf Spanien nach 1522 weitgehend entzogen. Da Schulin einräumen muß, daß Karl „zu den Problemen und Erscheinungen »dieses entscheidenden Zeitalters« [R. Tyler] zumindest distanziert, wenn nicht ablehnend und bekämpfend [stand]“,9 sehe ich darin eine gewisse, wenn auch indirekte Bestätigung meiner These. Nach diesem Hinweis zur Epochenfrage, die Karl V. vermutlich sehr fremd gewesen wäre, soll nun zunächst ein Fazit gezogen werden aus den Untersuchungen zur Jugend und Erziehung Karls V., wie sie im Hauptteil dieser Arbeit dargelegt sind. Folgende Punkte sind festzuhalten: (1.) Entgegen der vielfach geäußerten Ansicht, daß über die frühen Jahre des Kaisers wenig bekannt sei, konnte aus einer Vielzahl von weitverstreuten Quellen eine außerordentliche Fülle an Detailinformationen zu den ersten beiden Lebensjahrzehnten Karls zusammengetragen werden. Die Recherchen förderten konkrete Fakten zutage, die in ihrer Gesamtheit ein aufschlußreiches Bild von der formalen Erziehung des Prinzen, von seiner Entwicklung, von dem Milieu, in dem er aufwuchs, und von den Persönlichkeiten seines engsten Umfeldes ergeben. (2.) Diese Informationen beziehen sich für die Kinderjahre des Prinzen mehrheitlich auf seinen Alltag und Unterricht, während sie für den Heranwachsenden und 8 9

Schulin 1999, 3 f. Ebd. 4.

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den mündigen jungen Fürsten vorwiegend herausragende Ereignisse betreffen, bei denen ihm eine bedeutende Rolle zukam. (3.) Die unterschiedliche Provenienz der Quellen und die vielfach divergierenden Interpretationen und Bewertungen zahlreicher Fakten durch spätere Historiker ermöglichten die Betrachtung von Entwicklungen, Ereignissen und Handlungen aus verschiedenen Blickwinkeln und unter mehreren Gesichtspunkten. Die Berücksichtigung möglichst vieler Perspektiven zieht einerseits einen Gewinn an kritischer Distanz nach sich, verleiht aber andererseits dem gewonnenen Bild eine zusätzliche Tiefendimension. (4.) Trotz der Auswertung zahlreicher Quellen lassen sich für die infantia und die pueritia des Prinzen nur wenige Momente festhalten, in denen seine blasse, zarte Gestalt wirklich Leben annimmt. Erst mit Beginn der adulescentia, kurz vor seiner Emanzipation, tritt Karl stärker hervor und gewinnt allmählich an Profil. Während er sich auch nach der Annahme des spanischen Königstitels im politischen Bereich noch weitgehend der Lenkung durch seine Räte überließ, griff er als Handelnder zuerst bei dynastischen Entscheidungen ein. (5.) Die Kritik an Karls Erziehung, die schon zeitgenössische Beobachter und Chronisten äußerten und die von späteren Biographen des Kaisers noch zugespitzt wurde, ist auf ihre Stichhaltigkeit überprüft und, soweit sie die häufig monierten Defizite Karls an formaler Bildung betrifft, für berechtigt befunden worden. Mangelnde Kenntnis von Fremdsprachen und der Gegebenheiten der Länder, die Karl künftig regieren sollte, stellten vor allem beim Herrschaftsantritt des Königs in Spanien zusätzliche Erschwernisse in den Jahren dar, als er um Anerkennung und Durchsetzung ringen mußte. Da man am burgundischen Hof sehr wohl um die Vorbehalte wußte, die Philipp dem Schönen als dem Landfremden in Spanien entgegengebracht worden waren, weil er weder das Spanische beherrschte noch mit den Sitten und Gesetzen des Landes vertraut war, hätte man dafür Sorge tragen müssen, daß sein ältester Sohn als möglicher Erbe der spanischen Reiche rechtzeitig in die Sprache und Kultur seines „Mutterlandes“ eingeführt wurde. Daß dies nicht geschah, war ein schweres Versäumnis. Das Wissen um die Veränderungen, die das Bild der Welt durch die Entdeckungs- und Forschungsreisen der Spanier und Portugiesen an der Schwelle zur Neuzeit erfuhr, konnten Karls Lehrer ihrem Zögling nicht vermitteln. Es wäre vor allem Chièvres’ Aufgabe gewesen, den präsumtiven Erben der spanischen Reiche mit den Erkenntnissen bekanntzumachen, die aus den Expeditionen und Besitznahmen gewonnen wurden. Dies geschah offenbar nicht, und darin zeigt sich die Begrenztheit des Horizonts des burgundischen Adligen: Chièvres sah die Welt ausschließlich aus burgundischer Perspektive, für ihn lag selbst Spanien an der Peripherie. Die „Neue Welt“ war für ihn wie für die überwiegende Mehrheit

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seiner Standesgenossen nichts anderes als ein Hort unermeßlicher Reichtümer, derer man sich bedenkenlos bedienen konnte, wie es während des ersten Spanienaufenthalts des jungen Königs und seiner flamencos geschah. Karl übernahm diese Einstellung gegenüber seinen überseeischen Besitzungen von seinem premier chambellan und engsten Vertrauten in der Anfangsphase seiner spanischen Herrschaft. Erst im Laufe seiner Hispanisación entwickelte er mit spanischen Beratern zunächst eine politische Ordnung für die Nuevas Indias und erließ unter dem Eindruck der Schriften des Dominikaners Bartolomé de las Casas Gesetze zum Schutze der Indianer. Aus der Ferne waren diese Maßnahmen kaum zu kontrollieren und setzten der Ausbeutung der eroberten Gebiete und der indigenen Bevölkerung kein Ende. Karl tat hinsichtlich seiner überseeischen Besitzungen seine Pflicht, sie blieben ihm aber zeitlebens fremd. (6.) Es war jedoch wohl kaum die Tatsache, daß Karl seinem Wissensstand nach nicht auf der Höhe seiner Zeit war, die Rassow veranlaßte, ihn als „letzten Kaiser des Mittelalters“ zu bezeichnen, sondern vielmehr die Erkenntnis, daß Karl, in besonderem Maße „die Züge des Zeitalters weitertrug, aus dem er hervorgegangen war“ (J. Burckhardt). Diese Position vertritt auch der englische Historiker Geoffrey R. Elton sehr prononciert: „[Karl V.] sah sich bewußt als Erbe Karls des Großen [...], als weltlichen Herrscher der geeinten Christenheit, Gottes Hirte an der Seite des Papstes, dessen geistliche Macht zu verteidigen er sich verpflichtet fühlte. [...] Karl V. war zweifellos der letzte mittelalterliche Kaiser, ein Rückfall in eine frühere Zeit, und befähigt, seine Rolle nur auf Grund der Macht seines dynastischen Reiches zu spielen.“10

Es ist bemerkenswert, daß der in dieser Arbeit häufiger genannte renommierte spanische Historiker M. Fernández Álvarez ebenfalls Rassows Auffassung teilt und in Karl V. den letzten Kaiser des Mittelalters sieht. E. Laubach hat ihn in seinem Aufsatz zu „Politik und Selbstverständnis Kaiser Ferdinands I.“ zitiert: „Den Übergang des Kaisertums von Karl V. auf Ferdinand I. hat der spanische Historiker Manuel Fernández Álvarez gleichsam als sichtbares Zeichen für die Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit gedeutet mit dem Satz: ‚Por eso él [Carlos] es el último Emperador medieval, como Fernando, su hermano, sería el primer César de la Edad Moderna‘.“11

10 Elton 1982, 33. 11 Laubach 2003, 123 (Zitat aus M. Fernández Álvarez, Politica mundial de Carlos V y Felipe II, Madrid 1966, 136).

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Ähnlich äußern sich A. Schindling und W. Ziegler in ihrer grundlegenden Einleitung zum Sammelband „Die Kaiser der Neuzeit“, wenn sie Ferdinand I. als den „Gründer des neuzeitlichen deutschen Kaisertums“ bezeichnen.12 Wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen löste sich Karl nur sehr langsam und nie völlig von traditionellen Denkweisen, überkommenen politischen Konzepten und religiösen Überzeugungen. Bei der nötigen Zurückhaltung hinsichtlich aller Aussagen über die verschlossene Natur Karls darf man behaupten, daß er wenig flexibel in seinen Ansichten war und sich daher die umwälzenden Ideen, die neuen Leitbilder und Ideale nicht zu eigen machte, die in der geistig unruhigen Schwellenzeit vieles bisher Gültige in Frage stellten und nahezu alle Lebensbereiche zu durchdringen begannen. Karl hielt an den Überzeugungen fest, die ihm von Jugend an vertraut waren, die seine Sicht von einer gottgewollten Ordnung der Welt, seiner Stellung darin und seinen persönlichen Wertekanon einschlossen und die ihm in ihrer scheinbaren Stabilität den nötigen Rückhalt verliehen, damit er den Herausforderungen seines Herrscherdaseins begegnen konnte. Auch als reifer Mann gehörte der Kaiser nicht zu denjenigen, die sich den herausragenden Vordenkern und Neuerern anschlossen. Ansätzen zu Veränderungen begegnete er eher mit Mißtrauen und versuchte sie im Keim zu ersticken.13 Die in Karl offenbar angelegte Neigung zum Beharren auf dem Althergebrachten wurde bestärkt und verstärkt durch den Einfluß seiner konservativen Erzieher und das Milieu des Mechelner Hofes, das während der frühen Jahre des Prinzen noch ganz im Zeichen der burgundischen Tradition stand.14 Die Ideen und Leitbilder, die das geistige Klima dieses Umfeldes bestimmten, wirkten mehr als ein Jahrzehnt auf den jungen Karl ein. Ungleich schwerer zu fassen als die Abläufe seiner formalen Erziehung und nur selten an konkreten Begebenheiten festzumachen, vollzog sich die Lenkung und Beeinflussung des Prinzen durch seine Erzieher und seine Tante Margarete von Österreich, die ihm im täglichen Umgang, im vertrauten Gespräch, in ihren Handlungen und mit ihrer Lebensform das geistige, politische und kulturelle Erbe einer ausgehenden Epoche weitergaben in dem Glauben, damit den Prinzen auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten. 12 Schindling/Ziegler 1990, 23. 13 Vgl. das Zitat von E. Schulin (oben 590). 14 Erst nach 1515, als Margarete von Österreich von ihren Aufgaben als Vormund und zeitweise auch von der Regentschaft entbunden war, hielten besonders mit den niederländischen Humanisten und neulateinischen Dichtern neue geistige Strömungen in Mecheln Einzug; vgl. oben 48 f. m. Anm. 104; 423 f. Dies waren auch die Jahre, in denen der junge Ferdinand der Lenkung durch Margarete anvertraut war. Geistig beweglicher als sein Bruder und durch seine wechselvollen Jugendjahre weniger auf Traditionen festgelegt, war er offener für neue Gedanken und bereit, sich damit auseinanderzusetzen, wie schon seine Beschäftigung mit der Institutio des Erasmus beweist.

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Karls Erzieher und auch Margarete gehörten wie er selbst den Generationen an, in deren Lebenszeit sich ein neues Zeitalter anbahnte. Sie mögen Veränderungen registriert haben, waren aber zu tief im Bewährten und in der jahrhundertealten Tradition verwurzelt, um in den neuzeitlichen Phänomenen etwas anderes als ephemere Erscheinungen zu sehen. Mit ihrem unbeirrten Festhalten an überkommenen Werten und Maßstäben, an denen sich ihr politisches Handeln ebenso orientierte wie die tägliche Lebensführung, übten sie einen weitaus stärkeren Einfluß auf ihren Neffen und Zögling aus, als es jeder noch so vollkommene Unterricht vermocht hätte, und sie legten die Keime zu einer Entwicklung, die aus „Karl von Gent“ den „letzten Kaiser des Mittelalters“ machte. (7.) Früh erfuhr das Kind Karl, daß das „Haus“ und Burgund die höchsten Werte darstellten, die es zu bewahren und deren Interessen es notfalls zu verteidigen galt. Auch wenn der Prinz die ersten Versuche des Vaters und des Großvaters, ihn bereits im zartesten Alter in ihre politisch-dynastischen Konzepte einzuplanen, noch nicht wahrnahm, wurde dem heranwachsenden Knaben bald bewußt, daß das „Haus“ für ihn als dessen künftiges Haupt in erster Linie harte Pflicht bedeutete, hinter der mögliche eigene Wünsche zurückzustehen hatten. Burgundisch und für Burgund, nicht spanisch sollte Karl von Anfang an erzogen werden: so hatte es sein Vater verfügt und Vertreter des alten Adels, Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, wie es deren Privilegien entsprach, als erste Gouverneure seiner burgundischen Kinder eingesetzt. 1501 betraute er zudem Margarete von York, die Witwe Karls des Kühnen, mit der Oberaufsicht über den Wiegenhaushalt. Madame la Grande mag ihrem Stief-Urenkel von den Heldentaten ihres Gemahls und von dem Glanz des alten Herzogtums Burgund erzählt haben, wie einige Autoren vermuten;15 ob Karl jedoch diese Bemühungen, das Andenken an vergangene Größe wachzuhalten, verstand, ist zu bezweifeln. Immerhin war er noch nicht vier Jahre alt, als 1503 Margarete von York 57jährig verstarb. So ist Poensgen keineswegs beizupflichten, der den Einfluß der Urgroßmutter auf die Entwicklung von Karls Verhältnis zu Burgund eindeutig überbewertet: „In den für die Entwicklung der menschlichen Psyche ausschlaggebenden drei ersten Lebensjahren wurde er von seiner Urgroßmutter, der Witwe Karls des Kühnen, betreut. Die Rückgewinnung des Herzogtums Burgund, das dieser in der für ihn tödlichen Schlacht bei Nancy verloren hatte, bedeutete dem „Kind von Gent“ schon in zartestem Alter eine heilige, unabdingbare Verpflichtung.“16

Wenn Karl sehr früh diese „heilige Verpflichtung zur Rückeroberung Burgunds“ als vordringlichster Auftrag für ihn als Herzog von Burgund immer wieder bewußt 15 Einflüsse Margaretes von York auf die frühkindliche Erziehung Karls glauben Tyler 1959, 27 und Ferdinandy 1966, 111 zu erkennen. 16 Poensgen 1960, 174.

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gemacht wurde, so geschah dies durch Margarete von Österreich, deren Haltung gegenüber dem französischen Königshaus von tiefem Mißtrauen und Feindseligkeit bestimmt war – eine Folge der nie verwundenen französischen Annexion Burgunds, des mütterlichen Erbteils, sowie der Erinnerung an ihre eigene, als Schande empfundene Zurückweisung als petite reine. Karl machte sich den „burgundischen Traum“ Margaretes zu eigen. Eine deutliche, zusätzliche Stärkung erfuhr das burgundische Element in Karls Erziehung, als 1509 Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, das Amt des Gouverneurs und adligen Erziehers des Prinzen übernahm. Chièvres, der als Sohn einer der bedeutendsten Adelsfamilien in der feudalen Ordnung aufgewachsen und zum Ritter erzogen worden war, der als Chevalier des Ordens vom Goldenen Vlies der höchsten Ehre teilhaftig war, die Burgund verleihen konnte, verkörperte den burgundischen Edelmann schlechthin und mußte daher besonders geeignet erscheinen, den Prinzen nicht nur zum Herzog von Burgund zu erziehen, sondern ihn auch auf seine künftige Stellung als Ordenssouverän vorzubereiten, ihn also mit der Geschichte und den Statuten dieses weltlichen Ritterordens bekanntzumachen und ihm dessen Ziele und Ideale nahezubringen. Über diesen Aspekt von Karls Erziehung sagen die Quellen wenig mehr aus, als daß der Geschichte Burgunds und seiner Adelsgeschlechter samt ihren Privilegien sowie der Heraldik viel Gewicht beigemessen wurde. Auf die für einen Chevalier unerläßliche Ausbildung in den ritterlichen Sportarten, denen sich Karl mit Vorliebe widmete, ist ausführlich eingegangen worden. Daß der Orden ausgesprochen religiöse Grundzüge hatte, die in den Statuten, Eiden und Zeremonien sichtbar werden, wird oft übersehen bzw. tritt hinter dem Image des glänzenden „Ritters ohne Furcht und Tadel“ zurück.17 Eindeutig formuliert und beherrschend sind sie jedoch in einer Ordonnanz des Ordensstifters, Philipps des Guten, in der der Herzog 1430 – ein Jahr, nachdem er den Orden ins Leben gerufen hatte – die Motive präzisierte, die ihn zur Gründung dieser elitären Vereinigung veranlaßt hatten, und die hohen Ziele, denen sie dienen sollte: A tous présens, à venir, savoir faisons, qu’à cause du grand et parfait amour que nous avons pour le noble état de chevalerie, dont, par notre ardente et singulière affection nous désirons accroître l’honneur, afin que par son moyen, la vraie foi catholique, l’état de notre 17 Vgl. Huizinga 1975, 113 zur Verwandtschaft des Vliesordens mit geistlichen Orden: „Daß in der Tat dem Wort »ordre« in der Bedeutung »Ritterorden« noch etwas von geistlichem Werte anhaftete, geht aus der Tatsache hervor, daß man auch das Wort »religion« dafür verwendete, das doch, wie man meinen könnte, nur auf die Klosterorden beschränkt sei. Chastellain nennt das goldene Vlies »une religion«, als wäre es ein Mönchsorden, und spricht davon stets wie von einem heiligen Mysterium. [...] Im ganzen Ritual des Ordens nehmen Kirchgang und Messe den weitesten Raum ein: die Ritter sitzen in Chorgestühlen, und die Gedächtnisfeier für verstorbene Mitglieder wird in strengstem kirchlichen Stil begangen.“

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sainte mère l’Église [...] soient autant qu’ils peuvent l’être défendus, gardés et conservés; nous, pour la gloire et la louange du Créateur, pour la vénération de la glorieuse Vierge sa mère, pour l’honneur de Monseigneur Saint André, pour l’exaltation de la foi et de la Sainte Église, pour l’excitation aux vertus et aux bonnes mœurs [...] avons institué, creé et ordonné un ordre et confrérie de chevalerie et d’association amicale d’un certain nombre de chevaliers, que nous avons voulu appeler du nom de la Toison d’or conquise par Jason.18

Mit der Gründung des Ordens hatte Philipp der Gute die Hoffnung verbunden, die Edelsten seines Herzogtums für einen Kreuzzug zu gewinnen, um dem weiteren Vordringen der Türken Einhalt zu gebieten.19 Für Karl war gerade dieses religiöse Fundament des Ordens zeitlebens von großer Bedeutung: Durch sein Gelübde als Ordensritter, ab 1516 als Souverän des Vliesordens,20 wie durch seine feierlichen Eide anläßlich seiner Inauguration als Herzog von Burgund, als Römischer König und schließlich als Kaiser war er in besonderem Maße zum Schutze des Glaubens und der Kirche verpflichtet. Durch die frühe Einführung in die Wertvorstellungen und Ziele des Vliesordens könnte Karl zu den Kreuzzugsplänen angeregt worden sein, die er über lange Jahre hegte – eine Konsequenz, die sein nüchtern denkender Gouverneur nicht vorhersehen konnte. Ob der Heranwachsende Kenntnis davon hatte, daß sein Großvater Maximilian von Zeit zu Zeit die Absicht äußerte, einen Kreuzzug zu führen, ist ungewiß. Mit Sicherheit wurde der Kreuzzugsgedanke, der in seiner ursprünglichen Form bereits zur Zeit Philipps des Guten ein Anachronismus war, neu belebt durch die wachsende Bedrohung, die von dem Osmanischen Reich ausging. 1535 brach Karl zu seiner Strafexpedition gegen die von den Türken unterstützten Korsaren von Tunis auf. Als Kaiser und oberster Schutzherr der Kirche und der Christenheit wie als Souverän des Vliesordens betrachtete er dieses Unternehmen durchaus als Kreuzzug gegen die Ungläubigen und als heilige Verpflichtung, Europa vor dem Vordringen des Islam zu bewahren. Dem Sieger von Tunis als dem Kreuzfahrer galt denn auch der triumphale Empfang, den ihm Papst Paul III. in Rom bereitete. Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß Karl auch als König von Spanien gegen Tunis zog, um dem Piratenwesen ein Ende zu setzen, das von Nordafrika aus den 18 Kervyn de Lettenhove 1907, 7. 19 Ebd. 10. 20 Die feierliche Einsetzung Karls als fünfter Ordenssouverän fand am 25. Oktober 1516 im großen Ständesaal zu Brüssel in Gegenwart des kaiserlichen, des englischen und des französischen Gesandten statt (vgl. Kalff 1963, 29). Schon 1516, bei dem ersten Kapitel unter Karls Leitung, wurde Franz I. von Frankreich in den Orden aufgenommen: „dadurch sollte anläßlich des Vertragsschlusses zu Noyon [...] das wiederhergestellte Freundschaftsverhältnis dokumentiert werden. Das hinderte ihn aber nicht daran, in den folgenden Jahrzehnten im Chef und Souverän des Ordens seinen politischen Gegner zu sehen.“ (Weber 1971, 19).

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westlichen Mittelmeerraum kontrollierte und damit vitale Interessen Spaniens bedrohte: den Handel und die Verbindungswege zu den Besitzungen in Unteritalien und Sizilien. In ihrer doppelten Motivation ist die Tunis-Expedition somit dem Oran-Unternehmen des Ximénes vergleichbar.21 Die Vorbereitung des Prinzen auf seine Rolle als Souverän des Vliesordens ist als gleichsam ordensinterne Angelegenheit nur so weit belegt, als sie sich mit der formalen Erziehung des künftigen Herzogs deckte. Als adliger Erzieher gab Chièvres den Bildungs- und Wertekanon weiter, der ihn selbst ein halbes Jahrhundert lang geleitet hatte und an dessen Beständigkeit er offenbar nicht zweifelte. Doch das politisch-gesellschaftliche System, aus dem Karls Gouverneur hervorgegangen war, die feudale Ordnung, in der er seine Erfahrungen gesammelt hatte und die auf einem persönlichen Treueverhältnis zum Herrscher beruhte, war in Auflösung begriffen. Ferner hatte der Ritterstand seine militärische Bedeutung und damit seine ökonomische Basis weitgehend verloren. Das Idealbild des Ritters, in dem sich Mut, Tapferkeit und Ehre mit christlichen Tugenden und höfischer Lebensart verbanden, hatte seinen Glanz eingebüßt und lebte nur noch in den Helden der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ritterromane fort, die den jungen Karl faszinierten und denen der Knabe nachzueifern bestrebt war.22 Die Zeit war über die Grundlagen hinweggegangen, auf denen Karls burgundische Erziehung aufbaute, und ihr Ergebnis erwies sich nur so lange als tragfähig, wie der Herzog nach seiner Emanzipation in den konservativen Niederlanden blieb, wo die alten Wertmaßstäbe ihre Gültigkeit noch bewahrt hatten und man dem prince naturel mit Freude und Wohlwollen begegnete, wo sich Fürst und Volk während der Inaugurationsreisen gegenseitig durch Eide ihrer Loyalität versicherten, wie es in der feudalen Ordnung seit altersher Brauch war. Es ist wohl nicht abwegig, eine der Wurzeln von Karls „Reisekaisertum“, das immer dann erwähnt wird, wenn von den mittelalterlichen Formen seiner Herrschaftsausübung die Rede ist, in dem burgundischen Brauch der Antrittsreisen zu sehen: Eine persönliche Bindung jedes Einzelnen an den Landesherrn, wie sie sich in den Territorien von den kleinen Dimensionen seines Geburtslandes erhalten hatte, konnte es im großen europäischen Herrschaftsbereich des Kaisers nicht mehr geben. Karl begegnete dem Volk später nur noch in seinen Vertretern, den Ständen. Wenn er daher als Reisekaiser kam, sollte dies auch dazu dienen, die loyalen Bande zwischen Herrscher und Volk zu bekräftigen. So gesehen war das Reisekaisertum ein Überrest seines in jungen Jahren entwickelten Selbstverständnisses 21 Vgl. oben 523 f. Anm. 427. 22 In der Rolle dieser Idealgestalt sah sich der 14jährige Karl vermutlich, als er sich gegen die Mißachtung der Ordensstatuten durch die Regentin auflehnte: Nicht um etwas Neues durchzusetzen rebellierte er, wie es alterstypisch gewesen wäre, sondern um Althergebrachtes zu verteidigen und zu bewahren. Vgl. oben 392–397.

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als Landesherr. Er schuf sich keine Hauptstadt, kein Zentrum der Macht, hatte allenfalls Residenzen auf Zeit und fiel damit hinter die Entwicklung im übrigen Europa, selbst hinter seinen nicht nur in dieser Hinsicht „moderneren“ Großvater Maximilian zurück. Die Proklamation Karls zum „König der Spanien“ bedeutete „das Ende der altburgundischen Zeit“.23 Für Karl mußten alle Gedanken an eine Wiedergewinnung des alten Herzogtums zurücktreten hinter den neuen Aufgaben und Herausforderungen, die ihn in Spanien, im Reich und Italien erwarteten. Innerlich blieb er Burgund dennoch verbunden, wie seine frühen Testamente beweisen: In der Kartause von Champmol, vor den Toren Dijons, wollte er an der Seite seiner Ahnen begraben werden.24 Im politischen Konzept seines premier chambellan hatten Pläne zur Rückeroberung des Duché de Bourgogne keinen Platz. Chièvres war Realist genug, um in einem friedlichen Nebeneinander mit dem gefährlichen Nachbarn Frankreich die einzige Möglichkeit zur Erhaltung des Status Quo zu erkennen, diesen Zustand durch immer neue Heirats- und Freundschaftsverträge abzusichern und notfalls auch Konzessionen zu machen. So wurden 1515, als Chièvres’ Vertrauter Heinrich von Nassau die Verhandlungen führte, die in den Vertrag von Paris mündeten,25 die Ansprüche Karls auf Burgund übergangen, das ursprünglich einen Teil der Mitgift der Renée de France ausmachen sollte.26 Erst lange nach Chièvres’ Tod (1521), Jahre nach seiner Wahl zum Römischen König und Kaiser griff Karl seine Pläne zur Rückgewinnung Burgunds wieder auf. Allerdings wurde nicht das Herzogtum selbst Kriegsziel, wie R. Tyler meinte:27 Der Kaiser nutzte vielmehr Niederlagen des französischen Königs und eigene Triumphe zu – vergeblichen – Versuchen, die Herausgabe Burgunds zu erzwingen. Die Restitution des Duché de Bourgogne machte er daher zu einer der wichtigsten Bedingungen des Friedensvertrags von Madrid, den Franz I. 1526 in spanischer Gefangenschaft unterzeichnete, nachdem die Kaiserlichen seiner Streitmacht am 24. Februar 1525 bei Pavia eine verheerende Niederlage beigebracht hatten. Nach seiner Freilassung brach Franz I. den Eid, mit dem er den Vertrag unter Zwang beschworen hatte.28 Daraufhin forderte Karl ihn zum Duell, eine Forderung, die 1528 und 23 Brandi 1964, 49. 24 Tyler 1959, 29 (ohne nähere Angaben zu den Daten der Testamente). Auch RodríguezSalgado 2000, 35 erwähnt diesen Wunsch Karls. Beinert 1960, 25 gibt an, daß diese letztwillige Verfügung, mit der sich Karl bewußt in die burgundische Tradition seiner Vorfahren stellt, von 1522 stammt. 25 Vgl. oben 408–410. 26 Pirenne 1953, 84. 27 Tyler 1959, 21. 28 Dazu Parker 2000, 142–145.

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1536 wiederholt wurde.29 In seinem Hauptwerk geht J. Huizinga ausführlich auf die Rolle ein, die Herrscherduellen als Mittel zur Beilegung politischer Streitfragen zukam: „Eine besondere Form ritterlicher Fiktion zum Zweck politischer Reklame war das immer wieder angekündigte und niemals verwirklichte Fürstenduell. Ich habe früher an anderem Ort auseinandergesetzt, wie die Staatszwistigkeiten des fünfzehnten Jahrhunderts noch als ein Kampf von Parteien, als eine persönliche »querelle« aufgefaßt wurden. Die Sache, der man dient, heißt »la querelle des Bourguignons« (»die Fehde der Burgunder«). Was war natürlicher, als daß die Fürsten sie selbst ausfechten [...]?“30

Der Autor gibt zahlreiche Beispiele für groß angekündigte, zum Teil sogar aufwendig vorbereitete Fürstenduelle, die niemals ausgetragen wurden. Der Zeitraum, den Huizinga berücksichtigt, reicht vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, beteiligt waren Fürsten aus allen europäischen Ländern von England bis Italien, in denen der Ritter weiterhin als „kulturelle Leitfigur” (D. Hägermann) galt. Huizinga erwähnt in diesem Kontext auch die Angebote Karls V., „den Streit mit Franz I. durch einen persönlichen Zweikampf zu schlichten” und liefert mit seinen Ausführungen den Beweis, daß Karl wie auch der französische König mit ihren Forderungen zum Duell nicht der eigenen Eingebung folgten, sondern ein Ritual vollzogen, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hatte.31 In Franz I. hatte der Kaiser einen Gegner, der gleich ihm noch mit dem Ehrenkodex des mittelalterlichen Ritters aufgewachsen war: So scheint 1528 die Forderung zunächst von dem französischen König ausgegangen zu sein, nachdem ihm Karl wegen des Eidbruchs die Ehre abgesprochen hatte.32 Die Kategorien, in denen beide Herrscher dachten, waren zumindest in diesem Punkte die gleichen: Es waren die Wertbegriffe des großen franko-burgundischen Kulturkreises, die sich in dem Leitbild des burgundischen Ritters verdichteten. Wie stark Karl V. der mittelalterlichen Begriffswelt verhaftet war, belegen zwei Passagen aus den Commentaires. Für das Jahr 1526 vermerkt er: Bald darauf erneuerte jedoch letzter [Franz I.] den Krieg und Se. Majestät erhielt in Granada einen Fehdebrief [...], für das folgende Jahr: Zu derselben Zeit [während der Gefangenschaft Clemens’ VII. in der Engelsburg; A.S.] erhielt in der Stadt Burgos Se. Majestät einen Fehdebrief der Könige von Frankreich und England [...].33

29 30 31 32 33

Burke 2000, 417. Huizinga 1975, 130 f. Ebd. 132. Parker 2000, 149 f. Kervyn van Lettenhove 1862, 15 f.

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Selbst wenn man berücksichtigt, daß dies nur die deutsche Übersetzung L. Warnkönigs von 1862 ist, muß sich in der portugiesischen Fassung ein dem „Fehdebrief“ adäquates Wort finden.34 Das bedeutet nichts weniger, als daß sich Karl eines Begriffes bedient, der im Zuge der Reichsreform seines Großvaters Maximilian aus dem Rechtswesen des Reiches verbannt worden war.35 Aus noch ferneren Zeiten stammt der Gedanke Karls, daß die Entscheidung in einem Zweikampf der Könige fallen solle – als Ersatzhandlung anstelle eines Krieges zwischen christlichen Völkern, um diesen weiteres Leid zu ersparen.36 Keiner dieser Zweikämpfe wurde jemals ausgetragen; ebensowenig unternahm Karl einen Versuch zur gewaltsamen Rückeroberung Burgunds. Er hat weder das Stammland des Hauses Burgund noch die Franche-Comté je betreten, nicht einmal seine letzte Ruhestätte fand er dort. Seinen „burgundischen Traum“ gab er noch 1548 seinem Sohn Philipp (II.) in einem seiner politischen Testamente weiter: „Zwar empfahl er Philipp, keinen weiteren Krieg mit Frankreich um Burgund zu führen; dennoch dürfe keine Gelegenheit versäumt werden, Ansprüche auf die Wiederherstellung des wahren Heimatlandes der Dynastie geltend zu machen, um es irgendwann vielleicht zurückzugewinnen.“37

Burgund, unser einziges, wahres Heimatland nannte Karl das verlorene Herzogtum in diesem Dokument:38 Das sind Worte des Chefs des Hauses Burgund und des Souveräns des burgundischen Vliesordens; die patria ist das Land der Väter, 34 In der französischen Übersetzung J. Kervyns van Lettenhove (1843) ist der Begriff mit défi wiedergegeben (Madariaga 1969, 177). 35 1495 wurde auf dem Reichstag zu Worms der Ewige Landfrieden verkündet, der absolutes Fehdeverbot einschloß; vor allem zur Durchsetzung dieses Verbots wurde das Reichskammergericht in Frankfurt geschaffen. 36 Die Vorstellung, eine Art Gottesurteil herbeiführen zu wollen, äußerte Karl in seiner berühmt gewordenen Rede vor Papst Paul III. 1536 in Rom anläßlich seines triumphalen Empfangs als Sieger von Tunis. Mit seiner erneuten Forderung des französischen Königs reagierte der Kaiser auf die Nachrichten vom Abschluß eines Vertrages zwischen Franz I. und Suleiman (Februar 1536), von dem Einfall französischer Truppen in Savoyen, d.h. in ein kaiserliches Lehen, und von der französischen Besetzung Piemonts (März 1536). Parker 2000, 166 gibt dazu in Übersetzung einen Auszug aus dem Brief Karls an seinen Botschafter in Frankreich vom 17. April 1536 wieder. Das französische Original findet sich bei Lanz 1845, 227. 37 Rodríguez-Salgado 2000, 104. 38 CDCV II 584 Nr. CCCLXXX: el ducado de Borgoña, proprio y verdadero patrimonio; dt. bei Rodríguez-Salgado 2000, 104. Nimmt man es mit der Übersetzung genau, so spricht der Kaiser hier nicht von Burgund als dem wahren Heimatland, sondern von dem rechtmäßigen Erbe – ein gravierender Unterschied, gerade im Hinblick auf Philipp. Während für Karl das Herzogtum noch (geistige) Heimat und Erbe gleichermaßen darstellten, reduzierte sich für seinen Sohn das Verhältnis zu Burgund zu einem politisch-juristischen Anspruch.

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das Stammland der Dynastie. Doch sein Sohn war kein Burgunder mehr, seine Heimat war Spanien, sein „Haus“ die Casa d’Austria. Als Haupt dieses größeren Hauses, dieses „Dachverbandes“, in dem die drei Dynastien vereinigt waren, aus denen Karl und seine Geschwister hervorgegangen waren, setzte der Kaiser die Politik der dynastischen Eheschließungen fort; seine eigene Einbindung in die größeren Interessen des Hauses während seiner Kinder- und Jugendjahre hatte also offensichtlich kein Trauma hinterlassen. (8.) Den Einflüssen, die Karl zu dem Fürsten machen sollten, der „die altburgundische Tradition vollendete und abschloß“,39 stand in Adrian von Utrecht, dem geistlichen Erzieher des Prinzen, eine Persönlichkeit von starker pädagogischer Wirksamkeit gegenüber, oft sogar diametral entgegen. Er gehörte nicht zu den „Prototypen burgundischen Geistes“, zu denen ihn G. Poensgen in einem Atemzug mit Chièvres zählt.40 Adrian stammte – wie Erasmus – aus den „Niederen Landen“, den nördlichen Provinzen, die von ihrer Sprache und kulturellen Tradition her „deutsch“ waren. Diese Provinzen, in denen man sich im 16. Jahrhundert nicht an den schönen, aber erstarrten Formen der franko-burgundischen Kultur orientierte, wurden zum fruchtbaren Nährboden geistiger und religiöser Erneuerungsbewegungen. Aus ihnen gingen, unbelastet von der Tradition der französisch schreibenden burgundischen Literaten, die niederländischen Humanisten hervor, die ohne den Umweg über korrumpierte mittelalterliche Überlieferung, an das „reine“ Latein anzuknüpfen suchten, ebenso wie die religiöse Bewegung der Devotio moderna zur „reinen“ Lehre zurückkehren wollte, ohne die Vermittlerfunktion mittelalterlicher Interpretationen und einer weitgehend verderbten Geistlichkeit. Mit Adrian von Utrecht wurde ein Mann zum geistlichen Erzieher Karls berufen, der durch die Schule der Devotio moderna gegangen und von ihr geprägt worden war. Obwohl die religiöse Unterweisung nicht zum Aufgabenbereich des Erziehers gehörte, übte er durch die Grundsätze, die er in seiner vorbildlichen Lebensführung verwirklichte, und durch den vertrauten Umgang mit seinem Schüler großen Einfluß auf den Heranwachsenden aus. Diese Auffassung vertritt auch H. Schilling in seinem Beitrag „Karl V. und die Religion“: „So darf man davon ausgehen, daß Adrian seinen Zögling mit der Religiosität vertraut machte, in der er selbst lebte.“41 Zur Religiosität Karls V. fehlt es weitgehend an persönlichen Aussagen; daher ist A. Kohlers Feststellung, „daß die Religion des Kaisers kaum anders faßbar [ist] als über dessen Einstellung zu Kirchenreform, Papsttum und Protestantismus“, von grundsätzlicher Bedeutung, ebenso wie seine Erkenntnis, daß sich die Ent39 Brandi 1964, 35. 40 Poensgen 1960, 174. 41 Schilling 2000, 297.

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wicklung der religiösen Überzeugungen Karls V. als Bestandteil der gesamten Persönlichkeitsentwicklung „im weiteren Rahmen politischer und sozio-kultureller Konstellationen“ vollzog und in diesem umfassenden Kontext zu sehen ist.42 Man darf annehmen, daß Karls frühe religiöse Erziehung den seinerzeit üblichen Konventionen entsprochen hat. Mit Margarete und Maximilian standen ihm Menschen nahe, deren tiefe Gläubigkeit sich nicht in oberflächlichen Bekundungen von Frömmigkeit erschöpfte, sondern die in Augenblicken der Verzweiflung Trost und Halt im Glauben fanden. Von Adrian, der bereits in seinen Löwener Jahren gegen Mißstände in der Kirche, gegen Sittenlosigkeit und Unbildung des Klerus eingeschritten war43 und der den Unterricht in den klassischen Sprachen befürwortete, um eine Rückkehr zu den Urtexten und damit zur reinen christlichen Lehre zu ermöglichen,44 können erste Impulse ausgegangen sein, daß für Karl V. das „Ringen um die Reinheit und Einheit des Christentums“ (Schilling) eines der Hauptanliegen seines Kaisertums wurde, das jedoch nicht isoliert gesehen werden darf, sondern das mit seiner Politik, den Maximen des Vliesordens und seiner Auffassung von Herrschaft eng verflochten war. Selbst das frühe Bestreben, die Kaiserkrone baldmöglichst zu erlangen, läßt sich in diesen Kontext einordnen: Um die Reinheit und Einheit der Kirche wiederherzustellen, bedurfte es des Zusammenwirkens von Papst und Kaiser, und zwar des vom Papst gekrönten Kaisers. Erst die Krönung durch den Papst verlieh dem Kaiser das Sacrum Imperium, die nach mittelalterlichem Verständnis unverzichtbare geistliche Komponente des Kaisertums, denn nicht durch weltliche Macht allein war der Kaiser zum advocatus ecclesiae berufen. Der Kaiser als Schutzherr der Kirche: Das hieß nicht nur, die heilige Kirche gegen Feinde von außen zu verteidigen, sondern auch gegen Häretiker, die aus ihrem Inneren hervorgegangen waren und an deren aufrührerischen Lehren die Einheit der Kirche zu zerbrechen drohte. Mit einer seit langem geforderten Reform, mit einer Reinigung und Erneuerung der Kirche von innen heraus, hoffte auch Karl, der „Ketzerei“ den Boden zu entziehen und die Gläubigen zurückzugewinnen. Nur ein Konzil konnte die Fundamente für eine umfassende Reform legen. Karl forderte es schon ab 1521, immer wieder in der Folgezeit, verstärkt ab etwa 1530, trotz des Widerstands der Päpste. Die Einheit der Kirche ließ sich nicht wiederherstellen, die Hartnäckigkeit des Kaisers hatte aber nicht unbeträchtlichen Anteil daran, daß schließlich doch ein Konzil nach Trient einberufen wurde und daß nach fast zwanzigjährigem Ringen (1545–1563) die „alte Kirche“ aus dem Tridentinum als Ecclesia triumphans gestärkt hervorging.

42 Schilling 2000, 297 (unter Bezug auf A. Kohler). 43 Vgl. oben 263 Anm. 323. 44 Vgl. oben 269 f.

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Damit ist zunächst Grundsätzliches gesagt über die Haltung Karls V. zu den religiösen Konflikten seiner Zeit. Im Rahmen dieses Resümees kann auf das komplexe Thema „Karl V. und die Reformation“ nur ansatzweise eingegangen werden, das seit der „Wiederentdeckung“ Karls V. für die deutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert immer wieder Historiker herausgefordert hat.45 Mit der Erklärung, die Karl V. am 19. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms verbreiten ließ, steht jedoch eine Quelle zur Verfügung, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem hier behandelten Lebensabschnitt des Kaisers abgefaßt wurde und die deutliche Bezüge zu dem Wertekanon erkennen läßt, der Karl durch seine Erziehung und durch die Lebenswelt seiner Jugendjahre vermittelt wurde. Aus diesem inhaltlichen Grund schließe ich mich denjenigen Historikern an, die in dem Dokument das „persönliche Glaubensbekenntnis“ Karls V. sehen, während andere es als eine Stellungnahme des Kaisers als Institution einstufen.46 Karl konzipierte das Schriftstück eigenhändig47 in französischer Sprache als Antwort auf Luthers Rede vom 18. April 1521 und zur eindeutigen, öffentlichen Klärung der eigenen Position,48 nachdem Luther sich, nach eintägiger Bedenkzeit, vor Kaiser und Reich zum Inhalt seiner Schriften bekannt und es abgelehnt hatte, sie zu widerrufen, sofern man ihn nicht aus den Evangelien widerlegen könne. Im folgenden fasse ich zunächst die Aussagen des klar gegliederten Dokuments49 zusammen, um anschließend die einzelnen Punkte, auch im Hinblick auf späteres Verhalten des Kaisers, zu kommentieren. Der Kaiser beruft sich eingangs darauf, daß er von den „allerchristlichen Kaisern der edlen deutschen Nation“, von den Katholischen Königen Spaniens, den Erzherzögen Österreichs, den Herzögen von Burgund abstamme, die bis zu ihrem Tode treue Söhne der römischen Kirche, Verteidiger und Mehrer des Glaubens 45 Die nachhaltig meinungsbildende Wirkung der Arbeiten Rankes („Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“, 1839–1847) und der Werke der Historiker um Droysen (zwischen 1840 und 1870) bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist bekannt. Erst mit der Lösung von dem dominanten kleindeutsch-preußischen und vor allem protestantischen Forschungsansatz konnte Karl V. auch in größeren Zusammenhängen, über die Grenzen des Reiches hinaus, gesehen werden. Um die frühere Einseitigkeit zu vermeiden und dem Kaiser gerechter zu werden, berücksichtigt Schilling (2000) eingehend die Auswirkungen, die Karls Verhältnis zur Reformation in Spanien, den Niederlanden und den überseeischen Besitzungen zeitigte. 46 Dazu – eher skeptisch – Lutz 1979, 171 f. 47 Zur Bedeutung der Eigenhändigkeit von Verlautbarungen des Kaisers vgl. oben 529. 48 Einen Hinweis darauf, daß es sich um das persönliche Bekenntnis Karls handelt, sehe ich auch in der nahezu durchgängigen Verwendung des Pronomens Ich im Gegensatz zu dem Pluralis maiestatis, der sich in vielen seiner Briefe findet und der sich für eine Verlautbarung der Institution Kaiser vor dem Reichstag angeboten hätte. 49 Vollständig in deutscher Übersetzung bei Schilling 2000, 300 (nach RTA II 594–596).

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gewesen seien. Ihm als ihrem Erben hätten sie die heiligen katholischen Verpflichtungen hinterlassen, nach denen Karl bis zu diesem Zeitpunkt gelebt habe. Er sei fest entschlossen, dieses Erbe und die damit verbundenen Pflichten gegenüber der römischen Kirche aufrechtzuerhalten als wahrer Nachahmer seiner Vorgänger, besonders in Hinsicht darauf, was diese auf dem Konstanzer und anderen Konzilien verordnet hätten. Er sei sicher, daß ein einzelner Ordensbruder mit seiner abweichenden Meinung irre; wäre dies nicht der Fall, hätte die ganze Christenheit während der vergangenen tausend und mehr Jahre, bis in Karls eigene Gegenwart, im Irrtum verharrt. Karl ist entschlossen, seine Königreiche und Herrschaften, seine Freunde, seinen Leib, sein Blut, sein Leben und seine Seele einzusetzen, damit nicht zu seiner Zeit Häresie, Häresieverdacht oder Minderung der christlichen Religion unter den Menschen aufkämen, denn das würde ihm und seinen Nachfolgern zur ewigen Unehre gereichen. Es sei jedoch nicht Aufgabe des Kaisers allein, den Glauben zu schützen: An dieser Stelle bezieht Karl die Stände als Vertreter der edlen und gerühmten deutschen Nation mit ein in seine Argumentation, indem er auch sie als zu Verteidigern und Schutzherrn des katholischen Glaubens Berufene bezeichnet. Der Kaiser bedauert, so lange gezögert zu haben, gegen Luther und seine falsche Lehre vorzugehen, und bekräftigt seinen festen Entschluß, sich künftig gegen Luther wie gegen einen notorischen Häretiker zu verhalten. Er ersucht die Stände um Unterstützung bei seinem Vorgehen, wie sie es ihm als gute Christen versprochen haben. Zunächst aber soll Luther unverzüglich unter dem zugesicherten Freigeleit nach Sachsen zurückgeführt werden, allerdings ohne unterwegs zu predigen und damit eine Volksbewegung auszulösen wie auf dem Hinweg geschehen. Der erste Satz, mit dem der junge Kaiser sich einführt, bezeugt höchst eindeutig sein Selbstverständnis: Er sieht sich nicht als Individuum, sondern in erster Linie als Glied der in ihm vereinigten Häuser, deren Erbe ihm anvertraut ist. So, wie er schon in seinen frühesten, vorwiegend heiratspolitischen Entscheidungen die Interessen der Dynastie allen anderen Gesichtspunkten übergeordnet hat, wird er auch im religiösen Bereich verfahren: Der „Glaube der Väter“ ist ebenso Bestandteil des Erbes wie die Reiche und Titel, die Karl zugefallen sind, und als treuer Sohn der römischen Kirche diesen Glauben zu schützen und zu mehren, ihn nicht preiszugeben, ist ihm gleiche Verpflichtung wie die Wahrung der weltlichen Güter. Bereits nach dem Eröffnungsparagraphen des Dokuments hätte den im Reichstag versammelten Ständen klar sein müssen, daß das junge, edle Blut (Luther über Karl) nicht der Neuerer war, auf den viele mit Luther ihre Hoffnungen gesetzt hatten, gerade im Hinblick auf die sich zuspitzenden Konflikte mit der römischen Kirche. Karls Haltung in der „Lutherfrage“ stand schon fest, ehe ihm in Worms der Reformator zum ersten und einzigen Mal gegenüberstand. H.

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Schilling hat Karl V. einen „vorkonfessionellen Katholiken“ genannt:50 Es war der tradtionelle Glaube seiner Vorfahren, der ihm gleichsam in die Wiege gelegt, durch Erziehung und die Einführung in den Vliesorden vertieft worden war und dessen Formen von Frömmigkeit ihn seit der Kinderzeit umgeben hatten. Daraus erwuchs eine tiefe persönliche Religiosität, die ihren Ausdruck fand in intensiven Gebeten, täglichem Hören der Messe, sehr ernsthafter, nicht nur repräsentativer Teilnahme an Prozessionen, engem Austausch mit den Beichtvätern und gelegentlichem Rückzug in ein Kloster, wie dies schon für die Jugendjahre des Prinzen belegt ist.51 Im Gegensatz zu Luther, der seine religiöse Überzeugung in schweren inneren Kämpfen errungen hatte, kannte Karl offenbar keine Glaubenszweifel. Sein Kaisertum betrachtete Karl V. nicht nur als säkulare Machtposition, sondern als Zeichen der Nähe und Gnade Gottes, auch wenn er von Menschen zum weltlichen Oberhaupt der Christenheit gewählt worden war. Daher nimmt es nicht wunder, daß der Kaiser schon 1521 und von da an bis zu seinem Lebensende daran glaubte, daß Gott im Kampf gegen die deutsche Häresie, von Karls spanischer Umgebung pestis Germaniae genannt, auf seiner Seite stehe. Durch Erfolge im Kampf gegen die Ungläubigen, so 1535 mit der Eroberung von Tunis, vor allem aber gegen die Häretiker im Reich fühlte der Kaiser sich später in dieser frommen Überzeugung bestätigt, wie es dem Bericht des spanischen Hofhistoriographen Luis de Ávila über die Schlacht von Mühlberg zu entnehmen ist: Am 24. April 1547 besiegten die Kaiserlichen die vereinigten Truppen der im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen protestantischen Fürsten. Für den frommen Kaiser war dies nicht irgendein Sieg: Nachdem sein Heer unter Anrufung der Heiligen Jakob (Sant Iago) und Georg in die Schlacht gezogen war, wurde ihm der Sieg am Tag des heiligen Georg zuteil, den die christliche Ritterschaft als Schutzpatron verehrte. Karl, der den Kampf gegen die Häresie für gewonnen hielt und die konfessionelle und politische Einheit des Reiches in greifbare Nähe gerückt glaubte, soll am Abend nach der Schlacht den bekanntesten Ausspruch Caesars in christlichem Sinne abgewandelt haben zu veni, vidi, Deus vicit.52 Der kaiserliche Sieg mit Hilfe Gottes und der Heiligen ließ sich vortrefflich instrumentalisieren im Sinne der (später so genannten) propaganda fides; berühmtestes Beispiel dafür ist bis heute Tizians Gemälde „Karl V. bei Mühlberg“, jenes „gemalte Reiterdenkmal“,53 das den Kaiser nicht nur als siegreichen Kriegsherrn, sondern in allererster Linie als Georgsritter und miles Christianus verherrlicht, der mit der Reichsreliquie der heiligen Lanze den rechten Glauben zum Sieg führt. 50 51 52 53

Schilling 2000, 306. Vgl. oben 280–282. Schilling 2000, 292. 294 (nach Luis de Ávila y Zúñiga). So u.a. Schilling 2000, 294.

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Doch nicht nur die kaiserliche Seite nutzte den Kampf um den rechten Glauben propagandistisch, sondern die Lutherischen wußten ebenfalls seit dem Erscheinen der ersten Schriften des Reformators die neuen Möglichkeiten der Verbreitung von Wort und Bild einzusetzen und damit weite Bevölkerungskreise zu erreichen. Wohl erstmalig in der Geschichte wurde ein Konflikt, hier der Widerstreit religiöser Auffassungen, weitgehend und exzessiv in den Medien der Zeit ausgetragen, bis die Spannungen sich derart verschärft hatten, daß sie Aufstände, Gewalt und Krieg auslösten. Von beiden Seiten trugen keineswegs nur Theologen zur medialen Auseinandersetzung bei. Humanistische Gelehrte bekämpften sich mit Streitschriften, wortgewaltige Mitstreiter unterstützten Luther in Flugschriften, namhafte Künstler ergriffen mit ihren Mitteln Partei, von lutherischer Seite attackierten ausnehmend bösartige Karikaturen, auf Flugblättern weit verbreitet, die Zustände in der römischen Kirche. Selbst Lektoren und Drucker nutzten ihre Möglichkeiten, um der Auffassung Luthers Geltung zu verschaffen. So stammt das bis heute berühmteste „Lutherwort“ Ich kann nicht anders/ hier stehe ich/ Gott helfe mir/ Amen nicht etwa von Luther selbst, was aber allgemein kaum bekannt ist. Es ist die erweiterte und propagandistisch zugespitzte Form des schlichten Stoßgebets der Landsknechte Gott helf mir, Amen, mit dem Luther am 18. April 1521 seine Verteidigungsrede vor Kaiser und Reich beschloß.54 „Erfunden“ wurde die Fassung, die von Generationen von Protestanten weitergegeben wurde und die sich bis ins 20. Jahrhundert in Schulbüchern für den Geschichtsunterricht findet, von den Wittenberger Lektoren und Druckern der Schriften des Reformators55 als Zeugnis für die Standhaftigkeit und den Bekennermut Luthers vor dem Reichstag. Mögen die Wittenberger auch kurz und prägnant die Haltung Luthers im Kern getroffen haben, so haben sie doch gleichzeitig ein Beispiel dafür geliefert, daß Manipulation im Streit um den rechten Glauben nicht als unlauteres Mittel angesehen wurde. Weitgehend gelöst von der konfessionellen Interpretation der Begegnung von Kaiser und Reformator, gesteht die heutige Forschung Karl V. zu, daß „das ebenso trutzige wie existentielle »Ich-kann-nicht-anders« für den jungen Habsburger nicht anders [galt] als für Luther.“56 Es war nicht nur seine tiefe Verwurzelung im Glauben an die Lehren der Kirche, die kein Abweichen von seiner Position zuließ. Er hatte sich darüber hinaus bereits 1515 bei seiner Inauguration in Gent,57 dann erneut bei seiner Krönung in Aachen durch heilige Eide zum Schutz der Kirche 54 Lilje 1965, 85. 55 Schilling 2000, 290 (m. weit. Lit.). Lilje 1965, 75 gibt ohne Nachweis einen zeitgenössischen Holzschnitt wieder, der die auch später so oft dargestellte Szene „Luther vor dem Reichstag zu Worms“ zeigt und bereits als Unterschrift den berühmten Satz trägt. 56 Dazu Schilling 2000, 290 f. 57 Vgl. oben 458 f.

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und des Glaubens verpflichtet; das bedeutete in dieser unruhigen Zeit insbesondere den Schutz vor dem Eindringen von Häresien. Ebenso verpflichtet fühlte er sich den Konzilsbeschlüssen seiner Vorgänger auf dem Kaiserthron. Wenn sich Karl in seinem „Glaubensbekenntnis“ ausdrücklich auf das Konzil von Konstanz beruft, so vielleicht deshalb, weil 1414–1418 die Kirche von ähnlichen Problemen bedrängt wurde wie 1521: Auch damals mußten die causa unionis,58 die causa fidei 59 und die causa reformationis60 einer Lösung zugeführt werden. Insbesondere die Erfahrungen aus dem Abendländischen Schisma stärkten in Konstanz den Konziliarismus und führten zur Verkündung der Suprematie des Konzils über den Papst. Das hieß für die Zukunft, daß über abweichende Lehrmeinungen ein Konzil zu beraten und zu befinden hatte. Daraus erklären sich die ab 1521 immer wiederholten Forderungen Karls V. nach Einberufung eines Konzils, das in der „Lutherfrage“ eine Entscheidung würde treffen müssen. Ganz wesentlich wurde Karls feste Haltung gegenüber Luther schließlich durch seine Auffassung vom Kaisertum bestimmt, wie sie oben bereits angedeutet wurde: Papst und Kaiser, geistliches und weltliches Oberhaupt der respublica Christiana waren danach aufeinander angewiesen und mußten in gemeinsamer Verantwortung zusammenwirken zum Wohl des Ganzen in Einheit des Glaubens und Frieden unter den christlichen Völkern, wie es nicht nur die utopischen Konzepte Marlianos und Gattinaras vorsahen, sondern wie es Karls eigener Vorstellung entsprach, die er in seinen Briefen an Hadrian VI. zum Ausdruck brachte.61 Wie für Maximilian I. und Margarete von Österreich stellten Gott, das Haus und die Ehre auch für Karl V. die höchsten Werte dar, denen er seine Entscheidungen unterordnete. In welchem Maße sein Verhältnis zu Gott und zur Dynastie seine Haltung zu Luther bestimmte, ist oben dargelegt worden. Es ist jedoch auch die Ehre, die ihm gebietet, mit allem, was ihm an weltlichen und ganz persönlichen Gütern wie Leib, Blut und Seele zur Verfügung steht, während seiner Regierungszeit gegen selbst den geringsten Häresieverdacht vorzugehen, damit nicht „Unehre“ seinen Namen und die seiner Nachfolger befleckt. Nicht nur die persönliche Ehre Karls wäre also davon betroffen, sondern – weit gravierender – die Ehre des Hauses. Eine weitere Wurzel von Karls ausgeprägtem Ehrbegriff ist 58 Damals war die Beseitigung des Abendländischen Schismas die vordringliche Aufgabe; vermutlich hat der Kaiser eine erneute Spaltung der Kirche unter anderen Vorzeichen bereits befürchtet. 59 Die Häresie wurde in Konstanz durch die Verurteilung der Lehren Wyclifs und die Todesurteile gegen Jan Hus und Hieronymus von Prag keineswegs überwunden. 60 Die innere Reform der Kirche wurde am Anfang des 15. Jahrhunderts aus ganz ähnlichen Gründen gefordert wie einhundert Jahre später; die Vorwürfe richteten sich in Konstanz aber in erster Linie gegen die Spitzen der kirchlichen Hierarchie einschließlich der Päpste. 61 Vgl. oben 304 f. Anm. 466.

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in seinem Selbstverständnis als burgundischer Ritter zu suchen. Seit Kinder- und Jugendtagen im Geiste des Vliesordens erzogen, galt dem jungen Ordenschef, der seit 1516 auch Großmeister der drei spanischen Ritterorden war, die Ehre eines Ritters als eines der höchsten Güter. Den Statuten der Orden gemäß war Karl zur Verteidigung des Glaubens und der heiligen römischen Kirche verpflichtet. Mit der Duldung jeglicher Regung von Häresie hätte er seine ritterlichen Gelübde gebrochen. So zeigt sich auch unter diesem Aspekt, daß Karl – ebenso wie Luther – „nicht anders konnte“. Trotz Luthers entschiedenem Auftreten hoffte der Kaiser, die Einheit der Kirche mit politischen Mitteln erhalten zu können. Vielleicht bestärkte ihn darin gerade der sowohl religiöse wie politische Charakter der Orden. Dabei könnte ihm der spanische Weg als Lösung vorgeschwebt haben, wo seit den Tagen der Katholischen Könige und unter dem bedeutenden Einfluß des Kardinal Ximénes von Staat und Kirche gemeinsam Reformen durchgesetzt worden waren, die die Billigung Roms fanden und die nicht gegen Rom gerichtet waren. Ein Ansatz zu einer politischen Lösung des Konflikts ist in dem Aufruf an die Stände erkennbar, die ebenfalls berufen sind zu Verteidigern und Schutzherren des katholischen Glaubens und von denen der Kaiser erwartete, daß sie sich als gute Christen erwiesen, ungeachtet der Tatsache, daß es unter den Versammelten Katholiken, Protestanten und Unentschlossene gab. Die fast ein Vierteljahrhundert währenden Bemühungen des Kaisers, die Einheit der Christenheit wiederherzustellen, die Anhänger Luthers in die römische Kirche zurückzuführen, können hier nur knapp dargestellt werden. Es waren in erster Linie die jährlichen Reichstage, auf denen Konzepte zur Lösung der Religionsfrage beschlossen wurden, die sich allerdings nur für kurze Zeit als konsensfähig erwiesen. Die häufige Abwesenheit des Kaisers vom Reich, die politischen Pflichten in seinem „übergroßen Wirkungsbereich“ (Schulin), Kriegszüge gegen Frankreich und die Ungläubigen in Nordafrika, Konflikte mit den Päpsten vor und nach Hadrian VI. machten es nicht eben leichter, in der Religionspolitik konsequente Maßnahmen durchzusetzen. Hinzu kam, daß mit den Jahren tiefgreifende Meinungsunterschiede zwischen Karl und seinem Bruder Ferdinand (I.) zutage traten, deren Ursachen zum einen in ihren höchst unterschiedlichen Charakteren, zum anderen in der Machtverteilung lagen: Karl, der Kaiser, war nirgends im Reich Landesherr, wenn man von den besonderen Herrschaftsstrukturen im Burgundischen Reichskreis absieht; Ferdinand hingegen, zunächst Stellvertreter des Kaisers im Reich, ab 1531 Römischer König, war Landesherr in den österreichischen Erblanden. Gerade diese landesherrliche Stellung sollte Ferdin-

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ands Position im Religionskonflikt entscheidend bestimmen.62 Die wechselvolle Entwicklung bis zum Vollzug der konfessionellen Spaltung wird ersichtlich aus den Ergebnissen einiger wesentlicher Reichstage: Worms 1521: Am 8. Mai verhängte Karl V. die Reichsacht über Luther und verbot dessen Schriften, sicherte ihrem Urheber aber freies Geleit nach Sachsen zu.63 Speyer 1526: Als Stellvertreter des abwesenden Kaisers übertrug Ferdinand mit der „Freistellung“ des inzwischen weit verbreiteten „evangelischen“ Glaubens die Verantwortung für die religionspolitische Entscheidung den Reichsständen für ihre Territorien bis zu einem Konzil. Damit wurde das Wormser Edikt im Grunde aufgehoben. Speyer 1529: Als Ferdinand die Freistellung rückgängig machen wollte, kam es zur protestatio der führenden Anhänger Luthers unter den Fürsten und Reichsstädten. Augsburg 1530: Karl V., kurz zuvor von Clemens VII. in Bologna zum Kaiser gekrönt, präsidierte diesem „Konfessionsreichstag“, so benannt nach der Confessio Augustana, dem konfessionellen Bekenntnis der Lutheraner, das Philipp Melanchthon in Absprache mit Luther verfaßt hatte, das jedoch vom Kaiser und den katholischen Ständen abgelehnt wurde. Entgegen den Bemühungen gemäßigter, umgänglicher Verhandlungsführer – auf beiden Seiten standen erasmianisch geprägte Humanisten – verfaßten ausgesprochene Luthergegner die sog. Confutatio oder Widerlegung des protestantischen Bekenntnisses, worauf Melanchthon mit der Apologie die in der Confessio niedergelegten Standpunkte gegen die Einwände der Gegner verteidigte. Daß es gerade Melanchthon und den Humanisten unter den Anhängern der neuen Lehre um die Erhaltung der Glaubenseinheit des Abendlandes ging, hat die Gegenseite unter Führung des Kaisers offensichtlich nicht erkannt. So endete dieser Reichstag, mit dem das „konfessionelle Zeitalter“ eigentlich begann, mit der Erneuerung des Wormser Edikts. Widerstand dagegen sollte als Landfriedensbruch, also als politisches Delikt geahndet werden. Die unnachgiebige Haltung des Kaisers führte zur religiös-politischen Blockbildung im Reich, 1531 zum Zusammenschluß der mächtigsten protestantischen Reichsstände im Schmalkaldischen Bund. Außenpolitisch gebunden, mußte der Kaiser einlenken und 1532 (Nürnberg) sowie 1539 (Frankfurt) den Protestanten einen befristeten Religionsfrieden, einen sog. Anstand, gewähren, der bis zum Beginn 62 Die Erblande waren in vorderster Linie von dem Vordringen der Türken bedroht. Zur Abwehr der Ungläubigen war Ferdinand auf die Unterstützung aller Christen angewiesen und mußte auch deshalb einen Ausgleich zwischen den Konfessionen herbeiführen. 63 In Burgund, wo Karl Landesherr war, hatte er bereits im September 1520 die Schriften Luthers und die Verbreitung von dessen Lehre verboten; vgl. Lilje 1965, 126.

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eines Konzils gelten sollte. Vor und auch nach der militärischen Auseinandersetzung mit dem Schmalkaldischen Bund förderte der Kaiser Religionsgespräche zwischen Theologen und Laien beider Seiten. Man näherte sich zwar an, Streitpunkte blieben aber die Verfassung der römischen Kirche64 und die Sakramentslehre. Weiterhin unterstützte Karl V. die Pläne für ein von Katholiken und Protestanten gleichermaßen gefordertes Konzil, das allein über Lehrmeinungen und Reform der römischen Kirche entscheiden sollte. Als das Konzil endlich 1545 in Trient, auf Reichsboden also, eröffnet wurde, schien die Überwindung des Glaubenskonflikts näher denn je; die großen Hoffnungen zerschlugen sich aber bereits 1547, als, wohl infolge eines Zerwürfnisses zwischen Karl V. und Paul III.,65 der Papst das Konzil nach Bologna verlegte. Dieser Tagungsort, auf dem Territorium des Kirchenstaats gelegen, war für die Protestanten inakzeptabel, und so blieben sie fern. Nachdem die Konzilspolitik des Kaisers zunächst gescheitert war, gab Karl V. seine Bemühungen um einen Religionsfrieden im Reich keinesfalls auf. 1547/48 suchte der Reichstag in Ausburg erneut nach einer zumindest vorläufigen Lösung der konfessionellen Probleme. Das von protestantischen und katholischen Theologen erarbeitete, von kaiserlichen Beratern redigierte, von spanischen Theologen approbierte Augsburger Interim fußte zwar im Wesentlichen auf den katholischen Dogmen, machte aber in den Streitpunkten der Priesterehe und des Laienkelchs (communio sub utraque) Zugeständnisse an die Protestanten.66 Während die Protestanten das Interim, wenn auch unter Druck,67 annahmen, akzeptierten es die Katholiken nicht; damit wurde das Interim zu einem Sondergesetz, das nur für einen Teil der Reichsbevölkerung galt. Diese verfassungsrechtlich dubiose Situation bedeutete nichts Geringeres als die Schaffung eines „Zwei-Konfessionen-Rechts“ und leistete damit genau dem Vorschub, was der Kaiser eigentlich hatte aufhalten wollen: dem Verfall der Einheit im Reich nicht nur auf religiöser, sondern auch auf politischer Ebene. Mit der Übergangslösung eines Religionsfriedens auf Zeit hatte Karl V. gehofft, diesem Verfall und damit auch dem Auseinanderbrechen der politischen Einheit des Reiches, seiner 64 In der Confessio Augustana hatte Melanchthon bereits der hierarchischen Struktur der römischen Kirche eine klare Absage erteilt und auch im Hinblick auf die Stellung der Bischöfe eine völlige Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt eingefordert. 65 Grund für den Konflikt war vor allem die Sorge des Papstes, daß die Machtposition des Habsburgers mit den Interessen seines eigenen Hauses (Farnese) kollidieren könnte, obwohl der Kaiser kurz zuvor zwei der päpstlichen Nepoten mit oberitalienischen Herzogtümern belehnt hatte. 66 Der Laienkelch war den Hussiten bereits im 15. Jahrhundert zugestanden worden. 67 Der Kaiser ließ ihnen nur die Wahl zwischen der Rückkehr in die katholische Kirche und der Annahme des Interims, wobei ihm nach seinen bisherigen Erfahrungen von vornherein klar war, wie die Entscheidung ausfallen würde.

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Machtbasis, entgegenwirken zu können. Die Verfügung des Zwangs-Interims aber verfehlte nicht nur diesen Zweck, sondern stellte eine Überschreitung der juristischen Kompetenzen des Kaisers dar, die nicht ohne Folgen bleiben konnte. Das deutet H. Schilling an, wenn er diese Phase der kaiserlichen Religionspolitik zusammenfaßt: „Hinzu [d.h. zu dem Status eines Sondergesetzes für die Protestanten] kommt, daß Karl als Oberhaupt des Reiches mit dem von ihm faktisch oktroyierten Interim politisch, vor allem aber rechtlich einen Weg eingeschlagen hatte, den zu gehen noch keiner seiner Vorgänger gewagt hatte. Eine »bis dahin nie geahnte Art von Staatskirchenregiment auf Reichsebene« hatte Karl hier in Anspruch genommen und damit sowohl Interessen der Reichsstände, die das Kirchenregiment in eigene Hand genommen hatten, als auch das Recht des Papstes und der Konzilien verletzt.“68

Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten, denn die Stände beider Konfessionen fürchteten nach dem erneuten reglementierenden Eingriff des Kaisers in den Glaubensstreit um ihre „Libertät“ und sahen sich von einer Unterwerfung unter die „spanische Servitud“ bedroht. Damit fand der jahrelange Kampf um den rechten Glauben auf politischer Ebene seine Fortsetzung und Intensivierung. In den folgenden Jahren (1551–1552) regte sich Widerstand auch unter den Lutheranern: gegen Melanchthons Kompromißbereitschaft, gegen das „katholisierende“ Interim und die kaiserliche Religionspolitik insgesamt. Wenn es um die Religion ging, hielten die Protestanten inzwischen sogar militärischen Widerstand gegen den Kaiser für rechtens.69 1552 folgte die Fürstenrebellion unter Führung des Moritz von Sachsen, der eine antihabsburgische Allianz in Deutschland und Europa, vor allem mit Frankreich, schmiedete, deren Truppen auf die habsburgischen Erblande vorrückten und den Kaiser zur Flucht nach Villach zwangen, wo er mit seinem Bruder Ferdinand zusammentraf. Dort wurden die unterschiedlichen Positionen der Brüder in aller Deutlichkeit offenbar: Karl war trotz der bisherigen Mißerfolge auch weiterhin nur zu interimistischen Zugeständnissen bereit, Ferdinand jedoch zu dauerhaftem Frieden. Als der Römische König noch 1552 in Passau einen Vertrag mit den aufständischen Fürsten schloß,70 bedeutete dies den Verzicht auf die Durchsetzung des kaiserlichen Interims. Während der Vertragsverhandlungen erkannte Ferdinand, daß die Mehrheit der katholischen Reichsstände zu einer reichsrechtlich verbindlichen Duldung 68 Schilling 2000, 354 (Zitat: K. Repgen). 69 Magdeburg wurde Zentrum des protestantischen Widerstands, den Nikolaus Gallus schon 1550 in der Flugschrift Confessio et apologia pastorum et reliquorum ministrorum ecclesiae Magdeburgensis gerechtfertigt hatte; vgl. Schilling 2000, 355. 70 Nach der militärischen und politischen Niederlage des Kaisers im deutsch-französischen Grenzgebiet, wo er die Städte Metz, Toul und Verdun hatte zurückerobern wollen, die Heinrich II. von Frankreich von den Aufständischen überlassen worden waren.

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der Protestanten bereit war. 1555 gelang es dem Augsburger Reichstag, einen paritätischen Religionsfrieden zu schließen, der auf Dauer die Gleichstellung beider Glaubensrichtungen in theologischer und rechtlicher Hinsicht sicherte und ebenso die Interessen des Reiches berücksichtigte. Als eines der „Reichsgrundgesetze” blieben die Augsburger Vereinbarungen – mit gewissen Modifikationen zugunsten der Calvinisten nach 1648 – bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches in Kraft. Allerdings gewährte der Religionsfriede keine individuelle Glaubensfreiheit; die Entscheidung über die konfessionelle Zugehörigkeit lag bei den Landesherren nach dem Prinzip cuius regio, eius religio.71 Mit dem Reichsgrundgesetz wurde erstmals anerkannt, daß verschiedene Konfessionen in einem Reich friedlich nebeneinander existieren konnten, und bewiesen, daß es möglich war, religiöse Gegensätze ohne militärische Gewalt zu lösen, wobei die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Einheit keineswegs aufgegeben wurde. Karl V. trug diese Lösung jedoch nicht mit. In seiner Instruktion von 1543/44 für den Augsburger Reichstag hatte er bereits vor jeder Regelung gewarnt, die nicht die ganze Christenheit in Einheit umfaßte; allerdings hätte nur ein gesamtchristliches Konzil entsprechende Beschlüsse fassen können. Als die Verhandlungen in Augsburg seinen Vorstellungen zuwiderzulaufen begannen, „verbat er sich, daß man ihn frage oder gar Anweisungen einhole für die Behandlung der Religionssache“.72 Die Verantwortung für eine in seinen Augen verderbliche Lösung wollte er nicht mit übernehmen und legte in einem Brief an Ferdinand für seine eigene Person formellen Protest ein gegen alles, „wodurch die wahre alte christliche und katholische Religion beleidigt, verletzt, geschwächt und beschwert würde“.73 Karls Haltung blieb konsequent bis zum Schluß. Er konnte nicht anders, als dem Augsburger Frieden zwischen den Konfessionen seine Zustimmung zu verweigern, und zwar nicht nur aus seiner persönlichen religiösen Überzeugung. Die Duldung zweier gleichberechtigter Glaubensrichtungen im Reich hieß nichts Geringeres, als die Auflösung der traditionellen Verbindung zwischen Kaiser und Papst billigend in Kauf zu nehmen, Abschied zu nehmen von der Idee der gemeinsamen Herrschaft von höchster weltlicher und geistlicher Macht über die „eine Herde“, die Gemeinschaft aller Christen. Das aber bedeutete das Ende des universalistischen Kaisertums, wie es im Mittelalter verstanden wurde und wie es Karl V. in einzigartiger Weise vertrat. Über die Abdankung des Kaisers ist viel geschrieben worden; es ist gewiß nicht verfehlt, einen der Gründe, die Karl V. zu diesem Schritt veranlaßten, in dem Zerbrechen der Weltordnung, wie er sie 71 Nur für die Erblande gültig war das ius emigrandi, das Gläubigen der jeweils anderen Konfession gestattete, mit Hab und Gut in einen Landesteil fortzuziehen, in dem ihr Bekenntnis galt. 72 Brandi 1964, 523. 73 Unveröffentlicht; Zitat bei Brandi 1964, 523; wieder bei Schilling 2000, 361.

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verstand, zu sehen. Vielleicht hatte er in der letzten Phase seines Kaisertums ein gewisses „Epochenbewußtsein“, weil er erkannte, daß alles auf eine „Neue Zeit“ hinsteuerte, in der weder sein Konzept von Herrschaft noch der Wertekanon, nach dem er gelebt hatte, Bestand hatten. Ihm blieb nur der schrittweise „geordnete Rückzug“, indem er für seine Nachfolger Regelungen traf, die, soweit er es überschauen konnte, den Anforderungen der Zukunft entsprachen. Nachdem hier die wesentlichen Phasen der Religionspolitik des Kaisers bis zu seiner Abdankung angesprochen worden sind, bleibt noch eine Frage zu beantworten, die Karls „Glaubensbekenntnis“ von 1521 aufwirft: Weshalb hatte er bis zum April 1521 gezögert, im Reich gegen Luther vorzugehen?74 Zunächst einmal gab es dafür politische Gründe: Am 3. Januar 1521 wurde mit der Bulle Decet Romanum Pontificem der Bann über Luther verhängt. Unmittelbar darauf hätte der Kaiser, dem tradionellen Procedere gemäß, die Acht aussprechen müssen. Der junge, unerfahrene Herrscher – es war noch kein Vierteljahr seit seiner Krönung vergangen – zögerte, diesen Schritt ohne den Reichstag zu tun, auf dessen Tagesordnung mit den „Gravamina der Deutschen Nation” ohnehin religionspolitische Fragen zur Erörterung anstanden. Nachdem sich vom 27. Januar 1521 an die Stände in Worms versammelt hatten, widersetzte sich eine starke, aktive Minderheit von Fürsten und Vertretern der Reichsstädte, allen voran Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, Luthers Landesherr, einer automatischen Verurteilung Luthers ohne vorherige Anhörung. Es folgten langwierige Verhandlungen, in denen Karls Beichtvater Glapion und der kursächsische Kanzler Brück die unterschiedlichen Positionen ihrer Herrscher vertraten.75 Doch nicht nur politische Erwägungen, sondern auch religiöse Skrupel und sein eigenes Gewissen ließen Karl zögern. In vereinfachten Darstellungen wird nämlich oft übersehen, vielleicht sogar absichtlich übergangen, daß es anfänglich Gemeinsamkeiten zwischen den Auffassungen Luthers und Karls V. gegeben hatte, solange es beiden vorrangig um die Wiedergewinnung der Reinheit der Kirche ging und deren Einheit noch nicht in Frage gestellt war. Diese Berührungspunkte lassen sich m.E. durch die Kontakte beider mit der Erneuerungsbewegung der Devotio moderna in ihren Jugendjahren erklären. So wie Karls religiöse Überzeugung durch das Vorbild Adrians und durch Aufenthalte im Kloster Groenendal mitgeprägt worden war, dürfte auch Luthers Entwicklung durch die Lehre der Brüder vom Gemeinsamen Leben beeinflußt worden sein, wenn er auch deren Schule in Magdeburg nur ein Jahr lang (1497/98) besucht hatte. Es ist belegt, daß Luther die von Thomas a Kempis zusammengestellte Schrift De imitatione Christi aufs

74 Vgl. oben 609 Anm. 63 den Hinweis auf das frühere Einschreiten in Burgund. 75 Ausführlich dazu Schilling 2000, 288; s. auch Lutz 1979, 168 f.

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höchste schätzte, in der die Grundsätze der Devotio moderna niedergelegt sind.76 Für Karl V. war die von ihm angestrebte Kirchenreform gleichbedeutend mit der Reinigung der Kirche von innen heraus, aus der eigenen Anstrengung jedes einzelnen Christen, und zwar auf allen Ebenen: vom einfachen Gläubigen über die Klostergemeinschaften und den Klerus bis an die Spitze der kirchlichen Hierarchie, bis zu den Kardinälen und Päpsten. All die Untugenden und Laster der Ordensmitglieder und des Klerus, die in der Bevölkerung nur Spott und Verachtung hervorrufen konnten, zeigten sich in gesteigertem Maße bei den höchsten Würdenträgern der römischen Kirche. Von den Päpsten der hier besprochenen Epoche läßt sich schwerlich behaupten, daß sie in der Nachfolge Christi lebten – mit Ausnahme Hadrians VI. Sie waren – selbst wenn man einigen, z.B. Leo X., persönliche Frömmigkeit nicht absprechen will – Renaissancefürsten großen Stils, als Landes- und Feudalherren ständig in kriegerische Auseinandersetzungen der italienischen Staaten untereinander und mit äußeren Feinden verstrickt, in Intrigen und Nepotismus verwickelt, zudem mit der Erschließung immer neuer Geldquellen beschäftigt – wobei dem von Luther angeprangerten Ablaßhandel eine erhebliche Rolle zukam –, um als Mäzene das seit dem Ende der Antike immer mehr verfallene „Haupt der Welt“ prächtiger denn je als „Rom der Päpste“ neu erstehen zu lassen. Gegen diese Entartungserscheinungen vorzugehen war das Anliegen Karls V. und zunächst auch Luthers. Karls Rolle bei diesem Bemühen, den inneren Verfall der Kirche aufzuhalten, ließe sich mit der eines Restaurators vergleichen – wenn er sich denn durchgesetzt und die frühe Kirche in ihrer schlichten ursprünglichen Form freigelegt hätte, um sie, befreit von allem entstellenden Beiwerk, zu ihrer wahren Aufgabe, dem Dienst am Glauben und an den Gläubigen zurückzuführen. Für Luther war jedoch die Reinigung der Kirche von den Mißständen nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer radikaleren Lösung. Sein Ziel war nicht die rückwärtsgewandte Restauration früherer Zustände, sondern die Reformation der Kirche von Grund auf, auf dem Fundament einer gereinigten Lehre. Damit erfüllte er nicht nur die Hoffnung skeptisch gewordener Zeitgenossen, sondern, das darf man aus der Rückschau behaupten, rettete er die Kirche für die Zukunft – auch die katholische, indem er sie zur Auseinandersetzung und Selbstkritik zwang. Als Luther 1520 die Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation: von des christlichen Standes Besserung, De captivitate Babylonica und Von der Freiheit eines Christenmenschen verfaßte, legte er damit gleichsam das politische, dogmatische und ethische Grundsatzprogramm seiner reformatorischen Bestrebungen vor, dessen nachhaltige Wirkung im religiösen, politischen und gesellschaftlichen Bereich er allerdings wohl kaum vorhersehen konnte. Heftige Auseinandersetzungen vor allem um seine Kritik an den hierarchischen 76 Lilje 1965, 44.

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Strukturen der Kirche und an dem Gebäude der Lehrmeinungen jedoch hatte er erwartet, obwohl und gerade weil er wußte, daß er Fragen aufgriff, die viele Zeitgenossen bedrängten. Schärfsten Widerspruch forderte vor allem die Babylonica auch bei vielen heraus, die bis soweit Luthers Schriften keineswegs ablehnend gegenübergestanden hatten; unter ihnen soll, nach einer Aussage seines Beichtvaters Glapion, auch der Kaiser gewesen sein.77 In dieser dogmatischen Schrift greift Luther u.a. die katholische Heilslehre an, in der sich seit dem 12. Jahrhundert die Siebenzahl der Sakramente durchgesetzt hatte. Luther hingegen erkennt nur die Taufe und das Abendmahl als heilige Handlungen an, da allein ihre Einsetzung durch Jesus Christus im Neuen Testament bezeugt sei. Hier begegnet erstmals in aller Deutlichkeit der „evangelische“ Charakter von Luthers Lehre: Gültig ist nur, was durch die Evangelien belegbar und begründbar ist. Sola scriptura wird für Luther zum Hauptkriterium bei der Entscheidung in Glaubensfragen, wie er es am 18. April 1521 vor Kaiser und Reich öffentlich bekannte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Kaiser gehofft, Luther „in den Schoß der heiligen Mutter Kirche“ zurückführen zu können, wie aus den Aufzeichnungen seines Beichtvaters über die voraufgegangenen Verhandlungen mit dem kursächsischen Kanzler Brück78 zu entnehmen ist: Cesarem optare, immo cesaream M tem suam de hoc esse sollicitam, ut possit vir tam doctus reduci ad gremium sancte matris ecclesie, et quod recipiatur cum misericordia.79

In einem detaillierten Bericht Brücks über die Gespräche mit Glapion findet sich eine Bestätigung für die ihm vorgetragene Einstellung des Kaisers: [...] wie kei. Mt. hoch dornach bestanden und begerte, das solcher mann mit der cristenlichen kirchen versünt und ad ordinem unitalem gebracht mocht werden; dan seine kei. Mt. hette vorhin, eher die Babilonica ausgangen, seins schreibens etzlicher maß auch gefallen gehabt.80

Glapion hegte damals noch die Hoffnung, eine Übereinstimmung mit Brück, Kurfürst Friedrich, Luther und dem Kaiser im Interesse des gemeinsamen Ziels, der endreformacio sancte Ecclesie, herbeiführen zu können.81 Karl erwartete und erhoffte noch am 18. April 1521 den Widerruf Luthers. Selbst, als der Reformator fest zu seinen Schriften stand, zögerte der Kaiser immer noch, ihn zu ächten. Hinter verschlossenen Türen wurden Verhandlungen geführt, die Luther zum Einlenken bewegen sollten; auch sie waren vergeblich. Am 25. April wurde Luther 77 78 79 80 81

Lutz 1979, 169. Vgl. oben 613 m. Anm. 75. Zitiert bei Lutz 1979, 169 (nach RTA II 478 Anm. 1). Ebd. (nach RTA II 479). Lutz 1979, 169.

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Resümee und plus ultra

im Auftrage des Kaisers mitgeteilt, daß dieser nun als Vogt der Kirche gegen ihn vorgehen müsse.82 Bis zur Verkündung des Wormser Edikts am 8. Mai ließ der Kaiser nochmals zwei Wochen verstreichen. Luther hatte Worms bereits am 26. April unter dem Schutz eines kaiserlichen Geleitbriefs verlassen, der ihm für drei Wochen Sicherheit garantierte. So wenig der Kaiser in seiner religiösen Überzeugung wankte, so fest stand er auch zu seinem ritterlichen Ehrenwort, obwohl es in Worms auch Stimmen gab, die zur sofortigen Beseitigung Luthers rieten. Karl V. soll damals gesagt haben, er wolle nicht wie sein Vorgänger Sigismund in Konstanz erröten müssen,83 der sein Wort gegenüber Jan Hus gebrochen hatte. Die zögerliche Haltung, die Karl 1521 vor seinem Einschreiten gegen Luther an den Tag legte, fand m.E. ihre konsequente Fortsetzung in der Interimspolitik der folgenden Jahrzehnte, bis hin zu der Weigerung des Kaisers im Jahre 1555, einem dauerhaften Religionsfrieden zuzustimmen, der eine endgültige Absage an die für Karl unverzichtbare Einheit der Kirche bedeutete. Meine Einschätzung, daß die Wurzeln für die unerschütterliche Glaubensgewißheit, von der Karls Religionspolitik getragen wurde, in der religiösen Einflußsphäre seiner Kinder- und Jugendjahre zu suchen sind, finde ich bei H. Schilling bestätigt: „Doch [...] läßt sich diese Haltung nicht auch als Ausdruck persönlichen Ringens verstehen, als Kaiser und Stellvertreter Gottes den abgefallenen »Kindern« Gerechtigkeit entgegenzubringen und ihnen stets die Möglichkeit der Rückkehr aus eigener Entscheidung offenzuhalten? Das wäre jedenfalls eine Einstellung, die durchaus den Idealen des Humanismus und der Devotenfrömmigkeit im Umkreis seiner frühen burgundischen Kindheit entspräche. Wenn dem so wäre, dann tritt aber auch umso deutlicher hervor, daß die religiöse Haltung des Habsburgers spätestens Mitte der 1520er Jahre, als der Protestantismus zumindest im Reich zu einer ganz eigenständigen Kraft herangewachsen war, zu einem grandiosen Anachronismus geworden war. Wie immer man Karls politische und kirchenpolitische Schachzüge einschätzt, fest steht, daß er nie einen Millimeter breit von jenen religiösen Überzeugungen abwich, die sich in den frühen Jahren in den Niederlanden und in Spanien herausgebildet hatten. Das machte ihn mental und spirituell zunehmend unfähig, die nach dieser Zeit in den zwanziger Jahren aufbrechende neue religiöse Geisteslage überhaupt zu begreifen und sein Handeln darauf einzustellen.“84

Während sich zumindest Spuren zur Entwicklung von Karls religiösen Überzeugungen bis in seine Knabenzeit am Mechelner Hof zurückverfolgen lassen, ist eine Wirkung der beiden großen Entwürfe, die dem jungen Fürsten gewidmet wurden, für den hier untersuchten Zeitraum nicht erkennbar. Es ist die Rede von der Institutio principis Christiani des Erasmus von Rotterdam und von der 82 Lilje 1965, 85 f. 83 Ebd. 17. 84 Schilling 2000, 306.

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Denkschrift des Mercurino di Gattinara zur Monarchia Universalis. Erasmus entwickelte, anknüpfend an die Tradition der Fürstenspiegel des Mittelalters, seine Vorstellung von einem christlichen Herrscher für Karl zu dessen Emanzipation. Es bestehen berechtigte Zweifel daran, daß Karl das anspruchsvolle Werk in lateinischer Sprache jemals gelesen hat. Erst jüngst hat sich Juan Carlos D’Amico dazu skeptisch geäußert: „Nous ne savons pas si le futur empereur avait lu son livre, mais nous pouvons penser qu’il n’avait certainement pas suivi à la lettre les conseils de l’humaniste hollandais.“85

Hätte der Fünfzehnjährige sich wirklich auf eine Beschäftigung mit der Erziehungsschrift des Erasmus einlassen wollen, so hätten dem nicht nur sprachliche Hürden entgegengestanden. Allein die zahlreichen Exempla, die der Humanist aus der Bibel, der antiken Geschichte und Philosophie heranzieht, hätten sich Karl nur unter der geduldigen Anleitung eines humanistisch gebildeten Lehrers erschließen können. Adrian von Utrecht, mit der geistigen Welt des Erasmus vertraut, wäre der geeignete Interpret gewesen. Doch eine Gelegenheit zu gemeinsamen Studien gab es für den Herzog von Burgund und seinen ehemaligen pedagogus nicht mehr. Die Zeit unmittelbar nach der Dedikation des Werkes wäre ohnehin nicht sonderlich geeignet gewesen für eine erste Auseinandersetzung mit der Institutio: Die Schrift ist in Teilen durchaus als Kritik an der traditionellen Prinzenerziehung zu verstehen, wie sie auch Karl zuteil geworden war und noch wurde, wenn man den apprentissage politique einbezieht. Dem jungen Herzog hätte es an Distanz zu dem Prozeß gefehlt, in den er noch als Objekt eingeschlossen war. Erasmus hatte mit seiner Kritik zweifellos die Hoffnung verbunden, daß der Fürst nach seiner Emanzipation selbst an seiner Vervollkommnung weiterarbeiten und daß eine künftige Generation von Anfang an nach humanistischen Grundsätzen erzogen werden würde. Wohl 1517 verfaßte Mercurino di Gattinara im Kartäuserkloster Scheut bei Brüssel einen kurzen Traktat, „in dem er dem jungen Karl als Weltenherrscher huldigte.“86 Das Büchlein wurde Karl vor seinem Aufbruch nach Spanien im September 1517 überreicht.87 In seiner Autobiographie äußert sich der Großkanzler dazu folgendermaßen:

85 D’Amico 2004, 36. 86 Kodek 2004, 14 f. Anm. 89 f.; dort auch Näheres und umfangreiche Literaturangaben zu den Umständen der Entstehung und den Schwierigkeiten einer exakten Datierung der Schrift. 87 D’Amico 2004, 18 mit dem Hinweis (ebd. Anm. 7), daß dieser Traktat als verschollen gilt, Carlo Bornate aber eine kleine Schrift Gattinaras entdeckte, die eindeutig die Verbindung

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Inzwischen verfaßte Mercurino jedoch [...] eine Schrift an den göttlichen Karl, der damals [schon] der Katholische König war. [...] Mercurino fügte auch einen Traum über die künftige Weltherrschaft und den künftigen Triumph der Christen durch die Person dieses göttlichen Karl ein: Er sagte voraus, dieser werde aus verschiedenen Gründen Kaiser, der Mächtigste und Alleinherrscher über alle sein. Diese Schrift ließ er dem göttlichen Karl überreichen, bevor dieser aus den Niederlanden aufbrach und mit dem Schiff nach Spanien fuhr, als eine offenkundige Prophezeiung seines künftigen Aufstieges.88

Das Memorandum, das Gattinara nach der Wahl Karls zum Römischen König und Kaiser 1520 aufsetzte und in dem er sein Konzept einer Monarchia Universalis in erweiterter Form darlegte, hat seit seinem Bekanntwerden nicht nur Historiker zu ständig neuer Auseinandersetzung herausgefordert.89 Aus einer der neuesten Arbeiten, die auf die Ursprünge dieser Utopie und auf zeitgenössische Kontroversen ebenso eingeht wie auf die Auffassungen späterer bis heutiger Historiker, sollen hier nur einige essentielle Feststellungen zitiert werden, die die gegenseitige Bedingtheit erkennen lassen zwischen der Einheit der Kirche, die Karl zu erhalten bestrebt war, und der Monarchia Universalis des Gattinara, der Einheit der respublica Christiana unter einem christlichen Herrscher: „S’adressant à l’empereur élu, le chancelier le comparait à Charlemagne, symbole de l’essence même du Saint Empire romain germanique dont le couronnement avait permis le transfert de l’Empire en Occident et donné ainsi naissance à l’Empire chrétien. Mais, le nouvel empereur était surtout considéré par Gattinara comme l’incarnation du Dernier empereur capable de réaliser la prophétie évangélique annoncée par Jean: l’unification du monde sous un seul pasteur. [...] Avec Mercurino Gattinara, la réforme de l’Église, à travers la convocation d’un concile, et l’idée de monarchie universelle vont dans un même sens et elles devaient se réaliser pour accomplir le message évangélique de l’unité chrétienne du monde. Il n’était possible de concevoir l’utopie de la monarchie mondiale qu’avec l’accord du chef spirituel et du chef temporel de la chrétienté.“90

zwischen den Weissagungen des Joachim de Fiore und dem Konzept der Monarchia Universalis des Großkanzlers aufzeigt. 88 Kodek 2004, 146. 89 Im Gegensatz zu Gattinaras Schrift hat die Vision des Marlianus von einem Weltreich unter einem einzigen christlichen Herrscher kaum Beachtung gefunden. Er gab sie am 26. Oktober 1516 in seiner Einführungsrede zum ersten Ordenskapitel Karls in Brüssel dem jungen Herrscher und Chef des Ordens mit auf den Weg. Marlianus verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, daß Karl und das „dynamische Zeitalter“ (!) fortsetzen würden, was Isabella von Kastilien begonnen hatte. Karl, begünstigt durch Gott, Natur und Fortuna, werde Verantwortung tragen können als neuer Herkules oder Atlas (nach Rosenthal 1973, 221–224). M.W. ist dies der erste Entwurf für ein christliches Weltreich unter Karl, das über Afrika, Asien und den westlichen Ozean ausgedehnt werden sollte. 90 D’Amico 2004, 17. 22.

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In der Autobiographie des Großkanzlers heißt es zu diesem Punkt: Nichtsdestoweniger91 habe er vor, eine so große Übereinstimmung bezüglich der Erneuerung der christlichen Religion zwischen dem Papst und dem Kaiser, als den zwei großen Leuchten der Welt, zu erwirken, daß davon der ganze Erdkreis erstrahle und es dann gemäß dem göttlichen Wort nur noch eine Herde und einen Hirten gebe.92

Die Idealvorstellung Gattinaras von einer universellen Monarchie unter einem einzigen Hirten und Herrscher kann Karl nicht fremd gewesen sein, sie war gewissermaßen Bestandteil seines habsburgischen Erbes: Bereits sein Urgroßvater, Kaiser Friedrich III., war der Ansicht gewesen, daß „die göttliche Vorsehung das Haus Habsburg zur Weltherrschaft berufen hatte. Er schmückte Bauten und Dokumente mit fünf geheimnisvollen Buchstaben, A E I O U, denen er die verschiedensten Deutungen gab.“93 Friedrich III. gab die Lösung des Rätsels um die fünf Buchstaben niemals preis, und so haben sich bis heute verschiedene Deutungen erhalten: Austria erit in orbe ultima oder Austria extenditur in orbem universum oder auch Alles Erdreich ist Österreich untertan. Der langjährige Chef des Hauses Habsburg erwähnt ferner, daß Maximilian in der Öffentlichkeit als „Weltenkaiser [auftrat], wie Dante ihn erträumt hatte.“94 I. Kodek deutet die Möglichkeit an, daß Gattinaras Kaiseridee „vielleicht durch Maximilian mitgeprägt wurde“, da der Piemontese von Maximilians politischen Fähigkeiten sehr beeindruckt war und er eine hohe Meinung von dem Kaiser hatte, mit dem er jahrelang korrespondierte und für den er in diplomatischen Funktionen tätig war.95 Selbst wenn man die Grundidee der Monarchia Universalis nicht bis zu ihren in Dantes Monarchia vermuteten Wurzeln zurückverfolgen will, erkennt man in ihr einen zutiefst mittelalterlichen Weltenplan, der hier eine neue Deutung erfahren hat.96 Trotz der zahlreichen Arbeiten, die sich mit Gattinaras Entwurf auseinandersetzen, konnte nicht nachgewiesen werden, ob Karl sich die Vorstellungen des Piemontesen zu eigen machte. Die Tatsache, daß er nach Gattinaras Tod (1530) das Amt des Großkanzlers nie wieder besetzte, läßt darauf schließen, daß er von diesem Zeitpunkt an seinem eigenen Konzept von Herrschaft folgen wollte, ohne sich von den Leitmotiven anderer lenken zu lassen. 91 Gattinara bezieht sich hier auf seine Ablehnung der Kardinalswürde, die Leo X. ihm nach der Wahl Karls angetragen hatte und die er mit der Begründung abgelehnt hatte, daß es niemals seine Absicht gewesen sei, sich stärker an die Kirche zu binden. 92 Kodek 2004, 158 f. 93 Habsburg 1967, 26. 94 Ebd. 27. 95 Kodek 2004, 46 m. Anm. 109. 96 Es fehlt in der Literatur nicht an Interpretationen, nach denen das Kaisertum Karls nicht an das seiner unmittelbaren Vorgänger anknüpfte, sondern eher an die „universalen Führungsansprüche“ Friedrich Barbarossas und Friedrichs II. Dazu u.a. Schulin 1999, 5.

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Während die beiden Lebens- bzw. Herrschaftsentwürfe, die dem jungen Karl zugeeignet wurden, in nahezu allen Biographien des Kaisers erwähnt werden, fehlt in den Memoiren Karls V. jeder Hinweis darauf. Ähnlich wie zu den religiösen Überzeugungen des Kaisers lassen sich nur aus seinen Handlungen Rückschlüsse darauf ziehen, ob er die Ideen und Ratschläge, die ihm mit auf den Weg gegeben wurden, weiterverfolgte oder in die Tat umsetzte. Wie oben gesagt, gibt es in der Forschung keine einhellige Antwort auf die Frage, ob Karl sich jemals als „Weltenkaiser“ sah, oder ob sein nüchterner Verstand die Übernahme einer derart utopischen Idee ausschloß. Weitgehende Einigkeit herrscht jedoch darüber, daß sich die Hoffnung des Erasmus auf eine Befolgung seiner Erziehungsrichtlinien bei der Lenkung einer künftigen Generation von Fürstenkindern nicht erfüllte. Zum Abschluß einer Arbeit, in der der Erziehung des Prinzen Karl breiter Raum gegeben ist, bietet es sich daher an, einen Bogen zu schlagen von dem Konzept des Erasmus zur Erziehung eines Fürsten zu den Ratschlägen, die Karl V. fast dreißig Jahre später, 1543, vor seinem Aufbruch nach Deutschland seinem Sohn Philipp (II.) erteilte, und zu den Maßnahmen, die er für seinen Erben traf.97 Dabei können in diesem Rahmen nur einige Punkte aus den umfangreichen Schriften angesprochen werden, die in erster Linie die Erziehung und die persönliche Lebensführung des Prinzen betreffen. Aus den Anweisungen des Kaisers an Philipp spricht einerseits die väterliche Sorge bei der Übergabe der alleinigen Regentschaft an den Sechzehnjährigen, andererseits auch das Vertrauen, das er ihm trotz dessen jugendlichem Alter entgegenbringt.98 Karl V. ist sich der Tatsache bewußt, daß die Regentschaft des Sohnes mit dessen „politischer Lehrzeit“ zusammenfällt. Daher gibt er ihm detaillierte Anweisungen, wie er mit den verschiedenen Regierungsaufgaben und -organen zu verfahren hat, verweist ihn aber vor allem auf den Rat Älterer, denen das Vertrauen des Kaisers gilt.99 Obwohl Philipp fortan keinen Hofmeister (im Original: ayo) mehr nötig hat,100 soll der Infant don Juan de Zuñiga,101 seinen Paten und

97 Gegenübergestellt werden Aussagen und wörtliche Zitate aus Erasmus (ed. Welzig) und Brandi 1935. Aus den beiden zweisprachigen Editionen (Latein/Deutsch bzw. Spanisch/ Deutsch) wird jeweils die deutsche Version angeführt. 98 Bereits am 5. November 1539, nach dem Tode seiner Gemahlin Isabella, hatte Karl dem damals Zwölfjährigen erstmals die Regentschaft übertragen müssen, wobei er ihm allerdings mit dem Kardinal von Toledo, don Juan Pardo de Tavera, einen mit beschränkten Vollmachten ausgestatteten geistlichen Regenten zur Seite stellte. 99 Brandi 1935, 53. 61. 67. 100 Brandi 1935, 63. 101 Zuñiga erscheint bereits 1517 als chambellan in der Hofliste Karls (Brandi 1941, 411).

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bisherigen Erzieher, als seine Uhr und seinen Wecker betrachten102 und sich in aller Art von Geschäften, in denen [er] sich vornehmlich unsicher und unentschlossen findet, seines Rats bedienen.103 Indem Karl den Sohn auf ältere Ratgeber verweist, greift er auf eigene Erfahrungen zurück, knüpft gleichsam an seine Jugendjahre als croitconseil an. Der Kaiser befindet sich in diesem Punkt in völliger Übereinstimmung mit Erasmus, der als Erzieher wie als Berater eines jugendlichen Herrschers ältere Männer von großer Erfahrung empfiehlt, denen der Jüngere mit Ehrfurcht begegnen kann.104 Vor Schmeichlern in der Umgebung eines Herrschers, also auch des Regenten,105 wie auch vor denjenigen, die gerade einen jungen Mann zu allzu viel Vergnügungen, zu Genußsucht und Lastern aller Art verführen möchten, warnt der besorgte Vater ebenso wie der sittenstrenge Humanist.106 Da Erasmus bereits im Titel der Institutio principis Christiani kundtut, daß sein Anliegen die Erziehung eines christlichen Fürsten ist, widmet er etliche Paragraphen der Definition dessen, was nach seiner Ansicht den wahren Christen ausmacht und was er insbesondere von einem christlichen Herrscher erwartet.107 Sehr viel knapper faßt sich der Katholische König, wenn er Philipp an seine religiösen Pflichten erinnert: Er ermahnt seinen Sohn, sich stets Gott vor Augen zu halten sowie ihm auf seine Weise zu dienen mit dem Bemühen, die übertragene Aufgabe zu erfüllen. Ferner soll Philipp den Glauben stützen und schützen, u.a. dadurch, daß er das Eindringen von Ketzereien in sein Reich verhindert und die heilige Inquisition fördert.108 Läßt sich also in den hier aufgeführten Punkten eine 102 Hier spielt der Kaiser zweifellos auf den Fürstenspiegel an, den ihm Antonio de Guevara 1529 gewidmet hatte. Das Werk trägt den lateinischen Titel Horologium Principum, spanisch: Reloj de príncipes. Eine Übersetzung ins Deutsche besorgte 1598 Aegidius Albertinus; als die Fürstliche Weckuhr erfuhr die Schrift große Verbreitung. Im 2. Buch des Werkes legt der Autor seine Grundsätze zur Prinzenerziehung dar. Guevara (1480/1481–1545), Sohn einer alten kastilischen Adelsfamilie, kam 1492 als Mitzögling des Kronprinzen Juan an den Hof der Katholischen Könige. 1505 trat er in den Franziskanerorden ein und gelangte bald zu hohen kirchlichen und weltlichen Ämtern. 1521 an den Hof Karls V. berufen, erwies er sich während der Comuneros-Aufstände als königstreuer Unterhändler von diplomatischem Geschick. Als gelehrter Schriftsteller und Prediger wurde er 1523 zum Hofprediger, 1526 zum Chronisten Karls ernannt, 1518 zum Bischof von Guadix, 1537 von Mondoñedo erhoben. Auf dem Tunis-Feldzug gehörte er zu den Begleitern des Kaisers. Zwischen 1528 und 1545 verfaßte Guevara neun z.T. sehr umfangreiche Werke politisch-didaktischen oder religiös-erbaulichen Inhalts (nach Bayrle-Sick 1990). 103 Brandi 1935, 67. 104 Erasmus p. 119. 123 W. 105 Brandi 1935, 51; Erasmus p. 219. 227. 229–241 W. 106 Brandi 1935, 61; Erasmus p. 121. 261 W. 107 p. 141–143 W. 108 Brandi 1935, 47. 49.

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zumindest generelle Übereinstimmung zwischen den Auffassungen des Humanisten und des Kaisers feststellen, so endet diese sehr schnell, wenn es um die Frage geht, wie ein künftiger Herrscher im Einzelnen durch seine Erzieher auf sein Amt vorbereitet werden sollte. Bereits in einem der ersten Paragraphen seiner Schrift formuliert Erasmus den Grundsatz, auf dem alle weitere Erziehung aufbauen soll: Wo das Fürstentum erblich ist, wird der Herrscher nicht gewählt. [...] Da hängt die Hoffnung auf einen guten Herrscher vor allem von der richtigen Erziehung ab, die umso sorgfältiger durchgeführt werden muß, damit das, was durch das Fehlen des Wahlrechtes eingebüßt wurde, durch umsichtige Erziehung ausgeglichen wird. Es muß also sogleich von der Wiege an, wie man so sagt, das noch leere und ungeformte Gemüt des künftigen Herrschers mit heilsamen Grundsätzen erfüllt werden.109

Große Sorgfalt soll bei der Auswahl der Erzieher, ja selbst der Ammen und der Spielgefährten walten, da nichts so tief eindringt und so fest haftet, als was in diesen ersten Lebensjahren gepflanzt wird.110 In der frühkindlichen Erziehung Philipps haben diese klugen Einsichten offenbar keine Anwendung gefunden: „Philipp verbrachte seine frühen Kinderjahre in der Obhut seiner Mutter, die für ihren abwesenden Gemahl in Spanien die Regentschaft führte. Die Erziehung des Thronfolgers scheint zunächst vernachlässigt worden zu sein, denn bis zu seinem 7. Lebensjahr konnte er weder lesen noch schreiben. 1535 entzog der Kaiser Karl V. Philipp der Obhut seiner Mutter und ernannte Don Juan de Zuñiga, ein Mitglied des kastilischen Hochadels, zum gestrengen Erzieher, der ihn nach spanischer Sitte erziehen sollte.“111

Karl hielt sich also an das herkömmliche Muster der Adelserziehung, als er seinen Sohn am Ende der infantia aus dem Kinderhaushalt unter der Oberaufsicht der Mutter herauslöste und ihn einem Erzieher anvertraute. Inwieweit Zuñiga für diese Aufgabe qualifiziert und geeignet war, läßt sich nach den dürftigen Angaben nicht beurteilen; allem Anschein nach hat es sich bei ihm um einen „adligen Erzieher“ gehandelt, der Philipp zum Spanier erzog, wie Chièvres einst Karl zum Burgunder erzogen hatte. Philipp war der príncipe natural, über Spanien sollte er einst herrschen. Seine Erziehung zum König von Spanien entsprach also zunächst einmal den Vorstellungen des Erasmus: Ich würde freilich wünschen, daß der Herrscher unter denen geboren und erzogen werde, über die er gebieten wird, weil so Freundschaft am leichtesten geschlossen wird und wächst, sooft auf natürliche Weise der Antrieb zur Liebe entsteht. Das Volk verabscheut und haßt auch unbekannte Güter, im Gegensatz dazu werden bekannte Übel manchmal geliebt. 109 Erasmus p. 115 W. 110 Ebd. p. 115. 119 W. (Zitat: 115). 111 Pietschmann 1988, 385.

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Das bringt einen doppelten Vorteil: Denn auch der Fürst wird für seine Untertanen eine tiefe Neigung haben und mehr für sie übrig haben, und das Volk wird seinen Herrscher mehr lieben und freiwilliger anerkennen. Aus diesem Grunde billige ich auch nicht Verschwägerung mit ausländischen, vor allem weit entfernten Völkern, die schon in der Jugend aufgenommen wird.112

Um sein Land in Friedenszeiten weise regieren zu können, scheint es Erasmus wichtig, daß der Herrscher sein Herrschaftsgebiet kennenlernt: Das wird durch drei Dinge erreicht: durch Geographie- und Geschichtsunterricht und durch häufiges Bereisen des Landes und der Städte. Er bemühe sich vor allem, die Lage einzelner Landstriche und Städte, ihren Ursprung, ihre Eigenart, ihre Einrichtungen, Gewohnheiten, Gesetze, Jahrbücher und Privilegien kennenzulernen. Niemand kann einen Körper heilen, wenn er ihn nicht kennt.113

Erasmus hatte aber gleichzeitig die ausgedehnten, durch dynastische Verbindungen oder Eroberungen entstandenen Machtbereiche einzelner Herrscher, besonders der Habsburger, im Visier, wenn er das, was für einen príncipe natural galt, auch von einem Fürsten erwartete, der von anderswo geholt wurde, bzw. von demjenigen, zu dessen Reich außer seinem Geburtsland weitere Herrschaftsgebiete und Nationen gehörten. Mit deren Landessitten und Sprachen muß er sich vertraut machen, wenn er anerkannt werden will. Mithridates und Alexander der Große dienen Erasmus als leuchtende Vorbilder zur Illustration seiner Forderung: Mithridates hatte die Sprachen aller Völker gelernt, über die er herrschte, deren Zahl zweiundzwanzig betragen haben soll. Bei wie vielen barbarischen Nationen sich Alexander der Große auch aufhielt, ahmte er doch von Anfang an ihren Kult und ihre Sitten nach und gewann auf diese Weise ihre Zuneigung.114

Als Erasmus seine Institutio verfaßte, kannte er die zeitgenössische Kritik an Karls Erziehung. Er wußte, daß der Prinz entgegen dem Wunsch seines weitblickenden Großvaters Maximilian nicht einmal die zweite Landessprache, das thiois, erlernt hatte. Es war ihm bekannt, daß Karl in seiner Abneigung gegen den Lateinunterricht von seinem adligen Erzieher unterstützt worden war, obwohl Philipp der 112 Erasmus p. 257 W. An späterer Stelle (327) spricht sich Erasmus vehement gegen die dynastische Heiratspolitik Maximilians aus, ohne allerdings dessen Namen zu nennen: Der Beispiele enthalte ich mich absichtlich, um niemanden zu beleidigen. Er wendet sich vor allem dagegen, wie unmenschlich man mit den Mädchen selbst verfährt, die manchmal in weit entfernte Länder wie in die Verbannung zu Menschen geschickt werden, die an Sprache, Aussehen, Charakter und Anlagen gänzlich verschieden sind; sie würden bei ihren Landsleuten glücklicher leben, wenn auch mit weniger Prunk. 113 Erasmus p. 251 W. Für Erasmus gleicht das Reich eines Herrschers einem Körper, an dem der Fürst ein bedeutendes Glied ist (ebd. 253). 114 p. 257 W.

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Schöne ausdrücklich verfügt hatte, daß sein Sohn vom 7. Lebensjahr an in der klassischen Sprache unterwiesen werden sollte und von Anfang an mit Luis de Vacca und später mit Adrian von Utrecht ausgezeichnete Lehrer berufen wurden. Als schweres Versäumnis wird der Humanist schon damals vermerkt haben, daß der mögliche Erbe der Katholischen Könige nicht in die spanische Sprache und Kultur eingeführt wurde. Karl, der selbst in hohem Maße hatte erfahren müssen, welche Hürden ihm durch seine mangelnde Vorbereitung auf die Übernahme der Herrschaft in Spanien aufgebaut worden waren, hat daraus offenbar keine Lehren gezogen. So, wie Karl bis 1516 rein burgundisch war,115 war Philipp in seinem 16. Lebensjahr rein spanisch – und er blieb es. Das Erziehungskonzept des Kaisers für seinen Sohn, wenn er denn eines hatte, fiel hinter die Pläne seines Vaters von 1505 zurück. Es war – auf spanische Verhältnisse übertragen – die rein adlige Erziehung eines Herzogs von Burgund, wie Chièvres sie einst durchgesetzt hatte, und keinesfalls geeignet, seinen einzigen legitimen Sohn und Erben auf die Herrschaft über ein vielsprachiges Weltreich unterschiedlichster Kulturen vorzubereiten. Die Erkenntnis, daß in der Erziehung des Sohnes etwas versäumt worden war, kam Karl zu spät – zu dem Zeitpunkt nämlich, als er Philipp die Regentschaft übergab und der Thronfolger unmittelbar vor seiner Verheiratung mit seiner fast gleichaltrigen Kusine Maria Manuela von Portugal stand, der ältesten Tochter von Karls jüngster Schwester Katharina: ein schlecht gewählter Augenblick, um Philipp die Notwendigkeit zu erklären, Latein und möglichst auch Französisch zu lernen: Wie ich Euch in Madrid sagte, müßt Ihr nicht glauben, daß das Lernen Euch die Kindheit verlängere. Im Gegenteil wird es Euch wachsen lassen in Ehre und Ansehen, so daß, auch wenn Euer Alter noch geringer wäre, sie Euch eher als Mann betrachten würden. Denn das frühe Mannsein liegt [...] allein darin, daß man Urteil und Wissen besitzt, und zwar eines weisen, einsichtigen, guten und angesehenen Mannes. Und dafür ist allen sehr nötig das Lernen und gute Beispiele und Unterhaltungen. Und wenn es für alle nötig ist, so denke ich, mein Sohn, daß das für Euch mehr als für irgend einen anderen gilt. Denn Ihr sehet, wie viele Länder Ihr zu beherrschen habt, in wie vielen Teilen, und wie weit die einen von den anderen entfernt liegen und wie verschieden sie sind nach ihren Sprachen. Deshalb, wenn Ihr sie habt und Euch ihrer zu erfreuen wünscht, ist es nötig, daß Ihr von ihnen verstanden werdet und sie versteht. Und dafür gibt es kein unentbehrlicheres und allgemeineres Hilfsmittel, als die lateinische Sprache. Darum bitte ich Euch sehr, daß Ihr bemüht seid, sie Euch anzueignen der Art, daß Ihr nachher Euch nicht scheut, sie mündlich zu sprechen. Es wäre nicht übel, auch etwas vom Französischen zu verstehen, aber ich möchte nicht, daß Ihr über der einen alle beide versäumtet.116

Das Ergebnis dieses verspäteten Ansatzes, Versäumtes nachzuholen, war wie zu erwarten: 115 Brandi 1941, 83. 116 Brandi 1935, 59. 61.

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„1548 verließ Philipp erstmals Spanien und reiste über Genua, Mailand, Innsbruck, Schwaben und Lothringen nach Brüssel. Mit seiner steifen Zurückhaltung und seiner Unfähigkeit, sich in einer der gängigen Fremdsprachen auszudrücken, stieß er weitgehend auf Ablehnung und wurde als hochmütig eingestuft.“117

Anders als sein Vater, der durch die Jahrzehnte seiner Hispanisierung sein Image als Ausländer schließlich überwinden konnte, blieb Philipp in den Niederlanden immer der Fremde und wurde letzten Endes zum Feind.118 So, wie der Kaiser seinen Sohn nach einem traditionellen Muster erziehen ließ, das schon in seiner eigenen Jugendzeit überholt war, so verfügte er auch weiterhin über seinen Erben, indem er ihn in die weitreichenden Pläne seiner dynastischen Heiratspolitik einbezog: Karl setzte auch hier, und zwar sehr rigoros, eine Tradition fort, die ihren bisherigen Höhepunkt unter seinem Großvater Maximilian erreicht hatte. Philipp heiratete, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, nach dem frühen Tod seiner ersten Gemahlin119 die wesentlich ältere Mary Tudor, später bekannt als „Bloody Mary“, mit der schon Karl einmal verlobt gewesen war. Mit dieser Verbindung hoffte Karl ein letztes Mal, seinen „burgundischen Traum“ erfüllen zu können, indem Frankreich von allen Seiten eingekreist und zur Herausgabe des Duché de Bourgogne gezwungen werden sollte. Es blieb ein Traum. Die Einwände des Erasmus gegen die dynastische Heiratspolitik und ihre Konsequenzen hat Karl nicht zur Kenntnis genommen, obwohl er alle nachteiligen Begleiterscheinungen und Folgen, die der Humanist benennt, selbst erfahren hatte: die gebrochenen Verträge, die lettres mortes, die nur einen Frieden von kurzer Dauer garantierten, die Probleme der aus den Verbindungen fremder Dynastien geborenen Kinder, die sich weder dem Vater- noch dem Mutterland zugehörig fühlten und denen zumindest oft in einem der beiden Länder die volle Anerkennung versagt blieb. Erasmus hatte reichlich Gelegenheit, derartige Entwicklungen während der Herrschaft Maximilians zu beobachten und wünschte, den jungen Herzog von einer Fortsetzung dieser Politik abzuhalten.120 Vergeblich: „Karl verfolgte [bis in seine letzten Regierungsjahre; A.S.] in etlichen Variationen das Ziel, die »Einheit des habsburgischen Gesamtsystems« durch eine möglichst enge Verbindung der zwischen den eigenen [!] und der Linie des Bruders aufge-

117 Pietschmann 1988, 385. 118 Unter Philipps Herrschaft begann der Befreiungskampf der sieben nördlichen (protestantischen) Provinzen der Niederlande, die sich 1581 von Spanien und Habsburg lossagten und die Republik der Vereinigten Niederlande, auch Generalstaaten genannt, bildeten. 119 Maria Manuela starb siebzehnjährig nach der Geburt des Don Carlos, in dessen unglücklicher Gestalt sich alle physischen und psychischen Defekte der Habsburger und der spanischen Dynastie als Erblast bündelten. 120 p. 323–327 W.

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teilten Herrschaftsgebiete auch für die Zukunft zu gewährleisten.“121 Philipp II. folgte, zuletzt gegen seinen ausdrücklichen Wunsch, der vom Vater eingeschlagenen Linie.122 In den letzten Lebensjahren des Kaisers fanden die klugen Worte des Erasmus, daß nichts so tief eindringt und so fest haftet, als was in den ersten Lebensjahren gepflanzt wird,123 in der Persönlichkeitsentwicklung Karls V. noch einmal ihre Bestätigung. C.J. Burckhardt schrieb einmal: „Karl hatte den burgundischen Ritter in sich zu überwinden“124 – was dem Kaiser nie völlig gelang, denn sonst hätte er sich wohl kaum in der Einsamkeit von San Yuste immer noch mit dem Buch beschäftigt, das ihn seit seiner Jugend begleitet hatte: mit dem Chevalier délibéré des Olivier de La Marche, das er selbst einige Jahre zuvor ins Spanische übersetzt hatte, wie der Kammerherr des Kaisers und Vertraute seiner letzten Lebensjahre, Guillaume van Male, in seinem Briefwechsel mit Louis de Flandre, seigneur de Praet, mitteilt: Cæsar maturat editionem libri, cui titulus erat gallicus: le Chevalier délibéré. Hunc per otium a se ipso traductum tradidit Ferdinando Acunæ, Saxonis custodi, ut ab eo aptaretur ad numeros rithmi hispani: quæ res cecidit felicissime; Cæsari sine dubio debetur primaria traductionis industria, cum non solum linguam, sed et carmen et vocum significantiam mire expresserit; verum quæ est immodica certe modestia, ne in proœmio quidem passus est ullam solertiæ suæ laudem adscribi, quantumvis a me rogatus et monitus tum honestissimo exercitio tum sæculo ipsi gravem injuriam fieri.125

Mit diesem Festhalten an der Leit-, vielleicht sogar Identifikationsfigur seiner Kinder- und Jugendjahre gibt der Kaiser nicht nur etwas von seiner verschlossenen Persönlichkeit preis, sondern stellt überdies erneut den in ihm angelegten, schon von Zeitgenossen gelegentlich kritisierten Zug zum Beharren unter Beweis, der über alles Persönliche hinaus seine Auffassung vom Kaisertum bestimmte. Karls Blick blieb rückwärts gewandt, während sich der Blick eines Herrschers, der den Forderungen der Neuen Zeit gerecht werden wollte, nach vorne richten mußte. In rein rational bestimmten Bereichen, die nicht seinen tief verwurzelten 121 Laubach 2003, 124 f. (Zitat: A. Kohler). 122 Noch 1570 schloß er seine vierte Ehe mit Anna von Österreich, einer Enkelin Ferdinands I. Aus dieser Ehe ging schließlich der ersehnte Erbe hervor, der spätere Philipp III. In dritter Ehe war Philipp zuvor mit Elisabeth von Valois, der Tochter Heinrichs II. von Frankreich, verheiratet gewesen, die ihm zwei Töchter gebar. 123 Diese Erkenntnis des Humanisten geht auf Platon, Politeia 377b zurück; vgl. Erasmus ed. Welzig 115 (G. Christian). 124 Burckhardt 1954, 24. 125 Male p. 15–16 Reiffenberg. Der Brief van Males ist vom 13. Januar 1551 aus Augsburg datiert, also unmittelbar nachdem der Kaiser dem Kammerherrn und Sekretär seine Memoiren diktiert hatte.

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Wertekanon berührten, d.h. die vor allem nicht das Haus, Burgund, sein Streben nach Reinheit und Einheit des Christentums und sein Selbstverständnis als Ordensritter betrafen, leitete der Kaiser durchaus Maßnahmen ein, die auf eine graduelle Anpassung an die Erfordernisse der Neuen Zeit hinführten.126 Daher kann man für die Hauptphase seiner Herrschaft, für die Jahre nach 1530 bis zu den frühen 1550er Jahren, L. Schorn-Schütte zustimmen, die Karl V. als „Kaiser zwischen Mittelalter und Neuzeit“ bezeichnet und damit anders als P. Rassow, der das Ende einer Epoche akzentuiert, den Übergangscharakter betont, der dem 16. Jahrhundert noch eignet. Greift man nochmals das Bild der „Epochenschwelle“ auf, so muß man konstatieren: Es gelang Karl nicht vollends, den Schritt über diese Schwelle zu tun, aus der Zeit herauszutreten, die ihn hervorgebracht hatte. Das blieb seinem jüngeren Bruder und der nächsten Generation vorbehalten. So hat auch niemals jemand Karl V. explizit den „ersten Kaiser der Neuzeit“ genannt, obwohl seine Regierungszeit nach traditioneller Periodisierung in diese Epoche fiel – diese Zuordnung blieb Ferdinand I. vorbehalten, den wiederum nie jemand als „mittelalterlich“ bezeichnet hätte. Zwei Brüder, im Alter nur um drei Jahre getrennt, von Historikern zwei verschiedenen Epochen zugeordnet: Darin scheint mir die ganze Problematik der „Epochenfrage“ zutagezutreten. J.-M. Cauchies hat am Schluß seiner Biographie Philipps des Schönen eine sehr treffende Formulierung zur Charakterisierung Karls V. gefunden:

126 Als Beispiele seien hier genannt: (1.) Schon 1515 muß Karl erkannt haben, daß sein Herzogtum für einen möglichen Krieg nicht gewappnet war, denn die Schlacht von Marignano war durch den Einsatz der französischen Artillerie entschieden worden (vgl. oben 163 f. m. Anm. 12). Ab 1521 verstärkte der junge Herrscher daher sein Heer erheblich und rüstete es mit modernen Waffen, vor allem Artilleriegeschützen, aus – vermutlich mit den Mitteln, die ihm sein premier chambellan hinterlassen hatte (vgl. oben 250 Anm. 283). (2.) 1532 wurde die für das ganze Reich verbindliche Halsgerichtsordnung durch den Reichstag in Kraft gesetzt. Als Constitutio Criminalis Carolina, kurz: Carolina, ist dieses wichtige Werk zur Vereinheitlichung des Rechts mit dem Namen des Kaisers verbunden, auch wenn die Vorbereitungen dazu bereits im Zuge der Reichsreform Maximilians I. begannen. (3.) Die Schaffung der Grundlagen für eine politische Ordnung der Nuevas Indias und die Gesetze zum Schutz der dortigen indigenen Bevölkerung stellen unter Beweis, daß der Kaiser den neuen Herausforderungen, die sein Weltreich mit sich brachte, nach Kräften zu begegnen suchte. (4.) Auf den Grundlagen, wie sie in Spanien seit den Tagen der Katholischen Könige und in den burgundischen Niederlanden seit der Regentschaft Margaretes von Österreich gegeben waren, baute der Kaiser ein für die Zeit außerordentlich effektives System der Verwaltung für sein Weltreich auf. Höchst „unmittelalterlich“ war schließlich die Abdankung des Kaisers: Adrian hätte die Niederlegung eines von Gott verliehenen Amtes schärfstens abgelehnt. Doch dies war eine Frage, die sich dem jungen Karl nicht stellte.

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„Nous écririons volontiers de lui qu’il demeura sans doute un Bourguignon de cœur mais qu’il n’apparaît plus, en tout état de cause, comme un Bourguignon d’action.“127

Als Bourguignon de cœur aber hing Karl einer Welt an, die nur noch ein Traum war, und einer Zeit, deren Herbst bereits Vergangenheit war. Mehr als in allen überkommenen äußeren Formen seiner Herrschaftsausübung sehe ich darin den tieferen Grund, ihn den Herrschern eines zu Ende gehenden Zeitalters zuzurechnen und ihn, allerdings mit den dargelegten Einschränkungen, den „letzten Kaiser des Mittelalters“ zu nennen. Die Ausblicke auf die Jahre insbesondere nach 1530 jedoch zeigen, daß Karl keiner Epoche wirklich angehörte, ebenso wenig wie einer Nation. Die glücklichste und alle zufriedenstellendste Lösung wäre wohl – vom „Zeitalter Karls V.“ zu sprechen. Denn er selbst prägte seine Zeit und wirkte nicht nur als weltpolitisch entscheidende Größe, sondern durch seine Persönlichkeit als Ausnahmeerscheinung in einer Ausnahmesituation, die so nie wiederkehrte, für ein Menschenalter weit über die Grenzen seines eigenen Machtbereichs hinaus.

127 Cauchies 2003, 250.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis und -nachweis 1 2 3

4

5 6

7 8 9 10 11 12 Umschlagbild

Juan de Flandes, Porträt der Juana von Kastilien, um 1500. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 32. Juan de Flandes, Porträt Philipps des Schönen, um 1500. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 33. Meister der Georgsgilde (zugeschr.), Die Kinder Philipps des Schönen und Juanas von Kastilien: Ferdinand, Karl, Eleonore, Isabella, Maria und Katharina. Diptychon, 1508. Verschollen, ehem. Toledo, Museo de Santa Cruz. Nach Soly (Hg.) 2000, 40/41. Bernard van Orley, Porträt der Margarete von Österreich. Undatiert; eines der frühesten Porträts der Regentin durch den Mechelner peintre en tître. Bristol, Bristol Museums and Art Gallery. Nach Soly (Hg.) 2000, 147. Albrecht Dürer, Maximilian I. Nach dem Tod des Kaisers auf der Grundlage einer Porträtskizze von 1518 ausgeführt. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 39. Meister der Georgsgilde (zugeschr.), Triptychon, Oktober 1502. Es zeigt die drei ältesten der „burgundischen Kinder“: Karl, Eleonore und Isabella. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 28/29. Bernhard Stri[e]gel, Kaiser Maximilian I. mit Migliedern seines Hauses. Dynastisches Familienbild, wohl 1515. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 38. Bernard van Orley (zugeschr.), Erzherzog Karl um 1510. Edinburgh, National Gallery of Scotland. Nach Soly (Hg.) 2000, 26. Unbekannter Künstler, Guillaume de Croy, seigneur de Chièvres, um 1510. Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique. Nach Soly (Hg.) 2000, 117. Bernard van Orley (zugeschr.), Papst Hadrian VI., um 1522. Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum. Nach Soly (Hg.) 2000, 314. Nach Bernard van Orley, Porträt des Herzogs von Burgund um 1515/16. Eine von zahlreichen Kopien des offiziellen Porträts. Brügge, St. Salvator. Nach Soly (Hg.) 2000, 42. Hans Maler, Porträt des Erzherzogs Ferdinand im Alter von siebzehn Jahren, um 1520. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie. Nach Soly (Hg.) 2000, 47. Miniatur aus: Remy Dupuys, La tryumphante et solennelle Entrée de Monsieur Charles en Bruges (1515); Ausschnitt. Wien, ÖNB, Cod. 2591. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. ‒ Dargestellt ist ein Beitrag der Italiener zum Einzug des Herzogs von Burgund; vgl. dazu im Text S. 479.

Register

1. Orte Aachen 3, 13, 151, 156, 248, 280, 297, 300, 304, 319, 342, 344, 446, 459, 471, 482, 492, 574 f., 606 Abadía 289 Alcalá de Henares 25, 505 Amsterdam 491 Antwerpen 13, 37, 71, 89, 93 f., 98, 405, 441–456, 478 Aquilar de Campo 531 Aranda de Duero 524, 529, 531, 533, 545 bis 548, 550, 552, 554 Arcos 513 Arévalo 70, 505, 508 f. Arnheim 255 Arona 339 Arras 58, 87, 223, 491 Artois 59, 408 Augsburg 609 f., 612 Ávila 69, 79 Barcelona 240, 304, 383 Besançon 9 Béthune 97, 442 Blois 141 f., 376, 410, 510, 518 f., 544, 565f. Bois-le-Duc › ’s Hertogenbosch Bologna 93, 319, 459, 492, 610 Bourg-en-Bresse 45 Brou 32, 45, 273 Brügge 22, 37, 56, 58, 65, 143, 181, 356, 359, 405, 547, 439 f.,

446, 466–493 Brüssel 9, 19 f., 24 f., 27, 29, 33, 37, 42, 53, 76, 85, 89, 91, 94–99, 105f., 108 f., 118 f., 131, 154, 215, 232, 237, 248, 264, 281, 286, 306, 319, 330, 336, 342, 357–359, 368, 370, 374, 376, 378, 380–383, 385, 387, 389, 401 f., 403 bis 406, 409, 414, 417, 424, 426, 433, 439, 441 f., 443, 464, 491, 499 f., 502, 524, 550, 568 f., 576, 579, 596, 617 f. Buda 158 Budapest Burgos 28, 53, 80, 285, 292, 356, 363, 511f., 523 Calais 108, 147 f., 574 f. Cambrai 37, 71, 88, 93, 103 f., 374, 420, 518 Canterbury 151 Champmol 598 Chantilly 33 Charolais 56, 59 Cójeces 80 Compiègne 409 Cordoba 221, 240 Den Haag 91, 155, 212, 284, 327, 491 Deventer 253 f., 258 Dijon 23, 37, 44, 598

Douai 491 Escorial (El) 33 Exeter 78 Falmouth 78 Ferrara 44 Florenz 106, 453 Franche-Comté 38, 43, 59, 284, 409, 411, 415, 600 Frankfurt 58, 297, 600, 609 Freiburg 366 Geldern 56, 88 f., 97, 100f., 103, 105 f., 109, 144, 390f.,398, 449, 452 Gent 8, 19–22, 24, 37, 53, 57 f., 62, 87, 94, 143, 328, 405, 437 f., 440, 456–468, 493, 551 f., 606 Genua 392 Goedereede 263 Granada 292, 356 f., 358, 362, 364, 369, 376 Gravelines 574 Groenendael 280–282, 574, 613 Guadalupe 290, 522, 560 Guéret 191 Guinegate 110, 333, 411 Hagenau 142, 185, 339, 410, 579 Hal 109 ’s Hertogenbosch 103 Héverlé 94, 99, 207, 491 Ingolstadt 495 Innsbruck 130 f., 153, 578 Játiva 307 Jerusalem 482, 489, 493 Kleve 273

Register

Köln 449, 453, 579 Konstantinopel 129 Konstanz 95, 604, 607, 616 La Coruña 78, 297 La Haye › Den Haag Laredo 67, 71 L’Ecluse › Sluis Leeuwe 441 Lier (Lierre) 71, 92 f., 128, 185, 425, 526, 570 Lille 7, 89, 94, 97, 110 bis 112, 147, 151, 201, 333 f., 390, 491 Linz 96, 122, 558, 579 Lissabon 544 Llanes 530 Löwen (Leuven/Louvain) 29, 37, 45, 48 f., 94, 252 f., 260–276, 282, 284, 294, 303, 401, 409, 440–443, 575, 602 Lombardei 108, 155, 327, 410, 420, 448 London 31, 115, 306, 398 Luxemburg 56, 87 Lyon 141 Madrid 42, 65 f., 518, 523, 525, 530, 598 Madrigalejo 291, 357, 369 Magdeburg 611, 613 Mailand 18, 106, 138, 141 f., 306, 339, 412, 420 Mainz 579 Maldeghem 467 Male 467 Malines › Mechel(e)n Mantua 44, 106 Marignano 155, 165, 420, 627 Mechel(e)n 3–4, 20–55, 59, 62, 81, 85, 89 f.,

93–98, 106, 108–111, 117, 119–122, 128, 135, 170 f., 174–176, 181, 184, 201 f., 207, 268, 273 f., 276, 284, 298, 318, 322, 342, 355, 357 f., 360, 368, 388, 401–403, 412 f., 415, 426, 436, 438, 443 f., 515, 576, 593, 616 Medina del Campo 66, 76, 299, 355, 506 Metz 135, 611 Middelburg 491, 504, 525, 557 Miraflores 356 Mohács 154 Mojada 296 Mojadoz 536–540, 557, 581 f. Mons 491 Montdidier 374 Moskau 152 Mühlberg 605 Namur 491 Nancy 20, 34, 434 Neapel, Kgr. 26, 79, 138, 140 f., 144, 155, 240, 285, 292, 376, 412, 479, 509 Nijmegen 449 f. Novara 108, 410 Noyon 155, 221, 236, 426 f. Nürnberg 22, 609 Oran 524, 597 Orléans 148, 397 Ostia 313 Paris 9, 152, 155, 212, 256, 260, 267 f., 270, 284, 327, 336, 374, 383, 405, 410–412, 417 f., 491, 598 Passau 611

645 Pavia 156, 345, 598 Pfirt 579 Picardie 189, 206, 223 Piemont 600 Pisa 104 Preßburg 151 f. Reims 408 f. Rhodos 312 Roa 296 Rom 196, 253, 271f., 275, 277, 302f., 306–309, 312 bis 316, 343, 455, 596, 600, 608, 614 Rotterdam 491 Saint-Denis 150 Salamanca 78, 509 Santander 313, 348, 350, 547, 550, 552, 567, 569 San Vicente de la Barquéra 348 f. Savoyen 29 f., 33, 42, 45 f., 51, 54, 88, 127 Scheut 617 Segovia 69, 505 Senlis 59 Sevilla 188, 378 Simancas 9, 511 f. Sinai 473 Sizilien, Kgr. 285, 292, 376, 479, 597 Sluis 467 Swynaerde 457 Tarent 292 Tazones 348, 530 Terbanc (Le Banc) 440 Termonde 94 Tervueren 96, 98 f., 491, 574 f. Thérouanne 109 f., 228, 333, 391, 448 Thienen 441 Tirol 71, 128 Toledo 69, 74, 240, 243 f., 246, 297, 353, 378 Tordesillas 69, 80 f., 122, 349, 356, 514, 532–535,

646 541–543, 554 Toro 506 Torquemada 81, 339, 513 Tortosa 265, 502 Toul 611 Tournai 110 f., 115, 147f., 433 Tours 142 Trient 88, 93, 141, 463, 602, 610 Trier 97, 450 f. Troja 47, 128, 132 Tudéla de Duero 509 Tunis 188, 596 f., 600, 605, 621 Turin 450 Tuy 345 Urbino 44 Utrecht 252, 262 f., 265f., 276, 295, 302

Register

Val-Duc 94 Valencia 514, 573 Valladolid 69, 79, 142, 188, 200, 247, 293, 296, 299–301, 341, 344, 348 f., 509–513, 535, 538–547, 554 f., 562–566 Vatikan 307, 315 Venedig 89, 104 f., 108, 114, 149, 280, 284 Verdun 611 Vicenza 114 Villach 611Villafávila 79, 509 f. Villalar 302 Villaviciosa 295 Vilvorde 98, 393, 396 Vlissingen 348, 551 f. Walcheren 71

Wels 84, 297, 357, 579 Wien 9, 49, 96, 122, 126, 152–154, 324, 357, 373, 392, 396, 411, 414, 495 f., 558, 578 Wiener Neustadt 357 Windesheim 258 Windsor 77 Worms 13, 414, 549, 558, 579, 600, 604, 609, 613, 616 Ypern 143 Yuste 12, 34, 129, 178, 186, 357, 626 Zaragoza 75, 350, 352, 354, 430, 542, 545f., 567

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2. Personen Abélard, Pierre 268 Acuña, Hernando de 626 Adrian von Utrecht (Hadrian VI.) 48 f., 169, 174–177, 190, 197, 202 f., 206, 209, 251–317, 332, 340, 342, 358, 370, 392, 412, 452, 465, 500, 502f., 510, 519, 522 f., 525 f., 535, 538, 540, 545, 552, 565, 569, 601 f., 607 f., 613 f., 617, 624, 627 Agricola, Rudolf 47, 260 Aguilar, Marqués de 526, 530, 550, 576 Alaerdt, Johannes 460 f. Alba, Fernando Álvarez de Toledo y Pimentel, Duque de 85 Albert, Hz. von Sachsen 58 Albertinus, Aegidius 621 Albrecht V., Hz. v. Österreich (Kg. Albrecht II.) 56, 151 Alexander der Große 477, 484, 493, 623 Alexander VI. (Rodrigo Borja) 293, 307 Altamira, Álvaro Lope de Moscoso Osorio y Andrade, 4. Graf v. 562 Altdorfer, Albrecht 131 Amboise, Georges Kardinal d’ 88, 137, 142, 339, 410 Anchiata, Juan d’ 169–171 Angleria (Anglerius/d’Anghiera), Petrus Martyr de › Petrus Martyr de Angleria Anna v. Böhmen, Gemahlin Ks. Ferdinands I. 122, 124, 140, 152 f., 496, 502f., 520, 558, 579 Anna v. Österreich, T. Maximilians II., 4. Gemahlin Philipps II. 626 Anna v. Österreich, T. Philipps III., M. Ludwigs XIV. 192 Anne de Bourgogne, Dame douairière de Clèves-Ravenstein 20, 29, 62 Anne de Bretagne, Hzgn., Kgn. v. Frankreich 59, 140, 143 Anton, Hz. von Lothringen 103 Aragon, Alonso d’ 220, 376, 536, 559 Aragon, Juan d’ 102, 207

Aragona, Luigi Kardinal d’ 241, 343 Aretino, Pietro 307, 315 Arnout, Hz. von Geldern 88 Arundel, William Fitz-Alan, 18th Earl of 78 Astorga, Alvaro Osorio, Bf. v. › Moscoso, Alvaro Osorio de, Bf. v. Astorga Astorga, Luis Osorio, Marqués de 510 Arthur, Prince of Wales, S. Heinrichs VII., 1. Gemahl der Katharina v. Aragon 78 Auxy, Charles d’ 549 Ávila y Zuñiga, Luis de 178, 605 Ayala, Diego Lopez de 560 f. Badoer(o), Federico 343 Badoer(o), Giovanni 285 Balduin I., Gf. v. Flandern 472 Balduin III., Kg. v. Jerusalem 472 Beatis, Antonio de 343 Beaucourt, Jean, sr. de La Roche 350 f. Beaugrant, Guyot de 30 Beaumont, Anne de 21, 62, 86, 201, 207, 532, 542 Beersel › Witthem, Henri de Belmonte › Juan Manuel, sr. de Belmonte Bembo, Pietro 301 Berghes, Henri de, Bf. v. Cambrai 71 Berghes et de Walhain, Jean, sr. de 58–60, 101, 112, 144 Berni, Francesco 307 Bertrandi, Guillermus 464 Blasius de Cesena 492 Boele, Egidius 458 Boisot, Pierre 84 Boleyn, Sir Thomas 105 Borja, Francisco de 188 Bosch, Hieronymus 31 Bramante (Donato d’Angelo) 313 Brandon, Charles, später Hz. v. Suffolk 151 Bredemer, Henri 50, 185 f. Bresse, René de 38 Brück, Georg 613, 615 Brunner, Hieronymus 579 Burgkmair, Hans 129

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Burgo(s), Andrea de 368 Burmannus, Cornelius 251 Busleyden, Franz v. 48, 58, 74, 141 Busleyden, Hieronymus v. 48, 270 Cabot, Sebastian 188 Cajetan, Tommaso de Vio, Kardinal 305 Calixtus III. (Alonso Borgia/Borja) 307 Campeggio, Lorenzo Kardinal 308 Canisius, Petrus 260 Cardona, Roman de 150, 292, 376 Carvajal, Bernardino Kardinal Lopez de 92 f., 104, 136, 150, 306, 313 Carvajal, Isabel de 506 Carvajal, Lorenzo Galindes 379 f., 562 Casas, Bartholomé de las 249, 592 Castiglione, Baldassare 43 f., 161, 305, 307, 312 Castro, Diego Lopez de 113, 286, 517 Castro, Páez de 504 Cauwerburch, Johannes 458 Cellarius, Christophorus 589 Celtis, Conrad 128, 260 Charlotte de France, T. Franz I. 140, 155 Chastellain, Georges 469 Chelidonius, Benedictus 13, 496 f. Chlodwig 133 Christian II., Kg. v. Dänemark 96, 158, 397, 402, 424 f. Christoph, Mgf. v. Baden 58, 62 Cisneros › Ximénes de Cisneros, Francisco Claude de France, T. Ludwigs XII. 61, 78, 140, 143 f., 152, 358, 410 Clève (Kleve), Adolphe de, sr. de Ravenstein 20 Cock, Hieronymus 319 f. Coninxloo, Pieter van 122 Contarini, Gasparo Kardinal 211, 250, 280, 344–346, 354 Corner, Francesco 183, 250, 344, 346, 349 Cortéz, Hernando 189 Courteville, Jean de 339 Croy, Antoine de, sr. de Sempy 412, 548 f. Croy, Charles de, prince de Chimay 24, 53, 62, 94 f., 161, 328, 361, 395, 549, 577

Croy, Ferry, sr. de Rœulx 546, 549 Croy, Guillaume de, sr. de Chièvres 27 bis 29, 35, 39, 60–62, 65, 85, 94–96, 101–103, 110 f., 113–115, 135 f., 143, 154–156, 160, 173–178, 182, 189 bis 200, 203–251, 273, 276 f., 283 f., 286f., 292, 296, 298, 315, 317, 335, 349, 364, 366, 386, 391 f., 395 f., 407f., 412–415, 419, 421, 423, 426– 428, 430, 439–442, 457, 464 f., 468, 526, 532 f., 540, 546 f., 552, 561, 580, 591, 595, 597 f., 601, 622, 624 Croy, Guillaume de, Bf. v. Cambrai, Ebf. v. Toledo 241, 244, 246, 343, 573 Cuspinianus, Johannes 159 Dante Alighieri 619 Dedel, Johann 266 De Hertoghe, Petrus 462 Denía, Bernardo de Sandoval, Marqués de 543 Des Barres, Guillaume 418 Desprez, Josquin 50 Deutecum, Jan 320 Deutecum, Lucas 320 Dietrich v. Elsaß, Gf. v. Flandern 472 f. Don Carlos, S. Philipps II. 625 Du Bellay, Martin 212–219, 225, 227 bis 230, 232, 235, 465, 491 Dupuys, Remy 434, 467–493 Dürer, Albrecht 32, 51, 131 Edward IV., Kg. v. England 20 Egmond, Floris Graf, sr. d’Ysselstein (Ijsselstein) 112, 172, 395 Egmont, Charles d’, Hz. v. Geldern 89, 103, 106, 108 Eleonore v. Österreich u. Burgund, Schw. Karls V., Kgn v. Portugal, dan. v. Frankreich 19 f., 23–25, 53 f., 66, 81, 83, 90, 97, 99, 103, 114, 122, 137, 139, 157f., 168, 173, 186, 207, 242 f., 247, 320 bis 322, 349, 396, 402 f., 405–407, 428, 439, 532–536, 540–543, 547, 568, 577 Eleonore v. Portugal, M. Maximilians I. 133, 360

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Elisabeth v. Valois, T. Heinrichs II. v. Frankreich, 3. Gemahlin Philipps II. 626 Enckenvort (Enkevoirt), Wilhelm van 264, 316 Engelbrecht, Peter 159 Erasmus von Rotterdam 4, 14, 16, 22, 45, 48 f., 51, 147, 177, 203, 260, 267, 270 f., 320, 342, 549, 573, 593, 601, 616 f., 620–623, 625 f. Eugen IV. (Gabriele Condulmer) 260 Eyck, Hubert van 437 Eyck, Jan van 31, 437 f. Ferdinand (der Katholische), Kg. v. Aragon 3, 18 f., 28, 63, 66 f., 69, 73, 85, 89, 95, 102, 104 f., 108, 110f., 112–115, 121, 144, 147 f., 149, 152f., 155, 168f., 206 f., 209, 233, 236, 246, 265, 277, 284 f., 286, 288, 291, 293, 298, 350, 355–357, 365, 368–384, 388, 392 f., 397, 412 f., 416, 420, 425, 491, 498 bis 501, 504–511, 514–520, 522–524, 539, 542–545, 547, 552, 555, 565, 568, 576 Ferdinand (I.), Infant, Röm. Kg., Ks. 4, 10, 12, 25 f., 49, 66, 75, 93, 114, 123–125, 130, 136, 140, 152 f., 154, 157, 177, 207, 266, 285, 287, 292, 312, 321 f., 324, 370, 377, 382, 497–522, 523–587 passim, 593, 608 f., 611 f., 626 f. Fernández, Gonzalo 141 Fine, Cornelius de 305 Florens Bo(e)y(d)ens(z.) 252 Foix, Germaine de, 2. Gemahlin Ferdinands v. Aragon 63, 144, 368 f., 508, 547 Fonsec(c)a, Antonio de 299 Fonseca, Juan Rodríguez de 66 Francesco da Barberino 162 Franz I. (François d’Angoulême), Kg. v. Frankreich 108, 115, 140, 142, 154 bis 157, 164, 201, 212, 223, 232 f., 236 f., 306, 312 f., 351 f., 383, 408–412, 417, 420, 425, 448, 558, 596, 598–600 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 619 Friedrich II., Ks. 589, 619 Friedrich III., Ks. 58 f., 121, 127 f., 133,

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151, 360, 500, 619 Friedrich, Hz. v. Baiern, Pfalzgraf 112, 157, 283, 396, 435, 464, 468 Friedrich der Weise, Kfst. v. Sachsen 424, 613, 615 Fuensalida, Gutierre Gómez de 63, 73, 76 Fürstenberg, Wolfgang Gf. v. 411 Gallus, Nikolaus 611 Gattinara, Mercurino Arborio, Marchese di 4, 16, 38 f., 43, 101, 156 f., 181, 237, 240, 250, 308 f., 342, 346, 352, 408, 411, 430 f., 518 f., 588, 607, 617 bis 619 Geertruyt, M. Adrians v. Utrecht 253 Georg Podiebrad, Kg. v. Böhmen 151 Gheet, Jan de 444 G(h)elden de Nausnyder 443 Giovio, Paolo 261, 280, 301, 343 et passim Girón, Alonso Tellez 526 Girón Acuña, Pedro, Gf. v. Ureña 531 Glapion, Jean Kardinal 613, 615 Gonzaga, Sigismondo Kardinal 306 Gorrevod, Laurent de, Gf. v. Pont de Vaux 572 f. Grand bâtard René › René de Bresse Gregor XI. (Pierre Roger) 308 Greiffenclau, Richard v., Kfst. v. Trier 450 Groote, Geert 254–259, 264, 267, 279, 281 Guevara, Antonio de 621 Guevara, Diego de 509–511, 526 f. Guicciardini, Francesco 26 Guzmán, Diego Ramírez de 506 f., 511 Guzmán, Gonzalo de 507, 522 f., 525 Guzmán, Pedro Nuñez de 507, 510–513, 515, 522 f., 525 f., 562 Hack, Jan 407 Hacquenay (Hackney), Casius (Nicasius) 418 Hadrian, röm. Ks. 482 Hadrian I. 309 Hadrian IV. (Nicolas Breakspear) 308 Hadrian VI. › Adrian von Utrecht Hamal(e), Marie-Madeleine de, Madame

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Register

de Chièvres 207 Heinrich VII., Kg. v. England 78, 144, 158 Heinrich VIII., Kg. v. England 11, 105 bis 108, 110–112, 114 f., 118, 140, 144, 146–151, 155 f., 201, 228, 284, 302, 312, 333 f., 388, 391, 397 f., 412, 416 f., 420, 425 f., 448 f., 574 f. Heinrich II., Kg. v. Frankreich 611, 626 Helena, Ksn. 380, 450 Herberstein, Sigismund v. 424 Herkules 483 f., 493–497, 618 Horebout, Gerard 36 Hus, Jan 607, 616 Hutten, Ulrich von 589 Isaac, Heinrich 50, 185 Isabella v. Bourbon, Gemahlin Karls d. Kühnen, M. Marias v. Burgund 20, 361 Isabella, Königin v. Dänemark, Schw. Karls V. 20, 23, 53, 66, 89, 96, 99, 103, 118, 122, 137 f., 159, 169, 173, 320–322, 340, 386 f., 397, 399, 402, 404, 407, 424 f., 439, 497 Isabella (die Katholische), Kgn. v. Kastilien 11, 18 f., 27 f., 37, 63, 66 f., 69–71, 73, 75–77, 121, 141 f., 168, 185, 223, 239, 241, 250, 285, 292 f., 328 f., 339, 356 bis 358, 370, 376 f., 382, 505 f., 508, 515, 517–519, 535, 539, 576, 587, 618 Isabella, Mgfn. v. Mantua 306 Isabella v. Portugal, M. d. Kath. Kgn. 70, 505 Isabella, Königin v. Portugal, älteste T. der Kath. Könige 19 Isabella, Infantin v. Portugal, Gemahlin Karls V. 69, 139, 157, 180, 406 f., 620 Jason 596 Joachim von Fiore 309, 329, 618 Johann Ohnefurcht (Jean Sans Peur), Hz. v. Burgund 121 Johann III., Kg. v. Portugal 122, 544 Johann IV., Hz. v. Brabant 260 Johann von Sachsen 109 Joseph I., Ks. 324 f. Juan, Infant v. Kastilien, 1. Gemahl Mar-

garetes v. Österreich 18 f., 29, 121, 505, 507, 621 Juan Manuel, sr. de Belmonte 102, 107, 111, 113, 220, 281, 305 f., 310–312, 335, 392–397, 510 Juana, Kgn. v. Kastilien 8 f., 18–20, 23 bis 29, 53, 61–63, 66–82, 85, 100–102, 121 f., 165, 185, 188, 223, 231, 285, 292, 295, 298, 329, 350, 354, 356 bis 358, 364, 375–383, 426, 503, 505 bis 507, 509, 512, 514 f., 523 f., 528, 532f., 535, 539, 541–543, 573 Julius II. (Giuliano della Rovere) 89, 93, 104, 106, 150, 273, 313, 315 Karl der Große 309, 407 Karl IV., Ks. 56 Karl VI., Ks. 324 f. Karl VIII., Kg. v. Frankreich 47, 58 f., 228 Karl II., Kg. v. Spanien 324 Karl der Kühne (Charles le Téméraire), Hz. v. Burgund 44, 56, 88, 164, 171, 223, 361, 389, 434, 486, 505 Katharina v. Aragon, Kgn. v. England, 1. Gemahlin Heinrichs VIII. 70, 78, 144, 147, 156, 449 Katharina v. Kastilien, Kgn. v. Portugal, Schw. Karls V. 4, 26, 54, 69, 81, 122, 152, 157, 322 f., 349, 406 f., 497, 499, 513 f., 534 f., 541–544, 568, 624 Keldermans, Antoon 30 Keldermans, Rombout II. 30 Konrad III., Ks. 472 Konstantin der Große 380 Kynen (de Novimagio), Rutger 449 La Chau(l)x › Poupet, Charles de Ladislaus Posthumus, S. Kg. Albrechts II. 151 Lalaing, Antoine de, sr. de Montigny 172, 578 Lalaing, Josse de 58 La Marche, Olivier de 34, 42 f., 58, 60, 128, 132, 187, 467, 469, 626 Lannoy, Charles de 201 Lanuza, Juan de 102 ,112 Lara, Alonso Manrique de 102, 218, 220

Register

bis 237, 373, 381 f., 568 f. Latre, Charles de 365 Laurin (Lauwerin), Jean (o. Jérôme) de, sr. de Watervliet 30, 121 Lefèvre, Raoul 495 Lemaire de Belges, Jean 46 f., 88, 355, 360–368, 467 Leo X. (Giovanni de’ Medici) 106, 114, 150, 241, 265 f., 293, 301–303, 305 bis 307, 313 f., 383, 420, 463, 519, 614, 619 Leoni, Pompeo 324 Leopold I., Ks. 324 f. Leopold III. (d. Hl.), Mgf. 127 Liechtenstein, Paul v. 29 Liederic 471 Lodovico il Moro › Sforza, Lodovico Lomazzo, Giovanni Paolo 326 Louis de Nevers, Gf. v. Flandern 473 Louis, Hz. v. Orléans 411 Louis de Flandres, sr. de Praet 178, 196, 626 Louise de France, T. Kg. Franz I. 140, 155, 221 Louise v. Savoyen, M. Franz I. 420 Ludwig VII., Kg. v. Frankreich 472 Ludwig XI., Kg. v. Frankreich 86 Ludwig XII., Kg. v. Frankreich 28, 61, 86 f., 89, 104, 108, 114, 137, 140 bis 143, 147, 150, 152, 192 f., 214, 228, 339, 398, 408, 410, 521 Ludwig XIV., Kg. v. Frankreich 87, 192, 223 Ludwig II., Kg. v. Ungarn u. Böhmen 96, 124 f., 151–154, 321 f., 496, 499 Luther, Martin 13, 303, 456, 603–609, 613–616 Luxembourg, Jacques II. de, sr. de Fiennes 428 Luxemburg, Jacob v., sr. d’Auxy 490 Machiavelli, Niccolò 290, 292, 453 f., 499 Male, Guillaume van 129, 178, 196, 626 et passim Manrique de Lara › Lara, Alonso Manrique de Manuel (der Reiche), Kg. v. Portugal 19,

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157, 207, 242, 247 Marck, Érard Kardinal de la 87 Margarete v. Österreich, Erzhgn., Hgnwitwe v. Savoyen, Regentin d. Niederlande 3, 5, 9, 15 f., 18–20, 23, 29–33, 36–39, 41–54, 57–59, 65, 71–73, 83–122, 126–128, 130, 133f., 136, 138, 144 bis 149, 154–158, 170–174, 179–181, 184–187, 198–201, 205–207, 210f., 220, 225 f., 230, 232, 234, 236, 251, 273 f., 277, 281, 283–287, 298, 318f., 323 f., 328 f., 332–334, 340, 347, 353, 362, 365f., 374, 386–402, 404f., 408f., 411–431, 435, 442, 455, 461, 465 f., 468 f., 476, 480, 490, 492, 498f., 504, 515, 517–519, 526, 551, 557 f., 568, 572–574, 576 f., 580 Margarete v. Parma, Hgn., T. Karls V. 320 Margarete v. York, Hgnwitwe v. Burgund 20, 22, 45, 56 f., 62, 71, 73, 262, 276, 328 Maria v. Burgund, T. Karls d. Kühnen, 1. Gemahlin Maximilians I. 20–22, 37, 47, 56–58, 65, 121, 125, 128, 133, 165, 356, 578 Maria v. Portugal, T. d. Kath. Könige, Gemahlin Manuels d. Reichen 70 Maria v. Ungarn, Schw. Karls V., Gemahlin Ludwigs v. Ungarn u. Böhmen 23, 25, 27, 33, 53, 77, 96, 122, 124, 126, 138, 152–154, 157 f., 322, 386, 407, 496f., 578 Maria, Infantin, T. Karls V., Gemahlin Maximilians II. 138 Maria Manuela v. Portugal, 1. Gemahlin Philipps II. 624 f. Marlianus, Ludovicus 337–342, 369, 382, 494 f., 499, 607, 618 Marnix, Jean de 38, 414–414 Maroton, Louis 101, 412–414, 427 Marsilles, Jacques, sr. de 500 Martin V. (Oddone Colonna) 260 Masteyn, Franciscus de, sr. de Masseme 462 Matienzo, Tomás de 72 Matthias Corvinus, Kg. v. Ungarn 151

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Mary Tudor, Schw. Heinrichs VIII., Kgn. v. Frankreich, dan. Hgn. v. Suffolk 78, 102, 110, 115, 140, 144, 146 f., 149 bis 152, 214, 397, 417, 448 f. Mary v. England, T. Heinrichs VIII. (Mary I., Kgn. v. England) 48, 140, 144, 156, 625 Maximilian I., Ks. 3 f., 9, 13, 15, 18, 20 bis 22, 24, 26, 28 f., 32, 34 f., 37 f., 42 f., 47, 49, 52 f., 56–65, 71, 83–122, 124, 126–149, 151–155, 157 f., 159, 164 f., 167, 169–172, 174, 176, 178 f., 181f., 184–187, 189, 193, 195, 200–202, 206 f., 220, 224 f., 228 f., 234, 237, 251, 273 f., 275, 283–285, 297, 318f., 324, 333, 340, 343, 348, 351, 357, 360, 364, 366 f., 374, 376, 382 f., 386–392, 395, 397–399, 401, 407, 411–416, 418 f., 421, 423–427, 429–432, 435, 443, 445–456, 461, 463 f., 466, 469, 476, 478, 490, 495–497, 499 f., 503, 510, 516–520, 526, 537, 559 f., 569, 578 f., 596, 598, 600, 602, 607, 619, 623, 625 Maximilian II., Ks. 138 Medici, Giuliano de’ 303 Medici, Giulio Kardinal, später Papst Clemens VII. 305, 609 „Meister der Georgsgilde“ 81, 320, 322 „Meister der Magdalenenlegende“ 322, 521 Melanchthon, Philipp 609–611 Memling, Hans 31 Mendoza, Lope Luis Hurtado de 297, 304 Mennel, Jacob 128 Metteneye, Antonio 464 Meyt (Meit), Konrad 32, 145 Mexía, Pedro 127, 210, 230 Miguél, Infant v. Portugal 19, 73 f., 358, 505 Minio, Marco 343 Minne, Charles 24 Mithridates VI., Kg. v. Pontos 623 Molinet, Jean 21, 46, 60, 321, 469 Moringus, Gerardus 263 f., 269 Moritz, Kfst. v. Sachsen 611

Morus, Thomas 48 f. Moscoso, Álvaro Osorio de, Bf. v. Astorga 505, 507 Mota, Pedro Ruíz de la 102, 113, 180, 296, 371, 482, 500, 527, 539 f. Nassau-Dillenburg, Engelbert Gf. v. 20, 60 f. Nassau-Dillenburg, Heinrich Gf. v. 154, 212, 232, 395, 408 f., 412, 598 Negri (Negro), Girolamo 272 Neve (de Novimagio), Johannes 449, 453 Novomagus (Geldenhaver), Gerardus 371, 375 Opitiis, Benedictus de 445 Opitiis, Georgius de 445 Opitiis, Petrus de 445 Orley, Barend (Bernard) van 32, 50, 324 bis 326, 407 Orti, Gabriel 516 Parra, Gonzalo de la 80, 506 Parra, Juan de la 506 f., 549, 573 Pasqualigo, Pietro 283 f., 336, 354, 401, 415, 423 Paul III. (Alessandro Farnese) 596, 600, 610 Pavie, Michel de 374 Petrarca, Francesco 589 Petrus Lombardus 268 Petrus Martyr de Angleria 11, 26, 66 f., 69, 75 f., 80, 82, 171, 179 f., 208 f., 211, 236–248, 250, 274 f., 288–292, 299–301, 331 f., 335–342, 351–353, 359, 363, 369, 371, 375, 382, 499, 514, 530, 532, 544–547, 551, 554 f., 570 et passim Philibert II., Hz. v. Savoyen 29 f., 32, 38, 45 f., 118, 122, 273 Philipp II. (der Kühne), Hz. v. Burgund 21, 474 Philipp III. (der Gute), Hz. v. Burgund 20, 34, 49, 56, 60, 121, 184, 224, 260 f., 356, 402, 437 f., 468, 486 f., 595 f. Philipp (der Schöne), Hz. v. Burgund (Philipp I., Kg. v. Kastilien u. León) 3, 11f., 18–29, 34, 39, 42, 48, 53, 55–69,

Register

71 f., 74–82, 85–87, 92, 94, 100–102, 111, 121 f., 125 f., 128 ,131, 133 f., 137–139, 141 f., 144, 158, 161, 164, 167, 169 f., 173 f., 184–187, 206, 209, 220, 223, 228, 234 f., 271, 273, 276, 285, 296, 322–324, 328 f., 339, 350 f., 356–368, 371–373, 376, 382, 389, 399, 402 f., 405, 408, 417, 505 f., 508–511, 513, 517, 523, 534, 591, 627 Philipp II., Kg. v. Makedonien 477 Philipp II., S. Karls V., Kg. v. Spanien 11, 33, 70, 124, 156 f., 319 f., 324, 433, 437, 567, 600, 620–626 Philipp III., Kg. v. Spanien 11, 192, 239, 626 Philipp IV., Kg. v. Spanien 122 Pinicianus, Johannes 495–497 Pirckheimer, Willibald 131 Plaine, Gérard de, sr. de La Roche 399 f., 407 Plaine (Pleine), Thomas de, sr. de Maigny 61, 202, 407 Ponynges (Poynings), Sir Edward 108 Poupet, Charles de, sr. de La Chau(l)x 200, 202, 306, 503, 512, 526, 532 Quiek, Pieter 328 Quintana, Pedro de 300, 521 Quirini (Querini), Vincenzo 68, 79 f., 330 Raffael (Raffaello Sanzio) 307, 313, 315 Rave(n)stein, Philipp v. Kleve- 407, 464, 468 Renée de France, T. Ludwigs XII. 114 f., 140, 152, 154 f., 212, 284, 327, 411, 498, 517, 520, 598 Renner, Hans 113, 392 Reuchlin, Johannes 294 Robert von Gent 169 Rojas, Antonio de 506 Rojas, Franciscus de 18 Rudolf IV. v. Habsburg (der Stifter), Hz. 56 Rue, Pierre de la 50, 186 Ruysbroek, Jan 281 Salamanca, Gabriel de 574 Sampson, Richard 248

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Sánchez de Vargas y Mejía, Diego 328 Sandoval, Prudencio de 11, 21, 26, 52, 81, 170, 174, 177, 191, 209 f., 213, 245 bis 249, 289 f., 328 f., 335, 350, 353, 369, 371, 375, 378–381, 432, 505, 509 bis 515, 521, 530, 540, 551, 553–555 et passim Santa Cruz, Alonso de 11, 26, 77, 85, 174, 188 f., 201, 209 f., 239, 243–246, 289, 328, 353, 358, 363, 371–381, 432, 522, 530, 551–553, 555 et passim Sanuto, Mario 383 Sastrow, Bartholomäus 182 Sauvage, Jean Le, sr. d’Escaubeque 39, 242 f., 246 f., 283, 407, 430, 439, 464, 490, 540 Schinner, Matthaeus Kardinal 306, 308 Scorel, Jan van 272, 315 Sebastian, Infant v. Portugal 544 Secundus, Johannes (Janus) 49 Sepúlveda, Juan Gines de 354, 567 f. Serntein, Cyprian von 29 f., 570 Servels, Barbe 24 Sforza, Bianca Maria, 2. Gemahlin Maximilians I. 138, 451 Sforza, Lodovico (il Moro) 106, 138 Sforza, Massimiliano 106, 340, Sigismund, Ks. 56, 616 Sigismund I., Kg. v. Polen 139, 152 f. Spinelly, Thomas 111, 146 Stabius, Johannes 131–134 Stevens, Jan 443 Stile, John 104, 144 Stri(e)gel, Bernhard 125 Studillo, don Antonio de 272, 313 Suffolk › Brandon, Charles Suleiman II. (der Prächtige) 600 Tavera, Juan Kardinal Pardo de 620 Theodosius I., Ks. 482, 493 Thomas von Kempen (a Kempis) 258, 613 Tiepolo, Niccolò 87, 346 Tizian (Tiziano Vecellio) 605 Trajan 482, 493 Trase(i)gnies (Trazignies), Jean II., sr. de 541 Tunstal, Cuthbert 343, 348, 426

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Register

Ulloa, Alfonso d’ 12, 176, 190 Ur(r)ea, Pedro de 149 f., 414 Vac(c)a, Luis de 169–175, 180, 202, 209, 274, 624 Vandenesse, Jean 207, 355, 371, 427 f., 434 f., 538, 555 Varent, Cornelius van der 464 Varillas, Antoine 191–198, 211, 213–216, 228, 245, 277 Vega, Garcilaso de la 510 f. Velasques, Juan 509 f. Velasquez, Diego 122 Vendôme, Charles, Gf., sp. Hz. v. 212 Vent, Jérôme 181 Vera, Juan de, Bf. v. León 169, 171, 175 Vergas, Fürst v. › Sánchez de Vargas Vernois, Pierre de 320 Veyré, Philibert, sr. de 85, 172, 546 Vich y de Vallterra, Guillén-Ramón Kardinal 306 Villaescusa, Diego Ramírez de 328 Vital, Laurent 97, 237, 277, 293, 341, 348, 355, 371, 374, 406, 532–538, 541, 547–552, 558, 564, 571 et passim Vivés, Juan Luís 35, 48, 70, 573 Voltaire 193

Weidemann, Johannes 315 Werdenberg, Felix Gf. v. 400, 411, 435, 468 Weyden, Rogier van der 31 Wiele, Adrian 169, 174 Wingfield, Sir Richard 91 Wingfield, Sir Robert 348, 388 Witthem, Henri de, sr. de Beersel 24, 62f., 332–334, 391, 395 f. Wladislaw v. Polen (Wladislaw II., Kg. v. Böhmen u. Ungarn) 151 f. Wolsey, Thomas Kardinal 248 Worcester, Charles Somerset, 1st Earl of 348, 426 Wyngarden, Florentius Oem van 310 Ximénes (Jiménes) de Cisneros, Francisco Kardinal 177, 179, 220, 240 f., 265, 292–296, 303, 348, 368, 377, 381 f., 503, 505, 511, 523, 525 f., 529–531, 535, 557, 560, 568, 573, 597, 608 Young (Yonge), John 91 Ysselstein › Egmond, Floris Graf Ziegler, Niklas 570 Zimburgis v. Masovien, M. Friedrichs III. 324 Zuñiga, Juan de 620–623

Farbtafeln

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Abb. 1 Die Mutter: Juana von Kastilien (um 1500)

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Abb. 2 Der Vater: Philipp der Schöne, Herzog von Burgund (um 1500)

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Abb. 3 Karl und seine Geschwister (1508)

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Abb. 4 Margarete von Österreich (nach 1507)

Abb. 5 Maximilian I. (nach einer Skizze von 1518)

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Abb. 6 Die „burgundischen Kinder“ Karl, Eleonore und Isabella (1502)

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Abb. 7 Maximilian I. mit Mitgliedern seines Hauses (um 1515)

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Abb. 8 Karl im Alter von 10 Jahren

Abb. 9 Guillaume de Croy, Herr von Chièvres (um 1510)

Abb. 10 Adrian von Utrecht als Hadrian VI. (um 1522)

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Abb. 11 Der junge Herzog von Burgund (1515/16)

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Abb. 12 Ferdinand, der „spanische Bruder“ (um 1520)

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