Die Indianer-Agrarfrage in Chile bis 1970 [Reprint 2021 ed.] 9783112535448, 9783112535431

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Die Indianer-Agrarfrage in Chile bis 1970 [Reprint 2021 ed.]
 9783112535448, 9783112535431

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VERÖFFENTLICHUNGEN DES MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE ZU LEIPZIG HEFT 30

VERA HARTWIG

DIE INDIANER-AGRARFRAGE IN CHILE BIS 1970 Mit 22 Tabellen, 14 Figuren (Karten und Skizzen) und 27 Abbildungen

AKADEMIE-VERLAG - BERLIN 1976

HERAUSGEGEBEN VON DER DIREKTION

Redaktion: Rolf Krusche

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © 1976 by Museum für Völkerkunde Leipzig Lizenznummer: 202 • 100/151/76 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4541 Schutzumschlag: Nina Striewski Bestellnummer: 752 8216 (2085/1/30)- LSV 0705 Printed in GDR

EVP 19,50

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . Einleitung 1. K a p i t e l Historische Grundlagen u n d aktuelle Aspekte der I n d i a n e r f r a g e in Lateinamerika 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.4.

Die I n d i a n e r f r a g e in ihrer Beziehung zur sozialen F r a g e . . . Zur Demographie Das „Indianerproblem Lateinamerikas" — seine historischen Grundlagen Aktuelle Aspekte der I n d i a n e r f r a g e Mexiko Brasilien Andere L ä n d e r Chile

2. K a p i t e l Zur Geschichte der A r a u k a n e r (Mapuches) Chiles 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

7 9

19 19 22 23 26 27 31 32 33

37

Konquista Araukanerkriege Eingliederung in das System des spanischen Kolonialfeudalismus Unabhängigkeitsrevolution Die Politik der chilenischen bürgerlichen Regierungen zur U n t e r d r ü c k u n g u n d E n t r e c h t u n g der I n d i a n e r (Indianergesetzgebung)

44

3. K a p i t e l Die juristische u n d sozialökonomische Spezifik der I n d i a n e r f r a g e in Chile

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3.1. 3.1.1. 3:1.2. 3.1.3. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3.

Die Schaffung von R e d u k t i o n e n Gesetzliche Grundlagen Titulo de Merced Größe der R e d u k t i o n e n Auswirkungen der Reduktionsbildung Positive Auswirkungen Negative Auswirkungen I n n e r e S t r u k t u r der R e d u k t i o n e n , ihre Unterschiede u n d deren Ursachen 3.3.1. Äußere F a k t o r e n 3.3.2. Demographische F a k t o r e n

37 38 41 42

50 50 52 53 54 54 55 56 57 58

3

3.3.3. Grundbesitzverhältnisse 3.3.4. Tendenzen der sozialökonomischen Entwicklung 3.4. Verhältnisse sozialökonomischer Abhängigkeit und Ausbeutung unter der Bevölkerung der Reduktionen 3.5. „Landflucht" — Ursachen und Auswirkungen 3.6. Produktion der Reduktionswirtschaften für den Markt . . . 3.7. Zuspitzung der sozialökonomischen Aspekte der Indianerfrage 3.8. Auflösung der Reduktionen — kapitalistischer Lösungsversuch der Indianerfrage 4. Kapitel Das Verhältnis von Indianerfrage und Agrarfrage 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.4. 4.5.

Zur ökonomischen Situation Chiles vor den Wahlen 1964 — unter besonderer Berücksichtigung des Agrarsektors . . . . Allgemeine Situation in den Jahren seit 1950 Die Agrarstruktur — Latifundismus und Minifundismus . . . Entwicklungstendenzen des Minifundismus — dargestellt am Beispiel derSiedlungLlallauqu^n (Provinz O'Higgins/Colchagua) Minifundismus und Indianerfrage Die Agrarpolitik der christ-demokratischen Regierung E. Freis (1964-1970). . Zur Bedeutung der Reformparteien in Lateinamerika Die Democracia Cristiana in Chile — ein „Modellfall" . . . . Das Agrarprogramm der Regierung Frei . . . ' Institutionen (CORA, I N D A P ) - und Maßnahmen zur Realisierung des Agrarprogramms Die Realität landwirtschaftlicher Genossenschaften während der christ-demokratischen Regierung E. Freis (1964—1970) . Chillän Viejo Colicheu (bei Chillän, Provinz Kuble) Coihueco (bei Chillän, Provinz Nuble) Ergebnisse der christ-demokratischen Agrarpolitik Die Stellung der Kommunistischen Partei zur Agrarpolitik E. Freis und zur Agrar-Indianerfrage in Chile

59 62 69 70 74 76 85

101 101 101 102 105 110 112 112 114 114 116 124 124 130 130 131 133

5. Kapitel Die Mapuchefrage als Nationalitätenproblem Chiles

137

Zusammenfassung Resumen Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Karten und Skizzen Verzeichnis der Abbildungen

141 149 156 173 174 174 175

Anhang 1. Gesetz vom 2. Juli 1852 2. Gesetz vom 4. Dezember 1866 3. Dekret vom 10. Oktober 1873

4

177 179 182

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Gesetz v o m 20. J a n u a r 1883 Indianergesetz JV» 14.511 v o m 3. J a n u a r 1961 . Statistik ü b e r I n d i a n e r k r e d i t e Causa 361 (División der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao) S t a t u t e n u n d Reglement eines Komitees der kleinen Landwirte Modellstatut f ü r landwirtschaftliche Kooperativen I n n e r e S t r u k t u r einer Kooperative Sozialökonomische Studie der landwirtschaftlichen Kooperative „Chillán Viejo L t d a . " 12. Bewässerungsordnung v o m 14. August 1966 (Chillán Viejo L t d a . ) 13. Jahresbericht der Kooperative Chillán Viejo L t d a 14. Censo Indígena

Abbildungen

183 184 210 211 216 226 241 245 247 250 255

Vorwort

Mitte der sechziger Jahre wurde in der Unterabteilung Geschichte Lateinamerikas am damaligen Institut für Allgemeine Geschichte, Abteilung Neuzeit, der Karl-Marx-Universität Leipzig unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Manfred Kossok beraten, welche Möglichkeiten ein längerer Aufenthalt in Chile einem Ethnographen für spezielle Forschungen bieten könnte. Die Tatsache, daß Prof. Kossok das Andenland aus eigener Anschauung kannte und mit den aktuellen wie historischen gesellschaftlichen und politischen Problemen Chiles bestens vertraut ist sowie die relativ günstige Literatursituation zur Ethnographie und Geschichte dieses lateinamerikanischen Landes ergaben maximale Voraussetzungen für ein Arbeitsprogramm, das den objektiven Gegebenheiten entsprach und sich durch die spätere Realisierung schließlich selbst bestätigte. Der wesentlichste Teil des Arbeitsprogramms umfaßte- Forschungen zur Indianerproblematik im Chile des 20. Jahrhunderts, wobei Fragen nach den gegenwärtigen sozialökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen und den dominierenden Tendenzen in der Entwicklung, nach einer echten oder einer Scheinperspektive für die indianische Bevölkerung, Fragen ihrer Integration oder Isolierung, die Spezifik dieser Fragen und ihre Verknüpfung mit den gesamtchilenischen Problemen im Vordergrund standen. Im Rahmen der vertraglichen Beziehungen zwischen der Karl-Marx-Universität Leipzig und der Universidad de Chile in Santiago konnte der vorgesehene Arbeitsaufenthalt in Chile von August 1966 bis Ende März 1967 realisiert werden. Es sei gestattet, an dieser Stelle den wissenschaftlichen Betreuern der Arbeit, Herrn Prof. Dr. Dr. Manfred Kossok und den Herren Dozenten Dr. Max Zeuske und Dr. Dietrich Treide von der Karl-Marx-Universität Leipzig sowie der Universidad de Chile in Santiago, insbesondere dem Director del Departamento de las Relaciones Internacionales, Sr. Decano Ramón Rodríguez, und seinen Mitarbeitern für ihre allseitige Unterstützung bei der Realisierung des Forschungsprogramms zu danken. Darüber hinaus war auch bei den Dienststellen der Dirección de Asuntos Indígenas in Santiago und Temuco, beim Instituto de Desarrollo Agropecuario, der Comisión Económica para América Latina und anderen chilenischen Einrichtungen die freundliche Bereitschaft anzutreffen, bei der Bewältigung der gestellten Aufgaben — soweit möglich — Hilfe zu gewähren. Die Möglichkeit zu Diskussionen mit hervorragenden Vertretern der chilenischen Gesellschaftswissenschaften als auch des politischen Lebens Chiles, die durch eine langjährige Beschäftigung mit diesen oder ähnlichen Problemen über umfangreiche Sachkenntnisse und auch praktische Erfahrungen verfügten, wurde dankbar genutzt und half bei der Klärung wichtiger Probleme. In diesem Zusammenhang seien besonders die Gespräche mit dem hochverehrten Prof. 7

Dr. Alejandro Lipschütz, mit Prof. H. Ramirez Necochea, Prof. Dr. B. Berdichewsky, Prof. Baltra, Frau Prof. G. Mostny, Senator Gonzalez M. sowie dem Herrn Abgeordneten J. Tuma hervorgehoben. Im Verlaufe der ethnographischen Feldarbeit kam es sowohl in den ländlichen Gebieten als auch in den Städten zu zahlreichen Begegnungen mit indianischen Werktätigen, mit Landarbeitern, mit Kleinst- und Kleinbauern sowie auch mit Latifundienbesitzern; die mit ihnen individuell oder auch in Gruppen geführten Aussprachen waren außerordentlich informativ und nützlich, insbesondere hinsichtlich der Einschätzung des Entwicklungsgrades des ethnischen und des Klassenbewußtseins der werktätigen Schichten sowie der ideologischen Positionen der Vertreter der herrschenden oligarchischen Kreise. Die Begrenzung der Untersuchung auf die Entwicklung bis zum Jahre 1970 begründete sich darauf, daß der Kampf der chilenischen Werktätigen unter der Führung der Kommunistischen Partei gegen die Herrschaft der ausländischen Monopole und der einheimischen Oligarchie während der Regierungszeit des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei eine neue Qualität erreicht hatte. 1966/67 war „das Bündnis zwischen den Arbeitern und Bauern, das die Grundbedingung für eine Revolution darstellt" (Luis Corvalan), noch nicht geschaffen; doch schon zwei Jahre später konnte der X I V . Kongreß der Kommunistischen Partei feststellen, daß „das Bündnis der Arbeiter und Bauern begonnen hat, sich zum ersten Mal in der Geschichte Chiles in Taten zu konkretisieren", und daß „die Landgebiete jetzt nicht mehr eine Welt bilden, die auf die Probleme Chiles keine Antwort gibt". Diese konkreten Taten hatten zu ersten, beachtenswerten Erfolgen bei der Veränderung der Agrarstruktur Chiles bis zum Sommer 1970 geführt und bildeten in den ländlichen Gebieten, besonders auch in den Siedlungszentren der Mapuches, den Ausgangspunkt für den anschließenden Wahlkampf der linken und anderer demokratischer Kräfte des Volkes. Mit dem Sieg der Unidad Populär und ihres Präsidentschaftskandidaten Dr. Salvador Allende im September 1970 waren objektiv neue und wesentlich günstigere Bedingungen für die Lösung auch der Agrarfrage und damit zugleich der Grundprobleme der indianischen Minderheit Chiles entstanden. Durch den faschistischen Putsch der reaktionärsten, vom Weltimperialismus unterstützten Militärs am 11. September 1973 wurde diese demokratische Entwicklung in dem Andenlande brutal unterbrochen.

Einleitung

Es ist heute eine allgemeine und durch die erzielten Ergebnisse bestätigte Praxis, daß bei der Bewältigung von Nationalitätenproblemen oder Integrationsbestrebungen, bei denen ethnische Gruppen oder nationale Minderheiten eine Rolle spielen, auf die Kenntnisse von Ethnographen zurückgegriffen und sogar ihre Einbeziehung bei der Lösung solcher oder ähnlicher Probleme gefordert wird. Zahlreiche Beispiele lieferte dafür die Sowjetunion, die mit ihren über einhundert großen und kleinen Nationalitäten viele und unterschiedlichste Aufgaben zu lösen hatte. Die Fülle der ethnographischen Arbeiten aus jenen Jahren legt davon beredtes Zeugnis ab. Die von den Ethnographen betriebenen Forschungen erweiterten nicht nur die allgemeine Kenntnis von diesen Völkern, sondern trugen sowohl zur praktisch-politischen Lösung der Nationalitätenprobleme als auch zur theoretischen Durchdringung dieser Fragen bei und erweiterten damit den Erkenntnisbereich der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften, schufen das Beispiel einer echten Lösung von Nationalitätenproblemen. An dieser Stelle seien stellvertretend für viele die beiden bekannten Ethnographen L. S T E R N B E R G und W. BOGORAS genannt. 1 Auch in den kapitalistischen Ländern spielten und spielen die Ethnologen eine nicht unwesentliche Rolle bei der von der herrschenden Ausbeuterklasse angestrebten Bewältigung aktueller Probleme der nationalen Minderheiten. Allerdings war und ist deren Zielstellung der der marxistischen Ethnographen diametral entgegengesetzt. Nicht wenige Kolonialbeamte aller Kolonialmächte hatten eine völkerkundliche Ausbildung genossen, viele Ethnologen trieben in den Kolonien Forschungen, deren Ergebnisse oft direkt, mitunter aber auch indirekt dazu ausgenutzt wurden, eine geschicktere Form der Ausbeutung und der Unterdrückung der betreffenden Völker zu entwickeln. Die Rolle der funktionalistischen Schule und ihrer Vertreter bei der Praktizierung der sogenannten „indirect rule" in den britischen Kolonien steht stellvertretend für das politische Engagement bürgerlicher Ethnologen für die Interessen der Kräfte des Imperialismus. 2 Viele Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich im nationalen Befreiungskampf von kolonialer Unterdrückung oder Abhängigkeit befreit haben, stehen heute vor der objektiven Notwendigkeit, Probleme ihrer nationalen 1

1924 wurde beim Zentralexekutivkomitee der R S F S R das „Hilfskomitee für die Völker der nördlichen Randgebiete der R S F S R " gebildet. Diesem „Nordkomitee" stand der hervorragende Kommunist P. G. Smidowitsch vor, und unter seiner Leitung erfüllten die genannten Ethnographen ihre verantwortungsvollen Aufga-

2

POTECHIN, 1 9 4 8 .

b e n (s. TOKABEW, 1 9 5 8 , S . 5 4 3 f . ) .

9

Minderheiten, Probleme des Zusammenlebens der verschiedensten Nationalitäten, aus denen sich die Landesbevölkerung zusammensetzt, zu lösen. Je nach den konkreten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die in den betreffenden Ländern herrschen, sind die Versuche, diese Probleme zu bewältigen, verschieden. In Mexiko z. B. wurde im Jahre 1948 eine besondere Institution geschaffen, das Instituto Nacional Indigenista (INI), dessen Aufgabe es ist, die Integration indianischer Bevölkerungsgruppen, ihre „Mexikanisierung", zu vollziehen. Zur Realisierung dieses Vorhabens wird der Einsatz von Ethnologen geradezu gefordert. U. KÖHLEB, der die „Neuen Methoden zur Integration der Indianer in Mexiko, Regionalprogramme des Instituto Nacional Indigenista" untersucht, schreibt in diesem Zusammenhang: Das Instituto Nacional Indigenista hat bisher stets den Grundsatz verfolgt, „die Leitung eines solchen („Integrations"-, V. H.) Zentrums möglichst einem Ethnologen anzuvertrauen".3 Das Bemühen, Ethnologen für diese Posten zu gewinnen, geschah und geschieht wegen des von ihnen erwarteten Einblicks in den Prozeß des „Kulturwandels", der fortschreitenden Integration/ 1 Von dem Ethnologen wird erwartet, daß er seine Tätigkeit entsprechend der Konzeption der Zentralregierung ausübt, die den indianischen Bevölkerungsteilen keine Alternative offen läßt. Diese Konzeption berücksichtigt zwar die jeweiligen, unterschiedlichen Gegebenheiten, doch die daraus resultierenden unterschiedlichen Methoden dienen stets dem gleichen Ziel, der völligen Integration in das kapitalistische Wirtschaftssystem. An dieser Stelle scheint es notwendig, den Begriff der Integration in seiner Bedeutung im Zusammenhang mit der Indianerfrage zu untersuchen.5 Sein als „Zusammenschluß von Teilen zu einem Ganzen, Wiederherstellung, Vervollständigung, Vereinigung, Vereinheitlichung, Einbeziehung und Vermischung" umschriebener Inhalt sagt, angewendet auf eine gesellschaftliche Erscheinung, noch nichts über den Charakter des damit bezeichneten Prozesses aus. Es erweist sich also als unumgänglich, einen als Integration bezeichneten Prozeß in seiner gesellschaftlichen, das heißt sozialökonomischen Beziehung zu untersuchen, um eine endgültige Aussage über die Zielrichtung dieser Entwicklung zu treffen. Auf die Integration der Indianer angewendet heißt das — da alle bisherigen Integrationsversuche seit der Konquista unter dem sozialen Aspekt der Ausbeutung und Unterdrückung der Indianer durch das kolonialfeudalistische und später durch das kapitalistische Wirtschaftssystem erfolgten: Liquidierung aller Elemente ihrer ethnischen Besonderheiten, die der gewünschten Ausbeutungsform entgegenstanden bzw. -stehen und zu einer sozialen, ökonomischen und politischen Befreiung der Indianer hätten beitragen können. Dagegen bot der Sieg der Volkseinheit 1970 in Chile die Möglichkeit einer völlig anders orientierten Integrationspolitik gegenüber den Indianern dieses Landes. Wie im 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit an Hand des Diskussionsbeitrages eines kommunistischen Indianers ausgewiesen wird und wie vor allem das im September 1972 S KÖHLER, 1968, S. 79. 4 KÖHLER, 1968, S. 6 5 f . 5

10

S. a. 1. Kapitel.

verabschiedete Gesetz zur Mapuche-Problematik beweist, hatte sich die Regierung der Unidad Popular die völlige, gleichberechtigte Teilnahme der Indianer am Prozeß der sozialökonomischen Veränderungen auf dem Lande — eben gerade das, was die Ausbeuterordnungen bisher verhindern wollten —, oder mit anderen Worten, die positive Lösung der sozialen, ökonomischen und politischen Problematik der Indianerfrage, zum Ziel gestellt. Man kommt also nicht umhin, den allgemeinen Terminus „Integration" hier genauer als „kolonialfeudalistische", „kapitalistische" Integration oder — unter sozialistischen Bedingungen — als „sozialistische" Integration zu bezeichnen. Die Verantwortung der marxistischen Ethnographen, der Ethnographen aus den sozialistischen Ländern, die sich mit diesem Problem, der Lösung der Indianerfrage in den Ländern Lateinamerikas, beschäftigen, gewinnt darum immer mehr an Bedeutung. Bereits vor mehr als vierzig Jahren, als sich der peruanische Gelehrte und Kommunist José Carlos M A B I A T E G U I sehr intensiv mit der „Realidad Peruana" — der peruanischen Wirklichkeit — befaßte, wurde er auch mit dem Indianerproblem konfrontiert. Seine auf der Basis des dialektischen und historischen Materialismus durchgeführten Untersuchungen führten ihn zu den Schlußfolgerungen: „Todas las tésis sobre el problema indígena que ignoran o eluden a éste como problema económico-social, son otros tantos estériles ejercicios teoréticos, — y a veces sólo verbales —, condenados a un absoluto descrédito. . . . La crítica socialista lo descubre y esclarece, porque busca sus causas en la economía del país y no en su mecanismo administrativo, jurídico o eclesiástico, ni en su dualidad o pluralidad de razas, ni en sus condiciones culturales y morales. La cuestión indígena arranca de nuestra economía. Tiene sus raíces en el régimen de propiedad de la tierra." 6 Diese Feststellungen in seinem Aufsatz über das Indianerproblem unterstreicht er in einer Fußnote mit dem Hinweis: „El socialismo nos ha enseñado a plantear el problema indígena en nuevos términos. Hemos dejado de considerarlo abstractamente como problema étnico o moral para reconocerlo concretamente como problema social, económico y político." 7 Mit dieser marxistischen Problemstellung umreißt M A B I A T E G U I sowohl den gesamten Komplex der Indianerfrage, setzt andererseits aber auch den Schwerpunkt durch die Orientierung auf den ökonomischen Aspekt, spezieller noch, auf die Agrarfrage, wenn er im Abschnitt „Das Agrarproblem und das Indianerproblem" schreibt: „ Y éste problema de la tierra, — cuya solidaridad con el problema del indio es demasiado evidente — tampoco nos avenimos a atenuarlo o adelgazarlo oportunistamente. Todo lo contrario. Por mi parte, yo trato de plantearlo en términos absolutamente inequívocos y netos." 8 Als marxistischer Theoretiker Lateinamerikas kommt M A R I A T E G U I hier zu den prinzipiell gleichen Erkenntnissen wie einst W. I. L E N I N in seinen Arbeiten über die Agrarfrage und die nationale Frage im zaristischen Rußland und später bei der theoretischen und praktischen Bewältigung der Aufgaben der jungen 6

M A R I A T E G U I , II, 1 9 7 0 , p . 35.

* M A B I A T E G U I , II, 1 9 7 0 , p . 3 6 (n. 1). K M A R I A T E G U I , II, 1 9 7 0 , p. 50.

11

Sowjetmacht. Lenin schrieb damals, daß der revolutionäre Kampf für den Sozialismus auch mit einem revolutionären Programm für die Lösung der nationalen Frage verbunden werden müsse.9 Diese Forderung LENINS fand ihren Niederschlag und Konkretisierung im Programm der Kommunistischen Partei Rußlands vom Februar 1919, in dem es heißt: „ I n der nationalen Frage besteht die Politik des Proletariats, das die Staatsmacht erobert hat, darin, unbeirrt die Annäherung und den Zusammenschluß der Arbeiter und Bauern aller Nationen in ihrem revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie in der Praxis zu verwirklichen. Die Erreichung dieses Zieles erfordert die völlige Befreiung der kolonialen und der anderen bisher unterdrückten oder nicht gleichberechtigten Nationen." 10 Die theoretische Durchdringung der mit der Nationalitätenfrage verbundenen Probleme stand mit dem Sieg der Unidad Populär im Jahre 1970 in Chile auf der Tagesordnung; die Ausarbeitung praktischer Maßnahmen zur Lösung dieser Frage wurde in Angriff genommen. In den anderen Ländern Lateinamerikas ist die Einbeziehung der Indianerproblematik in den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft von grundlegender Bedeutung für die Bündnispolitik der kommunistischen und Arbeiterparteien. Auch für die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaftler der sozialistischen Länder gilt heute noch in gleichem Maße, was W . I. Lenin bereits 1920 auf dem I I . Kongreß der Kommunistischen Internationale forderte: Die Proletarier der fortgeschrittenen Länder können und müssen den zurückgebliebenen werktätigen Massen helfen,11 indem sie sich an der theoretischen Durchdringung der aktuellen Probleme, der Auswertung der Erfahrungen der Bruderparteien beteiligen. Beispiele dafür sind die Internationale Wissenschaftliche Konferenz in Baku 1967, die unter dem Thema „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die nationale Befreiungsbewegung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas" stand, die Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien 1969 in Moskau, die in ihrem Hauptdokument „Die Aufgaben des Kampfes gegen den Imperialismus in der gegenwärtigen Etappe und die Aktionseinheit der kommunistischen und Arbeiterparteien, aller antiimperialistischen K r ä f t e " auch auf die Nationalitätenprobleme in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas einging. Auch die Parteitage und Kongresse der kommunistischen und Arbeiterparteien sind Foren, auf denen die nationalen wie internationalen Probleme behandelt werden und an deren Diskussionen sich oft Vertreter der Bruderparteien beteiligen. Bei diesen Gelegenheiten werden die genannten Probleme allseitig, in ihrer konkreten Besonderheit wie in ihrer verallgemeinerungswürdigen Grundtendenz, analysiert und auf der Grundlage dieser Analysen die nötigen Schlußfolgerungen gezogen. Die vorliegende Arbeit möchte unter aktuell-politischem Aspekt einen Beitrag zur Erforschung jener Probleme leisten, die für die zukünftige Entwicklung der indianischen Bevölkerung Chiles von Bedeutung sind. Dabei soll folgenden, » L E N I N , 1960, B d . 21, S. 415. L E N I N , 1961 a , B d . 29, S . 111. 11

12

LENIN,

19611» , Bd. 31, S. 232.

eng miteinander verbundenen Fragen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Indianer frage in ihrer Beziehung zur sozialen Frage, an die sich die Darstellung der historischen Grundlagen und aktuellen Aspekte der Indianerfrage in einigen Ländern Lateinamerikas anschließt. Zum besseren Verständnis der Spezifik der aktuellen Probleme der Araukaner (Mapuches) Chiles ist dem ersten der Hauptkapitel ein Abriß der Geschichte der Mapuches vorangestellt. Er orientiert sich an den für die Indianer wichtigsten Daten, wie Konquista, Araukanerkriege, Eingliederung in das System des Kolonialfeudalismus, Unabhängigkeitsrevolution, und gibt im letzten Abschnitt anhand der Indianergesetzgebung einen Einblick in die Politik der chilenischen bürgerlichen Regierungen zur Unterdrückung und Entrechtung der Indianer. Daraus leitet sich die juristische und sozialökonomische Spezifik der Indianerfrage in Chile ab, die im Prozeß ihrer Veränderung von der Reduktionsbildung, der Auswirkung dieser Maßnahmen für die Gestaltung der inneren Struktur der Mapuche-Gesellschaft, dem Problem der Landflucht über die enorme Zuspitzung der sozial-ökonomischen Situation bis hin zum Bestreben der Reduktionsauflösung als kapitalistischem Lösungsversuch der Indianerfrage in der Zeit der christdemokratischen Herrschaft unter E. Frei (1964—1970) untersucht wird. Aus der Notwendigkeit, die Indianerfrage in ihrer Beziehung zu den gesamtnationalen Problemen zu sehen und in das System der christdemokratischen Reformpolitik einzuordnen, ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von Indianer- und Agrarfrage unter den konkreten historischen Bedingungen der Präsidentschaft Freis. Die auf der Grundlage der Agrarreformen von 1962 und 1967 bis zum Jahre 1970 den chilenischen — gleich ob indianischen oder nichtindianischen — Klein- und Kleinstbauern gebotenen Alternativen: entweder Komitees kleinerer Landwirte oder Landwirtschaftliche Genossenschaften, werden durch besondere Fallstudien auf ihre Effektivität und Zielrichtung hin untersucht. Die Einschätzung der Agrarpolitik Freis durch die Kommunistische Partei Chiles auf deren 14. Kongreß 1969 in Santiago machte nicht nur die Grenzen einer der Reformpolitik verhafteten Partei deutlich, sondern gab allen Landarbeitern, Klein- und Kleinstbauern die Orientierung für ihren weiteren, im engsten Bündnis mit der Arbeiterklasse zu führenden Kampf um die Lösung der vor den indianischen und nichtindianischen Werktätigen stehenden sozialen, ökonomischen und politischen Probleme. Um über die spezifische Aufgabenstellung — die Darlegung des Charakters der Indianer-Agrarfrage in Chile bis 1970 — hinaus nachzuweisen, daß mit der Lösung der Agrarfrage zwar das Grundproblem der Indianerfrage, aber die Indianerfrage noch nicht in ihrer ganzen Komplexität bereits gelöst sein wird, ist das Schlußkapitel der Mapuchefrage als Nationalitätenproblem Chiles gewidmet. Daß dies anhand der Diskussionen auf dem schon genannten 14. Kongreß der Kommunistischen Partei Chiles erfolgte, der dem kleinen Volk der Mapuches den Weg in eine bessere Zukunft weist, demonstriert einmal mehr, wo und in wem die Mapuches ihre echten Bündnispartner haben. Für die Bewältigung der gestellten Problematik stehen neben einer umfang13

reichen theoretischen Literatur zahlreiche Schriften, die sich mit analoger oder ähnlicher Thematik befassen und damit Verallgemeinerungen bzw. Besonderheiten dokumentieren, Archivmaterialien, eigene Feldaufzeichnungen und nicht wenige Publikationen, die Spezialfragen behandeln, zur Verfügung. Innerhalb der theoretischen Literatur sind vor allem die Schriften von Karl M A R X ZU Produktionsweisen, die der kapitalistischen vorangehen, Grundriß zur Kritik der politischen Ökonomie, seine Schriften zur Agrarproblematik, ursprünglichen Akkumulation, die Briefentwürfe an V. S A S S U L I T S C H USW.12 von grundlegender Bedeutung. In gleicher Weise unentbehrlich sind die umfangreichen Arbeiten LENINS, unter denen an dieser Stelle besonders die Aufsätze zur Agrarfrage und zu Nationalitätenproblemen zu nennen sind. 13 Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bestätigten sich seine theoretischen Erwägungen. Die Notwendigkeit, auf der Tagesordnung stehende große Probleme des jungen Sowjetstaates prinzipiell zu klären, führten neben dieser Bestätigung zur Weiterentwicklung seiner Gedankengänge. L E N I N verarbeitete die Erkenntnisse der Praxis, so daß wir heute über ein großes unschätzbares praktisches und theoretisches Wissen zu diesen Problemen verfügen. Speziell dem indianischen und lateinamerikanischen Agrarproblem wandte sich der bedeutende marxistische Theoretiker José Carlos M A R I A T E G U I in seinen „Siete Ensayos de Interpretación de la Realidad Peruana" zu, die — obwohl speziell von den peruanischen Verhältnissen ausgehend — auch Allgemeingültiges für andere Länder dieses Kontinents aussagen. K O S S O K schrieb über ihn: „Mit dem Verständnis für das Agrarproblem verfügte M A R I A T E G U I wiederum über den Schlüssel, um zum Wesen der Indianerfrage vorzudringen". 14 M A R I A T E G U I gelang es auf überzeugende Weise, den Beweis anzutreten, daß die Indianerfrage nicht ethnisch, rassisch, religiös, sprachlich oder sonstwie bedingt sei, sondern führte sie auf den realen Kern, die Klassenfrage zurück. 15 Weitergeführt und auf die heutigen Verhältnisse angewandt werden alle diese theoretischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen der Vergangenheit bzw. anderer Länder durch die kommunistischen Parteien der lateinamerikanischen Staaten selbst. Die Dokumente ihrer Parteitage geben davon beredtes Zeugnis, 16 noch mehr, in Konsultationen untereinander, auf Treffen der kommunistischen und Arbeiterparteien 17 stellen sie ihre Erkenntnisse zur Diskussion, machen ihre Erfahrungen für alle diese Parteien zugänglich und bereichern den theoretischen wie praktischen Erfahrungsschatz der kommunistischen Weltbewegung. Wie schon gesagt, gibt es eine außerordentlich umfangreiche Literatur zur " MARX, 1 9 5 3 ; MARX/ENGELS,

Werke, Bd. 1 9 , 2 3 , 2 4 , 2 5 .

LENIN, W e r k e , B d . 4, 6, 13, 15, 3 1 , 3 3 . " KOSSOK, 1 9 6 3 , S . 2 9 . 15 KOSSOK, 1 9 6 3 , S . 3 0 . 16

17

Vgl. HONECKER,

1971; ARAYA

CORVALAN, 1 9 6 7 ;

H U E N U M A N , 1 9 6 9 ; LCHAMSUREN, 1 9 6 8 .

Z.,

1969, 1971; B R E S H N E W , 1971a,

1971b;

„Die Aufgaben des Kampfes gegen den Imperialismus in der gegenwärtigen Etappe und die Aktionseinheit der kommunistischen und Arbeiterparteien, aller antiimperialistischen Kräfte". Hauptdokument. Moskau 1969.

14

Agrarproblematik in anderen Ländern, die nicht selten gleichzeitig mit ethnischen Fragestellungen verbunden ist. Aus der Fülle dieses Materials sind besonders die Arbeiten zu nennen, die aus Ländern kommen, in denen die Agrarfrage gelöst worden ist: aus der Sowjetunion,18 der Mongolischen Volksrepublik;19 auch die Erfahrungen der DDR bei der Gestaltung des sozialistischen Genossenschaftswesens und der Einbeziehung der Sorben in die sozialistische Entwicklung eröffnen Möglichkeiten und vermitteln Erkenntnisse.20 Es wäre allerdings falsch, wollte man die Erfahrungs- und Erkenntnisvermittlung auf diese Länder beschränken. Auch die Staaten, die unter den gegenwärtigen Bedingungen — in Auseinandersetzung mit neokolonialistischen Methoden, sogenannten „Entwicklungsprogrammen", und im Kampf gegen die Globalstrategie der USA — den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg beschritten haben, können und müssen ihr Wissen, ihre Erfahrungen jenen Völkern zur Verfügung stellen, die entweder noch vor oder am Anfang einer ähnlichen Entwicklung stehen. In diesem Zusammenhang sind die wichtigen, verallgemeinernden Arbeiten von V A I N C V A I G , G A T A T J L I N A , K I M , K U L I K O V A , 2 1 von S I M O N I J A 2 2 , PRONICEV23 u n d JAKIMOVA.2'»

In den letzten Jahren erschienen einige sowjetische Arbeiten zu speziellen Problemen der Länder Lateinamerikas, die einen echten wissenschaftlichen Fortsehritt dokumentieren und für die theoretische Durchdringung der Arbeit von unschätzbarem Wert waren, wie z. B. die mehrere Aufsätze zusammenfassende Publikation „La cuestión agraria y los problemas del movimiento de liberación en la América Latina" 25 oder das Protokoll der bereits genannten wissenschaftlichen Konferenz in Baku „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die nationale Befreiungsbewegung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas".26 Sie wurden ergänzt durch Spezialstudien von S I V O L O B O V über „ökonomische Probleme des Bündnisses der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in den Ländern Lateinamerikas"27 oder I. N. Z O R I N A „Revolution oder Reform in Lateinamerika"28 u. a. Das konkrete Material zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der Araukaner Chiles, ihrer Perspektive, der Agrarfrage Chiles, zur Lage der Landbevölkerung, der Genossenschaftsbewegung usw. wurde aus Quellen unterschiedlichsten Charakters zusammengetragen. Die heroische Geschichte der Araukaner läßt sich nicht nur aus den Chroniken und alten Berichten der Conquistadoren, 18

F R U C K , 1968.

19

Z E D E N B A L , 1961.

20

R O S E N K R A N Z , 1967; V e r f a s s u n g d e r D D R v o m 9. 4. 1968.

21

VAINCVAIG/GATAULINA/KIM/KULIKOVA,

22

SIMONIJA, 1968.

1967.

23 PRONIÖEV, 1967. 24

J A K I M O V A , 1968.

25

VOLSKI u. a., o. J .

26

„Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die nationale Befreiungsbewegung der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas". Moskau 1969.

27

SIVOLOBOV, 1966.

28

Z O R I N A , 1971.

15

aus den umfangreichen Werken von liberalen Historikern oder Weltgeschichten ablesen — sie lebt heute noch bei den Indianern selbst, die ihr Selbstbewußtsein zu einem nicht geringen Maße aus der Kenntnis des mutigen Kampfes ihrer Vorfahren ableiten und die dieses Wissen immer wieder an die junge Generation weiterzugeben verstehen. Eine spezielle Einrichtung der Republik Chile, die Dirección de Asuntos Indígenas (DAI), die seit ihrer Einrichtung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als ein Instrument der Regierung gegen die Rechte der Indianer zu betrachten ist, bewahrt in ihrem Archiv in Temuco umfangreiche Dokumente auf, die für die Bearbeitung des Themas von großem Wert gewesen sind und in Zukunft noch eine umfangreiche Auswertung erfahren müßten. Diese Materialien, dazu die ersten Ergebnisse des „Census Indígena", sowie die Einsicht in den Prozeß von Reduktionsauflösungen ermöglichten wichtige Erkenntnisse, die während des Besuches indianischer Gebiete, durch Befragungen, durch Ergebnisse der Feldforschungen überprüft und den offiziellen Argumentationen gegenübergestellt werden konnten. Solche Untersuchungen wurden im südlichen Mittelchile, d. h. im Hauptsiedlungsgebiet der Araukaner sowohl im Zentraltal in der Nähe von Boroa als auch in der Vorkordillere bei Villarrica unternommen. Dabei wurden verschiedene Methoden der Informationsgewinnung angewendet: Neben einfachen persönlichen Befragungen stand das Zusammenleben mit Indianern in ihren Reduktionen selbst, der direkte Kontakt bei gemeinsamer Arbeit im Haus neben der Wissensvermittlung durch einen indianischen Gewährsmann — in diesem Falle durch Maria C A T R I L E O , eine indianische Studentin, deren gesamte Familie noch in der Reduktion lebt, und die ihre Bindungen zu ihren Angehörigen pflegt. Dieses und das Archivmaterial wurden durch bereits von anderen Wissenschaftlern zusammengetragene und von ihnen verarbeitete und veröffentlichte Forschungen ergänzt. Als wichtigste Arbeiten seien hier die Aufsätze und Monografien von L I P S C H Ü T Z 2 9 , T I T I E V 3 0 , L I N D B E R G 3 1 , H I L G E R 3 2 , J A R A 3 3 , L A T C H A M 3 4 und auch F A R O N 3 3 genannt. Alejandro L I P S C H Ü T Z , der seine wissenschaftliche Ausbildung auf medizinischem Gebiet erhalten und im Bereich der experimentellen Medizin gearbeitet und geforscht hat, fand den Weg zur Indianerproblematik Lateinamerikas und besonders Chiles über die Anthropologie. Die Situation der von ihm besuchten Indianer auf Feuerland und Zentralchiles berührten zutiefst sein humanistisches Grundanliegen als Arzt, so daß er sich sehr bald auf die Seite der Indianer stellte und in Publikationen parteilich Stellung bezog. Er ist wohl als der bedeutendste Vertreter des Indigenismus Chiles anzusehen. Sein politisches Engagement führte ihn sehr bald an die Seite der Kommunistischen Partei Chiles, wobei er in seinen Forderungen für die Indianer 23 LIPSCHÜTZ, 1 9 4 8 , 1 9 5 6 , 1 9 6 6 a , 1 9 6 6 b , 1 9 6 7 , 1 9 7 0 . SO TITIEV, 1 9 5 1 . 31

LINDBERG, 1 9 6 1 .

32 HILGER, 1 9 5 7 , 1 9 6 0 . 33 JARA, 1 9 5 6 . 3

'* LATCHAM, 1 9 2 4 .

35 F A R O N , 1 9 5 6 , 1 9 6 1 , 1 9 6 3 .

16

mitunter die konkreten historischen Bedingungen nicht voll berücksichtigte und das Beispiel der Lösung von Nationalitätenproblemen in der Sowjetunion zu vereinfacht auf chilenische Verhältnisse übertragen wollte. Bei FAKON macht sich dagegen eine kritische Auseinandersetzung mit seiner theoretischen Grundhaltung notwendig. Obwohl er als einer der besten Kenner der Mapuche zu betrachten ist und seinen Arbeiten umfangreiche Feldforschungen vorausgegangen waren, ist seine Orientierung eindeutig auf all das gerichtet, was die indianische Bevölkerung von der übrigen, in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden chilenischen Landbevölkerung trennt. Diese Ansicht bringt er am deutlichsten in seinem Buch „Mapuche Social Structure — Institutional Reintegration in a Patrilineal Society of Central Chile" zum Ausdruck: ^Mapuche society has been deeply influenced by reservation living, which is to say t h a t ecological adjustments have had social consequences. But the consequences have served to shore up Mapuche social and cultural integrity. There have been some changes toward an approximation of certain Chilean institutional forms, to be sure. But what are these compared to the reintegration of Mapuche society? Economic change has been sweeping, since all reservations are presently involved in the Chilean system of cashcredit and markets. But how deeply has the reorganization of this aspect of Mapuche economy affected the social structure? W h a t is the measure of its force? How much heat has the impact of two societies engendered, and at what levels of social structure? And how is this heat being dissipated? The system of kinship and marriage has changed largely as a result of reservation life, but remains quite distinctively Mapuche. The political structure has likewise changed, both with respect to links with Chilean society and internally on the reservations. Religion has changed as well. Residence patterns have changed and, within the context of reservation life, household composition has become modified. But there has been no marked shift in any of these institutions in the direction of Chilean society. Educational services have brought some knowledge of the Spanish language and the Christian religion to the Mapuche, but the Mapuche continue to think Araucanian and burn offerings to their ancestral gods. "36 FARON bemüht sich über mehr als zweihundert Seiten, diese — wie er glaubt — „Isoliertheit" der Mapuche-Gesellschaft von der übrigen „chilenischen" Gesellschaft zu beweisen. Da sich die chilenischen staatlichen Institutionen, die sich mit der Indianer- oder Agrarfrage Chiles befassen, wiederholt auf die in der FAEON'schen Arbeit getroffenen Feststellungen berufen, 37 macht es sich notwendig, die Frage zu stellen, ob die von diesem Autor herausgefundenen Unterschiede und der von ihm betonte Prozeß der Reintegration für die weitere Entwicklung der indianischen Bevölkerung Chiles bestimmend werden kann oder ob die Frage ihrer Existenz, ihrer Zukunft nicht abhängig ist von der Lösung ihres Grundproblems, das sich in der unhaltbaren sozialen und ökonomischen Situation darstellt und für den indianischen wie nichtindianischen Kleinbauern 38

FARON, 1956, p . 63.

37 CIDA, 1966. 2 Hartwig

17

in gleicher Weise auf der Tagesordnung steht. Damit soll keineswegs gesagt werden, daß die Indianerfrage mit der Agrarfrage identisch sei; doch einer Lösung der Indianerprobleme ohne gleichzeitiger Lösung der Agrarfrage Chiles das Wort reden zu wollen, hieße, das Grundanliegen der Indianerfrage als einer sozialen Frage nicht verstehen.

1. K A P I T E L

Historische Grundlagen und aktuelle Aspekte der Indianerfrage in Lateinamerika

Vor mehr als 450 Jahren tauchte der Begriff „Indianer" — oder genauer „indio" — im Zusammenhang mit der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt erstmalig in den Berichten jener Zeit auf. Diese Bezeichnung für die Bewohner Amerikas war in dem Irrtum begründet, daß Kolumbus nicht das von ihm gesuchte Indien, sondern einen völlig unbekannten Erdteil fand und die dort angetroffenen „indios" eben nicht Bewohner Indiens, sondern bisher völlig unbekannte Völker und Stämme waren. Wenn man von dieser Verwechslung — der man später zumindest im deutschen Sprachgebrauch durch die Verwendung zweier Termini, „Indianer" und „Inder", zu begegnen suchte — absieht, so war zur Zeit der Entdeckung und Eroberung des Doppelkontinents noch eindeutig klar, wer als ein Indianer bezeichnet werden konnte und wer nicht. Das Kriterium war denkbar einfach: Alle1 bereits vor der Ankunft der Europäer auf den beiden Amerikas lebenden Menschen und ihre Nachkommen — gleich welcher Sprache sie sich bedienten, welche Kultur und welche Lebensweise sie pflegten, auf welcher sozialökonomischen Entwicklungsstufe sie sich befanden oder welche anthropologischen Merkmale sie aufwiesen — waren Indianer. Verfolgt man hingegen die in Fachkreisen in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussionen, so muß man feststellen, daß es heute keine allgemein akzeptierte und in der demographischen Praxis anwendbare Definition des Begriffes „Indianer" mehr gibt.

1.1. Die Indianerfrage

in ihrer Beziehung zur sozialen Frage

Die Tatsache, daß die Frage nach der Bestimmung eines Indianers erst im Zusammenhang mit der Konquista auftrat und seither nicht wieder verschwunden ist, sondern im Gegenteil sich zugespitzt hat, deutet zunächst den historischen Platz der Fragestellung an. Das Zusammentreffen mit den Indianern, ihre Unterwerfung und Eingliederung in das kolonialfeudalistische Ausbeutungssystem erfolgten unmittelbar und bildeten eine Einheit. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Frage nach dem Indianer sozial determiniert. Der Stand der Entwicklung ihrer Produktivkräfte war im Vergleich zu den Eroberern niedriger, ihre Gesellschaft noch nicht in antagonistische Klassen gespalten — so blieben sie in der kontinentalen Auseinandersetzung bis auf wenige Ausnahmen die Verlierer. Diese Ausnahmen beschränkten sich auf die Behauptung ihrer Unabhängigkeit; es kam in keinem dieser Fälle 1

Mit Ausnahme der die nördlichen Randgebiete Nordamerikas bewohnenden Eskimos, die sich selbst „Inuit" nennen.

2*

19

zur Unterwerfung und Ausbeutung von Spaniern oder Portugiesen durch die Indianer. Der Konquista unterlagen auch die präkolumbischen, sozialökonomisch in der Periode des Übergangs zur Klassengesellschaft stehenden Azteken und Inka, 2 obwohl gerade sie in der Vergangenheit andere Stämme und Völkerschaften unterworfen hatten, allerdings mit einer in keiner Weise vergleichbaren Härte wie die spanischen oder portugiesischen Konquistadoren. Den jeweiligen konkreten historischen Bedingungen entsprechend, zeitigte die Politik der Kolonialmächte hinsichtlich der Entwicklung der verschiedenen indianischen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Resultate, wobei im wesentlichen zwei Tendenzen wirksam wurden. Dort, wo es den Kolonialherren auf Grund der verschiedensten Ursachen nicht gelang, die betreffenden Völker oder Stämme in ihr Herrschafts- und Ausbeutungssystem einzugliedern, war die indianische Bevölkerung bestrebt, alle ihre ethnischen Besonderheiten gegenüber den ihnen meist feindlich entgegentretenden europäischen Eindringlingen zu bewahren. Eng verbunden damit war eine Abneigung gegen alle Neuerungen, und zwar aus der Erfahrung heraus, daß diese Neuerungen ihre bisherige Eigenständigkeit oftmals weiter einschränkten. Die Folge war eine bewußte Abgrenzung und Isolierung, mitunter ein Ausweichen in sogenannte Rückzugsgebiete, die in der gegebenen Epoche weder von ökonomischem noch strategischem Interesse für die Kolonialherren oder die herrschenden Kreise des betreffenden Vizekönigreiches waren. Nicht selten war dieses Abgrenzen mit dem Bewußtsein verbunden, daß sie als Indianer die ursprünglichen, rechtmäßigen Eigentümer des ihnen geraubten Landes waren; das Festhalten an den traditionellen wirtschaftlichen Betätigungen, die Pflege ihrer Sprache und Kultur sowie das Bewahren der überlieferten religiösen Anschauungen waren ebenfalls Bestandteil des Prozesses des Aufrechterhaltens der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Eigenständigkeit der indianischen Bevölkerung. Der „Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, (der) Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke" — womit K. M A R X „Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation" nicht zuletzt in der Epoche der spanisch-portugiesischen Konquista in Amerika herausstellte 3 — folgten bald schon die Aufteilung großer Teile des Grund und Bodens der eroberten Gebiete unter die Kolonialherren, und es begann die Versklavung der indianischen Bevölkerung mit Hilfe der verschiedensten Systeme, wie Mita, Plantagensklaverei usw. Das okkupierte Land war nur von Nutzen, wenn es gelang, durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der Indianer sich die Reichtümer des Bodens anzueignen/» Damit wuchsen die Unterjochungsbestrebungen gegenüber der indianischen Bevölkerung, die auch von der katholischen Kirche als ebenfalls Eigentümerin riesiger Ländereien in Lateinamerika bedeutende Unterstützung erfuhren. Die Zerstörung der herkömmlichen sozialökonomischen Strukturen, der traditionellen gesellschaftlichen Beziehungen und Institutionen sowie die gewalt2 KATZ, 1956, S. 1 5 6 f f . ; KATZ, 3 MARX, B d . 23, 1962, S. 779. 4 KOSSOK, 1970, S. 4 2 2 .

20

1960.

same Christianisierung der in das Encomienda-System kolonialfeudalistischer Ausbeutung gepreßten Indianer führte im Laufe der Zeit zur Integration der indianischen Bevölkerung in die sich entwickelnden, neuen Gemeinwesen der feudal determinierten, dem spanischen oder portugiesischen spätfeudal-absolutistischen Mutterland verhafteten Kolonialgesellschaft. Das dabei entstehende Gesellschaftssystem bildete sich zu einem Kolonialfeudalismus eigener Prägung mit deformierten Merkmalen heraus. Die unter der Bezeichnung „Castas-Gesetzgebung" in die Literatur eingegangene „soziale Gliederung der kolonialfeudalistischen Gesellschaft, die ethnisch verbrämt und begründet wurde, ist ein deutliches Beispiel dafür. Die in Form und Inhalt weitestgehende Übereinstimmung von ethnischer und sozialer Differenzierung mußte den antikolonialen Widerstand der indianischen Bevölkerung . . . als einen Kampf Rasse gegen Rasse erscheinen lassen. Für die Zeitgenossen lag dem Begriff der 'castas' stets die Einheit von ethnischer und sozialer Subordination zugrunde, wobei allerdings in subjektiver Rechtfertigung von Conquista und Coloniaje die soziale (und politisch-kulturelle) 'Inferiorität' aus der ethnischen abgeleitet wurde und nicht umgekehrt." 5 Die Gliederung der „castas" war theoretisch viel differenzierter, als sie in der Praxis zur Anwendung kam. Hier waren im wesentlichen folgende Kategorien von Bedeutung, denen nachstehende Klassen bzw. Schichten entsprachen :6 Klasse/Schicht 1. Kolonialbürókratie einschl. Hohe Geistlichkeit u. Überseehandel 2. Großgrundbesitz, Bergbau- u. Obraje-Besitzer 3. Handelsbourgeoisie 4. Freie Berufe einschl. niederer Klerus 5. Handwerker, privilegiert 6. Handwerker, nicht privilegiert 7. Bauern, freie 8. Bauern, feudalabhängige 9. Vorproletariat und freie Lohnarbeiter 10. Sklaven

Español

Criollo Mestizo Mulato

Indio

Negro

X x

X X X X

X X X X

X X

X X X

X

X

X X

X X

Ais eine Bestätigung der Übereinstimmung von sozialer und ethnischer Differenzierung ist die Tatsache zu werten, daß man sich — vorausgesetzt, man gehörte der entsprechenden Klasse oder Schicht an — die „Reinheit des Blutes" („Limpieza de Sangre") erkaufen konnte. 7 5

KOSSOK, 1971c, S. 2. 6 KOSSOK, 1971c, S. 6. ? KOSSOK, 1971c, S. 3.

21

Heute ist es außerordentlich schwer, einen Bürger oder ein bestimmtes Gemeinwesen eines amerikanischen Staates — unabhängig von seinem sozialen Status — als eindeutig „indianisch" zu bestimmen. Relativ einfach ist es in jenen Fällen, wo die Betreffenden sich selbst als Indianer fühlen, ihre Herkunft von indianischen Vorfahren ableiten, eine indianische Sprache sprechen, ethnische Besonderheiten bewahrt haben, in besonderen Gemeinwesen zusammenleben und nicht zuletzt sich auf ihre indianische Vergangenheit berufen. Anthropologische Merkmale allein müssen als unwesentlich betrachtet werden, wenn die betreffenden Personen sonst sämtliche weiteren Bindungen zu ihrer ehemaligen ethnischen Gemeinschaft gelöst oder verloren haben und ganz in die allgemeinen Verhältnisse des jeweiligen Landes integriert sind. Äußerst kompliziert ist das Problem der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer indianischen Bevölkerungsgruppe eines Landes dort, wo nur einige — und manchmal auch nur noch eines — der genannten Kriterien nachweisbar sind. In der Praxis, vor allem bei der Erfassung während Volkszählungen, spielt die Sprache nach wie vor fast die einzige und ausschlaggebende Rolle. Darüber hinaus sind jedoch für die weitere Entwicklung der betreffenden Bevölkerungsgruppe solche Faktoren, wie Abstammung, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich ethnisch, kulturell und mitunter auch in religiöser Hinsicht von der Masse der übrigen Bevölkerung unterscheidet, und nicht zuletzt das Bewußtsein, Indianer zu sein und als solche eine eigene historische Entwicklung durchgemacht zu haben, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

1.2. Zur Demographie Im Jahre 1962 veröffentlichte das Instituto Indigenista Interamericano in seinem Anuario Indigenista eine Zusammenstellung statistischer Daten über die Indianer Amerikas. Die Zählungen in den betreffenden Ländern gehen auf das Jahr 1960 zurück und dürften im wesentlichen auf linguistischer Grundlage basieren. Demzufolge lebten zu diesem Zeitpunkt in Lateinamerika etwa 13,2 Millionen Indianer,8 gegenüber einer für das gleiche Jahr angegebenen Gesamtbevölkerung — in der die Indianer eingeschlossen sind — von etwa 204 Millionen Menschen.9 Die Verteilung der indianischen Bevölkerung auf dem gewaltigen Raum Mittel- und Südamerikas ist keineswegs gleichmäßig. Es gibt Länder mit hohem indianischen Bevölkerungsanteil, wie z. B. Bolivien, Perú, Paraguay oder Guatemala, neben Ländern mit nur wenigen oder gar keinen Indianern. Für Guatemala, Paraguay und Bolivien schwanken die Angaben zwischen 40% und 60% — gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl —, während die Statistiken für Perú von 25% bis 40% sprechen; für Ekuador sind die Angaben für den indianischen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes noch divergierender, sie liegen zwischen 15% und 40%.10 8

v. H L L D E B R A N D , 1968, S. 10. Andere Quellen sprechen von 10 bis 30 Millionen Indianern (vgl. NACHTIGALL, 1968, S . 18). 2, 1965, p. 2. 9 CEPAL, vol. II, NACHTIGALL, 1 9 6 8 , S . 1 8 .

22

Zu den Staaten, in denen die indianische Bevölkerung einen wesentlich geringeren Prozentsatz ausmacht, gehören: Mexico (7,5—30%), El Salvador (bis zu 10%), Honduras (1,4-7%), Venezuela (1,9-7%), Kolumbien (2-7%), Chile (1,5—6,6%), Panama (5,6%) und Nicaragua (5%). Dagegen spielen die Indianer so gut wie gar keine Rolle in den Bevölkerungsstatistiken Costa Ricas (0,1 — 0,4%), Brasiliens (0,1—1,5%) und Argentiniens (0,1%), während es in Uruguay, in der Dominikanischen Republik und auf Kuba überhaupt keine Indianer mehr gibt.11 Wenn auch der prozentuale Anteil der Indianer an der Gesamtbevölkerung eines Landes etwas aussagt über die Bedeutung der mit den Indianer in Zusammenhang stehenden Probleme für diesen Staat, so sagt er wenig — oder auch fast nichts — aus über die Probleme der betreffenden indianischen Bevölkerungsgruppe selbst. Die Situation in Peru, einem Staat mit hohem Anteil indianischer Bevölkerung, die hauptsächlich im ländlichen Bereich lebt und tätig ist, und die weitere Entwicklung dieses Staates ist untrennbar verbunden mit der progressiven Lösung des Indianerproblems. In Brasilien dagegen, wo der indianische Bevölkerungsanteil äußerst gering ist und imperialistische Profitgier gerade im letzten Jahrzehnt systematischen Völkermord betrieb,12 muß die Lösung des Problems mit der Sicherung der physischen Existenz der indianischen Bevölkerung beginnen. Die Situationen in Peru und Brasilien deuten die Breite des Indianerproblems im gegenwärtigen Lateinamerika an. Speziell Brasilien demonstriert, daß das Indianerproblem und seine Bedeutung für den betreffenden Staat nicht allein von den demographischen Fakten abhängig ist. Ausgangspunkt für einen jeden Lösungsversuch muß vielmehr die vom proletarischen Klassenstandpunkt ausgehende Analyse der gegenwärtigen sozialökonomischen Verhältnisse, der sozialen und kulturellen Situation sowie die Klärung des politischen Status der Indianer in den verschiedenen Ländern imd die Herausarbeitung der Entwicklungstendenzen, Perspektiven und Möglichkeiten, die ihnen der Staat, dessen Bürger sie sind oder sein sollten, eröffnet, sein.

1.3. Das „Indianerproblem

Lateinamerikas"

— seine historischen

Grundlagen

Es ist bisher mehrfach von dem „Indianerproblem Lateinamerikas" die Rede gewesen. Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß die Situation der indianischen Bevölkerung in den einzelnen Ländern Lateinamerikas unterschiedlich ist, erhebt sich die Frage, inwieweit es Gemeinsamkeiten in der genannten Problematik gibt, die berechtigen, von dem „Indianerproblem Lateinamerikas" zu sprechen und welche Schlußfolgerungen sich für seine progressive Lösung ergeben. Mit dem ersten Zusammentreffen von Spaniern bzw. Portugiesen und Indianern begann in der westlichen Hemisphäre die Auseinandersetzung und das gegenseitige Einwirken zweier unterschiedlicher sozial-ökonomischer Forma" NACHTIGALL, 1 9 6 8 , S . 1 8 . 12

RIBEIBO, 1971, p. 8 4 ff.

23

tionen. Die Indianer waren, da sie auf einer wesentlich niedrigeren Stufe der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung standen, den Spaniern auf vielen Gebieten, vor allem hinsichtlich des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte, der nicht zuletzt in einem höheren Niveau der Kriegstechnik seinen Ausdruck fand, nicht gewachsen. So wurde die indianische Bevölkerung Mittelund Südamerikas das Opfer einer früher oder später beendeten Konquista, war sie der Verlierer in der kontinentalen Auseinandersetzung, in deren Ergebnis die beiden, sich in der spätfeudal-absolutistischen Phase befindlichen Staaten Spanien und Portugal die Völker der riesigen Territorien Süd- und Mittelamerikas unter das Joch ihrer Kolonialherrschaft zwangen. Dieses gleiche historische Schicksal der autochthonen Bevölkerung Lateinamerikas zeitigte Konsequenzen, die — mehr oder minder ausgeprägt — in den verschiedenen Gebieten der spanischen oder portugiesischen Kolonialbesitzungen nachweisbar sind. Die Residenzen der Vizekönige wurden schon bald die politischen, administrativen, religiösen und kulturellen Zentren der Kolonialbesitzungen. Der in der ersten Phase praktizierten Verdrängung der Indianer aus den Gebieten, die von den Konquistadoren als günstig für die Gründung ihrer Niederlassungen erachtet wurden, folgte in der zweiten Phase, die in den verschiedenen Gebieten zu verschiedenen Zeitpunkten ihren Anfang nahm, die zwangsweise Integration, ihre Subordination in die Wirtschaft und Gesellschaft der betreffenden Kolonie, insbesondere in das Encomienda-System. Dieses System, 13 das als eine besondere Form der Leibeigenschaft der Indianer in Lateinamerika anzusehen ist, hatte seinen Ursprung in der Zuweisung von Land und Indianern an die Konquistadoren als „Beauftragte" des Königs, die zeitlich begrenzt, auf Lebenszeit, oder erblich sein konnte. Damit verbunden war für den Indianer die rücksichtslose Ausbeutung seiner Arbeitskraft und die gewaltsame Christianisierung. Um dieser Zwangsintegration zu entgehen, verließen verschiedene Indianergruppen ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete und zogen sich in unzugänglichere, meist auch unwirtlichere Gegenden zurück. Die historischen Erfahrungen der Indianer, daß sie bei den Auseinandersetzungen mit Vertretern der Kolonialmacht — ganz gleich, in welcher konkreten Form sie stattfanden — stets unterlagen, übervorteilt oder betrogen wurden, daß ihr traditionelles, auf Gewohnheit beruhendes Rechtssystem immer mehr eingeengt oder überhaupt mißachtet, daß ihre Würde wieder und wieder von den Konquistadoren und deren Nachkommen verletzt wurde, trugen dazu bei, daß sich in der indianischen Bevölkerung generell ein Gefühl tiefsten Mißtrauens gegen alle von außen, d. h. von Angehörigen der sie unterdrückenden Nationalität 14 herangetragenen Veränderungen und Neuerungen herausbildete, das noch heute wirksam ist und die Kontaktversuche bis hin zu den Bemühungen der Kommunistischen und Arbeiterparteien um die Schaffung eines politischen Kampfbündnisses erschwert. Das heißt jedoch andererseits nicht, daß es den marxistisch-leninistischen Parteien nicht gelungen sei, ihre Bündnispolitik auf 13 V g l . K O S S O K ,

1970, S . 4 2 2 ; Z E U S K E , 1 9 6 3 ; ZUIDEMA, 1964, S . 2 2 8 f f . ; CIDA,

p . 5. 14

V g l . SUROVCEVA, 1969, S . 30.

24

1966,

diesem Gebiet erfolgreich zu gestalten. Dagegen haben verschiedene nationalreformistische Parteien aus wahltaktischen Gründen mit Hilfe demagogischer Losungen und Versprechen versucht, Einfluß auf diese Teile der Bevölkerung zu gewinnen; im Falle der APRA in Perú und des Partido Revolucionario Institucional in Mexico ist ihnen das auch zeitweilig gelungen. Unter den Bedingungen einer relativen Abgeschlossenheit haben sich in bestimmten Gebieten, z. B. auch in den Reduktionsgebieten Chiles, die indianischen Bevölkerungsgruppen wesentliche ethnisch-kulturelle Besonderheiten erhalten; noch heute gibt es zahlreiche indianische Gruppen, die nur ihre eigene, indianische Sprache beherrschen 15 und bei Kontakten mit Außenstehenden auf Dolmetscher angewiesen sind. Allerdings weist die Zweisprachigkeit in diesen Gebieten auf Grund der staatlichen Bemühungen zur allmählichen Überwindung des Analphabetentums mit Hilfe des Spanischen eine steigende Tendenz auf. Trotz der konservativen Verhaltensweise indianischer Bevölkerungsgruppen existierte heute wohl kaum eine solche Vielzahl ethnischer oder nationaler Minderheiten in den Ländern Lateinamerikas, hätten sie nicht in der Regel in ihrer traditionellen Produktionsweise, durch ihr Leben in relativ festgefügten, ökonomisch selbstgenügsamen dörflichen Gemeinwesen, die entsprechende sozialökonomische Basis gehabt. 1 0 Die ökonomische und politische Isolierung erfuhr in einigen Ländern Lateinamerikas durch eine spezielle Indianergesetzgebung noch einen zusätzlichen juristischen Aspekt. I n ihrer Gesamtheit führten sie zu einer relativen Konservierung der bestehenden sozialökonomischen Verhältnisse und verhinderten auf der einen Seite die vollständige Zwangsintegration in das kolonialfeudalistische Wirtschaftssystem, wirkten sich andererseits aber auch hemmend auf die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise in den indianisch besiedelten Gebieten aus. 17 Damit war es ihnen unmöglich gemacht, eine umfangreiche, gezielte Produktion f ü r den Markt zu entwickeln und ökonomische Bedeutung für das gesamte Land zu gewinnen. Diese Situation hatte zur Folge, daß die indianische Bevölkerung Lateinamerikas an bestimmten Prozessen der Nationwerdung in einigen Republiken Süd- und Mittelamerikas nur zu einem gewissen Teil, nur am Rande beteiligt war. I n diesem Zusammenhang trifft die von K O S S O K auf Perú bezogene Feststellung: „Aus der ökonomischen Inferiorität des indianischen Bauern folgte dessen politisch-kulturelle", 18 auch auf die Situation in anderen Ländern Lateinamerikas zu. 15 Z U I D E M A , 16

17

1964, S. 234, S. 246.

Solange die sich in diesen Gemeinwesen relativ langsam entwickelnden Produktivkräfte noch nicht zu Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, mit anderen Worten: zur Überwindung ihrer ökonomischen Selbstgenügsamkeit, geführt hatten, konnten sich — wie Karl M A R X sagt — die auf einem solchen „einfachen produktiven Organismus" beruhenden „selbstgenügenden Gemeinwesen . . . beständig in denselben Formen reproduzieren" (MARX, Bd. 23, 1962, S. 379) und weiterexistieren. In der Indianergesetzgebung verschiedener lateinamerikanischer Länder finden sich vielfach konvergente Züge zum System der sogen, „indirect rule" des britischen Imperialismus (vgl. POTECHIN", Sovetskaja Étnografija, 1 9 4 8 ) .

« KOSSOK, 1 9 6 3 , S. 2 9 .

25

Die Überlegungen hinsichtlich der Geraeinsamkeiten des Indianerproblems in den Ländern Lateinamerikas abschließend, muß noch betont werden, daß es zu keiner Zeit zu einer, die autochthonen Stämme und Völkerschaften zusammenführenden Indianerbewegung gekommen ist, daß andererseits aber unzählige Indianeraufstände seit der Konquista vom heldenhaften Widerstand der Indianer gegen ihre Unterdrücker berichten. Wenn es also auch einige, vorwiegend historisch bedingte Gemeinsamkeiten in der Indianerfrage der Länder Lateinamerikas gibt, die bis zu einem gewissen Grade berechtigen, von dem „Indianerproblem Lateinamerikas" zu sprechen, so darf doch nicht übersehen werden, daß eine Lösung der Indianerfrage jeweils nur unter den konkreten historischen, ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen eines jeden Landes, nur in dem gemeinsamen Kampf aller unterdrückten Klassen, Schichten und Gruppen des Volkes gegen das herrschende Ausbeuterregime in ihrem Lande möglich ist.

1.4. Aktuelle Aspekte der

Indianerfrage

Die Indianerfrage ist in keinem Lande Lateinamerikas eine Rassenfrage. I h r Kern ist die soziale Frage, deren Lösung — da in allen Ländern Lateinamerikas der überwiegende Teil der indianischen Bevölkerung auf dem Lande als Kleinoder Kleinstbauern und als Landarbeiter tätig ist — auf das engste mit der Lösung der Agrarfrage verbunden ist. 19 I h r Grundproblem kann nur im gesamtnationalen Rahmen gelöst werden, das heißt, die indianische Landbevölkerung wird ihre Probleme nur dann zu einer positiven Lösung bringen, wenn sie einerseits den Weg an die Seite ihrer nichtindianischen Klassenbrüder auf dem Lande findet und andererseits mit ihnen gemeinsam ein festes und unzerstörbares Bündnis mit den nichtindianischen und indianischen Arbeitern der jeweiligen Staaten eingeht. Das sind die entscheidenden Voraussetzungen — und die Beispiele der Geschichte, insbesondere der Sowjetunion, haben das bewiesen — f ü r den Erfolg der Revolution, in deren Rahmen auch alle über die soziale Frage hinausgehenden Probleme ethnischer oder nationaler Minderheiten gelöst werden können. So unterschiedlich die Versuche, die bisher in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zur Lösung der Indianerfrage unternommen wurden, sind, so unterschiedlich sich die gegenwärtige Situation infolge dieser Versuche und der ethnischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern in der Indianerfrage auch darstellt, das gemeinsame Charakteristikum liegt in der gleichen Zielstellung der herrschenden kapitalistischen Kreise der betreffenden Länder bei der Behandlung des Nationalitätenproblems: der Integration der indianischen Bevölkerungsgruppen in das allgemeine kapitalistische Ausbeutungssystem. Dem westdeutschen Völkerkundler H. N A C H T I G A L L zufolge, der sich mit dem Indianerproblem in Peru und Mexiko befaßt hat, bedeutet „der Terminus 'integratio', lateinisch wörtlich 'Erneuerung', 'Wiederherstellung' . . . entweder die 19

MARIATEGUI, I I , 1 9 7 0 , p . 2 9 , p . 4 0 .

26

Aufnahme ethnischer Minderheiten in ein Volk oder bestimmter sozialer Gruppen des gleichen Volkes in eine bestehende Ganzheit, meist in ein bestehendes Volk oder in einen Staat. Die Integration tritt in Kontaktsituationen in Erscheinung, d. h. beim Zusammenprall verschiedener Populationen. Dadurch entstehen bei der einen oder bei der anderen oder bei beiden Gruppen Veränderungen. Es ist selbstverständlich, daß in einigen Bereichen stärkere integrierende Wirkungen entstehen als in anderen. Von Seiten der Eingeborenen verlangt die Integration aber meist einen vollständigen Kulturwandel." 20 Das ist eindeutig die kapitalistische Integrationsformel, die bei ihrer Durchsetzung und in der weiteren Folge unweigerlich zu neuen Komplikationen führen muß, da sie ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts — das Recht auch des kleinsten Volkes auf Selbstbestimmung21 — mißachtet. Es ist keine Lösung des Problems, es ist die Liquidierung ethnischer oder nationaler Minderheiten.

1.4.1. Mexiko In Mexiko stellt sich das Nationalitätenproblem, die Indianer frage, folgendermaßen dar: Sieht man von der ursprünglichen aztekischen Bevölkerung Zentralmexikos ab — die, wo sie nicht liquidiert worden war, in den Bestand der mexikanischen Nation eingegangen ist, und was man heute formal als „Rückführung der mexikanischen Geschichte bis in die präkolumbische Zeit", die Aztekenherrschaft, sichtbar machen möchte —, so blieben die übrigen Völker und Stämme im doppelten Sinne am Rande des historischen Geschehens der sich herausbildenden mexikanischen Nation. 22 Die etwa vier Millionen Indianer, d. h. 10%—11% der mexikanischen Bevölkerung, wohnen in Rückzugsgebieten der zentralen und südlichen Staaten.23 Allein die Tatsache, daß von diesen vier Millionen Menschen fünfzig verschiedene Sprachen gesprochen werden, macht die Differenziertheit des Nationalitätenproblems in Mexiko deutlich, zumal etwa 40% dieser Indianer das Spanische weder aktiv noch passiv beherrschen; das bedeutet, daß dieser Teil der mexikanischen Bevölkerung nicht nur von der spanisch-sprechenden Masse der Bevölkerung, sondern auch untereinander außerordentlich stark isoliert ist.24 Im Jahre 1948 schuf sich die mexikanische Zentralregierung mit dem Instituto Nacional Indigenista ( I N I ) eine Einrichtung, dessen Aufgaben folgendermaßen umrissen werden: „Mit der Arbeit des Instituto Nacional Indigenista wird das Ziel verfolgt, nicht nur bestimmte Neuerungen in die indianischen Gemeinden zu tragen, sondern letztere auch allmählich fest in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Bei diesen Interventionen sollen alle diejenigen Elemente der jeweiligen indianischen Kultur respektiert werden, die sich der vorgesehenen Entwicklung nicht entgegenstellen. . . . Die genaue Richtung sowie auch die 20 NACHTIGALL, 1968, S . 15.

S. LENIN, 1960, Bd. 21, S. 420f. 22 MASHBITZ, 1964, S . 1 5 8 f f . ; AL'PEBOVIC, 1964, S . 106. M K Ö H L E R , 1968, S . 6 0 ; CHOBOSAEVA, 1960, S . 192. 2'* CHOROSAEVA, 1960, S. 200.

27

Geschwindigkeit des Wandels soll bei allen Aktionen des Instituto Nacional Indigenista letztlich von den Indianern selbst bestimmt werden. Es soll ihnen völlige Freiheit darüber gelassen werden, ob sie die Vorschläge des Instituto Nacional Indigenista akzeptieren oder ablehnen. Jeder Versuch zur Gewaltanwendung wäre mit den Zielen des Instituto Nacional Indigenista unvereinbar.'^ Fast sieht es so aus, als könnten die betreffenden indianischen Gemeinwesen über ihr weiteres Schicksal selbst bestimmen. Aber wie sieht es wirklich aus? Zur Realisierung der Integrationspläne wurden seit 1951 zehn sogenannte Koordinationszentren in verschiedenen Gebieten Mexikos eingerichtet, deren gegenwärtige Einflußsphäre etwa 500000 Indianer erfaßt. 26 Am Anfang der Tätigkeit eines solchen Zentrums steht die Konzipierung eines Regionalprogramms, das in der Zentrale des Instituto Nacional Indigenista in Mexiko-Stadt festgelegt wird. Auch die Forschungsprogramme, die „grundsätzliche Politik" und die Weiterentwicklung der Regionalprogramme werden hier beschlossen. Eine Mitarbeit von Vertretern der indianischen Bevölkerung, deren weiterer Entwicklung die beschlossenen Maßnahmen dienen sollen, bei der Planung und eine Teilnahme an der Beschlußfassung wird mit keinem Wort erwähnt, darf also nicht angenommen werden. Die Durchsetzung der Regionalprogramme ist Aufgabe der einzelnen Koordinationszentren, die bestrebt sind, „in den indianischen Gemeinden Brückenköpfe für die weitere Integrationsarbeit zu schaffen."27 Ansatzpunkt für die Schaffung eines solchen Einflußzentrums ist die Einrichtung einer Schule, die damit beginnt, daß aus dem Kreise der indianischen Bevölkerung eine sozial hoch angesehene Person für die Funktion des „Förderers" ausgewählt und im Zentrum im Lesen und Schreiben unterrichtet wird. Diese „Förderer" bleiben auch später, wenn sie bereits in ihrem Heimatort unterrichten, in ständiger Verbindung mit dem Zentrum und erhalten dort als die Kontaktpersonen, denen im geplanten Integrationsprozeß eine Schlüsselposition zugedacht ist, ihre weitere Qualifizierung, die weit über den Rahmen allgemeiner schulisch-pädagogischer Ausbildung hinausgeht. Über die Funktion des „Förderers" in den indianischen Dörfern schreibt P A W L E N K O : „In Orizabita (einer Niederlassung der Otomi, V. H.) ist der Lehrer . . . Schreiber, Rechtsanwalt, Heilgehilfe und Landmesser in einer Person, faßt Testamente und Steuererklärungen, Kaufverträge und andere Schriftstücke ab."28 Im Geschichtsunterricht wird den Kindern ein völlig fremdes Geschichtsbild vermittelt, das nichts mit den Überlieferungen oder mit dem historischen Gehalt der von ihren Eltern und Voreltern überkommenen mündlichen Traditionen zu tun hat. K Ö H L E R schreibt dazu: „Da die offiziellen Lesebücher zum großen Teil geschichtlichen Stoff behandeln, werden die Indianerkinder nicht nur mit dem Wirken der verschiedenen mexikanischen Nationalhelden vertraut gemacht, sondern erfahren auch, daß ihre Vorfahren die Azteken waren. Und so lernen 2

5 KÖHLER, 1 9 6 8 , S . 6 5 .

« KÖHLEB, 1 9 6 8 , S. 67. 27 KÖHLEK, 1 9 6 8 , S . 7 9 . 28 PAWLENKO, 1 9 6 6 , S . 2 7 .

28

denn auch die Nachkommen indianischer Völker, die nie unter das Joch der Aztekenherrschaft geraten waren, rund 450 Jahre nach deren Fall fleißig die Namen sämtlicher Aztekenherrscher auswendig. Daß ihre Völker eine eigene Geschichte hatten, erfahren sie in der Regel selbst in den Schulen des Instituto Nacional Indigenista nicht."29 Das Ziel einer solchen Erziehung der Indianerkinder ist eindeutig auf die Verhinderung einer eigenständigen ethnischen Konsolidierung, auf die Integration in die bürgerliche mexikanische Nation gerichtet. Wie sieht es unter diesen Bedingungen der Mexikanisierung mit der Entwicklung der indianischen Gemeinwesen auf ökonomischem Gebiet aus ? Nach der Darstellung K Ö H L E R S , der selbst im Rahmen des I N I Untersuchungen durchgeführt hat, leiten die Koordinationszentren verschiedene Maßnahmen ein, die zur Verbesserung der indianischen Landwirtschaft führen sollen. An erster Stelle steht dabei die Einführung neuer Pflanzen und Haustiere. Alle anderen Aktivitäten, wie Preisregulierung, Land Verteilung, Umsiedlung u. a., werden nur sporadisch geübt und bilden kein geschlossenes System. „Eine zusammenfassende Wertung der (schon dreizehn Jahre währenden) Bemühungen des Instituto Nacional Indigenista im Bereich der Wirtschaft ist vorerst," wie K Ö H L E R schreibt, „noch nicht möglich, da es keine umfassenden empirischen Erfolgsuntersuchungen gibt. Mit einzelnen Interventionen, wie etwa der Propagierung neuen Weizens in Chiapas, der Kultivierung von Reis am Papaleapan oder der Einführung moderner forstwirtschaftlicher Methoden in der Sierra Madre von Chihuahua hat das Instituto Nacional Indigenista zweifelsohne beachtliche Erfolge erzielt." 30 Doch wie beachtlich können diese Erfolge gerade in der Sierra Madre sein, wenn hier — nach der Einschätzung von K Ö H L E R selbst — „ein Großteil der Arbeit des I N I im Bereich der Wirtschaft gefährdet" ist. Er schreibt: „In den entlegenen Gebieten der Sierra Madre, in denen die Tarahumara leben, geht die Expansion der Ladinos auf Kosten der Indianer gegenwärtig noch rasch voran. Da das Gebiet nicht im einzelnen vermessen ist, fällt es den Ladinos nicht schwer, sich größere Ländereien einfach anzueignen. Die Indianer, die nur in kleinen Siedlungsgruppen über die ganze Region verstreut leben und über keine schlagkräftige politische Vertretung verfügen, können sich gegen dieses Vorgehen der Ladinos kaum wehren. Gegenwärtig sind die Ladinos bemüht, für die angeeigneten Gebiete Rechtstitel zu erhalten." 31 Wenn also — wie im Falle der Tarahumara — die mexikanische Regierung nicht in der Lage und anscheinend auch nicht gewillt ist, die indianische Bevölkerung vor der Expropriation, vor der Vertreibung von ihrem Grund und Boden zu schützen, müssen zwangsläufig die eingeleiteten ökonomischen Förderungsmaßnahmen schon an diesem Problem scheitern. Das zeigt sich auch darin, daß — obwohl solche Maßnahmen in den Regionalprogrammen formal vorgesehen sind — bisher nichts unternommen wurde,32 die traditionellen Anbaumethoden zu verändern, die agrarische Produktion der indianischen Bevölkerung durch Einführung moderner, wissenschaftlich begründeter Methoden so zu entwickeln, 29 K Ö H L E B , 1968, S. 71. 30 K Ö H L E K , 1968, S. 73.

31 KÖHLEK, 1968, S. 76 ( H e r v o r h e b u n g v o n mir, V . H . ) 32 K Ö H L E R , 1968, S. 72.

29

daß sie einen Platz in der Marktwirtschaft des Landes erringen könnte. Nach wie vor befindet sich die Masse der indianischen Bevölkerung Mexikos in ökonomischer Isolierung und Rückständigkeit. Wie äußert sich schließlich die offizielle Integrationspolitik der Regierung hinsichtlich des Erhalts, der Veränderung oder der Beseitigung der traditionellen politischen Institutionen, der ethnischen, kulturellen und religiösen Besonderheiten der indianischen Minderheiten ? „Die Initiative f ü r die Sicherstellung des Fortlebens indianischer Kulturformen ist," nach den Worten K Ö H L E R S , „in erster Linie den Indianern selbst überlassen." Bestimmte Bereiche, vornehmlich der Bereich der Religion und häufig auch der der politischen Organisation, klammert das I N I „aus dem Aktionsfeld für unmittelbare Interventionen aus"; die „konservierende Wirkung", die diese Art „Berücksichtigung der indianischen Kultur bei der Einführung von Neuerungen" speziell in bezug auf die herkömmlichen politischen Institutionen der indianischen Gemeinwesen ausübt, 3 3 macht deutlich, daß sich die herrschenden Kreise Mexikos in ihrer Politik gegenüber den indianischen Minderheiten des Landes ähnlicher Methoden bedienen, die einst der britische Imperialismus — unter dem Schlagwort „indirect rule" — zur Unterdrückung und Ausbeutung der Völker seines Kolonialreiches anwandte. Mit seiner Äußerung: „Bereiche, in denen Änderungen wahrscheinlich auf Widerstand seitens der Indianer stoßen würden, werden von einer direkten Intervention ausgenommen," 34 bestätigt K Ö H L E R die Vorsätzlichkeit, mit der die Regierung die wahren Ziele ihrer, im Grunde die Gleichberechtigung der indianischen Minderheiten mißachtenden Politik zu verbergen sucht. Denn die „Ausklammerung" gerade eines solchen Bereiches wie die traditionelle politische Organisation aus dem „Aktionsfeld für unmittelbare Interventionen" bedeutet in der Praxis auf keinen Fall, daß dieser wesentliche Teil des traditionellen Überbaus der indianischen Gesellschaft nicht doch Gegenstand gezielter Einflußnahme seitens des I N I wäre. Gerade die umfassende Aufgabenstellung f ü r die vom I N I geschaffene Institution der „Förderer" dient doch nicht zuletzt dem Ziel, in den betreffenden Gemeinden „Interesse f ü r die übrige Arbeit des I N I (zu) wecken", 35 mit anderen Worten: die die traditionelle Gesellschaftsstruktur unterhöhlenden Grundlagen f ü r die allseitige Integration der indianischen Gemeinschaften zu schaffen. Denn die spezifischen „Interventionen" der Regierung zur Integration der Indianer sind nicht auf einzelne Personen, etwa die „Förderer", sondern ganz und gar auf die geschlossenen Gemeinwesen der indianischen Minderheiten gerichtet. 36 33 K Ö H L E R , 1 9 6 8 , S . 7 9 , S . 7 7 . 3'* K Ö H L E R , 1 9 6 8 , S . 7 6 . 35 K Ö H L E R , 1 9 6 8 , S . 7 0 . 36

S. CASO, 1948; CASO, 1958. CHOROSAEVA (1960) stellt in den Vordergrund ihrer Untersuchungen über „Die gegenwärtige indianische Bevölkerung Mexikos" Probleme der Formierungsprozesse innerhalb der ethnischen Gruppen. So notwendig und aktuell solche Untersuchungen sind, so dürfen sie doch nicht losgelöst von den allgemeinen, politischen, ökonomischen und sozialen Aspekten der Indianerfrage in dem betreffenden Land vorgenommen werden.

30

Daß die Programme des INI Aktivitäten zur Beeinflussung der religiösen Vorstellungen und Praktiken der Indianer ausklammern, ist nicht verwunderlich, bemühen sich doch in dieser Richtung bereits seit der Zeit der Konquista intensiv die katholischen Missionare und Geistlichen. Zusammenfassend kann man feststellen, daß das mexikanische Beispiel einer Bewältigung des Indianerproblems nicht einmal die Möglichkeiten in Erwägung zieht, die selbst unter bürgerlich-demokratischen Verhältnissen für die Behandlung der Probleme ethnischer Minderheiten gegeben sein können. Diese Feststellung hat für Lateinamerika allgemeine Bedeutung. „Mexiko verwirklichte im Ergebnis der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1910 die erste umfassende Agrarreform in Lateinamerika, . . . die einer großen Zahl von landlosen und armen Bauern Boden gab und die ersten Ansätze einer genossenschaftlichen Organisation (Ejido-System) entwickelte, ohne indes den Grundbesitz völlig aufzuheben."37 Der an die Macht gelangten Bourgeoisie war es möglich, die Grundgedanken der Agrarrevolution soweit umzuorientieren und zu verfälschen, daß sie zur Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse auf dem Lande führte. Die soziale Frage — und damit auch die Indianerfrage — blieb für Mexiko ungelöst.

1.4.2. Brasilien Daß die Zeiten systematischer, von imperialistischem Profitstreben diktierter Ausrottung ganzer Völkerstämme auch in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts noch immer nicht endgültig der Vergangenheit angehören, dafür sorgten die äußerst reaktionären herrschenden Kreise Brasiliens. Die Feststellung, daß Indianer in Brasilien wohl noch in den Wäldern des Amazonastieflandes anzutreffen sind, dürfte wahrscheinlich die einzige konkrete Aussage sein, die man gegenwärtig über die indianische Bevölkerung des größten Landes Lateinamerikas machen kann. Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts, insbesondere die verbrecherischen Praktiken des Indianer„schutz"dienstes, die in der ganzen Welt größte Empörung auslösten, ließen alle bisher gültigen Angaben über Zahl und Stärke der Stämme hinfällig werden. Noch um 1900 konnte man 230 verschiedene indianische Gruppen in den weiten Gebieten Brasiliens nachweisen; 1957 waren davon 87 völlig verschwunden.58 Nach Mitteilungen der brasilianischen Presse nahm die systematische Ausrottung der Indianer nach 1964 solche erschreckenden Ausmaße an, daß die Regierung nicht umhin konnte, die in den Berichten genannten Angaben zu überprüfen. Die Untersuchungskommission unter Leitung des Richters Figueiredo stellte eine Reihe von Dokumenten zusammen, die beweisen, daß Zehntausende von Indianern durch Abwurf von Sprengbomben, vorsätzlicher Verbreitung von Epidemien — sei es durch Impfungen oder mittels „Verschenken" von Kleidungsstücken bereits Erkrankter, sei es durch Vergiftung mit Arsen oder Strychnin, das dem Zucker oder Mehl 37

3

K O S S O K , 1961, S. 71.

8 BAMDUS, 1964, S. 315; s. a.

FAINBERG,

i960, S. 153.

31

beigegeben wurde — in faschistischer Manier grausam ermordet wurden. Ursache für diese Verbrechen sind die Bestrebungen der einheimischen Großgrundbesitzer nach größerem Landbesitz sowie der brasilianischen und vor allem US-amerikanischen Agrar- und Bergbaugesellschaften, die Schätze des Amazonasbeckens an sich zu reißen.39 Inzwischen gelang es ausländischen Gesellschaften, etwa 1,6 Millionen km 2 — das sind etwa ein Fünftel des Amazonasbeckens — in ihren Besitz zu bringen. Beamte des sogenannten Indianerschutzdienstes wurden Aktionäre der Gesellschaften und betrieben die Ausrottung der indianischen Bevölkerung dieses Gebietes ganz systematisch. 40 Doch allein mit der Aufdeckung dieser abscheulichen Verbrechen ist ihnen noch nicht Einhalt geboten. So schreibt die Zeitung „Ultima Hora" am 23. 3. 1968: „Während das Ministerium mit einer Untersuchung der festgestellten Morde beschäftigt ist, werden in verschiedenen Landesgebieten, namentlich im Matto Grosso und Maranhao, weiter Indianer ermordet."41 Damit stellt das gegenwärtige Regime Brasiliens unter Beweis, daß es außerstande ist, auch nur das Leben der Indianer zu garantieren, denn mit der Erklärung, daß man den Indianerschutzdienst aufgelöst habe und an seine Stelle eine indianische Nationalstiftung treten werde, ist dem organisierten Verbrechen an der indianischen Bevölkerung noch nicht Einhalt geboten. Wenn dies der Regierung nicht in kürzester Zeit gelingt, wird sie schuldig an der physischen Liquidierung der brasilianischen Indianer.

1.4.3. Andere Länder Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung der betreffenden Länder ist die Lösung der Indianerfrage in Perú, Bolivien, Paraguay und Guatemala, wo die Mehrheit gerade der ländlichen Bevölkerung indianischer Herkunft ist. Aber auch für diese Länder gilt, was N A C H T I G A L L über die bisherige Situation der Indianer allgemein in Lateinamerika schreibt: „Der Indio lebt, solange er Indio ist, außerhalb der Gesellschaft. Die Bestrebungen von Staat und Gesellschaft gehen nicht dahin, den Indio als Indio in den Staat zu integrieren, sondern sie gehen dahin, den Indio zu akkulturieren, ihn anzugleichen an das mittlere Kulturniveau des jeweiligen Landes. . . . 'Integration' heißt für die lateinamerikanischen Eingeborenen eben nie 'Einordnung in den Staat unter Erhaltung der Stammeseigentümlichkeiten', sondern stets 'Aufgabe des Eingeborenenstatus und möglichst restlose Anpassung an die herrschende Kultur'."42 Doch auch in Lateinamerika wirkt das grandiose historische Beispiel der Erfolge der auf den Prinzipien des proletarischen Internationalismus beruhenden marxistisch-leninistischen Nationalitätenpolitik der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sowjetregierung, wenn der gleiche Autor bei einem Vergleich der Resultate von fünfzig Jahren Sowjetmacht in der UdSSR und über vierhundert Jahren Bemühungen um die Integration ethnischer Minderheiten 3» Neue Zeit, 28/1965, S. 22. '•o COBO, 1 9 6 8 , S . 2 2 .

« Zitiert n. COBO, 1968, S. 21. « NACHTIGALL, 1 9 6 8 , S . 2 3 .

32

in das politische und gesellschaftliche Leben der Länder Lateinamerikas feststellen muß: „In den sowjetischen Parlamenten befinden sich Eingeborene als politische Repräsentanten ihrer Eingeborenen-Gruppen, in den lateinamerikanischen Parlamenten nicht."43

1.4.4. Chile Auch in Chile, dem Staat Lateinamerikas, dessen Indianerfrage und deren Spezifik in seiner Entwicklung bis etwa zum Jahre 1970, d. h. bis zum Sieg der Unidad Populär die folgenden Kapitel gewidmet sind, ist.die indianische Minderheit des Landes weder in den zentralen noch in irgendwelchen örtlichen Organen der Staatsmacht politisch vertreten. Mit dem Sieg der Volkskräfte war 1970 eine politisch völlig andere Situation entstanden, die für die Lösung der Indianerfrage eine neue und echte Perspektive hätte eröffnen können. I m Vergleich mit den oben angeführten Beispielen weist die Indianerfrage Chiles am ehesten gewisse Ähnlichkeiten mit der Mexicos auf. Über die, als allgemeine Indianerfrage Lateinamerikas festgehaltenen Gemeinsamkeiten fallen dabei Momente der Indianergesetzgebung und der Versuch der bürgerlichen Regierung zur Durchsetzung des Kapitalismus auf dem Lande besonders ins Auge. Auch ihre sozialökonomischen Verhältnisse, die Pflege ihrer Sprache, Kultur sowie religiösen Vorstellungen und Praktiken sind einander ähnlich. Allerdings ergibt sich aus der konkreten historischen Entwicklung, den unterschiedlichen Umweltbedingungen, den ethnischen Besonderheiten und nicht zuletzt der konkreten Indianerpolitik eine darüber hinausgehende Spezifik der Indianerfrage in Chile, lassen sich einige besondere Tendenzen und Möglichkeiten der weiteren Entwicklung dieser ethnischen Minderheit erkennen. Den ersten spanischen Quellen — Briefen und Berichten von Konquistadoren — zufolge, erstreckte sich das Verbreitungsgebiet der Araukaner in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts über das heutige Mittelchile, etwa vom 30. bis 43.° südlicher Breite und wurde im Westen vom Pazifik und im Osten von der Kordillere begrenzt (s. Fig. 1). In Nord-Südrichtung unterteilten sich die Araukaner einst in drei ethnische Gruppen: die Picunches, die Mapuches und die Huilliches, während die Araukaner des Andenhochlandes als Pehuenches bezeichnet wurden.44 Die nördlichste Gruppe, die Picunches, wurde im Laufe der Jahre durch die Ausweitung der spanischen Kolonialmacht bis zum Rio Bio-Bio zurückgedrängt; jene Teile der Picunches, die jedoch in zersprengten Gruppen nördlich des BioBio verblieben, wurden in der Zeit der Errichtung des Latifundismus in diesem Gebiet in das Kolonialsystem integriert. Sie bildeten eine der Quellen, aus denen sich die heutigen chilenischen Inquilinos der betreffenden Regionen herleiten.45 Auf Grund einer besonderen historischen Entwicklung, auf die an anderer Stelle eingegangen wird, gelang es der mittleren Gruppe, den Mapuches, sowie «

N A C H T I G A L L , 1968, S . 16.

44

C O O P E R , 1946, p . 687.

45

S. Kapitel 2 und 4.

3 Hartwig

33

Teilen der Huilliches und Pehuenches, sich relativ zahlreich bis in die Gegenwart zu erhalten. Allerdings findet man heute eine Trennung der verschiedenen Gruppen der Araukaner nicht mehr vor. Sie selbst bezeichnen sich, wenn sie

70 Fig. 1. Verbreitungskarte der indianischen Stämme im mittleren und nördlichen Chile sowie den angrenzenden Gebieten Argentiniens zur Zeit der Konquista (n. H A N D B O O K of South American Indians, vol. 2, 1946)

befragt werden, durchweg als Mapuches, und auch in der Literatur wird von ihnen, wenn nicht komplex von „Araukanern", so von den „Mapuches" geschrieben. Ähnlich wie den Picunches ist es auch den ehemals im nördlichen Zentralchile wohnenden Diaguitas ergangen; sie wurden während der Konquista stark dezimiert. Heute sprechen nur noch archäologische Funde und im Volksmund gebräuchliche Bezeichnungen f ü r bestimmte Pflanzen und geographische Gegebenheiten von der relativ entwickelten Kultur der bodenbautreibenden Diaguitas. 46 Das nördlichste Gebiet Chiles war in vorkolumbischer Zeit von drei weiteren indianischen Gruppen — den Urus an der nördlichen Küste, den Atacamenos im Gebiet des Rio Loa und den Aymaras an der Grenze zu Peru — bewohnt. Von den beiden erstgenannten Indianerstämmen gibt es auf chilenischem Territorium heute keine authentischen Vertreter mehr. Einige wenige Nachfahren der Aymara leben auch heute noch in den unwirtlichen Zonen der Präkordillere; das eigentliche Zentrum ihrer heutigen Verbreitung liegt jedoch im südöstlichen «6 M I R A N D A , 1 9 4 6 , p . 6 3 7 .

34

Perú und in Bolivien. Die chilenischen Aymaras werden im Gegensatz zu den in den Reduktionen des südlichen Mittelchile lebenden Mapuches nicht durch die Dirección de Asuntos Indígenas erfaßt und betreut, so daß auch keinerlei statistische Angaben über ihre Zahl, ihre Wohngebiete usw. vorliegen. Sie waren bisher auch nicht in die Indianergesetzgebung der Republik Chile eingeschlossen. Die Ende des vorigen Jahrhunderts an Bedeutung zunehmende Indianergesetzgebung hatte ausschließlich die weitere Existenz der Mapuches zum Gegenstand. Damit wurden diesen Indianern ganz bestimmte Gebiete in den Provinzen Bio-Bio, Arauco, Malleco, Cautín, Valdivia, Osorno und Llanquihue (s. Fig. 2) TALCA

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32

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A O O + x R • ~

Mann Frau Kind verstorben anwesend abwesend Radicado Anfrag auf División neue Grundeigentümer nach der Division

Fig. 10. Verwandtschaftliche Beziehungen der Mitglieder der Communidad Saavedra Catrilao (Grundstück J\» 55 — schematische Darstellung), Provinz Cautín 95 V . HARTWIG, F e l d m a t e r i a l v o m 31. 1. 1967, S. 201. so y . HARTWIG, F e l d m a t e r i a l v o m 31. 1. 1967, S. 201 f f .

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lao (20), Ernestina Higueras Catrilao (24), Elisa Higueras Catrilao (22) und René Higueras Valdebenito (25). Roberto heiratete Evangelina Jara (21) und hat mit ihr noch drei unmündige Kinder (49—51); Ernestina schloß die Ehe mit Federico Sepúlveda (23), während die letzten beiden noch ledig sind; Elisa hat ein minderjähriges Kind (56).07 (R) Elena Catrilao Cid (9), das fünfte Kind der Eheleute Saavedra Catrilao — Cid, heiratete nicht, hatte aber zwei Kinder, von denen Carlos Boissen Catrilao (26) ledig blieb, während Brigida Boissen Catrilao (27) insgesamt dreizehn Kindern das Leben schenkte: dem ersten, Pedro Boissen Boissen (53), vor ihrer Verehelichung; dann heiratete sie Jorge Retamal (28), mit dem sie sechs Kinder hatte: Avigain (54), Florentino (56), Luis (57), Alicia (58), Dagoberto (59) und Jorge (60). Außerhalb dieser Ehe bekam Brigida Boissen Catrilao noch weitere sechs Kinder: Sergio Sepúlveda Boissen (61), Gabriel Sepúlveda Boissen (62), Petrolina Sepúlveda Boissen (63), José Sepúlveda Boissen (64), Maria Brigida Sepúlveda Boissen (65) und Juan Sepúlveda Boissen (66). Von allen Kindern hatte bis zum Zeitpunkt der División nur Avigain Retamal Boissen geheiratet, und zwar José Nicanor Pérez (55), aus deren Ehe vier Kinder hervorgingen, die noch nicht erwachsen sind: José Segundo (67), Adelberto Enrique (68), Jorge Edison (69) und Avigain (70).98 (R) Felecinda Catrilao Cid (10) war zweimal verheiratet, das erste Mal mit Pedro Valenzuela (11). Ihre Ehe blieb kinderlos. Nach seinem Tode heiratete sie ein zweites Mal, und zwar Eleuterio Rubilar Polanco (12), mit dem sie einen Sohn, Prodelicio Rubilar Catrilao (32), hatte, der selbst aber unverheiratet und kinderlos blieb. Außerhalb der Ehe hatte Felecinda Catrilao Cid noch drei weitere Nachkommen: Celia Cárdenas Catrilao (29), Afredo Pérez Catrilao (30) und José del Carmen Pérez Catrilao (31).9n (R) Eulogia Catrilao Cid (13) war mit Emeterio Retamal Viguera (14) verehelicht und hatte mit ihm neun Kinder: Olga Retamal Catrilao (33), Rúben Elias Retamal Catrilao (35), José Benigno Retamal Catrilao (36), Teresa Retamal Catrilao (38), Carlos Retamal Catrilao (40), Lidia Retamal Catrilao (41), Emeterio Retamal Catrilao (42), Estela Retamal Catrilao (43) und Oscar Emilio Retamal Catrilao (44), von denen Olga mit Ramón Luna (34), José Benigno mit Albertina Cordova (37) und Teresa mit Emiliano Fonseca (39) verheiratet ist, ohne bisher Kinder zu haben; die anderen sind ledig und ohne Nachkommen. Zur Erklärung ist noch zu sagen, daß alle neun Kinder von Eulogia Catrilao Cid ihren Mutternamen Catrilao in Saavedra umänderten. 100 Aus dieser Aufstellung ergibt sich, daß zum Zeitpunkt der División 55 erbberechtigte Personen, Nachkommen der ehemaligen Radicadores der Comunidad Indígena Manuel Saavedra Catrilao leben, von denen sich 34 (davon 7 kleine Kinder) in der Reduktion aufhalten, während die restlichen 21 (davon 4 kleine Kinder) außerhalb der Comunidad leben. Des besseren Überblicks wegen seien noch einmal die sechs Mitglieder der V . HARTWIG, F e l d m a t e r i a l v o m 31. 1. 1967, S. 201 f f .

98 V. HARTWIG, Feldmaterial vom 31. 1. 1967, S. 201ff. 99 V. HARTWIG, Feldmaterial vom 31. 1. 1967, S. 201ff. 100 V . HARTWIG, F e l d m a t e r i a l v o m 31. 1. 1967, S. 201 f f .

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Comunidad genannt, die im Jahre 1957 die División beantragten: Es waren die zwei noch lebenden Schwiegersöhne, d. h. eingeheiratete Ehemänner zweier Radicadoras, Eleuterio Rubilar Polanco (12) und Emeterio Retamal Viguera (14 — inzwischen verstorben), die beiden Enkeltöchter Olga Retamal Saavedra (33) und Teresa Retamal Saavedra (38) sowie die beiden Enkelsöhne Rüben Elias Retamal Saavedra (35) und Oscar Emilio Retamal Saavedra (44). Nach den Angaben des Titulo de Merced verfügte die Reduktion Manuel Saavedra Catrilao über ein Territorium von 40 ha Ausdehnung, das nach Prüfung der verschiedenen Bodenqualitäten — zum Zeitpunkt der División — einem Wert von insgesamt 12000,— E° entsprach. Da nur fünf der sieben in der Besitzurkunde genannten Geschwister lebende Nachkommen hatten, wurde die genannte Summe in fünf gleiche Teile zu je 2400,— E° geteilt, die, der Anzahl der Kinder und Kindeskinder entsprechend, weiter aufgeteilt werden mußte. Dazu heißt es im Art. 46° des Gesetzes J\? 14.511: „Bei der Abschaffung der Comunidades bilden die Richter für jedes Familienoberhaupt oder jede Person, die im Título de Merced verzeichnet ist, bzw. für deren Erben Grundstücke. Die Ausmaße der Grundstücke sollen, wenn das Land der Comunidad überall den gleichen Wert aufweist, proportional der Anzahl der Personen sein, mit der jede Gruppe im Titulo de Merced erscheint. Wenn der Boden der Comunidades unterschiedliche Qualität aufweist und demzufolge unterschiedliche Werte besitzt, sollen diese Werte proportional der Anzahl der Personen sein, mit der jede Gruppe im Título de Merced erscheint. Der Boden- oder Wertanteil der Verstorbenen, die keine Erben hinterlassen haben, wird der entsprechenden Gruppe — und wenn in dieser keiner mehr lebt — der Comunidad zugeschlagen."101 Bereits bei der Darstellung der Nachfahren der Radicados auf den voranggegangenen Seiten wurde daraufhingewiesen, daß nur ein Teil, nämlich etwa 60%, der erbberechtigten Nachkommen tatsächlich in der Reduktion lebt (in Fig. 10, S. 91, gekennzeichnet durch „x"), während die restlichen 40% sich außerhalb der Comunidad aufhalten. Bei der Aufteilung der Reduktionsländereien haben aber nach dem Gesetz N» 14511, Art. 51°, nur die Mitglieder einen Anspruch auf Zuweisung von Land, die selbst noch in der Comunidad leben und arbeiten: „Die in Übereinstimmung mit der Festlegung im Art. 46° geschaffenen Grundstücke werden den Familienoberhäuptern oder Einzelpersonen oder deren Erben zugewiesen, die in der Reservation leben oder arbeiten."102 Daraus ergibt sich für unseren Fall folgende Situation, die vom Juzgado de Letras de Indios in Temuco amtlich fixiert wurde: Blatt 4 Temuco, den 11. Mai 1965 Der Topograph Don Lautaro Sepúlveda erhält den Auftrag, auf der Grundlage von 300,— E° pro Hektar die folgenden Grundstücke zu schaffen: — 101 102

Legislación Indígena, 1965, p. 170. Legislación Indígena, 1965, p. 171 (Hervorhebung von mir, V. H.).

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I. Sucesión Amelia Catrilao Cid:. 1. für Filomena Carrasco Catrilao (16) 2. für Raquel Polanco Catrilao (17) 3. für Juan Polanco Catrilao (19) Sucesión Matilda Catrilao Cid: 4. für Roberto Higueras Catrilao (20) 5. für Ernestina Higueras Catrilao (24) 6. für Elisa Higueras Catrilao (22) 7. für René Higueras Valdebenito (25) Sucesión Elena Catrilao Cid: 8. für Pedro Boissen Boissen (53) Sucesión Felecinda Catrilao Cid: 9. für Pedro Boissen Boissen (53) 10. für Prodelicio Rubilar Catrilao (32) Sucesión Eulogia Catrilao Cid: 11. für Emeterio Retamal Viguera (14) 12. für Olga Retamal Saavedra (33) 13. für Pedro Boissen Boissen (53) 14. für Teresa Retamal Saavedra (38) 15. für Carlos Retamal Saavedra (40) 16. für R. Elias Retamal Saavedra (35) 17. für Lidia Retamal Saavedra (41) 18. für Emeterio Retamal Saavedra (42) 19. für Estela Retamal Saavedra (43) 20. für Pedro Boissen Boissen (53)

E° E° E°

800,800,800,-

E° E° E° E°

760,760,760,120,-

E° 2399,95 E° 400,E° 2 0 0 0 , E° E° E° E° E° E° E° E° E° E°

242,39 242,39 242,39 242,39 242,39 242,39 242,39 242,39 242,39 242,39

Sr. Sepülveda Lobos schloß in die Aufteilung das Land ein, das durch einen, in einem Strafverfahren ausgesprochenen Schiedsspruch zurückgegeben werden mußte ; das waren 2,29 ha, mit denen die Comunidad Manuel Saavedra wieder die 40 ha, die ihr rechtmäßig zustanden, besaß. Sr. Sepülveda Lobos zeichnet außerdem, wenn es notwendig ist, die wichtigsten Wege zum bequemen Zugang zu den Grundstücken ein." 103 Zu diesen Festlegungen ist in einigen Fällen noch etwas zu bemerken : So zum Beispiel erhält René Higueras Valdebenito (25) ebenfalls ein kleines Stück Land, obwohl er in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu den Radicados der Comunidad Manuel Saavedra C. stand, — er war das Kind des eingeheirateten Juan Higueras (8) mit einer anderen Frau. Da aber beim Tode der Ehefrau der Witwer ebenfalls Anspruch auf einen geringen Anteil an Land hat, erbte René H. V. seinen Anteil vom Vater, nichts aber von dessen Ehefrau Matilda Catrilao Cid (7). Außerdem erscheint in der Akte viermal der Name Pedro Boissen Boissen(53), obwohl er nur — in einem Fall — nämlich durch seine Abstammung von Elena Catrilao Cid (9) erbberechtigt ist. In den anderen Fällen hat er von anderen 103

In deutscher Übersetzung von V. HARTWIG, (Feldmaterial vom 31. 1. 1967, S. 207F.).

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Mitgliedern der Reduktion noch vor der Reduktionsauflösung durch Kauf Rechte am Boden erworben. Grundlage dafür ist Art. 19° des Gesetzes ¿V» 14511, wo es heißt: „Während der Aufteilung darf der Indianer das im Título de Merced enthaltene Land nicht veräußern, er kann es nur zugunsten der Institutionen, auf die sich Art. 27° des Gesetzes bezieht, belasten. E r darf auch nicht seine Anteile und Rechte in der Comunidad oder die damit verbundenen Erbrechte, mit Ausnahme zugunsten eines Mitgliedes der gleichen oder einer anderen Comunidad veräußern." 104 Diese Einschränkung der Unveräußerlichkeit des Bodens, die Möglichkeit des Verkaufes von Nutzungsrechten, muß als eine Tendenz zur Zerstörung der Reduktion angesehen werden. Dieser Art. 19° schafft objektiv die Möglichkeit, daß der aus verschiedenen Gründen ökonomisch stärkere Indianer (vgl. Abschn. 3.3.4.) die Rechte der Angehörigen seiner oder anderer Reduktionen aufkauft und damit — wenn auch nicht formaljuristisch, so aber doch in der Realität — Besitzer einer ganzen Comunidad werden konnte bzw. kann. Bei der Durchführung der Reduktionsauflösung der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao werden wir außerdem noch mit einem anderen, sehr häufig auftretenden Umstand konfrontiert — mit der Okkupation von indianischem Boden, von Reduktionsland, durch die den Comunidades Indígenas benachbarten chilenischen, d. h. nichtindianischen Kolonisten. I m Endprotokoll der Reduktionsauflösung, der C A U S A 3 6 1 , wurde in einem solchen Fall folgendermaßen entschieden: „In einem Gerichtsverfahren wurde Sr. Isidoro García dazu verurteilt, die 2,29 ha Land, die er sich angeeignet hatte, an die Comunidad zurückzugeben; die von ihm geforderte Enteignung wurde zurückgewiesen." 105 Bevor nun der Topograph mit der Aufteilung des Landes der Reduktion entsprechend der errechneten Werte — beginnen konnte, mußte auf Grund des Art. 45° des Gesetzes J\T° 14511 eine Notiz in der Lokalpresse der Hauptstadt des Departamentos, zu dem die Comunidad gehört, erscheinen: 106 „Juzgado de Letras de Indios. — Temuco. I n Übereinstimmung mit Art. 45° des Gesetzes N» 14.511, mit Verweis auf die richterliche Verfügung 361 des Rol de Tribunal, wurde der Prozeß der Aufteilung der Comunidad Indígena Manuel Saavedra Catrilao in Loncoche — Loncohuaca, Departamento de Lautaro, eröffnet. Diejenigen, die von den in der Comunidad Lebenden Rechte erworben haben, können diese innerhalb von sechzig Tagen, von diesem Datum an, geltend machen. — Moraima Fajardo, Archdo., Sekretariat." 1 0 7 Mit dieser Veröffentlichung in der Presse sollte erreicht werden, daß bei der Reduktionsauflösung alle nach außerhalb bestehenden Verpflichtungen berücksichtigt werden, um anschließend langwierige Prozesse vermeiden zu können. 104

Legislación Indígena, 1965, p. 163 (Hervorhebung von mir, V. H.)

»05 CAUSA, 361, 1965, p . 1 (s. A n h a n g S. 2 1 1 ) . 106

Legislación Indígena, 1965, p. 169.

107

V . HARTWIG, F e l d m a t e r i a l v o m 31. 1. 1967, S. 2 1 8 .

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In den 60 Tagen, die als Frist für die Anmeldung von Rechten an die Comunidad gegeben sind, hatte der Topograph der DAI in Temuco Zeit und Gelegenheit, einen Plano de Ocupación der Reduktion anzufertigen, d. h., einen Plan der Reduktion mit genauer Einzeichnung der einzelnen Gehöfte und der gegenwärtigen Aufteilung und Nutzung des Landes durch die verschiedenen, zur Comuni-

Fig. 11. Plano de Ocupación der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao, Provinz Cautín

•dad gehörenden Familien. 108 Eine solche Aufnahme des status quo vor der División ist deshalb von Wichtigkeit, weil es die Siedlungsform der Indianer — es gibt keine eigentlichen geschlossenen Dörfer; die Gehöfte der indianischen Bauern (s. Abb. 10 und 11) werden auf den ihnen gehörenden Territorien errichtet, so daß ihre Behausungen über die gesamte Reduktion verstreut anzutreffen sind — nicht erlaubt, das Land willkürlich aufzuteilen. Nach Ablauf der Frist und auf der Basis verschiedener Unterlagen sowie der bisher getroffenen Entscheidungen beginnt der eigentliche Auflösungsprozeß, bei dem darüber hinaus noch darauf zu achten ist, daß alle Zutritt zu den Wasserstellen haben und die öffentlichen Wege benutzen können; und wenn trotzdem einer von ihnen keine Verbindung zu den öffentlichen Wegen hat, ">s s. Fig. 11. 96

HO

1 Elisa Higueras Catriteo 22 2 Olga Retama! Saavedra 33

2,53 0,81

3 Teresa Retamal Saavedra 38 4 Carlos Retamal Saavedra M 5 Elias Retamal Saavedra 35 6 Lidia Retomai Saavedra 4/ 7 Emeterio Retamal Saavedra *t-2

0,81 0,81 0,81 0,81 0,8i

8

Estelo Retamal Saavedra

0,81

9 Emeterio Retamal Viguera te 10 Pedro Boissen Boissen 53 91 Roberto Higueras Cotrileo 20

0,72 10,96 2,53

12 Pro delicio Rubi lar Catrite o 32

6,68

13 Juan Poianco Cotrielo 19 74 Raquel Polonco Catrielo 17

2,66 2,66

15

Rene Higueras

Va/debenito 25

16 Ernestina Higueras Catri/eo

2*f

17 filomena

16

Carrasco

Catrielo

0,W 2,53 2,66 40,00

Fig. 12. Plano de División

der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao, Provinz Cautín

werden die notwendigen Vorkehrungen getroffen, die die Kommunikation zu diesem Gehöft ermöglichen.109 Im Falle der Comunidad Manuel Saavedra C. mußten die zur Verfügung stehenden 40 ha Eand in 17 (siebzehn), unterschiedlich große Minifundien aufgeteilt werden, wobei das kleinste 0,40 ha, eines 0,72 ha, sieben 0,81 ha, drei 2,53 ha, ebenfalls drei 2,66 ha, eines 6,68 ha und das umfangreichste 10,96 ha groß waren. 110 Mit dieser Entscheidung, die also nur jene Indianer zu Eigentümern des Grund und Bodens macht, die zum Zeitpunkt der Reduktionsauflösung in der Comunidad leben oder arbeiten, ist jedoch nur ein Teil des Auflösungsprozesses vollzogen. Um zu verhindern, daß alle inzwischen in die Städte gegangenen Indianer plötzlich in ihre Reduktionen zurückkehren, um ihre Ansprüche geltend zu machen, müssen die neuen, im Auflösungsprozeß entstandenen Klein109 110

s. Art. 46° des Gesetzes JV? 14 511-Legislacion Indigena, 1965, p. 170 s. Fig. 12 Plano de División der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao.

7 Hartwig

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und Kleinstbauern den außerhalb der Reduktionen lebenden erbberechtigten Angehörigen ihr Erbteil auszahlen. Die anderen Indianer erhalten, ganz gleich, ob sie vor Gericht erschienen sind oder nicht, ihren Anteil in Geld, indem auf die zugewiesenen Grundstücke legale Hypotheken aufgenommen werden, die als Garantie dienen. Diese Hypotheken müssen vom Conservador de Bienes Raíces bei der Ausschreibung des Eigentunisbuches der entsprechenden Erbschaften mit eingetragen werden."111 Das ergibt in der Praxis, demonstriert an unserem Beispiel der Comunidad Manuel Saavedra Catrilao, folgendes Bild: Um den übrigen erbberechtigten Indianern, die außerhalb der Reduktion leben und arbeiten, ihre Erbansprüche auszahlen zu können, muß die 40 ha große Comunidad 3647,64 E° aufbringen, d. h., — real betrachtet — muß diese Summe sogar nur von 17,64 ha erwirtschaftet werden. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich nämlich, daß die beiden Angehörigen der Reduktion Pedro Boissen Boissen (53) und Prodilicio Rubilar Catrilao (32), denen bei der Reduktionsauflösung die größten Areale zugeteilt wurden, nämlich zu 10,96 ha und 6,68 ha, gleichzeitig auch diejenigen sind, in deren Familien sich viele Erbberechtigte außerhalb der Reduktion aufhalten; anders ausgedrückt heißt das, sie müssen deren Erbansprüche in Geld auszahlen. Dadurch entsteht das Kuriosum, daß gerade die Wirtschaften, die nach ihrer Größe eine gewisse Voraussetzung für ihre Existenzfähigkeit bieten, von vornherein mit hohen Hypotheken und Krediten belastet werden. Pedro Boissen Boissen, dessen Grundstück einem Wert von 3285,— E° entspricht, mußte bei der Staatsbank einen Kredit in Höhe von 2147,64 E° aufnehmen, und Prodilicio R. C. begann seine kleinbäuerliche Privatwirtschaft mit einer Verschuldung in Höhe von 1500,— E° bei einem Gesamtwert des Unternehmens von 2000,— E°. Daraus wird deutlich, daß diese beiden Grundeigentümer keinesfalls günstigere Ausgangsbedingungen haben als die übrigen Indianer ihrer Reduktion, im Gegenteil, die Notwendigkeit, innerhalb einer bestimmten Zeit genügend Mehrprodukte zu erzeugen, ohne in den Genuß dieser erarbeiteten Mittel zu kommen, um davon landwirtschaftliche Maschinen, Dünger usw. kaufen zu können, wirft ein Licht auf die Auswirkungen der Reduktionsauflösung für die Indianer und erklärt zugleich bis zu einem gewissen Grade, warum Pedro Boissen B. nicht zu den Antragstellern der División gehörte. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die bereits weiter oben untersuchte Kreditpolitik des chilenischen Staates unter der Herrschaft der Christdemokraten verwiesen. Als Sicherung der nicht etwa für die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion, sondern für die Auszahlung von Erbansprüchen vorgeschossenen Summe gilt der Boden. Damit schafft sieh der Staat die rechtlichen Voraussetzungen für umfangreiche Expropriationen. Im Falle unserer Reduktion sicherte sich der Staat allein durch seine Kreditpolitik etwa 40% des Bodens, wobei er die von ihm fixierten Bodenpreise zahlt, die im eigenen Interesse äußerst niedrig gehalten werden. 111

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Art. 51° des Gesetzes JV» 14511 — Legislación Indigena, 1965, p. 171.

Die Gesamtbetrachtung der Ergebnisse einer Reduktionsauflösung zeigt uns nun folgendes Bild: Im Verlaufe eines solchen Prozesses werden jene gesetzlichen Bestimmungen annulliert, die als Ergebnis des jahrhundertelangen Kampfes der Araukaner einen letzten Schutz gegen die Expropriation ihres Landes durch die Latifundienbesitzer oder Kapitalisten boten, wird der Klassenkampf zu Gunsten der herrschenden Klasse entschieden. Gleichzeitig damit verbindet der chilenische Staat eine Gleichstellung der indianischen zu den übrigen Kleinstbauern und Landarbeitern vor dem Gesetz, um sich jeglicher Verantwortung gegenüber einer ethnischen Minderheit zu entledigen und zugleich die Voraussetzungen für eine Integration im kapitalistischen Sinne zu schaffen. Allerdings geht mit dieser formalen Gleichstellung vor dem Gesetz keineswegs eine soziale Gleichstellung Hand in Hand. Die in Anwendung kommenden Auflösungsprinzipien führen zur Bildung von unzähligen Minifundien, die unter den gegebenen Bedingungen zu 90% existenzunfähig sind, denn die in einem Jahr erzeugten Produkte reichen nicht für die Ernährung der zu dieser Produktionseinheit gehörenden Mitglieder aus. Die zur Verfügung stehenden Produktionsinstrumente sind altertümlich und fordern einen hohen Aufwand an Arbeitszeit und Arbeitskraft, sind also nicht effektiv. Da unter diesen Bedingungen eine Produktion für den Markt im eigentlichen Sinne nicht stattfindet — abgesehen von sporadisch auftretenden Verkäufen — und die dabei erzielten geringen Mittel für die einfache Reproduktion benötigt werden, ist eine erweiterte Reproduktion auch bescheidensten Ausmaßes, z. B. durch verbessertes Saatgut, Düngemittel, Bewässerungs- bzw. Entwässerungsanlagen, nicht möglich. Diese allgemein schon schlechte Situation wird noch dadurch belastet, daß — gezwungen durch die Notwendigkeit, die bestehenden Erbansprüche auszuzahlen — die bei der Reduktionsauflösung geschaffenen Eigentümer sofort Kredite aufnehmen müssen. Über Jahre hinaus wird der indianische Bauer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat gepreßt, wobei als Mittel zur rücksichtslosen Ausbeutung die natürliche Verbundenheit des Bauern zum Boden, die intensive Bindung des Indianers an sein Land, und nicht zuletzt das entstehende kleinbäuerliche Eigentumsbewußtsein ausgenutzt werden. Reduktionsauflösung heißt unter den gegenwärtig noch gültigen gesetzlichen Bestimmungen Chiles eindeutig: Verschlechterung der ökonomischen Situation der Indianer. Nach einer vollzogenen Auflösung der Reduktion dürfen die dabei entstandenen Minifundien nicht weiter aufgeteilt werden. 112 In den Jahren der christdemokratischen Regierung E. Freis hatten unter diesen Bedingungen die indianischen Bauernwirtschaften theoretisch drei Möglichkeiten der Entwicklung: 1. Entweder die Nachkommen der im Grundbuch eingetragenen Landeigentümer entschlossen sich, die Wirtschaft gemeinsam zu führen, wobei nur wenige Unternehmen so groß waren, daß sie den Lebensunterhalt für alle Familienangehörigen lieferten. Diese Situation hätte sich spätestens in der übernächsten Generation verändert, wo auch die ökonomisch stärkeren Wirtschaften nicht "2 Art. 22° des Gesetzes Jö 1451 í - Legislación Indígena, 1965, p. 164.

7*

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mehr in der Lage gewesen wären, das Existenzminimum für alle zu garantieren. Somit hätten sich, wenn auch verzögert, diese indianischen Wirtschaften in gleicher Weise wie die zweite Gruppe entwickelt, die von Anfang an schwächeren Unternehmen. 2) Einer der Erben übernahm den Hof und zahlte den übrigen Erbberechtigten ihren Anspruch in Geld aus. Es erübrigt sich, weiter auszuführen, daß das nicht ohne Aufnahme von Krediten und Entstehung von Abhängigkeitsverhältnissen möglich war. Dadurch wurde der Prozeß der Proletarisierung indianischer Bauern weiter forciert. 3) Die letzte der drei Gruppen, meist die kleinsten Wirtschaften, veräußerten den Boden entweder bereits vor dem oder im Prozeß der División an Reduktionsangehörige oder gaben es in Pacht bis zum Zeitpunkt der gesetzlich festgelegten Frist, die bis zum Verkauf indianischen Bodens notwendigerweise vergehen muß. Das dabei gewonnene Geld wurde aufgeteilt — die Indianer mußten ihr Land verlassen, wurden Proletarier. So war vorauszusehen, daß proportional mit der Zunahme durchgeführter Reduktionsauflösungen die Abwanderung der Indianer vom Land in die Stadt zunehmen würde. Es wäre ein Trugschluß zu glauben, daß sich damit das Indianerproblem von selbst lösen würde. Im Gegenteil, neben der indianischbäuerlichen Frage entstand ein neues, nämlich das indianisch-städtisch-proletarische Problem, das sich um neue Fragen gruppiert — wie z. B.: Welche Perspektive haben die Indianer der Städte? Wird es zu einer Indianisierung ganz bestimmter, im ehemaligen Reduktionsterritorium gelegener städtischer Siedlungen kommen? Wie werden sich solche Siedlungen entwickeln? u.a.m. Allein am Beispiel der Millionenstadt Santiago wurde bereits weiter oben angedeutet, daß die Abwanderung. in die Stadt nicht einfach als Integration verstanden werden kann und darf. Mit dem Sieg der Unidad Popular bei den Präsidentschaftswahlen im September 1970 waren objektiv neue Bedingungen für die Lösung der vorstehend behandelten Probleme der indianischen Bevölkerung Chiles entstanden. Durch den faschistischen Putsch vom 11. September 1973 jedoch wurden sie brutal zerstört.

4. KAPITEL

Das Verhältnis von Inclianerfrage und Agrarfrage

4.1. Zur ökonomischen Situation Chiles vor den Wahlen 1964 — unter besonderer Berücksichtigung des Agrarsektors 4.1.1. Allgemeine Situation in den Jahren seit 1950 Obwohl Chile über eine relativ entwickelte, allerdings einseitig auf die. Gewinnung von Kupfer und Salpeter spezialisierte Industrie verfügt, kamen und kommen die aus diesen Wirtschaftszweigen stammenden Gewinne — bis auf die Zeit der Regierung der Unidad Populär, die eine Reihe wesentlicher Enteignungen durchgeführt hatte,— der weiteren Entwicklung der Wirtschaft des Landes nicht zugute, da die größten Betriebe von ausländischen Monopolen beherrscht wurden und nach dem faschistischen Putsch vom September 1973 erneut beherrscht werden, die den erzielten Profit durch Gewinntransfer außer Landes zu bringen verstehen. Die nationale Industrie Chiles ist durch die innere Marktsituation nicht in der Lage, die für die Steigerung der Produktion benötigten umfangreichen Mittel für die erweiterte Reproduktion selbst aufzubringen. Staatliche Investitionen sind in nur sehr geringem Maße möglich, weil es andererseits der Landwirtschaft bisher nicht gelang, den Bedarf des Landes an.Nahrungsgütern zu decken und die Regierungen beträchtliche Summen für den Import dieser Produkte aufwenden mußten. 1 Die Statistiken über die Entwicklung des Nationaleinkommens von 1950 bis 1963 geben in gewissem Maße darüber Auskunft. Wenn die Industrie in diesem Zeitraum ihren Anteil immerhin von 500 Millionen Escudos auf 850 Millionen Escudos erhöhte, so blieb er im Bereich der Agrikultur bei etwa 450 Millionen Escudos konstant. Demgegenüber stand und steht ein Bevölkerungszuwachs von jährlich 2,4%. 2 Es ist nicht schwer festzustellen, daß diese von Jahr zu Jahr zunehmenden Disproportionen ernste Folgen für das chilenische Volk, die ökonomische und innenpolitische Situation haben müssen. So wurde die Inflation ein Problem, mit dem sich die Regierungen immer wieder befassen mußten. Das Steigen der Preise betrug bis 1970 jährlich durchschnittlich 36%, 3 so daß der ohnehin schon , sehr niedrige Lebensstandard der Masse der chilenischen Bevölkerung weiter unter das Existenzminimum gedrückt wurde und sich die Krisensituation verschärfte. Ein Blick auf die Bilanzen des Ex- und Imports landwirtschaftlicher Erzeugnisse bestätigt die These, daß ein Schlüssel für die Emanzipation und weitere 1 CIDA, 1966, p. 23. 2 CIDA, 1966, p. 1 7 - 1 8 ; CEPAL, vol. II, A