Die Hamburger Sturmflut von 1962: Risikobewusstsein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive 9783666317163, 9783525317167, 9783647317168

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Die Hamburger Sturmflut von 1962: Risikobewusstsein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive
 9783666317163, 9783525317167, 9783647317168

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch, Helmuth Trischler und Frank Uekötter

Band 11

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Die Hamburger Sturmflut von 1962 Risikobewusstsein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive

Herausgegeben von Martina Heßler und Christian Kehrt

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Mit 19 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31716-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Überflutete Straße am Hamburger Hafen, 19. Februar 1962 © akg-images

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

Inhalt

Martina Heßler und Christian Kehrt Einleitung: Die Hamburger Sturmflut. Betrachtungen aus zeit-, technik- und umwelthistorischer Perspektive . . 9 Dieter Schott Naturkatastrophen und städtische Resilienz. Die Hamburger Sturmflut im Kontext städtischer Naturkatastrophen der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Matthias Heymann Naturkatastrophen und Environmental Coherence. Versuch einer Einordnung am Beispiel von Flutkatastrophen auf der Nordseeinsel Strand und in Miami Beach . . . . . . . . . . . . . . 61 Norbert Fischer Leben mit der Flut − Leben mit dem Deich. Über Mentalität, Technik und Gesellschaft an der Niederelbe vom 17. bis 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Sonja Kummetat Risikobewusstsein und Katastrophengedächtnis. Das Beispiel der Flutkatastrophe 1953 in den Niederlanden . . . . . . . . 109 Felix Mauch Die Natur der Katastrophe. Ein umwelthistorischer Rückblick auf die Hamburger Sturmflut . . . . . 129 Kai Blüthgen und Martina Heßler Schuld, Bewährung und Katastrophengedächtnis. Der Zeitungsdiskurs um die Hamburger Sturmfluten 1962 und 1976 . . 151 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Inhalt

Christian Kehrt und Daniel Uhrig Helfer in Uniform? Die Wahrnehmung der Bundeswehr während der Sturmflut 1962 . . . . 173 Jochen Molitor Lehren für den Verteidigungsfall. Die Sturmflutkatastrophe von 1962 und der bundesdeutsche Zivilschutz 195 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

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»[…] Dann sind wir in der Nacht wach geworden, weil meine Eltern kamen. Die haben an die Tür geklopft und gesagt: ›Ihr müsst aufstehen, Ihr müsst aufstehen, das Was­ ser kommt‹, und ich habe das gar nicht ernst genommen. Meine Mutter ist immer sehr panisch gewesen bei allem, was passierte, und ich dachte, ach, das ist schon nicht so schlimm, aber dann sah ich, mein Vater hatte nasse Füße oder Pantoffeln an und ich glaube, der hatte auch nur ›ne Unterhose an. […] Also, ohne meinen Mann wäre ich auch erst auf den Stuhl gestiegen und denn auf den Tisch oder so, das haben ja viele ge­ macht. Der erste Schreck ist mir so durch die Glieder gefahren, als wir noch drin waren. Wir mussten ja denn den Jungen wecken und ich musste das Mädchen aus dem Bett­ chen holen und ich hörte, wie an einer Ecke im Haus das Wasser gluckerte. Da hatte ich Angst bekommen. Das Anziehen selber war keine Schwierigkeit. Wir waren noch von den Bomben­ angriffen und von den vielen Alarmen geübt, unser Zeug blitzschnell anzuziehen. Das habe ich auch meinem Sohn beigebracht. Die Deern hatte ich in ihre Bettdecke ge­wickelt und in den Kinderwagen, und da habe ich meine Geldkassette noch reingeschmissen – da in der Geldkassette, da lag das Geld schon für das neue Schlafzimmer drin – und ja, ich glaub noch ein Paket Zwieback. Das ging ja alles so schnell. Mein Schwiegervater ist zu der Tante meines Mannes gelaufen und hat versucht, sie zu wecken und hat gegen das Schlafzimmer geklopft, geballert und gerufen, sie hat aber nicht reagiert. Er kam denn rüber und sagte: ›Tante Erna, die krieg ich nicht wach, die ist wohl nicht da‹, und da haben wir gedacht, die wird bei ihrer Tochter in Hamburg sein. Das hat sie öfter ge­ macht, sie hat sich auch nicht abgemeldet, das war nicht üblich. Dann rauf aufs Dach und ja, da hat mein Mann mir denn erst mal raufgeholfen. Er hat denn den Kinderwagen raufgereicht oder wir haben erst den Jungen hochgeschickt, dass weiß ich auch nicht, das ging blitzschnell. Wir drei waren die ersten auf dem Dach, meine Kinder und ich. Ich weiß nicht, ob ich meinen Eltern noch geholfen hab, da noch raufzukrabbeln – da bekam ich Panik. Ich weiß nur, dass mein Sohn und ich uns hin­ gehockt haben auf dem Dach und jeder von uns hat eine Hand für den Kinderwagen gehabt, weil wir Angst hatten, dass der Sturm uns den sonst vom Dach weht. Ich war nur froh, dass meine Kinder da waren, wer noch so nebenbei war, ja, ist gut, Schwieger­ vater und meine Eltern, auch mein Mann natürlich, aber die hatten ja nicht die enorme Wichtigkeit. Ich konnte mich selber im Nachhinein nicht begreifen, dass ich so richtig, ja, eigennützig als Muttertier gehandelt habe. Wir haben alle auf dem Dach gesessen, um auch wenig Wind-Widerstand zu geben. Und dann stieg das Wasser und plötzlich fing drüben meine Tante an zu schreien. Im Nachhinein haben wir uns das so gedacht, dass sie wohl erst spät nach Hause gekom­ men ist, Feuer in der Küche gemacht und sich dort auf der Couch schlafen gelegt hat, weil das Schlafzimmer zu kalt war, und dadurch hat sie das Klopfen nicht gehört. Wir konnten sie sehen. Das heißt, ich habe mich nicht weggerührt vom Kinderwagen und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

meinem Jungen, aber mein Mann wird sie gesehen haben. Erst waren es ganz normale Hilferufe, aber nachher, als das Wasser immer höher stieg, da hast sie fürchterlich ge­ schrien und immer verzweifelter, und ein Nachbar, der bei uns mit auf dem Dach war, der hat sich auf das Dach gekniet und hat das Vaterunser gegen den Wind geschrien, bis sie tot war, bis das Wasser ihr in den Hals gelaufen ist«. Aus: Raymond Ley, Die Nacht der großen Flut. Gespräche mit Zeitzeugen und Helmut Schmidt. Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2006, S. 73 f. Gespräch mit Gerda Brandt (geb. 1930), die die Flut in der Gartensiedlung im Hövel in Hamburg-Niedergeorgswerder auf der Elbinsel Wilhelmsburg erlebte. Sie lebte dort mit ihrem Mann, dem fast 14-jährigen Sohn und der acht Monate alten Tochter bei den Schwiegereltern.

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Martina Heßler und Christian Kehrt

Einleitung: Die Hamburger Sturmflut Betrachtungen aus zeit-, technik- und umwelthistorischer Perspektive

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Zahl der Sturmfluten, die Hamburg trafen, gehäuft. 1906, 1936 und 1954 hatte es Sturmfluten gegeben1  –­ allerdings ohne dass es zu einer Katastrophe gekommen wäre. Nach der letzten großen und verheerenden Flut im Jahre 1825 waren die Deiche in der Stadt auf über fünf Meter erhöht worden. Dies schien auszureichen, um den Schutz Hamburgs zu gewährleisten. Doch 1962 erwies sich diese Annahme als Trugschluss. Am Wochenende des 16.  und 17. Februars traf die Hansestadt eine Sturmflut, die sich zu einer Katastrophe auswuchs. Das Hochwasser erreichte eine Höhe von 5,70 Meter, die Dämme brachen in der Stadt an mehr als 60 Stellen, 315 Tote waren zu beklagen, ein Fünftel der Fläche Hamburgs stand unter Wasser, rund 20.000 Menschen wurden evakuiert, ca. 12.000 in Notunterkünften untergebracht.2 Der Stadtteil Wilhelmsburg war am stärksten von der Flut betroffen. Wilhelmsburg, auf einer Elbinsel zwischen zwei Elbarmen liegend, stand unter Wasser; hier starben die meisten Menschen, nämlich 222 der 315 Todesopfer,3 auch weil Teile der Bevölkerung dort in Behelfsheimen, in Gartensiedlungen lebten, die sie häufig illegal, aber wegen der Wohnungsnot geduldet, ausgebaut hatten. Viele Bewohner schliefen, als die Flut kam, einige konnten sich nicht mehr aus ihren Häusern befreien, da das Wasser gegen Türen und Fenster drückte.4 Man hatte sich in Hamburg sicher gefühlt. Keiner hatte damit gerechnet, dass eine Sturmflut die Großstadt, ca. 100 Kilometer vom Meer entfernt, treffen 1 Raymond Ley, Die Nacht der großen Flut, in: ders. (Hrsg.), Die Nacht der großen Flut. Gespräche mit Zeitzeugen und Helmut Schmidt. Hamburg 2006, 8–57, hier 10. 2 Simone Wörner, Hilfsprogramme. Maßnahmen für die Betroffenen, in: Herbert Hötte (Hrsg.), Die große Flut. Katastrophe. Herausforderung. Perspektiven. Landeszentrale für politische Bildung: Der Museumsdienst Hamburg. Hamburg 2012, 58–65, hier 59. 3 Mario Bäumer, Das Versagen. Die Ursachen der Flutkatastrophe von 1962, in: Hötte, Die Große Flut, 66–75, hier 71. 4 Vgl. den Zeitzeugenbericht von Gerda Brandt in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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würde, geschweige denn damit, dass die Deiche nicht halten würden, obwohl deren schlechter Zustand bekannt war. Meteorologische Hinweise und Vorboten der Flut wurden falsch gedeutet oder einfach ignoriert. Auch die mehrfachen Warnungen des Deutschen Hydrographischen Instituts am 16. Februar erreichten die Hamburger Bevölkerung offenbar nicht, die im sicheren Vertrauen auf ihre Deiche keine vorbereitenden Maßnahmen ergriff und sich in aller Ruhe schlafen legte. Katastrophenvorsorge und Risikobewusstsein gegenüber der Natur waren in Hamburg offensichtlich gering ausgeprägt, obgleich das Wasser für Hamburg historisch wie aktuell eine hohe Bedeutung hat und die Wahrnehmung und das Selbstverständnis Hamburgs zweifellos wesentlich prägt.

Zielsetzung des Bandes Naturkatastrophen wie die Hamburger Sturmflut von 1962 sind komplexe, multidimensionale Ereignisse,5 die neue Erkenntnisse über das Selbstverständnis, die Mentalitäten, Machtstrukturen, das Technik- und Naturverständnis der jeweiligen Gesellschaften und ihrer Zeit ermöglichen. Sie haben zudem oftmals langfristige und tief greifende Auswirkungen auf die weitere historische Entwicklung der betroffenen Städte und Regionen.6 Der historischen Analyse einer Katastrophe kann es daher nie nur allein um die Katastrophe selbst gehen, sondern immer auch um das vor und nach der Katastrophe, um das Krisenmanagement, Lernprozesse und den Wiederaufbau und damit um ihre historische und gesellschaftliche Dimension.7 Dementsprechend wird die Hamburger Sturm 5 Christian Pfister, Naturkatastrophen und Naturgefahren in geschichtlicher Perspektive. Ein Einstieg, in: ders. (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern u. a. 2002, 11–25, hier 13; vgl. Gerrit Jasper Schenk, Historical Disaster Research. State of Research, Concepts, Methods and Case Studies, in: Historical Social Research 32, 2007, 9–31, hier 14. 6 Franz Mauelshagen betont die historische Wirkmächtigkeit von Naturkatastrophen gegenüber einem Ansatz, der lediglich auf kulturelle Deutungen abzielt: Franz Mauelshagen, Flood Disasters and Political Culture at the German North Sea Coast. A Long-term Historical Perspective, in: Historical Social Research 32, 2007, 133–144, hier 134. 7 In der aktuellen historische Forschung zu Naturkatastrophen wird diese umfassende gesellschaftliche Analyse der Situation vor während und nach einer Katastrophe eingefordert und weitgehend realisiert. Vgl. den Forschungsüberblick von Uwe Lübken, Zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Ein Überblick über die historiographische Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen, in: WerkstattGeschichte 38, 2004, 91–100; ders., Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-Kult 14.7.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010–07–001; Schenk, Historical Disaster Research, 9–31; Andrea Janku, Gerrit Jasper Schenk, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Historical Disasters in Context. Science, Religion, and Politics (Routledge Studies in Cultural History 15). New York 2012; Christof Mauch, Christian Pfister (Hrsg.), Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies toward a Global Environmental History. Lanham 2009. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Einleitung Einleitung

flut in diesem Band aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und in größere historische Zusammenhänge eingebunden. Die meisten Sammelbände zu Naturkatastrophen stellen eine heterogene Auswahl sehr unterschiedlicher Katastrophen quer durch alle Epochen und Erdteile zusammen.8 Damit ist eine Vergleichbarkeit und vertiefende Kontextualisierung, trotz der großen Verdienste dieser Studien, in vielen Fällen aber nur bedingt möglich. Viele Aufsätze über Naturkatastrophen verbleiben »inselartig«, wie Uwe Lübken in einem Forschungsüberblick kritisch angemerkt hat.9 Diesem Defizit begegnet dieser Band durch die Fokussierung auf eine Katastrophe und ihre systematische Einbindung in längere historische Linien und verschiedene politische, mediale, technische und kulturelle Kontexte. Ziel ist es, die Geschichte der Sturmflut, die die Stadt Hamburg 1962 traf, aus umwelt-, technik- und zeitgeschichtlicher Perspektive zu behandeln. In diesem Sinne bündelt der vorliegende Band vor allem drei Dimensionen. Erstens das Mensch-Natur-Verhältnis. Damit wird an umweltgeschichtliche Forschungen zu Naturkatastrophen angeschlossen. Fragen des Risikobewusstseins, des Umgangs mit Natur sowie Naturbilder spielen in vielen Beiträgen dieses Bandes eine zentrale Rolle. Mit der Frage, wie die Naturkatastrophenforschung das Verhältnis Mensch-Natur konzipieren soll, wie mit der in konstruktiven Ansätzen häufig missachteten »Handlungsmächtigkeit« der Natur umzugehen sei (Felix Mauch) sowie mit dem Konzept der »environmental coherence«, das Matthias Heymann vorstellt, werden neue Ansätze einer umwelthistorischen Naturkatastrophenforschung präsentiert. Während umweltgeschichtliche Beiträge die Forschung zu Naturkatastrophen geprägt haben, wurde die Technik und ihre Rolle vor, während und nach der Katastrophe sowie das damit einhergehenden Selbstverständnis der betroffenen Kulturen vernachlässigt. Der Band fokussiert daher zweitens auf das Mensch-Natur-Technik-Verhältnis. Gerade im 20. Jahrhundert ist das Naturverhältnis in einem Maße technisch vermittelt, dass, so die These, Forschung zu Naturkatastrophen, und auch zum Mensch-Natur-Verhältnis, nicht ohne eine technikhistorische Perspektive auskommen kann. Insbesondere die Frage nach den Grenzen und Ambivalenzen der Technik und den sich daraus ergebenden Lern- und Veränderungsprozessen haben großes Potential für weitergehende Forschungen über das Mensch-Natur-Technik-Verhältnis. Drittens sollen Perspektiven für eine zeithistorische Erforschung von Naturkatastrophen aufgezeigt 8 Vgl. Janku, Schenk, Mauelshagen, Historical Disasters in Context; Andreas Ranft, Stephan Selzer (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne. Göttingen 2004; Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003; Mauch, Pfister, Natural Disasters, Cultural Responses. 9 Lübken, Zwischen Alltag und Ausnahmezustand, 99. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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werden. Bislang hat die Zeitgeschichtsschreibung Naturkatastrophen kaum beachtet, obgleich gerade im 20. Jahrhundert, insbesondere in der bundesrepublikanischen Geschichte, diese in einem engem Zusammenhang mit Kriegserfahrungen, dem Katastrophenschutz und der Geschichte der Bundeswehr stehen, wie das Beispiel der Hamburger Sturmflut zeigt. Nach einem kurzen Blick auf die Forschung zu Naturkatastrophen werden diese drei Perspektiven systematisch entwickelt. Zudem werden zwischen den einzelnen Kapiteln des Bandes Aussagen, Kommentare und Erinnerungen von Zeitzeugen präsentiert. Diese bleiben bewusst unkommentiert; sie korrespondieren jedoch mit den Themen, Inhalten und Erkenntnissen der Aufsätze des Bandes und bilden gewissermaßen ein zweites Narrativ.

Naturkatastrophen und ihre Erforschung Lange Zeit waren extreme Naturereignisse wie Sturmfluten, Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Lawinen in der Forschung kaum beachtet worden. Im Unterschied zur Thematik des Krieges waren Naturkatastrophen offensichtlich nicht im Langzeitgedächtnis moderner Gesellschaften verankert.10 Diese Situation hat sich grundlegend gewandelt. Zwar wurden Naturkatastrophen erst im Kontext einer sich seit den 1990er Jahren konstituierenden Katastrophenforschung Thema der Geschichtswissenschaft. Seitdem gehört die Katastrophenforschung jedoch zweifellos zu den Themenfeldern, die viel Aufmerksamkeit erfahren. Feststellungen und Klagen, dass »bis vor kurzem eine historische Analyse« von Naturkatastrophen »fast überhaupt nicht statt [fand]«11, nannte Uwe Lübken schon 2004 in einem Forschungsüberblick hinfällig. In den letzten zehn Jahren haben Naturkatastrophen äußerst innovative, interdisziplinäre, epochenübergreifende und zum Teil  auch kulturvergleichende und globalgeschichtliche Forschungsansätze motiviert. Besondere Aktualität und Relevanz gewann die Thematik nicht nur im Zuge einer gesteigerten medialen Aufmerksamkeit auf Katastrophen oder die Debatten um den anthropogenen Klimawandel. Gerade in historischer und kulturvergleichender Hinsicht eröffnet dieses interdisziplinäre und äußerst vielfältige Forschungsfeld neue Perspektiven. Naturkatastrophen stellen die Deutungshoheit und Handlungsmächtigkeit moderner Gesellschaften in Frage und ermöglichen tiefe Einblicke in ihren Umgang mit 10 Anfang der 1980er Jahre diagnostizierte der Historiker Arno Borst noch eine Katastrophenblindheit der Historikerzunft und auch die wegweisende Studie von Manfred Jakubowski-Tiessen zur Sturmflut von 1717 war ein Einzelfall; vgl. Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: Historische Zeitschrift 231, 1981, 529–569; Jakuboswki-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992. 11 So Uwe Lübken noch 2004: ders., Zwischen Alltag und Ausnahmezustand, 92. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Einleitung Einleitung

Risiken und Gefahren. Die historische Erforschung von Naturkatastrophen ist mittlerweile eines der zentralen Felder der Umweltgeschichte.12 Es ist hier nicht der Ort, einen umfassenden Forschungsbericht zu liefern,13 zumal wichtige Arbeiten in dieser Einleitung sowie in den einzelnen Beiträgen des Bandes rezipiert werden. Gleichwohl sollen einleitend einige Bemerkungen zu jenen Arbeiten erfolgen, die das Thema der Hamburger Sturmflut in besonderer Weise betreffen. Dazu gehören die Forschung zu Küstengesellschaften und deren Umgang mit Fluten, stadtgeschichtliche Perspektiven, die ohnehin in der Forschung zu Naturkatastrophen eine bedeutende Rolle spielen, sowie die Arbeiten, die sich explizit mit der Hamburger Sturmflut von 1962 beschäftigen. Das Thema der Hamburger Sturmflut berührt zweifellos die Frage nach den Besonderheiten von Küstenregionen. Auch wenn Hamburg nicht an der Küste liegt, so prägt das ca. 100 km entfernte Meer gleichwohl die Stadt  – ein Tatbestand, der gerade nach der Sturmflut 1962, als die Hamburger Bevölkerung die Warnungen vor einer schweren Sturmflut an der Küste nicht auf ihre Stadt bezogen hatte, vielfach betont wurde. Die Forschung hat sich insbesondere für die Frühe Neuzeit mit Besonderheiten von norddeutschen Küstengesellschaften befasst. Dabei gerieten Mentalitäten und Wahrnehmungen des Meeres in den Blick.14 Die Deichbaugeschichte stellt einen weiteren Schwerpunkt dar.15 Nicht zuletzt Sturmfluten und deren Interpretationen wurden erforscht.16 Weitere 12 Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 81). München 2007, 84; Schenk, Historical Disaster Research, 10. Einer der in diesem Bereich wegweisenden Forscher ist der Klimatologe und Umwelthistoriker Christian Pfister. Er hat mehrere grundlegende Langzeitstudien zur Wetter- und Klimageschichte der Schweiz vorgelegt und dieses sowohl lokale als auch globale Forschungsfeld mitgeprägt. Christian Pfister (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern u. a. 2002; ders., Stephanie Summermatter (Hrsg.), Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen. Bern u. a. 2004; ders., Mauch, Natural Disasters, Cultural Responses. 13 Vgl. z. B. Lübken, Alltag, sowie ders., Undiszipliniert, 15. 14 Vgl. vor allem Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Hier fragte er vor allem nach der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sturmfluten; vgl. weiter Jakubowski-Tiessen, Mentalität und Landschaft. Über Ängste, Mythen und Geister des Kapitalismus, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Kulturlandschaft Nordseemarschen. Bräist/Bredstedt 1997, 121–236; vgl. auch die in Fußnote 3 genannte Literatur. 15 Vgl. zum Beispiel: Thomas Steensen (Hrsg.), Deichbau und Sturmfluten in den Friedlanden. Bräist/Bredstedt 1992; Hans Joachim Kühn, Albert Panten (Hrsg.), Der frühe Deich­ bau in Nordfriesland. Bräist/Bredstedt 1995; Norbert Fischer, Wassernot und Marschen­ gesellschaft. Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen. Stade 2003. 16 Manfred Jakubowski-Tiessen, Gotteszorn und Meereswüten, in: Groh, Kempe, Mauelshagen, Naturkatastrophen, 101–118; Martin Rheinheimer, Mythos Sturmflut. Der Kampf gegen das Meer und die Suche nach Identität, in: Demokratische Geschichte 15, 2003, 9–58; Bernd Rieken, »Nordsee ist Mordsee«. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster u. a. 2005 sowie Dirk Meyer, Die Geschichte der Flutkatastrophen. Land Unter! Ostfildern 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Arbeiten untersuchten die gesellschaftsprägende Bedeutung des Meeres und der Deiche.17 Simon Schama hatte von den Niederlanden des 17. Jahrhunderts als einer »hydrografischen Gesellschaft« gesprochen und damit die Bedeutung des Wassers – den Kampf gegen, den Umgang mit sowie die gesellschaftsstrukturierende Kraft von Wasser  – betont.18 Der Begriff wurde in der Forschung verschiedentlich aufgenommen. So spricht Norbert Fischer in Anlehnung an Schama von der Kehdinger Gesellschaft als einer »hydrografischen Gesellschaft«: In Kehdingen, wie in anderen Marschengebieten an der Nordseeküste auch, habe die Notwendigkeit, sich angesichts der gegebenen topografischen Bedingungen gegen die stets drohenden Überschwemmungen kollektiv organisieren zu müssen, zu besonderen gesellschaftlichen und politischen Binnenstrukturen geführt. Insofern habe »die Auseinandersetzung mit dem Wasser eine fundamentale Bedeutung für die Entwicklung der regionalen Gesellschaft [wie Kehdingen]« gehabt.19 Für Franz Mauelshagen gilt der Deich als »the most obvious expression of a ›hydrographic society‹«.20 Hydrografische Gesellschaften wurden in der Forschung bislang für die Zeit der Frühen Neuzeit beschrieben, während moderne Gesellschaften in ihren gesellschaftlichen Strukturen und kollektiven Organisationsformen nicht gleichermaßen vom Wasser geprägt zu sein scheinen. Auch der Wandel hydrografischer Gesellschaften bzw. deren Verschwinden in der westlichen Moderne ist wenig erforscht. Die Ergebnisse dieses Bandes lassen tatsächlich vermuten, dass das Wasser, die Deiche und die damit einhergehenden Gefahren weniger Einfluss auf die Hamburger, aber auch auf die niederländische Gesellschaft, als in früheren Epochen hatten.21 Dies korrespondiert dem im Band vielfach konstatierten mangelnden Risikobewusstsein.22 Die Stadtgeschichte hatte sich bereits früh mit der Geschichte von Naturkatastrophen beschäftigt.23 Die Hamburger Sturmflut wurde allerdings bislang 17 Hier vor allem die Arbeit von Marie Luisa Allemeyer, »Kein Land ohne Deich…!« Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006. 18 Simon Schama, Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter. München 1988 (Original 1987), 59. 19 Norbert Fischer, Die »hydrografische Gesellschaft« und ihre fünf Katastrophen: Kehdingen, Februarsflut 1825, in: Ortwin Pelc (Hrsg.): Katastrophen in Norddeutschland. Vorbeugung, Bewältigung und Nachwirkungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Neumünster 2010, 119–133, hier 120. Vgl. auch Fischer, Wassernot. 20 Mauelshagen, Flood Disasters, 133 u. 136 f. 21 Vgl. dazu den Beitrag von Sonja Kummetat in diesem Band. 22 Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Heymann in diesem Band. 23 Lübken, Undiszipliniert, 15; Martin Körner (Hrsg.), Stadtzerstörung und Wiederaufbau, Zerstörung durch Erdbeben, Feuer und Wasser, 3. Bde. Bern 1999; Ranft, Selzer, Städte aus Trümmern; Geneviève Massard-Guilbaud, Harold L. Platt, Dieter Schott (Hrsg.), Cities and Catastrophes: Coping with Emergency in European History. Frankfurt a. M. 2002; Dieter Schott (Hrsg.), Informationen zur modernen Stadtgeschichte. Themenschwerpunkt: Stadt und Katastrophe 1/2003. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Einleitung Einleitung

kaum im stadthistorischen Kontext behandelt. Eine Ausnahme stellt ein Beitrag von Dieter Schott dar, der zeigt, wie die Erinnerung an frühere Katastrophen zur Sinnstiftung und Mobilisierung von Kräften in bzw. nach der Sturmflutkatastrophe genutzt wurde.24 Dass Städte so häufig Thema der Naturkatastrophenforschung waren, hat mit der Schutzfunktion des städtischen Raums zu tun.25 Dieter Schott verweist darauf, dass »[d]ie Geschichte städtischer Siedlungen […] als der permanente und immer wieder neu unternommene Versuch verstanden werden, Natur und ihre Risiken und Unwägbarkeiten aus der städtischen Zivilisation zu eliminieren.«26

Lübken spricht von der »städtischen Fragilität«. Doch gleichzeitig sei auch die »Resilienz urbaner Gesellschaften«27 größer. Dem Thema der Resilienz28 widmet sich auch Dieter Schott in seinem Beitrag zu städtischen Katastrophen in diesem Band. Am Beispiel von unterschiedlichen Katastrophen aus verschiedenen Jahrhunderten, dem Londoner Feuer von 1666, dem Erdbeben von Lissabon 1755 sowie der Hamburger Sturmflut diskutiert er die Resilienz von Städten. Zusammenfassend kommt Schott dabei zum Ergebnis, dass es jeweils  – über alle Jahrhunderte hinweg – ein Bedürfnis nach schnellem Wiederaufbau und Wiederherstellung der Sicherheit gab. Zudem erhielten starke Persönlichkeiten zentralen Einfluss, wie im Fall der Hamburger Sturmflut z. B. Helmut Schmidt. Weiter stellt Schott fest, dass auch bei großen Zerstörungen die nachhaltige und massive Veränderung der Stadtstruktur eher die Ausnahme darstellte, es jedoch in der Regel zu einer Modernisierung kam.29 Konstatierten Vale und Campanella, dass seit 1800 kaum eine Stadt nicht wiederaufgebaut wurde, so scheint dies in der Tat auf eine hohe Resilienz ur 24 Dieter Schott, One City – Three Catastrophes: Hamburg from the Great Fire 1842 to the Great Flood 1962, in: Massard-Guilbaud, Patt, Cities and Catastrophes, 185–204. 25 Vgl. Dieter Schott in diesem Band sowie ders., Stadt und Katastrophe, in IMS, 1/2003, 4–13. 26 Schott, Stadt und Katastrophe, 13. 27 Lübken, Undiszipliniert, 15. Zur städtischen Resilienz vgl. auch: Lawrence J. Vale, Thomas J. Campanella (Hrsg.), The Resilient City: How Modern Cities Recover from Disaster. Oxford 2005. 28 Der Begriff der Resilienz bezeichnet die Toleranz gegenüber schwerwiegenden Ereignissen. Er wird innerhalb der Stadtforschung inzwischen häufig verwendet. Er meint die Widerstandsfähigkeit gegenüber Katastrophen sowie die Fähigkeit des Wiederaufbaus, des Wiederherstellens und der Regeneration nach Katastrophen. Die Forschung betont und untersucht die Faktoren, die zu Resilienz führen. Die aktuelle Stadtplanung fragt danach, wie die Resilienz von Städten erhöht werden kann. Vgl. zum Beispiel zur Erdbebengefahr in San Francisco: http://www.spur.org/initiative/resilient-city. 29 Vgl. dazu auch Martin Körner (Hrsg.), Stadtzerstörung und Wiederaufbau, 3 Bde. Bern u. a. 1999/2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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baner Gesellschaften der Moderne hinzuweisen.30 Ähnlich bemerkte Lübken, dass die »Katastrophenresilienz […] in ländlichen Regionen und kleineren Städten weniger stark ausgeprägt zu sein« scheint.31 In diesem Band zeigt allerdings der Beitrag von Norbert Fischer zum Umgang mit Wasser und Fluten an der Niederelbe vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, dass auch hier – im Hin und Her von Landgewinnung und Landverlust – über Jahrhunderte hinweg eine bemerkenswerte Resilienz zu beobachten ist. Die Resilienz von ländlichen und städtischen Gebieten wäre zukünftig genauer zu untersuchen. Es handelt sich zweifellos um ein wichtiges Phänomen, das typisch für die Moderne zu sein scheint, jedoch gerade in jüngster Zeit wieder stärker hinterfragt wird, wie HochwasserEreignisse in Ostdeutschland und Bayern im Jahr 2013 zeigten.32 Hier fingen viele Bürger, die ihr Hab und Gut bereits bei der Flut 2002 verloren hatten, an, darüber nachzudenken, ob man dem Wasser nicht doch weichen solle und von einem Wiederaufbau abzusehen habe. Da sich die Zahl der Hochwasserereignisse seit 1980 verdoppelt hat, forderte die Munich Re kürzlich die Bundes- und Landesregierungen auf, die Neubebauung stark hochwassergefährdeter Gebiete zu unterbinden und zerstörte Gebäude nicht wieder aufzubauen.33 Inwieweit Resilienz ein typisch (hoch)modernes und urbanes Phänomen ist, wäre also zu erforschen. Die Hamburger Sturmflut selbst erhielt jüngst im Kontext des 50. Jahrestags im Jahr 2012 neue Aufmerksamkeit. Jüngere Publikationen, z. B. der Begleitband zu einer Ausstellung anlässlich des Jahrestags 2012,34 liefern einen guten Überblick über die Ereignisse und befassen sich zudem mit einzelnen Aspekten wie dem Katastrophenschutz vor und nach der Sturmflut, dem Risikobewusstsein der Hamburger oder den jüngsten Entwicklungen im städtischen Hochwasserschutz. Wichtig für umweltgeschichtliche Fragestellungen ist ein 2003 erschienener Aufsatz von Jens Ivo Engels zum Wandel des Naturbildes in der

30 Lawrence J. Vale, Thomas J. Campanella, Introduction. The Cities rise again, in: dies. (Hrsg.), The Resilient City. How modern cities recover from disaster. Oxford 2005, 3; vgl. Lübken, Undiszipliniert, 16. 31 Ebd., 16. 32 Wissenschaftler vom Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology untersuchten die unterschiedliche Resilienz der Regionen um die Elbe und die Donau, die 2013 gleichermaßen einem schlimmen Hochwasser ausgesetzt waren. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Resilienz in Süddeutschland am höchsten und in Ostdeutschland und in großstädtischen Gebieten am niedrigsten ist. Dies widerspricht der These der höheren städtischen Resilienz gegenüber der ländlichen. Vgl. Christina Berndt, Nach der Flut. Hauptsache aufrappeln, in: Süddeutsche Zeitung, 19.6.2013, 6. 33 Herbert Fromme, Patrick Hagen, Bauverbot gefordert, in: Süddeutsche Zeitung; 9.7. 2013, 14. 34 Hötte, Die große Flut. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Bundesrepublik.35 Er wird in diesem Band vielfach rezipiert und kommentiert. Weiter fand die Hamburger Sturmflut in Beiträgen zu Fluten in Küstenregionen Aufmerksamkeit.36 Für die Forschung zur Perspektive der betroffenen Bevölkerung sind zudem Zeitzeugeninterviews relevant.37 Naturkatastrophen bieten des Weiteren Stoff für Romane und Kinofilme. Auch die Hamburger Sturmflut wurde in Romanen, Filmen und einem »Doku-Drama« verarbeitet.38 Zweifellos sind diese genauso Teil der Erinnerungskultur wie offizielle Reden, Museen und Denkmäler. Auch sie harren noch einer systematischen Aufarbeitung. Insgesamt überrascht die geringe Zahl an (geschichts)wissenschaftlichen Beiträgen zu diesem zeithistorischen Schlüsselereignis, das weitreichende Erkenntnismöglichkeiten über das Mensch-Natur und Technikverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft eröffnet.

1. Naturkatastrophen – Umweltgeschichtliche Perspektiven: das Mensch-Natur-Verhältnis Der Begriff der »Naturkatastrophe« wirft, wie bereits Christian Pfister feststellte, begrifflich-konzeptionelle Probleme auf, die Kernfragen der Umweltgeschichte betreffen, da hier das Verhältnis von Natur und Gesellschaft zur Debatte steht und der jeweilige Naturbegriff keinesfalls eindeutig feststeht. »Der Schlüsselbegriff der ›Naturkatastrophe‹ selbst ist widersprüchlich«, so Pfister.39 Zwar betonte er im Unterschied zu »Extremereignissen« den Bezug zur Gesellschaft, dennoch ist unklar, welche Rolle Natur hierbei spielt. War die Hamburger Sturmflut überhaupt eine Naturkatastrophe?  – wie Felix Mauch

35 Jens Ivo Engels, Vom Subjekt zum Objekt. Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Groh, Kempe, Mauelshagen, Naturkatas­ trophen, 119–142. 36 Vgl. insbesondere: Michael Kempe, »Mind the Next Flood!« Memories of Natural Disasters in Northern Germany from the Sixteenth Century to the Present, in: The Medieval History Journal 10  (1/2), 2007, 327–354. Sowie Franz Mauelshagen, Disaster and Political Culture in Germany since 1500, in: Mauch, Pfister, Natural Disasters, 41–75. 37 Vgl. den Aufsatz von Frauke Paech, »Die ganzen menschlichen Geschichten«  – Die Hamburger Sturmflut von 1962 im Bewusstsein der Wilhelmsburger Bevölkerung, in: Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg Honigfabrik/Museum Elbinsel Wilhelmsburg (Hrsg.), Wilhelmsburg. Hamburgs große Elbinsel. Hamburg 2008, 161–173. Diese Interviews entstanden im Kontext einer Dissertation von Frauke Paech, die noch nicht veröffentlicht ist. Weitere Zeitzeugeninterviews finden sich in Ley, Große Flut. 38 Vgl. z. B. Die Nacht der Großen Flut. Das Dokudrama über die Hamburger Sturmflut 1962 oder den Roman von Alexander Schuller, Sturmflut über Hamburg, Die Nacht, in der eine Stadt ertrank. München 2006. 39 Christian Pfister, Die »Katastrophenlücke« des 20. Jahrhunderts und der Verlust traditionalen Risikobewusstseins, in: GAIA 18/3, 2003, 239. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zu Beginn seines umweltgeschichtlichen Beitrages provokant fragt. Die Trennungslinie zwischen »natürlichen« und »menschengemachten« Katastrophen ist im Falle von Naturkatastrophen jedenfalls nicht eindeutig zu ziehen, so der Tenor der jüngeren Forschung: »Contrary to wide spread popular usage, there are no such things as ›natural disasters‹.«40 Naturkatastrophen werden deshalb auch als »hybride Ereignisse« mit einer physischen und einer sozialen Dimension aufgefasst.41 Welche konzeptionellen und methodischen Herausforderungen der Naturbegriff immer noch stellt und wie ein umweltgeschichtlicher Ansatz mit den Schwierigkeiten des Naturkatastrophenbegriffes umgeht, zeigt Felix Mauch. Ihm geht es um eine »Nachgeschichte« der Hamburger Sturmflut, die sowohl die zeitgenössischen Deutungen der Sturmflut als Naturereignis bzw. menschengemacht hinterfragt wie auch die mit jeder historischen Betrachtung einhergehende Konstruktionen von Natur und Gesellschaft. Um Determinismen zu vermeiden, aber die konstitutive Rolle von Natur und Gesellschaft zu betonen, wählt er einen Ansatz, der die zeitgenössischen Deutungen der Sturmflut auf die damit einhergehenden Naturbegriffe befragt, aber zugleich die Handlungsmacht von Natur wieder stärker in diese Geschichte einschreibt.42 Nach Felix Mauchs Lesart der Hamburger Sturmflut stellte diese gerade nicht den technikoptimistischen Zeitgeist in Frage, sondern konnte durch die Betonung der Natur als Akteur auch die gesellschaftliche Verantwortung der Stadt und ihrer Behörden ausblenden. Matthias Heymann adressiert mit seinem wegweisenden, neuen Ansatz der »environmental coherence«, das Mensch-Natur- und Technikverhältnis, das sich insbesondere im Falle von Naturkatastrophen zeigt. Er macht sich zudem für kulturvergleichende Studien stark, die hinsichtlich ihres Naturverhältnisses erforscht werden können. Wie Felix Mauch behandelt er grundlegende begriffliche und auch methodische Fragen, die die Erforschung von Naturkatastrophen an der Schnittstelle von Natur und Gesellschaft aufwerfen. Für Heymann spielen dabei lokales Wissen und kulturelle Praktiken im MenschUmweltbezug eine bestimmende Rolle. Umweltwissen basiert auf über lange Zeiträume gewachsenen und tradierten Erfahrungen und Praktiken, die »den Zusammenhang und den Zusammenhalt mit der Natur« (Heymann) charakterisieren. Darüber hinaus macht er ein Grundanliegen diese Bandes deutlich: Technik prägt ganz wesentlich das Mensch-Naturverhältnis und eröffnet neue

40 Greg Bankoff, Comparing Vulnerabilities: Toward Charting an Historical Trajectory of Disasters, in: Historical Social Research 32, 2007, 103–114, hier 103. 41 Vgl. Schenk, Historical Disaster Research, 13; Walter, Catastrophes. Vgl. Matthias Heymann und Felix Mauch in diesem Band. 42 Vgl. Engels, Vom Subjekt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Forschungsmöglichkeiten, »denn environmental coherence ist eng verknüpft mit technischem Wissen, technischem Wandel und technischen Interventionen in die Umwelt.«43 Allerdings bedeutet dies, Technik nicht als Gegensatz zur Natur zu betrachten, denn Technisierungsprozesse können auch zur Anpassung an die Natur beitragen. Damit vertritt Heymann einen ähnlichen Ansatz wie er auch mit dem Schlüsselbegriff der »vulnerability« ins Spiel gebracht wird. Dieser stellt den Umgang der jeweiligen Gesellschaften mit Naturgefahren ins Zentrum.44 Gesellschaften haben, über das punktuelle Ereignis der Katastrophe selbst hinaus, einen beträchtlichen Einfluss auf die Anfälligkeit für Naturkatastrophen. Diese Anfälligkeit ist aber nicht allein eine Frage des Schutzes und der Prävention durch moderne Technik. Vielmehr zeigen kulturvergleichende Studien, dass nicht-westliche Kulturen, oftmals besser mit dem Risiko von Naturgefahren umgehen als moderne, vermeintlich technisch besser ausgerüstete Gesellschaften, die jedoch die Gefahren von Naturkatastrophen ausblenden, wie dies z. B. Bankoff am Beispiel Kubas verdeutlicht: »Cuba is better able to protect ist citizens and resources than most of the states in the world.«45 Auch Matthias Heymann vergleicht Küstengesellschaften. Während die Nordseeinsel Strand über Jahrhunderte ein Kultur des Deichbaus und der Landgewinnung entwickelte und in dieser longue durée auch mit dem ­R isiko der Sturmfluten lebte und diese Gefahren in ihrer Erinnerung bewahrte, handelt es sich bei Miami Beach um eine künstlich ausgebaute Insel. Tourismus, Automobilismus und der Immobilienmarkt trieben hier den raschen Bau neuer Ferienressorts Anfang des Jahrhunderts voran, ohne dass die erheblichen Risiken von Hurrikans und Sturmfluten an der Küste Floridas berücksichtigt wurden. Hamburg scheint gleichfalls ein Beispiel für eine gering ausgeprägte »environ­ mental coherence« zu sein. Die letzte dramatische Sturmflutkatastrophe hatte, wie eingangs erwähnt, 1825 stattgefunden. Daher war Erfahrungswissen schon seit Generationen verloren gegangen, es wurde nicht mehr mündlich tradiert, es war aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft weitgehend ver-

43 Vgl. Matthias Heymann in diesem Band. Die Thematik der Naturkatastrophen ist in der Technikgeschichte bislang nicht präsent, wie Heymann feststellt, aber auch umgekehrt werden Fragen der Technik innerhalb der Umweltgeschichte nicht hinreichend berücksichtigt und selten explizit behandelt. 44 Vgl. zum wichtigen Begriff der »Vulnerabilität« vor allem Anthony Oliver-Smith, Peru’s Five-Hundred-Year Earthquake. Vulnerability in Historical Context, in: ders., Susanna M. Hoffman (Hrsg.), The Angry Earth: Disaster in Anthropological Perspective. New York/London 1999, 74–88; Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazard in the Philippines. London 2002, 1–17. Sowie Wiebe Bijker, The Vulnerability of Technological Culture, in: Helga Nowotny, Cultures of Technology and The Quest for Innovation. New York, Oxford 2006, 52–69. 45 Bankoff, Comparing Vulnerabilities, 109. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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schwunden und damit war auch das Risikobewusstsein der Hamburger Bevölkerung gering.46 Zahlreiche Zeitzeugen berichteten später, dass es zwar stürmisch war, aber man keine Gefahr erwartete: »Ich erinnere mich, dass, bevor das Fernsehprogramm zu Ende war, da ein Band durchlief: Schwere Sturmflut an der Nordsee erwartet. Aber die Nordsee und die Küste, die ist weit. Wir sind dann in aller Ruhe ins Bett gegangen, an den Sturm und das Getöse hatten wir uns gewöhnt, das war nicht weiter schlimm«47.

Bundespräsident Heinrich Lübke hatte die Tragik dessen in seiner Trauerrede am 26. Februar 1962 in Hamburg hervorgehoben: »Vielfach glaubten sich die Leute in Hamburg und außerhalb Hamburgs hinter den von der Flut bedrängten Deiche sicher. Sie hörten deshalb nicht die Warnungen; ja, sie meinten, als die Sirenen ertönten, der Alarm gelte gar nicht ihnen, es sei vielleicht ein Feueralarm. Es ist tragisch, dass im Menschen durch Fürsorge, mit der ihn die Zivilisation umgibt, das ursprüngliche Gefühl für Gefahren der Natur verloren geht, dass er schließlich die vereinbarten Warnzeichen nicht mehr versteht und zugrunde geht.«48

Die Natur war 1962 in Hamburg nicht mehr als Gefahr, Hamburg offensichtlich nicht als hydrografische Gesellschaft im Sinne Schamas wahrgenommen worden. Das Wasser wurde nicht als eine das Handeln der Stadtgesellschaft bestimmende Kraft gedeutet. Man könnte auch von einer »Naturvergessenheit« der Hamburger Stadtgesellschaft sprechen. Der Begriff der »Naturvergessenheit« wurde bislang vor allem in einem ethisch-normativen Kontext, insbesondere im Zusammenhang der Umweltbewegung, verwendet, indem zu einem nachhaltigen, ökologisch orientierten Umgang mit Natur gemahnt wurde.49 Der Begriff eignet sich jedoch auch als historisch-analytische Kategorie, insofern das jeweilige Naturverständnis einer Gesellschaft untersucht werden könnte.50 Für die westliche Nachkriegsgesellschaft liegt es nahe, eine »Natur 46 Mario Bäumer, Das Versagen. Die Ursachen der Flutkatastrophe von 1962, in: Hötte, Die Große Flut, 66–75, hier 67. 47 Ley, Nach der großen Flut, 14. 48 Bundespräsident Heinrich Lübke bei der Trauerrede am 26.2.1962, in: Freie und Hansestadt Hamburg, Schulbehörde: Die große Flut 1962. Eine Chronik der Katastrophe vom Februar 1962. Hamburg o. J., 63. 49 Vgl. zum Beispiel: Michael Müller, Rainer Sontowski, Naturvergessenheit – auch eine kulturelle Herausforderung für die Politik, in: Frankfurter Neue Hefte, 1/2, 2008, 75–78; oder Günter Altner, Naturvergessenheit  – Grundlagen einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991. 50 William J. Cronon beschrieb in seinem Buch »Nature’s Metropolis« in ganz ähnlicher Logik im Hinblick auf die städtische Nahrungsmittelversorgung in Chicago, dass deren Herkunft und »natürlicher« Ursprung aus dem Hinterland vergessen wurde. Vgl. dazu auch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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vergessenheit« anzunehmen, die mit einer auffälligen (Natur)Katastrophenvergessenheit einhergeht, wie sie sich auch in Hamburg zeigte.51 Dieser »Naturvergessenheit« korrespondierte eine Fokussierung auf und eine Beschäftigung mit Technik. Gerade die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft war stärker mit den Versprechungen und Gefahren der Technik befasst als mit »Natur«.52 Die Natur schien kein Thema, das die Zeitgenossen beschäftigte. In einem Vortrag »Die Situation des Menschen« schrieb beispielsweise der katholische Theologe Romano Guardini: »Die Gefährdung durch die unmittelbare Natur ist sozusagen grundsätzlich überwunden. […] Dafür setzt aber eine andere ein: die eines akuten Gefährdetseins des Mensch durch das eigene Werk. […] Ein Ethos des technischen Wagnisses ist noch nicht da. Die größte Aufgabe, die uns erwartet, von der aber noch kaum geredet wird, ist die Entwicklung einer Souveränität des Geistes den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten gegenüber.«53 Historisch wären  – gerade im Kontext der Naturkatastrophenforschung, aber nicht nur hier – Phasen einer solchen »Naturvergessenheit« zu untersuchen und systematisch zu vergleichen. Dazu ist eine Verknüpfung umwelt- und technikhistorischer Perspektiven unabdingbar.

2. Naturkatastrophen – Technikhistorische Perspektiven: Mensch-Technik-Naturverhältnisse Während umweltgeschichtliche Perspektiven in der Naturkatastrophen­forschung inzwischen etabliert sind, kann dies nicht gleichermaßen für technikhisto­rische Fragestellungen festgestellt werden. Allerdings bietet eine technikhisto­rische Perspektive die Chance, den Blick über das Mensch-Natur-Verhältnis hinaus auf das Mensch-Natur-Technik-Verhältnis zu öffnen und damit umwelt- und technikgeschichtliche Aspekte eng zu verknüpfen – ein Zugang, der für die Naturkatastrophenforschung, insbesondere im 20. Jahrhundert, unerlässlich ist, wie dieser Band aufzuzeigen versucht. Angeknüpft werden kann dabei an einen wegweisenden Aufsatz von Wiebe Bijker, der das Technikverständnis von Küsteningenieuren in den USA und

die Fußnoten 31 und 32 von Mauch in diesem Band. William J. Cronon, Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West. New York, London 1992. 51 Vgl. dazu den Beitrag von Kai Blüthgen und Martina Heßler in diesem Band. 52 Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, hrsg. v. der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg, Bd. 31). Hamburg 1995, 324–350. 53 Romano Guardini, Die Situation des Menschen (1954), in: ders., Untersuchungen des Christlichen; gesammelte Studien 1923–1963. Mainz 1963, hier 227 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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den Niederlanden verglichen hat.54 Er analysierte diese im Hinblick auf ihren »technischen Stil«. Beide Länder zeichneten sich im Unterschied zu anderen Nationen, so seine Beobachtung, dadurch aus, dass der Küstenschutz von der Naturkatastrophe her gedacht und entwickelt wurde. Doch zeigen sich erhebliche Unterschiede. In den Niederlanden dominierte seit der Sturmflut 1953 ein Konzept des harten Kampfes gegen das Wasser, das es abzuwehren galt. Das Ergebnis war das Delta-System, ein gigantisches Sperrwerk, das in den Niederlanden als »achtes Weltwunder« bezeichnet wurde. Interpretiert man diese Beobachtungen in einer explizit technikhistorischen Perspektive auf Naturkatastrophen, so zeigt sich hier die Dominanz technokratischer Lösungen, während in den USA ein anderer Ansatz beobachtet werden kann. Hier wurde nämlich in die Vorhersage von Naturkatastrophen investiert, in Warnsysteme und Versicherungen, um Schäden zu begrenzen und den Wiederaufbau (finanziell) zu erleichtern. Technik dient hier vor allem der Vorhersage. Naturbeherrschung wird, um dies wiederum aus einer Mensch-Natur-Technik-Perspektive zu interpretieren, nicht im Sinne der Zähmung und des Kampfes gegen die Natur betrieben, sondern mittels der Überwachung, Beobachtung und Vermessung der Natur. Dabei zeigt sich ein Glaube an die technisch-wissenschaftliche Vorhersagbarkeit von Naturkatastrophen. Natur, so könnte man die beiden von Bijker beschriebenen Technikkonzepte zuspitzen, ist in beiden Fällen technisch vermittelt gedacht, einmal allerdings als technisch zu beherrschendes, einmal als technisch-wissenschaftlich berechenbares und zu vermessendes Objekt. Doch Bijker geht noch einen Schritt weiter. Über den technischen Stil hinaus, zeige sich in diesen unterschiedlichen Konzepten der Katastrophenprävention auch eine unterschiedliche »technische Kultur« der beiden Länder. Diesen Punkt führt Bijker nur noch kursorisch aus, indem er beispielsweise auf die je unterschiedliche Rolle des Staates verweist. Allerdings veranschaulicht sein inspirierender Aufsatz das Potenzial einer technikhistorischen Perspektive auf Naturkatastrophen. So wird erstens deutlich, dass Naturkatastrophen bzw. ihre Antizipation das Technikverständnis sowie die Technikentwicklung prägten, indem sie vom Extremfall eines Naturereignisses aus konzipiert wurde. Zweitens wird deutlich, dass unterschiedliche Technikkonzeptionen im Hinblick auf das Naturverhältnis der Ingenieure analysiert werden können. Weitere Spielarten, über die beiden in den USA und den Niederlanden diagnostizierten Formen des Umgangs mit der Natur und ihrer Bändigung bzw. Beobachtung mittels Technik hinaus, wären historisch und regional zu untersuchen. Drittens können Rückschlüsse auf die jeweilige technische Kultur gezogen werden. Diese

54 Wiebe Bijker, American and Dutch Coastal Engineering: Differences in Risk Con­ ception and Differences in Technological Culture, in: Social Studies of Science 37 (1), 2007, 143–152, hier 145. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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muss keineswegs auf Nationen bezogen sein.55 Gewinnbringend an einer solchen technikhistorischen Perspektive ist, dass sie das in der Umweltgeschichte im Mittelpunkt stehende Mensch-Natur-Verhältnis um die Reflexion der – insbesondere im 20. Jahrhundert – zentralen Rolle der Technik erweitert. So hatte Jens Ivo Engels in einem eingangs bereits genannten Aufsatz den Wandel des Naturbildes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Geschichte von Naturkatastrophen skizziert.56 Er zeigte den Wandel von einem Bild der Natur in den 1960er Jahren als wild, fremd, als Gegner und als eine Macht, die in die Zivilisation einbricht und diese gefährdet, hin zum Diskurs über die Konsequenzen menschlicher Eingriffe in die Natur in den 1970er Jahren, in denen die Natur schließlich als schwach und fragil erscheint. Auch wenn Engels die technikkritischen Diskurselemente im Blick hat, so bleibt er auf die Bilder der Natur und das Verhältnis von, wie er schreibt, Gesellschaft und Natur fokussiert. Implizit wird allerdings deutlich, was insbesondere für das 20. Jahrhundert im Kontext von Naturkatastrophen systematisch untersucht werden könnte: das Verhältnis von Mensch-Natur-Technik, und insbesondere die Frage, inwiefern Bilder der Natur die Rolle und Entwicklung der Technik wesentlich mitbestimmen, sowie umgekehrt wie Technik Einfluss auf die »Natur« und ihre Konzeptionen nimmt. Denn wenn die Natur als wild, fremd und als Gegner gedacht wird, so ist es wenig überraschend, dass Technik (und Wissenschaft) Mittel zu ihrer Beherrschung sind, wie wiederum umgekehrt eine »schwache« Natur kaum mit gigantomanischen Technologien konfrontiert werden dürfte. Hierzu finden sich bislang in der Forschung lediglich vereinzelte Hinweise, die sich auf verschiedene Epochen beziehen. So erwähnt Bijker die Vor­stellung des Deichgrafen Andries Vieringh (1507–1579), der betonte, die Praktiken des Küstenschutzes müssten »not with force«, sondern mit »sweetness« vorgehen: »Don’t fight these with brute force but with soft persuasion«, so die Zusammen­ fassung dieser Haltung.57 Auch Simon Schama hob hervor, dass in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, davon gesprochen wurde, dass das Wasser zu überreden sei.58 In diesem Band zeigt Norbert Fischer wiederum, dass im 18. Jahrhundert technische Lösungen dazu dienten, das Wasser abzuwehren. Er

55 Vgl. zur Diskussion um Technikstile innerhalb der Technikgeschichte, die insbe­ sondere ein Phänomen der 1990er Jahr war, beispielsweise in: Thomas P. Hughes, Networks of Power: Electrification in Western Society, 1880–1930. Baltimore, London 1986; Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 2008 (1989) und Mikael Hård, Andreas Knie, The Grammar of Technology: German and French Diesel Engineering, 1920–1940, in: Technology and Culture 40, 1999, 26–46. 56 Engels, Vom Subjekt. 57 Bijker, American and Dutch Coastal Engineering, 145. 58 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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verweist auf das die Frühe Neuzeit kennzeichnende Spannungsfeld von theologischen Deutungen der Sturmfluten und technischen Maßnahmen, um gegen das Wasser und die Fluten gewappnet zu sein, Maßnahmen, die weniger auf »Überreden« denn auf Abwehr setzten. In einer weiteren Publikation spricht Fischer vom »zum Bollwerk ausgebaute[n], vorausberechnete[n] Deich« als »Antwort auf die Fluten«.59 Auch Sonja Kummetat zeigt in diesem Band mit einem kurzen Blick auf die Traditionen des Deichbaus in den Niederlanden, dass die Konzepte des Deichbaus bereits im 18. und 19. Jahrhundert, vor allem aber die Reaktionen auf die Sturmflut 1953, mit technokratischen Lösungen verbunden waren. Technische Konstruktionen wie der Deichbau dienten der Landgewinnung und dazu, das Wasser abzuwehren. Technik war ein Mittel zur Kontrolle und Beherrschung der Natur. Die Sturmflut im Jahr 1962 stellte allerdings den Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Natur in Frage  – jedenfalls vorübergehend. So hatte in Hamburg Bürgerschaftspräsident Herbert Dau unmittelbar nach der Sturmflut, pointiert und viel zitiert, ausgeführt: »In der Schicksalsnacht zum Sonnabend zerbrachen nicht allein die Deiche unserer Stadt, es zerbrach auch unsere Zuversicht, die Urgewalt der entfesselten Elemente mit technischen Mitteln gebändigt zu haben.«60 Der Glaube an die technische Gestalt- und Beherrschbarkeit der Welt wurde kritisch hinterfragt und mehr Respekt vor der Natur gefordert. Sowohl die Natur, die sich ihrem Vergessen mit einer Katastrophe widersetzt hatte, als auch die Technik bzw. der technokratische Umgang mit Natur und die zivilisatorische Naturvergessenheit wurden als Problem und Bedrohung thematisiert. Blickt man also nicht nur auf das Mensch-Natur-Verhältnis, sondern gleichzeitig auf das Mensch-Natur-Technik-Verhältnis, so wird deutlich, dass einerseits die Natur als Gefahr thematisiert, aber andererseits gleichermaßen auch der auf die Naturbeherrschung zielende Einsatz der Technik im zeitgenös­ sischen Diskurs als Gefahr für die Menschen wahrgenommen wurde, insofern sie die Zivilisation in eine trügerische Sicherheit wiege und den Menschen von sich und der Natur entfremde. Drastisch formulierte der Spiegel die schockhafte Erfahrung der Grenzen und Ambivalenzen der Technik. »Am 16. Februar 1962 ertrank im Nachthochwasser der Nordsee der Glaube an die Sekurität, die sich als wasserlöslich erwies. Nicht weil die Deiche an 63 Stellen brachen, glatt überspült wurden, sondern weil ein Spuk über Land kroch, den man zwar noch in Hinterindien, nicht aber an der Elbe vermutet hatte: Eine moderne Welt-

59 Norbert Fischer, Der nasse Tod. Sturmflutkatastrophen, Glauben und Mentalitäten der deutschen Nordseeküste (16.–19. Jh.), in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 50, 2008, 343–354, hier 343. 60 Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg 1962, 96. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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stadt, 750 Quadratkilometer groß und musterhaft organisiert, eine Festung aus Menschen, Beton und Energie zeigte sich gegen ein 100 Kilometer entferntes Randmeer des ­Ozeans so anfällig wie eine Pfahldorf der Primitiven.«61

Gerade der abfällige Vergleich mit »Hinterindien« und einem »Pfahldorf der Primitiven« verweist auf die traumatische Erfahrung der Verletzbarkeit der technischen (westlichen) Moderne.62 Für die westliche Moderne wird die Erosion einer Haltung, die die Natur mit technischen Mitteln zu dominieren und zu bezwingen glaubt, spätestens in den 1970er Jahren diagnostiziert. Dieses Verhältnis von Fortschrittsglaube und Naturkatastrophen wäre in Zukunft allerdings systematischer zu erforschen. So stellt sich beispielsweise beim Blick auf die Hamburger Sturmflut die Frage, inwieweit die Erschütterung des Fortschrittsglaubens jeweils nur temporär war, dieser jedoch nicht durch ein anderes Paradigma abgelöst wurde. Wie auch die Forschung zu technischen Unfällen gezeigt hat, führten diese häufig eher dazu, dass neue technische Lösungen entwickelt wurden, was mit der Vorstellung der wiederhergestellten Beherrschbarkeit einhergeht.63 Dies scheint sich insbesondere für die Niederlande konstatieren zu lassen, wie auch Kummetat in diesem Band zeigt.64 Auch die Antwort der Stadt Hamburg und der Küstenbau­ ingenieure war, trotz der öffentlichen Kritik an einem technisch dominierten Naturverhältnis, eine technizistische. Seit der Sturmflutkatastrophe 1962 hat Hamburg an der Verstärkung der öffentlichen Hochwasserschutzanlagen gearbeitet und die Deiche erhöht.65 Die steilen Deiche wurden zudem entsprechend der neuesten technisch-wissenschaftlichen Standards flacher konstruiert. Auch die Organisation des Sturmflutschutzes in Hamburg verweist auf die Dominanz eines wissenschaftlich-technischen Naturbezugs. So wurde nach 1962 die Verantwortung für den Bau und den Zustand der Deiche von der Stadt Hamburg übernommen.66 Vor der Sturmflut hatte dies im ehrenamtlichen Bereich der lokalen Deichverbände gelegen, also der Menschen, die hinter den Deichen lebten. Angesichts der schweren Sturmflut wurden deren Erfahrungs­ wissen sowie ihre Kompetenzen, die Aufgaben des Deichschutzes zu über 61 So im Spiegel vom 28.2.1962, »Stadt unter«, 17. 62 Zum Konzept der »Vulnerabilität« vgl. FN 44; zu einer globalen und epochenübergreifenden Perspektive vgl. z. B. Schenk, Katastrophen; Mauch, Pfister, Natural Disasters; Bankoff, Cultures of Disaster. 63 Vgl. z. B. Henri Petroski, Success Through Failure: The Paradox of Design. Princeton 2006. 64 Auch Engels betont in seinem Aufsatz mehrfach, dass der Angriff der Natur auf die Zivilisation mit mehr Zivilisation, sprich mit mehr Technik beantwortet wurde. Vgl. Engels, Vom Subjekt, 127. 65 Thomas Buss, Küstenschutzbauwerke. Wie sich die Stadt in Zukunft gegen Sturmfluten schützt, in: Hötte, Die große Flut, 134–141, hier 135. 66 Buss, Küstenschutzbauwerke, 136. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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nehmen, angezweifelt.67 Ähnliches berichtet Sonja Kummetat in diesem Band für die Holland Sturmflut 1953. Auch hier war es zu einer Zentralisierung der Deich­verantwortung gekommen. Bislang gibt es jedoch keine Forschung, die diesen Prozess detailliert in den Blick nimmt, obgleich sich hier interessante Aufschlüsse über das Verhältnis von Erfahrungswissen, Tradition und von Generation zu Generation weitergegebenem Wissen und stärker verwissenschaftlichtem und zentralisiertem Wissen ergeben könnten. Weder wissen wir viel über die genauen Argumente,68 noch über die Konflikte, die Reaktion der Deichvögte und der Deichverbände, noch über die Rolle des Erfahrungswissen in den Behörden, die nun diese Aufgabe übernahmen. Der von Blüthgen und Heßler untersuchte Zeitungsdiskurs thematisiert dies in unterschiedlicher Weise. Zum einen war in der zeitgenössischen Wahrnehmung die Zentralisierung und Verwissenschaftlichung des Deichwesens als Erfolg bezeichnet worden, so vor allem nach der Sturmflut von 1976. Zum anderen lässt sich aus den zeitgenössischen Kommentaren eine Kritik daran ablesen, dass die Abgabe von Zuständigkeiten an die Stadt dazu führe, dass die Bevölkerung noch weniger Wissen über Deiche und Gefahren des Wassers haben werde und zudem die Verantwortung an die Behörden abgebe und damit ihr Risikobewusstsein sinke. Engels bezeichnete diese Gleichzeitigkeit von Zivilisationskritik und technokratischen, man könnte ergänzen verwissenschaftlichten, Lösungen als »Widerspruch«, der den »Zeitgenossen offensichtlich nicht bewusst« war.69 Allerdings verweist es vielleicht weniger auf einen Widerspruch als auf unterschiedliche Diskurse und Akteure innerhalb einer Gesellschaft. Während der Zeitungs­ diskurs 1962 technische Lösungen hinterfragte, setzten die Stadt Hamburg und insbesondere wissenschaftliche Experten und Ingenieure weiterhin auf technische Lösungen. Der Erfolg schien die technische Lösung wiederum zu bestätigen. Denn bis heute hielten die Deiche in Hamburg stand, auch während der Sturmflut von 1976, die höher ausfiel als die von 1962. Entsprechend änderte sich die Bewertung technischer Lösungen im Zeitungsdiskurs nach 1976, wie Blütghen/Heßler in ihrem Beitrag zeigen. Sie wurden nun als großer Erfolg gewertet. Gleichwohl ist auch dieser Befund nicht eindeutig. Vielmehr ver 67 Kristina Sossidi, Die Folgen. Hochwasserschutz in Hamburg nach der Flutkatastrophe, in: Hötte, Die große Flut, 84–89, hier 85. Vgl. hierzu Engels Ausführungen zur Planungseuphorie und der Rolle von Experten: Engels, Vom Subjekt, vor allem 129–131. 68 So formulierte der Abgeordnete Siegfried Krön (SPD): »[…] die Deichverbände sind doch gar nicht in der Lage, ihre Aufgabe nach geltendem Recht zu erfüllen. Sie haben einfach nicht die Mittel, um die Deiche so auszubauen, wie sie ausgebaut sein müssen, um nach menschenmöglichem Ermessen eine Flutkatastrophe, wie sie 1962 über uns hereingebrochen ist, zu verhindern«. Zitiert nach: Herbert Hötte, Reaktionen. Der Hochwasserschutz in den Debatten der Hamburgischen Bürgerschaft, in: ders., Die große Flut, 110–117, hier 113. 69 Engels, Vom Subjekt, 131. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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deutlicht die Analyse des Zeitungsdiskurses, dass diese Vorstellung vom Erfolg technischer Lösungen zwar einerseits als Erfolg gefeiert wurde, zugleich aber Risse bekommen hatte, wie auch die Forschung, und in diesem Band insbesondere Felix Mauch, für die späten 1970er und 1980er Jahre unterstreichen. Menschliche Eingriffe gerieten als Ursache für Katastrophen in den Blick.70 Die technisch vermittelte Naturbeherrschung, der Kampf gegen die Natur mit technischen Mitteln, so nun die Erkenntnis, war nicht automatisch die Lösung, bot nicht selbstverständlich Schutz vor Naturkatastrophen. Vielmehr hätten die ingenieursmäßigen, technokratischen Konzepte des Katastrophenschutzes Probleme verschärft oder überhaupt erst hervorgebracht. Engels sprach in diesem Kontext von der »Konjunktur anthropogener Katastrophenursachen«.71 So wurde auch in Hamburg nach der Sturmflut von 1976 die Flut als menschengemachtes Phänomen diskutiert. Der Abgeordnete Gerhard Moritz Meyer (FDP) überlegte, recht vorsichtig formulierend: »[…] nach unsrem ersten Eindruck […] macht das Ausmaß der Flut vom 3. Januar […] die These, dass zwischen den neuen Schutzbauten und den hoch auflaufenden Sturmfluten ein Zusammenhang bestehe, nicht völlig unwahrscheinlich.«72

Ist also ein Wandel im Mensch-Natur-Technik Verhältnis zu beobachten, so bedeutet dies allerdings keineswegs, dass technokratische Lösungen sowie der Glaube an die technische Prävention verschwanden. Der Blick auf Hamburg zeigt wiederum, dass einerseits innerhalb der Bürgerschaft, insbesondere zwischen 1977 und 1981, über die Möglichkeit eines Sturmflutsperrwerks in der Unterelbe diskutiert wurde, also über das gleiche technokratische Konzept wie in den Niederlanden. 1990 kam das Konzept eines gigantischen Sperrwerks erneut auf die Agenda.73 Und auch heute wird diese Möglichkeit diskutiert. Bislang ist sie vor allem wegen der immensen Kosten und zu erwartender technischer Probleme nicht umgesetzt. Andererseits wurde und wird gleichzeitig in Hamburg das Konzept der Polder debattiert.74 Dabei geht es um die Schaffung von Fluträumen75  – eine Diskussion, die auch die jüngste Flut in ­Bayern und Ostdeutschland wieder begleitete. Gerade die derzeitige Diskussion zeigt erneut, wie konfliktträchtig diese Auseinandersetzungen über das richtige Konzept des Katastrophenschutzes sind und wie unterschiedliche Vorstellungen eines adäquaten und zeitgemäßen Mensch-Natur-Technik-Verhältnisses auf 70 Engels, Vom Subjekt, besonders 137. 71 Ebd. 72 Zitiert nach: Hötte, Reaktionen, 114. 73 Vgl. vor allem: Anna Eisenberg, Ideen. Über das Leben in der Stadt am Meer unter dem Vorzeichen des Klimawandels: Sperrwerk, Tideelbe-Konzept und Stadtteile über dem Wasser, in: Hötte, Die große Flut, 142–151. 74 Eisenberg, Ideen, 145. 75 Ebd., 147. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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einanderstoßen. Der Hamburger Abgeordnete Leonhard Hajen (SPD) hatte 1990 im Kontext der Diskussion um Polder festgestellt: Auf diese Idee »haben die Ingenieure in der Kommission reagiert, als wenn man dem Teufel das Weihwasser zeigt. Offensichtlich geht es nicht in das Gehirn eines Deichbauers, dass es rational sein kann, wenn man Land, das dem Meer einmal abgerungen wurde, freiwillig wieder dem Meer öffnet, um eine Flut abzufangen«.76 Genauere Forschungen zum Mensch-Natur-Technik-Verhältnis im Kontext von Naturkatastrophen wären also notwendig, auch um die Frage nach histo­rischen Kontinuitäten und Wandel zu beantworten. Die Forschung zu Naturkatastrophen ließe sich hier kurzschließen mit Forschungen zu Groß­ projekten und zum Protest gegen diese, in denen sich gleichermaßen das jeweilige Mensch-Natur-Technikverhältnis zeigt. Keineswegs bliebe es damit auf die Haltung und Konzepte der Ingenieure beschränkt, wie Bijker dies in seinem beispielgebenden Aufsatz exemplifiziert hat. Vielmehr wäre gleichfalls die Haltung der Politik und der Bevölkerung zu analysieren, denn gerade hier sind divergierende Konzepte und Diskurse zu erwarten. Für die in der Zeitgeschichtsschreibung diskutierte Zäsur in den 1970er Jahren, die gerade in umwelthistorischer Perspektive häufig thematisiert wird,77 zeigt der detaillierte Blick auf die Hamburger Sturmflut, dass die 1970er Jahre zwar nicht als Bruch in dem Sinne bezeichnet werden, dass von einer eindeutigen Abkehr von technizistischen Lösungen die Rede sein kann, da diese weiterhin verfolgt und umgesetzt werden. Doch werden diese zweifellos zunehmend hinterfragt und vor allem ist eine Pluralisierung der Konzepte, eine Konkurrenz gegensätzlicher Vorstellungen erkennbar. Kontinuitäten, so eines der Ergebnisse des Bandes, ergeben sich aber auch hinsichtlich des Risikobewusstseins. Beispielsweise zeigt eine Studie der Hafen City Universität aus dem Jahr 2009, in der das Wissen und das Risikobewusstsein der Wilhelmsburger untersucht wurde, ein »hohe[s] Vertrauen in die technischen Anlagen des Sturmflut- und Hochwasserschutzes.«78 Auch Sonja Kumme­tats Beitrag in diesem Band verdeutlicht, dass in den Niederlanden die Investitionen in den technischen Katastrophenschutz zu einem trügerischen Gefühl der Sicherheit und zu einem mangelnden Risikobewusstsein geführt hatten. Wurde eine Flut 1991 noch erfolgreich abgewehrt, so kam 1995 eine Flut überraschend für die Niederländer, die sich auf ihre technischen Schutz­ maßnahmen verlassen hatten, über die Flüsse von hinten.79 Und auch für die 76 Zitiert nach Hötte, Reaktionen, 117. 77 Vgl. Patrick Kupper, Die »1970er Diagnose«: Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43, 2003, 325–348. 78 Kareen Kümpel, Risikobewusstsein. Die Sicht auf die Gefahrenzone Wilhelmsburg bei Bewohnern und Verantwortlichen, in: Hötte, Die große Flut, 102–109, hier 109. 79 Vgl. Flut von hinten, Focus, Nr. 6, 2.6.1995. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Niederlande machen Umfragen deutlich, dass die Bevölkerung wenig Risikobewusstsein im Hinblick auf Sturmfluten hat.80 In Hamburg liegen zudem immer mehr Wohnviertel und Gewerbeflächen in potentiellen Überflutungsgebieten.81 Die Hafen City ist hier das prominenteste Beispiel. Wurde sie zwar auf Warften errichtet, so gehen jüngere Prognosen allerdings davon aus, dass dies mittel- und langfristig nicht ausreichen wird. Stadtplaner und Architekten entwickeln daher Ideen einer angepassten Bauweise, z. B. Häuser auf Stelzen oder schwimmende Häuser, kurz »flutan­ gepasste Wohnformen«82, mithin ein Konzept, das zwar eine, um mit Matthias Heymann zu sprechen, größere »environmental coherence« aufweist, indem im Bewusstsein der Flutgefahren gebaut wird bzw. die Möglichkeit der Natur­ katastrophe geradezu der bestimmende Parameter für die Bauten sein soll. Gleichzeitig weisen einige dieser Entwürfe wiederum geradezu gigantische, visionäre Ausmaße auf. So haben Städteplaner um Anna Viader so genannte »fliegende Warften« für die Hamburger Hafen City entworfen, die über den bestehenden Gebäuden errichtet werden sollen. Sie sind einerseits als Rettungswegesystem gedacht. Andererseits soll die Überbauung der jetzigen Häuser Raum für neue Nutzungen geben und auch das Erdgeschoss ersetzen, das im Sinne der Wasserdurchlässigkeit umgestaltet würde.83 In diesen Konzepten wird zwar nicht versucht, das »Wasser rauszuhalten«, wie dies mit gigantischen Sperrwerken geschieht. Aber man gibt das überflutungsgefährdete Gebiet auch nicht auf. Vielmehr sollen Technik und neue Bauweisen genutzt werden, und zwar mit nicht unerheblichem Aufwand, um mit der Möglichkeit einer Naturkatastrophe zu leben. Vielleicht zeigt sich in diesen Konzepten eine neue Dimension der Mensch-Technik-Natur-Verhältnisse.

3. Naturkatastrophen: Zeithistorische Perspektiven Während Naturkatastrophen als historisches Phänomen in allen Epochen – von der Antike bis zur Neuzeit – untersucht werden, ist die Zeitgeschichte auf dieses Thema bislang kaum aufmerksam geworden. Bereits Arno Borst hatte als Mittelalterhistoriker besonders deutlich und früh die Katastrophenvergessenheit der Geschichtswissenschaft in einem viel zitierten Beitrag kritisiert und mit ihrem modernen Selbstverständnis in Verbindung gebracht, wonach für die Moderne Abhängigkeiten von der Natur scheinbar zu vernachlässigen waren.84 80 Vgl. den Beitrag von Kummetat in diesem Band. 81 Buss, Küstenschutzbauwerke, 137. 82 Kümpel, Risikobewusstsein, 107. 83 Eisenberg, Ideen, 150. 84 Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Heymann in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Dies trifft in besonderem Masse auf die Zeitgeschichte zu, in der die Menschen mit gesellschaftlichen und politischen Fragen befasst waren, während die »Natur« auf den ersten Blick keine konstitutive Rolle mehr spielte, zumal in der fortschrittsgläubigen und technikoptimistische Zeit der späten 1950er und 1960er Jahre.85 Hier spiegelt sich vermutlich eine Naturvergessenheit einer sich modernisierenden Nachkriegsgesellschaft, die vor allem mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges beschäftigt war sowie mit den massiven Technisierungs- und Modernisierungsschüben in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch Christian Pfister hat mit Hilfe eines interdisziplinären klimatologischen Ansatzes auf der Basis von statistischen Erhebungen über Naturkatastrophen und Wetterphänomenen eine »Katastrophenlücke im 20. Jahrhundert« diagnostiziert.86 Doch gerade aus zeitgeschichtlicher Perspektive ist eine solche »Katastrophenvergessenheit« nicht allein klimatologisch mit dem Fehlen extremer Naturereignisse und Wetterphänomene zu erklären.87 Vielmehr scheint dafür die dominante Grunderfahrung von Krieg und Gewalt zentral. Die Zeit des Nationalsozialismus, die Erfahrungen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges sowie die Aufarbeitung der DDR-Geschichte absorbierten dementsprechend lange Zeit die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen wie auch der Zeitgeschichtsschreibung.88 Erst in jüngerer Zeit werden dagegen  – vermutlich aus einem stärker gegenwartsbezogenen Problembewusstsein heraus  – Natur- und Umweltphänomene deutlicher sichtbar.89 In den Schlüsselpublikationen des Hamburger Zeithistorikers Axel Schildt zu den 1950er und 1960er Jahren jedenfalls wurden umweltgeschichtliche Fragestellungen noch nicht explizit aufgegriffen. Sie standen in der Zeitgeschichte lange Zeit eher am Rande, obwohl sie »fester Bestandteil alltäglicher Praktiken und politischer Kontroversen« sind, wie Jens Ivo 85 Dass konservative Eliten vor allem in den frühen 1950er Jahren teils einen technikkritischen Ton anschlugen, widerspricht nicht der gesamtgesellschaftlich auch vorhandenen Technikgläubigkeit und Technikfaszination der späten 1950er und 1960er Jahre. 86 Pfister, »Katastrophenlücke«, 244. Vgl. zum gering ausgeprägten europäischen Risiko­ bewusstsein auch: Frank Uekötter, Gibt es eine europäische Geschichte der Umwelt? Be­ merkungen zu einer überfälligen Debatte, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=374. 87 Vgl. zur Häufigkeit von Katastrophen im 20. Jahrhundert und dem Bezug von Naturkatastrophen und historischen Katastrophen: François Walter, Catastrophes. Une histoire culturelle. XVIe–XXIe siècle. Paris 2008, 21–23. 88 Frank Bösch, Jürgen Danyel, Die Zeitgeschichtsforschung und ihre Methoden, in: diess, Zeitgeschichte, Konzepte und Methoden. Göttingen 2012, 9–21, 10; Gabriele Metzler, Zeitgeschichte  – Begriff  – Disziplin  – Problem, in Bösch, Danyel, Zeitgeschichte, 22–46, hier 22. 89 Der Reaktorunfall von Tschernobyl blieb beispielsweise lange Zeit außerhalb der Zeitgeschichtsschreibung und erst vor kurzem hat sich Melanie Arndt mit einer Forschergruppe diesem Schlüsselthema gewidmet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Engels unmissverständlich im Jahr 2006 feststellte.90 Diese Situation hat sich mittlerweile gewandelt, so dass umweltgeschichtliche Ansätze als integraler Bestandteil einer neuen, erweiterten Zeitgeschichte gelten können, die nunmehr eine neue »Umweltzeitgeschichte« fordert und das 20. Jahrhundert zunehmend als eine »Jahrhundert der Umwelt« wahrnimmt.91 Wie dieser Band zu zeigen versucht, ergibt der Blick auf die Hamburger Sturmflut neue Erkenntnisse für die Zeitgeschichte. Insbesondere das Schnittstellenthema des Katastrophenschutzes, der technischen Katastrophenhilfe und des Zivilschutzes sind im Zentrum des Kalten Krieges zu verorten.92 Auch macht das Fallbeispiel der Sturmflut von 1962 deutlich, dass wiederum umgekehrt zum historischen Verständnis einer Naturkatastrophe die Berücksichtigung der gesellschaftlichen und politischen Situation der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft notwendig ist, die sich während und nach einer Naturkatastrophe wie durch ein Brennglas erkennen lassen. Krieg und Militär sind im Kontext der Hamburger Sturmflut in mehrfacher Hinsicht relevant.93 So wird die katastrophale Erfahrung der Sturmflut mit Metaphern und Deutungsmustern aus dem Zweiten Weltkrieg interpretiert und mit den immer noch präsenten Erfahrungen und Erinnerungen an den letzten Krieg in Verbindung gebracht.94 Die schweren Luftangriffe der Operation Gomorrha vom 23. Juli bis 3. August 1943 stellen eine unmittelbare Referenz für die Katastrophensituation der Sturmflut dar.95 Die Bundeswehr versuchte da 90 Jens Ivo Engels, Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13, 2006, 32–38, hier 32; Auch Historiker mit Bezug zur Stadtgeschichte Hamburgs haben dieses Thema lange Zeit nicht behandelt. Die Kulturanthropologin und Dokumentarfilmerin Frauke Paech hat schließlich von 2003–2005 ein Projekt zur erinnerungsgeschichtlichen Dimension der Hamburger Sturmflut durchgeführt, dessen Ergebnisse als Dokumentationsfilm vorliegen. Vgl. Paech, Menschliche Geschichten, 161–173. 91 Melanie Arndt, Umweltgeschichte, in: Bösch, Danyel, Zeitgeschichte, 263–292. Vgl. John R. McNeill, Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2003; Uekötter, Umweltgeschichte, 1. 92 Vgl. dazu die Beiträge von Jochen Molitor sowie Christian Kehrt und Daniel Uhrig in diesem Band. 93 Vgl. zu neueren zeithistorischen Ansätzen in der Militärgeschichte: Jörg Echternkamp, Wandel durch Annäherung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfolges? Zur wissenschaftlichen Anschlußfähigkeit der deutschen Militärgeschichte seit 1945, in: ders., Wolfgang Schmidt, Thomas Vogel (Hrsg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung. München 2010, 1–40; ders., Militärgeschichte, in: Bösch, Danyel, Zeitgeschichte, 293–312. 94 Den historischen Zusammenhang von Kriegserfahrungen und Katastrophenbegrifflichkeiten hat François Walter betont: Catastrophes. Vgl. zum Zeitungsdiskurs im Kontext der Hamburger Sturmflut 1962 Kai Blüthgen und Martina Heßler in diesem Band. 95 In diesem Zusammenhang ist zudem festzustellen, dass bereits die Erfahrungen des Luftkrieges auf der Deutungsebene mit Naturkatastrophen verglichen wurden. Vgl. Niels Gutschow, Hamburg: the »Catastrophe« of July 1943, in: Jeffrey Diefendorf (Hrsg.), Rebuilding Europe’s Bombed Cities. London 1990, 114–130, hier 118; vgl. zur Erfahrung des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gegen auf der Ebene des öffentlichen Diskurses ein neues Soldatenbild zu prägen, das auf kriegerische Konnotationen und Heroismen verzichtete.96 Aber auch hier wurden in der Notsituation der Sturmflut Tugenden propagiert, die ein engeres Zusammenrücken betonten und an Kriegszeiten erinnerten. Innere Geschlossenheit, der Verzicht auf Egoismen und Geschäftssinn und der Primat des unmittelbaren Helfens zählen zu diesen Topoi. Jochen Molitor sowie Christian Kehrt und Daniel Uhrig zeigen mit ihren Beiträgen zur Rolle des Zivilschutzes bzw. der Bundeswehr als »Helfer in Uniform«, welche Bedeutung die Hamburger Sturmflut für diese an sich mit Fragen der Landesverteidigung und des Bevölkerungsschutzes im Krieg befassten Institutionen hatte. Aufgrund des Versagens des Luftschutzes im Zweiten Weltkrieg und der Kriegsmüdigkeit der Deutschen fanden die in die mögliche Zukunft eines Atomkrieges gerichteten Anliegen des Zivilschutzes wenig Zuspruch in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft.97 Die Übergänge zwischen zivilem Katastrophenschutz und Naturkatastrophenschutz waren fließend und standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den möglichen Folgen eines Atomkrieges. Aus Sicht der hier relevanten Akteure galt es, die entsprechenden Vorbereitungen für einen zukünftigen Atomkrieg zu treffen. Das Ereignis der Sturmflut bot deshalb die Chance, die eigentlichen militärischen Interessen der Bundeswehr und des Zivilschutzes zu transportieren und zu popularisieren. Sowohl der Zivilschutz als auch die Bundeswehr profitierten von der positiven öffentlichen Resonanz und Aufmerksamkeitsproduktion der Sturmflut in den Medien. Sie konnten ihre Bedeutung auf einem zivilen Handlungsfeld nachweisen und zugleich die gesellschaftliche Problematik eines Einsatzes in einem zukünftigen Atomkrieg ausblenden. Fragen des Katastrophenschutzes stellen jedoch nur einen Aspekt eines zeitgeschichtlichen Blickes auf Naturkatastrophen dar, die der vorliegende Band anzustoßen hofft. So zeitigte die Aufarbeitung einer Katastrophe weitergehende institutionelle, technische und politische Lernprozesse, die die gesellschaftliche Bombenkrieges Malte Thießen, Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005 (= Forum Zeitgeschichte, Bd. 19). München 2007; ders., Der »Feuersturm« im kommunikativen Gedächtnis. Tradierung und Transformation des Luftkriegs als Lebens- und Familiengeschichte, in: Jörg Arnold, Dietmar Süß, Malte Thießen (Hrsg.), Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 10). Göttingen 2009, 312–331. 96 Vgl. zum postheroischen Soldatenbild: Thorsten Loch, Soldatenbilder im Wandel. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr in Werbeanzeigen, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, 265–281, hier 273; Joan K. Bleicher, Knut Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr, in: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr. 1955 bis 2000. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven. München 2007, 269–290, hier 269; Schildt, Moderne Zeiten, 308–309; Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, 331 u. 348. 97 Vgl. den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Position der Bundeswehr, den Umgang mit der Problematik von Gewalt und Krieg oder den Einsatz der Bundeswehr als Katastrophenhelfer im Innern und die damit einhergehende Notstandsgesetzgebung betrafen und die noch weiter zu erforschen wären. Das Fallbeispiel der Hamburger Sturmflut ist zweifelsohne eng mit der Situation der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft verwoben. Auch moderne Massenmedien spielten eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung und Erinnerung von Katastrophen. Die neuere Kulturgeschichte des Krieges hat verdeutlicht, dass Bilder der Nation eng mit der medialen Darstellung von Kriegsereignissen verknüpft sind.98 Auch Naturkatastrophen sind Medienereignisse, die oftmals im Rahmen der Nation angeeignet und gedeutet werden.99 Dies haben insbesondere Christian Pfister für die Schweiz und Martin Döhring anhand der Analyse des Oderhochwassers von 1997 gezeigt. Allerdings lassen sich nationale Identitäten und Befindlichkeiten zur Zeit der Hamburger Sturmflut 1962 nur bedingt mit der Situation nach der Wiedervereinigung 1989/90 und den danach stattfinden Naturkatastrophen vergleichen. Hier eröffnet die Frage nach der öffentlichen Wahrnehmung und medialen Darstellung von Naturkatastrophen und Katastrophenschutz ein neues Forschungsfeld. Lassen sich vergleichbare Muster eines technikzentrierten und naturvergessenen Zugangs auch in anderen europäischen Ländern wie etwa Großbritannien nachweisen, das im gleichen Zeitraum ebenfalls von Sturmfluten getroffen wurde? Erste Vergleichspunkte hat hier der Blick auf Holland und seine technokratische Antwort auf die Naturgefahren gebracht. Von besonderem Interesse wären aber weitere vergleichende Studie und insbesondere Monografien sowohl in diachroner als auch Länder, Regionen und Kulturen vergleichender Hinsicht, um Kontinuitäten und Wandel im Umgang mit Naturkatastrophen erforschen und das jeweilige Natur- und Technikverständnis thematisieren zu können. Wie gehen nicht-europäische Gesellschaften mit Naturgefahren um? Lässt sich die von Greg Bankoff100 am Beispiel der Philippinen und auch Kubas fest 98 Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004; Bernhard Chiari, Matthias Rogg, Wolfgang Schmidt, Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts (= Beiträge zur Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.  59). München 2003; Echternkamp, Militärgeschichte, 293–312, hier 303; Ute Daniel, Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2006; Ute Daniel, Jörg Leonhardt, Martin Löffelholz, Themenheft »Militär und Medien im 20. Jahrhundert«, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 2011, H 1. 99 Vgl. Martin Döring, »Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel«. Die metaphorisch mediale Konstruktion eines wiedervereinigten Deutschlands in Zeiten der Oderflut 1997, in: Groh, Kempe, Mauelshagen, Naturkatastrophen, 299–325; Christian Pfister, Von Goldau nach Gondo. Naturkatastrophen als identitätsstiftende Ereignisse in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, in: ders., Stephanie Summermatter (Hrsg.), Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen (Berner Universitätsschriften). Bern u. a. 2004, 53–78. 100 Bankoff, Cultures of Disaster. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gestellte geringere Anfälligkeit dieser Katastrophenkulturen, die ohne moderne Technik angeblich besser mit dem Risiko von Sturmfluten zu leben verstehen, in weiteren Fallstudien belegen? Oder werden auch in Afrika, Asien oder Mittelamerika technokratische Ansätze des Katastrophenschutzes übernommen, wie wir dies aus Hamburg oder Holland kennen? Gerade globalgeschichtliche Studien eröffnen hier neue und erst ansatzweise genutzte Erkenntnischancen.101 Eine weitere bislang kaum behandelte Frage ist das alltägliche Verhalten von Menschen in Ausnahmesituationen, wenn gewohnte Muster und Routinen, Infrastrukturen und staatliche Versorgungsleistungen nicht mehr greifen und ad hoc Improvisationen notwendig werden – ein Forschungsfeld, das für zeithistorische Fragestellungen von Interesse ist. So konnte David E. Nye in einer wegweisenden Studie über Blackouts in New York nachweisen, dass der Umgang der Bevölkerung mit Katastrophen ganz wesentlich von ihrer politischen, ökonomischen und sozialen Situation abhängt.102 Naturkatastrophen aus zeitgeschichtlicher Perspektive zu betrachten, stellt ein viel versprechendes, zukünftiges Forschungsfeld dar, dessen Potentiale noch lang nicht ausgeschöpft sind.

101 Vgl. Mauch, Pfister, Natural Disasters. 102 Während zu Zeiten des Booms und der wirtschaftlichen Prosperität die New Yorker Bevölkerung den großflächigen Stromausfall im Jahr 1965 gelassen als Anlass für außeralltägliche Feierlichkeiten und insgesamt als Bestätigung eines intakten Gemeinsinns wahrnahmen, führte der Stromausfall in der krisenhaften Zeit des Jahres 1977 zu Plünderungen und Übergriffen. Vgl. David E. Nye, When the Lights Went Out. A history of blackouts in America, Cambridge, Mass. 2010. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

»[…] Nee, da war ich viel zu kaputt. Ab ins Bett! Nachts kam dann meine Mutter, weckt mich und sagt immer: ›Otto, Otto! Der schreit um Hilfe‹ Ich sag: ›Das kann doch nicht angehen.‹ Meine Mutter: ›Ja, wir haben Wasser, Hochwasser!‹ Ich sag: ›Hochwasser? Du hast ja wohl auch Hochwasser […] Muss ich zur Arbeit?‹ ›Nee.‹ ›Ja, was willst du denn?‹ ›Ja‹, sagt sie, ›wir haben Hochwasser, Otto, dein Bruder, schreit.‹ Dann bin ich zum Fenster, guck raus, sehe nichts, weil ich noch verschlafen war und leg mich wieder hin. Sagt sie: ›Nun steh doch auf, Otto schreit.‹ Ich wieder hoch und sage: ›Das kann doch nicht angehen.‹ ›Steh auf, Otto schreit!‹ Da guck ich noch mal raus, spiegelglatte See, al­ les Wasser, war der Mond da drin zu sehen. Und dann hör ich meinen Bruder rufen, so Hilferufe, und dann war ich aber in den Schuhen drin! […]« Aus: Raymond Ley, Die Nacht der großen Flut. Gespräche mit Zeitzeugen und HelmutSchmidt. Ellert & Richter Verlag Hamburg 2006, S. 80. Gespräch mit dem damals 17-jährigen Gerd Piechowiak, der mit seiner Mutter in Niedergeorgswerder auf der Elbinsel Wilhelmsburg lebte. Sein Bruder Otto lebte in der benachbarten Gartensiedlung.

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Dieter Schott

Naturkatastrophen und städtische Resilienz Die Hamburger Sturmflut im Kontext städtischer Naturkatastrophen der Neuzeit1

1. Zwei Katastrophen – unterschiedliche Resilienz: Messina Am 5. Februar 1783 zerstörte ein Erdbeben die sizilianische Hafenstadt Messina, 700 der 40.000 Einwohner kamen dabei ums Leben. Das Feuer, das den Erdstößen folgte, verheerte große Teile der noch vorhandenen Bausubstanz.2 Auch wenn Goethe bei seinem Besuch vier Jahre nach dem Beben Messina noch vorrangig als Ruinenlandschaft wahrnahm3, so regte sich doch neues Leben in diesen Ruinen. Gestützt auf die Proklamation Messinas als Freihafen durch König Ferdinand IV. von Bourbon im Jahr 1784, setzte ein rascher Wiederaufbau ein. Dieser modernisierte einerseits die Stadtstruktur ökonomisch und funktional, andererseits ließ er Messina sehr rasch wieder zu bedeutenden Hafen- und Handelsstadt werden. Das Erdbeben erwies sich, nachdem Messina im zurückliegenden »Schwarzen Jahrhundert« mehrfach durch Katastrophen und Kriege 1 Dieser Text beruht zu erheblichen Teilen auf einem früheren Aufsatz des Verfassers: Dieter Schott, Resilienz oder Niedergang? Zur Bedeutung von Naturkatastrophen für Städte in der Neuzeit, in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Stadt und Stadtverderben. 47. Arbeitstagung in Würzburg, 21.–23. November 2008 (= Stadt in der Geschichte, Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Archivkreises für Stadtgeschichtsforschung, Band 37). Ostfildern 2012. ­11–32. Ich danke dem Thorbecke-Verlag für die Genehmigung zur Verwendung. 2 Vgl. Michael D’ Angelo, Marcello Sajia, A City and two Earthquakes: Messina 1783– 1908, in: Geneviève Massard-Guilbaud, Harold L. Platt, Dieter Schott (Hrsg.), Cities and Catastrophes/Villes et catastrophes. Coping with Emergency in European History. Frankfurt a. M. u. a. 2002, 123–140; Rolf Wörsdörfer, Drei Dimensionen einer Katastrophe: Natur, Technik und Gesellschaft am Beispiel der Erdbebenregion von Messina und Reggio Calabria (1783–1988), in: Michael Farrenkopf, Peter Friedemann (Hrsg.), Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte. Bochum 2008, 69–88. 3 Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 11. 3. Aufl. Zürich 1977, 329. Zum ›Ruinenkult‹ vgl. auch Peter Geimer, Messina 1783 – Das Beben der Repräsentationen, in: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zur ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, 189–200. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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hart getroffen worden war, letztlich als eine große Chance und leitete den fulminanten Wiederaufstieg Messinas zu einer der führenden Hafen- und Gewerbestädte im südlichen Mittelmeer ein.4 Ein erneutes Erdbeben vom 28. Dezember 1908 beendete diese Blütezeit jäh: Diesmal war wegen des Zeitpunkts und der Stärke des Bebens die Opferzahl wesentlich höher: 70.000 Einwohner starben, fast 50 % der Bevölkerung, rund 90 % der Gebäude waren zerstört.5 Erschwerend kam die fast vollständige Zerstörung der (modernen) technischen Infrastruktur hinzu; Eisenbahn- und Straßenverbindungen waren unpassierbar, die Zerstörung der Telegraphenverbindung erschwerte rasches Herbeiholen auswärtiger Hilfe. Die Überlebenden erreichte jedoch eine Welle internationaler Solidarität; insbesondere in den USA bildeten sich zahlreiche Hilfskomitees ausgewanderter Sizilianer, die große Spenden mobilisierten. Trotzdem scheiterte das Wiederaufbau-Programm der lokalen Elite, rasch nach dem Beben formuliert, an einer Reihe von Faktoren, darunter nicht zuletzt der Erste Weltkrieg, aber auch die Machtergreifung des Faschismus. Zwar wurde Messina mittelfristig in großen Teilen wieder aufgebaut, aber die Stadt verlor unwiderruflich ihre ökonomische Zentralität und gewann keine neue, die Stadtentwicklung prägende Identität.6 Die Ursachen dafür, warum sich Messina einmal erholte und zu neuer Blüte fand, im zweiten Fall nach 1908 langfristiger Niedergang die Folge der vom Typ her vergleichbaren Katastrophe war, hängen – neben Problemen lokaler Korruption und Obstruktion – zu erheblichen Teilen auch von Konjunkturen und Konstellationen der politischen Geschichte auf nationaler und internationaler Ebene ab.

2. Resilienz im Unglück? Fragen aus der Doppelkatastrophe von Messina für eine Geschichte städtischer Naturkatastrophen Das Beispiel Messina verweist auf die prinzipielle Ambivalenz der Wirkung von Katastrophen für Städte. Selbstverständlich implizieren Naturkatastrophen aus Sicht der zeitgenössisch Betroffenen immer tragische Folgen, bedeuten Verlust an Menschenleben, traumatisierende Verletzungen und Verstümmelungen sowie Vermögenschäden oder -verluste. Aber aus der Perspektive langfristiger Stadtentwicklung zeigt sich eine große Bandbreite von Reaktionsweisen, wie Katastrophen erfahren, verarbeitet und überwunden wurden. Die Geschichte städtischer Naturkatastrophen demonstriert, dass Städte als sozial-materielle Systeme offenbar, ganz ähnlich wie natürliche Systeme, eine ih

4 Vgl. Angelo, Sajia, Messina, 133. 5 Ebd., 134. 6 Ebd., 136–139. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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nen inne­wohnende Fähigkeit zur Regeneration, zur ›Reparatur‹ unter Mobilisierung eigener Ressourcen, zur Rückkehr zu einem früheren vor-katastrophalen Zustand besitzen. Diese Fähigkeit zum ›Zurückfedern‹ möchte ich hier unter dem Begriff ›Resilienz‹ diskutieren, ein Begriff, der in der angelsächsischen Debatte über Naturkatastrophen mittlerweile eingeführt ist. Ein unter dem Eindruck des 11. September 2001 entstandener Sammelband trägt den Titel »The Resilient City. How Modern Cities Recover from Disaster«.7 Die Herausgeber Vale und Campanella unterstreichen die erstaunliche Fähigkeit von Städten, sich nach Katastrophen und umfangreichen Zerstörungen wieder zu regenerieren und betonen, dass zwischen dem Jahr 1100 und 1800 weltweit nur 42 Städte nach einer Katastrophe aufgegeben wurden und nach 1800 fast keine Stadt nicht wieder aufgebaut wurde.8 Die Beobachtung, dass Städte ›Resilienz‹, vielleicht als Selbstregenerationsfähigkeit zu übersetzen, besitzen, beantwortet für den Stadthistoriker aber natürlich noch nicht die Frage nach der konkreten Bedeutung von Naturkatastrophen für Städte.9 Dieser Beitrag wird anhand einiger prominenter Beispiele städtischer Naturkatastrophen in der Neuzeit nach der inhaltlichen Bestimmung der Resilienz fragen: Inwiefern nahmen Städte nach Katastrophen den vorher von ihnen verfolgten Entwicklungspfad wieder auf, wurde dieser geändert oder ganz verlassen, was trat an dessen Stelle? Ging es ›nur‹ um (weitgehend unveränderte) Wiederherstellung des Zerstörten oder wurde die Zerstörung auch als Chance, als Gelegenheit umfassender Veränderungen wahrgenommen und genutzt? Dabei soll, vor der Formulierung allgemeiner Thesen, die Hamburger Sturmflut-Erfahrung und deren Konsequenzen etwas breiter gewürdigt werden. Welche Bedeutung kommt Stadt auf einer prinzipiellen Ebene in der Situation von Naturkatastrophen zu? Eine elementare Funktion von Stadt, wie sie in berühmten Quellen der europäischen Stadtgeschichte, etwa dem berühmten Freiburger Stadtrecht von 1120 des Zähringer-Grafen Konrad oder im Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die ›Gute und Schlechte Regierung‹ im Palazzo Pubblico von Siena dargestellt wird10, ist die eines Schutzraums für ihre Einwohner, ein Raum, in dem üblicherweise ein höheres Maß von Schutz 7 Lawrence J. Vale, Thomas J. Campanella (Hrsg.), The Resilient City. How modern cities recover from disaster. Oxford 2005. 8 Diess.: Introduction. The Cities rise again, in: The Resilient City, 3. 9 Die Wiederherstellungsfähigkeit von Städten nach Zerstörungen wurde etwa eindrucksvoll in den von Martin Körner im Auftrag der »International Commission for Urban History« herausgegebenen drei Bänden ›Stadtzerstörung und Wiederaufbau‹ dokumentiert. Vgl. zum Überblick Martin Körner, Thema, Forschungsstand, Fragestellung und Zwischenbilanz, in: ders. (Hrsg.), Stadtzerstörung und Wiederaufbau/Destruction and Reconstruction of Towns. Bd. 1, Zerstörung durch Erdbeben, Feuer und Wasser/Destruction by Earthquakes, Fire and Water. Bern u.a.1999, 7–42, bes. 12 f. 10 Vgl. Franziska Schmieder, Die mittelalterliche Stadt. Darmstadt 2005, 84/5; Chiara Frugoni, Pietro und Ambrogio Lorenzetti. Florenz 1988, 65–78. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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und Sicherheit vor äußeren menschlichen wie auch tierischen Feinden herrscht. Naturkatastrophen bedeuten daher eine fundamentale Infragestellung dieser Funktion von Stadt als Schutzraum. Städtische und staatliche Obrigkeiten sehen sich beim Eintreten von Naturkatastrophen mit der unabweisbaren Erwartung der städtischen Bevölkerung konfrontiert, Rettungsmaßnahmen effizient durchzuführen und Maßnahmen zu treffen, eine Wiederholung solcher Katastrophen zu vermeiden bzw. deren Folgen zu begrenzen. Geschah dies nicht, so war auch ihre Legitimation untergraben.11 Naturkatastrophen stellen also die Frage nach starker, energischer und effizienter Führung, verleihen solcher Führung auch häufiger vorübergehend oder auf Dauer außerordentliche Macht. Die hier näher behandelten Beispiele sind nicht in einem streng sozialwissenschaftlichen Sinne vergleichbar, sie stellen vielmehr Einzelfälle umfangreicher Zerstörung und Beeinträchtigung städtischer Substanz aus unterschiedlichen zeitlichen Perioden und mit jeweils unterschiedlichen naturalen Ursachen dar. Ausgewählt wurden sie, weil sich darin die je verschiedene Ausprägung des Verhältnisses von staatlich-obrigkeitlicher Steuerung der Reaktion auf die Katastrophe und des Wiederaufbaus im Verhältnis zu stärker privaten, zivilgesellschaftlichen Kräften ebenso thematisieren lässt wie die veränderte Bedeutung von Technologie als  – wie im Fall Hamburg  – einerseits katastrophenverschärfend, andererseits dann aber neue Potentiale der Katastrophenprävention ermöglichend. Was soll hier unter Naturkatastrophen verstanden werden? Die Natur, so mittlerweile in Anlehnung an ein Zitat von Max Frisch der Konsens der Forschung, kennt keine Katastrophen.12 Was wir »Naturkatastrophen« nennen, 11 Das vollständige Versagen staatlicher Stellen im Umgang mit dem Erdbeben in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince im Januar 2010 unterstreicht diese Aussage; der ohnehin schwache und ineffiziente Staat sah sich außerstande, die Organisation der Hilfsleistungen abzuwickeln; erst der massive Einsatz von US-Soldaten konnte die Situation einigermaßen stabilisieren. 12 Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Frankfurt a. M. 1979, 103, zit. nach Christian Pfister, Naturkatastrophen und Naturgefahren in geschichtlicher Perspektive. Ein Einstieg, in: ders. (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000. Bern u. a. 2002, 11–25, hier 12. Seit gut zehn Jahren hat sich die historische Forschung zu Naturkatastrophen zu einem blühenden Zweig der Geschichtswissenschaft entwickelt, wobei kulturhistorische Fragestellungen überwiegen. Die Nennung einiger neuerer Sammelbände muss daher genügen. Mit globaler Perspektive Christof Mauch, Christian Pfister (Hrsg.), Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies toward a Global Environmental History. Lanham u. a. 2009; Gerrit J. Schenk, Jens Ivo Engels (Hrsg.), Historical Disaster Research. Concepts, Methods and Case Studies/Historische Katastrophenforschung. Begriffe, Konzepte und Fallbeispiele, in: Historical Social Research/ Historische Sozialforschung 32, 2007, 3; mit städtischer Perspektive Andreas Ranft (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne. Göttingen 2004; Literaturüberblick zu ›Stadt und Katastrophe‹ Dieter Schott, Die Rolle von Katastrophen in der (Stadt-)Geschichte. Forschungsbericht, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2003, 39–50. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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sind in naturwissenschaftlicher Sicht lediglich Extremereignisse, die – wenn sie auf in verdichteten Einheiten, eben Städten, lebende Menschen treffen, für diese katastrophale Folgen zeitigen können. Einer der führenden amerikanischen Katastrophenforscher, David Alexander, definiert »disaster« als »…extreme geophysical events (which) act upon human vulnerability and risk-taking to produce casualties and damage«.13 Damit ist einerseits der Anteil der Natur am Geschehen, andererseits der Aspekt menschlicher Betroffenheit und menschlichen Risikoverhaltens angesprochen, durch die ein Natur-Ereignis zur NaturKatastrophe wird. Trotz dieser berechtigten Einwände wird der Begriff weiter verwendet, erlaubt er doch, Katastrophen, die nicht per se menschlichem intentionalen Handeln entspringen, von solchen zu unterscheiden, die klar aus gesellschaftlichen Faktoren resultieren wie Kriegen oder Wirtschaftskrisen.14

3. Das große Londoner Feuer von 1666: Verpasste Chance oder funktionale Modernisierung? Das ›Great Fire‹ von London 166615 zerstörte innerhalb von vier Tagen aufgrund eines sehr starken Ostwinds nach langer Trockenheit rund 80 % der Fläche der 13 David Alexander, Confronting Catastrophe. New perspectives on natural disasters, Harpenden 2000, 227; vgl. auch Christof Mauch, Introduction, in: Mauch, Pfister, Natural Disasters, 1–16, 4. 14 Gleichwohl findet man auch in der subjektiven Bewältigung katastrophaler Folgen von nicht-naturalen Ereignissen wie Kriegen und schweren Krisen, dass diese sprachlich häufig mit Naturereignissen gleichgesetzt wurden. Niels Gutschow beobachtet dies etwa an Diskursen über die Zerstörung Hamburgs im Bombenkrieg 1943: Niels Gutschow, Hamburg: the ›Catastrophe‹ of July 1943, in: Jeffrey Diefendorf (Hrsg.), Rebuilding Europe’s Bombed Cities. London 1990, 114–130, 118. 15 Ein Stadtbrand ist natürlich nicht notwendig ein Naturereignis, weil er seinen Ursprung zunächst in den meisten Fällen (außer Blitzschlag) in menschlicher Unachtsamkeit in dicht besiedelten Gebieten hat. Aber ohne natürliche Umstände wie extreme Trockenheit und starke Winde entwickelte sich aus den in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten sehr häufigen Bränden kein Großbrand. Zu Stadtbränden in der vormodernen Stadt zusammenfassend jüngst Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011, bes. 74–119; vgl. auch Christopher Friedrichs, The Early Modern City. 1450–1750. London 1995, der Stadtbrände als eines der größten Risiken für frühneuzeitliche Städte sieht, S.  276; zu Stadtfeuern in England vgl. Eric L. Jones, M. Turner, A Gazetteer of English Urban Fire Disasters, 1500–1900. Norwich 1984. Insbesondere skandinavische Städte mit ihrem weit überwiegend hölzernen Baubestand waren sehr häufig betroffen. Sven Lilja weist für schwedische Städte vor dem 19. Jahrhundert 238 größere Stadtbrände nach, davon allerdings 94 im Zusammenhang mit Kriegen. Sven Lilja, Wooden Towns on Fire. Fire Destruction and Human Reconstruction of Swedish Towns prior to 1800, in: Körner, Stadtzerstörung, Bd. 1, 255–275, Tab. S. 275. Für Asien Lionel Frost, Coping in their own way: Asian cities and the problem of fires, in: Urban History, 24, 1997, 5–16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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City of London16: Mehr als zwei Quadratkilometer Stadtfläche vom Tower im Osten bis Temple im Westen fielen in Schutt und Asche, über 13.000 Häuser, 87 Kirchen. 80.000 Menschen, ein Sechstel der Einwohner Londons, verloren ihre Behausung.17 Erstaunlich, mittlerweile aber auch bezweifelt, ist die geringe Zahl von offiziell nur acht Todesopfern. Die ein Jahr zuvor in London grassierende Pest hatte im Vergleich dazu über 80.000 Menschenleben gefordert.18 Wichtig für den Umgang mit der Katastrophe war, dass zahlreiche Londoner größere Teile ihres Besitzes retten konnten. Dennoch war der materielle Schaden gewaltig, er wurde auf zehn Millionen Pfund geschätzt, etwa 2 % des nationalen Kapitalstocks.19 Wie reagierte London nun auf diese Herausforderung? Nicht zuletzt der Verlauf des »Great Fire« hatte die Notwendigkeit unter Beweis gestellt, die Stadtstruktur grundlegend zu modernisieren.20 Zeitgenössische Experten stimmten überein, dass der Wiederaufbau nicht nur eine solche Katastrophe für die Zukunft ausschließen, sondern auch dem stark angewachsenen Verkehr Rechnung tragen solle. Bereits wenige Tage nach dem Brand wurden der Lon­doner Öffentlichkeit eine Flut von Plänen prominenter Zeitgenossen wie u. a. von John Evelyn und Christopher Wren präsentiert, die für mehr oder weniger radikale Umgestaltungen der Hauptstadt plädierten. Einige dieser Pläne zeigen den Einfluss

16 Vgl. zum ›Great Fire‹ insbesondere Stephen Porter, The Great Fire of London. Godalming 1998; Derek Keene, Fire in London: Destruction and Reconstruction, A. D. ­982–1676, in: Körner, Stadtzerstörung, Bd. 1, 187–211; T. Baker, London. Rebuilding the City after the Great Fire. Chichester 2000; Peter Ackroyd gibt in seiner London-Biographie dem ›Great Fire‹ die Bedeutung eines Schwellen-Ereignisses, das einen fundamental anderen Umgang mit der Stadt und ihren Problemen, nämlich einen aufgeklärt-rationalen und diesseitig-ordnenden zur Folge hatte. Peter Ackroyd, London. The Biography. London 2000, ­217–226, bes. 226. 17 Zum Ausmaß der Zerstörung siehe den zeitgenössischen Plan von V. Hollar, ab­ gedruckt in Porter, Great Fire, 68/69. 18 Acht Todesopfer nach Keene, Fire, 192; Baker, London, bezeichnet die These von der niedrigen Zahl von Todesopfern als »urban myth«, ohne allerdings konträre Belege anzuführen, Zahl der Pestopfer nach R. Tames, Great Plague and Fire. London in Crisis, Oxford 1999, 17. 19 Keene, Fire, S. 192; Porter, Great Fire, 71–73. Der Wert des in den Tower verbrachten und dort geretteten Vermögens wurde auf 1,2 Mio Pfund geschätzt, 74. 20 Die engen Straßen Londons hatten nicht nur zur raschen Ausbreitung des Feuers über den eigentlich als Schneise wirkenden Straßenraum beigetragen, häufig ragten Gebäude oberhalb des Erdgeschosses mit hölzernen Aufbauten in den Straßenraum vor. Der Versuch zahlreicher Londoner, Hab und Gut vor dem sich ausbreitenden Feuer zu retten, hatte zu einer vollständigen Verstopfung der Straßen geführt, was auch die Löscharbeiten erheblich behinderte. Vgl. zur Situation Londons im 17. Jahrhundert. Jeremy Boulton, London 1540–1700, in: Peter Clark (Hrsg.), The Cambridge Urban History of Britain. Vol. II ­1540–1840. Cambridge 2000, 315–346. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zeitgenössischer europäischer Stadtplanung, besonders von Rom und Paris.21 Insbesondere der Plan von Christopher Wren verband eine als schön erachtete städtebauliche Gesamtstruktur mit einem Verständnis für die wirtschaftlichen Funktionsmechanismen Londons.22 Der erste wirksame Schritt zum Wiederaufbau ging jedoch vom König aus. Am 13. September, nur acht Tage nach Abklingen des Feuers, markierte eine königliche Proklamation Eckpunkte eines zukünftigen Wiederaufbaus. Charles  II. erklärte, dass die Krone das besonders wichtige Custom House wieder aufbauen würde, dekretierte, dass neue Straßen breiter angelegt werden sollten und dass ein durchgängiger Kai entlang der Themse geschaffen werden sollte. Ein Inventar in den Ruinen sollte Grundstücksgrenzen und Eigentümerstrukturen feststellen, um Streitigkeiten zu reduzieren. Außerdem wurde London für sieben Jahre von der ›Hearth Tax‹, der Feuerstätten-Steuer befreit, um Mittel für den Wiederaufbau zu mobilisieren.23 Trotz dieser königlichen Tatkraft zeigte sich rasch, dass der historische Kontext für eine radikale Neugestaltung Londons nicht günstig war: Noch wirtschaftlich geschwächt von der Pestepidemie seit 1665 führte England Krieg gegen die Niederlande wegen der ›Navigation Acts‹ und brauchte daher dringend Geld24; London war die »Geldmaschine« des Landes, die Hauptstadt erwirtschaftete 50 % der normalen Staatseinnahmen.25 Daher war es in fiskalischer Hinsicht unabdingbar, London so rasch wie möglich wieder zu normaler wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zurückzuführen. Aber auch die politische Autorität der Regierung war nicht unhinterfragt: Charles II., erst seit 1660, dem Ende der republikanischen Commonwealth-Periode König, wurde katho 21 Vgl. Porter, Great Fire, 97–103. In vielen Plänen manifestiert sich die in der theore­ tischen Städtebauliteratur einflussreiche Diskussion über ›Idealstadt‹, vgl. Hans-Walter Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15.  bis zum 18. Jahrhundert. München 1989; Wolfgang Braunfels, Abendländische Stadtbaukunst. Herrschaftsform und Baugestalt. Köln 1976; Spiros Kostof, The City Shaped. Urban Patterns and Meanings through History. London 1991, bes. Kap. 4 »The Grand Manner«, 209–275. 22 So Keene unter Verweis auf eine Arbeit zu ›urban design‹ in den Wiederaufbauplänen v. J. Hanson, Keene, Fire, 200. 23 Keene, Fire, 200. Die finanzielle Unterstützung seitens des Monarchen durch zeitlich befristeten Verzicht auf bestimmte Steuereinnahmen war ein typisches Instrument früh­ neuzeitlicher Katastrophenhilfe, vgl. auch Körner, Stadtzerstörung, Bd.  3. Bern 2000, 31f; Geneviève Massard-Guilbaud, Introduction: the Urban Catastrophe  – Challenge to the social, economic and cultural order of the city, in: Massard-Guilbaud u. a., Cities, 25 ff. 24 Die Niederlande hatten Mitte des 17. Jahrhunderts einen großen Teil des maritimen Zwischenhandels monopolisiert, auch zwischen England und seinen nordamerikanischen Kolonien. Dieser Zwischenhandel sollte durch die ›Navigation Acts‹ ausgeschaltet werden, was 1665 zum Krieg führte. Zugleich galten die (republikanischen) Niederlande aber auch als natürliche Verbündete der Puritaner in England, vgl. Jonathan Scott, Englands Troubles. Seventeenth Century English Political Instability in European Context. Cambridge 2000, 425. 25 Keene, Fire, 200. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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lischer Sympathien bezichtigt. Die Kaufmannschaft der City of London hatte im Bürgerkrieg auf der Seite des Parlaments gestanden und auch die Hinrichtung von Charles I., des Vaters von Charles II., betrieben.26 Unter den Londoner Kauf­leuten befürchtete man, der König würde die Gelegenheit des ›Great Fire‹ nutzen, um sich eine ihm genehme Hauptstadt zu schaffen, in politischer wie städtebaulicher Hinsicht.27 Prohibitiv für eine grundlegende Umgestaltung wirkten aber insbesondere die enormen Kosten. Eine durchgängig modernisierte Stadtstruktur, egal nach welchem Plan, hätte eine vollständige Neuparzellierung impliziert, und dies hätte vorausgesetzt, dass alle Grundstücke erst einmal aufgekauft, vermessen und dann wieder an die Bauwilligen hätten verkauft werden müssen. Zudem war zu bedenken, dass noch gar kein Kataster existierte, dieser vielmehr erst in Folge des ›Great Fire‹ erstellt wurde. Die für ein derart tiefgreifendes Programm notwendigen Gelder waren jedoch nicht verfügbar, da sich das Parlament weigerte, hierbei die Corporation of London zu unterstützen.28 Auch die Zeitnot angesichts des Krieges mit den Niederlanden spielte gegen ein solches Radikalprogramm. Dennoch wäre es verfehlt, von einer »verpassten Gelegenheit«29 zu sprechen, denn neben und unterhalb der weitgehenden Kontinuität hinsichtlich des Straßennetzes vollzogen sich wichtige Modernisierungen im Wiederaufbau. So schuf der im Februar 1667 vom Parlament verabschiedete »Rebuilding Act« einen rechtlichen und finanziellen Rahmen für den Wiederaufbau. Seine Standardisierung auf drei Typen von Häusern, die sich abhängig von Breite und Bedeutung der Straßen hinsichtlich der Zahl und Höhe der Stockwerke unterschieden, verlieh London nach dem Feuer ein wesentlich einheitlicheres Aussehen. Zugleich kreierte diese Standardisierung eine Architekturmode, die bald auch in anderen englischen Städten begierig nachgeahmt wurde.30 Aus der Erfahrung des ›Great Fire‹ wurden Maßnahmen der Brandprävention wie Brandmauern, feuerresistente Baustoffe und das Verbot von hölzernem Zierrat an der Fassade bekräftigt und ausgebaut, das englische »Sash-Window«, das nicht ausklappbar, sondern nur hochzuschieben ist, geht auf Prämissen der Feuerprävention zurück: ausgeklappte Fenster hatten bei Stadtbränden das Feuer weiter 26 Vgl. P. Steward, The Restoration. Basingstoke 1991; zur ›Feindschaft‹ zwischen London und den Stuarts vgl. Porter, Great Fire, 87. 27 Als dies nicht gelang, wandte Charles seine Sympathien und seine Ressourcen der Verschönerung von Schlössern wie Windsor außerhalb Londons zu, vgl. Toby Barnard, Restoration or Initiation, in: Jenny Wormald (Hrsg.), The Short Oxford History of the British Isles: The Seventeenth Century, Oxford 2008, 117–48, hier 145. 28 Porter, Great Fire, 104 f. 29 Vgl. Porter, Great Fire, 165, der diese bereits im frühen 18. Jahrhundert einsetzende Kritik am Wiederaufbau nachzeichnet. 30 Vgl. Michael Reed, The Urban Landscape 1540–1700, in: Clark, Cambridge, 289–314, hier 310. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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angefacht.31 Das für Häuser des 16. und frühen 17. Jahrhundert (»Tudor«) noch so charakteristische Auskragen der höheren Stockwerke wurde für Neubauten strikt untersagt. Märkte und den Verkehr störende Verkaufsstände wurden von wichtigen Durchgangsstraßen auf spezielle Plätze verlegt, Engpässe in Straßen wurden beseitigt. Schließlich resultierte aus dem Feuer auch ein neues Denken über die Stadt: Anstelle des vor dem Feuer vorfindlichen Gewirrs ineinander verschachtelter, sich durchdringender Häuser dominierte nun die Vision einer Stadt als ein Ensemble getrennter, in sich selbst abgeschlossener, aber miteinander in Beziehung stehender Einheiten, strukturell ähnlich den zeitgenössischen Vorstellungen der »machina mundi« wie sie unter den Naturphilosophen der Epoche gängig waren.32 Dank dieser Beschränkung auf das Machbare erfolgte der Wiederaufbau in bemerkenswertem Tempo: Nach gewissen Anfangsschwierigkeiten setzte er bereits 1668 mit großer Dynamik ein; 1671 war der Wiederaufbau funktional wichtiger Gebäude wie der Guildhall, der Royal Exchange und des Custom House abgeschlossen, ein Jahr später waren 8.000 Häuser oder über 60 % der zerstörten Gebäude wieder aufgebaut, 1676, zehn Jahre nach dem Great Fire, war der zivile Wiederaufbau im Wesentlichen komplett.33 Deutlich später fand der Wiederaufbau der Kirchen seinen Abschluss, Christopher Wrens berühmtestes Werk, die St. Paul-Kathedrale etwa erst 1710.34 Der enorme wirtschaftliche Erfolg Londons in den zwei Jahrhunderten nach dem Great Fire belegt letztlich, dass die im Wiederaufbau geschaffene Stadtstruktur trotz des Ausbleibens umfassender räumlicher Neuordnung durchaus den Erfordernissen einer kommerziellen Metropole gerecht werden konnte.

4. Lissabon 1755: Die Stadt des aufgeklärten Absolutismus bauen Das Lissaboner Erdbeben präsentiert uns hinsichtlich des Wiederaufbaus mit einer radikal verschiedenen Art der Resilienz: Das Beben, das an Allerhei­ ligen 1755 morgens größere Teile des westlichen Mittelmeers erschütterte, produzierte in Lissabon eine dreifache Katastrophe: Auf das Einstürzen von Häu 31 Feuerpolizeiliche Maßnahmen wie Brandmauern waren schon in Reaktion auf frühere Großbrände dekretiert worden, aber angesichts des starken Wachstums von London vielfach missachtet und umgangen worden. Das Ausmaß des Großen Feuers brachte nun aber einen anderen Umgang mit der Brandgefahr und eine sehr viel strengere behördliche Überwachung der feuerpolizeilichen Bestimmungen, vgl. Porter, Great Fire, 152–157. 32 Diese Interpretation nach Keene, Fire, 201. 33 Porter, Great Fire, 127. 34 Zu Wrens Kirchenbau ebd., 139–151. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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sern und Kirchen infolge des Bebens, besonders verheerend in Stadtteilen mit schlechtem, weil sumpfigem Baugrund wie der Baixa, der das Stadtzentrum umfassenden ›Unterstadt‹, folgte ein Großbrand, der große Teile der Stadt in Schutt und Asche legte. Schließlich ertränkte ein vom Beben ausgelöster Tsunami tausende von Einwohnern, die sich vor dem Feuer ans Ufer des Tejo gerettet hatten.35 Man geht von einer Opferzahl von 10.000–30.000 Toten bei einer Gesamtbevölkerung Lissabons von 250.000 aus. Alle 40 Kirchen waren beschädigt, 35 davon vollständig zerstört, viele Adelspaläste zu Trümmern reduziert. Etwa ein Drittel der 20.000 Wohnungen waren vernichtet. Der gesamte materielle Schaden wurde auf stattliche 10 % des nationalen Kapitalstocks geschätzt.36 In der Konfusion nach dem Beben profilierte sich nun der Außenminister José de Carvalho e Mello, später besser bekannt als Marques de Pombal, als Krisenmanager: Auf die Frage des Königs, was man denn nun tun solle, soll er geantwortet haben: »Begrabt die Toten und versorgt die Überlebenden.«37 Von dieser kaltblütigen Reaktion beeindruckt, beauftragte der König Pombal damit, die Ordnung in der Hauptstadt wiederherzustellen und erste Schritte im Hinblick auf einen Wiederaufbau zu ergreifen. Pombal organisierte umgehend und rücksichtslos die Katastrophenhilfe. Im Zeichen des Kriegsrechts befahl er, die Leichen wegen Seuchengefahr in den Tejo zu werfen, ließ Notküchen einrichten und setzte die Armee ein, um eine Massenflucht der Bevölkerung wie auch Plünderungen zu verhindern. Aus England wurden Lebensmittel und Kredite, aus Holland provisorische Holzbauten zur Unterbringung der Bevölkerung angefordert. Seine unnachgiebige Haltung gegenüber Adel und Klerus machte Pombal rasch zum Volkshelden und dank des Unwillens des Königs, sich mit Regierungsfragen zu befassen, zum tatsächlichen Führer der Regierung. 35 Das Erdbeben von Lissabon wurde in den letzten Jahren vorrangig unter der geistesgeschichtlichen Perspektive untersucht, inwieweit damit eine Infragestellung des Optimis­ mus der Theodizee verbunden ist, bzw. auch unter kommunikationsgeschichtlichen Aspekten. Diese Punkte werden im Folgenden nicht näher diskutiert, vgl. Gerhard Lauer (Hrsg.), Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008; Horst Günther, Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt a. M. 2005; Christiane Eifert, Das Erdbeben von Lissabon 1755. Zur Historizität einer Naturkatastrophe, in: Historische Zeitschrift 274, 2002, 633–664; Ulrich Loeffler, Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus. Berlin 1999. 36 John Mullin, The reconstruction of Lisbon following the earthquake of 1755: a study in despotic planning, in: Planning Perspectives 7, 1992, 157–179, hier 158; Peter Schau, Lissabon nach 1755 – Die Entstehung einer aufgeklärten Stadt, in: Die Alte Stadt 29, 2002, 208–224, hier 208 f. Zur Baugeschichte Lissabons vgl. auch Ernst A. Gutkind, Urban Development in Southern Europe, Vol. III, Spain and Portugal, New York 1967. 62–78. 37 Mullin, Reconstruction, 159; Schau, Lissabon, gibt die Pombal nachgesagte Losung auf Portugiesisch mit »Enterrar os mortos e cuidar dos vivos« wieder, 214. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Wiederaufbauplan für Lissabon. Links: Zustand vor dem Beben, rechts: der erfolgreiche Plan von Dos Santos (Quelle: John Mullin, The reconstruction of Lisbon following the earthquake of 1755: a study in despotic planning, in: Planning Perspectives 7, 1992, 159 u. 172).

Mit weitgehenden Vollmachten unterband Pombal dann jeden wildwüchsigen und planlosen Wiederaufbau. Er verfügte eine umfassende Katasteraufnahme der ganzen Stadt, gemeindete äußere Vororte ein, um eine Stadtflucht zu verhindern, regelte per Gesetz den Wiederaufbau bis ins Detail und beauftragte Militärbaumeister mit dem Erstellen von Alternativplänen für den Wiederaufbau: Zur Debatte stand vorübergehend auch eine vollständige Verlegung der Stadt. Entgegen des Votums des Militärbaumeisters, der wegen Erdbebengefährdung und Verkehrsverbesserung die Verlegungsvariante favorisierte, entschied sich Pombal aber für die Beibehaltung des Standorts bei modernisiertem Grundriss. Ein wesentlicher Grund für diese Entscheidung war das Problem der Entschädigung für die Grundbesitzer in der Baixa, dem alten Stadtzentrum, deren Grundstücke durch die erwogene Verlagerung ihren Wert weitgehend verloren hätten. Nach dieser Grundentscheidung ließ sich Pombal wiederum sechs verschiedene Planvarianten von Teams von je zwei Militäringenieuren ausarbeiten.38 Der schließlich erfolgreiche Entwurf von Eugénio dos Santos sah ein strenges

38 Eine detaillierte Diskussion der sechs Planvarianten bei Mullin, Reconstruction, ­166–169. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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rechteckiges Rastersystem vor, in dem die beiden Hauptplätze Rossio und Terreiro do Paço neu interpretiert wurden.39 Kernelement dieses Entwurfs war eine vollständige Neuausrichtung der Straßen und Plätze um 13°, damit eine maximale Besonnung mit Nachmittagssonne erfolgen konnte. Gleichzeitig sollte der Hauptplatz am Ufer des Tejo tiefer in die »Baixa« eindringen, was diesen Platz stärker mit der Unterstadt verband, Raum für monumentale Wirkungen schuf und dennoch die Offenheit des Platzes zum Fluss sicherstellte. Die Straßen wurden hierarchisch in unterschiedliche Gruppen und Straßenbreiten aufgeteilt, möglicherweise ein Echo des Londoner Wiederaufbaus nach dem ›Great Fire‹, der Pombal von seiner Tätigkeit als Botschafter in London in den 1740er Jahren vertraut war. Als Grundstrukturen des mittelalterlichen Grundrisses blieben die Hauptstraßen, die die beiden Hauptplätze verbinden, sowie die Querstraßen erhalten. Dagegen wurden die Standorte der alten Pfarrkirchen im Plan von Dos Santos nicht respektiert; die Kirchen hatten sich in die vordefinierten Blöcke zu integrieren, eine herausgehobene, Platz- und Stadtsilhouette dominierende Rolle der Kirchen war nicht mehr erwünscht und vorgesehen. Letztlich wurde mit dieser formalen Rationalität eine nicht angemessene Topographie aufgezwungen.40 Das Schachbrettsystem war ein fremdes Konzept, bisher unbekannt in portugiesischen Städten, »[T]here was nothing natural about it[.]«, betont Mullin.41 Allerdings nutzte man das Erdbeben dazu, im Vorfeld des Wiederaufbaus mit Hilfe der Bebentrümmer das Niveau der Unterstadt insgesamt anzuheben und diese so vor Überschwemmungen besser zu schützen. Zugleich konnte man damit den Übergang zwischen den Straßen der Unterstadt und den diese umgebenden Hügeln etwas weniger steil gestalten.42 Der Wiederaufbau wurde auch dazu benutzt, höhere Anforderungen an die sanitäre Ausstattung der Häuser sowie die Erdbebensicherheit zu stellen; alle Häuser wurden um einen erdbebensicheren Rahmen errichtet und mussten mit einer Zisterne ausgestattet sein.43 Bedeutsam waren auch die tiefgreifenden Veränderungen an der Schnittstelle von Fluss und Stadt: Der sich zum Fluss öffnende ehemalige Königsplatz wurde in Praça do Commercio umbenannt44, mit der Börse und dem Zollgebäude ausgestattet, und als »triumphales und einzigartiges Entree«, als Ankunftspunkt für die nach Lissabon kommenden Schiffsreisenden gestaltet.45 39 Vgl. Mullin, Reconstruction, 168–173. 40 Diese Interpretation folgt Mullin, Reconstruction. 41 Ebd., 172. 42 Gutkind, Urban Development, 74; Schau, Lissabon, 216. 43 Vgl. A. R. Dixie, A History of Portugal and the Portuguese Empire. Vol. 1. Cambridge 2009, 285. 44 Gutkind, Urban Development, 75. 45 Schau, Lissabon, S. 215. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Das moderne Lissabon nach dem Wiederaufbau – der Praça do Comércio (Quelle: E. A. Gutkind, Urban Development in Southern Europe: Spain and Portugal, Vol. III. Toronto 1967, 75).

Ein Wiederaufbau des früheren Königspalastes direkt am Fluss unterblieb jedoch, der traumatisierte König, der nur zufällig überlebt hatte, weil er sich nicht in seinem Hauptpalast aufgehalten hatte, wollte keinen Wiederaufbau. Insgesamt lässt sich der von Pombal gegen erhebliche Widerstände durchgesetzte Wiederaufbau mit strikt geometrischem Straßensystem und Straßennamen, die den einzelnen Gewerben und Gruppen von Kaufleuten von vornherein ihren Platz zuwiesen46, als Verkörperung eines berufsständisch gegliederten Staats interpretieren. Der aufgeklärte Herrscher, bzw. sein Vertreter Pombal, wollte darin einen räumlichen wie auch wirtschaftlichen Rahmen für die Aktivitäten seiner Untertanen schaffen. Es ging nicht primär darum, eine neue Königsstadt oder eine Adelsstadt zu schaffen. Das neue Lissabon repräsentierte daher auf städtebaulichem Feld Pombals Modernisierungsstrategie eines aufgeklärten Absolutismus für Portugal insgesamt, sie war gedacht für die Kaufleute und Händler.47 Zugleich forderte sie die herausgehobene Stellung des Hochadels und der Kirche heraus, eine Politik, die wenig später auch im Umgang Pombals mit einer Verschwörung des Hochadels und in der Vertreibung der Jesuiten aus 46 Zur Architektur des Wiederaufbaus vgl. ebd., 218–223. 47 Zu Pombals Modernisierungspolitik vgl. Walter L. Bernecker, Horst Pietschmann, Geschichte Portugals. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. München 2001, 67–71. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Portugal ihren Niederschlag fand.48 Die dirigistische Regulierung des Wiederaufbaus erforderte jedoch ihren Preis, sowohl finanziell als auch zeitlich. Die hohen Kosten des Wiederaufbaus dienten Pombal auch zur Rechtfertigung seiner etatistischen, auf Stärkung der Staatseinnahmen und Steigerung der Exporte zielenden Wirtschaftspolitik. Im Vergleich mit Londons Wiederaufbau brauchte Pombals Lissabon wesentlich länger; beim Tode von König José I 1777, 22 Jahre nach dem Beben, war der Wiederaufbau erst zur Hälfte abgeschlossen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass man wegen der Aufschüttungsmaßnahmen in der Baixa nicht – wie in London – noch vorhandene Grundmauern, Brandmauern und Keller nutzen konnte.49 So imponierend das neugestaltete Lissabon des späten 18. Jahrhunderts als architektonisches Gesamtkunstwerk sein mochte, die Vision Pombals, mit Hilfe einer staatlich dekretierten merkantilistischen Modernisierungspolitik für Portugal den Anschluss an die führenden europäischen Nationen zu sichern, erfüllte sich nur ansatzweise.50 Auch der glanzvolle Wiederaufbau Lissabons, seine staatlich gesteuerte Resilienz, vermochte keine die Rückständigkeit Portugals letztlich wirksam kompensierende Dynamik freizusetzen. Die Verheißung der neuen Ära wurde zwar in Stein gegossen, blieb aber als gesellschaftliche Realität im Sinne eines Anschlusses an die führenden europäischen Nationen uneingelöst.

5. Hamburg 1962: Die moderne Großstadt katastrophenfest machen Diese Tour europäischer Stadtkatastrophen soll mit der Sturmflut Hamburgs aus dem Jahr 1962 abgeschlossen werden. Im Zentrum steht hier das Problem des ›Katastrophenbewusstseins‹ und der nachfolgenden Prävention. Ein konti­ nuierlicher Orkan von Windstärke 9–12 aus Westnordwest hatte Mitte Februar 1962 große Mengen Wasser an die Küsten der deutschen Bucht gedrückt und das Ablaufen des Wassers bei Ebbe verzögert.51 Bereits die Niedrigwasserstände waren daher erheblicher höher als im Durchschnitt. Angesichts der Windrichtung wirkte die Elbe unterhalb von Hamburg nun wie ein zur Nordsee offener Trichter, der die volle und kombinierte Wirkung von Sturm und Flut aufnehmen musste. Zusätzlich verschärfte eine Fernwelle von fast einem Meter Höhe 48 Vgl. Dixie, Portugal, 292–297 u. 298–303. 49 Zur Nutzung von Kellern und alten, vor 1666 datierenden Brandmauern vgl. G. Milne, The Great Fire of London, New Barnet 1986, Ch. 4 ›Archaeology and the Great Fire of London‹, 105–115. 50 Vgl. Dixie, Portugal, 280–310; K. Maxwell, Pombal. Paradox of the Enlightenment, Cambridge 1995; Bernecker, Pietschmann, Geschichte, 70–71. 51 Vgl. zur Entstehung und Entfaltung der Sturmflut die Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 3: Deichbrüche bei der Sturmflut 1962 (Quelle: Heinz Aschenberg, Gerhard Kroker, Sturmfluten und Hochwasserschutz in Hamburg [Hrsg. Von der Baubehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und dem Architekten – und Ingenieur-Verein Hamburg e. V. aus Anlaß des 30. Jahrestages der Sturmflutkatastrophe von 16./17. Februar 1962] o. O. [Hamburg], o. J. [1962], 14).

die Lage. Die Flut erreichte schließlich in der Nacht vom 16. auf 17. Februar in Hamburg einen Stand von 5,70 m über NN, 46 cm höher als die höchste registrierte Flut seit Beginn der Gezeitenmessung, die Sturmflut von 1825, die seitdem als Orientierung für den Hochwasserschutz gedient hatte.52 Im Bereich des südlichen Elbufers führte die Sturmflut zu zahlreichen Deichbrüchen, vor allem bei Wilhelmsburg. Besonders betroffen waren die Bewohner von Laubenkolonien und Behelfsheimen im Tiefland von Wilhelmsburg53, die sich mitten in der Nacht vor den plötzlich auftauchenden Wassermassen nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Verschärfend wirkte in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar insbesondere der Ausfall der großen Infrastruktursysteme: Die Gas- und Stromversorgung wurden für große Teile des Stadtgebietes, insbesondere die Überschwemmungsgebiete, eingestellt, weil die Werke, unmittelbar an der Elbe gelegen, wegen der Überschwemmung selbst betroffen waren und abgeschaltet werden mussten und für das Stromnetz eine Zufuhr von außen wegen ver­eister 52 H. Aschenberg, G. Kroker, Sturmfluten und Hochwasserschutz in Hamburg, Hamburg 1992, 13 ff. 53 Wilhelmsburg, ursprünglich eine immer wieder überflutete Insel im Stromspaltungsgebiet der Elbe, war erst im späten 19. Jahrhundert im Zuge der Hafenerweiterung dauerhaft bebaut worden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Hochspannungsleitungen außerhalb Hamburgs nicht möglich war. Dies bedeutete den Ausfall der Straßenbeleuchtung, aber auch den Kollaps der Telefonnetze, was die Kommunikation unter den Rettungskräften massiv erschwerte. Obwohl große Teile des Stadtgebiets unzugänglich waren – rund 20 % der Fläche Hamburgs standen unter Wasser –, gelang es letztlich dank des energischen Krisenmanagements von Innensenator Helmut Schmidt und dem Einsatz von Militär54, die Zahl der Todesopfer auf rund 300 zu begrenzen.55 Die materiellen Schäden für Hamburg beliefen sich auf über 800 Mio. DM, für die ganze Nordseeküste auf rund 1,4 Mrd. DM, immerhin 0,5 % des damaligen Bruttosozial­ produkts der BRD.56 Nach Rettung der Überlebenden und Beseitigung der unmittelbaren Notlage stellte sich die Öffentlichkeit die Frage, wie es möglich war, dass eine der reichsten und technisch bestausgerüsteten Städte der Bundesrepublik von einer Naturkatastrophe dermaßen überwältigt werden konnte. Ein vom Senat ein­ gerichteter Sachverständigenausschuss57 konnte zwar kein persönliches Versagen oder Fehlverhalten eines der führenden Entscheidungsträger feststellen, kritisierte aber scharf auf materiell-technischer Ebene das Fehlen eines funktionsfähigen Flutwarnsystems, die unzureichende Koordination der Rettungsdienste sowie den ungenügenden Instandhaltungszustand der Deiche und Dämme.58 Zugleich problematisierte der Bericht aber auch die fehlende mentale Vorbereitung, das mangelnde »Katastrophenbewusstsein« der Einwohner: Die Menschen seien so entfremdet von natürlichen Prozessen wie Sturmfluten, dass sie im Gegensatz zu früheren, noch aktiv in der Deicherhaltung engagierten Generationen kein Gefahrenbewusstsein mehr hätten. Die Mehrheit der Be 54 Vgl. zur Rolle der Bundeswehr während der Sturmflut den Beitrag von Christian Kehrt und Daniel Uhrig in diesem Band. 55 Vgl. zum Ablauf der Sturmflut Helmut Schmidt, Bericht des Senats über die Hochwasserkatastrophe und über die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen, in: Stenographische Berichte der Bürgerschaft zu Hamburg, 4.(Sonder-)Sitzung 21.2.1962, 96; Dieter Schott, One City – Three Catastrophes: Hamburg from the Great Fire 1842 to the Great Flood 1962, in: Massard-Guilbaud u. a., Cities, 185–204; Theo Trautig (Bearb.), Die Sturmflutkatastrophe im Februar 1962. Stade-Buxtehude 2. Aufl. 1962; Hans Herlin, Die Sturmflut. Nordseeküste und Hamburg im Februar 1962. Hamburg 1982. 56 Angaben nach Trautig, Sturmflutkatastrophe 1962, 279. Zur Lage Hamburgs Anfang der 1960er Jahre vgl. Werner Jochmann (Hrsg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 2. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Hamburg 1986. 57 Der Ausschuss umfasste einen örtlichen Industriellen als Vorsitzenden sowie 14 Ex­ perten von Rettungsdiensten, Polizei, Armee, Post und Kommunikation, Wasserbau usw. Auf der Basis einer umfassenden Analyse der Situation vor Eintreten der Sturmflut, der getroffenen Maßnahmen während der Sturmflut unterbreitete der Sachverständigenausschuss eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung des Katastrophenschutzes; vgl. Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe. Hamburg 1962. 58 Bericht Sachverständigenausschuss. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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völkerung verschließe vor der Möglichkeit solcher Katastrophen die Augen.59 Die Experten erklärten dies mit den immer noch traumatischen Erfahrungen des Weltkriegs und empfahlen, sowohl die Verwaltung als auch die Bevölkerung insgesamt »katastrophenbewusster« zu machen. Ein darauf abzielendes Programm hatte zu Zeiten des Kalten Krieges – die Sturmflut ereignete sich zeitlich zwischen dem Bau der Berliner Mauer und der Raketenkrise in Kuba – natürlich auch eine militärpolitische Funktion. Verbesserte Koordination der Dienste und Fachämter sollte Bürger wie Verwaltung auch für den Verteidigungsfall fit machen.60 Katastrophenbewusstsein der breiten Mehrheit der Bevölkerung kann hier auch als essentieller Bestandteil von ›Resilienz‹ gesehen werden, denn die Wachsamkeit gegenüber natürlichen, aber auch militärischen Gefahren ermöglichte – so das Kalkül der Experten – eine raschere und angemessenere Reaktion der Bevölkerung bei Eintritt der Katastrophe und hielt so Schäden enger begrenzt. Wie wurde die Katastrophe nun in der Hamburger Öffentlichkeit aufgenommen, welche Konsequenzen zog der Stadtstaat Hamburg aus der Katastrophe? Bereits wenige Tage nach der Sturmflut rief Helmut Schmidt in seiner Rede an das Hamburger Parlament, die ›Bürgerschaft‹, Katastrophenerinnerungen wach: »Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Katastrophe, die wir erlebt haben, hat ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit dem Hamburger Brand nur im zweiten Weltkrieg erlebt haben. Die Sturmflut von Freitag auf Sonnabend hat nach Mitteilung des Hydrographischen Instituts alle jemals in Hamburg gemessenen Sturmfluten übertroffen, einschließlich derjenigen von 1825, die seither als die bisher schwerste ge­ golten hatte.«61

Indem Schmidt die Sturmflut in Zusammenhang mit dem Großen Brand von 1842 und der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg brachte, integrierte er die Erfahrung zugleich in ein historisches Gedächtnis städtischer Katastrophen, das als Reservoir für ›Lernen aus Katastrophen‹ wie auch als Quelle der Ermuti 59 Bericht Sachverständigenausschuss, 51–53. In den zeitgenössischen Berichten wird das vollständige Ignorieren der Flutgefahr trotz erfolgter, allerdings nicht verbal auf Hamburg bezogener Warnungen in Radio und Fernsehen, betont. Auch Böllerschüsse und Sirenen konnten die Bevölkerung vielfach nicht dazu bringen, sich in Sicherheit zu bringen; Polizis­ ten, die Bewohner warnen wollten und diese dazu mitten in der Nacht weckten, wurden beschimpft; vgl. Trautig, Sturmflutkatastrophe, 231 ff. Vgl. dazu auch die Einleitung sowie die Beiträge von Sonja Kummetat zu den Niederlanden sowie von Martina Heßler und Kai Blüthgen zum Mediendiskurs um das Risikobewusstsein in Hamburg. 60 Vgl. hierzu auch die Einleitung sowie die Beiträge von Christian Kehrt und Daniel Uhrig sowie Jochen Molitor in diesem Band. 61 Helmut Schmidt, Bericht des Senats über die Hochwasserkatastrophe und über die ein­geleiteten Hilfsmaßnahmen, in: Stenographische Berichte der Bürgerschaft zu Hamburg, 4. (Sonder-) Sitzung 21.2.1962, 96. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gung und Inspiration zur Stärkung des Wiederaufbauwillens dienen konnte.62 Die Erfahrung der Jahre nach 1842 und 1943 hatte gezeigt, so die Lesart des kollektiven Gedächtnisses, dass Hamburg solche Heimsuchungen überwunden und gemeistert hatte und  – so Schmidts hoffnungsvolle Prognose  – gleicherweise auch die aktuelle Herausforderung durch die Sturmflut würde meistern können.63 In diesem Sinne schlug nur elf Tage nach der Sturmflut der Senat der Hamburger Bürgerschaft eine Reihe dringender Notmaßnahmen vor, darunter als Kernstück eine vollständige Neustrukturierung des maroden Deichsystems auf neuer Linienführung. Um die dafür notwendigen Zwangsenteignungen zu beschleunigen, wurden dem Senat außerordentliche Vollmachten erteilt. Schockiert vom Ausmaß der Flut gab die Hamburger Bürgerschaft der Beschlussvorlage ihre einstimmige Unterstützung, stimmte damit gewissermaßen ihrer Selbstentmachtung in diesem Politikfeld zu. Die Wasserbaubehörde des Hamburger Senats hatte diese Pläne für ein neues Deichsystem natürlich nicht während der absolut chaotischen Tage nach der Sturmflut produziert, sondern hatte diese Pläne längst fertig in der Schublade. Die Katastrophe hatte jedoch eine Situation geschaffen, in der die bis dahin gültige Hierarchie politischer Prio­ ritäten weggefegt war, die zukünftige Sicherheit vor Sturmfluten hatte nun  – in Angesicht der eindrücklich erlebten Gefahr – allerhöchsten Stellenwert. Der Senat demonstrierte so Handlungsfähigkeit und Führungskompetenz angesichts der Krise. Die Maßnahmen umfassten nicht nur eine neue Deichlinie, sondern auch die Beseitigung der zerstörten Laubenkolonien, deren Flächen teilweise in den zu erweiternden Hafen einbezogen wurde. Die Sturmflut er­ öffnete also ein ›Fenster der Gelegenheit‹ für die Hafenerweiterung, das sonst nur wesentlich später und wahrscheinlich zu deutlich höheren Kosten erreichbar gewesen wären. Wie resilient erwies sich Hamburg nun nach der Sturmflut? Wie können Wiederaufbau und wirtschaftliche Gesundung im Falle Hamburgs bewertet werden? Das neue Hochwasserschutzsystem, das Hamburg mit einem Aufwand von rund 800 Millionen  DM in den Jahren nach der Sturmflut errichtete, bewährte sich hervorragend in späteren, noch deutlich höheren Sturmfluten.64 62 Vgl. zur Katastrophen-Erinnerung in der Sturmflut: Schott, One City, bes. 196–198. 63 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber das vollständige Schweigen der Stadtrepräsentanten zu einer anderen Hamburger Katastrophe, der Cholera-Epidemie von 1892. Diese war zwar von der Charakteristik anders gelagert, insbesondere bot sie angesichts des wenig ruhmreichen Verhaltens des Hamburger Senats nicht in gleicher Weise das Material für eine Mobilisierung städtischer Resilienz wie die Zeit nach dem Großen Brand und dem Wiederaufbau nach dem Feuersturm, vgl. zur Cholera in Hamburg und die vielfachen Versäumnisse Hamburger Stadtpolitik Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholerajahren 1830–1910. Reinbek bei Hamburg 1990. 64 Aschenberg, Kroker, Sturmfluten, 16. Das technisch aufwändige Hochwasserschutzsystem wird in dieser Broschüre erläutert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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In wirtschaftlicher Hinsicht hatte die Flut keine langfristig negativen Folgen.65 Dank großzügiger Entschädigung der betroffenen Geschäfte gaben nur wenige Betriebe wegen der Flutschäden auf; zudem machte die Ausstattung mit modernen Maschinen und neuem Inventar die überlebenden Betriebe wettbewerbsfähiger.66 Im Zuge des stattlichen Wachstum von bundesweit durchschnittlich 4,4 % p.a. im Jahrzehnt 1960/70 konnten die meisten Betriebe in kurzer Zeit wieder Anschluss finden. Städtebaulich erfolgten große Veränderungen nur im Hafenbereich, wo die Laubenkolonien verschwanden und das Gelände in die Hafenerweiterung einbezogen wurden, sowie überall an den Schnittstellen von Wasser und Land, wo die neue Deichlinie die physische Trennung vom Wasser noch stärker akzentuierte. In technischer Hinsicht hatte die Sturmflut die Anfälligkeit der hochtechnisierten Stadt durch solche Katastrophen anschaulich gemacht und gezeigt, dass Rettungsdienste in der Lage sein müssen, unabhängig von den standardmäßigen und im Fall einer Sturmflut vom Ausfall bedrohten Energie- und Kommunikationsnetzen zu operieren. Kulturell bildet die Sturmflut für Hamburg ein markantes, erinnerungsträchtiges Datum der jüngeren Stadtgeschichte. Sie zwang die Hamburger, ihre potentielle Gefährdung als Binnenstadt am Gezeitenstrom wahrzunehmen und die Investitionspolitik der Hansestadt darauf abzustellen. Im Hinblick auf die Memorialisierung wurde die Sturmflut einerseits in eine Reihe mit anderen, erfolgreich bewältigten Hamburger Katastrophen wie dem Großen Brand von 1842 und der Zerstörung im Luftkrieg 1943 gestellt. Andererseits wurde sie nationalisiert, als ›nationale Katastrophe‹ erlebt, wahrgenommen und damit auch verarbeitbar gemacht.67 Die in Form umfangreicher Spendensammlungen und Materiallieferungen aus allen Teilen der Bundesrepublik demonstrierte Solidarität der Nation stärkte die innerstädtische Resilienz.

65 Die Haushaltsrede des Ersten Bürgermeisters Herbert Weichmann vom Dezember 1965 zeichnet insgesamt ein überaus positives Bild der wirtschaftlichen Lage der Stadt. Der Schock der Flutkatastrophe scheint zu diesem Zeitpunkt längst überwunden zu sein, nur im Zusammenhang mit Hochwasserschutzmaßnahmen findet die Sturmflut noch kurze Erwähnung, Herbert Weichmann, Hamburg heute. Rede zum Haushalt 1966 in der Bürger­ schaft, gehalten am 1. Dezember 1965. Hamburg (o. J.). 66 Zur Abwicklung der Schadensersatzforderungen vgl. Johannes Rampe, Flutkatastro­ phe 1962. Wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen. Abschlussbericht über die finanziellen Hilfsmaßnahmen für die gewerbliche Wirtschaft und die Landwirtschaft zur Beseitigung von Schäden aus der Flutkatastrophe vom 16./17. Februar 1962, 33. 67 Diese »Nationalisierung« manifestiert sich etwa in der Rede des Bundespräsidenten bei der Trauerfeier zehn Tage nach der Flut, dokumentiert in: Das dankbare Hamburg seinen Freunden in der Not, 17. Februar 1962. Hrsg. vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1962, 58. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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6. Thesen zur Bedeutung von Naturkatastrophen für Städte Die Befunde der Betrachtung verschiedener Naturkatastrophen im 17., 18. und 20. Jahrhundert lassen sich hinsichtlich der Frage der Bedeutung von Naturkatastrophen für Städte in wenigen Thesen pointiert zusammenzufassen: 1. Im Hinblick auf die fundamentale Infragestellung der Funktion von Stadt als Schutzraum in Naturkatastrophen zeigt sich das große Bedürfnis nach Wiederherstellung des für städtisches Alltagslebens wesentlichen Gefühls einer zumindest rudimentären Sicherheit. Zur Wiederherstellung dieser Sicherheit, zum raschen Treffen notwendiger Entscheidungen profilieren sich häufiger ener­ gische Führungsfiguren wie Pombal in Lissabon oder Helmut Schmidt in Hamburg; sie können auf Zeit oder dauerhaft erhebliche Macht ausüben und durchaus auch sonst gezogene legale Grenzen – so beispielsweise die Verfügung über das Militär durch Helmut Schmidt – überschreiten. 2. Die im Zuge von Katastrophen entstehenden materiellen Zerstörungen im städtischen Gewebe wie auch die ideelle Verheerung im Identitätsdiskurs provozieren als ›Leerstellen‹ den intensiven Diskurs über das ›Was‹, ›Wie‹ und ›Wohin‹ des Wiederaufbaus. Debatten über Schwächen einer Stadt und notwendige Veränderungen, die zuvor eher in abgegrenzten Zirkeln abliefen, werden plötzlich und unvermeidlich publik und im Licht der Öffentlichkeit geführt. Naturkatastrophen und deren Bewältigung bieten somit für Historiker gute Sonden zur Rekonstruktion von Diskursen über die Selbstdiagnose von Städten. Sie schaffen »Fenster der Gelegenheit«, die Entscheidungssituationen herbeiführen, in denen bislang kaum durchsetzbare Maßnahmen – wie der Bau eines neuen Hochwasserschutzsystems in Hamburg – realisierbar werden. 3. Die räumlich-physische Bewältigung von Naturkatastrophen in europäischen Städten zeigt, dass trotz teilweise sehr weitgehender physischer Zerstörung die überlieferte Morphologie von Städten, die sich in Grundstücksgrenzen, Straßenverläufen, der Infrastruktur von Straßen, Kanälen etc. manifestiert, eine außerordentliche Beharrungskraft aufweist und nur durch massive politische Intervention in quasi-diktatorischen Situationen, wie wir es in Lissabon gesehen haben, überwunden werden kann.68 Aber auch beim Ausbleiben fundamentaler räumlicher Neuordnungen ist eine inkrementelle Modernisierung von Stadtstrukturen, wie wir es in London beobachten konnten, häufig festzustellen. 68 Eines der wenigen Beispiele radikaler Transformationen physischer Stadtstrukturen ohne vorgängige Zerstörung durch Krieg oder Naturkatastrophen ist die Umgestaltung von Paris durch Napoleon III. und seinen Präfekten Haussmann in den Jahren 1853–1870, vgl. Peter Hall, Cities in Civilization. Culture, Innovation and Urban Order. New York 1998, 706–745; David P. Jordan, Die Neuerschaffung von Paris. Baron Haussmann und seine Stadt. Frankfurt a. M. 1996. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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4. Die Art und Weise, wie Resilienz von Städten nach Naturkatastrophen zum Ausdruck kommt, hängt ab vom Zusammenwirken innerer Faktoren (Stärke der Wiederaufbau vorantreibenden Akteure)  und äußerer Konstellationen (Kriege, gesamtstaatliche Politik, Veränderung von Handelsströmen). Auch Grad und Charakter der Zerstörung können entscheidend sein: Menschen sind für die Resilienz wichtiger als Gebäude, massive Bevölkerungsverluste und der Exodus wichtiger Bevölkerungsteile können eine Stadt gravierend schwächen, während der Verlust von Bausubstanz und materiellen Werten allein aus sich heraus nicht notwendig die Resilienz erheblich gefährdet. Die Dynamik wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung, wie in London oder Hamburg, erleichtert den Wiederaufbau, während ökonomische Stagnation und Peripherisierung wie in Portugal das ›Zurückfedern‹ verlangsamt. Der amerikanische Stadtforsches Kevin Lynch bringt die Beharrungskraft von Städten so auf den Punkt: »A city is hard to kill, in part because of its strategic geographic location, its concentrated, persisting stock of physical capital, and even more because of the memories, motives and skills of its inhabitants.«69

69 Kevin Lynch, Wasting away. San Francisco 1990, 109. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Ich war 1962 vierzehn Jahre alt. Das war für mich als Kind eigentlich Abenteuer. Die ganze Gefahr der Sturmflut ist mir damals ja nicht so bewusst gewesen wie heute. Ich bin mit meinem Vater gegen 14 Uhr hier den Deich entlang gefahren und dann sind wir an das heutige Seeve-Siel gefahren. Da fängt unser sogenannter Achterdeich an und da lief das Wasser gegen 14 Uhr über den Sommerdeich in die Seeve-Niederung rein. Das heißt von unserem Verbandsgebiet weg in die Seeve-Niederung über den Sommerdeich hinein. So richtig ernst genommen hat das da auch noch keiner. Man hat gesagt: »Naja, wir müssen mal sehen wie hoch das wird.« Und abends gegen 18 Uhr, wir hatten hier im Dorf einen Fischer, der war auf den Tag genau 50 Jahre älter als ich, also der war da 64, der hat gesagt wir sollten mal lieber anfangen, vorsichtshalber Sandsäcke voll zu machen. Er glaubte, das wird mehr. Warnungen, wie es sie heute gibt, hatten wir nicht, gab es sie nicht. […]Wir hatten hier das große Glück, dass wir eine Baustelle hatten. Wir wollten für das zu lagernde Obst eine Sortierhalle bauen und da war der Sand hinge­ fahren worden, um da Fundament und Platten raufzuschütten. Das war unser ganz großes Glück, da hatten wir genug Sand, um Sandsäcke voll zu machen. Dann hatten wir ja keine Deiche gehabt wie heute. Wir hatten Steindeiche gehabt mit im Grunde genommen einem Gefälle von 1:1 an den meisten Stellen. Auch etwas Deich mit Gras­ bewuchs, aber lange nicht so wie er heute ist mit einem Gefälle von 1:3. Naja, und dann ging das mit dem Dunkelwerden im Grunde genommen los, dass sie angefangen ha­ ben die Sandsäcke zu füllen und zu verpacken. Alles nur mit eigenen Leuten, d. h. mit Dorfleuten. Und morgens um vier Uhr fiel das Wasser plötzlich um 20–30 cm, was sich keiner erklären konnte. Eine Kommunikation, wie heute mit Handy etc., gab es alles nicht. Da ist dann in unserem Verbandsgebiet Vogtei Neuland der Achterdeich an drei­ zehn Stellen gebrochen. […] Wir hatten hier bei uns vier Tote, die in dem einen Haus waren, das komplett weggebrochen ist. […] Hier haben anschließend also 2000 Hektar 1–1,5 Meter und auslaufend, also auch flach, unter Wasser gestanden. […] Und wenn wir seinerzeit hier bei uns nicht diesen alten Mann mit damals 64 Jahren gehabt hät­ ten, dann hätten wir hier auch ganz schön alt ausgesehen. Und wenn die Achterdeiche nicht gebrochen wären und wir die Entlastung nicht gekriegt hätten von hinten, dann wäre sicherlich hier irgendwo der Hauptdeich gebrochen.« Videointerview: Marco Kreutzer mit Otto Sander, Hoopte, 16. November 2011. Otto Sander wurde am 7. August 1948 in Hoopte geboren und lebt seitdem dort mit seiner Familie auf einem landwirtschaftlichen Anwesen direkt am Elbdeich. Er ist seit Mai 1988 Verbandsvorsteher des Deich- und Wasserverbandes Vogtei Neuland. Otto Sander erlebte die Sturmflut als 14-Jähriger.

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Matthias Heymann

Naturkatastrophen und Environmental Coherence Versuch einer Einordnung am Beispiel von Flutkatastrophen auf der Nordseeinsel Strand und in Miami Beach

Für lange Zeit haben Historiker dem Phänomen der Naturkatastrophen kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mediävist Arno Borst hat 1981 von einer »Ausschaltung der Geschichte« gesprochen, die seines Erachtens nicht nur aus Desinteresse resultierte, sondern Methode hatte.1 Der Fortschrittsoptimismus der Moderne erforderte die Verdrängung, weil »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Naturkatastrophen waren in dieser Perspektive nicht eine unvermeidliche und normale Bedingung moderner Gesellschaften, sondern vorläufige Unzulänglichkeiten, die es mit Hilfe technischer Innovationen zu überwinden galt. Sie verwiesen auf Grenzen der Naturbeherrschung, Grenzen, die es wie in vielen anderen Bereichen zu verschieben und zu überwinden galt.2 Die Hamburger Flutkatastrophe scheint auf den ersten Blick ein Beispiel dafür zu sein. Während sie 1962 unerwartet zahlreiche Todesopfer und erhebliche Schäden verursachte, vermochte ein verbesserter Flutschutz weitere derartige Katastrophen trotz großer Sturmfluten zu verhindern.3 1 Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: Historische Zeitschrift 231, 1981, 529–569, hier 529. Diese Verdrängung bezog sich keineswegs nur auf Historiker. Die Verdrängung von Naturkatastrophen kritisierte auch der Katastrophenforscher und Geograph Kenneth Hewitt: Kenneth Hewitt, The idea of calamity in a technocratic age, in: ders. (Hrsg.), Interpretations of Calamity. From the Viewpoint of Human Ecology, Boston 1983, 3–32. 2 Borst, Erdbeben, 532; vgl. Esther Fischer-Homburger, Der Eisenbahnunfall von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie, in: Christian Kassung (Hrsg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, 49–88. Ausführlicher ausgeführt habe ich diesen Gedanken an anderer Stelle: Matthias Heymann, Natur- und Technikkatastrophen in der technokratischen Hochmoderne. Vom »Rausch der Sicherheit« zu Trauma und Abspaltung der Katastrophe, in: Uwe Fraunholz, Sylvia Wölfel (Hrsg.), Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne. Münster 2012, 321–337. 3 Sturmflutschutz in Hamburg, gestern – heute – morgen. Bericht des Landesbetriebes Straßen, Brücken und Gewässer Nr. 10, 2012. Vgl. dazu auch die Einleitung in diesem Band. Gleichwohl findet man auch in der subjektiven Bewältigung katastrophaler Folgen von nicht-naturalen Ereignissen wie Kriegen und schweren Krisen, dass diese sprachlich häufig © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Borsts Diagnose eines Desinteresses der Historiker an Naturkatastrophen trifft heute nicht mehr zu. Etwas zehn Jahre nach seiner Kritik setzte ein rasch wachsendes historisches Interesse an Naturkatastrophen in der Umweltgeschichte, der Geschichte der Frühneuzeit und der historischen Anthropologie ein.4 Der punktuelle Charakter von Naturkatastrophen brachte neue Herausforderungen an Quellensuche und die historiographische Darstellung und Deutung.5 Als Extremereignisse stechen Naturkatastrophen heraus aus dem Lauf der Geschichte und müssen vom Historiker sozusagen in die Geschichtsdarstellung »hineingeschrieben« werden, um eine kohärente Erzählung und Deutung zu gewährleisten.6 Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Arbeiten hat sich mittlerweile dieser Herausforderung gestellt und einen eindrucksvollen Korpus historischer Erkenntnis mit Beispielen aus nahezu allen Weltregionen geschaffen. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten ist der Nachweis der Historizität der Katastrophe und der Kontinuität ihrer gesellschaftlichen Umstände und Bedingungen. Naturkatastrophen haben eine Geschichte und sind Resultat »politischer Strukturen, ökonomischer Systeme und gesellschaftlicher Ordnungen«.7 Die Anthropologen Susanna M. Hoffman und Anthony OliverSmith betonen, dass Katastrophen nicht ein Element der Natur (oder der Technik), sondern Geschehnisse seien, »[which] humans themselves to some ­degree construct«. »Calamities emanated from processes that developed over long periods of time as much as from sudden crises«.8 Zwar entstehen ein Erdbeben mit Naturereignissen gleichgesetzt wurden. Niels Gutschow beobachtet dies etwa an Diskursen über die Zerstörung Hamburgs im Bombenkrieg 1943: Niels Gutschow, Hamburg: the­ ›Catastrophe‹ of July 1943, in: Jeffrey Diefendorf (Hrsg.), Rebuilding Europe’s Bombed Cities. London 1990, 114–130,118. 4 Uwe Lübken hebt in seinem Forschungsbericht zur Umweltgeschichte die Geschichte der Naturkatastrophen als einen von drei Schwerpunkten besonders hervor: Uwe Lübken, Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 14.7.2010, , insbesondere 11–21); Paul Münch (Hrsg.), ›Erfahrung‹ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Teil  4, Wahrnehmung und Verarbeitung von Katastrophen. (HZ Beihefte N. F. 31), München 2001, 211–267; Anthony Oliver-Smith, Susanna M. Hoffman (Hrsg.), The Angry Earth. Disaster in Anthropological Perspective, London 1999. 5 Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit. München 1992. 6 Borst gelingt dies für das Beispiel eines verheerenden Erdbebens 1348 in Kärnten durch seinen Fokus auf die Rezeptionsgeschichte, vgl. Borst, Erdbeben. Ein vorbildliches Beispiel ist die Darstellung der Choleraepidemie 1892 in Hamburg in Richard J. Evans, Death in Hamburg. Society and politics in the cholera years, 1830–1910. Oxford 1987. Um zu einem Verständnis der letzten großen Choleraepidemie in Deutschland zu gelangen, entfaltet Evans ein Panorama aus Politik-, Wirtschafts-, Sozial-, Technik- und Umweltgeschichte. 7 Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and natural hazards in the Philippines. London 2003. S. a. Hewitt, Idea. 8 Oliver-Smith, Hoffman, Angry Earth, 2. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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oder eine Flutkatastrophe plötzlich und sind singulär und punktuell in Zeit und Raum. Doch ihr Erscheinungsbild als Katastrophe hängt entscheidend von den Gesellschaften ab, die die Katastrophe trifft. Die historische Erforschung von Naturkatastrophen hat nicht nur gezeigt, dass viel über Naturkatastrophen und ihre historischen Ursachen und Folgen zu lernen ist. Sie erlaubt umgekehrt auch Erkenntnisse über die Gesellschaften, die von ihnen getroffen werden. Für den Historiker können historische Naturkatastrophen als ein Brennglas dienen, das Charakteristika politischer Strukturen, ökonomischer Systeme, gesellschaftlicher Ordnungen oder kultureller Normen schlaglichtartig beleuchtet und der historischen Analyse zugänglich macht.9 Wenngleich Historiker die Punktualität der Katastrophe überzeugend in historischen Narrativen aufzulösen vermochten, die eine Kontinuität von Vorgeschichte, Katastrophenereignis und Nachgeschichte herstellen, bleibt diese Punktualität doch eine Herausforderung. Die historische Analyse einer Katastrophe erlaubt Erkenntnisse über die Gesellschaft für einen durch die Katastrophe repräsentierten Zeitraum. Um Erkenntnisse über Veränderungen der Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur Umwelt auf diese Weise zu erfassen, müssen Folgen von Katastrophen analysiert und verglichen werden. Ich möchte mit diesem Beitrag das Konzept environmental coherence einführen und sein Potential als analytische Kategorie der Naturkatastrophen­ forschung an einer vergleichenden Analyse gänzlich unterschiedlicher Kulturen aufzeigen.10 Der Sinn und Nutzen solcher weiträumigen Vergleiche ist umstritten, sind doch die historischen Situationen, die es in den Blick zu nehmen gilt, außerordentlich komplex und  – blickt man auf sehr unterschiedliche Gesellschaften und sehr unterschiedliche Zeiträume  – kaum unmittelbar in Bezie-

9 Zahllose Arbeiten aus verschiedenen Epochen und Weltregionen lassen sich hier nennen, für das spätrömische Reich z. B. Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinian. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. Göttingen 2003; für den Ostalpenraum in Mittelalter und Frühneuzeit: Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit. Köln 2007; für das norddeutsche Küstenland in der Frühneuzeit: Marie Luisa Allemeyer, »Kein Land ohne Deich …!« Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006; für das kolonisierte Indien im 19. Jahrhundert: Mike Davis, Late Victorian Holocaust. El Niño Famines and the Making of the Third World. London 2001; für die Philippinen von der spanischen Kolonisation bis ins 20. Jahrhundert: Bankoff, Cultures; für Japan zur Zeit des Kaiserreichs: Gregory K. Clancey, Earthquake Nation. The Cultural Politics of Japanese Seismicity, 1868–1930. Berkeley 2006; für die USA: Kevin Rozario, The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America. Chicago 2007; Mike Davis, Ecology of Fear. Los Angeles and the Imagination of Disaster, New York 1998; Theodore Steinberg, Acts of God. Oxford 2000. 10 Eine systematische Darstellung der theoretisch-methodischen Grundlagen und Prä­ missen des Konzepts sowie ein Vergleich mit anderen Konzepten wie Resilienz und Vulne­ rabilität werden an dieser Stelle nicht geleistet und ist weiteren Arbeiten vorbehalten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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hung zu setzen, weil es diese Beziehung nicht gibt.11 Das muss allerdings nicht bedeuten, dass keinerlei vergleichende Perspektiven möglich sind. Das Konzept environmental coherence wird im ersten Teil des Beitrags erläutert. Im zweiten Teil werden zwei Fallbeispiele von Flutkatastrophen an der deutschen Nordseeküste im Jahr 1634 und in Miami Beach an der Küste Floridas im Jahr 1926 beschrieben. In einem abschließenden Teil werden vergleichende Perspektiven auf Basis des Konzepts environmental coherence aufgezeigt.12

1. Environmental coherence Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Formen und ein unterschiedliches Ausmaß von Zusammenhang und Zusammenhalt mit ihrer Umwelt und von Wissen über ihre Umwelt entwickelt. Der Begriff environmental coherence versucht diese Formen und dieses Ausmaß von Zusammenhang, Zusammenhalt und Wissen zu beschreiben.13 Zusammenhang bezeichnet die Verbindungen von kulturellen Praktiken und Umwelt und ihre gegenseitige Bedingtheit. Zusammenhalt verweist auf bewusst oder unbewusst internalisierte Wissensformen und Praktiken und ihre Stimmigkeit, die zu einer Stabilität dieses Zusammenhangs beitragen. Kulturen gewinnen Wissen über ihre Umwelt durch die Verarbeitung von Erfahrungen, unmittelbare wie vermittelte, praktisch oder diskursiv. Sie entwickeln Praktiken, um sich auf diese Umwelt einzustellen und an diese anzupassen. Andererseits verändern Kulturen ihre Umwelt, um diese den materiellen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen.14 Einerseits hängt environmental coherence von den spezifischen Umweltbedingungen wie Wetter, Klima, Topographie, Ökologie und anderen regionalen Besonderheiten ab. Auf der anderen Seite wird environmental cohe­ rence von kulturellen Praktiken bestimmt, z. B. der Entwicklung und Nutzung 11 Auf großes Interesse aber auch kontroverse Reaktionen stieß diese Frage auf dem Workshop »Historical and Contemporary Studies of Disasters«, der auf der Annual Conference of the Society for the History of Technology 2012 in Kopenhagen stattfand. Vgl. http:// shotprometheans.wordpress.com/workshops/2012-workshop/manuscripts/. Die Literatur und Debatten zum Vergleich in der historischen Forschung sind umfangreich. Eine gute Übersicht bietet Helmut Kaelble, Der Internationale Vergleich seit den 1970er Jahren, in: Thieß Schulze (Hrsg.), Grenzüberschreitende Religion, Vergleichs- und Kulturtransferstudien zur neuzeitlichen Geschichte, Göttingen 2013, 26–42. 12 Eine frühere und knappere Darstellung findet sich in Matthias Heymann, Natural disaster and environmental coherence. Lessons from  a storm flood and  a hurricane, in: Christina Barboza, Vladimir Jankovic (Hrsg.), Weather, Local Knowledge and Everyday Life. Rio de Janeiro 2009, 99–106. 13 Eine direkte deutsche Übersetzung des Konzepts (z. B. »Umweltkohärenz«) ist unpräzise und mehrdeutig. Ich verwende deshalb durchgängig den englischen Ausdruck. 14 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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von Technologien und Institutionen sowie der Entwicklung und Bedeutung von gesellschaftlichen Erfahrungen, Wissensformen, Überzeugungen, Ideologien, Traditionen, Normen, Ritualen und kollektiven Erinnerungen, die mit der Umwelt in Zusammenhang stehen. Der hier verwendete Begriff der Umwelt beschreibt dabei eine kulturell geformte Umwelt, nicht eine wie auch immer geartete unangetastete Natur.15 Die environmental coherence von Kulturen, also Form und Ausmaß von Zusammenhang und Zusammenhalt mit ihrer Umwelt, lässt sich grundsätzlich untersuchen. Die Betrachtung historischer Naturkatastrophen stellen dafür eine interessante – wenngleich nicht die einzige – Grundlage dar.16 Environmental coherence ist ein qualitatives, deskriptives und nicht-norma­ tives Konzept, das auf mikrohistorischen Analysen mit einem starken Fokus auf Wissen, lokale Praktiken, Traditionen und Institutionen gründet. Es dient dazu, ein gleichzeitig breites und detailliertes historisches Verständnis des MenschUmwelt (oder besser: Kultur-Umwelt) Verhältnisses zu ermöglichen. Die Anziehungskraft dieses Konzepts besteht darin, dass es eine Reihe von Perspektiven für die Erforschung des Mensch-Umwelt Verhältnisses eröffnet: Erstens, environmental coherence ist ein Konzept, dass die Integration von Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen wie Geschichte, Technikgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Anthropologie, Soziologie, Kulturwissenschaften sowie von Wissensbeständen auf verschiedenen Ebenen, z. B. die materielle Geschichte von Artefakten und Systemen, die Geschichte kultureller und gesellschaftlicher Praktiken, die Geschichte von Ideen und Erinnerungskulturen, ermöglicht. Die Untersuchung von environmental coherence strebt somit eine »dichte Beschreibung« gesellschaftlichen Umgangs mit der Natur an, eine Beschreibung, die nicht allein auf Verhalten bezogen ist, sondern auch die Kontexte und Bedeutungen von Verhalten in den Blick nimmt, um ein umfassenderes Verständnis zu ermöglichen.17 Zweitens, das Konzept environmental coherence erlaubt es, die historische Analyse von Naturkatastrophen oder allgemeiner der Mensch-Umwelt Verhältnisse in unterschiedlichen Regionen und Zeiten in eine vergleichende Perspektive zu bringen. Es trägt somit dazu bei, die Geschichte der Naturkatastrophen in größere Zusammenhänge zu stellen und die histori 15 Dieses Missverständnis hat in der Umweltgeschichte zu kontroversen Debatten geführt. Siehe z. B. die Diskussion zum symbolisch aufgeladenen amerikanischen Begriff der »wilderness« in der Zeitschrift Environmental History, 1996, Nr. 1. 16 Weitere Ansatzpunkte sehe ich in der Geschichte von Migration, Besiedlung und der Kolonialgeschichte, bei denen sich Fragen nach dem Umweltwissen und den Umweltpraktiken in besonderem Maße stellen. Christina Folke Ax, Niels Brimnes, Niklas Thode Jensen u. a. (Hrsg.), Cultivating the Colonies: Colonial States and Their Environmental Lega­ cies. Athens 2011; Casper Andersen, British Engineering and Africa, 1875–1914. London 2011. 17 Cliffort Geertz, Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, in: ders., The Interpretation of Culture Selected Essay, New York 1973, 3–30. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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sche Mikroebene mit einer Makroebene zu verbinden. Die Entwicklung der historischen Erforschung von Naturkatastrophen repräsentiert eine in den letzten Jahren rasch gewachsene empirische Basis, um environmental coherence zu untersuchen. Der synthetische und umfassende Zugriff auf historische Naturkatastrophen mit Hilfe des Konzepts environmental coherence trägt überdies dazu bei, die historische Katastrophenforschung für andere historische Disziplinen sichtbar und fruchtbar zu machen. Es ist ein auffälliges Kennzeichen dieser Forschung, dass sie sich auf die Umweltgeschichte und die Anthropologie (oder Teile davon) beschränkt. Die Untersuchung von environmental coherence anhand historischer Naturkatastrophen bietet aber auch interessante Perspektiven für andere Fächer wie z. B. die Technikgeschichte. Denn environmental coherence ist eng verknüpft mit technischem Wissen, technischem Wandel und technischen Interventionen in die Umwelt.18 Perspektiven wie diese sind freilich nicht neu und bereits in den vergangenen Jahren auf verschiedenen Wegen, allerdings kaum systematisch und oft wenig kohärent oder beschränkt auf begrenzte Zeiträume und Regionen verfolgt worden.19 Die Bedeutung des Konzepts environmental coherence reicht über die histo­ rischen Wissenschaften hinaus. Der Anspruch, historische Erkenntnisse über das Verhältnis von Gesellschaften und ihrer Umwelt zu erarbeiten, stellt auch eine Antwort auf das in den letzten Jahren stark gewachsene Interesse an Bewertungen von Umweltveränderungen und den menschlichen Einfluss auf Umwelt dar. Auf diesem Feld dominieren quantitative Bilanzierungswerkzeuge wie »ecological footprint« (oder »human footprint«) und zahllose andere Umweltindikatoren.20 Darüber hinaus sind umfassendere Konzepte wie »­societal metabolism« (auch »social metabolism«) oder das jüngst auf große Aufmerksamkeit stoßende Konzept des »Anthropozens« entwickelt worden, um den 18 Bisher ist das Interesse an Naturkatastrophen in der Technikgeschichte praktisch nicht existent. Selbst die Auseinandersetzung mit technischen Katastrophen repräsentiert eher die Ausnahme, Heymann, Natur- und Technikkatastrophen. Eine Ausnahme ist Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt 2012, 175–191. 19 Davon zeugen zahllose Sammelbände, Rezeptionsgeschichten und breiter angelegte Monographien. Eine umfassende Beschreibung und Deutung von Mensch-Umwelt Verhältnissen leistete Joachim Radkau in seiner umwelthistorischen Weltgeschichte: Radkau, Natur und Macht. 20 Zum »ecological footprint« vgl. Mathis Wackernagel, William Rees, Our ecological footprint. Reducing human impact on earth, Gabriola Island 1996, und Mathis Wackernagel et al., National natural capital accounting with the ecological footprint concept, Ecological Economics 29, 1999, 375–390. Der Verlag Elsevier publiziert seit 2001 die wissenschaftliche Zeitschrift Ecological Indicator. Diese Zeitschrift wuchs in den vergangenen elf Jahren im Seitenumfang um den Faktor 11 und publizierte 2012 insgesamt 3586 Seiten (Website der Zeitschrift http://www.journals.elsevier.com/ecological-indicators/, letzter Zugriff 22.2.2013). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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menschlichen Einfluss auf Umwelt und Klima zu analysieren und umfassend zu beschreiben. Die Untersuchung des »societal metabolism« (wörtlich: »gesellschaftlicher Stoffwechsel«) besteht vorwiegend in der Analyse von Stoffund Energieströmen durch menschliche Gesellschaften von der Ressourcenaufnahme aus der Umwelt bis zu Emissionen und Abfallentsorgung in die Umwelt.21 Den Begriff des »Anthropozens« hat der Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen 2002 als eine neue erdgeschichtliche Phase vorgeschlagen, die das Holozän ablöst. Der Begriff drückt aus, dass der Einfluss des Menschen auf Umweltveränderungen im Gegensatz zu vorangegangenen erdgeschichtlichen Perioden erstmals der dominierende Faktor ist. Er ist von zahlreichen Wissenschaftlern aufgenommen und durch quantitative Analysen anthropogener Umweltveränderungen begründet worden.22 Diese vorwiegend aus den Naturwissenschaften entstandenen Bilanzierungswerkzeuge und Konzepte helfen, Veränderungen im Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt zu beschreiben. Sie sind überwiegend quantitativ ausgerichtet, reduktionistisch und repräsentieren Makroperspektiven. An diesen Ansätzen kritisiert wird, dass sie nicht ausreichend die Komplexität der Mensch-Umwelt Beziehungen erfassen, dass sie vage normative Zielsetzungen beinhalten und dass sie es z. T. an wissenschaftlicher Rigorosität fehlen lassen.23 Aus Sicht des Historikers ist einzuwenden, dass post-hoc Analysen der Veränderungen des Mensch-Umwelt Verhältnisses auf Basis quantitativer Indikatoren weit davon entfernt sind, ein Verständnis historischer Zustände und Umstände anzustreben oder leisten zu können. Sie repräsentieren eine drastische Reduzierung in der Beschreibung historischer Veränderungsprozesse. Da sich diese Analysen auf physikalisch-materielle Aspekte konzentrieren, fallen die ideellen und mentalen Voraussetzungen von Mensch-Umwelt Verhältnissen von vornherein durch das Raster. Es sind aber nicht nur die Umwelt und ihre Veränderung, die besser verstanden werden müssen, sondern der Mensch bzw. die Gesellschaft, die als wichtigste Akteure hinter diesen Veränderungen stehen, und deren Verständnis geistes- und sozialwissenschaftliche Ansätze erfordert.24 Das Konzept 21 Z. B. Marina Fischer-Kowalski, Helmunt Haberl, Metabolism and colonisation. Modes of production and the physical exchange between societies and nature, in: Innovation. The European Journal of Social Science Research 6, 1993, 415–442; Joan Martinez-Allier, Social Metabolism, Ecological Distribution Conflicts, and Languages of Valuation, in: Capitalism Nature Socialism 20, 2009, 58–87. 22 Jan Zalasiewicz u. a., Are we now living in the Anthropocene?, in: GSA Today 18, 2008, Nr. 2, 4–8. 23 Virginia H.  Dale, Suzanne C. Beyeler, Challenges in the development and use of ecological indicators, in: Ecological Indicators 1, 2001, 3–10. 24 Martin F. Price, Humankind in the biosphere. The evolution of international interdisciplinary research, in: Global Environmental Change 1, 1990, 3–13; Sverker Sörlin, Environmental humanities. Why should biologists interested in the environment take the humanities seriously?, in: BioScience 62, 2012, 788–89; Gisli Palsson u. a., Reconceptualizing © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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environmental coherence kann dazu einen Beitrag leisten. Es bietet einen neuen, offenen Zugang zur Untersuchung historischer Mensch-Umwelt Verhältnisse, ein Zugang, der eine auf mikrohistorischen Analysen bauende, umfassende, qualitative, »dichte« Beschreibung erlaubt und ein umfassenderes Verständnis von Mensch-Umwelt Beziehungen und von gesellschaftlichen Wandel und Umweltveränderungen anstrebt. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen exemplifiziert werden.

2. Die Burchardiflut und der Untergang der Insel Strand25 Der Oktober 1634 an der Nordseeküste begann mit schönem, ruhigem Herbstwetter. Auf der Insel Strand hatten die örtlichen Deichgenossenschaften ihre sommerlichen Arbeiten zur Instandhaltung der Außendeiche abgeschlossen. Die gesamte Insel war durch einen festen Deich umschlossen und das Inselland durch ältere Deiche in Köge getrennt. Am Samstag, den 11. Oktober kam Wind auf, der sich am Abend zu einem gewaltigen Sturm ausweitete. Die Deichrichter mussten mit ihren Männern zu den Deichen reiten, um den steigenden Wasserstand zu beobachten und durch das Wasser verursachte Deichschäden zu beheben. Einige Familien verließen ihre Häuser, um Sicherheit auf den Höfen der the ›Anthropos‹ in the Anthropocene. Integrating the social sciences and humanities in global environmental change research, in: Environmental Science & Policy, publiziert online (2012), DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.envsci.2012.11.004. Poul Holm et al., Collaboration between the natural, social and human sciences in Global Change Research, in: Environmental Science & Policy, publiziert online Dec. 2012, DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j. envsci.2012.11.010. Helmuth Trischler (Hrsg.), Anthropocene, Envisioning the Future of the Age of Humans, RCC Perspectives 2013:3. 25 Die Burchardiflut und ihre Folgen sind in zahlreichen Arbeiten beschrieben worden: Boy Hinrichs, Albert Panten, Guntram Riecken (Hrsg.), Flutkatastrophe 1634. Natur, Ge­ schichte, Dichtung. Neumünster 1985; Rolf Kuschert, Die frühe Neuzeit, in: Albert Bantel­ mann et al., Geschichte Nordfriesland Heide 1996, 103–204, insbes. 134–168; Dirk Meier, Land unter. Die Geschichte der Flutkatastrophen. Stuttgart 2005, 121–137; Marie Luisa Allemeyer, »In diesser erschrecklichen unerhörten Wasserfluth, kan man keine naturlichen Ursachen suchen«. Die Burchardi-Flut des Jahres 1634 an der Nordseeküste, in: Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Ostfildern 2009, 93–108; Manfred Jakubowski-Tiessen, »Erschreckliche und unerhörte Wasserflut«. Wahrnehmung und Deutung der Flutkatastrophe von 1634, in: Manfred JakubowskiTiessen, Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, 179–200; Reingard Eßer, »Ein sonderlich und erschröcklich Wasserflut«. Desaster-Management in der frühen Neuzeit, in: Münch, Erfahrung, 217–228; Bernd Rieken, »Nordsee ist Mordsee«. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster 2005, 236–257; Mara Wade, The Fifth Horseman. Discouses of Diaster and the ›Burchardi Flut‹ 1634, in: Daphnis 24, 1995, 301–328; Martin Rheinheimer, Mythos Sturmflut. Der Kampf gegen das Meer und die Suche nach Identität, in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein 15, 2008, 9–58, insbes. 13–18. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Die Insel Nordstrand und ihre Deiche vor der Überflutung nach einer Karte von Johannes Mejer (Quelle: Boy Hinrichs, Albert Panten; Guntram Riecken (Hrsg.), Flutkatastrophe 1634. Natur, Geschichte, Dichtung. Neumünster, 1985, 29).

Gutsbesitzer oder in den Kirchen zu suchen, die besseren Schutz boten, weil sie auf Warften gebaut waren und höher lagen. Bereits gegen zehn Uhr abends hatte das Wasser vor den Deichen eine solche Höhe erreicht, dass der erste Deich im Kirchspiel Stintebüll im Süden der Insel überspült wurde und brach. Schnell folgten weitere Brüche. Ganze Deichstrecken wurden zerschlagen. Die Flut, aufgepeitscht durch den Sturm und überdies durch Neumond zur Springflut verstärkt, erfolgte rasch und mit großer Gewalt. An insgesamt 44 Stellen sollen die Deiche auf der Insel gebrochen sein. Innerhalb kurzer Zeit überflutete das Wasser das Land. Den zeitgenössischen Berichten nach erreichte sie eine Höhe von mehr als vier Metern über dem mittleren Tidehochwasser, während die Deiche nur eine Höhe von etwa drei Metern hatten.26 Da der größte Teil  der Insel tiefer lag als der Meeresspiegel, gab es für die meisten Bewohner kaum eine Überlebenschance. 6.123 Menschen, etwa zwei Drittel aller Bewohner der Insel, verloren ihr Leben, 1.300 Häuser und 30 Mühlen wurden zerstört, alle 21 Kirchen der Insel trugen schwere Schäden davon, etwa 50.000 Kühe, Schafe und 26 Meier, Land unter, 122. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Schweine starben und nahezu die gesamte Ernte des Jahres war vernichtet. Die Zahl der Todesopfer könnte noch deutlich höher gelegen haben, da zahlreiche, nirgends registrierte Erntearbeiter sich auf der Insel aufgehalten haben.27 Die meisten Ortschaften, 18 der 21 Kirchen und der größte Teil  des überschwemmten Ackerlands gingen dauerhaft verloren, denn mit jeder Flut wurde das tiefliegende Land erneut überschwemmt. Einige Überlebende siedelten auf dem höhergelegenen Moor, der heutigen Insel Nordstrandischmoor, und kleinen, weniger betroffenen Teilen der Insel. Die meisten aber verließen das Land, dessen Wiedergewinnung sie aus eigenen Kräften nicht leisten konnten. Laut dem Bericht des Gaikebüller Prediger Matthias Lobedantz blieben nur 400, höchstens 1.000 Menschen auf der Insel übrig.28 Ein Wiederaufbau der Deiche war unmöglich, da es an allem fehlte: Menschen, Geld, Ausrüstung und Nahrungsmittel. Nur im Bereich der Pellwormharde, dem heutigen Pellworm, gelang in den Jahren 1635 bis 1637 die Wiederbedeichung einiger Köge. Die westlichen, dem offenen Meer zugewandten Seedeiche mussten jedoch weiter im Osten neu angelegt werden.29 Über 20 Jahre lang blieben die übrigen Teile der Insel ungeschützt dem Wasser ausgesetzt. Erst 1657, mehr als 20 Jahre nach der Katastrophe, griff der Landesherr Herzog Friedrich III. von Schleswig-HolsteinGottorf ein, enteignete die Landbesitzer und übergab das Land wohlhabenden Investoren aus den Niederlanden, die für eine erfolgreiche Wiederbedeichung von Teilen der ursprünglich 22.000 Hektar großen Insel sorgten.30 Aus zeitgenössischen Karten von Jan Berends aus dem Jahr 1634 und von Quirinus Indervelden aus dem Jahr 1659 sowie anderen Quellen konnten Petersen und Rohde den großen Landverlust dokumentieren.31 Das Leben im Marschland an der Nordseeküste, dem sogenannten Utlande, war seit jeher den Gefahren des Meeres ausgesetzt. Sturmfluten ereigneten sich regelmäßig, seit dem 10. Jahrhundert etwa in einer Häufigkeit von drei bis fünf schweren Sturmfluten in einem Jahrhundert. Jede Generation der Küs-

27 Kuschert, Neuzeit, 134. Die meisten Autoren beziehen sich auf diese Zahlen. Nach Jakubowski-Tiessen starben 6035 Einwohner (ca. 70 %) und 1336 Häuser wurden zerstört (ca. 75 %), Jakubowski-Tiessen, Wasserflut, 181. Zu den Viehverlusten: Guntram Riecken, Die Flutkatastrophe am 11. Oktober 1634. Ursachen, Schäden und Auswirkungen auf die Küstengestalt Nordfrieslands, in: Hinrichs, Panten, Riecken, Flutkatastrophe, 11–64, hier 41. 28 Boy Hinrichs, Die Landverderbliche Sündenflut. Erlebnis und Darstellung einer Ka­ tastrophe, in: Hinrichs, Panten, Riecken, Flutkatastrophe, 81–105; hier 85. 29 Meier, Land unter, 130. 30 Allemeyer, Kein Land, 97 f. 31 Marcus Petersen, Hans Rohde, Sturmflut, die großen Fluten an den Küsten SchleswigHolsteins und in der Elbe. Neumünster 1977, 42. Die heutigen von der Insel Strand gebliebenen Inseln Pellworm und Nordstrandischmoor und die Halbinsel Nordstrand haben (einschließlich der Landgewinne durch Eindeichungen) eine Gesamtfläche von ungefähr 8400 Hektar. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Die Insel Nordstrand vor der Burchardiflut 1634 (oben) nach einer Karte von Jan Berends und die verbliebenen Inseln nach der Flut (unten) nach einer Karte von Quirinus In­dervelden aus dem Jahr 1659 (Boy Hinrichs, Albert Panten; Guntram Riecken (Hrsg.), Flutkatastrophe 1634. Natur, Geschichte, Dichtung. Neumünster 1985, 43 und 79). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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tenbewohner erlebte somit mindestens eine schwere Sturmflut.32 Viele Autoren führten eine zunehmende Höhe der Sturmfluten, denen entsprechend auch die Höhe der Deiche im Verlauf der Jahrhunderte erhöht wurde, auf einen Anstieg des Meeresspiegels der Nordsee zurück.33 Seit dem Beginn der Bedeichung im 11. Jahrhundert führte das Zusammenspiel aus Deichbau zur Landgewinnung und Sturmfluten zu deutlichen Verschiebungen der Küstenlinie. Während bis ins 16. Jahrhundert die Landverluste überwogen und zahlreiche Ortschaften wie das sagenumwobene Rungholt untergingen, ermöglichte der Deichbau seitdem mehr Landgewinne.34 Zwischen 1500 und 1700 gelang es den Menschen an der Küste Nordfrieslands, 50 neue Köge einzudeichen. Im 18. Jahrhundert kamen weitere 14 Köge mit 6.700 Hektar Land hinzu.35 Nach der Bedeichung wurden die Seemarschen und Moore entwässert und in dem neuen Kulturland, dem »Sietland«, in Reihen angeordnete Höfe auf flachen Wurten gebaut.36 Die trocken gefallenen, schweren Marschböden waren sehr fruchtbar. Sie lieferten beste Kornerträge und eigneten sich ausgezeichnet für die Viehzucht. Überdies konnte in den Sietländern Salz- und Torfabbau betrieben werden, was allerdings zu einer weiteren Absenkung des Landes führte.37 Die Bewohner des Küstenlandes waren mit heftigen Stürmen und Sturmfluten vertraut. Über Jahrhunderte entwickelten sie Wissen, Praktiken, Institutionen und Traditionen, um sich in dieser Landschaft zu behaupten. Ihre Geschichte kann beschrieben werden als eine Geschichte zunehmender envi­ ronmental coherence. Die ganzjährige Besiedlung des Küstenlandes, die Ausweitung von Deichbau, Ackerbau, Viehzucht und Schifffahrt repräsentieren den Zusammenhang von Kultur und Umwelt. Ein besonders wichtiger Faktor war der Bau und die Instandhaltung von Deichen, die in genossenschaftlichen Verbänden organisiert waren. Genau definierte Rechte und Pflichten sowie Verfahren zur Klärung von Konflikten bei der Verteilung der Lasten waren im Laufe der Jahrhunderte entstanden und – zunächst in mündlicher Überlieferung, seit 1557 in schriftlicher Form – weitergegeben worden.38 Diese kulturel-

32 Petersen, Rohde, Sturmflut; Manfred Jakubowski-Tiessen, Die großen ›Mandränken‹ – Sturmfluten in Nordfriesland, in: Thomas Steensen (Hrsg.), Das große Nordfrieslandbuch. Hamburg, 2000, 122–133; Meier, Land unter, 2005. 33 Hans-Joachim Kühn, Die Anfänge des Deichbaus in Schleswig-Holstein. Heide 1992, 11; Hans-Joachim Kühn, Albert E. Panten, Der frühe Deichbau in Nordfriesland. Archäologisch-historische Untersuchungen. Bredstedt: Nordfriisk Institut, 1989, 13; Julia Meyn, »Mit dem Meer wird man geboren«. Berlin 2007, 27. 34 Rieken, Nordsee, 70. 35 Allemeyer, Kein Land, 47. 36 Meier, Nordseeküste, 20–30. 37 Küster, Geschichte, 218–222; Albert E. Panten, Das Leben in Nordfriesland um 1600 am Beispiel Nordstrands, in: Hinrichs (Hrsg.), Flutkatastrophe 1634, 65–80, hier 67–69. 38 Allemeyer, Kein Land, 72, 83–86. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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len Innovationen trugen dazu bei, den Zusammenhalt von Kultur und Umwelt zu gewährleisten. Nicht nur die materiellen Schäden von todbringenden Sturmfluten, auch die traumatisierenden Erfahrungen wurden in Traditionen und Ritualen aufgefangen, ein entscheidender Faktor, um environmental coherence zu ermöglichen. Die mündliche Überlieferung von Sturmfluterinnerungen blieb über mehrere Jahrhunderte lebendig und diente der Bewältigung von Trauma, Ungewissheit und Angst. Noch im 20. Jahrhundert kursierten Erinnerungsbilder an die zweite Marcellus-Flut (die sogenannte »Grote Mandränke« von 1362) und an den Untergang einzelner Orte, etwa Torums (1509) oder Benses (1570).39 Sinnstiftende Erklärungen und symbolische Deutungen hatten dieselbe Funktion. Sturmfluten wurden als ein Zeichen Gottes gedeutet, der den Menschen Tod und Leiden als Warnung und Strafe für gottloses Verhalten sandte. Die Fluten erhielten deshalb den Namen »landverderbliche Sündfluten«. Gott wurde von zeitgenössischen Chronisten entweder als ein durch die Sünden der Menschen erzürnter Gott beschrieben, der vor dem drohenden Weltende warnte, oder als ein gnädiger Gott, der das Übel beseitigen und die Menschen zu einem frommen, gottesfürchtigen Leben führen wollte. Als Konsequenz der grausamen Erfahrung wurde die Besserung des Menschen gepredigt. Diese Schuldzuweisung hatte eine wichtige Funktion. Sie ermächtigte die Menschen, selbst die Verantwortung zu tragen und durch ihr Verhalten ein Leben unter Gottes Schutz in Sicherheit führen zu können.40

3. Miami Beach and the Great Miami Hurricane Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand der Süden Floridas überwiegend aus unbesiedeltem Marschland und Sümpfen, in denen Mangroven, Moskitos und Alligatoren lebten. Doch innerhalb weniger Jahre sollten sich große Teile des Landes radikal verändern. Einige Investoren erkannten die ökonomischen Perspektiven des Landes im bald so genannten »Sunshine State«. Der reiche Erdölmagnat, Eisenbahnbauer und Hotelunternehmer Henry Morrison Flagler erbaute im späten 19. Jahrhundert die Florida East Coast Railway, die 1896 Miami erreichte. 1905 beschloss Flagler, die Bahnlinie nach Süden zu verlängern und über die Inselkette der Florida Keys bis zum westlichen Endpunkt Key West zu führen. Flagler leistete damit entscheidende Beiträge für die rasche Entwicklung und Besiedlung des Südens von Florida und wurde als »empirebuilder«, »Florida

39 Rieken, Nordsee, 333. 40 Jakubowski-Tiessen, Wasserflut, 187–192; Allemeyer, Wasserfluth; Rieken, Nordsee, 278–283. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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baron« und – mit kritischem Unterton – »visionary robber baron« bezeichnet.41 Der Bau der Bahnstrecke bis nach Key West war ein gewagtes Unternehmen, bei dem über einen Zeitraum von sieben Jahren 40.000 Arbeiter eingesetzt wurden. Während des Baus wurde die Region von drei Hurrikans heimgesucht, die verheerende Schäden und den Tod von etwa 700 Arbeitern verursachten.42 Zu diesem Zeitpunkt war Miami Beach nur ein schmaler, lediglich etwa 60 Meter breiter, etwa vier Kilometer vor der Küste gelegener Sandstreifen, der die vollständig mit Mangroven zugewachsenen Biscayne Bay abschloss. Ein weiterer legendärer Unternehmer, Carl Graham Fisher, verwandelte innerhalb weniger Jahre ausgedehnte Mangrovensümpfe in ein Tourismusparadies für die gehobene Gesellschaft. Fisher war ein dynamischer Automobilunternehmer, der nicht nur außerordentlich erfolgreich mit Automobilteilen Handel trieb, sondern auch den Indianapolis Speedway schuf und zu den wichtigsten Figuren hinter dem Bau des Lincoln Highways, dem ersten Highway von Küste zu Küste, und des Dixie Highways von Michigan bis nach Florida zählte.43 Während Flagler Südflorida mit der Bahn zugänglich machte, erschloss Fisher Südflorida für die entstehende automobile Gesellschaft und – als Schöpfer von Miami Beach – für den Tourismus. 1910, als die junge Stadt Miami gerade einmal 5.500 Einwohner hatte, erwarb Fisher ein Areal von etwa 0,8 Quadratkilometer des vor Miami im Meer gelegenen Sandstreifens. 1913 ließ er gemeinsam mit anderen Investoren vier Quadratkilometer der Biscayne Bay vom Mangrovenbewuchs befreien. Fisher erkannte den Wert von am Wasser gelegenen Grundstücken und machte daraus ein großes Geschäft. Den sumpfigen Sandstreifen, Miami Beach, ließ er entwässern und befestigen. 1917 begann er Anteile der Biscayne Bay vom Staat zu erwerben, um durch Sandaufschüttung in die Bay eine künstliche Insel, Star Island, zu schaffen. Bald darauf baute er eine feste Straßenverbindung zum Land. Das neu geschaffene Land konnte zu exorbitanten Preisen verkauft werden. Fisher erzielte mit dem Verkauf von Land allein 1925 einen Gewinn von 23 Millionen Dollar. 41 Für seine Vorhaben nutzte Flagler legale wie illegal Mittel, z. B. Gängelung der Presse oder gelegentliche Bestechungsgelder an Regierungsbeamte. Flagler selbst sah sich eher als paternalistischer Unternehmer denn als despotischer Baron. Edward N. Akin, Flagler. Rockefeller Partner and Florida Baron. Kent, Ohio, 1988; Seth H. Bramson, Speedway to Sunshine. The Story of the Florida East Coast Railway. Boston 2002; David Leon Chandler, Henry Flagler, The Astonishing Life and Times of the Visionary Robber Baron Who Founded Florida. New York 1986; Sidney Walter Martin, Florida’s Flagler. Athens 2010 (Erstdruck 1949); Susan R. Braden, The Architecture of Leisure. The Florida Resort Hotels of Henry Flagler and Henry Plant. Gainesville 2002. 42 Jay Barnes, Florida’s Hurricane History. Chapel Hill 2007, 85–92; Steinberg, Acts of God, 66. 43 Zu Fisher siehe: Mark Foster, Castles in the Sand, The Life and Times of Carl Graham Fisher. Gainesville 2000; Jerry M. Fisher, The Pacesetter. The Untold Story of Carl G. Fisher. Kalifornien, 1998; Jane Fisher, Fabulous Hoosier. New York 1947. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 3: Bau der Venetian Islands in der Biscayne Bay in den 20er Jahren, im Vordergrund Miami, im Hintergrund Miami Beach (Quelle: State Archives of Florida, Florida Memory, Bild 40018).

Fischers Geschäftsidee weitete sich zu einer »money-mad mass mania« (­Rascoe) und »mania for water frontage« (Steinberg).44 Investoren aus allen Teilen des Landes fluteten Miami und die Biscayne Bay in den frühen 1920er Jahren. Sie erstanden Grundstücke sogar unbesehen per Post, verursachten »an orgy of land speculation« und realisierten »phenomenal profits«.45 Miami wurde zu der am schnellsten wachsenden Stadt in den USA .46 Investoren schufen weitere künstliche Inseln in der Biscayne Bay, die klangvolle italienische Namen wie San Marco, San Marino, Di Lido oder Rivo Alto erhielten und als Venetian Islands bezeichnet wurden. Bis 1931 wurden etwa 25 Quadratkilometer künstliche Landfläche in der Biscayne Bay geschaffen. Besonders exklusiv waren die Grundstücke auf Miami Beach, das von prachtvollen Hotels und Villen im populären »Mediterranean-revival style« gesäumt wurde.47 Der Gesamtwert von Miami Beach war von 250.000 Dollar im Jahr 1915 auf 44 Millionen Dollar 44 Steinberg, Acts of God, 49; Burton Rascoe, Introduction, in: Theyre H. Weigall, Boom in Paradise. New York 1932, xi. 45 Paul S.  George, Brokers, Binders, and Builders. Greater Miami’s Boom of the Mid1920s, in: The Florida Historical Quarterly 65, July 1986, Nr. 1, 27–51, hier 27 und 31. 46 Frank B. Sessa, Miami on the Eve of the Boom. 1923, in: Tequesta 11, 1951, 3–25, hier 6. 47 George, Brokers, 40. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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1925 gestiegen. Allein 1925 erreichten die Investitionen für Neubauten ein Volumen von 17,7 Millionen Dollar. 1926 besaß Miami Beach 50 Hotels, etwa 200 Apartment Blocks und 800 Privathäuser.48 Der Immobilienboom hatte 1925 seinen Höhepunkt erreicht und führte spätestens im Herbst des Jahres zu Überhitzung und stagnierenden Geschäften. Das weitgehend ungeordnete, wilde Wachstum brachte eine Vielzahl von Problemen mit sich, ein explosives Bevölkerungswachstum, verstopfte Straßen, akute Wohnungsknappheit für Arbeiter und ärmere Bewohner, Immobilienbetrug, Korruption, Konkurse und zahllose Gerichtsverfahren. Im Frühjahr 1926 fielen die Aktienpreise und ein »mass exodus of speculators« begann. Der Boom war vorüber.49 Aber es sollte noch schlimmer kommen. Am 11. September 1926 entwickelte sich ein tropisches Tiefdrucksystem in der südlichen Karibik. Das System bewegte sich rasch westwärts und hatte sich zu einem mächtigen Hurrikan entwickelt, als es am 15. September den Norden Puerto Ricos passierte und am 17. September die Bahamas mit Winden bis zu 240 Kilometer pro Stunde Geschwindigkeit verheerte. Beobachtungsnetze und Datenaustausch des Wetterdiensts waren noch nicht sehr weit entwickelt. Erst gegen Mitternacht am 18. September veröffentlichte das Wetterbüro in Miami eine Sturmwarnung. Zwei Stunden später, um zwei Uhr nachts des 19. September 1926, krachte der Hurrikan mit elementarer Gewalt auf die Küste. Etwa eine Stunde später fiel das Telefonnetz aus, da Telefonmasten und Leitungen durch die Luft geschleudert wurden. Bis um fünf Uhr am Morgen stiegen die Windgeschwindigkeiten an. Das Auge des Sturmes erreichte Miami gegen sechs Uhr morgens. Plötzlich ließen die Winde nach und lockten viele Menschen auf die Straßen. Manche versuchten gar von Miami Beach nach Miami zu gelangen. Nach etwa einer halben Stunde hatte das Auge des Sturms Miami passiert und die zweite, noch verheerendere Hälfte des Sturmes setzte ein. Der Wind wusch die Menschen regelrecht von den Brücken. Einige Brücken wurden komplett weggerissen. Mit diesem Teil des Sturmes drehte die Windrichtung, auflandiger Wind verursachte eine Flutwelle von drei Meter Höhe, die Miami Beach und die meisten Inseln komplett überspülte. Südlich des Zentrums von Miami stürzte eine 4,5 Meter hohe Welle auf das Land und setzte es bis zu drei Blocks hinter der Küstenlinie unter Wasser.50 48 Steinberg, Acts of God, 48–50; George, Brokers, 42. 1955 sollten es 6000 Privathäuser und 20.000 Apartments sein. Miami Beach hatte etwa 60.000 dauerhafte Bewohner und wurde jährlich von 2 Millionen Touristen besucht. Ruby Leach Carson, Forty Years of Miami Beach. History of Miami Beach to 1955, in: Tequesta XV, 1955, 3–27, hier 3. 49 George, Brokers, 46–49; Raymond B. Vickers, Panic in Paradise. Florida’s Banking Crash of 1926; Tuscaloosa, Alabama, 1994. 50 Barnes, Hurricane history, 111–125; Russell L. Pfost, Reassessing the impact of two historical Florida hurricanes, in: Bulletin of the American Meteorological Society 81, 2000, 1367–1372; Charles L. Mitchell, The West Indian hurricane of September 14–22, 1926, in: Monthly Weather Review 54, 1926, 409–416. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 4: Miami Beach nach dem Hurrikan 1926 (Quelle: State Archives of Florida, Florida­ Memory, Bild 4133).

Der »Great Miami Hurricane« oder »Big Blow« verursachte gewaltige Schäden. Autos wurden durch die Luft gewirbelt, Häuser zerschmettert, Dächer von Gebäuden gerissen, Boote und Schiffe auf das Land geworfen. Miami Beach war durch die Flutwelle vollkommen zerstört. Eine Liste des Roten Kreuzes zählte 373 Todesopfer und 6.381 Verletzte. Im Großraum Miami wurden 4.725 Häuser vollkommen zerstört, 9.100 beschädigt und 25.000 Menschen obdachlos.51 Die Schäden beliefen sich neueren Schätzungen nach auf bis zu etwa 157 Milliarden Dollar (Dollarwert von 2005). Der »Great Miami Hurricane« verursachte danach die größten monetären Schäden aller Hurrikans, sogar deutlich höhere Schäden als der Hurrikan Katrina im Jahr 2005.52 51 Pfost, Reassessing, 1368.Monthly Meteorological Notes at Miami for September 1926, Saturday 18th, 3, online: http://www.srh.noaa.gov/images/mfl/events/1926hurricane/1926_ hurricane_WBO3.jpg (2.3.2013). 52 Roger A. Pielke u. a., Normalized Hurricane Damage in the United State ­1900–2005, in: Natural Hazards Review 9, 2008, 29–42. Katrina verursachte danach Schäden von 81 Mil­ liarden Dollar. Die Swiss Re bezifferte die Schäden von Katrina allerdings auf über 140 Mil­ liarden Dollar. Swiss Re, Natural catastrophes and man-made disasters in 2006, in: Sigma, 2007, Nr. 2, 13. Steinberg gab für die Schäden des Miami Hurrikans eine erheblich geringere Summe von 1,4 Milliarden Dollar (Dollarwert 1994) an. Steinberg, Acts of God, 54. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Als der »Great Miami Hurricane« Südflorida traf, existierte kaum ein Bewusstsein für das Risiko solcher Stürme. Die meisten der 200.000 Einwohner, die von dem Hurrikan betroffen waren, lebten erst seit kurzem in Südflorida. Der Immobilienboom hatte nicht nur zahlreiche Geschäftemacher angelockt, sondern auch viele ärmere Menschen, zum Großteil Schwarze, die auf Arbeit in der boomenden Metropole hofften. Viele von ihnen hatten niemals einen Hurrikan erlebt. Das galt auch für die Mehrzahl der Investoren, Bauunternehmer und Architekten. Eine environmental coherence hatte kaum entstehen können. Kulturelle Praktiken, vor allem die großtechnische Transformation der Landschaft, wurden in die Umwelt Südfloridas ebenso importiert wie die Visionen herrschaftlicher mediterraner Architektur und mediterranen Lebensstils. Der Zusammenhang zwischen der eingewanderten Gesellschaft und ihrer Umwelt in Südflorida war vor allem technisch vermittelt, eine Verbindung und gegenseitige Bedingtheit von Wissen, Praxis und Umwelt gab es kaum. Zweifellos war Südflorida als eine Region bekannt, in der Hurrikans auftraten. Doch dabei handelte es sich um ein abstraktes Wissen, das überdies systematisch aus der Öffentlichkeit ausgeblendet wurde. Dabei half, dass Hurrikans nicht Teil  des kulturellen Gedächtnisses der jungen Bevölkerung war. Der letzte größere Hurrikan hatte Florida 1910 getroffen, als Miami 5.500 Einwohner hatte. 1925 lebten bereits 100.000 Menschen dort, von denen die meisten aus anderen Regionen der USA stammten.53 Doch es fehlte nicht allein an der Erfahrung mit Hurrikans. Immobilienspekulanten und Behörden, die von dem Boom profitierten, hatten ein Interesse daran, Stillschweigen um existierende Risiken zu bewahren. Miami und Miami Beach wurden den Touristen und Immobilienkäufern als warmes, sonniges und sicheres Paradies mit großartigen weißen Stränden und einem prachtvollen türkisen Meer verkauft.54 Zusammenhang und Zusammenhalt von Gesellschaft und Umwelt im Sinne von ­environmental coherence war kurzfristigen kommerziellen Interessen untergeordnet und unerwünscht. Der Hurrikan von 1926 war die schlechteste denkbare Werbung für die ohnehin schwächelnde Boomregion. Ein erster Reflex der Investoren und Behörden bestand darin, den Hurrikan und seine Auswirkungen herunterzuspielen. 53 Zwei Lehrerinnen, die 1926 neu nach Florida gekommen waren, berichteten von der Sturmnacht: »All of a sudden the wind came up and just took the sheets off our bed, clear across the room. Then we heard all this glass breaking. It was between 11 and 12, and we got up and looked out. The sky was all lit up. We had never been in anything like that before, and we were scared to death. Then the hotel clerk came along and knocked on the door and I said, ›Is this a bad storm?‹ and he said, ›Oh, lady, it’s terrible‹.« Stuart McIver, 1926 Miami. The blow that broke the boom, Sun-Sentinel, 19.9.1993, online: http://www.sun-sentinel.com/ news/local/southflorida/sfl-1926-hurricane,0,5204136.story (1.3.2013). 54 David Nolan, Fifty feet in paradise.The booming of Florida. New York 1984; George, Brokers; Theyre H. Weigall, Boom in Paradise. New York 1932. Weigall war Mitarbeiter in der Marketing Abteilung von Coral Gables, einem Ort 15 Kilometer südwestlich von Miami. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Die offizielle Zahl der Todesopfer gaben die Behörden kurz nach der Katastrophe mit 60 an, während die New York Times gleichzeitig von 175 aufgefundenen Leichen berichtete. Die wichtigste Zeitung von Miami, der Miami Herald, der nachdrücklich die Seite der Investoren vertrat, veröffentlichte auf Druck des Chefredakteurs eine um den Faktor zehn zu geringe Schadenssumme. In einem Artikel vom 26. September 1926 hieß es: »Miami is not in ruins. Miami will be her smiling self again within short time.« Dieser Artikel war mit einem Cartoon illustriert, auf dem zahlreiche sprechende Menschen und ein Sturm von Worten in der Luft abgebildet waren. Der Cartoon war untertitelt mit dem Satz: »The wind that does the most damage.« Nicht der Hurrikan, sondern das Gerede und die Gerüchte über diesen verursachten danach den größten Schaden. Der Gouverneur von Florida, John Martin, machte Gott für die Tat verantwortlich, während andere die Ursache in einer Natur suchten, deren Gesetze der Mensch nicht beeinflussen kann.55 Narrative wie diese leugneten den Zusammenhang von Kultur und Umwelt und konstruierten Distanz, Indizien die auf eine geringe environmental coherence deuten. Der Historiker Theodore Steinberg kam freilich zu einem ganz anderen Schluss: Unternehmer und Spekulanten hätten wissentlich auf gefährdetem Land gebaut und die Risiken verschwiegen. Gebäude waren ohne adäquaten Schutz errichtet worden. Bauvorschriften existierten praktisch nicht. Warnsysteme, Evakuierungspläne, Überflutungsschutz, all das gab es nicht, durfte es nach Steinberg nicht geben, da sonst das Risiko sichtbar gewesen wäre. Praktiken und Institutionen wie diese, die die environmental coherence vergrößern können, existierten somit nicht. Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Einschätzungen schloss Steinberg, dass es sich bei der Hurrikan-Katastrophe 1926 nicht um eine Naturkatastrophe, sondern um eine von Menschen verursachte Katastrophe handelte.56

4. Naturkatastrophen und Environmental Coherence Die Geschichten der Sturmflut im Jahr 1634 auf der Insel Strand und des »Great Miami Hurricane« im Jahr 1926 in Südflorida zeigen auffällige Kontraste. Die Bewohner der Insel Strand schufen wie die Landentwickler in Florida einen künstlichen Lebensraum. Doch an der Nordseeküste erfolgte dieser Prozess innerhalb einer langen Zeitspanne von Jahrhunderten und mit moderaten technischen Mitteln. Zur Umgestaltung der Landschaft dienten Hände, Schaufeln und Pferdekarren sowie die Erfahrung vieler Generationen von Deicherbauern. Südfloridas Investoren und Einwohner waren zum großen Teil gerade ins Land 55 Steinberg, Acts of God, 54–61. 56 Ebd., 66–68. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gekommen. Mit massiven technischen Eingriffen »wurde die ursprüngliche Landschaft ausgelöscht als wäre sie nie gewesen und eine besser verkäufliche an ihrer Stelle gebaut«, schrieb Polly Redford, die Biographin von Miami Beach.57 Mit dem Kapital und der Maschinerie der industrialisierten USA schufen die Landentwickler innerhalb weniger Jahre neue Bahnlinien, Straßen und Städte, prachtvolle Villen und Hotels und neue künstliche Inseln in der Biscayne Bay. Auch Wissen, Mentalitäten und Institutionen unterschieden sich dramatisch. Die Strander Bevölkerung lebte im Bewusstsein furchtbarer Fluten, die alle paar Jahrzehnte das Land heimsuchten und deren Erinnerung von Pastoren und Chronisten und von Generation zu Generation in Mythen und Geschichten weitergegeben wurden. Der Respekt vor den Kräften der Natur war gleichsam eingeschrieben in das kollektive Gedächtnis, in Rituale und Traditionen ebenso wie in Regeln, Praktiken und Institutionen wie dem Deichrecht. Die Menschen verstanden Sturmfluten als ein Zeichen Gottes, als drastische Warnung, die gegen unredliches und gottloses Verhalten gerichtet war. Sie sahen sich somit selbst als Verursacher und Täter, während die Natur das Opfer war. In Florida gestalteten Investoren das Land um, ohne großes Wissen über die Landschaft und Bewusstsein für ihre Empfindlichkeiten und Gefahren. Selbstgewiss verfolgten sie individuelle ökonomische Interessen und verfügten über Kapital, Technik und Institutionen der modernen Gesellschaft (Banken, Behörden, Lobbys, Massenmedien), deren Gestalt und Einfluss überregional und kaum von lokalen Gegebenheiten und Wissen geprägt war. Zur Erklärung der Katastrophe argumentierten die Meinungsführer in Florida im Vergleich zu den Menschen auf Strand mit umgekehrter Kausalität. Die Natur (oder auch Gott) wurden als Ursache angesehen, während der Mensch das Opfer und also schuldlos und ohne Verantwortung für die Verheerungen war. Mikael Hård und Andrew Jamison haben die Geisteshaltung der Moderne als eine Perspektivenverengung beschrieben. Frühneuzeitliches Wissen war danach noch selbstverständlich mit moralischen Inhalten verknüpft. Der Aufstieg einer wissenschaftlich-technischen Rationalität seit dem 17. Jahrhundert führte zu einer Entkopplung des Wissens von moralischen Vorstellungen.58 Die in diesem Beitrag präsentierten Fallstudien zweier Naturkatastrophen legen die Deutung nahe, dass die Entstehung der modernen Gesellschaft auch Veränderungen von environmental coherence beinhaltete. Moderne Technologie hat den Umfang und die Nachhaltigkeit von Eingriffen in Umwelt dramatisch vergrößert. Sie hat die Schaffung technologischer Landschaften ermöglicht und eine zunehmende Lösung des Menschen von Vorgängen in der Natur verursacht. 57 Polly Redford, Billion-dollar sandbar. A biography of Miami Beach. New York 1970, 73; zitiert nach: Steinberg, 49 (Übersetzung durch den Verfasser). 58 Mikael Hård, Andrew Jamison, Hubris and hybrids. A cultural history of technology and science. New York 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Das Artifizielle der neugeschaffenen Umwelt überlagerte die Wirksamkeit und Sichtbarkeit vieler natürlicher Prozesse. Moderne Technologie prägte auch das Bewusstsein und einen Glauben an die Machbarkeit technischer Visionen. Es förderte auch die Beherrschbarkeit natürlicher Prozesse. Das Selbstbewusstsein der dynamischen Unternehmer in Florida gründete nicht zuletzt in den Leistungen moderner Technik und dem Reichtum, zu dem diese verholfen hatte. Technologie ist aber nur ein Teil der Erklärung. Wissensformen, Glaubensinhalte, Mentalitäten und gesellschaftliche Institutionen sind ein weiterer Faktor, um Unterschiede von environmental coherence zu verstehen. Die Bewohner der Insel Strand lebten seit vielen Generationen an der Nordseeküste und hatten auf lokale Erfahrungen gegründete Institutionen und Traditionen entwickelt, die den Eigenarten der Landschaft Rechnung trugen. Sie lebten überdies in einer Kultur von Angst und Respekt vor den natürlichen Kräften und in einem Gottesglauben, der dazu beitrug, die Gefahren und traumatischen Erlebnisse zu bewältigen und das Handeln zu disziplinieren. In Südflorida existierte kein überliefertes Wissen aus Generationen, da die meisten Investoren und Bewohner aus anderen Regionen neu übersiedelt waren. Die Maßlosigkeit des Immobilienbooms unterstreicht die Tatsache, dass regulierende Institutionen unterentwickelt waren oder erst geschaffen werden mussten. Es existierten praktisch keine kodifizierten oder mündlich tradierten Regularien; es gab keine Baugesetze und Kontrollverfahren und keine Behörden, denen daran gelegen war; es regierte – wenn überhaupt – das Gesetz von Kapital und Eigennutz, unterstützt von einer Kultur ausgeprägten Pioniergeists, Gestaltungs­w illens und Selbstbewusstseins. Die Fallbeispiele zeigen deutlich, dass die betrachteten Kulturen an der Nordseeküste und in Südflorida unterschiedliche Formen und ein unterschiedliches Ausmaß an environmental coherence entwickelt haben. Gerade ihre Gegenüberstellung hilft dabei, Unterschiede der environmental coherence beider Gesellschaften herauszuarbeiten. Das Konzept bietet die methodische Basis für den Vergleich und macht das Vergleichen sinnhaft, obwohl beide Fälle, beide Zeitepochen, beide Kulturen keinerlei direkte Beziehung zueinander haben und – in einem weiteren Sinn – kaum miteinander vergleichbar zu sein scheinen. Der Vergleich beider Fallbeispiele erscheint überdies sinnhaft, obwohl die Bestimmung des Konzepts environmental coherence bisher noch vorläufig und unvollständig ist. Weitere Analysen und Vergleiche von Naturkatastrophen können zu einer besseren Bestimmung und Schärfung des Begriffes und seiner Grenzen beitragen.59

59 Ich sehe darin keine Zirkularität der Argumentation, sondern eine Evolution des Instrumentariums durch empirische Arbeit. Es ist bisher offen, wie weit dieses Instrumen­ tarium tragen kann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Matthias Heymann

Die hier geleisteten Ansätze eines qualitativen Vergleichs werfen die Frage nach der historischen Veränderung von environmental coherence auf. Auch wenn die Kulturen der Nordseeküste im 17. Jahrhundert und Südfloridas im frühen 20. Jahrhundert nichts direkt miteinander zu tun haben, so sind sie doch verbunden durch die Geschichte, durch historischen Wandel der über vielfältige Veränderungs-, Entwicklungs- und Austauschprozesse vom 17. Jahrhundert im Herzogtum Schleswig-Holstein zum 20. Jahrhundert in den USA führt. Zumindest die Analyse von einer Folge historischer Naturkatastrophen in einer Region kann wertvolle Erkenntnisse über die Entwicklung und Veränderung von environmental coherence ermöglichen, insbesondere vor dem Hintergrund historischen, politischen und technischen Wandels innerhalb des betrachteten Zeitraums. Das Fallbeispiel der Insel Strand verweist auf eine jahrhundertelange Geschichte von Umwelterfahrung und Umwelthandeln mit Einfluss auf die environmental coherence der Küstengesellschaft. Das Fallbeispiel von Miami Beach zeigt den Mangel einer solchen Geschichte, wirft aber die Frage auf, welche kulturellen und politischen Lernprozesse nach der Katastrophe erfolgten, um die Küstenbevölkerung in Florida besser für derartige Ereignisse vorzubereiten und vor ihnen zu schützen, also ein größeres Maß an environmental cohe­ rence zu gewährleisten.60 Nur zwei Jahre später folgte der »Okeechobee Hurricane«, neun Jahre später, am 2. September 1935, traf der »Labor-Day Hurricane« Südflorida. Weitere Hurrikans folgen.61 Die Analyse historischer Naturkatastrophen bietet die Chance, unser Verständnis von kulturellen und Umweltveränderungen zu bereichern. Einerseits kann sie helfen, den Begriff der environmental coherence präziser zu fassen und zu entwickeln. Andererseits kann sie Ausgangspunkt werden, um die environ­ mental coherence von Gesellschaften und ihre Veränderung in der Zeit zu bestimmen sowie environmental coherence in verschiedenen Zeiten und Regionen sinnvoll miteinander zu vergleichen. Der Begriff bietet somit ein historisch bestimmtes Konzept, das auch geeignet ist, gegenwärtige Gesellschaften und ihr Verhältnis zur Umwelt zu untersuchen. Es kann dazu beitragen, das Verständnis des Mensch-Umwelt Verhältnisses zu verbessern und gegenwärtig weit verbreitete Anwendungen quantitativer Indikatoren zu ergänzen.

60 Scott Gabriel Knowles, The Disaster Experts: Mastering Risk in Modern America. Philadelphia 2011. Dass auch für Miami der »Great Miami Hurricane« identitätsprägend war, zeigt zumindest das 1926 gegründete Footballteam der Universität von Miami, den auch heute noch so genannten »Miami Hurricanes«. History of Miami Football, Miami Hurricanes Website, online: http://hurricanesports.com/ViewArticle.dbml?SPSID=658365&SPID=1037 63&DB_OEM_ID=28700&ATCLID=205543088 (1.3.2013). 61 Steinberg, Acts of God, 60–63; Barnes, Hurricane History. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

»Was nun nach den Erfahrungen von der Februarsfluth d. J. [1825] an den bisherigen Deichen gegen Seefluthen besonders zu verbessern Noth thut, dürfte wohl zuförderst darin bestehen, daß sie höher, und dann auch größtentheils an der Binnenseite flacher zu machen sind, als sie bisher waren. Man wird die Seedeiche nicht so hoch machen können und wollen, daß bei hohen Fluthen nicht einzelne Wellen überschlagen, näm­ lich auf der äußern Böschung bis zur Kappe, oder den Kamm hinaus und darüber hin­ laufen. Dergleichen Ueberlauf einzelner Wogen und Wellen vertragen alle grüne Deiche auch sehr gut. Aber einen fast continuirlichen Ueberlauf aller Wellen können diese ho­ hen Erd- und Rasenwerke nicht mehrere Stunden hintereinander unverletzt ertragen. Daher wird denn auch billig bei der Bestimmung der Deichhöhe die Höhe der Wellen berücksichtigt, und zwar so, daß wo die Deiche etwas niedriger, oder die Wellen höher sind, als sie früher waren, welches letztere schon allein durch den Abbruch des Vorlan­ des, oder durch größere Orkane, kann verursacht werden, selbige alsdann der Erfah­ rung gemäß verhöhet werden.« Aus: Reinhard Woltman, Einige Bemerkungen über die hohe Sturmfluth in der Nacht vom 3ten auf den 4ten Februar 1825, und über die dadurch verursachten Deichbrüche und Überschwemmungen, in: Hannoversches Magazin, 88. Stück, 2. November 1825, 693–700; 89. Stück, 5. November 1825, 701–708 und 90. Stück, 9. November 1825, 709–714, hier: 707.

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Norbert Fischer

Leben mit der Flut − Leben mit dem Deich Über Mentalität, Technik und Gesellschaft an der Niederelbe vom 17. bis 20. Jahrhundert

1. Zwischen Land und Wasser: Der Deich als materielle und symbolische Grenze Betrachtet man historische Landkarten der Elbe zwischen Hamburg und der Mündung in die Nordsee, so fällt unmittelbar ins Auge, wie stark sich die Deich- und Uferlinien entlang des Stromes immer wieder verändert haben. In einigen Fällen gab es erhebliche Landverluste, in anderen umgekehrt bedeutenden Anwachs. So wanderten die Uferlinien und Deiche an der südlichen Elbmündung allein zwischen 1618 und 1785 um rund zwei Kilometer landeinwärts. Hingegen gab es stromaufwärts im Bereich Nordkehdingen bis Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere tausend Hektar Landanwachs. Verantwortlich für diesen dramatischen Wandel der Uferlinien sind die Einflüsse von Gezeiten, Strömungen und Sturmfluten einerseits, von Menschen betriebene Wasserbautechnik andererseits. Dabei ist der Deich zum repräsenta­ tiven Symbol des Vor und Zurück gegenüber dem Wasser geworden. Er hat die Gesellschaftsformationen an der Niederelbe ebenso beeinflusst wie die Mentalitäten. Generell ist der Deich in den gezeitenabhängigen Regionen der Nordseeküste ein bedeutungsgeladenes Element jener räumlichen Segmentierung der Küstenlandschaft, die in vielfältigen Beziehungen zu den jeweiligen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen steht.1 Das Wechselspiel zwischen Wasser und Land unterlag vielfältigen Einflüssen von hydrologischen und klimatischen Bedingungen einerseits, wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Interessen andererseits. Nur scheinbar markiert der Deich eine dauerhafte technische Barriere zwischen Land und Fluss. Rein definitorisch sind Deiche fest aufgeschichtete, zweckentsprechend geformte und aus Erdbaumaterialien bestehende Wälle zum Schutz gegen Über 1 Für die schleswig-holsteinische Westküste hierzu die Göttinger Dissertation von Marie Luisa Allemeyer, »Kein Land ohne Deich…!« Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Norbert Fischer

schwemmungen.2 »Der Deichbau«, schrieb Ezechiel Adolph Dammert in aller wünschenswerten Deutlichkeit Anfang des 19. Jahrhunderts in seinem Werk über das hannoversche Deich- und Strombaurecht, »hat zum Zwecke, das aus seinen gewöhnlichen Ufern tretende Wasser der Meere, Seen und Ströme von den anliegenden cultivirten Grundstücken abzuhalten, und deren Ueberschwemmung und Zerstörung zu verhindern«.3 Damit wird deutlich: Der Bau durchgehender Linien von See- und Stromdeichen an der Nordseeküste und den tideabhängigen Flüssen diente der intensivierten Nutzung – wie auch Ausdehnung – der fruchtbaren Marschengebiete. Geschlossene Deichlinien erlaubten eine von den hochauflaufenden Wintersturmfluten in der Regel ungefährdete, ganzjährige Bewirtschaftung.4 Der in der Zeit um und nach 1800 international bekannte hamburg-ritzebütteler Wasserbauexperte Reinhard Woltman schrieb: Die winterlichen »Ueberschwemmungen, wenn sie gleich nicht von langer Dauer waren, so stöhrten sie doch die Nutzung des Landes und liessen wenigstens keinen Ackerbau zu. Diesen einzuführen, und den vorübergehenden Ueberschwemmungen zu wehren, wurden Deiche für zweckmäßig gehalten und angelegt.«5 Aber vor den Fluten hatten sich die Marschenbewohner auch schon vor der Zeit geschlossener Deichlinien schützen können: durch das Siedeln auf den erhöhten, weil aufgeschlickten Uferrändern oder durch sturmflutsichere Wurten (Warfen, Warften), also künstlich aufgeschichtete Anhöhen. Letztere konnten einzelne Anwesen, aber auch größere Siedlungen aufnehmen. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein schützten sich beispielsweise die Bewohner der früheren Elbinsel Krautsand vorwiegend durch Wurten vor den Fluten, bevor sie einen geschlossenen Landesschutzdeich erhielten. Es blieb dann den seit dem hohen Mittelalter entstandenen geschlossenen, winterfesten Deichlinien ent 2 Zur Definition und als knappen Abriss zur Geschichte siehe Norbert Fischer, Stichwort »Deich«, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 2, Stuttgart 2005, 877–885. 3 Ezechiel Adolph Dammert, Das Deich- und Strombau-Recht nach allgemeinen posi­ tiven und Hannöverischen Landesrechten erläutert und mit einem Entwurfe zu einer verbesserten Deich- und Strombauverfassung begleitet. Zwei Bände, Hannover 1816, Band I, 14. 4 Jos Bazelmans, Die Wurten von Dongjum-Heringa, Peins-Oost und WijnaldumTjitsma: kleinmaßstäblicher Deichbau in ur- und frühgeschichtlicher Zeit des nördlichen Westergo, in: Kulturlandschaft Marsch. Natur – Geschichte – Gegenwart. Vorträge anlässlich des Symposiums in Oldenburg vom 3. bis 5. Juni 2004. Oldenburg 2005, 68–84, hier 69 und 79; Johannes Ey, Früher Deich- und Sielbau im niedersächsischen Küstengebiet, in: ebd., 127–132. 5 Reinhard Woltman, Kurzgefasste Geschichte und Beschreibung der Wasserbauwerke im Amte Ritzebüttel, Hamburg 1807, o. Pag., [15–16]. Zu Leben und Wirken von Reinhard Woltman siehe Norbert Fischer, Sturmfluten  – Stackwerke  – Steindecken. Reinhard Woltman und der Wasserbau um 1800, in: Martin Rheinheimer (Hrsg.): Mensch und Meer in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Süddänemarks. Neumünster 2010, 345–356; ders., Woltman, Reinhard, in: Lebensläufe zwischen Elbe und Weser. Ein biografisches Lexikon. Hrsg. von Jan Lokers und Heike Schlichting. Stade 2010, 347–350. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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lang der deutschen Nordseeküste und den tideabhängigen Strömen vorbehalten, Siedlungs- und Nutzflächen in den Marschen großflächig zu sichern und wenn möglich zu erweitern. Jenseits dieser wasserbautechnischen Funktion zeigt sich der Deich in einem weiteren Sinn als ein höchst komplexes, immer wieder veränderliches landschaftliches Element, das in mehrfacher Hinsicht zum Symbol der Küstengesellschaften an der Nordsee geworden ist. Er repräsentiert nämlich in je unterschiedlichen historischen Epochen räumliche, kulturelle und soziale Ordnungsmuster. Um vorab nur zwei Aspekte kurz zu nennen: Beispielsweise scheidet der Deich kultiviertes Binnenland vom inferioren, marginalisierten Außendeichsland, »Zivilisation« von »Wildnis«.6 Sturmflutkatastrophen und Überschwemmungen zwangen immer wieder zu Rückdeichungen und damit zur räumlichen Verschiebung der Grenze gegenüber dem Wasser.

2. Zwischen Gottesstrafe und Pragmatismus: Zur Wahrnehmung von Sturmflutkatastrophen in der Frühen Neuzeit7 Die Niederelbe wurde in der Frühen Neuzeit von zahlreichen Sturmflutkatastrophen heimgesucht, von denen die so genannte Weihnachtsflut 1717 die verheerendste war. Die Erfahrung der todbringenden Sturmfluten rief bei den Betroffenen das Bedürfnis nach Erklärung und Sinndeutung hervor. So wurden die Katastrophen regelmäßig als Gottes Strafe dargestellt. Andererseits zeigen die archivalischen Quellen verschiedene Ansätze alltagspraktischen Handelns, die sich dem Problem jenseits aller fatalistischen Schicksalsgläubigkeit in einem eher technisch-pragmatischen Sinn stellten. In den Bittschriften der betroffenen Bevölkerung an die Obrigkeit, die in den Archiven zu finden sind, gibt es häufig Stellen, in denen die Betroffenen die Katastrophe als Gottes »gerechten Zorn« und Strafe bezeichnen.8 Gott, so überliefern es zeitgenössische Chronisten, warnt die Menschen und gibt Zeichen, bevor die Katastrophe eintritt. Daher wird in vielen Chroniken von vorangehenden übernatürlichen Ereignissen oder subjektiven Vorahnungen berichtet, die sich 6 Unter anderen geografischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen wird dieser Sachverhalt sehr anschaulich in dem Spielfilm »Beasts of the Southern Wild« (2012) des Regisseurs Benh Zeitlin für die Region des Mississippi-Delta visualisiert. Dabei geht es um die anarchischen, den Überschwemmungen angepassten Lebenswelten im Außendeichsland. 7 Vgl. Norbert Fischer, Der nasse Tod. Sturmflutkatastrophen, Glauben und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.–19. Jh.), in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 50. 2009, Heft 1–2, 343–354. 8 Zum Beispiel: Schreiben der Hausleute des bützflethschen Landesteils vom 1. Februar 1643, in: StA Stade, Rep. 5b, Fach 86b, Nr. 25. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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angeblich vor der Katastrophe abspielten und das bevorstehende Unheil ankündigten. Die Übergänge zum Volksglauben, zur Welt der Sagen und Mythen sind hier fließend. Als Warnzeichen vor den Fluten galten veränderte Verhaltensweisen von Fischen, aber auch die Erscheinung seltsamer Schattenbilder und wundersamer Gestalten in den Bauernstuben.9 Die Weihnachtsflut 1717 zählt in Mitteleuropa zu den schwersten Natur­ katastrophen der Frühen Neuzeit. Dank der sich allmählich entfaltenden territorialstaatlichen Verwaltungen an der Küste ist sie von einer Vielzahl archivalischer Quellen dokumentiert. Zudem ist sie in zeitgenössischen Predigten laufend wieder thematisiert worden. Der Historiker Manfred JakubowskiTiessen hat zahlreiche dieser Predigten untersucht. »Dieses Naturereignis«, so schreibt er, »das die existentielle Grundlage so vieler Menschen zerstörte, war in ihren Augen ein Resultat göttlicher Vorsehung. […] Da die Sturmflut als eine über die sündige Bevölkerung verhängte Strafe Gottes angesehen wurde, wurde die Gemeinschaft andererseits von der inquisitorischen Suche nach Schuldigen entlastet und die Identität und der Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht zusätzlich gefährdet«.10

Aber es gibt auch Hinweise auf andere zeitgenössische Wahrnehmungsformen der Weihnachtsflut 1717. Dabei bildet die so genannte Homannsche Karte der Überschwemmungsgebiete ein aufschlussreiches Dokument. Der Nürnberger Kartograf, Kupferstecher und Verleger Johann Baptist Homann (1664–1724) fiel immer wieder durch undogmatische religiöse und politische Ansichten auf. Er war seit 1715 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Homanns Karte zeigt die von der Weihnachtsflut 1717 überschwemmten Gebiete einerseits, technische Wasserbauwerke andererseits. Die Botschaft der Karte lautet nun: Wären die Wasserbauwerke auf dem technischen Stand der Zeit gewesen, hätten die Folgen der Flut wenn nicht verhindert, so doch gemildert werden können. Hier zeigt sich also bereits jenes rationalistische Verständnis, das sich dann im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts Bahn brach.11 In diesem Sinn vergleichbar ist eine 1718 in Hamburg erschienene anonyme Publikation, die den Titel »Umständliche Historische Nachricht von der grossen Wasser=Fluth […]« trägt und ebenfalls die Weihnachtsflut 1717 thematisiert. 9 Bernd Rieken, »Nordsee ist Mordsee«  – Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster 2005, 244–246; siehe auch Martin Rheinhei­ mer, Mythos Sturmflut. Der Kampf gegen das Meer und die Suche nach Identität. In: Demokratische Geschichte 15, 2003, 9–58. 10 Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkata­stro­ phe in der Frühen Neuzeit. München 1992, 267–268. 11 Diedrich Hagen, Der Deichbruch als Gottesurteil? Zur Deutung einer Naturkatastro­ phe am Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Kulturlandschaft Marsch. Natur  – Geschichte  – Gegenwart. Oldenburg 2005, 186–196. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Fast ambivalent vertritt sie in Einleitung und Schluss die gleichsam »offizielle« Lesart der Sturmflut als göttlicher Strafe für menschliche Sünden. Dazwischen jedoch  – gleichsam verborgen  – liefert die Schrift naturwissenschaftliche Erklärungen für die Sturmflut. Auch dass der Anonymus der Leserschaft das Urteil über die Sturmflut selbst zubilligt, spricht für die Abkehr von theologischen Deutungen der Flutkatastrophe als Gottesstrafe. Bemerkenswert ist, dass diese Schrift in einem der Aufklärung besonders stark verbundenen Hamburger Verlag erschien.12 Auch archivalische Quellen unterstützen teilweise eine vernunftorientiertpraktische Sicht. Für die Obrigkeit an der südlichen Niederelbe, also die zum Kurfürstentum Hannover gehörenden Herzogtümer Bremen und Verden, bildete die Weihnachtsflut 1717 eine ungemein schwere Bewährungsprobe. In den Tagen nach der Katastrophe konnte zu vielen überschwemmten Gebieten kein Kontakt hergestellt werden. Vor Ort bemühte sich die Stader Provinzialregierung um Rettungsmaßnahmen – das jedenfalls meldete sie in den letzten Dezembertagen nach Hannover. Die Lage sollte per Schiff von der Elbe aus erkundet werden, da der Landweg wegen der Überschwemmungen weitgehend versperrt war. Gerettete Einwohner – wie auch das überlebende Vieh – ließ die Regierung teilweise auf überschwemmungssichere Geestorte verteilen. Aus anderen, sicheren Gegenden, etwa der Grafschaft Hoya und dem Fürstentum Lüneburg, wurde der Verkauf von Futtermitteln organisiert. Hier zeigen sich also Ansätze, der Katastrophe auf praktische Weise im Sinne eines Katastrophen­ managements zu begegnen. Zusammenfassend gesagt, werden unterschiedliche diskursive Ebenen deutlich. Auf der Ebene der theologischen Verkündigung und spiritualistischen Deutung galten frühneuzeitliche Sturmflutkatastrophen als Strafe Gottes und zugleich als »angekündigtes«, apokalyptisches Ereignis. Eine solche Deutung entstammt, blickt man auf die zu Grunde liegenden Quellen, beispielsweise den Predigten der Geistlichkeit, Zeugnissen des Volksglaubens oder auch autobiografischen Quellen einzelner Persönlichkeiten. Der Diskurs eines technischen Pragmatismus zeigt die Folgeschäden von Sturmflutkatastrophen, wie Deichund Schleusenbrüche, als ein im Prinzip lösbares, naturwissenschaftliches Problem. Die Akteure sind hier die Deichpflichtigen und lokalen Aufsichtspersonen vor Ort sowie die als staatliche Beamte fungierenden Wasserbauexperten. Über ihren Umgang mit der Katastrophe geben archivalische Quellen Auskunft, zum Beispiel Gutachten mit ihren häufig beigegebenen kartografischzeichnerischen Darstellungen.

12 Ich danke Kathrin Rentel für den Hinweis auf diese Schrift. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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3. Vor- und Rückdeichungen im Grodener Neufeld bei Cuxhaven im 17. und 18. Jahrhundert13 Kommen wir nun zu einigen Fallbeispielen des Umgangs mit Deichen und Deichlinien als sich wandelnde Grenze zwischen Land und Meer. Die Marschengebiete an der südlichen Niederelbe waren bis ins 19., teils bis ins 20. Jahrhundert hinein relativ autonome Gesellschaften bzw. politische Territorien, geprägt von den wohlhabenden bäuerlichen Landbesitzern. Stromabwärts von Hamburg kommt zunächst das Alte Land mit seinen so genannten Drei Meilen,14 es reicht bis zur Schwinge bei Stade. Flussabwärts der Schwinge folgt das Land Kehdingen, dem sich die Oste-Marschen und das Land Hadeln anschließen. Der letzte Abschnitt der südlichen Elbmarschen mit dem Kirchspiel Groden gehört heute zu Cuxhaven (früher hamburgisches Amt Ritzebüttel). Historisch gab es viele Verbindungen zwischen Hadeln und Ritzebüttel, insbesondere dem Ritzebütteler Kirchspiel Groden. Beide waren den von der Nordsee kommenden Fluten in besonderem Maße ausgesetzt. Der so genannte Hadelner Seebandsdeich wurde auf Ritzebütteler Gebiet sowohl von Hadelner als auch Ritzebütteler Deichpflichtigen unterhalten. Eben dieser Raum steht auch im Fokus der folgenden Erörterungen, denn hier gab es zwischen dem frühen 17.  und späten 18. Jahrhundert weitreichende Landveränderungen. Ursprünglicher Ausgangspunkt war ein großangelegtes Eindeichungsprojekt im Ritzebütteler Vorland, verbunden mit der Anlage eines Not- und Winterhafens – dem so genannten Cuxhaven (dieser heute für den gesamten Ort geläufige Name bezeichnete ursprünglich nur den Hafenbereich). Der neue, noch kaum ausgebaute und außendeichs gelegene Hafen  – einer der frühen Sielhäfen an der deutschen Nordseeküste  – sollte den Hamburger Schiffen einen von See aus rasch anlaufbaren Schutzplatz bieten. Seine Anlage war verbunden mit einer weiträumigen Eindeichung des Anwachses im Watt vor Groden und Döse. Dabei wurden die Seedeichlinien weit vorgeschoben. Höchst ertragreicher Marschenboden entstand, der vom Hafen und dem Schleusenpriel durch Flankendeiche (so genannte Obdeiche) getrennt war.15

13 Dieser Abschnitt basiert auf einem 2012 begonnenen Forschungsprojekt des Landschaftsverbandes Stade e. V. zur Geschichte von Deichen und Sturmfluten im heutigen Cuxhaven, früheren Amt Ritzebüttel. Die Abschlusspublikation ist für 2015 geplant. 14 Zur Deichgeschichte hier siehe Michael Ehrhardt, »Ein Guldten Bandt des Landes«. Zur Geschichte der Deiche im Alten Land. Stade 2003. 15 Protokoll der Versammlung vom 16. Oktober 1618, in: Stadtarchiv Cuxhaven (im Folgenden StA Cuxhaven), Amt Ritzebüttel I (im Folgenden AR I), Nr. 2716; siehe auch ebd., AR I, Nr. 2677. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Weil aber diese ehrgeizige Vordeichung trotz beträchtlichen finanziellen und logistischen Aufwandes in der ursprünglichen Form nur kurze Zeit Bestand hatte, kann sie als paradigmatisches Beispiel für die ständige Veränderungen der Grenzen zwischen Land und Wasser dienen. Die Verlagerung von Strömungen wie auch die wiederholten Sturmfluten verursachten umfangreiche Rückdeichungen. Sie kamen erst im späten 18. Jahrhundert zu einem vorläufigen Abschluss, als die heutigen Uferlinien östlich und westlich des Schleusenpriels, also in den ehemaligen Marschenkirchspielen Groden und Döse, entstanden. Aber der Reihe nach: Nachdem eine bereits 1570 durchgeführte Vordeichung im Amt Ritzebüttel durch die Allerheiligenflut desselben Jahres wieder zunichte gemacht worden war, gelang es 1618, das Grodener und Döser Vorland durch einen durchgehenden Deich vorläufig zu sichern. Organisiert wurde die Eindeichung von dem in Schleswig-Holstein ansässigen Deichbauexperten niederländischer Abstammung Johann Claussen Rollwagen. Dieser hatte sich unter anderem durch weiträumige Eindeichungsprojekte an der schleswig-holsteinischen Westküste einen Namen gemacht.16 Der Zusammenhang zwischen dieser großflächigen Eindeichung nebst Schleusenbau und der Anlage eines Not- und Winterhafens wird in einem Revers des hamburgischen Senates deutlich, ausgestellt am 2. Mai 1618.17 Auf Grodener Seite bedurfte es vertraglicher Absprachen mit dem Land Hadeln, weil Hadelner und Grodener Interessenten gemeinsam für den hier bis zum Ritzebütteler Schleusenpriel verlaufenen, aus dem hohen Mittelalter stammenden Seebandsdeich verantwortlich waren. Dieser wurde nun teilweise zum so genannten Schlafdeich, d. h. er lag im Binnenland und war den Fluten nicht mehr direkt ausgesetzt. So wagemutig die Vordeichung und die Anlage des Hafens waren, so wenig hielten sie den Fluten stand. In der Folgezeit sollte es zu einem fortwährenden Uferabbruch, Deichbrüchen und ständigen Rückdeichungen kommen. Ursächlich war unter anderem die stete Verlagerung des Elbstromes und der Fluten nach Süden. War einst ständiger Landanwachs entstanden (und schließlich eingedeicht worden), waren durch die Vordeichung einerseits, Strömungsveränderungen andererseits nun die Fluten bedrohlich nahe gerückt. Diese Entwicklung betraf sowohl das Ritzebütteler Kirchspiel Döse als auch das Kirchspiel Groden, wobei letzteres hier im Mittelpunkt steht. In einer zeitgenössischen, in den Akten überlieferten Chronik verzeichnet der Schultheiß des Kirchspiels Groden, Carsten Höpcke,18 die Ereignisse rückblickend. Diese am 26. Februar 16 Allemeyer, »Kein Land ohne Deich…!«, 73–74 und passim. 17 In: StA Cuxhaven, AR I, Nr. 2677. 18 Carsten Höpcke war Schultheiß im Kirchspiel Ritzebüttel-Groden von 1692 bis 1713, er starb am 3. Dezember 1713; Hermann Borrmann, Daten zur Geschichte des Amtes Ritzebüttel und der Stadt Cuxhaven. Cuxhaven 1982, 207. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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1710 erstellte Quelle trägt den Titel »Nachrichtung wegen des Neuen Landes im Amte Ritzebüttel wie dasselbe in Ao. 1618 beschaffen gewesen, und was vor Schaden und abgang es bis Ao. 1710 erlitten«. Sie berichtet über Uferabbruch und Rückdeichungen in fast jeder Dekade des 17. Jahrhunderts. Demnach waren zum Ende dieses Jahrhunderts nur noch rund 344 Morgen Landes übrig, also ein Drittel. Neun Jahre zuvor hatte auch eine neue Schleuse aus »dannen Holtz« (Tannenholz) weiter landeinwärts verlegt werden müssen. Zuvor war, so berichtet der Chronist, das Wasser fast zwei Jahre lang wegen des »runinirten Seeteichs« im Neufeld ein- und ausgelaufen.19 Die Geschichte dramatischen Landverlustes lässt sich für das 18. Jahrhundert fortsetzen. Die endgültige Aufgabe des östlichen Teils des Neufeldes erfolgte 1785, damit wurde der zwischenzeitlich als Schlafdeich fungierende alte Hadelner Seebandsdeich auf dieser Strecke wieder zum Hauptdeich. Resignierend schrieben Bürgermeister und Rat der Stadt Hamburg am 29. Juni 1785 an ihren Amtmann Vincent Matsen in Ritzebüttel in, wie es wörtlich in der damaligen Diktion hieß, »betref des leider! so sehr ruinirten Neufelder Seedeichs«: »Nachdem wir die gutachtliche Meynung der Stackdeputation20 darüber vernommen haben, treten wir derselben darin bey, es geschehen zu lassen, daß ein Theil dieses Deichs abandonnirt werde, weil selbiger, wegen seiner äusserst gefährlichen Lage, gegen Osten, beynahe unmöglich ganz unterhalten werden kann.«21 Die Deichpflichtigen aus dem Land Hadeln signalisierten Mitte Juli ihre Zustimmung zur Aufgabe dieses Deiches.22 Der verbliebene westliche Teil des Neufeldes wurde gegenüber der ausgedeichten Fläche durch einen neu errichteten Obdeich (Flankendeich) sowie zur Elbe hin durch jene Deichlinie geschützt, die aus dem Jahr 1745 stammte. Letztlich blieben 1785 nur rund 100 Morgen von den ursprünglich eingedeichten 916 Morgen Landes des Grodener Neufeldes übrig. Reinhard Woltman, der in seiner damaligen Funktion als noch junger, beim Amt Ritzebüttel angestellter Wasserbaukondukteur selbst an der Ausdeichung des Neufeldes beteiligt war, äußerte sich in seinem 1807 erschienenen Werk »Geschichte und Beschreibung der Wasserbauwerke im Amte Ritzebüttel«. Die Einpolderungen von 1618 seien, so schreibt Woltman, »[…] gegen gute Gründe, oder wenigstens zu spät vorgenommen worden, nämlich zu einer Zeit, als der Anwachs schon wieder im Abbruch begriffen war. […] Vorzüglich beweist es der Umstand, daß schon 1644, also 26 Jahre nach der Eindeichung, ein 19 Höpcke: »Nachrichtung wegen des Neuen Landes im Amte Ritzebüttel wie dasselbe in Ao. 1618 beschaffen gewesen, und was vor Schaden und abgang es bis Ao. 1710 erlitten«, in: StA Cuxhaven, AR I, Nr. 2716. 20 Zur Stackdeputation siehe Näheres unten, Abschnitt 4. 21 Bürgermeister und Rat der Stadt Hamburg an den Ritzebütteler Amtmann Matsen vom 29. Juni 1785, in: StA Cuxhaven, AR I Nr. 2719. 22 Amtmann Matsen an Bürgermeister und Rat der Stadt Hamburg vom 25. Juli 1785, in: StA Cuxhaven, AR I Nr. 2719. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Veränderung der Deichlinien von Ritzebüttel in der Frühen Neuzeit (Quelle: G. Grandauer: Gedenkbuch des Hamburgischen Amtes Ritzebüttel. Ritzebüttel 1852).

großer Theil des neuen Deichs hat müssen zurückgelegt werden, wodurch ein Theil des neu eingedeichten Landes, und namentlich der ganze Döser Antheil, wieder verloren gieng.«23

Mit der schrittweisen Rückverlegung der Deiche, so versäumte Woltman nicht zu beklagen, »[…] ist denn auch der Ruin mancher begüterter Einwohner, der Verlust an Höfen und Gebäuden, die Abänderung und Zurücklegung des Havens, der Seesignäle und Schleusen, unzertrennlich verknüpft gewesen«.24

Was hier von einem fachversierten Wasserbauexperten der Zeit um 1800 kritisiert wird, ist der Umstand, dass man die Verhältnisse vor Ort nicht genau genug beobachtet hatte. Auch an anderer Stellte hatte Woltman die Arbeiten seiner Vorgänger insofern bemängelt, als sie ihm als bloßes Stückwerk erschienen und keine zusammenhängende Kenntnis der Fluten und Strömungsverhältnisse verrieten. Die hier geforderte Vertrautheit mit dem Wasser war in der Tat eine wesentliche Voraussetzung für einen gewinn- statt verlustbringenden Umgang mit der Elbe und ihren Gezeiten.

23 Woltman, Kurzgefasste Geschichte und Beschreibung der Wasserbauwerke im Amte Ritzebüttel, [6–7]. 24 Ebd., [8]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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4. Der Deich als Bollwerk – Uferschutz im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert25 Natürlich rief der weitreichende Landverlust in dem hamburgischen Amt Ritzebüttel Reaktionen hervor. Man wollte ihn nicht unbesehen hinnehmen und ersann mehr oder weniger ausgeklügelte Uferschutzmaßnahmen. Überhaupt war das 18. Jahrhundert eine Epoche prophylaktischer Projekte. Dabei wurden die Deiche zu regelrechten Festungen ausgebaut, um eben weitere Deichzerstörungen und Landverluste zu vermeiden – allerdings keineswegs immer erfolgreich. Zum monumentalen Symbol des Uferschutzes wurde im 18. Jahrhundert das so genannte Stackwerk – ein, wie es in Georg Samuel Benzlers Deichlexikon von 1792 wörtlich hieß, »[…] in den Strom[…] gebautes prismatisches Werk, bald länger, bald kürzer, je nachdem solches die Localumstände erfordern«.26 Stackwerke waren also Uferschutzwerke. Sie sollten die Wellen brechen oder Strömungen vom Ufer und von den Deichen ablenken. Errichtet wurden sie, indem eine Reihe von Pfählen ins Wasser gerammt und mit Buschwerk und gegebenenfalls zusätzlich auch mit Steinen gefüllt wurden. Stackwerke lagen in der Regel quer oder schräg zum Strom. Aber es gab auch Methoden des Deich- und Uferschutzes, die längs verliefen: zum Beispiel Buschbetten, Steinkisten und -werke. Sie wurden als so genannte Parallelwerke bezeichnet. Der Ritzebüttler Wasserbauexperte Reinhard Woltman charakterisierte die beiden Hauptformen der Deich- und Ufersicherung wie folgt: »Man nennt auch wohl die Stacken offensive und die Parallelwerke defensive Werke.«27 Häufig wurden beide Methoden miteinander kombiniert. Stackwerksbau bzw. Uferschutzmaßnahmen waren keineswegs an der Niederelbe erfunden worden. In den Niederlanden beispielsweise kannte man sie bereits seit dem späten Mittelalter. Sie verbreiteten sich von den Provinzen Holland und Zeeland aus an der Küste.28 An der Niederelbe gewannen Stackwerke – später knapp als Stacks bezeichnet – im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer größere Bedeutung. Sie waren Ausdruck der stetig wachsenden Einsicht, der Zerstörung von Deichen durch die Fluten nicht tatenlos zuzusehen – 25 Vgl. Norbert Fischer, Im Antlitz der Nordsee – Zur Geschichte der Deiche in Hadeln. Stade 2007; siehe auch ders., Sturmfluten – Stackwerke – Steindecken. 26 Georg Samuel Benzler, Lexikon der beym Deich- und Wasserbau auch beym Deich- und Dammrecht vorkommenden fremden und einheimischen Kunstwörter und Ausdrükewobey der Gebrauch der Sachen selbst erkläret und zugleich Anleitung zum praktischen Deich- und Wasserbau gegeben wird, Band I und II. Leipzig 1792, hier Band II, 183. 27 Woltman, Wasserwerke, [22–23]. 28 Otto S. Knottnerus, Die Verbreitung neuer Deich- und Sielbautechniken entlang der südlichen Nordseeküste im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kulturlandschaft Marsch, 161–167, hier 164. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Uferwerke vor dem Grodener Neufeld 1788 (Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv/ Staatsarchiv Stade KA neu 4312/5–7).

schließlich galt es, das sehr fruchtbare Marschenland weiterhin bewirtschaften und besiedeln zu können. Zugleich zeugte ihr Bau auf Grund seiner Kostspieligkeit von dem finanziellen Potenzial der Landbesitzer und Landesgemeinden in den Elbmarschen. Ein wichtiges Datum in der Geschichte des Uferschutzes an der südlichen Niederelbe war die Einrichtung der hamburgischen »Stackdeputation« im Jahr 1733. Sie war eine Folge und Reaktion der Stadt Hamburg auf den geschilderten Landabbruch im Ritzebütteler Neufeld. Wie hier, wurden auch anderenorts die Uferschutzmaßnahmen vom Staat initiiert, zumindest aber von staatlichen Wasserbaubeamten unterstützt. Im Land Kehdingen befasste man sich auf Druck der kurhannoverschen Regierung ab den 1740er Jahren verstärkt mit Fragen der Ufersicherung. Kehdingens Ufer waren vor allem im südlichen Landesteil von starkem Abbruch bedroht. Der spätere Oberdeichgräfe29 Christoph Philipp Johann Pflaumbaum hatte bereits 1742 in einem Gutachten für eine gefährdete Deichstrecke in Kehdingen eine Sicherung von Ufer und Deichfuß unter anderem durch Stacks vorgeschlagen.30 Insgesamt aber zeigte sich, dass die Uferschutzwerke bis zum späten 18. Jahrhundert in der Regel als einzelne statt als zusammenhängende Maßnahmen 29 »Oberdeichgräfe« war die Bezeichnung für die leitenden Wasserbaubeamten im damaligen Kurfürstentum, späteren Königreich Hannover. In den späten 1820er Jahren wurden sie in »Wasserbaudirektoren« umbenannt. 30 Schreiben von Christoph Philipp Johann Pflaumbaum vom 9. November 1742, in: Niedersächsisches Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 65, Nr. 29. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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konzipiert wurden. Es fehlte nicht zuletzt an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Strömungsverhältnisse – so wurden entsprechende systematische Beobachtungen erst im späten 18. Jahrhundert, etwa durch Reinhard Woltman, vorgenommen. Daraus resultierte auch, dass der Abbruch vor dem Ritzebütteler Neufeld erst Mitte der 1780er Jahre gestoppt werden konnte. Besonders aufschlussreich für die Entwicklung vor Ort sind die in den 1780er Jahren begonnenen und auf den oben geschilderten konkreten Erfahrungen des Uferabbruchs beruhenden Schutzwerke im Land Hadeln. Dabei spielten Reinhard Woltman sowie die kurhannoverschen Wasserbaubeamten Friedrich August Renner und Georg Ludewig Martens eine wichtige Rolle. Abbruch und Preisgabe des Neufelder Ufers und Deiches hatte das Gefahrenpotential allfällig vor Augen geführt. Um weitere kostenträchtige Deichrückverlegungen – und zugleich die Aufgabe hochwertigen Marschenlandes – zu vermeiden, bemühte man sich am Hadelner Seeufer im späten 18. Jahrhundert um aufwändige uferund deichsichernde Bauwerke. Sie wurden ermöglicht durch den außergewöhnlichen Wohlstand der Hadelner Landeigentümer und ihrer Höfe. Zum bis heute – in modifizierter Form – erhaltenen Höhepunkt wurde das von Reinhard Woltman konzipierte und 1802 fertiggestellte Glameyer-Stack. Derartige Bauwerke waren nur möglich, weil sie von den Landbesitzern insgesamt getragen wurden. Zugleich sind sie ein repräsentatives Beispiel für die gesellschaftliche Mentalität in den Elbmarschen bzw. im Land Hadeln. Politisch-gesellschaftlich hatte das Land Hadeln innerhalb des Kurfürstentums Hannover seine autonomen Strukturen weitgehend wahren können. Obrigkeitliche Versuche, die landesherrlichen Kompetenzen gegenüber den Hadler Ständen zu erweitern, konnten nicht durchgesetzt werden. Der Rechtshistoriker Volker Friedrich Drecktrah führt die erfolgreiche Autonomiepolitik unter anderem auf die große räumliche Entfernung zu den jeweiligen Landesherrschaften zurück. Dies erlaubte es, die eigenen Verfassungs- und Verwaltungsstrukturen beizubehalten – wie sich auch nach der im Jahr 1731 erfolgten Angliederung an Kurhannover zeigte.31 Im Land Hadeln begann der Stackwerksbau im Jahr 1780. Trotz enorm hoher Kosten, die letztlich von den Deichpflichtigen aufgebracht werden mussten, wurden die Ufersicherungsarbeiten anschließend über Jahrzehnte hinweg fortgesetzt. Auch wenn die Hadler ihre Sicherungswerke aus eigener Tasche bezahlen mussten, wurden Stackwerksbau und Ufersicherung zu einem der großen Projekte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Zuvor hatte sich der Uferabbruch vor dem Hadelner Seebandsdeich, insbesondere vor dem so genannten Hübbenschen Deiche im Kirchspiel Westerende-Otterndorf, deutlich

31 Volker Friedrich Dreckrah, Die Gerichtsbarkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden und in der preußischen Landdrostei Stade von 1715 bis 1879, Frankfurt a. M. 2002. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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verschärft. Ein 1775 bereits beschlossener Stackwerksbau war letztlich noch an einer fehlenden Einigung über die Finanzierung gescheitert.32 Am 28. Juni 1780 wurde der damalige Deichinspektor und spätere Keh­dinger Oberdeichgräfe Friedrich August Renner mit einer Expertise über den Uferabbruch bei Otterndorf beauftragt, hier insbesondere vor dem bereits erwähnten Hübbenschen Deich. Renner stellte eine besorgniserregende Zunahme des Abbruchs fest. Er schlug die Errichtung von drei Stackwerken vor, die vier Fuß hoch und sechs Fuß breit sein sollten und deren Länge je nach Lage zwischen 10 und 20 Ruten betragen sollte. Außerdem sah er den Bau so genannter Schlickfänger vor. Eine theoretisch denkbare Rückverlegung des Deiches hingegen lehnte er ab, weil nach seiner Ansicht das dann ausgedeichte Land binnen kurzer Frist ebenfalls von den Wellen angegriffen werden würde.33 Der dadurch eingeläutete Bau von zunächst drei, später insgesamt fünf Stackwerken unter Leitung Renners wurde finanziell zunächst mit einer Anleihe ge­sichert und letztlich – wie auch alle folgenden Ufersicherungsmaßnahmen – vom gesamten Land Hadeln finanziert. Später wurde auf Initiative der Landesherrschaft eine spezielle Uferbaukasse aller Deichpflichtigen eingerichtet. Zuvor gab es immer wieder, wie die Archivalien belegen, Konflikte darüber, wer für die Kosten des Uferschutzes aufzukommen hatte: nur die für diese Strecke zu­ständigen Deichpflichtigen oder das gesamte Land Hadeln. Als sich zeigte, dass die ersten Stackwerke immer wieder reparaturanfällig waren, zog man den ja im benachbarten Amt Ritzebüttel ansässigen Reinhard Woltman als Gutachter heran. Woltman übte in einem 45seitigen Gutachten vom 20. September 1787 teilweise scharfe Kritik an den Maßnahmen Renners. Er hielt dessen Stackwerke für ungeeignet, weil sie nicht weit genug in den Strom hineinreichten. Zugleich forderte Woltman eine zuverlässige Karte des Hadelner Seedeiches, auf welcher »Deiche, Vorland, Watten und Strohm von der Grodener bis Otterndorfer Schleuse genau und vollständig auffgetragen« seien, sowie eine umfassende Konzeption zum »Strombau«. Insgesamt schlug Woltman vor, in den kommenden sechs Jahren schrittweise eine Steindossierung (Uferschutz durch Steinbelag) am Ufer des Hübbeschen Deiches anzulegen – also ein so genanntes Parallelwerk.34 Dass die finanziell sehr aufwändige Steindossierung überhaupt als realistische Alternative in Betracht kam  – und man eine Rückverlegung des Deiches nach wie vor überhaupt nicht erwog –, dokumentiert auch den Wohlstand des Landes Hadeln in jener Zeit. 32 [August] Peche, Geschichte des Hadler Deiches und des Hadler Deichrechts. Otterndorf 1931, 16 ff. 33 Gutachten von Friedrich August Renner vom 18. Juli 1780, in: Archiv des Landkreises Cuxhaven in Otterndorf (im Folgenden: ALC Otterndorf), Kirchspielgericht WesterendeOtterndorf, VI A 5 Nr. 7. 34 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Zusätzlich wurde nun der kurhannoversche Oberdeichgräfe Georg Ludewig Martens mit einer Expertise beauftragt. Martens untersuchte 1795/96 den Uferabbruch und studierte die Vorschläge Woltmans.35 Martens wies darauf hin, welch negative Folgen die Aufgabe des Neufelder Deichs 1785 für die Situation in Hadeln nach sich gezogen hatte: »[…] und sobald daher hier Watt entstand, muste der Wellenschlag gegen den Hadelnschen Deich-District im Wester Ende Otterndorf zu nehmen; und diese Zunahme muste sich ins Unendliche vergrößern, sobald die vorerwehnte Sand-Plate sich verlohr welches […] in den Jahren 1788–1789 und 1790 geschah«.36

Im Prinzip unterstützte der Osterholzer Oberdeichgräfe die Woltmanschen Vorschläge mit einigen Modifikationen.37 Zum Höhepunkt des Stackwerkbaues im Land Hadeln wurde das bis heute bekannte Glameyer-Stack, benannt nach dem anliegenden Landbesitzer. Am 28. Dezember 1801 legte Reinhard Woltman weitere Vorschläge zur Ufersicherung in Hadeln vor, unter anderem die Anlage eines rund 270 Meter in den Elbstrom hineinreichenden, mit Felssteinen gefüllten Stackbauwerks am Übergang zwischen dem Glameyerschen und Hübbeschen Außendeich. Grund war, dass der Uferabbruch im Hübbeschen Außendeich trotz der bisher geleisteten Arbeiten erneut zugenommen hatte. Woltman gab seinem geplanten, mit Faschinen und vor allem Steinen auszufüllenden »Riesen-Stackwerk« eine spezielle Gestalt. Am Ufer sollte es noch vier Fuß über die tägliche Flut hoch ragen. In Richtung Elbstrom senkte es sich dann auf 70 Fuß jeweils ein Fuß ab, fiel also insgesamt um 13 Fuß ab und wurde dergestalt an seinem äußeren Ende gleich hoch mit dem »ordinair niedrigen Waßer«. Diese besondere Gestalt des Stacks begründete Woltman wie folgt: »Diese Gestalt des Stacks, nach welcher es stromwärts keilförmig herabsinkt, gründet sich auf Zweck und Wirkung, welche dabei beabsichtiget wird. Es soll nämlich der Stromlauf über das Watt unterbrechen, und zwar allmählig, uferwärts am meisten, stromwärts nach und nach weniger; auch soll es nicht blos den täglichen Strom hemmen, sondern den der meisten Sturmfluthen, welche den mehrsten Schaden thun; das sind solche von 3 bis 4 Fuß hoch über ordinair; daher wird das Stack am Ufer 4 Fuß über ordinaire Fluth hoch.«38

Zur Konstruktion seines Stackwerks schrieb Woltman weiter: 35 Instruktionen für den Geometer Pflaumbaum vom 25. Oktober 1795, in: ALC Otterndorf, Kirchspielgericht Westerende-Otterndorf VI A 6 Nr. 20. 36 Gutachten Oberdeichgräfe Martens vom 5. April 1796, in: ALC Otterndorf, Kirchspielsgericht Westerende-Otterndorf VI A 5 Nr. 7. 37 Ebd. 38 Denkschrift Reinhard Woltman vom 28. Dezember 1801, in: ALC Otterndorf, Kirchspielsgericht Westerende-Otterndorf, VI A 5 Nr. 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Es werden vom Ufer ab stromwärts zwei Reihen großer Pfäle […] eingeschlagen, die miteinander parallel laufen und 10 Fuß zwischenraum lassen. Die Pfäle in jeder Reihe kommen von Mittel zu Mittel auf 2 ¼ Fß, also wenn die Pfäle im Durchschnitt etwa 10 bis 11 Zoll dick sind, werden ihre Zwischenräume 16 bis 17 Zoll betragen. Auf diese Pfäle werden Haupthölzer gezapft […], und diese mit Ankerhölzer […] von 9 zu 9 Fuß verbunden. Der Zwischenraum wird mit einer Fascinage gefüllt, und mit einer guten Lage großer Steine beschwert […]. Diese Construction gilt für 2/3 des Wercks, oder für die obere 600 Fuß lang. Für den unteren oder niedrigen Theil des Werkcs, der wo er am höchsten ist, kaum 4 Fuß über dem Wattgrund hoch wird, ist es vortheilhafter, das große Holz weg zu lassen, dahingegen das Werk breiter anzulegen, und ganz von Busch, kleinen Pflöcken und Steinen zu construiren […] An der Spitze ist noch eine Duc d’Albe [Duckdalbe] von 9 Pfälen, die starck genug ist, vom Eise nicht abgestoßen zu werden, und 7 Fuß über tägliche Fluth vorsteht, einzuschlagen, welche bei hohen Fluthen zum Signal dient, daß keine Schiffe auf das Werck gerathen.«39

Noch im Jahr 1801 wurden die Arbeiten am großdimensionierten Stackwerk weitgehend, im Folgejahr dann endgültig abgeschlossen. Ende 1803 schließlich konnte Woltman die Wirkung seines Werkes wie folgt resümieren: »Die sämtlichen vollendeten Uferwerke haben sich bisher so gut erhalten und das Ufer so gut beschützt, daß man Ursache hat, damit zufrieden zu seyn […].«40

5. Materialisierte Mentalität: Die Sturmflutkatastrophe 1825 und die Deiche im Land Kehdingen41 Elbaufwärts von Hadeln liegt das Land Kehdingen, und zwar zwischen den ElbNebenflüssen Oste und Schwinge. Wie in anderen Marschengebieten an der Nordseeküste führte in Kehdingen die Notwendigkeit, sich angesichts der gegebenen topografischen Bedingungen gegen die stets drohenden Überschwemmungen kollektiv organisieren zu müssen, zu besonderen gesellschaftlichen und politischen Binnenstrukturen. Wie sehr dabei die Deiche im realen wie im symbolischen Sinn eine Schlüsselrolle spielten, lässt sich am Beispiel der Februarflut 1825 aufschlüsseln.

39 Ebd. 40 Denkschrift Reinhard Woltman vom 29. Dezember 1803, in: ALC Otterndorf, Kirchspielsgericht Westerende-Otterndorf, VI A 5 Nr. 8. 41 Vgl. Norbert Fischer, Wassersnot und Marschengesellschaft. Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen. Stade 2003; siehe auch ders., Die »hydrografische Gesellschaft« und ihre fünf Katastrophen: Kehdingen, Februarsflut 1825, in: Ortwin Pelc (Hrsg.), Katastrophen in Norddeutschland. Vorbeugung, Bewältigung und Nachwirkungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Neumünster 2010, 119–133. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Diese Sturmflutkatastrophe vom 3./4. Februar 1825 war eine der folgenreichsten Naturkatastrophen des 19. Jahrhunderts und – neben der Weihnachtsflut 1717  – eine der verheerendsten Sturmfluten der Neuzeit überhaupt. Auf symbolischer Ebene zerstörte sie mit den Kehdinger Deichen nicht nur schützende Kleiwälle, sondern ein über das rein Materielle weit hinaus reichendes repräsentatives Element der Marschengesellschaft. Auf struktureller Ebene zeitigte die Februarflut 1825 massive staatliche Eingriffe in die regionale Gesellschaft Kehdingens. Auslöser der Katastrophe war ein schwerer Nordseesturm in den ersten Februartagen 1825, von dem der Niederelbe-Raum in besonderem Maße betroffen war. Selbst bei einsetzender Ebbe blieb der Wasserstand am 3. Februar auf annähernd gleicher Höhe und stieg lange vor Eintritt des erwarteten Niedrigwassers bereits wieder an. Das Nachthochwasser erreichte bereits Stunden vor dem zu erwartenden Zeitpunkt die Deichkappen.42 Die Bevölkerung wurde in der Nacht vom 3./4. Februar von den rasch ansteigenden Pegelständen überrascht, die Wassermassen zerstörten vieler Orts die Deiche. Der für Kehdingen zuständige Oberdeichgräfe Friedrich August Rudolph Niemeyer schrieb am 4. Februar an die Stader Provinzialregierung: »Die Fluth, welche diese Nacht die Marschbewohner überrascht hat, ist die höchste, welche seit Menschen Gedenken erlebt worden.«43 Spätere Vergleichsstudien ergaben, dass die Februarflut 1825 an der Niederelbe in ihrer Höhe jener von 1962 annähernd entsprach.44 Die Flutkatastrophe setzte im Elbe-Weser-Raum »… mit wenigen Ausnahmen die sämtlichen Marsch-Districte der hiesigen Provinz unter Wasser und verbreitete über dessen zahlreichen Bewohner unabsehbares Elend«45. Einige Teile Kehdingens zählten zu jenen Gebieten an der Nordseeküste, die von der Katastrophe am stärksten betroffen waren.46 Allein für den nördlichen Landesteil verzeichnete man 33 Todesfälle, dazu ertranken 39 Pferde, 265 Kühe, 210 Rinder, 542 Schafe und 42 Schweine. 67 Gebäude wurden völlig zerstört, 701 beschädigt.47 In seinem vorläufig zusammenfassenden Bericht über die Folgen der Flutkatastrophe sprach der staatliche Oberdeichgräfe Niemeyer sogar vom »Ruin der Deiche«.48 42 Winfried Siefert, Die Sturmflut von 1825 in der Elbe, in: Hamburger Küstenforschung. Heft 5, Hamburg 1969, 25–62, hier 46–47. 43 Bericht des Oberdeichgräfen Niemeyer vom 4. Februar 1825, in: Niedersächsisches Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 181, Nr. 9. 44 Siefert, Die Sturmflut, 47. 45 Intelligenz-Blatt der Herzogthümer Bremen und Verden, 12. Stück vom 9. Februar 1825, 133. 46 Fridrich Arends, Gemählde der Sturmfluthen vom 3.  bis 5. Februar 1825, Bremen 1826, 202. 47 Ebd., 209. 48 Bericht des Oberdeichgräfen Niemeyer an die Landdrostei vom 10. Februar 1825, in: Niedersächsisches Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 181, Nr. 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Jedenfalls traf die Februarkatastrophe mit der Zerstörung der Deiche mitten ins Herz der regionalen Gesellschaft. Die Deichverbände und -pflichtigen im Land Kehdingen waren nicht in der Lage, ihre Deiche mit eigenen Mitteln wiederherzustellen. Die regionale Gesellschaft war handlungsunfähig, ja paralysiert. Dies hing nicht zuletzt mit dem in Kehdingen vorherrschenden Deichbewirtschaftungssystem zusammen, das eng mit den regionalen gesellschaftlichen Strukturen verknüpft war. An der Nordseeküste gab es im Prinzip zwei Hauptvarianten, die Deiche zu unterhalten. Sie wurden als Kabeldeichung einerseits, Kommuniondeichung andererseits bezeichnet (es gab auch Mischformen). Sozialhistorisch betrachtet, verweisen sie auf unterschiedliche gesellschaftliche Organisationsformen.49 Bei der in Kehdingen dominierenden Kabeldeichung wurde der Deich in einzelne Teilstrecken aufgeteilt (»Kabeln«), die unterschiedlich lang waren  – je nach Landbesitz. Sie »gehörten« gleichsam ihren jeweils deichpflichtigen Landbesitzern, den so genannten Interessenten, denen sowohl Unterhaltung als auch Nutzung zukam. Die Deichverbände übten im Normalfall eine bloße Aufsichtsfunktion aus. Diese Kabelwirtschaft hatte für den deichpflichtigen Landbesitzer einige Vorteile. Er konnte zum Beispiel den Deich mit eigenen Arbeitsleuten und mit eigenem Material unterhalten und reparieren sowie den Termin der Unterhaltungsarbeiten weitgehend dem landwirtschaftlichen Arbeitsrhythmus anpassen. Zudem konnte der Deichpflichtige den Deichabschnitt wirtschaftlich nutzen: als Viehweide, zum Anpflanzen von Obstbäumen sowie als gut geschützten Platz für Bauten. Nicht zuletzt gehörte ihm das an seine Deichstrecke angrenzende Außendeichsland. Dies spielte in Kehdingen eine besonders wichtige Rolle, weil es zumindest im Norden des Landes durch Aufschlickung zu starkem Landanwachs am Elbufer kam. Nachteilig war bei der Kabeldeichung, dass die einzelnen Teilstrecken immer wieder unterschiedlich aussahen, weil sie von den Deichpflichtigen nicht einheitlich unterhalten wurden. Natürlich gab es offizielle Vorgaben für die Maße und Ausstattung der Deiche in bestimmten Abschnitten. Nach diesem so genannten Bestick (Profil) mussten sich theoretisch alle Interessenten richten. In der Praxis bezogen sich einzelne Hofbesitzer eher auf die eigenen, jahrzehntelangen Erfahrungen mit dem Wasser. So richteten sich viele Teilstrecken nach den materiellen Mitteln, dem Engagement und dem Erfahrungswissen des jeweils Deichpflichtigen. Ja, die Kehdinger Hofbesitzer betrachteten ihre einzelnen Deichkabeln regelrecht als privaten Besitz – was zugleich eine hohe symbolische Aufladung des Deiches bedeutete. Jeder Deichpflichtige (Kabelhalter) konnte damit seinen eigenen »Kampf« gegen das Wasser führen. Dies führte zu einem speziellen »Selbst-Bewusstsein« und Eigensinn, der die regionale Menta 49 Rolf Uphoff, Die Deicher. Oldenburg 1995, 37 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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lität im Lande Kehdingen prägte und zu einer personalisierten Beziehung zum Deich führte. Diese im Deich materialisierte regionale Mentalität ging einher mit gesellschaftlichen Binnenstrukturen, die durch eine ganz besondere Mischung aus aristokratischem Besitz- und Herrschaftsdenken und gesellschaftlich-politischer Selbstverwaltung gekennzeichnet war. Diese Strukturen und das ausgeprägte Selbstbewusstsein der Hofbesitzer bzw. Deichpflichtigen machten es den jeweiligen Landesherrschaften nicht leicht, von »oben« in die regionalen Strukturen einzugreifen. Dies zeigte sich gerade im Kehdinger Deichwesen, dessen Zustände aus Sicht einer zentralistisch agierenden Obrigkeit als fast anarchisch gelten mussten. Beispielsweise blieben die Grenzen zwischen den einzelnen Deichverbänden häufig unklar  – allzu verworren und nur für die Ortsansässigen »deutbar« waren sie.50 Naturkatastrophen sind als eine »Mischung von cause und effect« sowie »Gemengelage weiterer Oppositionen wie Natur und Kultur, Chaos und Ordnung oder Normalität und Abweichung« beschrieben worden.51 Hier bietet die Februarflut 1825 in Kehdingen ein aufschlussreiches Beispiel. Indem nämlich die Sturmflut die Deiche zerstörte, unterminierte sie das zentrale Symbol der regionalen Gesellschaft. Dass die Wiederherstellung der Deiche nicht mit eigenen Mitteln vollbracht werden konnte, sondern sich der Unterstützung des königlich-hannoverschen Staates und seiner Wasserbaubeamten bedienen musste, wurde als Schmach empfunden − eben weil die Landbesitzer eine gleichsam personalisierte Beziehung zu »ihren« Deichen hatten. Diese partikulare Mentalität war aber dieser Katastrophe vom Februar 1825 nicht mehr gewachsen, denn sie basierte auf dem in der Vergangenheit wurzelnden Erfahrungswissen, nicht auf vorausberechnender Analyse bzw. der Rationalität staatlicher Wasserbauexperten. So konnte die Februarflut 1825 die gesellschaftliche Widersprüchlichkeit einer über Jahrhunderte gewachsenen regionalen Gesellschaft entblößen, weil sie die entscheidende symbolische Ebene zerstörte: den Deich.

50 Ernst Wilhelm Gustav Schlüter, Das Land Kehdingen, ein statistischer Versuch, in: Neues vaterländisches Archiv [9]. Jahrgang 1826, Bd. 1, 85–141 und 201–280, hier 263. 51 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen: Einleitung. Naturkatastrophen  – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt, in: dies. (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträgen zu ihrer Wahrnehmung, Deutung und Darstellung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, 11–33, hier 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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6. Die Flut 1962 und ihre Folgen an der südlichen Niederelbe52 Wie die Februarkatastrophe von 1825 hat bekanntlich auch die Orkanflut vom 16./17. Februar 1962 die Niederelbe in besonders schwerem Maße getroffen. Das nach der »Hollandflut« von 1953 gestartete Niedersächsische Küstenprogramm zur Erhöhung und Verstärkung der Deiche war an der südlichen Niederelbe – also im Bundesland Niedersachsen – noch nicht abgeschlossen. Daher traf die Orkanflut 1962 vielerorts auf zu niedrige und zu schwache Deiche. Davon waren insbesondere Südkehdingen, die Dritte Meile des Alten Landes und die Ostemarsch betroffen. Als erste Maßnahmen mussten, neben der Rettung und Versorgung der Bevölkerung und des Viehes, Deichbrüche gestopft und noch nicht gebrochene Deiche gesichert werden. Erst Tage später konnte das verheerende Ausmaß der Katastrophe übersehen werden. Die Presse berichtete unter Schlagzeilen wie »Schwerste Sturmflut seit 1825« – so das »Stader Tageblatt« am 19. Februar 1962.53 Diese Katastrophe veränderte die Parameter des Deichbaues, denn ihre Umstände boten Anlass für grundsätzliche Lehren und eine Zäsur im Küstenschutz. Dabei war es vor allem die unerwartete Höhe der aufgelaufenen Fluten, die jene Bemessungsgrundlagen, die mit dem niedersächsischen Küstenschutzprogramm von 1955 verbunden waren, als überholt erwiesen.54 Dieses langfristig angelegte Programm hatte auf den Erfahrungen der so genannten Hollandflut vom 1./2. Februar 1953 beruht.55 Die vorgesehenen Arbeiten waren 1955 aufgenommen worden und sollten 1964 beendet werden – bevor sie durch die Februarkatastrophe abrupt unterbrochen werden mussten. Nach 1962 wurden die Küstenschutzarbeiten unter dem nun neuen Namen »Das Niedersächsische Küstenprogramm  – Deichbau und Küstenschutz ab 1963« wieder aufgenommen.56Als Lehre aus den Ereignissen wurden neue Deichhöhen von durchgehend über 7 Meter über Normalnull festgelegt. Darüber hinaus brachte 1962 auch für das Bestick der Deiche wichtige Erkenntnisse. die Böschungen an der Binnenseite der Deiche waren zu steil. So waren viele Deichbrüche durch Kappüberstürzungen, also Wellenüberschlag über den

52 Vgl. Norbert Fischer, Wassersnot und Marschengesellschaft  – Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen, Stade 2003; ders., Im Antlitz der Nordsee; ders., Der wilde und der gezähmte Fluss – Zur Geschichte der Deiche an der Oste. Stade 2011. 53 Stader Tageblatt Nr. 42, 92. Jahrgang, 19.2.1962. 54 Generalplan Küstenschutz Niedersachsen, hrsg. vom Niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Hannover 1973, 5. 55 Vgl. zur Holland-Sturmflut 1953 den Beitrag von Sonja Kummetat in diesem Band. 56 Generalplan Küstenschutz, in: Stader Tageblatt Nr.  42, 92. Jahrgang, 19.2.1962, Sp. 5–6, 12 und 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Deich, mit anschließender Aushöhlung der Binnendossierung entstanden.57 Im Übrigen rief die Februarkatastrophe 1962 eine Diskussion über die verwendeten Materialien hervor. Ein amtlicher Bericht hielt folgende Erkenntnisse fest: »Deiche aus Kleiböden sind besser als Sanddeiche. Diese sind mit einer 2,00 m starken Kleischicht abzudecken. Ist dies nicht möglich, dann werden Sanddeiche außen und innen mit Asphaltdecken zu befestigen sein. Deiche auf sandigem Untergrund sollten im Außendeich am Böschungsfuß durch eine senkrechte Klei- oder Lehmschicht gegen Unterläufigkeit gesichert werden. Kolke, die noch von früheren Deichbrüchen binnendeichs vorhanden sind, werden aufzufüllen sein, damit die Binnenböschungen nicht abrutschen. […] Als besonders nachteilig haben sich Bäume, Übergänge, Viehtriften und Häuser am Deich ausgewirkt. Deichverteidigungswege mit Pflasterbefestigung haben dem überströmenden Wasser nicht standgehalten. Sie sind mit geschlossenen Decken herzustellen, um Ausspülungen durch Wasser zu vermeiden. Zwischen dem Deichfuß und dem Weg ist eine mindestens 2,00 m breite Berme vorzusehen, damit der Weg nicht durch herabrutschenden Deichboden verschüttet werden kann, wie es bei der Sturmflut beobachtet werden mußte.«58

Abgesehen von den eigentlichen Deichverbesserungen und Neubauten wurde die Absperrung der Nebenflüsse und Seitenarme der Elbe durch Sperrwerke zu einer Zäsur im Küstenschutz  – darunter das 1968 fertiggestellte große Sperrwerk an der Oste-Mündung, dass das Gebiet der unteren Oste sturmflutsicher gemacht hat.59 Diese Sperrwerke verkürzten die Deichlinien entscheidend. Das Oste-Sperrwerk wurde errichtet, weil die Ostedeiche nicht mehr mit verkraftbarem Aufwand verstärkt und verbessert werden konnten.60 Allein im Land Kehdingen gab es daneben folgende weitere Sperrwerksbauten: Sperrwerk am Freiburger Hafenpriel (1964), Bützflether Süderelbe (bei Abbenfleth, 1971), Schwinge (bei Stadersand, 1971), Ruthenstrom (1978) und Wischhafener Süderelbe (1978).61 Das neue Küstenschutzprogramm, das 1973 in den ersten »Generalplan Küstenschutz Niedersachsen« mündete, veränderte also die Deichlinien und damit die Küstenlandschaft an der Niederelbe entscheidend. Dabei spielte auch die Erschließung neuer Industriegebiete eine Rolle, wie das Beispiel der Vor­ deichung Bützflether Sand/Stadersand zeigt (1968–71)  – das neugewonnene Areal beherbergt heute ein großes Industriegebiet. Darüber hinaus wurde unter anderem die besiedelte Elbinsel Krautsand mit ihren rund 3.500 Hektar Flä-

57 Ebd., 25. 58 Bericht des Regierungspräsidenten vom 27. Dezember 1962 über die Sturmflut am 16./17. Februar 1962, in: StA Stade, Rep. 180 Mil, Nr. 421, 26. 59 Ebd., 105. 60 Alfred Beier, Wasserwirtschaft und Küstenschutz, in: Kreis Land Hadeln. Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Rudolf Lembcke. Otterndorf 1976, 139–148, hier 145. 61 Generalplan Küstenschutz, Sp. 5–6, 12 und 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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che mit einem Hauptdeich zu versehen und damit an das Festland angeschlossen (1976–1977).62 Mentalitätsgeschichtlich ist die Flut 1962 an der Niederelbe bis heute im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die Erinnerung an die Katastrophe wird vermittelt durch zahlreiche Memorials, die sich unter anderem in Gestalt von Reliefs, Flutpegelanzeigern und Findlingsdenkmälern im öffentlichen Raum präsentieren. An vielen Orten finden jährliche Gedenkfeiern statt. Auch in den Regional- und Heimatmuseen entlang der Niederelbe spielt die Februar­ katastrophe nach wie vor eine bedeutsame Rolle. Soziale Träger dieser Erinnerungskultur sind unter anderem Deichverbände, kommunale Gremien und lokale Honoratioren.63

62 Ebd., Sp. 43. 63 Ausführlicher dazu: Norbert Fischer, Sturmflutkatastrophe und regionale Identität. Zur maritimen Gedächtnislandschaft an der Niederelbe, in: Stader Jahrbuch 2011 (Stader Archiv – Neue Folge 101), 157–170. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Damals haben dort die Experten in den Niederlanden schon prophezeit: Euch in Ham­ burg droht dasselbe. Eure Deiche sind nicht mehr hoch genug.« Videointerview Marco Kreutzer mit Hans-Heinrich-Hofmann, Quarrendorf, 22. Juni 2012. Hans-Heinrich Hofmann ist gebürtiger Wilhelmsburger, geboren 1943. Er lebte 51 Jahre auf der Elbinsel. Er war Landwirt und engagierte sich ehrenamtlich im Deichverband. Sein Vater war ehemaliger Deichgeschworener in Wilhelmsburg. Mit 24 Jahren, also 1967, nahm Hoffman im Wilhelmsburger Deichverband das Amt eines Funkers wahr. 1975 wurde er Deichgeschworener des Bezirks 6 in Wilhelmsburg. Er erlebte die Sturmflut 1962 in Wilhelmsburg.

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Risikobewusstsein und Katastrophengedächtnis Das Beispiel der Flutkatastrophe 1953 in den Niederlanden

Mit bis zu 150km/h raste am 31. Januar 1953 ein gewaltiger Sturm auf die niederländische Küste zu. Bereits gut eine Woche zuvor hatte er sich über dem Atlan­tik gebildet. Die Wassermassen, die durch den Sturm an die Deiche und in die Flussmündungen und Buchten gedrückt wurden, zerstörten insbesondere in der Provinz Zeeland alles, was ihnen im Weg lag. Deiche, Schleusen und Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht oder schwer beschädigt, Tiere und Menschen fanden den Tod. Nach dem Abflauen am Nachmittag gewann der Sturm in der Nacht zum 1. Februar erneut an Kraft und brachte mit der einsetzenden Springflut eine noch weitaus größere Zerstörung. 1835 Menschen und 200.000 Tiere verloren an diesen zwei Tagen ihr Leben. Rund 200.000 Überlebende wurden aus ihren Häusern evakuiert. Insgesamt waren von der Flut 750.000 Einwohner der Niederlande betroffen; der holländische Ingenieur van Veen konstatierte, die Holländer hätten »sheer undeserved luck«1 gehabt, dass nicht die gesamten Niederlande überflutet worden seien.2 Die Flutkatastrophe vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953, auch bekannt als Watersnoodramp (dt. Hochwasser), ist eines der markanten Ereignisse der niederländischen Geschichte. Sie war eine traumatische Erfahrung für die Niederlande.3 Das Land, das bis zu einem Viertel der Gesamtfläche unterhalb des Meeresspiegels liegt und nur durch den Küstenschutz bewohn- und bewirtschaftbar ist, erfuhr eine bis dahin nicht gekannte Verletzbarkeit. Das Selbstbewusstsein der Nieder­länder, das sich auch im Sprichwort »Gott schuf die Welt, aber die 1 Johan van Veen, Dredge drain claim: The art of a nation, Nijhoff, Martinus, Den Haag 1962, S.  177, zitiert nach: Wiebe E. Bijker, Sociohistorical Technology Studies, in: Sheila Jasanoff, Gerald E. Markle, James C. Petersen u. a. (Hrsg.), Handbook of Science and Technology Studies. Thousand Oaks 1994, 229–256, hier 232. 2 Bijker, Sociohistorical Technology Studies, 229. 3 Wiebe Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, A Test Case for Dutch Water Technology, Management, and Politics, in: Technology and Culture 43, 2002, 569–585, hier 579. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Holländer schufen Holland« zeigt, war erschüttert. Die Antwort auf diese Herausforderung war eine technische: der Bau der so genannten Deltawerke. Die Deltawerke sind ein System aus örtlich getrennten, teils verschlossenen Deichen, Dämmen und Sturmflutwehren, das die Küste vor einer neuen Flutkatastrophe schützen soll, indem die Meeresarme in Zeeland und Südholland durch Abriegelung vom Meer getrennt werden.4 Es wird auch als achtes Weltwunder der Technik und als »crown of Dutch coastal enginereering«5 bezeichnet. Der Technikhistoriker Wiebe Bijker beschrieb es als einen »science fiction type of high technology«6, mit dem die holländische Küste verteidigt werden sollte. Bislang wurde die Hollandsturmflut von 1953 erstaunlicher Weise kaum im Sinne einer longue durée in eine Geschichte des Umgangs mit dem Wasser, des Deichbaus und des Flutschutzes eingebettet, obgleich ein langfristiger Blick, gerade für die Niederlande, von der Simon Schama für das 17. Jahrhundert als einer hydrografischen Gesellschaft spricht,7 sehr aufschlussreich wäre, auch für die Interpretation der Flutkatastrophe von 1953. Im Folgenden soll die Frage nach dem Umgang mit der Sturmflutgefahr und dem Risikobewusstsein in den Niederlanden gestellt werden. Der Begriff des Risiko­bewusstseins bezieht sich auf die Fähigkeit der Menschen an der Küste, die vom Meer ausgehenden Gefahren einzuschätzen, sie wahrzunehmen und sich entsprechend zu verhalten und zu handeln. Wie zu sehen sein wird, zeigen sich auffällige Parallelen zwischen der Hollandsturmflut 1953 und der Hamburger Sturmflut 1962. Beides Mal war die Flut eine Überraschung für die Bevölkerung und für den Katastrophenschutz. Niemand hatte mit einer Gefahr gerechnet, obgleich sowohl die Niederlande als auch die Stadt Hamburg gefährdete Regionen dar­ stellen. Und in beiden Fällen waren die Deiche zuvor vernachlässigt worden. Den Niederlanden wie der Stadt Hamburg hatte ein Risikobewusstsein gefehlt. Sowohl für das Risikobewusstsein als auch für das Katastrophengedächtnis spielen die Aufarbeitung von Katastrophen, die Konzepte des Katastrophenschutzes sowie die in einer Gesellschaft diskutierten Lernprozesse als auch die Erinnerungskultur eine wichtige Rolle. Im Folgenden werden, nach einem kurzen Überblick über die Traditionen und die Organisation des Deichbaus in den Niederlanden, die Ereignisse im Winter 1953 insbesondere im Hinblick auf das Risikobewusstsein betrachtet. Abschließend wird nach der niederländischen Erinnerungskultur, dem Katastrophengedächtnis und dem heutigen Risikobewusstsein gefragt. 4 http://www.innl.nl/page/14451/de?source=ing, Stand: 11.7.2013. 5 Bijker, Sociohistorical Technology Studies, 249; ders.,The Oosterschelde Storm Surge Barrrier, 569–584. 6 Ebd., 229. 7 Simon Schama, Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Golde­ nen Zeitalter. München 1988 (Original 1987), 59; vgl. dazu auch die Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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1. Küstenschutz und Wasserpolitik in den Niederlanden Flutkatastrophen bestimmen seit rund 2000 Jahren das Leben der Küsten­ bewohner auf dem Gebiet der heutigen Niederlanden.8 Fluten gefährdeten nicht nur das Leben der Menschen. Auch die Landgewinnung und damit die Sicherung der Grundbedürfnisse und der Einkommen durch die Landwirtschaft und den Torfabbau machten eine Sicherung der Landfläche notwendig. Mit dem steigenden Bedarf an Gütern durch die wachsende Bevölkerungszahl und der zunehmenden Zahl der Flutkatastrophen setzte sich ab etwa dem 12./13. Jahrhundert eine regionale, gemeinschaftliche Zusammenarbeit im Deichbau an der niederländischen Küste durch.9 In den Küstenorten wurden Schutzgemeinschaften gegründet, die unabhängig von anderen Schutzgemeinschaften und von der Landesregierung entschieden und Maßnahmen einleiteten. Diese sogenannten Waterschappen sind mit Deichgenossenschaften beziehungsweise Wasserverbänden vergleichbar. Sie gelten noch heute als »Keimzelle der niederländischen Demokratie und Konsenskultur«10. Die Waterschappen waren in Gremien organisiert, in denen die Großbauern über den Bau und die Instandhaltung von Deichen oder Schleusen in ihren Landstrichen abstimmten. Eine zentrale Führung der Waterschappen gab es nicht, es handelte sich vielmehr um eine dezentrale Organisation. Auch die Adligen, Geistlichen, Kaufleute, Deichgrafen und Wasserbau-Inge­ nieure nahmen den Kampf gegen das Meer auf, das die Landflächen an der Küste bei Hochwasser oder Sturmfluten stets zu »rauben« versuchte. Napoleon Bonaparte etablierte 1798 mit der Einrichtung des Services des Ponts et Chaus­ sées den Vorgänger des Rijkswaterstaat und heutigem Ministerium für Verkehr und Wasserwesen und schuf damit eine zentrale Aufsicht über die Deichsysteme an der niederländischen Küste.11 Napoleon hatte die Adligen, die Geistlichen aber insbesondere die Waterschappen, die zuvor die Verantwortung für den Deichbau, die Instandhaltung und Aufsicht über die Deiche hatten, einer Autorität auf nationaler Ebene unterworfen. Rund 23 Jahre später, also 1821,12 wurde in den Niederlanden auf einen königlichen Beschluss hin eine Kommission gebildet, die unter anderem bereits vorhandene Pläne für Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser und Sturm­f luten 8 Christoph Driessen, Geschichte der Niederlande, Von der Seemacht zum Trendland. Regensburg 2009, 166. 9 Meier, Dirk, Land unter! Die Geschichte der Flutkatastrophen. Ostfildern 2005, 70; vgl. Driesen, Geschichte der Niederlande, 167–168. 10 Ebd.,168. 11 Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, 574–575. 12 Cordula Rooijendijk, Waterwolven, Eengeschiedenis van stormvloeden, dijkenbouwers en droogmakers. Amsterdam 2009, 239. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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untersuchen sollte. Auch griff der Wasserbauingenieur und Minister für Verkehr und Wasserwirtschaft Cornelis Lely in den Jahren 1886 bis 1891 eine Idee aus dem 17. Jahrhundert13 wieder auf, einen bis zu 30km langen Deich zu errichten, um die Zuiderzee zum Zwecke der Landgewinnung abzuriegeln und einzudeichen. Die Bevölkerung, obgleich sie vom Schutz und den neuen Acker­f lächen profitierte, akzeptierte die Notwendigkeit der Deiche nicht immer, sondern sah ihre Interessen gefährdet. So zerstachen beispielsweise die Fischer die Deiche,14 weil sie befürchteten, aufgrund der Eindeichung nicht an die Fischfangstellen zu gelangen und auch von anderen Dörfern abgeschnitten zu werden. Sie und die Händler fühlten sich in ihrem Alltag und Geschäftsleben eingeschränkt, profitierten sie doch von dem Geschäft mit dem Fisch und dem schnellen Transport über See, der durch den Deichbau drohte, behindert zu werden. Anderer­seits forderten die Bewohner der Küste den Schutz vor dem Wasser, um ihre Ackerflächen zu unterhalten und ihr Eigentum vor Flutkatastrophen zu schützen. Nach den Sturmfluten 1894, 1906 und 1916 wurde erneut eine Kommission gebildet, die unter anderem die zukünftig zu erwartenden Wasserpegel bei Flutkatastrophen zu errechnen hatte. Auch rückte der verworfene Plan eines Deichsystems nach Cornelis Lely an der Küste erneut in den Mittelpunkt des Interesses. Es zeigt sich also gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Verwissenschaftlichung und Technisierung des Deichbaus. Aus finanziellen Gründen wurde der Plan jedoch erst 192715 verwirklicht, in einer Zeit, in der die Ingenieure und Physiker vermehrt auf Modelle und Skalen zurückgriffen und Berechnungen und Experimente durchführten.16 1939 veröffentlichte P. J. Wemels­felder seine Schrift über die zukünftig zu erwartenden Pegelstände bei Fluten. Sie beinhaltete Berechnungen, die wiederum auf Beobachtungen von 1888 bis 1937 basierten und zu der Annahme führten, dass die Pegelstände steigen würden.17 Diese Berechnungen von Wemelsfelder erlaubten zudem eine Klassifikation von Sturmfluten, die auch von dem Rijkswaterstaat anerkannt wurde, denn bis 1939 gab es zumindest in den Niederlanden keine einheitliche und klare Definition einer Sturmflut. Dies hatte so manches Mal dazu geführt, dass ein »einfaches« Hochwasser als Sturmflutkatastrophe bezeichnet wurde.18

13 Marteen Prak, http://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/ver tiefung/goudeneeuw/index.html, Stand: 8.7.2013. 14 Driessen, Geschichte der Niederlande, 168–169. 15 Ebd., 169–170. 16 Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, 577. 17 David van Dantzig: http://www.mathunion.org/ICM/ICM1954.1/Main/icm1954.1.02 18.0239.ocr.pdf. 18 H. F. Mulder jnr., Een en ander over vroegere stormvloeden, Polytechnisch tijdschrift, 9, 1954, 539. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Auch gründete der Minister für Verkehr und Wasserwirtschaft eine Sturmflutkommission, die in ihrem Bericht im Jahr 1940 die zu erwartende Anzahl von Fluten und Sturmflutständen entlang der niederländischen Küste den nach ihrer Ansicht zu niedrig gebauten und beschädigten Deichen gegenüberstellte.19 Es fanden jedoch nur wenige oder keine Schutzvorkehrungen statt, so dass 1943 erneut Deiche überspült wurden. Es folgten in den Jahren 1944 und 1946 erneut Untersuchungsberichte, in denen eben jene Deiche als Gefahrenquellen bei Sturmfluten wie auch die gefährdeten Gebiete Zeeland, Brabant, Streefkerk oder Heusden aufgelistet wurden, die 1953 in Teilen tatsächlich überflutet wurden. Doch wegen des Zweiten Weltkrieges und der Geldknappheit und Zerstörung der Infrastruktur, des mangelhaften Informationsflusses zwischen dem Rijkswaterstaat und den größeren Waterschappen auf der einen Seite und den kleineren Waterschappen auf der anderen Seite, der Skepsis gegenüber den Aussagen kritischer Experten sowie dem üblichen Verfahren, sich bei Erhöhung der Deiche jeweils am letzten Wasserhöchststand zu orientieren,20 gerieten die Warnungen und Hinweise der Untersuchungskommission 1944 und 1946 wieder in Vergessenheit. Nicht zuletzt waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Medien und Politiker bestrebt, Panik und Aufregung in der Bevölkerung zu vermeiden. Als der niederländische Journalist Looman im Herbst 1952 prophezeite: »Eine neue Sankt Elisabethflut ist ohne weiteres möglich«, warnte ihn sein Redakteur von Else­ viers Magazine vor Panik auslösenden Aussagen und unterließ es, Warnungen vor katastrophalen Ausgängen wegen möglicher instabiler und zu niedriger Deiche zu veröffentlichen.21 Er kommunizierte und verstärkte vielmehr das Gefühl der Sicherheit durch die bestehenden – wenngleich sich in schlechten Zustand befindenden – Deiche22, das in der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren herrschte.23 Der Umgang der Niederländer mit den Sturmfluten in den letzten 800 Jahren war mithin von einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Küstenschutz geprägt, obgleich die Fluten seit jeher eine unberechenbare, permanente Gefahr für die niederländische Küste darstellten. Auf der einen Seite organisierten sich die Niederländer. Die Waterschappen und schließlich das Rijkswaterstaat wurden gegründet. Wissenschaftler und Ingenieure erarbeiteten Modelle, führten 19 Kees Slager, De ramp, Een reconstructie van de watersnood van 1953. Amsterdam 2009, 397. 20 Ebd., 400. Dies war übrigens auch in Hamburg der Fall, wo sich die Deichhöhen bis zur Sturmflut 1962 an der Höhe der Sturmflut von 1825 orientiert hatten. 21 Ebd., 402. 22 Slager, De ramp, 402. 23 Selma Leydesdorff, When the water comes, Memories of survival after the 1953 flood, in: Hussey, Stephen, Thompson, Paul, (Hrsg.), The roots of environmental consciousness, popular tradition and personal experience. London 2012, 77. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Berechnungen durch, untersuchten den Zustand der Deiche und warnten vor möglichen Katastrophen. Auf der anderen Seite wurde die Deichpflege beispielsweise zugunsten der finanziellen Förderung der Agrarwirtschaft vernachlässigt, Warnungen wurden missachtet oder sogar die Deiche als störend empfunden und beschädigt. Auffällig war, dass die Niederländer erst handelten, wenn eine Flut kurz bevor stand oder gerade geschehen war. Nachdem die unmittelbaren Folge­ probleme behoben wurden, schien das Risikobewusstsein wieder abzuflauen bzw. sich eine ambivalente Haltung durchzusetzen. Ob sich diese Sicht auf die Geschichte des niederländischen Küstenschutz bei der Betrachtung der Sturmflut 1953 bestätigt, soll in den folgenden Kapiteln analysiert werden.

2. Die Watersnoodramp Am 31. Januar 1953 erstellte das Koninklijk Nederlands Meteorologisch I­ nstituut (KNMI) Wetterkarten von der Sturmentwicklung über dem Nordatlantik und warnte ab 9.50 Uhr vor dem aus Nord-West kommenden Sturm über Radio.24 Das KNMI war 1854 gegründet worden. In seinen Aufgabenbereich fielen die Wetterüberwachung und Wetterwarnungen, Klimabeobachtungen und Seismologie, sowie die Weitergabe ihrer Untersuchungen an die Ministerien Wirtschaft und Sicherheit. Um 11 Uhr folgte die zweite Sendung im Radio und das Verschicken eines Telegramms durch den beim KMNI untergebrachten Sturmflutwarnungsdienst, in dem vor einem »strammen« oder »kräftigen« (nl. flink) Hochwasser für Rotterdam, Willemstad, Gorinchem und Bergen gewarnt wurde. Das Telegramm war adressiert an die Leitung des Ministeriums für Verkehr und Wasserwesen, die um 17.45 Uhr ein zweites erhielt, in dem nun von einem gefährlichen Hochwasser die Rede war. Im Gegensatz zu den Radiosendungen beinhaltete das Tele­gramm an die obige Behörde eine nähere Erläuterung der Lage, so dass der Sturmflutwarnungsdienst davon ausging, dass die Mitarbeiter reagieren würden, zumal bis dato kein vergleichbares Telegramm herausgegangen war.25 Bis zum nächsten Morgen versuchte der Sturmflutwarnungsdienst die nachfolgenden Instanzen zu informieren. Zu diesen gehörten die provinziellen Ministerien mit den zuständigen Ingenieuren und technischen Beamten. Auch die Vorsteher der Waterschappen zählten hierzu, von denen es bis zu hundert um die Zeeland Inseln gab – das Gebiet, das hauptsächlich von der Flutkatastrophe betroffen sein würde.

24 Mulder, H. F., Een en ander over vroegere stormvloeden, 547b. 25 Slager, De ramp, 28–29. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Doch das Telegramm konnte nicht wie vorgesehen an die über hundert zuständigen Experten versendet werden, sondern nur an dreißig, von denen vier beim Rijkswaterstaat als Ingenieure tätig waren. Wieso erhielten lediglich dreißig von über hundert Verantwortlichen für die Sicherheit und Instandhaltung der Deiche ein Telegramm? Der Grund war erschreckend trivial und verweist auf ein fehlendes Risikobewusstsein: Die restlichen 70 Beamte, Ingenieure oder Deichvorsteher hatten kein Abonnement und standen somit nicht auf der Empfängerliste solcher Warnungen.26 Aus diesem Grund konnte der Sturmflutwarnungsdienst am 1. Februar auch die OBHW, die Officier Belastmet Hulpbij Watersnood mit Sitz in Amsterdam, nicht informieren, weshalb diese am selben Tag nicht mehr die nötigen Einsatzschritte einleiten konnte.27 Dabei war sie als eine spezielle Marineorganisation eingerichtet worden, um bei Flutkatastrophen mit Personal und Material zu unterstützen. Diese Nachlässigkeit und Unterschätzung des Gefahrenpotentials des Hochwassers auf überregionaler Ebene findet sich gleichermaßen auf der Ebene der lokalen Politiker, Behörden und der Zivilbevölkerung in den betroffenen Provinzen und wurde insbesondere von Kees Slager in seinem Buch De ramp, Een reconstructie van de watersnood van 1953 aus dem Jahr 1992 herausgearbeitet. Slager, der von 2007 bis 2011 als Parteimitglied der Sozialistischen Partei die Erste Kammer in den Niederlanden leitete und bis 1973 bei der Tageszeitung Het Vrije Volk als Journalist tätig war, analysiert in De ramp das Risikobewusstsein vor und insbesondere die Reaktionen auf die Sturmflut 1953. Sein Buch kann als Teil der Suche nach Verantwortlichkeiten gelesen werden. Slager lastet die Katastrophe der fehlerhaften Wasserpolitik der lokalen und nationalen Entscheidungsträger an, während er die Küstenbewohner tendenziell als Opfer darstellt. Slager schildert, dass beispielsweise einige Bürgermeister – die Anzahl ist nicht eindeutig zu ermitteln –, Deichvorsteher, aber auch die Polizei die Dringlichkeit zu handeln, unterschätzten beziehungsweise die Gefahr am 31. Januar nicht adäquat wahrnahmen. Sie unterließen es, die nötigen Anweisungen an die Mitarbeiter zu erteilen, die Dorf- oder Stadtbewohner zu informieren und evakuieren zu lassen. Als der Sturm das Wasser am Abend des 31. Januar gen Land trieb, wurde ein Rathaus mit einem Festakt offiziell eröffnet und gar auf das Hochwasser angestoßen.28 Der Bürgermeister von Sankt Philipsland erhielt zwar die Nachricht noch in der Nacht, fuhr aber nicht in das Dorf, um weitere Maßnahmen einzuleiten.29 Deichbauexperten gingen zu Bett, obwohl sie einen Anruf erhalten 26 Ebd., 29. 27 Ebd., 30. 28 Slager, 34. 29 Ebd., 35. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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hatten und von den Ereignissen in Kenntnis gesetzt worden waren.30 Die Polizei in Vlissingen hatte die Warnungen von Fischern nicht weiter beachtet und daher die Meldung im Bericht nicht aufgenommen.31 Neben diesem sorglosen Verhalten der Entscheidungsträger, das deutlich von mangelndem Risikobewusstsein zeugt, lassen sich weitere Faktoren benennen, die das Ausmaß der Katastrophe mitverursachten. So verhinderten das damals noch nicht ausgebaute Kommunikationsnetz und der Stand der Technik nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die geringe Verbreitung von Medien in den Haushalten die rechtzeitige Übermittlung der Informationen. Es kam hinzu, dass die über Radio laufenden Nachrichten in der Regel ab 24 Uhr eingestellt und ab 8 Uhr am folgenden Tag wieder gesendet wurden mit der Folge, dass zum einen die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten keine Nachrichten über die Entwicklung in der Nacht erhielten und dass zum anderen auch die Mitarbeiter des Radiosenders für den Sturmflutwarnungsdienst nicht erreichbar waren. Weiterhin ereignete sich die Katastrophe an einem Samstag. Dies war ein Tag, an dem die Niederländer feiern oder ihre Familien besuchen konnten, eine Situation, in der sie mental wenig mit eine Katastrophe rechneten, vielmehr mit Freizeitaktivitäten beschäftigt waren. So kam es, dass die Flut die Niederländer im Winter 1953 überraschte. Dabei hatte sich die Katastrophe knapp eine Woche vor dem 31. Januar 1953 angebahnt,32 als sich über dem Nordatlantik vor Schottland ein Sturmfeld gebildet hatte, dass einen Umfang von 1000 km33 besaß. Seine äußerste Spitze traf als erstes auf die schottische Küste, wo 35 Menschen starben. Der Orkan drehte nach Westen ab und streifte die deutsche Westküste, erreichte aber durch Strömungsveränderungen aus nordöstlicher Richtung die niederländische Küste. Ein Tief aus Westen drückte den Orkan und mit ihm die Flutwelle, die sich zwischen der britischen Insel und dem europäischen Festland gebildet hatte, in die niederländischen Flussmündungen und an die Deiche. Das relative Abflauen des Sturms im Laufe des 31. Januars vergrößerte umso mehr das Überraschungsmoment der zweiten Sturmflutphase in der darauf folgenden Nacht. Die gewaltigen Wassermassen, welche am 31. Januar an die Fluss- und Küstendeiche gedrückt wurden, überspülten die Gebiete und Provinzen Zeeland, Teile der Provinz Südholland und den Westen von Nordbrabant und rissen Menschen, Tiere und sämtliches Hab und Gut davon. Die Landfläche, schätzungsweise anderthalbmal so groß wie Berlin, also rund ein Achtel der Nieder 30 Ebd., 42. 31 Ebd., 34. 32 Morra, Meteorologische ontwikkeling en verloop van de storm, 546. 33 Cordula Rooijendijk, Waterwolven, Een geschiedenis van stormvloeden, dijkenbouwers en droogmakers, 341. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Blick über das überflutete Oude-Tonge auf Goeree-Overflakkee (Quelle: http:// commons.wikimedia.org/w/index.php?search=watersnoodramp&title=Special%3ASearch, Stand 13.7.2013).

lande oder 2000 qkm,34 stand unter Wasser, weil Fluss- und Küstendeiche an 60 bis 67 Stellen gebrochen oder Schotten überspült worden waren.35 Insgesamt entstand ein geschätzter ökonomischer Schaden von 1,3 Milliarden Gulden, was heute ungefähr 5,5 Milliarden Euro entspricht.36 In dieser Situation, ohne Kommunikationsmittel, überrascht von der Flut, errichteten Amateurfunker Funkstationen und bauten auf diese Weise schon am 31. Januar ein Kommunikationsnetz auf. Durch ihre einwöchige, ununterbrochene Arbeit gelangten während und nach der Katastrophe Informationen über die Lage zum Rijkswaterstaat und weiteren politischen Entscheidungsträgern, woraufhin diese erste Maßnahmen wie Rettung und Versorgung der Überlebenden in Notunterkünften einleiten konnten.37 34 Ebd., 344. 35 Herman Scholten (Hrsg.), Holland, Land des Wassers, der Deiche und Polder. Almere 2011, 30. 36 Uriël Rosenthal, Getuige de ramp, De Watersnoodramp 1953 in crisis perspectief. Den Haag 2003, 9. 37 http://www.deltawerken.com/Funkamateure-lassen-das-Notnetz-wieder-aufleben/ 847.html, Stand: 11.7.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Ab dem 1. Februar begannen die überregionalen Medien von der Katastrophe zu berichten und kommunizierten die für die Niederländer erschütternden Ereignisse. Der Chefredakteur von De Volkskrant schickte Journalisten und einen Fotografen ins Flutgebiet, um die Situation in Bildern festzuhalten, mit denen er die Regierung unter Ministerpräsident Willem Drees über die Lage in Kenntnis setzte. Es folgten De Telegraaf und weitere Fernsehsender und Zeitungen mit Bildern und Reportagen ab dem 2. Februar 1953, die im Fernsehen oder in den Kinos in Überlänge gezeigt wurden. Die Medienberichte lösten eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Hubschrauber und Boote wurden für die Evakuierung der Überlebenden geschickt. Sachund Geldspenden aus dem In- und Ausland, deren Summe sich auf 138 Millionen Gulden belief,38 erreichte die Küstenbewohner durch die bis dato eher unbekannte Hilfsorganisation Rampenfonds. Diese Organisation war 1935 gegründet worden, nachdem zehn Jahre zuvor ein Wirbelsturm über Borculo, südwestlich von Enschede, hinweg gezogen war.39 Der Rampenfonds hatte jedoch keine eigene Entscheidungsfähigkeit und nahm seine Funktion als zentrale Umverteilungsstelle in Zusammenarbeit mit der Regierung wahr.40 Während die betroffenen Küstenbewohner nun also Sach- und Geldspenden erhielten und die niederländischen Medien über die Landesgrenzen hinaus berichteten, arbeitete es auch in den für Wasserpolitik verantwortlichen Behörden und politischen Institutionen. Unmittelbar nach der Flut setzte eine dichte Kommunikation ein. Uriël Rosenthal, der von 2010 bis 2012 Außenminister der Niederlande war, untersucht in seinem Buch Getuige de ramp, De Watersnoo­ dramp 1953 in crisisperspectief aus dem Jahr 2003 die Vorgänge nach der Watersnoodramp. Rosenthal liefert eine Übersicht über die möglichen Gründe der Flutkatastrophe 1953, die betroffenen Institutionen, Reaktionen der Bevölkerungen und Politiker und stellte diese Gründe der Frage gegenüber, ob eine ähnlich verheerende Sturmflut die niederländische Küste erneut bedrohen könnte. Er kommt zu dem Schluss, dass auch in Zukunft der Umgang mit dem Wasser stärker problematisiert und hinterfragt werden müsse und auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen seien, um eine Sturmflut zu verhindern.41 Genau dies geschah auch nach der Watersnoodramp. Es folgten, wie immer nach Katastrophen, Phasen der Aufarbeitung sowie Korrekturen in den Verantwortungsbereichen. Noch Monate später waren die Reflexion der Ereignisse und die Suche nach den gemachten Fehlern in vollem Gange. In den ein bis zwei Jahren nach der Flutkatastrophe wurde das Katastrophenmanagement in den 38 Anne- Marie Vinke-Vermazen, Jan Zwemer, Helpthen! Hetzijnwezen! De hulpverleners na de Watersnood van 1953. Vlissingen 2005, 58. 39 Ebd., 58. 40 Ebd., 60. 41 Rosenthal, Getuige de ramp, 115. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Niederlanden neu konzipiert, neue Verantwortungsbereiche wurden geschaffen sowie Gesetze zur Sicherung und Finanzierung der Deiche erlassen. In diesem Rahmen wurden im Februar 1953 zwei Kommissionen gegründet, die die Wasserpolitik bis in das 21. Jahrhundert bestimmen und die Haltung der Niederländer gegenüber Flutgefahren langfristig beeinflussen sollten. So war zum ersten die Deltakommission gegründet worden. Dies geschah bereits am 21. Februar 1953. Sie hatte den Auftrag, einen Plan für den Schutz vor übermäßiger Versalzung des Bodens und Trockenlegung der überfluteten Gebiete zur Verhinderung weiterer Überschwemmungen auszuarbeiten.42 Eine Woche nach ihrer Gründung legte sie einen Zwischenbericht zu dem Delta-Plan vor, der schon im August 1955 mit dem Bau zweier Häfen umgesetzt wurde, obgleich er noch nicht gesetzlich verabschiedet war. Das letzte von der Deltakommission ausgearbeitete Gutachten enthielt den gesamten Deltasystem-Plan sowie auch die Berechnung der Kosten. Auf diesem basierte schließlich das Deltagesetz, das 1958, also erst drei Jahre nach dem inoffiziellen Baubeginn, von der Königin unterschrieben wurde.43 Bijker interpretierte dies als typisch für die niederländische politische Kultur.44 Weiter analysierte er die Auseinandersetzungen um den Delta-Plan im Kontext der politischen Kultur Hollands und des »watermanagements«. Dabei nahm er insbesondere den Bau des Oosterschelde-Sperrwerkes, das zu den Deltawerken gehört, in den Blick und zeigte auf, dass es die Institutionen der »waterpolitics« in den Niederlanden in eine tiefe Krise stürzte.45 Diese Krise bzw. Debatte, die die Niederlande spaltete, begann 1972 mit dem Amtsantritt der neuen Landesregierung. Es ging um die Frage der dauer­ haften versus der nur zeitweisen, kontrollierten Schließung des Sperrwerkes bei Sturmfluten, für das man sich 1974 auf politischer Ebene entschied. Diese Entscheidung war ein herber Schlag für das Rijkswaterstaat, das sich für den ursprünglichen Delta-Plan, welcher die dauerhafte Schließung des OosterscheldeSperrwerks vorsah, ausgesprochen hatte. Das Rijkswaterstaat war damit an den Rand gedrängt worden und stattdessen wurden die an dem Bauprojekt beteiligten Firmen stärker eingebunden. Es war somit zu einer Verschiebung von Machtverhältnissen in der Wasserpolitik gekommen, denn das Rijkswaterstaat musste seine Autorität mit Firmen teilen.46 Das als achte Weltwunder der Tech­ nik geltende Deichsystem wurde trotz der kritischen Stimmen bei Fertigstellung Mitte der 1980er Jahre als Höhepunkt und gemeinsamer Sieg im Kampf gegen das Wasser interpretiert. 42 http://www.deltawerken.com/Der-Deltaplan/582.html, 2004, Stand: 11.7.2013. 43 http://www.deltawerken.com/Das-vierte-und-letzte-Gutachten/597.html, 2004, Stand: 11.7.2013. 44 Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, 577. 45 Ebd., 579. 46 Ebd., 580. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Zum zweiten war unmittelbar nach der Katastrophe von 1953 neben der Deltakommission die Enquêtekommission Watersnoodramp zur Klärung der Vorgänge vor, während und nach der Flutkatastrophe ins Leben gerufen worden. Diese hatte nach dem Beschluss der Zweiten Kammer unter anderem den Auftrag, die Ursachen und Warnungen, den Verlauf der Katastrophe und die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen, die Medienberichterstattung während und nach der Katastrophe, die Reaktion der zuständigen Behörden sowie die Nachsorge zu untersuchen.47 Für ihren ersten Bericht vom 20. Januar 1955 legte die Kommission nach dreiwöchiger Befragung die Aussagen von Experten zu Grunde.48 Darunter befanden sich der Direktor und Vorsitzende des Niederländischen Roten Kreuzes, der Minister für Verkehr und Wasserwirtschaft und auch der Ministerpräsident der Niederlande Willem Drees.49 Die Kommission hob besonders hervor, dass das Risikobewusstsein vor aber auch während der Sturmflut sehr gering war, was sich in der verhältnismäßig späten Alarmierung sowie ungenügenden Absprache bei der Evakuierung und Rettung der Menschen aus den betroffenen Gebieten widerspiegelte.50 Das fehlende Risikobewusstsein für die Fluten drückte sich des Weiteren in dem mangelhaften Zustand der Deiche vor der Flutkatastrophe 1953 aus, obwohl es Untersuchungen und Warnungen gegeben hatte. So hatte der RijkswaterstaatIngenieur Johan van Veen, wie auch schon P. J. Wemelsfelder vor ihm, seit 1937 vor der Vernachlässigung der Deiche gewarnt und bereits vor 1940 Pläne entwickelt, die eine Abriegelung der Priele an der niederländischen Küste vorsahen. Doch wurde van Veen zu dem damaligen Zeitpunkt nicht gehört.51 Die Enquêtekommission schlug vor dem Hintergrund der Kritik an den Verfahrensweisen während und nach der Katastrophe vor, die Kommunikationsmittel und -verbindungen für die Frühwarnung bei drohender Flut sicherzustellen. Die technische Ausrüstung, die für Rettungsaktionen bei Flutkatastrophen vorgesehen waren, sollten aufgestockt, sowie die Waterschappen und weitere kleine Deichverbände in größere Verbände zusammengefasst werden, um die Zuständigkeiten und Finanzen einfacher zu organisieren und zu entlasten.52 Die Neuregelung des Krisenmanagements und der Krisenkommunikation in Katastrophenfällen warf zudem die Schuldfrage auf. Über die Medien, die in einem bis dato noch nicht dagewesenen Umfang die Debatten begleitet und veröffentlicht hatten, nahm die Bevölkerung am Entscheidungsprozess indirekt teil. Die wochenlange, gar Monate andauernde Zurückhaltung und Zurückweisung der Schuld war der öffentlichen Debattierfreudigkeit gewichen. Bis zum 47 Rosenthal, Getuige de ramp, 46. 48 Ebd., 91. 49 Ebd., 47. 50 Ebd., 98–100. 51 Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, 572. 52 Rosenthal, Getuige de ramp, 96–97. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Beginn des Baus des Deltasystems hatten sich die Entscheidungsträger in den entsprechenden Behörden und Institutionen in den Niederlanden einer öffentlichen Auseinandersetzung um die Schuldfrage zu stellen. Die eigens für die Klärung der Fragen gegründeten Kommissionen sollten dann auch die Öffentlichkeit mithilfe der Medien in einem zuvor nicht gekannten Maße einbeziehen und die Krisenkommunikation anfeuern. Viel zügiger hatten sich dagegen die Prediger und Gläubigen mit der Schuldfrage auseinandergesetzt. In den sieben Tagen nach der Flut waren bereits Predigten entstanden, die auf den über Jahrhunderte überlieferten Glauben an den strafenden Gottzeugen referierte, der den Sündenfall der Menschen mit den Fluten aufzuhalten gedachte.53 Eine der Predigten mit dem Titel Godssprakeuit den stormvloed (Gott sprach aus der Sturmflut) stammte von dem niederländischen Theologen und Prediger Gerard Wisse. Im Februar 1953 verfasst und veröffentlicht, kommentiert er die Watersnoodramp auf 16 Seiten. Da heißt es: »[…] Welch Volk? Das Volk, in welches der Herr die Heilsbotschaft so kraftvoll hat verkünden lassen […]«54. »[…] Das ganze Leben ist verleugnet, demoralisiert, entfremdet von Gott […]«, »[…] Land, Land hört des Herren Wort. […]«. »[…] Gott arbeitet/wirkt [auch in seinen Schlägen] organisch […]«55. Wisse beendet seine Predigt mit einer positiven Sicht, denn alles verginge, und man sehe nun einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohne. Die Flut habe eine reinigende Wirkung gehabt.56 Sieht man von dieser frühneuzeitlich anmutenden Interpretation ab, so stimmte seine Feststellung in gewisser Weise mit den oben genannten Reaktio­ nen der politischen Entscheidungsträger überein. Fasst man die Reinigung jenseits der religiösen Strafgedankens metaphorisch als Beginn von etwas Neuem auf, so lässt sich von einer »Reinigung« nach der Sturmflut sprechen: Die Medien waren präsenter denn je, die Schuldfrage wurde öffentlich debattiert, es folgten Neureglungen für Katastrophenfälle innerhalb und zwischen den Behörden, und es wurden Schutzvorkehrungen durch technisch aufwendige Deichsysteme über Jahrzehnte getroffen. Man hatte aus der Katastrophe gelernt. Dabei hatte man sich für technokratische Lösungen entschieden. Das Bewusstsein für die vom Meer ausgehenden Gefahren für die Menschen und Wirtschaft an der Küste war scheinbar wieder geschärft. 53 Selma Leydesdorff, Hetwater en de herinnering, de Zeeuwse Watersnoodramp ­1953–1993, 239. 54 Gerard Wisse, Godssprakeuit den stormvloed, tijdwoordbij de nationale ramp in februari 1953. Utrecht 1953, 5. 55 Ebd., 5 f. 56 Ebd., 16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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3. »Langfristiges« Katastrophengedächtnis? Wie stellt sich nun aber der Umgang mit der Flutgefahr und das Risikobewusstsein langfristig betrachtet dar? Dies führt zur Frage der Erinnerungskultur und des Katastrophengedächtnisses. Gerrit Schenk unterscheidet zwischen einem kurz- und einem langfristigem Katastrophengedächtnis, abhängig von der Nation oder der Kultur. Italien sei beispielsweise vergesslich, wohingegen Deutschland zu den Nationen zähle, die das »historische Gedächtnis – Stichwort Holocaust – intensiv pflegen«.57 Gehören die Niederlande also zu den Ländern, die das Gedächtnis pflegen und daraus noch immer lernen oder kennzeichnet die Verdrängung und das Vergessen bzw. ein kurzzeitiges Katastrophengedächtnis die niederländische Risikokultur? Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Zahl wissenschaftlicher Publikationen, die sich mit der Flut von 1953 beschäftigten, überschaubar geblieben ist. Auffällig ist auch, dass sich gerade Politiker, wie die beiden oben erwähnten, Kees Slager und Uriël Rosenthal, in breit rezipierten Büchern mit der Katastrophe befassten. Zudem gibt es inzwischen eine, vor allem zu Jahrestagen florierende Erinnerungskultur. In den Niederlanden ist der 1. Februar nationaler Gedenktag, an dem an die Katastrophe erinnert wird. 2003, zum fünfzigsten Jahrestag der Katastrophe, thematisierten zahlreiche Veranstaltungen die Katastrophe, Dutzende von Büchern erschienen oder wurden neu aufgelegt, mehrteilige TV-Dokumentationen wurden ausgestrahlt und ein eigens komponiertes Requiem 1953 des niederländischen Komponisten Douwe Eisenga ehrte in vielen Kirchen die damaligen Opfer. Betrachtet man die Erinnerungskultur in den Städten in der Provinz SuidZeeland, das 1953 am stärksten betroffen war, zeigt sich, dass Denkmäler errichtet wurden und auch Grabmäler auf Friedhöfen an die Katastrophe und ihre Opfer erinnern. Das Watersnoodmuseum in Ouwerkerk in Schouwen-Duiveland, das sich selbst als »[…] ein Ort, um die damaligen Erfahrungen kennen zu lernen und mit dem heutigen Wissen in die Zukunft zu blicken«58 bezeichnet, gehört ebenfalls zu den Erinnerungsstätten. Erstaunlicher Weise wurde allerdings erst 1997 mit dem Projekt begonnen. Erst 2001 wurde es offiziell eröffnet, vermutlich rechtzeitig zum 50. Jahrestag der Katastrophe. Schon die Architektur des Museum ist sehr symbolisch.

57 Andreas Sentker, http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2011-03/katastrophen-historikerschenk/seite-2, 15.3.2011, Stand: 11.7.2013, 2. 58 http://www.watersnoodmuseum.nl/de_DE/, Stand: 11.7.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Es ist in Beton-Caissons untergebracht, die verwendet worden waren, um die letzten Brüche in den Küstenbefestigungen an der niederländischen Südwestküste abzudichten. In jedem Caisson wird ein Aspekt der Flutkatastrophe 1953 dargestellt. Während im ersten, dritten und vierten Caisson die Flutkatastrophe beziehungsweise der Wiederaufbau und zuletzt das »Leben mit dem Wasser in der Zukunft« thematisiert wird, wird der Besucher in dem zweiten Caisson mit den Opfern, Erlebnissen und Erinnerungen sowie mit den Emotionen konfrontiert. Hier stehen vor allen Dingen die von der Flut betroffenen Menschen im Mittelpunkt. Denkmäler, Museen oder Jahrestag-Erinnerungen sind also zweifellos Teil der niederländischen Erinnerungskultur. Fragt man allerdings nach dem heutigen Risikobewusstsein und dem Katastrophenbewusstsein der Bevölkerung, scheint ein Vergessen, gepaart bzw. vermutlich mitbedingt durch das Vertrauen in den Schutz der technischen Vorkehrungen, zu dominieren. Der niederländische Katastrophenschützer Lucien van Hove äußerte sich in einem Interview im Jahr 2008 vor dem Hintergrund des steigenden Meeresspiegel folgender­ maßen: »[…] Wir versuchen, den Menschen diese Gefahr stets ins Gedächtnis zu rufen. Die letzte wirklich große Sturmflut war 1953. Die junge Generation vergisst das leider ein wenig […].«59 Insbesondere jüngere Menschen, so konstatierte er, würden dem Meer weniger reflektierend, einsichtig und respektvoll entgegentreten und ein selbstbewusstes und siegessicheres Verhalten an den Tag legen. Eine Befragung des Baudienstes des Rijkwaterstaats aus den Jahren 1993 und 1995 belegt dies gleichfalls. Die befragten Niederländer gaben hierin an, sich mehr Sorgen über die überlasteten Straßen, Gesundheit und Kriminalität zu machen als über die Gefahren einer Sturmflut. 2000 und 2001 erfolgte eine weitere vom Ministerium für Verkehr und Wasserwirtschaft geleitete Befragung zu den Meinungen und Kenntnissen über das Wasser und Wassermanagement. Das Ergebnis zeigte, dass 45 % der befragten Bürger und 35 % der Landwirte nicht über die Sicherheit der Deiche nachdenken. 80 % der Befragten gaben an, dass sie die Bedeutung der Waterschappen nicht kennen würden und ein Drittel wusste nicht, wie niedrig die Niederlande unter dem Meeresspiegel liegen.60 Offensichtlich nehmen viele Niederländer ihre Gesellschaft nicht mehr als hydrografische Gesellschaft war. Woher rührt dieses Verhalten? Wie aus den Befragungen deutlich wird, spielen die gigantischen technischen Schutzmaßnahmen eine zentrale Rolle für das Sicherheitsgefühl der befragten Niederländer. Dies entspricht einer Tradition der Niederlande. Wiebe Bijker betonte, dass Technik in der Beziehung der Nie 59 Gerald Traufetter, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,589496,00.html vom 11.11.2008, Stand: 11.7.2013. 60 Inez Flameling, Hoogwater, 50 Jaar na de Watersnoodramp. Den Haag 2003, 40–45. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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derländer zum Meer schon immer eine bedeutende Rolle gespielt habe. Der Versuch, die Umwelt technisch zu kontrollieren, sei typisch für die Niederlande, die ein Glaube an technische Lösungen auszeichne.61 Nicht zuletzt eine Flut im Jahr 1991 schien diese Sichtweise zu bestätigen, als ein Sturm mit Stärke 11 das Wasser gegen die Deiche drückte – und diese hielten. 1995 kam es allerdings in den Niederlanden zu einer »Flut von Hinten«. Wegen des Anstiegs der Pegelstände der Flüsse mussten rund 250.000 Menschen im Dreistromgebiet zwischen Niederrhein, Maas und Waal evakuiert werden, weil die Flussdeiche zugunsten des Küstenschutzes vernachlässigt worden waren. Ein Betroffener kommentierte dies mit: »Es war, als hätten wir unsere Haustür verbarrikadiert, aber vergessen, die Hoftür abzuschließen.«62 Die Aussage des Mannes zeigt deutlich die Unterschätzung der Hochwasser-Gefahr, denn das Vertrauen in die Technik hatte dazu geführt, dass die Bedrohung durch das Wasser nicht mehr im erforderlichen Umfang wahrgenommen wurde. Dies scheint vor allem angesichts der Zukunftsprognosen zu den Klimaveränderungen erstaunlich, denn Klimaforschern prognostizieren einen Anstieg des Meeresspiegels bis 2100 zwischen 65 und 130 Zentimeter. Da die Niederlanden zu einem Viertel unter dem Meeresspiegel liegen und dies durch die Entwässerung des Torfbodens gefördert wird, erhöht sich nach diesen Prognosen die Gefahr einer Flutkatastrophe.63 Nicht nur das Meer, sondern auch die Flüsse drohen durch die zunehmenden Regenfälle aufgrund des sich ändernden Klimas über die Ufer zu treten. Laut der Klimaforscher wird die Anzahl der Regenfälle um 25 % steigen.64 Trotz aller beziehungsweise gerade wegen der Warnungen, Prognosen und Erfahrungen lassen sich gegenwärtig zwei Meinungsrichtungen in den Niederlanden ausmachen. Auf der einen Seite stehen Umweltschützer, Grünen-Poli­ tiker und ein Anteil der niederländischen Bevölkerung wie etwa die Fischer. Sie sprechen sich gegen den Bau von neuen und höheren Dämmen aus, weil die Fischpopulation gefährdet werden könnte, hohe, unkalkulierbare Kosten entstünden, Häuser zu Gunsten der höheren und damit breiteren Deiche abgerissen werden müssten und die Prognosen nur vage Berechnungen seien.65 Auf der anderen Seite beteiligen sich die niederländischen Politiker und Unternehmen an der Prävention im Hinblick auf den Schutz der Ballungszentren 61 Bijker, The Oosterschelde Storm Surge Barrier, 230. 62 Kerstin Schweighöfer, http://www.focus.de/auto/ratgeber/zubehoer/niederlande-flutvon-hinten_aid_150901.html, 06.02.1995, Stand: 11.7.2013. 63 http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,576113,00.html, 3.9.2008, Stand: 11.7.2013. 64 Gerald Traufetter, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41939337.html, 26.9.2005, Stand: 8.7.2013. 65 Sven Titz, http://www.nzz.ch/nachrichten/forschung_und_technik/uneinigkeit_am_ deich_1.2087790.html, 25.02.2009, Stand: 11.07.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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und Unternehmensstandorte wie Rotterdam, Dordrecht oder Den Haag an der Küste, deren wirtschaftliche Existenz vom Meer und den Flüssen abhängig ist. Zudem ist die Bevölkerungsdichte an der Küste pro Hektar rund vier- bis sechsmal höher als in den übrigen Niederlanden.66 Es käme daher bei einer Flut­ katastrophe möglicherweise zu einer ökonomisch-sozialen Krise. Vor diesem Hintergrund gab die Delta-Kommission 2008 ein Gutachten heraus, das neben der neu zu erwartenden Pegelmarke auch Empfehlungen zum Bau, zur Erhöhung sowie Stabilisierung der Deiche enthält. Hierfür sowie für die Sandaufschüttung vor der Küste zur Landgewinnung sind von 2010 bis 2050 1,2 Milliarden Euro im Jahr veranschlagt, die aus einem gesetzlich geschützten Fond zu entnehmen sind.67 Ein Ergebnis der bereits durchgeführten Präventions­bemühungen sind beispielsweise die Amphibienhäuser, schwimmende Häuser, die mit zwei Stahlsäulen so flexibel verbunden sind, dass sie sich den Pegelständen anpassen können. 37 bewohnte Amphibienhäuser gab es im Jahr 2005 in einem Seitenarm der Maas. Allerdings bleibt es fraglich, ob die Zahl in ungeahnte Höhen schnellen wird, denn der Kauf eines solchen Hauses wird trotz des sehr hohen Preises nicht vom Staat mitfinanziert.68

4. Fazit Mit 1853 Toten, ca. 200.000 Evakuierten und ca. 2000 toten Tieren war die Sturmflut im Jahr 1953 für die Niederländer eine traumatische Katastrophe. Wie in Hamburg überraschte sie in einer Nacht von Freitag auf Samstag die Bevölkerung; die Küstenbewohner hatten nicht mit einer solchen Katastrophe gerechnet und waren nicht gewarnt worden. Trotz Jahrhunderte langer Erfahrungen mit der Nordsee und trotz des steten Kampfes gegen das Wasser, der die Niederlande auszeichnete, war ein Risikobewusstsein kaum vorhanden. Die Warnungen verschiedener Institutionen hatten kein Gehör gefunden, weshalb der erforderliche Ausbau der Deiche nicht vorangetrieben wurde, diese in einen schlechten Zustand gerieten und in der so genannten Watersnoodramp 1953 brachen. Nach der Katastrophe begann jedoch ein Lernen aus der Katastrophe, das sich durch technokratische Lösungsansätze auszeichnete, wie sie sich in den gewaltigen Sperrwerken materialisierten. Gleichwohl blieben diese, vor allem seit den 1970er Jahren, nicht unumstritten. Allerdings führten sie zu einem tech 66 Henk Leenaers, Maria Camarasa, De Bosatlas, van Nederland Waterland. Groningen 2010, 44. 67 Sven Titz, http://www.nzz.ch/nachrichten/forschung_und_technik/uneinigkeit_am_ deich_1.2087790.html, 25.02.2009, Stand: 11.07.2013. 68 Gerald Traufetter, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41939337.html, 26.09.2005, Stand: 11.07.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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nisch bedingten Sicherheitsgefühl der Niederländer. Befragungen der Bevölkerung aus jüngster Zeit zeigen, dass die Gefahren einer Sturmflut in der Bevölkerung kaum präsent sind, dass also das Risikobewusstsein erneut stark gesunken ist. Die niederländische Kultur zeichnet sich heute jedenfalls durch ein kurzes Katastrophengedächtnis aus. Gleichzeitig zeigt sich auch hier, wie in Hamburg, die Konkurrenz verschiedener Konzepte im Umgang mit den Gefahren des Wassers. Technokratische Lösungen bleiben nicht unwidersprochen, sie sind gleichwohl noch immer wirkmächtige Konzepte. Amphibienhäuser wiederum sind neue Ansätze, die versuchen mit dem Wasser zu leben, ohne gegen es zu kämpfen.69

69 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Hamburg in der Einleitung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

»Die Erinnerung sieht im Abstand von fünfzig Jahren etwas anders aus. Vieles gerät in den Hintergrund, aber so die wesentlichen Merkmale […] der Hilflosigkeit gegen­ über der Natur/den Naturgewalten und auch gegenüber der eigenen Situation blei­ ben erhalten. Wie gehe ich damit um, wenn ich um Hilfe gebeten werde – auf welchem Wege auch immer –, es gibt eine konkrete Situation […] und ich kann nichts machen. Das ist das, was im Rückblick so geblieben ist, an akustischer Wahrnehmung. Visuell: Ich war damals mit meinem Vater, meinem Bruder und einem Mitarbeiter unseres da­ maligen Gemüse­baubetriebes zum damaligen Reiherstiegdeich gerufen worden; im Be­ reich der Klappbrücke über dem Reiherstiegkanal. Ja, […] da lief das Wasser drüber weg. Wir konnten nichts machen, aber direkt an der Klappbrücke, die nicht hochge­ fahren war, lag ein Kümo [Küstenmotorschiff]. Eins mit so etwa 1000 Bruttoregister­ tonnen, die, wenn man sie aus größerer Entfernung auf der Elbe fahren sieht, für eine kleine Nussschale hält. Wenn man es aber dort so in den Ausmaßen auf gleicher Höhe sieht, weil der Wasserpegel an der Deichkrone liegt, dann ist das ein mächtiger Anblick. Das ist so visuell geblieben. […] Also wir haben früher Auf der Höhe gewohnt. […] Das ist ein alter Deich, liegt an der Doven-Elbe, also an dem Ernst-August-Kanal. Das war alles schon voll Wasser. Und wir waren mit den Tieren: Schweine, Rinder, Pferden be­ schäftigt, die dort oben festzuhalten, was jetzt noch trocken war. Und dann kam so 100/200m Luftlinie entfernt […] Da wusste ich da sind so Plattenhäuser. Damals nach dem Krieg erstellte Behelfsheime, wo Menschen wohnten. Und das war alles niedri­ ges Gelände. Von da drangen Hilferufe. Und die waren…die hatte ich bis da noch nie so gehört. […] Das war richtig lebensbedrohend von dem, der sie ausgesandt hatte. So wir standen da nun bzw. saßen auf dem Trockenen und wir konnten da nicht hin. Wir wussten, die mussten oben auf dem Dach sitzen. Stellen Sie sich mal die Situation vor: Windstärke 10/11, Regen, Hagelschauer, es scheppert und es heult und pfeift. Und dann kommt da so in Fetzen etwas rüber. Wir hatten doch keine Chance. Erstens hatten wir kein Boot. Zweitens, wenn wir eins gehabt hätten […] die Gärten, die dazwischen lagen (Deichgärten/Schrebergärten), die hatten alle Zäune. Da schlitzt man jedes Schlauch­ boot mit auf […] man kommt also gar nicht hin. Das war eigentlich so ’ne Situation, wie ich sie eigentlich bislang in der Intensität nie wieder erlebt habe.« Videointerview Marco Kreutzer mit Hans-Heinrich-Hofmann, Quarrendorf, 22. Juni 2012. Hans-Heinrich Hofmann ist gebürtiger Wilhelmsburger, geboren 1943. Er lebte 51 Jahre auf der Elbinsel. Er war Landwirt und engagierte sich ehrenamtlich im Deichverband. Sein Vater war ehemaliger Deichgeschworener in Wilhelmsburg. Mit 24 Jahren, also 1967, nahm Hoffman im Wilhelmsburger Deichverband das Amt eines Funkers wahr. 1975 wurde er Deichgeschworener des Bezirks 6 in Wilhelmsburg. Er erlebte die Sturmflut 1962 in Wilhelmsburg.

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Felix Mauch

Die Natur der Katastrophe Ein umwelthistorischer Rückblick auf die Hamburger Sturmflut

Eigentlich hatte sich die Flut angekündigt. Der Februar 1962 war ein stürmischer Monat, mehrere Male trat der Elbefluss über seine Ufer. Da die hohen Pegelstände ohne gravierende Folgen geblieben waren, maß freilich kaum jemand dem Sturmtief, das Mitte des Monats auf die norddeutsche Küste zutrieb, eine größere Bedeutung bei. »Vincinette« sollte jedoch den Auftakt für einen Orkan bilden, der die verheerendste Sturmflut der jüngeren deutschen Geschichte einleitete. Trotz aller Vorzeichen traf diese Hamburg völlig unvorbereitet. Die Hansestadt wurde in ihren Grundfesten erschüttert Das schiere Ausmaß der Katastrophe warf viele Fragen auf. Eine der Antworten soll im Folgenden aufgegriffen werden. Die bis heute im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankerte »Große Flut« war – daran konnte es in der zeitgenössischen Deutung keinen Zweifel geben – eine »Naturkatastrophe«.1 Eine gängige Reaktion lautete: »Die Natur war zu stark«.2 Aber was bedeutete das? Hatte sie gar eigenmächtig gehandelt? Und welche Natur war überhaupt gemeint?3 1 Eines derartigen Erklärungsmusters bedienten sich bei der unmittelbaren Aufarbeitung der Flut zahlreiche offizielle Äußerungen und Aussagen von Betroffenen. Hinweise auf die langfristige Übernahme dieser Sichtweise finden sich in diversen Publikationen und Gedenkansprachen, etwa Senat der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.), Das dankbare Hamburg seinen Freunden in der Not. Hamburg o. J. [1963], 42 f.; Heinz Aschenberg, Gerhard Kroker, Sturmfluten und Hochwasserschutz in Hamburg. Ein Abriß der Geschichte des Deichbaus und der Binnenentwässerung im Stromspaltungsgebiet der Elbe. Hamburg 1992, 11. Siehe auch die Bürgermeister Peter Schulz bzw. Henning Voscherau bei Gedenkveranstaltungen. Ansprache Schulz, in: Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 135–1 VI, 222, 16.2.1972; Ansprache Voscherau, in: StAHH, A 457/0313 Kapsel 04, 14.2.1992. 2 Wilhelmsburger Zeitung, Natur war zu stark  – Dienststellen und Bevölkerung zu wenig gerüstet, 2.5.1962. Zum selben Schluss kamen auch Expertengutachten und sogar die Staatsanwaltschaft, die bis 1963 hinsichtlich der Schuldfrage ermittelte. Vgl. Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 187, 10.9.1963. 3 Diese Frage stellten gleich mehrere Kommentatoren des Ereignisses. Vgl. Harburger Anzeigen und Nachrichten, Die Katastrophe, 19.2.1962; Wilhelmsburger Zeitung, Die größte Katastrophe seit dem Hamburger Brand, 21.2.1962 (Notausgabe). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Solche und ähnliche Fragestellungen stehen im Zentrum der Umweltgeschichte. Entsprechend wird zur Annäherung an den Untersuchungsgegenstand »Hamburger Sturmflut« zu Beginn dieses Beitrags überblicksartig das Instrumen­tarium umwelthistorischer Katastrophenforschung vorgestellt. Davon ausgehend wird die Flut von 1962 als ein Phänomen entlang der Schnittstelle von Natur und Kultur in den Blick genommen und erörtert, ob deren Konzeption als »Naturkatastrophe« auch aus heutiger Sicht – im Abstand von über 50 Jahren – noch angebracht ist. Zentrales Anliegen ist eine »Nachgeschichte« der Flut. Der Begriff geht u. a. auf Vilém Flusser zurück, der diesen als Abschied von den großen Meistererzählungen konzipierte.4 Im Folgenden meint Nachgeschichte jedoch nicht das gleiche wie »Posthistoire«.5 Im Gegensatz zu Flusser soll der Rückgriff auf Vergangenes nicht als ein Stillstand der Geschichte, sondern als deren Re-Interpretation verstanden werden.6 Denn die nachgeschichtliche Auseinander­setzung mit einem Ereignis geht über das Wiederfinden oder Wiedererkennen eines Sachverhalts hinaus. Sie »ist ein Neuverstehen von etwas, was bereits einmal auf irgendeine Weise verstanden wurde«.7 Eine weitere wichtige Grundlage der Argumentation stellen die Überlegungen von Jens Ivo Engels zum bundesdeutschen Umgang mit Naturkatastrophen dar.8 Engels zufolge wandelte sich »Natur« im historischen Verlauf von 4 Vgl. Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. Düsseldorf 1993; Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn 2009, 181 f. 5 Das Interesse am »Ende der Geschichte« blieb weitestgehend auf kultur- und medienphilosophische Ansätze beschränkt. Für eine Auseinandersetzung mit dem Konzept aus geschichtswissenschaftlicher Sicht siehe gleichwohl Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989. 6 Derart nutzen auch Jörg Arnold oder Malte Thießen in ihren Publikationen zur Erinnerungskultur des Luftkriegs den Begriff der »Nachgeschichte«. Vgl. u. a. Malte Thießen, Geschichte und Nachgeschichte der Bomben. Neue Forschungen zum Luftkrieg und seiner Erinnerung, in: Christian Groh (Hrsg.), Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, Bd.  2. Heidelberg 2008, 231–256; Jörg Arnold, Dietmar Süß, Malte Thießen, Tod, Zerstörung, Wiederaufbau. Zu einer europäischen Erinnerungsgeschichte des Luftkriegs, in: dies. (Hrsg.), Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa. Göttingen 2009. Arnold begreift den Ansatz als eine Möglichkeit »to assess the extent to which legacies of the catastrophic events lingered on after the material impact had been overcome and generational change had turned lived experience into cultural memory«. Jörg Arnold, The Allied Air War and Urban Memory. The Legacy of Strategic Bombing in Germany. Cambridge 2011, 9. 7 So in Bezug auf das Erinnern von Vergangenheit formuliert von Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München 2005, 161. 8 Die Hamburger Sturmflut dient Engels als zentrales Beispiel für seine These. Vgl. Jens Ivo Engels, Vom Subjekt zum Objekt. Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Bedeutung, Wahrnehmung und Darstellung in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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einem selbstständigen Subjekt zu einem Objekt technokratischer Planung und zu einem politischen Problem. Katastrophen wie die Hamburger Sturmflut oder die norddeutsche »Schneekatastrophe« des Winters 1978/79 hätten langfristig den »engen Zusammenhang zwischen der Utopie von der totalen Beherrschung der Natur (zum menschlichen Nutzen) und der Selbstgefährdung des Menschen über den Umweg der verwundeten Natur« aufgezeigt.9 Diese Thesen möchte der Beitrag um eine vertiefende Reflexion über die Handlungsmächtigkeit natürlicher Prozesse ergänzen. Schwerpunkte sind das Verhältnis von Ereignis und Repräsentation, die Deutungsmuster der Katastrophe, deren Eigendynamiken sowie ihre kommunikative Zusammensetzung und die konkrete Präsenz der Flut – in jüngsten Forschungs­debatten wird Letztere zumeist unter dem Begriff der »agency« diskutiert.10 Ein erstes Ziel ist es daher, zu erörtern, welchen Platz eine als »gefährlich« etikettierte Natur in der Auslegung des Sturmhochwassers einnahm. Daran schließt die Frage an, was die Konsequenz der Semantik ist, die sich mit der Zuschreibung »Naturkatastrophe« verbindet. So lässt sich zweitens prüfen, inwiefern bestimmte Interpretationen von Umwelt und Natur die Handlungsmuster einer betroffenen Gesellschaft bestimmten und wie sich in Hamburg das Verhältnis von Katastrophenerfahrung und -erwartung neu austarierte. Drittens wird so die »Nachgeschichte« der Sturmflut sichtbar, die in der Hansestadt nicht nur mentale, sondern auch physische Spuren hinterlassen hat.

Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, 119–142; ders., Gefährlicher Wasserstand im »Wirtschaftswunderland«. Die Hamburger Sturmflut vom Februar 1962, in: Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Ostfildern 2009, 171–181. 9 Engels, Subjekt, 141. 10 An dieser Stelle wird primär auf Theorieansätze aus der Umwelt- und Technikgeschichte zurückgegriffen. Als Grundlagenliteratur empfehlen sich Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s, in: dies., Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York 1951, 149– 181; Ted Steinberg, Down to Earth. Nature, Agency, and Power in History, in: American Historical Review 107/3, 2002, 798–820; Peter-Paul Verbeek, What Things Do. Philosophical Reflections on Technology, Agency, and Design. University Park 2005; John R. McNeill, Mosquito Empires. Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620–1914. Cambridge u. a. 2010. Zu den Perspektiven einer »envirotech scholarship« vgl. den Sammel­ band von Martin Reuss, Stephen E. Cutcliffe (Hrsg.), The Illusory Boundary. Environment and Technology in History. Charlottesville, London 2010. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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1. Naturkatastrophen und Umweltgeschichte Der Begriff »Katastrophe« wird meist zur Beschreibung von Ereignissen herangezogen, die sich mit Worten eigentlich nicht mehr erklären lassen, aber dennoch durch sie bestimmt werden.11 Vor diesem epistemologischen Problem steht auch eine historische Analyse der Hamburger Sturmflut. Gleiches gilt für »die Natur«. Ihre Konzeption erweist sich ebenfalls als ein terminologisches Grundlagenproblem.12 Der historischen Naturkatastrophenforschung liegt damit ein Untersuchungsgegenstand zugrunde, der gegenwärtig in Öffentlichkeit und verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen hoch im Kurs steht, dessen Konturen aber oftmals kaum greifbar erscheinen. Auch die Umweltgeschichte hat dieses Problem nicht gelöst. Sie ist zwar mittlerweile »den Kinderschuhen entwachsen«, über die genaue Stoßrichtung ihrer Forschungsagenda besteht jedoch nicht immer Einigkeit.13 Viele Vertreter des Fachs sprechen deshalb von Natur nicht als einem Gegenstand. Sie dient ihnen vielmehr als eine Perspektive auf einen Gegenstand, eine Herangehensweise.14 Noch »undiszipliniert« erkennt die Umweltgeschichte die Fragilität und Konstruierbarkeit dieser Kategorie an, ohne gleichzeitig deren »harte« Realität zu verschweigen.15 Trotz der Heterogenität der Ansätze bleibt somit als gemeinsamer Nenner die Auffassung, Umweltgeschichte befasse sich 11 Der Katastrophenbegriff, der seit der Antike in unzähligen Interpretationen und Definitionen aufgegriffen wurde, beschreibt allgemein den unvorhergesehenen Zusammenbruch einer Ordnung. Die Möglichkeiten, eine Katastrophe zu definieren, problematisiert etwa Jörg Trempler, Katastrophendidaktik. Vom Lernen einer Katastrophe durch Bilder, in: Internationale Schulbuchforschung 27/4, 2005, 425–439. Zur Semantik der Katastrophe vgl. Olaf Briese, Timo Günther, Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Archiv für Begriffsgeschichte 51, 2009, 155–195. 12 Vgl. u. a. John R. McNeill, Observations on the Nature and Culture of Environmental History, in: History and Theory 42/4, 2003, 5–43, hier 6 f.; Deborah Bird Rose u. a., Thinking Through the Environment, Unsettling the Humanities, in: Environmental Humanities 1, 2012, 1–5. 13 Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels, Den Kinderschuhen entwachsen. Einlei­ tende Worte zur Umweltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Dies. (Hrsg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt a. M., New York 2005, 10–19. Zur Historiografie der Umweltgeschichte vgl. auch Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2007, 2 f. 14 Vgl. die Forderung nach einer »Kulturgeschichte der Natur« bei Silvia Serena Tschopp, Wolfgang E. J. Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007, 33 f. Für eine Evaluierung umweltgeschichtlicher Zugänge und Erträge vgl. überblicksartig Nils Freytag, Trittfeste Ufer und unwegsames Gelände. Umweltgeschichtliche Neuerscheinungen zum 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 51, 2011, 737–755. 15 Uwe Lübken, Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 14.7.2010, [zuletzt abgerufen am: 21.9.2013]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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einerseits mit der Geschichte der »Wechselbeziehungen zwischen Menschen und dem Rest der Natur«. Andererseits »mit der Rekonstruktion von Wahrnehmung und Interpretation historisch zurückliegender Umweltbedingungen durch die damals lebenden Menschen«16. Umweltgeschichte sucht nach den Verflechtungen zwischen Mensch und Natur. Der interessante Aspekt hierbei ist, wer in dieser Beziehung wen bedingt und ob es nicht vielleicht auch die Natur ist, die das Verhalten von Menschen beeinflusst. Vertreter dieser Auffassung plädieren für eine epistemologische Neubestimmung des Verhältnisses. Anstatt nur zwischen den Polen eines naturalistischen Determinismus und einer anthropozentrischen Kulturalisierung zu unterscheiden, schlagen sie eine dritte Möglichkeit vor: Natur ist in menschliche Handlungsprozesse aktiv involviert. Dabei sei sie zwar kein eigenständiges Subjekt, das bewusst Entscheidungen trifft, aber doch handelnder Akteur.17 Einige Ansätze sprechen daher von einer Symmetrie natürlicher und kultureller Daseinsformen. Bruno Latours klassischer Vorstoß geht von­ »hybriden« Formen der Teilhabe aus, bei der Natur weder etwas gänzlich Unberührtes, noch alleiniges Produkt menschlicher Tätigkeiten ist.18 Im Anschluss daran stellt auch Martin Schmid fest: »Wir sind stets mit Hybriden konfrontiert, die immer zugleich naturales Ding und kulturelles Artefakt sind«.19 Es bleibt eine der vorrangigsten Herausforderungen der Umweltgeschichte, zu erörtern, wie analytisch mit nicht-menschlichen Effekten auf menschliche Gesellschaften umzugehen ist. An diesem Punkt steht die Forschung noch vor einigen Desideraten. Eine vermeintliche »Natur-Agency« bleibt noch häufig vage.20 Außerdem besteht die Gefahr des Normativismus. Während sich gesellschaftliche Akteure präzise bestimmen lassen, erweist sich ein vergleichbares Vorgehen für »die Natur« ungleich schwieriger. Vielleicht ist diesbezüglich erneut ein Perspektivwechsel vonnöten. Dahingehend argumentiert jedenfalls Linda Nash, wenn sie darüber nachdenkt, ob 16 Beide Definitionen entstammen der Überblicksdarstellung von Verena Winiwarter, Martin Knoll, Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln u. a. 2007, 14. 17 Beispielgebend für diese Position ist Donald Worster, Nature’s Economy. A Study of Ecological Ideals. Cambridge 1977. Zur Aktualität der Debatte vgl. Sara B. Pritchard, Confluence. The Nature of Technology and the Remaking of the Rhône. Cambridge, London 2011, 11. 18 Vgl. grundlegend die Überlegungen zur Akteur-Netzwerk-Theorie in Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1998, 7 ff. Daran anschließend Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur. Berlin 2011, 565–584. 19 Martin Schmid, Die Donau als sozionaturaler Schauplatz. Ein konzeptioneller Entwurf für umwelthistorische Studien in der Frühen Neuzeit, in: Sophie Ruppel, Aline Steinbrecher (Hrsg.), Die Natur ist überall bei uns. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit. Basel 2009, 59–79, hier 62. 20 Zur Unbestimmtheit des Begriffs vgl. Jens Ivo Engels, Julia Obertreis, Infrastrukturen in der Moderne. Einführung in ein junges Forschungsfeld, in: Saeculum 58/1, 2007, 1–12, hier 4. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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eine menschliche »agency« überhaupt von der Umwelt, aus der sie entsteht, abzukoppeln ist.21 Dann könnte die Frage umgekehrt lauten: Wie und unter welchen Umständen werden Natur und ihr »impact« überhaupt erst sichtbar?22 Dementsprechend schlagen auch Winiwarter und Knoll vor, Natur als Methodik bzw. als »Suchstrategie« innerhalb historischer Erzählungen zu konzipieren. Mit dieser Ausrichtung ließe sich die Diskussion um ihre Handlungsmächtigkeit ungleich produktiver »als eine um den Primat von Erklärungen, nicht als eine um das Wesen des Konzepts ›Natur‹« führen.23 Damit sei auf eine weitere Prämisse verwiesen: Die Beziehung von Natur und Kultur wandelt sich im zeitlichen Verlauf und unterliegt räumlichen Unterschieden. Dies gilt im Besonderen für die Erforschung von »Naturkatastrophen«.24 Auch wenn Fluten ein globales Phänomen sind, ist nicht jeder Ort auf der Erde von ihnen betroffen. Das gleiche gilt für Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Orkane. Bio- und geophysische Faktoren wie Klima, Hydrologie oder Geologie prägen das Spektrum potenzieller Naturgefahren eines Raumausschnitts mit. Neben der geografischen Exposition entscheidet aber auch der Zeitfaktor über das Ausmaß von Extremereignissen.25 Alltag oder Ausnahmezustand  – eine Flut oder ein Sturm können an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt Verschiedenes bedeuten.26 Mit diesen Argumenten tritt die Umweltgeschichte der vermeintlichen Punktualität katastrophischer Ereignisse methodisch entgegen. Es ist der Vorteil der Geschichtswissenschaft, dass sie ihren Blick stets auch auf Kontinuitäten und die longue durée historischer Prozesse richtet.27 Jüngste Ansätze interpretieren »Naturkatastrophen« demzufolge nicht als isolierte Ausnahmefälle. Ihnen gelten sie im Gegenteil als Elemente historischer Prozessabläufe.28 Gleichzei 21 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept einer Natur-Agency vgl. u. a. Linda Nash, The Agency of Nature or the Nature of Agency?, in: Environmental History 10/1, 2005, 67–69, hier 69. 22 Vgl. Trevor Pinch, On Making Infrastructure Visible. Putting the Non-Humans to Rights, in: Cambridge Journal of Economics 34/1, 2010, 77–89, hier 82. 23 Winiwarter, Knoll, Umweltgeschichte, 133 und 138. 24 In den letzten Jahrzehnten hat sich eine interdisziplinär angelegte Analyse von »Naturkatastrophen« auf internationaler Ebene etabliert. Vgl. etwa Martin Voss, Symbo­ lische Formen. Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe, Bielefeld 2006; Anthony Oliver-Smith, Susanna M. Hoffman (Hrsg.), The Angry Earth. Disaster in Anthropological Perspective, New York, London 1999; Damon P. Coppola, Introduction to International Disaster Management.Amsterdam 2011. 25 Vgl. Gerrit Jasper Schenk, Katastrophen in Geschichte und Gegenwart. Eine Ein­ führung, in: ders. (Hrsg.), Untergang, 9–19, hier 12. 26 Siehe Uwe Lübken, Christof Mauch, Natural Disasters in Transatlantic Perspective. River Floods in German and U. S. History, in: GHI Bulletin 35, 2004, 99–111. 27 Die historische Analyse von Naturkatastrophen besitzt gegenwärtig einen hohen Aufmerksamkeitswert. Vgl. die in der Einleitung dieses Bandes genannte Literatur. 28 Vgl. Schenk, Katastrophen, 13. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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tig ist historische Katastrophenforschung auch Zukunftswissenschaft.29 Analysekonzepte wie Vulnerabilität oder Resilienz richten ihren Blick nicht allein zurück, sondern verknüpfen Erfahrungen des Gestern mit Erwartungen an das Morgen.30 All diese Aspekte – so eine einleitende These – spiegeln sich im Begriff der »Naturkatastrophe« wider. Denn die »Große Flut« erzählt nicht nur von einer Nacht im Februar 1962. Ihre »Nachgeschichte« erzählt auch von einer Gesellschaft, die ihre Beziehung zur Natur, ergo ihre eigene Umweltgeschichte, verdrängt hatte. Verblasst waren die zahlreichen Extremereignisse der Vergangenheit genauso wie das Wissen über die lokalen klimatischen und ökologischen Bedingungen. Vor allem aber gab es keine Vorstellung davon, dass Hamburg und seine Bevölkerung selbst Teil dieser Natur sein könnten.31 Die Sturmflut erzählt folglich auch von einer Region, in der Fluten bis heute unter bestimmten Umständen die Norm und ein strukturierendes Element der Landschaft sind. Und sie schildert die Geschichte Hamburgs als einer Stadt »im Fluss« bzw. integralem Bestandteil des Beziehungsgeflechts von Umwelt und Gesellschaft. Nicht zuletzt geht es diesem Versuch auch um die »Wiedersichtbarmachung« der Natur – gerade im sozialen Konstrukt der »Naturkatastrophe«.32

2. Flussgeschichten: Hamburg und die Elbe Die Elbe prägt Hamburg – und umgekehrt. Die Geschichte der Stadt kann nicht abseits der Geschichte jenes Flusses gedacht werden, der im tschechischen Riesengebirge entspringt und bei Cuxhaven in die Nordsee mündet.33 Im Groß 29 Dazu Franz Mauelshagen, Flood Disasters and Political Culture at the German North Sea Coast. A Long-term Historical Perspective, in: Historical Social Research 32/3, 2007, ­133–144, hier 135. 30 Vulnerabilität umschreibt die spezifische Verletzlichkeit gesellschaftlicher Gruppen, Resilienz ihre Widerstandsfähigkeit und die Möglichkeiten den status quo ante wiederherzustellen. Beide Konzepte sind vor allem an Beispielen aus der südlichen Hemisphäre entwickelt worden. Vgl. Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazard in the Philippines, London, New York 2003. 31 Für die viel beachtete These, Menschen als Bestandteil der Natur zu verstehen, vgl. den richtungsweisenden Essay von William Cronon, The Trouble with Wilderness. Or, Getting Back to the Wrong Nature, in: ders. (Hrsg.), Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1995, 69–90. Oder auch Joachim Radkau, Natur und Macht.Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002, 16 f. 32 Der Begriff »Wiedersichtbarmachung« ist eine Übersetzung des Buchtitels von Tony Judt, Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century. New York u. a. 2008, der dort eine Geschichte des 20. Jahrhunderts als »Zeitalter des Vergessens« konzipiert. 33 Die Elbe erstreckt sich über einen Verlauf von 1094 Kilometern und ist damit der vier­ zehntlängste Strom Europas. Zur Morphologie des Flusses vgl. Hansjörg Küster, Die Elbe. Landschaft und Geschichte. München 2007. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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raum der Hansestadt – etwa 130 Kilometer südlich der Küste – spaltet sich der Strom in die zwei Arme der Norder- und Süderelbe. Innerhalb dieses Binnendeltas liegt der Hamburger Hafen, der seit Jahrhunderten funktionell wie symbolisch Stadt und Fluss miteinander verbindet.34 Durch die stetig wachsende Bedeutung des Hafens durchlief deren gemeinsame Geschichte eine substanzielle Transformation. Die Elbe verwandelte sich immer mehr in eine Infrastruktur, die von Handel, Industrie und Schifffahrt fortlaufend gemäß ihren Ansprüchen umgestaltet wurde. Begradigungen und Vertiefungen überformten den ursprünglichen Verlauf hin zu einer Wasserstraße.35 Die Dynamik des Flusses ließ sich allerdings nie vollständig kontrollieren. Überschwemmungen blieben eine Konstante in der Geschichte der Stadt.36 So erreichten Hamburg zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert zwölf schwere Sturmfluten.37 Die Antwort auf diese Extremereignisse war stets der Ausbau der Deiche. Deren Stärke bestimmte der Pegelstand der letzten Flut, wodurch die Höhe der Schutzanlagen konstant anstieg. Dieses Rezept schien sich bewährt zu haben. Seit der folgenschweren Februarflut von 1825 hielten die Deiche stand und die Gefahren der Elbe gerieten in Vergessenheit.38 Doch 1962 lief das Wasser höher auf als jemals zuvor. Bereits am Nach­mittag des 16. Februar türmten sich die Wellen an der Elbemündung. Kurz nach Mitternacht geschah das bisher Undenkbare. Die Flut überspülte die Deiche und die scheinbar unzerstörbaren Bollwerke brachen an über 60 Stellen. In den folgenden Stunden verschluckte das Wasser die flussnahen Stadtteile Wilhelmsburg, Waltershof, Billbrook, Neuenfelde und Moorburg beinah vollständig. Hamburg 34 Die Gleichsetzung von Hamburg und Hafen, die sich aus konkreten wirtschaftlichen und touristischen Interessen der Stadt, aber auch den Bedürfnissen der Einwohner nach lokaler Identitätsfindung speiste, untersucht mit einem Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert Christoph Strupp, Im Bann der »gefährlichen Kiste«. Wirtschaft und Politik im Hamburger Hafen, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.), 19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren. München, Hamburg 2012, 129–143. 35 Vgl. Sönke Möhl, Carsten Rieckhoff, Seewasserstraße Elbe. Stuttgart 1997; Jörg­ Oellerich u. a., Fahrrinnenanpassung von Unter- und Außenelbe, in: Hansa 143/5, 2006, ­67–71. 36 Entlang der Nordseeküste entstehen Sturmfluten primär durch hohe Windgeschwin­ digkeiten über der Deutschen Bucht, die durch eine langandauernde Einwirkzeit den tideabhängigen Wasserstand der Elbe maßgeblich beeinflussen. Dann sind entlang des Flussverlaufs Sturmfluten prinzipiell überall dort möglich, wo die Gezeiten wahrnehmbar sind. Vgl. Sylvin H. Müller-Navarra, Sturmfluten in der Elbe und deren Vorhersage im Wandel der Zeiten, in: Christoph Ohlig (Hrsg.), Hamburg – die Elbe und das Wasser sowie weitere historische Beiträge. Siegburg 2009, 77–95, hier 77. 37 Vgl. Erich von Lehe, Große Sturmfluten der Vergangenheit an Deutschlands Nordseeküste, in: Polizei, Technik, Verkehr, Sonderausgabe 1963, 7–10. 38 Vgl. Gabriele Gönnert, Sturmfluten an der Elbe – Das Hochwasser- und Bemessungskonzept in Hamburg, in: Beate Ratter (Hrsg.), Hamburger Symposium Geographie. Küste und Klima. Hamburg 2009, 22–33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Nach »menschlichem Ermessen« hätte dies gar nicht passieren dürfen.39

3. Erschüttertes Vertrauen Die Flut war ein doppelter Schock. Wegen des Verlusts der Häuser und Menschenleben, aber vor allem auch angesichts der Tatsache, die Kontrolle über den Fluss verloren zu haben. Denn überraschend war nicht, dass sich die Elbe zu einem Hochwasser staute. Als unvorstellbar galt, dass man dem nichts entgegenzusetzen hatte. Sowohl die Bewohner als auch der politische Apparat waren organisatorisch und mental auf eine solche Ausnahmesituation nicht vorbereitet.40 Die Hochwasserschutzanlagen entsprachen kaum dem neuesten Stand. Ein Katastrophenschutzplan war nicht vorhanden. Darüber hinaus erwiesen sich die Mängel des veralteten Warnsystems als fatal, da die Bewohner der betroffenen Gebiete weder ausreichend alarmiert noch rechtzeitig evakuiert werden konnten.41 »Erbarmungslos im Ablauf, grausam in der Wirkung und grenzenlos im Ausmaß ist diese Hochwasserkatastrophe […]«, rekapitulierte der Präsident der Hamburger Bürgerschaft, Herbert Dau, die Ereignisse. Er fuhr fort: »In der Schicksalsnacht […] zerbrachen nicht allein die Deiche unserer Stadt, es zerbrach auch unsere Zuversicht, die Urgewalt der entfesselten Elemente mit technischen Mitteln gebändigt zu haben«42. Die »Große Flut« war eine Demonstration der eigenen Verletzlichkeit. Sie erschütterte nicht nur eine Metropole, sondern ein ganzes Weltbild. Die von Dau angesprochene Zuversicht war in gewisser Weise der Gegenentwurf zur Katastrophe.43 Der Glaube an die Sicherheit des Stadtraums hatte Hamburgs Bewohner bisher dazu gebracht, die vielen Formen der Unsicherheit, welche die geografische Lage der Stadt mit sich brachte, zu akzeptieren. Dieses Vertrauen ging in der Flut unter. Schlimmer noch, es erschien nun als Teil der Katastrophe: »Man hat manchmal den Verdacht, daß die Sicherheit und das 39 Hamburger Echo, »[…] andere werden von Hamburgs traurigen Erfahrungen lernen«, 20.2.1962. 40 Regionale und überregionale Presseorgane fokussierten stark auf das Überraschungsmoment der Flut. Vgl. u. a. Die Welt, Wurde die Bevölkerung zu spät gewarnt?, 21.2.1962; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Eine erstaunliche Verkennung der Lage, 24.07.1962. 41 Vgl. o. V., Was lehrte uns die Flut?, in: Sonderdruck aus den Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 6, 1962, 3 f. 42 Bürgerschaftspräsident Herbert Dau während der 4.  (Sonder-)Sitzung der Flut, in: Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1962, 21.2.1962, 96. 43 Eine »historische Spurensuche« zum Begriffskomplex des Vertrauens liefert der Sam­ melband von Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Selbstbewußtsein, die uns unsere künstliche und technische Welt verleihen, zugleich unsere größte Schwäche sind. Und der Sinn dieser Katastrophen könnte sein, uns rechtzeitig daran zu erinnern«.44

4. Die Konstruktion der Naturkatastrophe Fest stand, dass die Auswirkungen der Sturmflut erklärt werden mussten. Hatte es nicht bereits früher verheerende Sturmfluten gegeben? Plötzlich sah man nicht mehr nur das einzelne katastrophale Ereignis, sondern auch dessen Vorläufer. Hätte man die letzte Flut dann nicht vorhersagen und sich ausreichend davor schützen können?45 Solche und ähnliche Überlegungen drängten mit Macht in das öffentliche Bewusstsein und drohten die Trauer über die Toten in Unzufriedenheit und Zorn zu verwandeln.46 Zur Klärung der Ursachen bestimmte der Senat deshalb einen unabhängigen Sachverständigenausschuss, der die Defizite des Hochwasserschutzes analysieren sollte. Unter der Leitung des Industriellen Otto Friedrich evaluierte eine Expertengruppe die Zusammenhänge des Flutgeschehens. Der Bericht schloss menschliches Versagen aus. Wesentliches Versäumnis sei vielmehr gewesen, dass »infolge der Spezialisierung der Lebensvorgänge der Zusammenhang mit der Natur verloren gegangen ist«.47 Die Katastrophe sei hauptsächlich in der »ungewöhnlichen Entfesselung der Naturgewalten« zu sehen.48 Das Verhältnis von Natur und Gesellschaft kehrte somit in öffentliche Diskurse zurück. Zahlreiche Leitartikel sahen Hamburg »aus der Natur gelöst« und diagnostizierten eine Anfälligkeit der urbanen Bevölkerung für den »Bazillus der Übertechnisierung«.49 Im »Kampf der Menschen gegen eine erbarmungslose Natur«50 44 Dau, Stenographische Berichte, 21.2.1962, 96. 45 Vgl. Erich von Lehe, Große Sturmfluten der Vergangenheit an Deutschlands Nordseeküste, in: Polizei, Technik, Verkehr, Sonderausgabe 1963, 7–10; Martin Ewald, Flutwarnung und -alarmierung der Bevölkerung in Hamburg einst und jetzt, in: Ebd., 59–60. 46 Vgl. Harte Kritik an Hamburgs Senat, in StAHH 135–1 VI 902, 16.7.1962; Frankfurter Allgemeine Zeitung, An der Klagemauer von Hamburg, 28.4.1962 47 Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverstän­ digenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe. Hamburg [1962], 53. 48 Ebd. Aus dem Bericht geht allerdings auch hervor, dass die Auswirkungen der Katastrophe hätten abgefangen oder zumindest abgeschwächt werden können, wenn die ver­ antwortlichen Behörden besser auf Eintritt und Folgen der Flut vorbereitet gewesen wären. Dazu auch die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, »Die Katastrophe war unvermeidbar«, 27.4.1962. 49 Hamburger Abendblatt, Die Prüfung, 19.2.1962. Ähnlich auch Hamburger Morgenpost, Da stimmt was nicht!, 21.2.1962. 50 Christian Heinrich, August Jakobs, Land unter im schwersten Orkan seit hundert Jahren. Die Sturmflutkatastrophe auf den Halligen im Februar 1962. Breklum 1962, 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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habe »wieder einmal […] die Natur dem Menschen, der sie zu beherrschen glaubt, gezeigt, daß sie die stärkere ist«.51 Dem Befund lag eine spezifische Denkfigur zugrunde, die Natur in Opposition zur eigenen Lebenswelt verstand. Natur erschien als eine fremde Welt, in die sich der Mensch zu weit hervorgewagt hatte. Überheblichkeit, blindes Vertrauen in zivilisatorische Leistungen und eine schleichende Entfremdung von der eigenen Umwelt hätten die Katastrophe geradezu heraufbeschworen. Im Spiegel der Ereignisse schienen die ambivalenten Auswirkungen des Fortschritts immer deutlicher ans Tageslicht zu treten: »Die technische Welt hat den Menschen nur stark gemacht, solange sie störungsfrei funktioniert. Gerät sie in Schwierigkeiten oder fällt die Technik nur einige Tage lang aus, so zeigt sie einen Menschen, der schwächer und hilfloser ist als jeder andere vor ihm«.52 Die Beschreibung der Flut als »Naturkatastrophe« traf auf breite Akzeptanz.53 Die offiziellen Verlautbarungen des Senats, die Ergebnisse der Expertenausschüsse und die öffentliche Meinung waren sich einig: »Aber im ganzen haben die verantwortlichen Menschen nicht versagt, sie wurden überwältigt«.54 Allenfalls seien die Kenntnisse unzureichend gewesen, um die »Wechsel­w irkung zwischen den angreifenden Naturkräften und der Standfestigkeit der Küstenschutzwerke zu deuten«.55 Neben diesem Deutungsangebot stand die Sinnstiftung. Die Rettungs­ einsätze, die zivilen und militärischen Helfer aus den überfluteten Gebieten sowie die »große Hilfsbereitschaft, eine umfassende Solidarität und allenthalben tätige Nächstenliebe« gerieten in den Fokus der Öffentlichkeit.56 Es waren die Erfolgsgeschichten, die in Erinnerung bleiben sollten. Das von Helmut Schmidt koordinierte Krisenmanagement sowie das Eingreifen von Bundeswehr und internationalen Streitkräften hätten, so der allgemeine Tenor, eine noch schlimmere Katastrophe verhindert.57 Und im Gegensatz zur mangelhaften Vorsorge 51 Hamburger Echo, Rasende Naturgewalten, 19.2.1962 52 Die Welt, Mehr als hundert Tote in Hamburg, 19.2.1962. 53 Zu diesem Ergebnis kam die Studie des Instituts für Angewandte Sozialwissenschaft (IFAS), Die Flut. Ergebnisse einer Repräsentativerhebung in Hamburg, Winter 1962/63. Bad Godesberg [1964]. 54 Die Welt, Wer von der Flut getroffen wurde, 29.12.1962 55 Küstenausschuß Nord- und Ostsee, Arbeitsgruppen Küstenschutzwerke, Empfehlun­ gen für den Deichschutz nach der Februar-Sturmflut 1962, in: Die Küste 1, 1962 (Sonderdruck), 113–130, hier 128. 56 Ansprache Helmut Schmidt, Zur Hamburger Flutkatastrophe und deren politischen Konsequenzen, in: StAHH, 135–1 VI 900, 28.2.1962. 57 Zahlreiche Presseberichte hoben neben dem allgemeinen Einsatz der Behörden vor allem die Person Helmut Schmidt hervor. An der Spitze der Kommandostruktur habe dieser sich als »Generalstäbler der Wassernot« bewährt und so die Hamburger Bevölkerung vor Schlimmerem bewahrt. Der Spiegel, Stadt unter, 28.02.1962; Hamburger Echo, Lob für den Innensenator, 28.2.1962. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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im Deich- und Katastrophenschutz waren diese Erzählungen anschlussfähig an das Narrativ des sozioökonomischen Aufschwungs, den Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Als »Naturkatastrophe« festigte die Sturmflut die Akzeptanz der politischen Institutionen. Entscheidungsträger und Retter konnten zu Helden erklärt und den Betroffenen die Anteilnahme der ganzen Stadt vermittelt werden.

5. Warnung und Aufruf Zum Ausgangspunkt einer dauerhaften Auseinandersetzung geriet die Gedenkfeier auf dem Hamburger Rathausmarkt, zu der am 26. Februar 1962 rund 150.000 Menschen erschienen. Neben lokalen Repräsentanten von Bürgerschaft und Senat wohnten auch Vertreter der Bundesregierung sowie Bundespräsident Heinrich Lübke der Veranstaltung bei. Bürgermeister Paul Nevermann dankte zunächst allen Beteiligten der Rettungseinsätze und fasste die Geschehnisse der letzten Tage zusammen. Er beschloss seine Ausführungen mit einem Appell: »Diese Leidenserfahrung wird uns Warnung und Aufruf sein«.58 Ihren Platz im »Gedächtnis der Stadt« hatte die Flut damit sicher.59 Nevermanns Ansprache repräsentierte eine neue Stufe der Auseinandersetzung mit der Flutkatastrophe. Es sollte etwas aus ihr gelernt werden. Und die Aufforderung verhallte nicht ungehört. Neben ihrer symbolischen Vereinnahmung diente die Flut so auch als Katalysator planerischer Veränderungen, die wieder Sicherheit garantieren und den entstandenen Vertrauensverlust kompensieren sollten. Die »Naturkatastrophe« ermutigte Baubehörde und Senat geradezu darin, in kurzen Abständen diverse Novellierungen der Wasserbau- und Deichbestimmungen auf den Weg zu bringen, die den politischen Akteuren weitreichende Befugnisse beim Wiederaufbau der Hochwasserschutzanlagen einräumten.60 Die strategische Ausrichtung war eindeutig: Um Naturgefahren zu bewälti­ gen, bedurfte es mehr Technik.61 Diese war freilich so komplex und kos 58 Zitiert aus der Gedenkschrift für die Helfer der Flutkatastrophe, hrsg. vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Das dankbare Hamburg seinen Freunden in der Not, XVII Februar 1962. Hamburg 1962, 56. 59 Zum Begriff des »städtischen Gedächtnisses« vgl. Malte Thießen, Das kollektive als lokales Gedächtnis. Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hrsg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis. Göttingen 2009, 159–180, hier 160 ff. 60 Vgl. Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 32, 22.02.1962 bzw. Nr. 154, 2.10.1962. 61 Nach der Sturmflutkatastrophe wurde der Hochwasserschutz zur staatlichen Aufgabe, siehe Mitteilungen des Senats an die Bürgerschaft Nr. 40, 27.2.1962. Sämtliche Deiche gingen 1964 in das das Eigentum der Stadt Hamburg über. Zu den Grundlagen des Deichordnungsrechtsgesetzes von 1964 vgl. Hochwasserschutz in Hamburg, in: Staatliche Pressestelle, Berichte und Dokumente Nr. 293, 07.2.1972. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Sicherheitskonzept Deichbau – Flutwall bei Hamburg-Neuenfelde (Bild: Felix Mauch).

tenträchtig, dass sie ohne den Staat als Organisator und Planer nicht mehr gestemmt werden konnte. In einer Stellungnahme zu den Vorschlägen des Sachverständigenausschusses verkündete der Senat: »Mit den gegebenen modernen technischen Hilfsmitteln kann ein Apparat geschaffen werden, der nach menschlichem Ermessen allen Anforderungen gerecht wird«.62 Die Vorstellung einer unberechenbaren, handlungsmächtigen Natur schimmerte in diesen Aussagen stets durch. Aber auch, dass sie durch Organisation und Planung zu beherrschen sei. Die technologische Kompetenz des Staates blieb nur kurzfristig geschädigt. Die Lösung, die zur Wiederherstellung der Sicherheit gewählt wurde, bestand primär in der erneuten Erhöhung der Deiche. Die Planer der Baubehörde, die nach 1962 alle wesentlichen Aufgaben der Hamburger Deichverbände übernahmen, handelten durchaus traditionsbewusst: »De nich will dieken mutt wieken!«.63 Die Jahre nach der Sturmflut sahen einen weitreichenden Ausbau des Hochwasserschutzes. Im gesamten Stadtgebiet wurden die Anlagen auf eine Sollhöhe von NN + 7,20 Meter aufgestockt. Tore und Sperrwerke riegelten die 62 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 98, 5.6.1962. 63 Zur Geschichte des Deichbaus vgl. Marie Luisa Allemeyer, »Kein Land ohne Deich …!«. Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006, 14 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Elbe von ihren Nebenflüssen ab. Bausenator Cäsar Meister recht­fertigte dieses Vorgehen in einer Ansprache zum fünften Jahrestag der Flut: »Wer mit dem Wasser leben und mit seinen Gefahren fertig werden will, muß Opfer bringen«.64 Hamburg besaß jetzt ein neues »Schild gegen den ›Blanken Hans‹«.65 Mit dieser Vorstellung im Hinterkopf begannen die schlechten Erfahrungen der Flut zu verblassen. In den Medien und politischen Ansprachen manifestierte sich zunehmend eine andere Botschaft: Die Flut lag in der Vergangenheit. Die Lehren waren gezogen und die Katastrophe damit bewältigt.66 Die Vertrauenskrise schien vorbei.

6. Als die Deiche hielten Aber trotz aller technischen Anstrengungen wurden Fluten wieder zum Problem. Eine Serie von zum Teil sehr hohen Wasserständen, die seit Mitte November 1973 in Hamburg zu verzeichnen war, sorgte in der Öffentlichkeit für Besorgnis. Offenbar waren die Wellen um ein Vielfaches schneller, höher und in kürzeren Abständen aufgelaufen als bisher.67 Noch änderte sich die Argumentationslinie des Senats nicht: Man schütze die Bevölkerung weiterhin mit allen Mitteln gegen Fluten, müsse diese aber »nach wie vor als Naturereignisse hinnehmen, die unvorhersehbaren Veränderungen unterliegen können«.68 Als am 5. Januar 1976 erneut ein schweres Hochwasser die Elbniederungen überschwemmte, titelte das Hamburger Abendblatt: »Hamburg ist noch einmal davongekommen!«69 Menschenleben waren nicht direkt gefährdet, doch der Hafenbereich verzeichnete hohe finanzielle Verluste. Mit NN + 6,45 Metern wurde außerdem der höchste Wasserstand in der Geschichte der Hansestadt gemessen.70 Die nach 1962 errichteten Hochwasserschutzanlagen hatten sich nach offizieller Lesart zwar »voll bewährt«.71 Doch Kritiker bemängelten mitt 64 Welt am Sonntag, Mit dem Wasser leben, 12.2.1967. 65 Bergedorfer Zeitung, Schild gegen den »Blanken Hans«, 14.11.1969. 66 Ansprache Bürgermeister Schulz zur zehnjährigen Wiederkehr des Tages der Flutkatastrophe an der Gedenkstätte der Flutopfer in Ohlsdorf, in: StAHH, 135–1 VI, 222, 17.02.1972; Tagesspiegel, Konsequenzen aus der Flutkatastrophe, 17.02.1972. Vgl. dazu auch den Beitrag von Martina Heßler und Kai Blüthgen in diesem Band. 67 Vgl. Hans Rohde, Ein Vergleich der Sturmfluten des Winters 1973/74 mit denen des Winters 1972/93, in: Die Küste 26, 1974, 1–13, hier 1 f. 68 Werden Sturmfluten in Hamburg künftig höher sein als früher?, in: Staatliche Pressestelle, Berichte und Dokumente Nr. 385, 20.11.1973. 69 Hamburger Abendblatt, Titelseite, 5.1.1976. 70 Zum Ablauf der Sturmflut von 1976 vgl. Bericht über die Flut vom 3. Januar 1976, in: Staatliche Pressestelle, Berichte und Dokumente Nr. 475, April 1976. 71 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Stellungnahme zu den Sturmflutereignissen vom Januar 1976, Bürgerschaftsdrucksache 8/2119, 23.11.1976. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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lerweile, sie hätten auch den Wasserfluss der Elbe verändert und dadurch auch das Risiko schwerer Sturmfluten erhöht.72 Dem traten Regierungsvertreter zwar entschieden entgegen, aber eine »neue Verunsicherung« war deutlich spürbar.73 Waren 1962 die falschen Lehren gezogen worden? In dem Bestreben, Fluten vom Stadtgebiet fernzuhalten, hatte sich Hamburg mehr und mehr von seiner natürlichen Umwelt abgekapselt. Mauern, Schleusen und Sperrwerke ermöglichten die Erfahrung des Wassers nur noch unter großer Entfernung.74 Paradoxerweise lenkte gerade dieser Umstand die Flutdebatte in eine neue Richtung. Ingenieure rechneten nun vor, wie sich durch die »Vertiefungen der Fahrrinne das Tideverhalten der Elbe gravierend verändert« hatte.75 Offensichtlich konnte das Wasser nicht mehr in die natürlichen Überflutungsgebiete der Marschen ausweichen, da Nebengewässer und Deichvorland mittlerweile vom Fluss abgetrennt waren. Gleichzeitig führte der Elbestrom größere Wassermengen mit sich: »Nicht so sichtbar wie die neuen Deiche […], aber durch seine Folgen nicht weniger verhängnisvoll ist der Ausbau des Fahrwassers der Unterelbe«.76 Wasserstände und Eindeichungen schaukelten sich offenbar gegenseitig immer höher. Neben den Folgen des globalen Klimawandels, die mit Mühe noch als »rein natürliche Phänomene« gedeutet wurden,77 standen nun die wirtschaftlichen und technologischen Errungenschaften der Vergangenheit auf dem Prüfstand.78 Öffentliche Flutdebatten hatten längst menschliches Handeln in den Fokus der Debatte gerückt. Galt das Hochwasser 1962 noch als »Jahrhundertflut«, sprach 20 Jahre später niemand mehr von einem Einzelereignis.

72 Vgl. Die Welt, Die neuen Deiche trieben die Flut hoch, 5.1.1976. 73 Neue Deiche erhöhen Wasserstände nur unwesentlich, in: StAHH, 135–1 VI, 88, 21.1.1976. 74 Vergleichbar war der Hamburger Hochwasserschutz mit dem der Niederlande, wo sich nach der Flutkatastrophe von 1953 ebenfalls das Konzept durchsetzte, das Wasser »draußen« zu halten. Wiebe Bijker erklärt diesen Umstand in der besonderen geografischen Exposition gegenüber dem Wasser, einer daran ausgerichteten Technikkultur und der Rolle des Staates als Planungsinstanz. Vgl. Wiebe E. Bijker, American and Dutch Coastal Engineering. Differences in Risk Conception and Differences in Technological Culture, in: Social Studies of Science 37/1, 2007, 143–151. 75 Herbert Gudehus, Die Sturmflutplage in Hamburg, hrsg. von der Flutnotgemeinschaft. Hamburg 1977, 5. 76 Ebd., 20. 77 So erklärte Wirtschaftssenator Wilhelm Nölling die wiederkehrenden Sturmfluten damit, dass allein »globale Veränderungen der Wetterverhältnisse als die Ursache dieser Entwicklung angesehen werden müssen«. Staatliche Pressestelle, Berichte und Dokumente Nr. 485, 5.8.1976. Weitere Expertengutachten kamen ebenfalls zu dem Schluss, es habe eine »globale Veränderung des Sturmflutklimas« stattgefunden und die Häufung von Sturmfluten wäre nicht nur entlang der Elbe zu beobachten. Ebd., 16. 78 Vgl. Wilhelmsburger Zeitung, War Deichschutzkonzept falsch?, 5.12.1980. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Sturmfluten wurden zunehmend als »hausgemacht« interpretiert.79 Als eine Überschwemmung im November 1981 erneut schwere Sachschäden verursachte, forderte mit der »Behörde für Bezirksangelegenheiten, Naturschutz und Umweltgestaltung« auch ein Regierungsorgan zum Umdenken auf. Paradoxerweise schien Hochwasserschutz den Flutpegel letztlich zu erhöhen. Erstmalig wurde die Rückverlegung eines Deichs entlang der Norderelbe vorgeschlagen.80 Aber nicht nur das Flutverhalten, sondern der ganze Fluss hatte sich offenkundig verändert. Die Elbe bot nicht nur aus hydrologischer, sondern auch aus ökologischer Perspektive Anlass zur Besorgnis. Umweltverträglichkeitsprüfungen bezifferten die ökologischen Folgen des massiven Ausbaus nach 1962 als bedenklich.81 Hamburgs amtierender Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi betonte analog, der zukünftige Hochwasserschutz müsse »nicht zuletzt auch dem Schutz der Umwelt Rechnung tragen«82 und die seit 1982 in der Bürgerschaft vertretene »Grüne Alternative Liste« forderte, die Eindeichungen der Flussmarschen überall dort, wo es möglich sei, zumindest teilweise zurückzunehmen.83 Auch in das Gedenken der Sturmflutkatastrophe mischte sich zunehmend die Besorgnis um die Einflussnahme des Menschen.84 Die Präsidentin der Bürgerschaft, Elisabeth Kiausch, brachte den neuen Status quo während einer Gedenkansprache auf den Punkt: »Nach dem Stand unserer Kenntnisse können wir uns nicht mehr damit herausreden, daß Naturkatastrophen dieser Art von Menschen völlig unbeeinflußt sind«.85

7. Ein Risiko bleibt Ein Bewusstseinswandel zeichnete sich ab. Die Konstruktion der Sturmflut als einer Katastrophe, die allein auf den Akteur »Natur« zurückzuführen sei, musste um den Faktor »Mensch« ergänzt werden. Dessen Einfluss wurde zunehmend kritisch hinterfragt. Vertiefungsmaßnahmen, Deichbau oder Klima 79 Tageszeitung, Sturmflut hausgemacht, 7.9.1982. 80 Vgl. Buxtehuder Tageblatt, In Wilhelmsburg soll erstmals der Elbdeich zurückverlegt werden, 7.4.1981. 81 Vgl. Umweltbehörde Freie und Hansestadt Hamburg, Umweltschutz in Hamburg. Hamburg 1991, 25. 82 Rede von Bürgermeister Dr. Klaus von Dohnanyi bei einer Gedenkfeier am FlutopferMahnmal in Wilhelmsburg, Berichte und Dokumente Nr.665, 16.2.1982. 83 Vgl. Grüne Alternative Liste (GAL), Programm für Hamburg 1983, 14 f. 84 Diese Besorgnis äußerte sich vor allem auch in Zusammenhang mit der Diskussion um einen menschengemachten Klimawandel. Siehe hierfür etwa Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Auswirkungen des Treibhauseffektes  – Hochwasserschutz in Hamburg, Bürgerschaftsdrucksache 14/2274, 25.2.1992; Süddeutsche Zeitung, Die große Flut – Erinnerung und Zukunftssorge, 17.2.1992. 85 Ansprache Elisabeth Kiausch, in: StAHH, A 457/0313 Kapsel 04, 14.2.1992. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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erwärmung standen verstärkt im Verdacht, nicht nur die Ökologie des Flusses zu bedrohen, sondern auch dessen Gefahrenpotenzial zu verstärken.86 Die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur, die 1962 noch den Katastrophendiskurs bestimmt hatte, war damit endgültig obsolet geworden. Gleichwohl löste die neue Perspektive nicht die Herausforderungen der Praxis. Diese bestehen bis heute und stehen im Zentrum einer kontroversen Auseinandersetzung. Fluten sind weiterhin eine Belastung, die Hamburg periodisch erreicht.87 Einerseits sind sie »Naturereignisse, auf die sich Stäbe und Einsatzkräfte jeweils aktuell einstellen müssen und nicht allein standardmäßig reagieren können«.88 Andererseits hausgemachte Gefahrenherde. Die Ungewissheit, die der »Großen Flut« noch lange nach 1962 anhaftete, besteht partiell auch im 21. Jahrhundert weiter.89 Jüngst betonte Olaf Scholz auf einer Gedenk­ veranstaltung im Hamburger Rathaus anlässlich des 50. Jahrestags des Hochwassers noch einmal: »1962 hat uns die Flut in Erinnerung gerufen, dass die Elbe, der die Stadt ihren Wohlstand verdankt, Teil der Natur ist und dass sich die Natur vom Menschen niemals völlig beherrschen lässt«.90 Ein Risiko bleibt auch in Zukunft bestehen. Die »Große Flut« hat demgemäß nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Zukunft. Die Katastrophe von 1962 bleibt Daueraufgabe, denn sie wirkt nicht allein im kollektiven Gedächtnis Hamburgs nach. Sie hat neben mentalen auch physische Spuren hinterlassen – in den Flutmauern, aber auch in der Morpho­ logie der Elbe und der Landschaft, etwa in den zahlreichen Bracks, die hinter den gebrochenen Deichen auch nach 1962 sichtbar geblieben sind.91 Ihre Folgen für Deichbau, Stadtentwicklung und Umweltschutz waren weitreichend und wirken auch in der Gegenwart weiter. Vereinzelten Rückbauten 86 Diese drei Punkte beschäftigten Öffentlichkeit und Wasserbauingenieure zusehends. Vgl. eine der zahlreichen schriftlichen Anfragen aus der Bürgerschaft an den Senat, Bürgerschaftsdrucksache 18/7352, 20.11.2007 bzw. aus Ingenieursperspektive Erik Pasche, Das Elbe-Hochwasser. Eine neue Dimension der Naturkatastrophe?, Hamburg 2003, 44. 87 Vgl. Wolfgang Fraedrich, Hochwasser an der Elbe – fast jedes Jahr aufs Neue. Wasser als Naturereignis mit dramatischen Folgen für Mensch und Raum, in: Geographie heute 293, 8–12. 88 Bürgerschaftsdrucksache 16/3630, 4.1.2000. 89 »50 Jahre nach der Sturmflut  – welche Gefahren bergen Elbvertiefung und Klima­ wandel?«, Bürgerschaftsdrucksache 20/3113, 10.2.2012. 90 Olaf Scholz, Rede auf dem Senatsempfang zum Gedenken an die Sturmflut 1962, 16.2.2012, [zuletzt abgerufen am: 21.9. 2013]. Vgl. auch Hamburger Abendblatt, »Die Katastrophe hat sich eingebrannt in die Seele der Stadt«, 17.2.2012. 91 Bracks sind Gewässer, die hinter den gebrochenen Deichen entstanden, als sich das Wasser der Elbe dort tief in den Boden grub. Im Verlauf der Elbe gibt es zahlreiche dieser kleinen Seen, die heute als wertvolle Biotope teilweise unter Naturschutz stehen. Vgl. Norbert Fischer, Sturmflutkatastrophe und regionale Identität. Zur maritimen Gedächtnislandschaft an der Niederelbe, in: Stader Jahrbuch 2011, 157–170, hier 165. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Landschaftliche Retrospektive  – Das Hohenwischer Brack in Hamburg-Francop (Bild: Felix Mauch).

im Süderelbegebiet steht immer noch die althergebrachte Erhöhung der Hamburger Hauptdeichlinie gegenüber.92 Auch Infrastrukturprojekte wie die Elbvertiefung bleiben hochgradig umstritten, da die Folgen dieser Veränderung und Beeinflussung von Naturräumen durch Deichanlagen und Ausbauarbeiten langfristig noch nicht absehbar sind.93 Gleiches gilt für die Auswirkungen einer möglichen Katastrophe. Gegenwärtig umfasst der durch die Hamburger Innenbehörde berechnete Überflutungsraum der Stadt eine Fläche von 270 Quadratkilometern, in der 160.000 Menschen leben.94 92 Vgl. Bürgerschaftsdrucksache 20/3499, 5.4.2012. 93 Gegenwärtig steht eine Vertiefung der Fahrrinne im Raum, die es Schiffen mit einem Tiefgang von bis zu 14,50 Metern erlauben soll, den Hamburger Hafen anzulaufen. Während Befürworter vor allem ökonomische Vorteile geltend machen, kritisieren die Gegner u. a. die ökologischen Schäden durch Versalzung oder verstärkte Sedimentation, aber auch den erhöhten Tidenhub und das dadurch gestiegene Flutrisiko. Für einen Überblick vgl. Senatsdrucksache 2002/0206, 22.2.2002; Bürgerschaftsrucksache 19/8170, 14.12.2010 bzw. 19/1670, 5.12.08 und jüngst die Gemeinsame Pressemitteilung von BUND, NABU und WWF, Elbe auf der Kippe, 22.2.2013. 94 Vgl. Hans-Jochen Hinz, Gabriele Gönnert, Dieter Ackermann, Stadtentwicklung und Hochwasserschutz. Herausforderungen für die Zukunft, in: IBA Labor Klimafolgenmanage­ ment, Herausforderung Wasser. Dokumentation der Fachtagung 19.–21. Februar 2009, 58–61. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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8. Fazit: Die Flut – eine Naturkatastrophe? Wie eingangs festgelegt, vertritt der vorgestellte Rückblick den Anspruch, die Hamburger Sturmflut von 1962 als eine interdependente Katastrophe zu erfassen. Ursachen, aber auch Bewertungen und Reaktionen sind im Beziehungsgeflecht von Umwelt und Gesellschaft zu suchen. Für eine abschließende Be­urteilung dieser These ist ein letzter Rekurs auf den Forschungsstand nötig. Eine weit verbreitete Annahme der sozialwissenschaftlichen Umwelttheorie besagt, Natur sei kein Subjekt – folglich kenne und erfahre sie auch keine Katastrophen per se.95 Demnach wirken die sozialen Folgen eines Extremereignisses mit »natürlichem Kern« katastrophal, indem sie gesellschaftliche Resilienz aushebeln und die Verwundbarkeit spezifischer Gruppen offenbaren.96 Folgt man dieser Argumentation, ist jede Katastrophe in soziokulturelle Muster einge­ bettet und es macht zunächst keinen Unterschied, ob ein Orkan oder ein gebrochener Deich als Verursacher steht. Die Frage, die sich dann stellt, ist vielmehr, wer eigentlich definiert, was eine »Naturkatastrophe« ist. Diese Annahme konnte insoweit bestätigt werden, dass am Beispiel der Hamburger Flut gezeigt wurde, welche Konzeptionen von Natur eine Gesellschaft im Katastrophenfall entwarf und wie sie sich zu diesen ins Verhältnis setzte. »Die Natur« galt den meisten Zeitgenossen als Verursacher der Katastrophe. Weil Politik, Medien und Öffentlichkeit die Flut als »Naturkatastrophe« konzeptualisierten, ist sie auch als solche beschreibbar. Denn was sozial konstruiert ist, muss nicht weniger wirklich sein. Doch reicht die »agency« von Natur auch über den Diskurs hinaus? An dieser Stelle gilt es zu differenzieren. Wind, Wasser, Wellen – das alles sind natürliche Elemente. Doch sie bilden keine große black box namens »Natur«. Der Naturbegriff beschreibt nur vordergründig den »selben« Gegenstand. Gemeint ist damit oftmals etwas Unterschiedliches. Die Erforschung von Naturkatastrophen muss diesen Umstand mit einbeziehen, ohne in der Sackgasse eines überzogenen Determinismus zu enden. Denn die vollständige Auflösung aller Natur in kulturellen Zuschreibungen ist analytisch nur wenig befriedigender als der Naturalismus, der zurückbleibt, wenn man wie viele zeitgenössi-

95 Prominente Vertreter dieser Denkrichtung bleiben bis heute Kenneth Hewitt, The Idea of Calamity in a Technocratic Age, in: ders. (Hrsg), Interactions of Calamity from the Viewpoint of Human Ecology. Boston u. a. 1983, 3–32; Greg Bankoff, Time is of the Essence. Di­sasters, Vulnerability and History, in: International Journal of Mass Emergencies and­ Disasters 22/3, 2004, 23–42. 96 François Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010, 16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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sche Exegeten der Sturmflut von 1962 den Konstruktionsaspekt schlicht außen vor lässt.97 Der umwelthistorische Rückblick auf die Sturmflut hat gezeigt: Umwelt und Gesellschaft waren weder trennscharf zu unterscheiden, noch standen sie sich dichotomisch gegenüber.98 Darin liegt die methodische Herausforderung einer umwelthistorischen Perspektive auf die »Große Flut«. Natur, präziser die Elbe, blieb ein Unsicherheitsfaktor, der sich trotz aller technischen Maßnahmen zu keinem Zeitpunkt vollständig domestizieren ließ und die Hansestadt auch nach 1962 noch zu überraschen verstand. Selbst wenn »primär historisch entstandene Vulnerabilitätsmuster und weniger die Natur selbst für Katastrophen verantwortlich sind«, argumentiert diesbezüglich Uwe Lübken, dürfe darüber nicht vergessen werden, dass »selbst für Gesellschaften, die sich dieser Anfälligkeit bewusst sind, Zeitpunkt und Ausmaß des ›impact‹ unklar bleiben. Unsicherheit und Ungewissheit wurden so zu Problemen an sich«.99 Es reicht also nicht aus, das Flutereignis nur anhand zeitgenössischer Begriffsbestimmungen zu analysieren. Dass Naturkatastrophen das Resultat von sozialen Konstruktionen sein können, ist nur eine Sicht der Dinge. Denn Natur ist nicht nur Imagination. Sie ist auch konkret. Das Wassereinzugsgebiet des Flusses, sein hydrologisches Fließverhalten und morphologisches Erscheinungsbild addieren sich nicht zu der Natur. Aber sie sind doch Akteure – indem sie historische Prozesse beeinflussen und sich bis zu einem gewissen Grad gesellschaftlichen Zugriffen widersetzen. Die »Nachgeschichte« der Sturmflut trägt zur historischen Präzisierung bei: Indem sie nachzeichnet, wie die Auseinandersetzung mit der Katastrophe das Ereignis überdauerte. Weder war die Flut nach einer Nacht vorbei, noch ließ sie sich mit einem einzelnen master narrative beschreiben. Aber auch indem sie die »Naturkatastrophe« entlang des schmalen Grats zwischen Kulturalisierung und Naturalisierung dekonstruiert und Zusammenhänge aufdeckt, die mit der alleinigen Fokussierung auf Politik, Kultur und Gesellschaft nicht zu erkennen sind. Letzten Endes ist es genau dieser komplexe, aber letztlich nicht auseinander zu dividierende Zusammenhang von Natur und Kultur, der hilft zu verstehen, was sich hinter einer Chiffre wie der der »Großen Flut« befindet. Der Rest ist Geschichte. 97 Die Absage an einen radikalen Sozialkonstruktivismus hat so bereits Michael Flitner formuliert. ders., Konstruierte Naturen und ihre Erforschung, in: Geographica Helvetica, 53/3, 1998, 89–95, hier 91. 98 Zu den Wechselwirkungen von Natur und Kultur vgl. noch einmal Schmid, Donau, 77. Interessant sind diesbezüglich noch einmal Flussers Überlegungen zur »Nachgeschichte«. Dort argumentiert er, dass Natur und Kultur weder »objektivierbar« noch »anthropomorphisierbar« seien, da sie in einem zirkulären Prozess stets in Verbindung stünden. Flusser, Nachgeschichte, 25 und 27. 99 Uwe Lübken, »Der große Brückentod«. Überschwemmungen als infrastrukturelle Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Saeculum 58, 2007, 89–114, hier 108. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

»’76 ist die Flut aus dem Stand gekommen! 1976 bin ich Ortsbrandmeister geworden. Da sind wir ganz genüsslich samstagnachmittags auf Jagd gegangen. Sagten uns: »Ja, ein bisschen Wind, wir gehen los.« Die Jagd haben wir aufgegeben, weil wir die Hasen nicht treffen konnten, weil die Schrote da nicht ankamen. Und als wir nach eineinhalb Stunden wiederkamen – da war hier vor dem Ilmenau-Sperrwerk noch ein Ponton, wo die Binnenschiffe lagen, weil sie aufgrund des geschlossenen Sperrwerkes nicht mehr in den Hafen einfahren konnten – schauten die Schiffe über den Deich. Das hat uns im Grunde genommen auch etwas überrascht, weil das Wasser so schnell angestiegen ist.« Videointerview: Marco Kreutzer mit Otto Sander, Hoopte, 16. November 2011. Otto Sander wurde am 7. August 1948 in Hoopte geboren und lebt seitdem dort mit seiner Familie auf einem landwirtschaftlichen Anwesen direkt am Elbdeich. Er ist seit Mai 1988 Verbandsvorsteher des Deich- und Wasserverbandes Vogtei Neuland. Otto Sander erlebte die Sturmflut als 14-Jähriger.

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Kai Blüthgen und Martina Heßler

Schuld, Bewährung und Katastrophengedächtnis Der Zeitungsdiskurs um die Hamburger Sturmfluten 1962 und 1976

Prettin ist ein kleines anhaltinisches Städtchen an der Elbe. Als Kind stand ich1 oft mit meinem Großvater auf dem Deich am Fluss. Einmal fragte ich ihn, wofür der Deich denn gut sei. Die Elbe wirkte auf mich eher wie ein kleines Rinnsal und vor uns erstreckten sich zudem Kilometer von Deichvorland. Mein Großvater erklärte mir allerdings, dass man das Wasser nie unterschätzen dürfe und der Deich viel besser in Stand gehalten werden müsste, da sich besonders die Füchse Unterkunft in diesem suchten. Er selbst hatte oftmals noch Deichwache gehalten, so wie sein Vater und dessen Vater vor ihm. Dieses Risikobewusstsein, das Wissen um die Gefahr sowie das Wissen um die Bedeutung und Funktion der Deiche war den Hamburgern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so kritisieren jedenfalls die hier untersuchten Zeitungen, abhanden gekommen. Die Sturmflut von 1962 überraschte die Hamburger Bevölkerung, die Deiche waren in schlechtem Zustand, der Katastrophenschutz nicht vorbereitet.2 Hamburg hatte die letzte große Sturmflut 1825 erleben müssen; danach waren Naturkatastrophen für die Stadt, ganz anders als die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, kein Thema mehr. Christian Pfister hat von der »Katastrophenlücke« gesprochen und darauf hingewiesen, dass die Abwesenheit von Naturkatastrophen über einen längeren Zeitraum zu einer Verdrängung oder einem Unterschätzen dieser führe.3 Pfister zeigte, dass sich in der Schweiz zwischen 1882 und 1976 praktisch keine Naturkatastrophen abspielten. Dabei ging das Bewusstsein für ein Katastrophenrisiko in der Schweiz verloren und verleitete zu dem Glauben, dass in der Vergangenheit getroffene Maßnahmen ausreichend Sicherheit böten. Erst mit einer neuerlichen Katastrophe entpuppte sich dies als Illusion und erst mit ihr setzte ein Umdenken 1 Kai Blüthgen 2 Vgl. die Einleitung dieses Bandes. 3 Christian Pfister, Die »Katastrophenlücke« des 20. Jahrhunderts und der Verlust traditionalen Risikobewusstseins, in: GAIA 18, 2009, H. 3, 239–246, hier 239. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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ein.4 Auch in Hamburg hatte niemand mit einer Flutkatastrophe dieses Ausmaßes gerechnet, wie sie die Stadt 1962 ereilte. In der wenigen Literatur, die sich mit der Hamburger Sturmflut beschäftigt,5 wurde insbesondere aufgezeigt, dass im Diskurs um die Ursachen und die Verantwortlichkeiten für die schreckliche Sturmflut 1962 der »Natur« eine prominente Rolle zugeschrieben wurde: als unbeherrschbare Macht, als Akteur oder Subjekt, das überraschend und mit großer Gewalt in die Zivilisation eingebrochen war und die Menschen heimsuchte, die sich, in einer übertechnisierten Welt in einer zivilisatorischen Scheinsicherheit eingerichtet hatten. Die Auswertung des Zeitungsdiskurses in der Zeit von der »Großen Flut« im Jahr 1962 bis zum Jahr 1976, als die Hamburger erneut mit einer schweren Sturmflut konfrontiert waren, zeigt allerdings, dass nicht nur die Natur allein, sondern auch, wie von Jens Ivo Engels bereits herausgearbeitet,6 der Mensch und sein Verhältnis zur Natur als wesentlicher Faktor für das verheerende Ausmaß der Flut von 1962 benannt wurden. Auffällig ist aber, und dies wurde in der bisherigen Literatur überraschender Weise kaum thematisiert, dass sich im Zeitungsdiskurs viele Stimmen finden, die die Naturkatastrophe als Anlass nehmen, um auf die Bedeutung des Katastrophenschutzes und die Notwendigkeit von Katastrophenorganisation und -prävention zu insistieren. Der Hamburger Bevölkerung wurde nicht nur eine Natur-, sondern gleichermaßen eine nicht zu verantwortende Katastrophenvergessenheit vorgeworfen. Katastrophenschutz war zeitgenössisch eine unpopuläre Maßnahme. Schließlich war der Zweite Weltkrieg erst 17 Jahre zuvor zu Ende gegangen; gerade Hamburg hatte mit der Operation Gomorrha schlimme Zerstörung und Leid erfahren; Katastrophenorganisationen und Bundeswehr erinnerten auf unangenehme Weise an diese Zeit. Die Naturkatastrophe bot nun offensichtlich die Möglichkeit, gegen diese in der Bevölkerung verbreitete Stimmung den Katastrophenschutz zu forcieren.7 Dabei ging es insofern um Schuld und Verantwortung, als die Bevölkerung offensichtlich, so der Vorwurf, nicht in der Lage gewesen war, in einem Katastrophenfall wie dem Hochwasser adäquat zu reagieren. Dieser Zusammenhang von Naturkatastrophe, Krieg und Katastrophenschutz müsste genauer analysiert werden. Es handelt sich zweifellos um ein bedeutendes zeithistorisches Thema, das Erkenntnisse für die Geschichte der jungen Bundesrepublik bringen würde.8

4 Ebd., 243–245. 5 Vgl. die Einleitung dieses Bandes. 6 Jens Ivo Engels, Vom Subjekt zum Objekt. Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. v. Dieter Groh, Tübingen 2003, 119–142. 7 Vgl. den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. 8 Vgl. die Einleitung dieses Bandes und insbesondere den Beitrag von Jochen Molitor. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Weitere zentrale Themen des Zeitungsdiskurses waren die Details des Katastrophenschutzes im Sinne der Alarmierung der Bevölkerung und der unmittelbaren Bewältigung der Katastrophe, also die Organisation und Durchführung des Katastropheneinsatzes, sowie der Deichbau (Wasserbau). Die Frage nach Schuld und Verantwortung, um die es in all diesen Kommentaren und Interpretationen letztlich ging, ist wesentlicher Bestandteil der Katastrophenbewältigung: Sie ist Teil  eines sinnstiftenden und zukunftsgerichteten Narrativs, das verspricht, die Katastrophe werde sich nicht wiederholen. Und dazu, so kann man den Zeitungsdiskurs zusammenfassen, bedürfe es sowohl weniger Katastrophen- als auch weniger Naturvergessenheit9 sowie eines Schutzes vor Hochwasser mittels Technik. Der Beitrag basiert auf der Auswertung der Zeitungsberichterstattung zu den Hamburger Sturmfluten von 1962 und 1976 sowie stichprobenartig der Zeit dazwischen. Der Zeitraum wurde gewählt, um erstens die Frage nach dem Katastrophengedächtnis stellen zu können. Wie lange spielten die aufgeregten Debatten, die Suche nach Verantwortlichkeit und die Schuldzuweisungen eine Rolle? Wie lange wurde das Gedächtnis an die Katastrophe in den Medien aufrechterhalten? Zweitens bietet der Hamburger Fall mit der verheerenden Sturmflut 1962 und der nächsten großen Sturmflut von 1976, deren Pegelstände zwar höher waren als die der Flut von 1962, die jedoch zu keiner Katastrophe führte, die Möglichkeit zu beobachten, wie diese unterschiedlichen Folgen von Sturmfluten von den Zeitungen kommentiert wurden und welche Auswirkungen sie auf das Risikobewusstsein und die Bewertung von Verantwortungen und Lösungen im Katastrophenschutz nach deren Einschätzung hatten. Der Artikel gliedert sich daher in drei Teile, indem zuerst die Phase der Berichterstattung nach 1962, dann die Zeit zwischen 1962 und 1976 sowie zuletzt die Phase nach der Sturmflut 1976 betrachtet wird. Der Zeitungsdiskurs spiegelt, wie in der Forschung bereits vielfach betont, weder »die öffentliche Meinung« wider noch lassen sich unmittelbar Rückschlüsse auf die Haltung der Bevölkerung, der Politik oder anderer gesellschaftlicher Gruppen ziehen. Der Zeitungsdiskurs ist eine Stimme im gesellschaftlichen Diskurs, wenngleich aufgrund der Auflagenhöhe einiger der hier betrachteten Zeitungen sowie ihrer Bedeutung in der Stadt Hamburg eine zweifellos breit rezipierte Stimme. Ausgewertet wurden Artikel aus dem Zeitraum von 1962 bis zum Jahr 1976 aus überregionalen Blätter wie der ZEIT, dem Spiegel sowie aus regionalen bzw. lokalen Zeitungen, beispielsweise den Harburger An­ zeigern und Nachrichten, dem Hamburger Abendblatt und der Wilhelmsburger Zeitung oder den Mitteilungen der Handelskammer Hamburg. Auffällig ist dabei, wie im Folgenden herausgearbeitet wird, dass überregionale und lokale Zeitungen teils unterschiedlich, zumeist jedoch ähnlich argumentierten.

9 Zum Begriff der Naturvergessenheit vgl. die Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Fachzeitschriften wie Hansa, Die Küste oder Wasserbau wurden nicht berücksichtigt, da nicht der fachwissenschaftliche Diskurs erfasst werden sollte. Allerdings wäre es ein gleichfalls wichtiges, noch ausstehendes Unterfangen, diese fachwissenschaftlichen Debatten um Küstenschutz und Deichbau im Hinblick auf die Konzepte vor und nach den Sturmfluten auszuwerten, gerade auch, um den öffentlichen Diskurs mit dem der Ingenieure und »Experten« zu vergleichen.10 Im Folgenden geht es allerdings – um Jens Ivo Engels in abgewandelter Form zu zitieren – um das »Bild, welches sich die Gesellschaft« von der Verantwortung der Bevölkerung und der Institutionen wie Katastrophenschutz und Deichbau macht. Dies zeigt sich, wie Engels schrieb, im Diskurs von Zeitungen, Berichten etc. »in verdichteter Form […]. Was sich unter normalen Umständen nur mühsam aus verstreuten Fachdiskussionen zusammenfassen läßt, wird angesichts der Katastrophe von Presse und Politikern aufgegriffen und damit für den Historiker greifbar.«11

1. 1962: Unmittelbar nach der Flut: Fehleranalyse Unmittelbar nach der Flutkatastrophe 1962 waren die Zeitungen voll von Bildern des Mitfühlens, zeigten Trauerfeiern oder schilderten die Eindrücke der Betroffenen. Am 23. Februar konnten die Leser der ZEIT Untertitel wie »Schlimmer als an der Ostfront«12 lesen. Die Erinnerung an die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges diente als Folie, um die Geschehnisse anschaulich zu beschreiben.13 Wie aber war es dazu gekommen? War die Naturgewalt übermächtig oder hatte man verlernt mit ihr zu leben? Hätte die Flut glimpflicher verlaufen können? Diese Fragen beschäftigten die Zeitungen und Magazine nach der Sturmflut von 1962. Die Frage nach der Schuld wurde aufgeworfen. Jens Ivo Engels hatte bereits gezeigt,14 und Felix Mauch argumentiert in diesem Band ähnlich, dass die zeitgenössischen Konzepte von Natur im Kontext der Schuldfrage zentral waren. Denn die Bilder und Vorstellungen, die von der Natur im öffentlichen Diskurs gezeichnet wurden, betonten deren »Gewalt«, ihr plötzliches Einbrechen. Doch, wie im Folgenden gezeigt wird, reichte dieses Bild von Natur nicht aus, um die Frage von Schuld und Verantwortung zu klären. Schuld wurde auch der Hamburger Bevölkerung zugesprochen, indem ihr, mit Matthias Heymann zu sprechen, eine mangelnde »ecological coherence«15 sowie eine Katastrophenvergessenheit attestiert wurde. 10 Vgl. dazu die Bemerkungen in der Einleitung. 11 Engels, Vom Subjekt, 121. 12 Ortwin Fink, Als die große Sturmflut kam, in: Die Zeit, 23.2.1962, 2. 13 Vgl. dazu den Beitrag von Christian Kehrt und Daniel Uhrig in diesem Band. 14 Engels, Vom Subjekt. 15 Vgl. das Konzept im Aufsatz von Matthias Heymann in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Verantwortung der Bevölkerung: der der Natur entfremdete Mensch und seine (doppelte) Katastrophenvergessenheit Schon bald nach der Flutkatastrophe im Februar 1962 wurden Stimmen laut, die nach der Rolle der Bevölkerung fragten. Ein Bericht der Welt machte die deutliche Aussage, dass »jeder Bewohner der Marschen und Niederungen im Tidegebiet«16 wissen sollte, »welche Gefahr bei über 3,50 m Wasserstanderhöhungen besteht.«17 Die darin enthaltene Kritik an einer Naturvergessenheit wird recht deutlich geäußert: Die Bewohner jener Gebiete hätten den Bezug zu und das Wissen über ihre Umwelt verloren. Daraus hätte sich eine Handlungsohnmacht gegenüber einer Naturkatastrophe ergeben. Der Artikel verweist im weiteren Verlauf darauf, dass es sinnvoll wäre, wenn jeder Bewohner für den Notfall feste Aufgaben hätte, beispielsweise durch einen für jedermann einsehbaren Katastropheneinsatzplan, und dadurch nicht in Panik verfallen oder unbedacht handeln würde.18 Weiter wird sogar die Frage gestellt, ob es überhaupt sinnvoll sei, in solchen Gebieten zu leben oder zumindest wurde thematisiert, wie dort »angemessen« zu leben sei. Hier schimmert bereits eine Frage auf, die vor allem im Diskurs seit den späten 1970er Jahren und heute erneut eine große Rolle spielt, nämlich die Frage, ob der Natur mehr Raum zu geben sei. Auch die Welt hatte nach der Hamburger Sturmflut unpopuläre Maßnahmen gefordert: »Bestimmte Wohngebiete […] dürfen nicht wieder in der alten Form aufgebaut werden.«19 Noch ist dies jedoch kein dominanter Diskurs, sondern es handelt sich vielmehr um leise Stimmen in einem technokratischen Getöse. Engels hatte darauf hingewiesen, dass sogar Franz Josef Strauß in den 1950er Jahren über die »Grenzen des Fortschritts« und das Problem anthropogener Ursachen für Überschwemmungen gesprochen hatte, allerdings mit der Schlussfolgerung, dass das Technische Hilfswerk  – entgegen der Zurückhaltung der SPD geführten Landesregierung – gezielter aufzubauen sei.20 Dies verweist auf den zweiten Vorwurf, dem sich die Hamburger Bevölkerung in den Zeitungen ausgesetzt sah: ihr Unwille, sich mit Katastrophen zu befassen. Dieser Stoßrichtung, der Forderung nach unpopulären Maßnahmen im Kontext des Katastrophenschutzes folgte auch die monatlich erscheinende Zeitschrift Mitteilungen der Handelskammer Hamburg. In ihrer Juni-Ausgabe forderte sie »Mut zu un 16 Heinrich Prügel, »Es war keine Springflut«. Ein Fachmann hat das Wort – Lehren aus der Katastrophe, in: Die Welt, 23.2.1962, 7. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Bernhard Wördehoff, et al., Verhängnisvolle Scheu vor Unbeliebtheit, in: Die Welt, 3.3.1962, Das Forum der Welt (Beilage). 20 Engels, Vom Subjekt, S.  139; vgl. zum Zusammenhang von Katastrophenschutzorganisationen und Naturkatastrophen auch den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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populären Maßnahmen«21 und meinte damit die intensive Schulung der Bevölkerung für Katastrophen jeglicher Art.22 Auch in diesem Artikel wurde die Bevölkerung scharf kritisiert: »Die Flutkatastrophe zeigte mit großer Eindringlichkeit, wie verhängnisvoll sich die innere Abwehr auswirken muß, die sich in unserer Bevölkerung nach den Erlebnissen der letzten Jahrzehnte gegen vorbeugende Maßnahmen des Katastrophenschutzes herausgebildet hat.«23 Hier ging es nicht nur um die mangelnde »environmental coherence« der Hamburger Bevölkerung, sondern um den zeitgenössisch vielfach diagnostizierten Zusammenhang von Zweitem Weltkrieg und einer in der Nachkriegszeit dominierenden Abneigung gegenüber Zivil- und Katastrophenschutz. Gleichzeitig wurde damit eine Lanze für diesen gebrochen, ein Thema, das im Schulddiskurs um die Sturmflut präsent war und gerade von Zivilschutzorganisationen gezielt genutzt wurde.24 Jedoch ist dies immer zugleich, wie in vielen anderen Artikel, Kritik am mangelnden Risikobewusstsein, das dazu führe, dass eine Katastrophenvergessenheit dominiere. Denn, so wurde konstatiert, die Alarmierung per Sirenen wurden »von der Bevölkerung nicht verstanden […], weil sie die Signale nicht zu deuten wusste.«25 Auch weitere Artikel zeigen die enge Verknüpfung der Kritik am mangelnden Risikobewusstsein, der Naturvergessenheit und der Forderung nach Zivilschutz, die sich vor allem als eine Forderung nach einem Vorbereitetsein auf mögliche Katastrophen präsentierten: »Es hat keinen Sinn, die Augen vor in der Zukunft drohenden Gefahren zu verschließen. Wohl aber hat sich bei den Katastrophen an der Küste immer gezeigt, dass dort, wo bei Eintreten der Gefahr die Bewohner planmäßig und mit aller Kraft an die Rettung ihrer Deiche und Habe herangegangen sind, ihnen vielfach ein Erfolg beschieden war. Man sollte diese Lehre der Vergangenheit, die auch für die letzte Katastrophe zutraf, in der Zukunft beherzigen.«26

Auch wenn das Unwissen der Bevölkerung und deren konstatierte Sorglosigkeit ein wichtiges Thema des Zeitungsdiskurses nach der Hamburger Sturmflut sind, so wurde auch betont, dass die städtischen Behörden für die Bevölkerung zu sorgen hätten. So stellte das Hamburger Abendblatt zwar fest: Die »Bevölke-

21 Bielefeldt, Was lehrte uns die Flut? Bevölkerung und Wirtschaft müssen mehr als bisher auf mögliche Katastrophenfälle vorbereitet werden, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 17, 1962, H. 6, 6. 22 Ebd. Die geforderten Maßnahmen zur Schulung und Einbindung der Bevölkerung erinnern im Übrigen stark an die Zivilverteidigung in der DDR. 23 Ebd., 4. 24 Vgl. dazu vor allem den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. 25 Bernhard Wördehoff u. a., Hamburg. Eine vorläufige Bilanz, in: Die Welt, 3.3.1962, Das Forum der Welt (Beilage). 26 Prügel, »Es war keine Springflut«, 7. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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rung […] wußte nicht, in welcher Gefahr sie sich befand.«27 Im weiteren Verlauf des Artikels wurde aber vor allem auf die Frage der Verantwortung der Behörden fokussiert, da zumindest diese die Gefahr hätten kennen sollen.28 Die meisten Zeitungen jedoch vertraten die Vorstellung, dass das bequeme Großstadtleben den Menschen zum sorglosen Umgang mit dem Wasser verleitet hätte.29

Katastrophenschutz Unter dem Begriff Katastrophenschutz sollen im Folgenden die Aspekte im Schutz gegen eine Sturmflut gefasst werden, die nicht den Deichbau betreffen, also von der Alarmierung bis hin zur Organisation von relevanten Verbänden und Behörden. Der Katastrophenschutz geriet unmittelbar nach der Flut scharf in die Kritik. Der Tenor der Presse war, dass mit vorausschauender Planung und Organisation das Schlimmste hätte vermieden werden können.30 Dies verweist wieder auf den damit verbundenen impliziten Vorwurf der Katastrophenvergessenheit und der Vernachlässigung des Katastrophenschutzes. Im Februar 1962 beschäftigte das Hamburger Abendblatt vor allem eine Frage: »Warum wurde nicht gewarnt?«31 Die Kritik zielt darauf ab, dass zu spät gewarnt wurde und somit viele Hamburger Bürger von der Flut überrascht wurden, im Gegensatz zu den küstennahen Städten Schleswig-Holsteins oder Niedersachsens.32 Während das Hamburger Abendblatt ein nicht flutsicheres Telefonnetz bemängelte,33 gibt sich die Welt keinen Illusionen hin. Ein Ausfall des Telefonnetzes bei einer Sturmflut werde immer wieder eintreten und sei unvermeidbar, jedoch sei dies nicht sonderlich problematisch, wenn es vor der Katastrophe sinnvoll zum Einsatz gekommen sei und seine Aufgabe als Warninstrument erfüllt habe.34 Die Welt versuchte nun zu ergründen, worin die Ursachen für die verspäteten Warnungen lagen. Das Kernproblem sei der Mangel an Führung, an einer Person oder Instanz, die beherzt eine großflächige Alarmierung ins Rollen bringt und zwar bevor die Katastrophe einbreche35 – eine Interpretation, die zweifellos mit dem Wirken Helmut Schmidts und seinem in der Presse immer wieder betontem, beherzten Handeln zusammenhängt. Auch in 27 Egbert Hoffmann, Warum wurde nicht gewarnt?, in: Hamburger Abendblatt, 20.2. 1962, 2. 28 Ebd. 29 Hierzu auch Engels in seinem Aufsatz. 30 Ebd., 134. 31 Hoffmann, Warum wurde nicht gewarnt, 1. 32 Ebd., 2. 33 Ebd. 34 Wördehof u. a., Hamburg. Eine vorläufige Bilanz, Das Forum der Welt (Beilage). 35 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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einem weiteren Artikel wird die Forderung nach einer Führungsperson, die an zentraler Stelle mit einem roten Telefon die Katastrophenabwehr entschlossen führe, erhoben.36 In nahezu verhöhnendem Ton prangerte auch das Hambur­ ger Abendblatt die schwache Führungskraft der Behörden an und kontrastierte dies mit den tatkräftigen Helfern vor Ort: »Die Männer und Halbwüchsigen, die da zupacken, hatten nicht auf eine Anweisung gewartet – woher sollte sie auch kommen? –, sondern sie taten es einfach.«37 In einem Artikel in der Welt wird weiter kritisiert, dass die bisherigen Pläne zum Katastrophenschutz entweder gar nicht oder nur zu wenig eine mögliche Evakuierung der Bevölkerung bedacht hatten und dass es an Sammelstellen und Richtungsweisern fehlte.38 Immerhin, so wurde in der Presse konstatiert, habe sich die medizinische Versorgung im Großen und Ganzen bewährt, auch wenn es zu kleineren Engpässen beim Medikamentenvorrat kam.39

Wasser- und Deichbau Wenig überraschend ist, dass der Zustand der Deiche nach einer Flutkatastrophe in das Blickfeld der Fehlersuche geraten. Gleichzeitig kann anhand des Zustands der Deiche auch das Risikobewusstsein der Zuständigen abgelesen werden. So argumentierte ein Artikel des Hamburger Abendblatt mit der empörten Schlagzeile »Die Hamburger Deichpläne stammen aus dem Jahr 1825«40, also der letzten großen Flut, die Hamburg und die Nordseeküste heimgesucht hatte. Das Hamburger Abendblatt stellte fest, dass die Hamburger Deiche im Wesentlichen an der Flut aus dem Jahr 1825 ausgerichtet und teils sogar niedriger waren.41 Die zentrale Frage, die durch diese Feststellung aufgeworfen werde, sei, ob die Sturmflut von 1962 tatsächlich so unvorhersehbar gewesen sei. Nach Meinung des Hamburger Abendblatts war sie es nicht. Der ausschlaggebende Fehler läge darin, dass sich die maritime Landschaft um Hamburg, das heißt Strömungen, Wasserläufe und -pegel, in den letzten Jahrzehnten verändert hatten, die Deiche dem aber nicht angepasst wurden, obwohl Fachleuten dies bewusst gewesen sei.42 Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass die Holland-Flut 1953 36 Wördehoff u. a., Verhängnisvolle Scheu vor Unbeliebtheit, Das Forum der Welt (Beilage). 37 O. V., Zufassen!, in: Hamburger Abendblatt, 20.2.1962, 2. 38 Ebd. 39 Wördehoff u. a., Krankenbetten standen schnell bereit, in: Die Welt, 3.3.1962, Das Forum der Welt (Beilage). 40 Egbert Hoffmann, Die Hamburger Deichpläne stammen aus dem Jahr 1825. Niemand hielt die Flutkatastrophe vom 17. Februar für möglich, in: Hamburger Abendblatt, 23.2.1962, 18. 41 Ebd. 42 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zwar nicht ignoriert wurde, die beschlossenen Pläne und Verbesserungen aber kaum umgesetzt wurden.43 Schon drei Tage zuvor hatte das Hamburger Abend­ blatt dies bemängelt.44 Die meisten Zeitungen wiederholten diesen Kritikpunkt, wobei einige auch entschuldigend argumentierten, dass die Flut den Bemühungen des Deich- und Wasserbaus einfach zuvorgekommen sei.45 Den Vorwurf mangelnder Deichpflege, die keine Baumaßnahme im eigentlichen Sinne ist, wiesen viele Zeitungen hingegen mit dem Verweis auf die erst vor kurzem stattgefundene Deichschau zurück.46 Sie verteidigten damit offensichtlich die traditionelle Zuständigkeit der Deichpflege, die in den Händen der lokalen Deichvögte und -grafen lag. Eine Maßnahme nach der Hamburger Sturmflut war allerdings die Zentralisierung der Zuständigkeit für den Deichschutz bei der Stadt Hamburg. Hötte beurteilte dies in einem kurzen Beitrag zum Deichbau in Hamburg als »Entmachtung« der Deichvögte.47 Auch die Welt betonte, der Deichverlauf und die Konstruktion der Deiche seien an den Plänen aus dem Jahr 1825 ausgerichtet gewesen. Interessanter Weise wurde zudem konstatiert, dieser habe sich so lange bewährt, bis der Mensch Einfluss auf die maritime Landschaft um Hamburg, insbesondere der Elbe, genommen hatte.48 Das heißt, die Folgen menschlicher Einflüsse auf Katastrophen werden auch hier bereits angedeutet, ein Argument, das, wie Felix Mauch in diesem Band zeigt, erst in den 1980er Jahre den Diskurs dominieren wird. Außerdem wird darauf verwiesen, dass in den Jahren vor der Flut Baumaßnahmen, beispielsweise die Erhöhung der Kaimauern im Hafenbereich, den Wasserstau begünstigten.49 Das mangelnde Risikobewusstsein der Stadt Hamburg zeige sich im Umgang mit den Deichen: »Da Hamburg in den letzten Jahrzehnten vergessen hat, daß es in ­Wahrheit an der Küste und nicht im Binnenland liegt, ist auch sonst noch mancherlei gesündigt worden: Deiche wurden mit Bäumen bepflanzt, Wasserleitungen wurden unter die Deiche verlegt, Straßenbauarbeiten direkt neben den Deichen beeinträchtigten deren Stabilität.«50

In der Zeit unmittelbar nach der Sturmflut vom Februar 1962 wurden, neben der »Natur«, mithin gleichermaßen die Bevölkerung mit ihrer naturvergessenen Le 43 Ebd. Vgl. auch den Beitrag von Sonja Kummetat in diesem Band. 44 Hoffmann, Warum wurde nicht gewarnt, 1. 45 Engels, Vom Subjekt zum Objekt, 127. 46 Z. B. Hoffmann, Warum wurde nicht gewarnt, 1. 47 Herbert Hötte, Reaktionen. Der Hochwasserschutz in den Debatten der Hamburger Bürgerschaft, in: ders. (Hrsg.), Die große Flut. Katastrophe, Herausforderung, Perspektiven. Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, Hamburg 2012, 110–117, hier 113. 48 Wördehoff u. a., Was man beim Deichbau nicht bedachte, in: Die Welt, 3.3.1962, Das Forum der Welt (Beilage). 49 Ebd. 50 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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bensweise sowie der mangelnde Katastrophenschutz, also eine »Katastrophenvergessenheit«, für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Der mangelnde Katastrophenschutz wiederum wurde an die Bevölkerung zurückgespielt. Denn aufgrund der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, an die Schrecken dieser Katastrophe, habe sich in der Bevölkerung ein Widerwille gegenüber Katastrophenprävention breit gemacht. Zweifellos wurde dieses Argument, wie eingangs bereits angedeutet, gerade im Kalten Krieg auch politisch genutzt.51 Weiter kritisierte man in den Zeitungen die Vernachlässigung des Deichbaus, der wiederum auf das fehlende Risiko- und Katastrophenbewusstsein, verweise.

2. Zwischen den Fluten Die Sturmflut 1962 hatte der Stadt Hamburg Handlungsbedarf hinsichtlich der Prävention verdeutlicht. Die nächste »Jahrhundertflut« kam vierzehn Jahre später, 1976. Inwieweit und wie hatte sich die Presse in den Jahren zwischen beiden Ereignissen mit der Hochwasser- und Katastrophengefahr beschäftigt? Hatte 1962 die Kritik an den Hamburger Bürgern im Wesentlichen darin bestanden, dass sie vergessen hätten, dass sie in einem Gefahrengebiet lebten, so verfiel die Presse in den Jahren nach der Sturmflut wiederum selbst zunehmend in eine Katastrophenvergessenheit, die nur durch Jahrestage unterbrochen wurde. Dies ist nicht überraschend, da es der Medienlogik entspricht. Zeitungen berichten über Neues, Außergewöhnliches, über aktuelle Ereignisse. Die Normalität findet allenfalls in Reportagen ihren Platz. Im Zeitungsdiskurs »zwischen den Fluten« verloren damit auch die Themen Deichbau, Wasserbau, Katastrophenabwehr an Bedeutung. Selten wurde nun die Haltung der Bevölkerung thematisiert; wenn sie allerdings thematisiert wurde, so wurde eine erneute Katastrophenvergessenheit konstatiert. Dies geschah vor allem zu den Jahrestagen der Sturmflutkatastrophe, an denen das mangelnde Risikobewusstsein der Großstädter angesprochen wurde. Vor allem aber betonten die Berichte zu den Jahrestagen der Sturmflut bis 1976 »das große Leid« und den heldenhaften Einsatz der Helfer. Die Zeit der Schuldzuweisungen war abgeschlossen, nun dominierten positive Geschichten, die Helden wurden geehrt.

Die erneute Katastrophenvergessenheit der Bevölkerung Im Sommer 1962, also etwas mehr als ein Vierteljahr nach der Flut, rückten im Zeitungsdiskurs die getroffenen Maßnahmen hinsichtlich des Katastrophenschutzes und des Deichbaus in den Vordergrund. Anders als unmittelbar 51 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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nach der Flut berichtete die lokale Presse Hamburgs, vornehmlich das Ham­ burger Abendblatt, von den Maßnahmen im Deichbau, während die Rolle der Bevölkerung und ihr Umgang mit dem Wasser und mit Gefahren allenfalls am Rande erwähnt wurde. Die Welt ist, neben der ZEIT, das einzige Blatt, welches hart­näckig an den Forderungen bezüglich der Sensibilisierung der Hamburger Bevölkerung festhielt. Ein Jahr nach der Flut resümierte die Welt die getroffenen und geplanten Maßnahmen und betonte den im Hinblick auf ein Risikobewusstsein notwendigen Handlungsbedarf. Letzteres sei besonders bei den Einwohnern der Hansestadt notwendig, die, im Gegensatz zu ihren Mitbürgern aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen, sich der Natur nicht bewusst seien, vielmehr sämtliche Verantwortung an die Obrigkeit ausgelagert hätten: »In diesen Ländern hatten die Bürger noch nicht alle Sorgen an den Staat delegiert. Das System der Deichverantwortlichkeit hielt ständig dazu an, die Bedeutung der eigenen Bereitschaft nicht zu vergessen.«52 Ähnlich warnte die ZEIT die Bürger davor, alle Verantwortlichkeiten der Hansestadt und ihren Behörden zu überlassen. Stattdessen sollte jeder für sich seine Lehren aus der Katastrophe ziehen.53 Der Autor des Artikels führte anhand des Beispiels Bremen vor, dass auch dort eine Vielzahl von Bürgern trotz Alarmierung nicht bereit war, ihr Heim zu räumen – was gleichermaßen in Hamburg geschehen war – und außerdem bis heute Unkenntnis herrsche, ob und welchen Anweisungen der Bürger bedingungslos Folge leisten müsse. Deshalb lohne es auch, an dem Ziel der Schulung der Bevölkerung festzuhalten, nicht nur wenn es um Evakuierungen gehe. Auch solle eine Vielzahl von Helfern ausgebildet werden, damit diese mehr leisten könnten. Der Artikel schließt mit einem weiteren Appell beziehungsweise eher einem Vorwurf: »Die Mehrzahl […] richtete es sich wieder ein, und wo die Flut nicht hinkam, da hatte man schon kurz nach den Totenfeiern wieder vergessen, daß dieses Zeichen alle anging.«54 Auffällig ist, dass die lokalen Zeitungen dem Wissen der Bevölkerung über die Gefahren des Wassers, deren Verhältnis zur Natur, das unmittelbar nach dem Ereignis eine so große Rolle gespielt hatte, bereits nach kurzer Zeit, anders als die überregionalen Blätter, kaum mehr Aufmerksamkeit schenkten. Letztere jedoch thematisierten das Problem des mangelnden Risikobewusstseins und des Nichtwissens über die Gefahren des Wassers. Erst als sich die Flutkatastrophe zum zehnten Mal jährte, riefen die Zeitungen ihren Lesern die Ereignisse wieder mit einem Appell an ihr Risikobewusstsein ins Gedächtnis. »Ist uns die Gefahr heute noch bewusst?«55 fragt eine 52 Gerhard Mauz, Der Mensch und die Katastrophe. Ein Jahr nach der großen Flut, in: Die Welt, 16.2.1963, 3. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 O. V., Ist uns die Gefahr heute noch bewusst?, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.02.1972, 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Schlagzeile im Harburger Anzeiger und Nachrichten. Kritisiert wurde, dass die Hamburger längst wieder ihre alte Haltung der Katastrophenvergessenheit angenommen und die Flut von 1962 aus dem Gedächtnis verdrängt hätten: »Als Schmidt diese Worte sprach, hatten sich die Bewohner der überfluteten Gebiete längst wieder in ihr eigenes Dasein zurückgezogen. Ausnahmeerscheinungen, wie das Wachsen eines plötzlichen Gemeinschaftsbewusstseins, werden nicht zu einem Dauerzustand.«56

An späterer Stelle wird nochmals darauf verwiesen, dass »das Bewußtsein für Sturmflutgefahren im Menschen«57 unbedingt wachgehalten werden müsse. Auch die Zeitung Süderelbe betonte, hier insbesondere mit Blick auf den Schein eines trügerischen technischen Sicherheitsgefühls: »Wir wollen vor allem in der Generation, der das unmittelbare Erleben fehlt, das Bewußtsein wachhalten, daß wir trotz aller technischen Errungenschaften wachsam bleiben müssen und daß es eine garantierte Sicherheit nicht geben kann.«58

Katastrophenschutz Zum einjährigen Gedenken wurde in vielen Zeitungsartikeln vor allem gefragt, wie es nun, ein Jahr nach der Flutkatastrophe, um den Katastrophenschutz stünde, der unmittelbar nach dem Ereignis so scharf kritisiert worden war. So stellte die Zeitung Harburger Anzeiger und Nachrichten auf mehreren Seiten vor, was sich innerhalb eines Jahres getan hatte. Dabei wurden Verbesserungen auf nahezu allen Gebieten gelobt. Die medizinische Hilfe im Notfall sei gegeben, die Anzahl der Sirenen habe sich nahezu verdoppelt, alternative Fernmeldemöglichkeiten seien bei den Dienststellen für Katastrophenabwehr geschaffen und außerdem neue Deichgruppen zur Verteidigung der Wehrdeiche aufgestellt worden.59 Die Artikel beinhalten gleichzeitig wichtige Informationen für die Bevölkerung. So wurden beispielsweise die Alarmpläne transparent dargestellt sowie die Sammelstellen im Bezirk samt Adresse genannt und auch erklärt, was welche Warnsignale zu bedeuten haben.60 Gerade die Unkenntnis der Warnsignale in der Bevölkerung war ja unmittelbar nach der Flut kritisiert worden. Insgesamt findet sich kaum noch Kritik, ganz im Gegenteil wurde die neue Sicherheit betont. Die Harburger Anzeigen und Nachrichten äußerten sich 56 Ebd. 57 Ebd. 58 O. V., »Wer nicht will dieken, de mut wieken!«, in: Zeitung Süderelbe, 24.2.1972, 1. 59 O. V., Weitere Flutmauern sollen Innenstadt schützen, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 21. 60 O. V. Die Behörden sind besser vorbereitet. »Alarm-Kalender« für den Bezirk, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zufrieden mit den getroffenen Maßnahmen, insbesondere mit den Alarmierungswegen: »Man sieht also, daß auch im Elbegebiet des Kreises Harburg die erforderlichen Maßnahmen getroffen sind, um schnell warnen und helfen zu können […].«61 Weiter hieß es resümierend im abschließenden Artikel: »Deichsicherheit ist gewährleistet«.62 Zu Beginn der siebziger Jahre rückte, bedingt durch das zehnjährige Jubiläum der Sturmflut, die Frage nach den ergriffenen Maßnahmen abermals in den Fokus. Es wurde von neuen Fluchtburgen, der verbesserten Ausstattung der Behörden und neuen Alarmverordnungen für Vereine, Behörden und anderen berichtet.63 Kritisiert wurde vereinzelt die Politik bzw. die Zusammenarbeit zwischen Politik und Behörden. Die Politik wiege, so der Vorwurf, die Bürger in wohlige Sicherheit, wohingegen die Behörden um Mittel zur Herstellung dieser Sicherheit kämpfen mussten.64 Noch vor der Sturmflut von 1976 musste sich die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen bewähren. Denn im Jahr 1974 klopfte die Flut erneut an Hamburgs Pforten. Dieses Mal aber hatte man rechtzeitig gewarnt, allerdings mit völlig falschen Pegelhöhen.65 In Niedersachsen, das auch von der Sturmflut 1962 betroffen war, kam es ein Jahr später außerdem zu einer Katastrophe anderer Art, nämlich einem Flächenbrand. Das Fazit daraus hätte die Hamburger an die Situation 1962 erinnern können: Zivil- und Katastrophenschutz hatten bei diesem Brand kläglich versagt.66

Wasserbau Hinsichtlich der Thematik der Deiche und der Sicherheit durch Deiche fällt auf, dass die Berichterstattung und Kommentierung der Deichbaumaßnahmen in Hamburg in den Folgejahren nach der Flut immens nachließen. Sie beschränkte sich zumeist auf diesen oder jenen Deich, der gerade vollendet wurde, oder auf die immensen Kosten, die der Deichbau verursachte. Dennoch gibt es auch einige wenige, detaillierte und kritische Berichte aus den Jahren 1962 bis 1975.

61 Hans Eck, Hochwasser und Oberwasser. Zwei Warnsysteme an der Elbe, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 24. 62 Ders., Deichsicherheit ist gewährleistet, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 24. 63 O. V., Ist uns die Gefahr heute noch bewusst?, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1972, 1. 64 Ebd. 65 Alfred Hoffmann, Hinter den Deichen wächst die Angst, in: Die Zeit, 3.5.1974, 61. 66 Kai Krüger, Eine einzige Katastrophe, in: Die Zeit, 22.8.1975, S. 42. Außerdem: Vgl. Carl-Christian Kaiser, Katastrophenschutz – auf dem Papier, in: Die Zeit, 19.9.1975, 16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Bereits im Sommer 1962 kehrte der Optimismus nach Hamburg zurück. Eupho­risch berichtete das Hamburger Abendblatt: »Mächtige Dämme, gewaltige Sperrwerke, völlig neue Deiche, breite Schleusen, Siele und Schöpfwerke – ein Riesenprogramm!«67 Vorbild dafür war der holländische Deltaplan. Die Hamburger Zeitung äußerte sich damit euphorisch über technokratische Lösungen des Katastrophenschutzes, wie es in den Niederlanden der Fall war.68 Kaum ein halbes Jahr später meldete allerdings eine andere lokale Zeitung bereits ernsthafte Bedenken. Mit Beginn neuer Wasserschutzmaßnahmen stelle sich die Frage, wohin das Wasser abfließen könne.69 Immerhin waren sich beide Zeitungen darin einig, dass das niederländische Modell ein wichtiges Vorbild sei.70 Auch die ZEIT reflektierte die Wirkungen der Baumaßnahmen nach der Hamburger Sturmflut 1962 kritisch. Zwar seien diese Baumaßnahmen aus damaliger Sicht die richtige Schlussfolgerung gewesen, jedoch ließen sich nun unbeabsichtigte Nebenwirkungen erkennen, die zu erhöhten Wasserständen führten.71 Laut ZEIT vermuteten zwar viele Bürger dies seit längerem, jedoch reagierten die Hamburger Behörden nur widerwillig und zögerlich darauf.72 Interessant ist, dass genau die Frage, wie das Wasser abfließen soll, in Holland 1995 zur »Flut von hinten« geführt hatte – und die Niederländer erneut überrascht hatte, wie Sonja Kummetat in ihrem Beitrag ausführt.73 Diese Feststellungen der ZEIT stellen jedoch eine seltene Form der kritischen Intervention dar. Stattdessen zeigt sich, dass die noch 1962 zivilisationskritischen Kommentare sowie die Forderungen nach einer Rückbesinnung auf die Gefahren der Natur und das Verhältnis der Menschen zur Natur verstummt waren.74 Vielmehr wird deutlich, dass technokratische Lösungen an Dominanz gewannen und dabei zumeist wohlwollend von der Presse kommentiert wurden, wenngleich es immer auch technikkritische Kommentierungen gab.75

67 O. V., Wehrdeiche werden auf 70 km verkürzt, in: Hamburger Abendblatt, 25.9.1962, 1. 68 Vgl. den Beitrag von Sonja Kummetat in diesem Band. 69 O. V., Flutmauern sollen Innenstadt schützen, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 21. 70 Walter Krause, Ringdeich soll ab 1965 ganz Wilhelmsburg schützen, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1963, 22. 71 Hoffmann, Hinter den Deichen wächst die Angst, 61. 72 Ebd. 73 Vgl. den Beitrag von Sonja Kummetat in diesem Band. 74 Engels, Vom Subjekt, 131. 75 Vgl. zu dieser Vielschichtigkeit des Diskurses im Mensch-Technik-Natur-Verhältnis die Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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3. Die Flut von 1976 – die Bewährungsprobe 1976 erlebte Hamburg im Abstand von drei Wochen gleich zwei schwere Sturmfluten, einmal am 3. Januar und ein weiteres Mal knapp drei Wochen später.76 Die Flut traf erneut den Stadtteil Wilhelmsburg sowie das Hafengebiet. Doch dieses Mal sollten sich die getroffenen Maßnahmen bewähren. Obgleich die Pegel­stände höher waren, kam es nicht zu einer Katastrophe. Wie wurde dies nun in der Presse kommentiert?

Bevölkerung: Natur, Katastrophenvergessenheit und neue Schaulust Die wichtige Rolle der Bevölkerung im Katastrophenschutz wurde wiederum betont und teils sehr kritisch kommentiert. Allerdings war der Tenor der Zeitungen 1976 vielfältiger als nach der Sturmflut 1962. So wurde zum einen, wie 1962, die Natur- und Katastrophenvergessenheit der Bevölkerung, ihre überzivilisierte, der Natur entfremdete Lebensweise kritisiert, die nun, nur 14 Jahre nach der verheerenden Flut, zudem von einem ausgesprochen schlechten Katastrophengedächtnis zeuge. Ein Feuerwehrmann berichtet von seinen Erfahrungen aus dem Hamburger Hafengelände: »Viele Leute wollten einfach nicht glauben, daß es um Minuten ging, als wir sie herausholten.«77 Zum anderen aber war 1976 der Voyeurismus der Bevölkerung ein Thema in der Presse: Schau­lustige und von Anwohnern geparkte Kraftfahrzeuge stellten demnach das Hauptproblem dar.78 Die ZEIT schreibt sogar, dass die bitterste Lehre aus der Flut das Verhalten der Bevölkerung sei: »Wie nie zuvor wurde die Abwehr der Sturmflut von Schaulustigen behindert, die mit ihren Privatwagen Straßen und Zufahrtswege blockierten.«79 Allerdings verhielten sich andere, so andere Artikel, vorbildlich und »verließen rechtzeitig ihre Wohnungen und hielten sich bei Verwandten am sicheren Ort auf«80. Dieses vorbildliche Verhalten wird in einem späteren Artikel im Prinzip auch als der beste Schutz gegen Katastrophen bewertet. So sei eine »rechtzeitige Warnung, gepaart mit der Aufmerksamkeit der Bevölkerung, noch immer der beste Schutz.«81. Diese Klagen über den Voyeurismus stehen in deutlichem Kontrast zur Betonung der Hilfsbereitschaft, Tatkräftigkeit und So 76 Rieken, Nordsee ist Mordsee, 307 f. 77 Arndt, Der Alarm kam zu spät, 9. 78 O. V., Die schwerste Sturmflut seit Menschengedenken, in: Wilhelmsburger Zeitung, 6.1.1976. Die Artikel der Wilhelmsburger Zeitung sind der Zeitungsausschnittsammlung des Hamburger Staatsarchivs entnommen. Leider fehlen die Seitenangaben. 79 Arndt, Der Alarm kam zu spät, 9. 80 O. V., Die schwerste Sturmflut seit Menschengedenken. 81 O. V., »Kein absoluter Schutz« gegen Hochwasser, in: Wilhelmsburger Zeitung, 23.1.1976. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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lidarität, wie sie für die Zeit nach der Sturmflut 1962 beobachtet worden waren und im übrigen im Kontext der Hochwasser in Bayern und Ostdeutschland im Jahr 2013 konstatiert wurden. Weitere Forschung hätte die Aufgabe, diese Unterschiede zu untersuchen und zu interpretieren. Interessanter Weise kam David Nye in seiner Geschichte über blackouts in den USA zu einem ähnlichen Ergebnis.82 Vergleicht man beispielsweise die blackouts von 1965 und 1977 in New York im Hinblick auf die Reaktionen der Bewohner der Stadt, so zeigen sich frappante Unterschiede. Während die Menschen 1965 geradezu fröhlich und gelassen reagierten, den Stromausfall zu einem friedlichen sozialen Event machten, kam es 1977 zu Plünderungen und sozialen Unruhen. Die unterschiedliche wirtschaftliche Situation, Wohlstand 1965 und Krise 1977, beeinflusste den Umgang mit Stromausfällen erheblich. Eine solche Perspektive wäre auch für die Geschichtsschreibung von Naturkatastrophen erhellend, zumal wenn Fluten in kurzen Abständen stattfinden, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik der Fall war.

Katastrophenschutz: Erfolgsmeldungen »Man hat mittlerweile Sturmfluterfahrung genug«83, resümierte die ZEIT nach der Sturmflut 1976. Zwar kam der Alarm bei der ersten Flut deutlich zu spät,84 doch wurde beim zweiten Mal rechtzeitig gewarnt, was sich merklich auf das Ausmaß der Schäden auswirkte.85 Im Allgemeinen aber funktionierte nach Meinung der Presse der Katastrophenschutz, die ZEIT spricht sogar von routinierten Abläufen beim Zusammenarbeiten der Helfer.86 Der Katastrophenschutz wurde als funktionsfähiger Apparat dargestellt und auftretende Probleme als selbst verschuldete Einzelschicksale interpretiert. Interessanterweise setzt sich auch nach der Sturmflut 1976 die Entmachtung der Deichverbände fort. Das alte System soll durch eine neu aufgestellte und professionalisierte Deichwehr ersetzt werden.87 Dies verweist darauf, dass der funktionierende Katastrophenschutz sowie das Standhalten der Deiche der Zentralisierung und Verwissenschaftlichung der Deichpflege zugeschrieben wurde.88

82 David Nye, When the Lights Went Out. A History of Blackouts in America. Cambridge, Mass./London 2010. 83 Arndt, Der Alarm kam zu spät, 9. 84 Ebd. 85 O. V., »Kein absoluter Schutz« gegen Hochwasser. 86 Arndt, Der Alarm kam zu spät, 9. 87 O. V., »Deichverteidigung ohne Deichverbände«, in: Wilhelmsburger Zeitung, 13.1.1976. 88 Vgl. dazu die Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Wasserbau: Warnung vor technokratischer Zufriedenheit Auch die Deichbaumaßnahmen der letzten Jahre hätten sich ausgezahlt, so der Tenor nach 1976. Die Deiche hielten dieses Mal zum Großteil stand, lediglich das Deichvorland wurde stark verwüstet.89 Gleichwohl mahnte die Wilhelms­ burger Zeitung, nicht eine technokratische Haltung anzunehmen und nun zu glauben, dass die Deiche alle Fluten aufhalten würden.90 Auch die offiziellen Stellen argumentierten ähnlich. Der Hamburger Senator Bialas warnte: »Wir müssen unsere Mitbürger – auch hinter den Deichen – immer wieder dazu anhalten, wachsam zu bleiben.«91 Die ZEIT nutzte die Sturmflut von 1976, um Warnungen zu formulieren, die die Zufriedenheit mit den als erfolgreich gewerteten Deichbaumaßnahmen zu relativieren versuchte. Erstens seien durch die drastischen Deichverkürzungen nach niederländischem Vorbild erhebliche Veränderungen in der maritimen Landschaft vorgenommen wurden, welche zu Wasserstauungen und erhöhten Pegelständen führen.92 Zweitens sei der Hamburger Hafen, bedingt durch gerade eben beschriebene Folgen, längst nicht mehr sicher und würde immer wieder, vermutlich sogar heftiger, überflutet werden, so die Prognose. Hier deutet sich die Wahrnehmung der Ambivalenz technokratischer Maßnahmen an, die schließlich die Auswirkungen von Katastrophen gar erhöhen können und ihre Schutzfunktion damit in ein Gefahrenpotential verkehren. Der Mensch als Mitverursacher von Naturkatastrophen, dieser Topos deutet sich im Diskurs unmittelbar nach der Sturmflut 1976 an.93

4. Fazit Die bisherige Forschung zur Hamburger Sturmflut hat insbesondere den Wandel des Naturkonzepts im Kontext der Katastrophenwahrnehmung betont. Felix Mauch zeigt in diesem Band auf, wie ein bestimmtes Bild von Natur auch die Vorstellung von einer »Naturkatastrophe« als von außen kommendes Ereignis bestimmte, das die Menschen unvorbereitet trifft und die Natur damit als Subjekt konzipiert. Für die Zeit unmittelbar nach der Sturmflutkatastrophe 1962 zeigten Jens Ivo Engels und Felix Mauch, wie die Natur als das Fremde, Andere, dem Menschen Gegenübergestellte, Wilde und Unbeherrschbare gewissermaßen unerwartet über die Menschen hereinbrach, die ihr schutzlos ausgesetzt 89 O. V., Die schwerste Sturmflut seit Menschengedenken. 90 O. V., »Kein absoluter Schutz« gegen Hochwasser. 91 Ebd. 92 Alfred Hoffmann, Hamburgs Hafen ist nicht mehr sicher, in: Die Zeit, 6.2.1976, 51. 93 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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waren. In den 1970er und 1980er Jahren habe sich diese Interpretation von Naturkatastrophen verändert, indem die Rolle des Menschen, seine Eingriffe in die Natur als Mitverursacher von Katastrophen betont wurden. Im Vorhergehenden wurde gezeigt, dass im Diskurs unmittelbar nach der Sturmflut 1962 neben der »schuldigen« Natur auch der Bevölkerung eine erhebliche Verantwortung zugeschrieben wurde, allerdings nicht, wie in den 1980er Jahren im Sinne der Menschen gemachten Katastrophe, sondern vielmehr im Sinne einer Natur- und Katastrophenvergessenheit des Menschen. Insbesondere 1962 zeigte sich eine moralische Debatte, worauf auch Engels bereits hingewiesen hatte.94 Alle hier betrachteten Printmedien appellierten vorwurfsvoll an die Menschen, die Augen vor der Gefahr verschlossen zu haben, kritisierten deren wohliges Sicherheitsgefühl der vergangenen Jahrzehnte und prangerten ihre Katastrophenwie auch ihre Naturvergessenheit an. Dies korrespondiert den Beobachtungen von Engels und Mauch, insofern die Bevölkerung dafür Kritik erfährt, dass sie die Natur nicht mehr als Bedrohung wahrnahm. Die Menschen wurden in den hier untersuchten Artikeln nicht als prinzipiell schutzlos dargestellt, sondern dass sie von der Natur überrascht wurden, das genau wurde ihnen vorgeworfen. Sie hätten es, so der Tenor, besser wissen können, wenn sie die Natur respektiert oder überhaupt nur wahrgenommen hätten. Vor allem Engels hat die Entscheidung für technokratische Lösungen nach der Sturmflutkatastrophe betont. Während sich auch in der hier vorgenommenen Analyse des Zeitungsdiskurses vielfach begeisterte Kommentare zu technokratischen Lösungen nach dem Vorbild der Niederlande fanden, erwies sich der Diskurs gleichwohl als differenzierter. Zum einen wurde bereits früh auf die Probleme und Nebenfolgen technokratische Lösungen hingewiesen, zum anderen auch immer wieder gemahnt, dass dies die Menschen nicht davon entheben würde, mit Gefahren zu rechnen, mit ihnen zu leben und ein angemessenes Verhältnis zum Wasser einzunehmen. Ein weiterer, ganz zentraler Aspekt, der in der bisherigen Forschung zu wenig beachtet wurde, war, wie eingangs bereits betont, ein zweiter Vorwurf an die Hamburger Bevölkerung. Ihr wurde neben der Naturvergessenheit auch eine Katastrophenvergessenheit vorgeworfen. Nicht wenige Stimmen prangerten das Desinteresse am Katastrophenschutz, das in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu dominieren schien, heftig an. Hier wird auch deutlich, wie stark die Naturkatastrophe für politische Belange genutzt wurde; sie ist Legitimierung für den Katastrophenschutz und dessen Förderung, sie schien dessen Notwendigkeit zu unterstreichen und den Gegnern eines Ausbaus von Katastrophenschutz oder gar Notstandsgesetzen die Argumentation schwieriger zu machen. Wenig überraschend ist, dass unmittelbar nach der Flut eine Phase intensiver Kommunikation und Berichterstattung folgte, die – nicht zuletzt im Sinne 94 Engels, Vom Subjekt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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der Medienlogik – bald wiederum anderen Themen wich. So wurde das Hamburger Katastrophengedächtnis von der Presse gewissermaßen nur zu den Jahrestagen gefüttert, wobei auffällig ist, dass die Mahnungen an die Bevölkerung und ihren Umgang mit dem Wasser, das Wachrufen ihres Risikobewusstseins, rasch nachließen. Zwischen 1962 und 1976 zeigte sich die Presse mit den getroffenen Schutzmaßnahmen zufrieden, gleichzeitig verschwanden die moralischen Einwände, die Zivilisationskritik, fast völlig.95 Nur zu Jubiläen wurden Fragen wie »Ist uns die Gefahr heute noch bewusst?«96 aufgeworfen. Zwar gab es immer wieder einzelne Autoren, die darauf verwiesen, dass die Hamburger Bürger ihre alte Haltung der Katastrophenvergessenheit wieder eingenommen hätten und in einen naturvergessenen Zustand zurückgefallen seien, doch ist diese Schärfe eher die Ausnahme. In der Regel wird gelobt, was in den letzten Jahren und mit hohem finanziellen Aufwand an wasserbautechnischen Maßnahmen unternommen wurde und lediglich darauf verwiesen, dass es nie eine absolute Sicherheit gäbe. Auch mit der Sturmflut 1976 wird, vermutlich aufgrund ihres glimpflichen Ausgangs, der Diskurs um die Rolle der Bevölkerung kaum wieder aufgenommen. Die Deiche und der Katastrophenschutz hatten sich bewährt und leisteten einer Zufriedenheit mit dem Erreichten und damit einer neuen Katastrophenvergessenheit und mangelndem Risikobewusstsein Vorschub. Und nicht zuletzt war ein positives Narrativ über die Katastrophe entstanden.

95 Engels, Vom Subjekt, 131. 96 O. V., Ist uns die Gefahr heute noch bewusst?, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 16.2.1972, 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Am 16. Februar 1962 gegen Mittag frischte der Wind kräftig auf. Und er wurde im­ mer schlimmer, immer kräftiger. Und dann bin ich gegen 17.00 Uhr, ich hatte da schon in Heidenau bei meinem Standort eine Wohnung mit meiner Frau, nach Hause gefah­ ren. Es wurde dann dermaßen windig, dass die Äste schon immer in die Stromleitungen reinhauten und dadurch die Funken wie verrückt spritzten. Der Sturm hielt die ganze Nacht an. Ich habe gedacht, dass wenn jemand was von mir will, dann meldet er sich. Ich war alleine, meine Frau war in Goslar bei ihren Eltern. Ich habe mich dann abends ins Bett gelegt und bin am nächsten Tag in aller Frühe in die Kaserne gefahren, um mich zu erkundigen, weil ich wegen des Sturms keine Ruhe mehr hatte. Dort sagten sie: ›Gut, dass du kommst. Du kannst gleich das Frühstück nach Laß­ rönne [Ortsteil von Winsen/Luhe] bringen. Da sind alle unsere Leute.‹ Dann habe ich das vorbereitete Frühstück nach Laßrönne gefahren. Dort kam mir mein Chef mit einer Kuh entgegen, die er vom Bauern Schröder hatte. Die ganzen Kühe mussten rausge­ holt werden, weil man befürchtete, dass der Deich da durchgeht. Nun muss ich dazu sagen, dass die Deiche ja alle doch sehr lädiert waren. Schon auf die Sturmflut 1953 hin, die hat ja auch schon einiges gebracht. Und es wurde damals nichts Richtiges ge­ macht, weil geplant war, die Deiche zu erneuern. Sie waren also doch schon sehr an­ gekratzt. Da musste dann nun jeder aufpassen und unsere Leute waren draußen und haben noch Sandsäcke an einer Stelle hin gepackt, die sehr beschädigt war. Als ich dann ankam, wurde gefrühstückt, um anschließend mit allen Mann nach Wilhelmsburg zu verlegen. Ich fuhr dann den Chef. Als wir dann in Wilhelmsburg einfuhren, sahen wir schon, dass sich das Wasser an den ganzen Unterführungen angestaut hatte. Der Wagen vor mir fuhr in eine solche Unterführung hinein, woraufhin er gleich unter Wasser ging und die ganze Besatzung auf das Fahrzeugdach flüchtete. Ich hatte ja einen Jeep, der war ein bisschen höher. Aber wir haben erst mal Pause machen müssen, weil es nicht mehr weiter ging bis sie den da rausgeholt hatten. Und dann konnten wir raus nach Wil­ helmsburg. Zunächst habe ich erst noch den Chef weiterhin gefahren, aber dann wurde ich eingesetzt, um die Leute in den Schrebergärten zu retten. Da haben wir auch dann eine tote Frau geborgen. Da habe ich mich fürchterlich geärgert über einen Kameraden. […] Der hatte Bestatter gelernt und die sind ja irgendwie abgebrüht. Der hob dann die Klamotten [der Frau] hoch und sagte: ›Wollen wir mal gucken, ob die auch ordentlich Busch vor der Tür hat.‹ Daraufhin war ich so ärgerlich, dass ich ihm antwortete: ›Bei dieser Situation, da machst du noch solche Scherze hier! Danach ist mir wirklich nicht zumute.‹ Nachdem dann die Leute in Sicherheit waren, ging es daran die Tiere zu ret­ ten. Vor allen Dingen waren es Hühner. Da hatte ja jeder bald Hühner! Da haben wir zunächst erst mal die gesunden Tiere rausgeholt, um anschließend das tote Vieh zu ber­ gen. Da war auch anderes Vieh, zum Teil Schweine, Katzen und auch Hunde. Das mus­ sten wir alles da rausholen. Nun waren ja auch Menschen da drin, die sie auch schon © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

rausgeholt hatten. Ab und zu rutschte man dabei in so ein Loch rein und da hat man das ganze Zeug getrunken. In den Mund rein und weg. Das sind so Erinnerungen an den Einsatz.« Videointerview: Marco Kreutzer mit Hubertus Nagel, Hohnstorf an der Elbe, 17. November 2011. Nagel wurde am 20. Februar 1936 in Ostpreußen geboren und ist dort aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zum Landwirt trat er seinen Dienst beim Bundesgrenzschutz an. Er zog 1962 nach Niedersachsen und wurde dort drei Jahre später, ab April 1965, Deichvogt des Landes Niedersachsen, zuständig für den Artlenburger Deichverbandes. Das Amt behielt er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2001. Als Deichvogt des Artlenburger Deichverbands hat er die Sturmflut von 1976 in leitender Funktion miterlebt. Während der Sturmflut 1962 war er als Bundesgrenzschützer an den Rettungs- und Bergungsmaßnahmen in Wilhelmsburg beteiligt.

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Christian Kehrt und Daniel Uhrig

Helfer in Uniform? Die Wahrnehmung der Bundeswehr während der Sturmflut 1962

»Die Oma im Hubschrauber […]. Große Augen machte eine 84-jährige Frau aus Neuenfelde, als sie sich innerhalb weniger Minuten in Buxtehude wiederfand und gar nicht wußte, wie sie dort hinkam. Der Pilot eines Hubschraubers, der die Aufgabe hatte, die Bevölkerung aus dem überschwemmten Neuenfelde in sicheres Gebiet zu bringen, hatte nicht gewagt, dem alten Mütterchen zu sagen, daß sie wegen des Hochwassers den ersten Flug ihres Lebens antreten müßte. Unter phantasievollen Ausreden und Vorwänden legte man ihr eine Binde um die Augen und schob sie in den Hubschrauber. Oma merkte für ein paar Minuten ein leichtes Schütteln und beruhigendes Brummen und um sich freundliche Stimmen. Es gab einen Ruck. Der Hubschrauber landete in Buxtehude, wo man ihr das gerade überstandene Erlebnis nun zu erzählen wagte.«1

Der Pilot des Hubschraubers war ein Soldat der Bundeswehr. Schon der Tonfall, in dem die Geschichte der Rettung eines »alten Mütterchen« während der Hamburger Sturmflut erzählt wird und der die ernste und lebensbedrohliche Situation in eine heitere Geschichte verwandelt, verweist auf das Thema dieses Aufsatzes: die Wahrnehmung der Bundeswehr während der Sturmflut. Aufgrund ihrer logistischen Möglichkeiten sowie der katastrophalen Notlage, die in der Stadt entstanden war, spielte die Bundeswehr eine wichtige Rolle als Helfer. Der Einsatz der Soldaten, insbesondere das einprägsame Bild der »fliegenden und rettenden Engel«, war in den lokalen und überregionalen Medien präsent und prägte nachhaltig die öffentliche Wahrnehmung der noch jungen, im Aufbau befindlichen Armee.2 1 Buxtehuder Tageblatt, 20.2.1962. 2 Vgl. zur Geschichte der Bundeswehr: Frank Nägler, Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65. München u. a. 2010; ders. (Hrsg.), Die Bundeswehr. 1955 bis 2000. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven. München 2007; Helmut R. Hammerich, Rudolf J. Schlaffer (Hrsg.), Militärische Aufbaugeneration der Bundeswehr 1955 bis 1970. Ausgewählte Biografien. München 2011; Helmut R. Hammerich, Dieter H. Kollmer, Martin Rink u. a., Das Heer 1950 bis 1970. Konzept, Organisation, Aufstellung. München u. a. 2006; Rolf Clement, Paul Elmar © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Christian Kehrt und Daniel Uhrig

Die bislang nicht behandelten Erfahrungen und Wahrnehmung der Bundeswehr während der Sturmflut im Februar 1962 sind sowohl für die Geschichte der Bundeswehr als auch der Katastrophenhilfe und des Katastrophenschutzes relevant. Im Folgenden wird danach gefragt, wie die Soldaten als Helfer öffentlich wahrgenommen wurden und wie die Bundeswehr selbst den Einsatz bewertete. Hat die Sturmflut von 1962 zu einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Bundeswehr geführt? Die Ereignisse der Hamburger Sturmflut, so unsere Annahme, haben ein neues Bild der Bundeswehr als Helfer geprägt, das eine gesellschaftliche Identifikation mit der 1956 gegründeten Armee ermöglichte. Anzeichen einer starken nationalen Aufladung der Naturkatastrophe, wie dies seit der Wiedervereinigung feststellbar ist, finden sich für die frühen 1960er allerdings nicht.3 In jüngerer Zeit haben vermehrt umweltgeschichtliche Fragestellungen Eingang in die historische Katastrophenforschung gefunden. Die Frage nach der Rolle von Polizei, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Bundeswehr und Rotem Kreuz wurden jedoch selten behandelt. Die historische Betrachtung des Katastrophenschutzes befasst sich mit dem unmittelbaren Erfahrungsraum der Katastrophe. Ferner gibt sie Auskunft über die Verletzbarkeit einer Gesellschaft sowie die organisatorischen, politischen und technischen Lernprozesse und Strategien, die aus den jeweiligen Katastrophen resultieren.4 Der Katastrophenschutz eröffnet damit Zugang zu historischen Kontexten und politischen Prozessen, die sowohl für zeitgeschichtliche Fragestellungen als auch die historische Katastrophenforschung von Interesse sind. Die Bundeswehr steht im kollektiven Gedächtnis meist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem damaligen Innensenator Helmut Schmidt und dessen Entschluss, Soldaten ohne verfassungsrechtliche Grundlage im Innern einzusetzen, was sein Bild als »Mann der Tat« nachhaltig prägte.5 Der Einsatz der Soldaten wird vorwiegend auf der Ebene von Chroniken und Bildbänden dargestellt, die unmittelbar im Anschluss an die Sturmflut meist durch Behörden Jöris, 50 Jahre Bundeswehr. 1955–2005. Hamburg u. a. 2005; Rüdiger Hulin (Hrsg.), 50 Jahre Bundeswehr. Bonn 2005; Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.), Die Zeit nach 1945. Armeen im Wandel. München 2008; Clemens Range, Die geduldete Armee. 50 Jahre Bundeswehr. Berlin 2005; Detlev Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005. München 2005. 3 Vgl. Martin Döring, »Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel«. Die metaphorisch mediale Konstruktion eines wiedervereinigten Deutschlands in Zeiten der Oderflut 1997, in: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, 299–325. 4 Vgl. zum Schlüsselbegriff der »Vulnerability«: Greg Bankoff, Comparing Vulnerabili­ ties: Toward Charting an Historical Trajectory of Disasters, in: Historical Social Research 32, 2007, 103–104; Wiebe E. Bijker, The Vulnerability of Technological Culture, in: Helga Nowotny (Hrsg.), Cultures of Technology and the Quest for Innovation. New York 2006, 52–69. 5 Herr der Flut, in: Der Spiegel 7.3.1962/10, 26–30. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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der Stadt Hamburg oder in Erinnerung an dieses Ereignis publiziert wurden. Die militärhistorische Forschung hat dagegen die Sturmflut von 1962 ebenso wenig behandelt wie die Rolle der Bundeswehr als Katastrophenhelfer im Innern.6 Die Frage nach der medialen Wahrnehmung der Soldaten in Naturkatastrophen gibt zudem Auskunft über den »Standort der Armee in der demokratischen Gesellschaft«.7 So hat Martin Döring am Beispiel der Oderflut von 1997 gezeigt, wie die »Auseinandersetzung mit der Naturgewalt Wasser mit der unlösbaren Frage nach einer gesamtgesellschaftlichen Identität« verbunden wurde.8 Der Bezug der Bundeswehr zu den Medien stellt ein wichtiges und aktuelles Forschungsfeld dar.9 Bislang liegen aber kaum Studien zu den Medienstrategien der Bundeswehr vor, und auch die Rolle der Soldaten als Helfer, die wichtige Einblicke in die gesellschaftliche Wahrnehmung der Bundeswehr gibt, ist nicht hinreichend untersucht. Die folgenden Ausführungen basieren auf Zeitungsbeiträgen, Erfahrungsberichten der Bundeswehr sowie einem Oral History Interview mit Wolfgang Altenburg. Der spätere Inspekteur der Bundeswehr (1983–1986) und Vorsitzende des Militärausschusses der NATO (1986–1989) war 1962 als Hauptmann für die Wiederherstellung des gebrochenen Schwingedeichs bei Stade verantwortlich.10 Das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg verfügt über Bestände zur Sturmflut, insbesondere interne Erfahrungsberichte und eine Presseausschnittssammlung.11 Des Weiteren geben unmittelbar im Anschluss an die 6 Vgl. Anm. 2. 7 Dies haben Joan K. Bleicher und Knut Hickethier allgemein zur medialen Rolle der Armee z. B. in Medienskandalen festgestellt. Vgl. Joan K. Bleicher, Knut Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr, in: Nägler, Die Bundeswehr, 2­ 69–290, hier 270. 8 Döring, »Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel«, 324. 9 Thorsten Loch, Soldatenbilder im Wandel. Die Nachwuchswerbung der Bundeswehr in Werbeanzeigen, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, 265–282; ders., Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr 1956–1989. München 2008. Zu nennen ist hier insbesondere das DFG Forschungsprojekt um Ute Daniel über das Verhältnis von Militär und Medien im 20. Jahrhundert. Vgl. Ute Daniel, Kooperation, Kritik und Konkurrenz: Das Militär und seine Beziehungen zu den Medien im 20. Jahrhundert  – ein internationaler Vergleich, in: dies., Jörn Leonhard, Martin Löffelholz u. a. (Hrsg.), Militärgeschichtliche Zeitschrift 2011/1 Militär und Medien; dies., Westdeutsche Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der medialen Öffentlichkeit und politischen Kommunikation. Eine Einführung, in: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr. 1955 bis 2000. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven. München 2007, 181–194; Bleicher, Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr; Franz Dörner, Das Verhältnis zwischen den Massenmedien und der Bundeswehr. Diss. Mainz 1991. 10 Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a. D. Wolfgang Altenburg. 18.11.2011. 11 Letztere gibt die Wahrnehmung der Bundeswehr wieder, insofern sich die Auswahl auf eher konservative Blätter wie die Welt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und auch die Bild-Zeitung sowie diverse regionale und lokale Zeitungen bezieht. Dazu zählen unter © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Sturmflut verfasste Berichte zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe, Aufschluss darüber welche Einheiten und welches Material die Bundeswehr einsetzte.12

1. Der Einsatz der Bundeswehr Die Sturmflut traf die Stadt Hamburg weitgehend unvorbereitet und über­ forderte die hierfür zuständigen Behörden. Es fehlten nicht nur eine koordinierte Katastrophenwarnung und Einsatzleitung, sondern vor allem Helfer und Material, um die gebrochenen Deiche zu flicken und Tausende von Menschen aus dem nur schwer oder überhaupt nicht zugänglichen Katastrophengebiet zu evakuieren. In dieser Situation waren alle verfügbaren Truppeneinheiten der Bundeswehr und der NATO gefragt, um mit ihren Booten und vor allem Hubschraubern Menschen und, wenn möglich, auch Tiere zu retten, zu versorgen und die im Wasser umhertreibenden Leichen zu bergen. Bereits am 16. Februar um 13.30 Uhr wurde der in Hamburg stationierte Truppenteil durch ein Fernschreiben vom Wehrbereichskommando I Kiel auf einen möglichen Katastropheneinsatz hingewiesen. Nachdem die Auslösung der Alarmstufe III durchgegeben worden war, stellte das Harburger Pionier-Bataillon um 23.55 Uhr eine Anfrage, wie hoch die Baubehörde das nächtliche Hochwasser einschätze.13 Als deutlich wurde, dass mit 5,0 bis 5,5 Meter über NN zu rechnen sei, gab der diensthabende Offizier um 24 Uhr aus eigenem Entschluss Alarm. Die Hamburger Schutzpolizei erbat vom Standortkommando Soldaten mit Schlauchbooten und Kraftfahrzeugen für den Katastrophen­einsatz. Auch die Brigaden in Fischbek und Rahlstedt wurden alarmiert. Zum ersten Einsatz rückte am 17. Februar um 0.35 Uhr das Harburger Pionier-­Bataillon aus, um Deichsicherungsarbeiten durchzuführen. Die geretteten Menschen wurden in der Kaserne Harburg-Fischbek versorgt und untergebracht. Aufgrund einer dringenden Bitte des Senators Schmidt, die am 17. Februar um 9.00 Uhr per Blitzfernschreiben einging, wurden zusätzliche Spezialtruppen nach Hamburg geschickt. Von den Flugplätzen Bückeburg, Celle und Rheine starteten ab anderem: Erfahrungsberichte der 3. Panzerdivision (im Folgenden als PzDiv); Erfahrungsberichte der 1. PzGrenDiv; 6. PzGrenDiv; 11. PzGrenDiv; Erfahrungsbericht Katastropheneinsatz Hamburg schweres Pionierregiment 705; Erfahrungsbericht über Katastropheneinsatz; Pressemitteilungen; Bundeswehr im Spiegel der Presse, Sturmflutkatastrophe an der deutschen Nordseeküste am 16./17. Febr. 1962, Bd. I und II. 12 Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverstän­ digenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe, in: Staatliche Pressestelle. Hamburg 1962; Wolfgang Pfeifer, Bremen im Schutz seiner Deiche. Dokumentation zur großen Sturmflut vom 16. und 17. Februar 1962. Bremen 1963. 13 Bericht der Freien und Hansestadt Hamburg, 35 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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9.00 Uhr die ersten Hubschrauber, die wegen der großen Windstärken eigentlich Flugverbot hatten. Im Laufe des 17.  und 18. Februars wurden dann weitere Truppenteile in die Hochwassergebiete entsandt. Damit standen im Hamburger Katastrophengebiet 11 Bataillone, davon 7 Pionier-Bataillone zur Rettung der Menschen und Schließung der gebrochenen Dämme, 11 selbstständige Kompanien, davon 8 Pionier-Kompanien, und Einzelgruppen verschiedener Truppenteile und Dienststellen der Bundeswehr sowie der NATO -Streitkräfte mit rund 6.000 Soldaten zur Verfügung.14 Im Einsatz waren 62 Hubschrauber, 142 Sturmboote, 156 Schlauchboote, 14 Schwimm-Lastkraftwagen und das schwere Gerät  – Räumungspanzer und Planierraupen etc. In den darauf folgenden Tagen kamen weitere 30 Hubschrauber sowie 3 ABC-Abwehr-Kompanien dazu.15 Da seit dem 19. Februar keine Lebensgefahr mehr für die eingeschlossene Bevölkerung bestand, wurden die ersten Truppen aus den betroffenen Hochwassergebieten abgezogen. Alle Pionier-Verbände, ABC-Abwehr-Einheiten und Sanitäts-Einrichtungen blieben noch vor Ort. Die letzten Truppenteile verließen, im Einverständnis mit dem Senat der Stadt Hamburg, am 3. März das Katastrophengebiet. Bei dem Einsatz kamen neun Bundeswehrsoldaten ums Leben.16 Diese Todesfälle stehen exemplarisch für die schwierigen und zum Teil  dramatischen Umstände der Katastrophenhilfe. Ein Soldat beispielsweise versuchte Kinder aus einem einsturzgefährdeten Haus zu retten. Er war durch ein Tau ge­sichert und trug eine Schwimmweste, ertrank aber dennoch in der Flut.17 Insgesamt starben in der Hansestadt 315 Männer, Frauen und Kinder, 35 weitere Menschen im übrigen Norddeutschland. Allein in Hamburg wurden mehr als 15.000 Menschen obdachlos, 60.000 waren tagelang von der Außenwelt abgeschnitten und mussten mit Hubschraubern versorgt und evakuiert werden.18 Aus diesem Grund etablierte sich vor allem in der Hansestadt der Begriff der »fliegenden bzw. rettenden Engel«. Mit Hilfe von Militärhubschraubern und Sturmbooten wurden ca. 20.000 von den Wassermassen Eingeschlossene gerettet, zum Teil unter schwersten Bedingungen.19 Rund 1.200 Menschen konnten aus unmittelbarer Lebensgefahr gerettet werden.20 Während der Sturmflut 14 Ebd., 149. 15 Unterstützt wurden die deutschen Soldaten von Soldaten der amerikanischen, britischen, niederländischen, belgischen und dänischen Streitkräfte. Bericht der Freien und Hansestadt Hamburg, 38. 16 Neugebauer, 83. 17 BA-MA: BH 1/21630, 57. 18 Clement, Jöris, 50 Jahre Bundeswehr, 148. Diese Zahlenangaben stehen oft­mals in Widerspruch zu anderen Zahlenangaben, ein ganz typisches Phänomen der zu Super­lativen neigenden Katastrophenberichterstattung. 19 Hulin, 50 Jahre Bundeswehr, 196. 20 Vgl. Clement, Jöris, 50 Jahre Bundeswehr, 149. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Soldaten beim Rettungseinsatz in Hamburg (Quelle: Staatsarchiv Hamburg, Plankammer, o. A.). Die bildliche Darstellung betont, dass die Bundeswehr die schwierige Situation im Griff hat.

kamen rund 40.000 Bundeswehrsoldaten zum Einsatz sowie 25.000 zivile Helfer.21 Der massive und rasche Einsatz der zur Verfügung stehenden Soldaten und NATO -Truppen mit ihren technischen Möglichkeiten der Rettung und Versorgung durch Hubschrauber und Boote trug zur Kontrolle der Katastrophe in Hamburg und auch an der Elbe bei. Im Interview erklärt er die mit dem erfolgreichen Einsatz erworbene öffentliche »Glaubwürdigkeit der Bundeswehr«, die sicherlich eine zentrales, über den Einsatz selbst hinausgehendes Anliegen der jungen Armee war, mit einer effizienten Organisation und aus Sicht eines in höheren Positionen tätigen Berufsoffiziers letztlich mit der inneren Geschlossenheit der eingesetzten Verbände und damit mit militärischen Tugenden und Fähigkeiten. »Glaubwürdigkeit erwerben Sie bei der Flut, wenn Sie sagen, wir kriegen das Loch zu und schaffen es auch! Der wichtigste Satz in meiner Befehlsausgabe, als wir da runter marschiert sind. […] Es ist jetzt so und so spät. Der Spieß holt die Sandsäcke und Leutnant R. organisiert die Fahrzeuge. Wir stellen uns jetzt hier auf. Wenn die ersten 21 Vgl. Hulin, 50 Jahre Bundeswehr, 196. In den Chroniken hat sich die Zahl der eingesetzten Bundeswehrsoldaten während des Sturmfluteinsatzes auf 40.000 eingependelt. Uzulis geht von rund 33.000 Soldaten aus. Vgl. André Uzulis, Die Bundeswehr. Eine politische Geschichte von 1955 bis heute. Hamburg u. a. 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Schwinge-Deich-Bruch 1962. Hauptmann Wolfgang Altenburg gibt Befehle für das Schließen des Deichbruchs (Quelle: General a. D. Altenburg). Das Bild zeigt Wolfgang Altenburg beim Einsatz am Deich.

Sandsäcke kommen, können wir anfangen. Wir müssen in der Lage sein, dieses Loch bis zu dieser Höhe, mit drei Lagen hintereinander, geschlossen haben, bis Uhrzeit x. Tun wir das nicht, versagt. Mehr brauchte ich nicht zu sagen, das war ein ausreichender Befehl.«22

Allerdings warf die Verwendung der Bundeswehr im Innern verfassungsrechtliche Probleme auf, da diese durch das deutsche Grundgesetz nicht legitimiert war.23 Schmidt begründete im Nachhinein sein Handeln dadurch, dass er sich allein von der moralischen Pflicht hätte leiten lassen, Menschen in großer Zahl aus unmittelbarer Lebensgefahr zu retten.24 1968 wurde schließlich das Grund 22 Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a.D. Wolfgang Altenburg, 18.11. 2011. 23 Helmut Schmidt konnte sich 1962 nur auf Artikel 143 des Grundgesetzes berufen. Dieser regelte den Einsatz der Streitkräfte wie folgt: »[d]ie Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines Inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, […] [können] nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikel  79 erfüllt.« Ein solches Gesetz bestand allerdings noch nicht. Hermann v. Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz. Bd.  2. München 2010, 2412. Vgl. hierzu auch Hans D. Jarass, Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. München 2004, 1331. 24 Siehe dazu Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz. München 2008, 168 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gesetz unter erheblichen Protesten geändert. Die Notstandsverfassung stellte klar, dass die Kompetenz zum Einsatz der Streitkräfte dem Bund untersteht. Möglich ist jedoch, dass Länder Streitkräfte im Rahmen der Rechts- und Amtshilfe anfragen können.25 Die Grundgesetzänderung von 1968 ermöglicht seither Hilfsaktionen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen wie etwa dem Brand der Lüneburger Heide 1975, der Schneekatastrophe in Norddeutschland im Winter 1978/79, dem Hochwasser in Bonn und Koblenz 1995, der Oderflut 1997 sowie der Elbefluten in den Jahren 2002 und 2013.

2. Die bundeswehrinterne Wahrnehmung des Sturmfluteinsatzes Wie nahm die Bundeswehr ihre Aufgaben wahr und wie sahen sie sich selbst während der Flutkatastrophe? Zur Beantwortung dieser Frage werden zeitgenössische Erfahrungsberichte sowie ein Oral History Interview ausgewertet. In dem Bericht »Auswirkungen des Katastropheneinsatzes auf die Soldaten und auf das Gefüge der 3. PzDiv« beispielsweise werden die verschiedenen Anforderungen und auftretenden Probleme aufgezeigt.26 Zu diesen gehörte, dass die Alarmierung überraschend kam, die Lage ungeklärt war und das öffentliche Fernsprechnetz ausgefallen war.27 Der Einsatz war überraschend; dass es dennoch keine größeren Schwierigkeiten gab, sei vor allem das Verdienst der »kriegserfahrenen älteren Offiziere und Stabsoffiziere« gewesen; aber auch jüngere Offiziere und Unteroffiziere hätten »ein erstaunliches Maß an Führereigenschaft [sic!] und Einfühlvermögen« entwickelt.28 Im Bericht heißt es weiter, dass der Katastropheneinsatz »an ernste Krisenlagen des letzten Krieges« erinnert habe und durch die Erfahrungen verschiedener Truppenführer vor Ort ein »100 km Abschnitt somit schon nach wenigen Stunden kontrolliert werden konnte«.29 Es ist innerhalb der bundeswehrinternen Erfahrungsberichte wenig überraschend, dass der Einsatz während einer Naturkatastrophe mit einer Kriegssituation verglichen wird. Dies korrespondiert mit der medialen Berichterstattung sowie Zeitzeugenberichten, die häufig betonten, es sei wie im Krieg gewesen. Gerade für die Hamburger Sturmflut, die nur 17 Jahre nach Beendi-

25 Hier schafft Artikel 35 GG Klarheit: »Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land […] Streitkräfte anfordern.« Jarass, Pieroth, 738. 26 BA-MA: BH 7–1/751. Erfahrungsbericht verst. 3. PzDiv 16 feb-01 mar 62. Diese Soldaten wurden am Kdo Abschnitt »Unterelbe« vom 16.2 bis 2.3.1962 eingesetzt. 27 BA-MA: BH 7–1/751, 15.  28 Ebd. 29 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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gung des Zweiten Weltkriegs stattfand, spielten die Kriegsmetaphorik und der Vergleich mit einer Kriegssituation eine wichtige Rolle – sowohl auf der Ebene der internen Wahrnehmung durch die Bundeswehr als auch auf der Ebene der medialen und öffentlichen Wahrnehmung der Flut.30 Aus Sicht der Bundeswehr hatte die Hamburger Sturmflut auch Auswirkungen auf das innere Gefüge der neu gegründeten Armee. So unterstrich General a.D. Wolfgang Altenburg im Rückblick auf das Ereignis: »[Die Sturmflut] hat die Qualität der Bundeswehr verbessert. Schlagartig. Und das nicht nur bei den Verbänden, die dabei waren. Der Effekt war für die Armee sehr förderlich, aber es muss unterschieden werden. Nicht nur für die Medienarbeit nach Außen, die man hätte besser machen können, sondern auch für den Geist der Armee.«31

Diese Aussage erklärt sich aus dem zeithistorischen Kontext. In den 1960er Jahren ging die schwierige Aufbauphase der neuen Armee zu Ende. Hier war die Ausnahmesituation der Sturmflutkatastrophe eine erste Probe für die neu gegründete Armee. Fragen der Disziplin, Einsatzkoordination, Motivation sowie die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung waren aus militärischer Sicht von Interesse, da bislang keine Einsatzerfahrungen vorlagen. Im Erfahrungsbericht eines Pionierregiments wurde hervorgehoben, dass die Flut einen neuen »einsatzwilligen Soldaten« geschaffen hätte: »Die Hamburger Flutkatastrophe hat gezeigt, dass die oft wenig in Erscheinung tretende und anerkannte Kleinarbeit auf dem Gebiet der Ausbildung und Erziehung einen brauchbaren und einsatzwilligen Soldaten schuf. Sie zeigte ferner, dass in Tagen der Not zwischen Bevölkerung und Bundeswehr Bereitschaft zur Zusammen­ arbeit besteht.«32

Damit ist zum einen gemeint, dass aus Sicht der Bundeswehr die Naturkatastrophe eine Bewährungsprobe und Experimentierfeld für ihre Truppen, den Einsatz von Hubschraubern und auch organisatorische Abläufe darstellte. Zum anderen wird betont, dass sie in der Bevölkerung auf Vertrauen und Anerkennung stieß.33 Dies ist in dem zeithistorischen Kontext zu betrachten, dass die Öffentlichkeit in einem eher distanzierten und zum Teil kritischen Verhältnis zur Bundeswehr stand, zumindest die meinungsbildenden kulturellen Eliten: »Denn die späte Geburt der bundesdeutschen Armee kollidierte immer mit dem 30 Vgl. Abschnitt »3. Die Darstellung des Sturmfluteinsatzes in den Medien«. 31 Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a. D. Wolfgang Altenburg, 18.11. 2011. 32 BA-MA: BH 28–2/60, 15. Erfahrungsbericht Katastropheneinsatz Hamburg schweres Pionierregiment 705. 33 BA-MA: BH 28–2/60, 9–15. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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antimilitärischen Lebensgefühl, das die kulturellen Eliten der Bundesrepublik seit den 50er Jahren bestimmte.«34 Innerhalb der Bundeswehr registrierte man deshalb sehr aufmerksam, dass der geschlossene und schnelle Einsatz der Bundeswehr bei der Bevölkerung zunächst eine große Überraschung auslöste. Dann aber habe diese schnell bemerkt, »daß die Bundeswehreinheiten das einzige die Lage beherrschende Element waren«.35 Dass die Soldaten sich »ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf ihr Leben« einsetzten, sei »von der Bevölkerung in diesem Ausmaße nicht erwartet worden«.36 Der Bericht zieht auch einen Vergleich zu anderen behördlichen Maßnahmen, deren Hilfsprogramme schwerfällig und langsam angelaufen seien. Durch das schnelle Handeln wandelte sich offensichtlich auch die zum Teil  vorhandene anfängliche Skepsis der Bevölkerung. Genauestens beobachtete man innerhalb der Bundeswehr, dass sich dies gerade im kommunistisch geprägten Arbeiterviertel Wilhelmsburg zeigte, das am stärksten von der Flut betroffen war: »Die positive Reaktion der Zivilbevölkerung auf den Einsatz der Bundeswehr hat insofern überrascht, als sie gerade in Gebieten erfolgte, die bisher für ihre Gegnerschaft zur Bundeswehr bekannt waren. Angeforderte Unterstützung wurde überall gegeben, die militärischen Anweisungen ohne Schwierigkeiten befolgt. Störmaßnahmen wurden nirgends festgestellt. Es erscheint durchaus möglich, dass diese eindrucksvolle bundeswehrfreundliche Einstellung sich nicht nur auf die Tage der Katastrophe beschränkt, sondern eine bleibende Wirkung hat.«37

Aus Sicht der Bundeswehr erwies sich die Naturkatastrophe als eine Erfahrung der Akzeptanz in der Bevölkerung und somit als ein wichtiges Ereignis auf dem Weg der Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft. So habe die Bevölkerung die Soldaten z. B. mit Unterkünften und Verpflegung unterstützt oder zu Kino-Veranstaltungen eingeladen.38 Dankesschreiben von Landräten an die verantwortlichen Einsatzleiter und Schenkungen von Wappen­k rügen brachten symbolisch die Verbundenheit der Bevölkerung mit den Soldaten zum Ausdruck. So bedankte sich der Landrat des Kreises Norderdithmarschen am 13. März 1962: »Wenn im Kreise Norderdithmarschen auch keine Menschenleben zu beklagen ge­ wesen sind, so hat das Eingreifen der Bundeswehr den Verantwortlichen wie den Bürgern des Kreises doch die nötige Sicherheit gegeben, um die Gefahr erfolgreich zu bestehen. Ich möchte Sie darum herzlich bitten, den Dank des Kreises auch den Offi 34 Vgl. Hickethier, 269. 35 BA-MA: BH 7–1/751, 18. 36 Ebd. 37 BA-MA: BH 28–2/60, 9–15. 38 BA-MA: BH 7–1/751, 33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zieren, Unteroffizieren und Mannschaften Ihrer Einheit zu übermitteln. Als Zeichen der Verbundenheit darf ich Ihnen einen Wappenkrug aus der Tellingstedter Töpferei überreichen.«39

Es gab allerdings auch Fälle, in denen die Bevölkerung die Unterstützung verweigerte, Soldaten beschimpfte40 oder durch ein sensationshungriges Verhalten als »Schlachtenbummler« auffiel.41 Die Landbevölkerung gab in Einzelfällen ihre stark gefährdeten Häuser nicht auf, so dass die spätere Rettung dieser Menschen sich noch schwieriger gestaltete. Ein Fußballverein etwa lehnte es ab, seinen Platz zur Verfügung zu stellen und führte stattdessen ein Punktspiel durch. Teilweise wurde von Seiten der Bundeswehr kritisiert, dass einzelne Bürger mehr an ihre Geschäfte als an die Nothilfe dachten. So wurden Äpfel zu verteuerten Preisen verkauft oder Brötchen in großen Mengen an die Truppen geliefert, dafür aber nicht das dringend benötigte Telefon des Bäckers zur Verfügung gestellt. Diese Topoi finden sich auch im öffentlichen Diskurs. Sie zeigen ansatzweise, dass die Bundeswehr keine unhinterfragt akzeptierte Autorität darstellte und man ihren Anweisungen nicht notwendigerweise folgte. Zudem betonte diese interne Berichterstattung der Bundeswehr, dass der Eigennutz einzelner, den Interessen und Bedürfnissen der von der Katastrophe betroffenen, in Not geratenen Menschen entgegenstünde. Die Bundeswehr repräsentiere dagegen – sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in der öffentlichen Darstellung – Tugenden wie Solidarität, Kameradschaft, Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftssinn, die in Katastrophensituationen gefragt seien. Fasst man die Erfahrungsberichte zusammen, so war der unvorhergesehene und nicht gesetzesmäßige Einsatz von Soldaten bei einer Naturkatastrophe aus Sicht der Bundeswehr ein willkommener Erfolg. Die Sturmflut war für die junge Armee ein Experimentierfeld für die Kompetenzen und Einsatzbereitschaft der Soldaten sowie zugleich ein Schritt zur öffentlichen Anerkennung in der jungen Bundesrepublik. Hierbei spielte die mediale Darstellung der Soldaten als Helfer, wie in der folgenden Analyse der Presseberichte gezeigt wird, eine wesentliche Rolle.

3. Die Darstellung des Sturmfluteinsatzes in den Medien Naturkatastrophen bezeichnen Leerstellen und Momente der Erklärungsnot und ziehen, so Martin Döring in seiner Analyse der Oderflut von 1997, medial vermittelte Sinnstiftungsprozesse nach sich. Damit schließt Döring an die 39 BA-MA, BH 8–6/402 6 Panzergrenadierdivision. Tagebuch über die Flutkatastrophe im Februar 1962. 40 BA-MA: BH 7–1/751, 33 ff. 41 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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neuere kulturgeschichtliche, auf Wahrnehmungen, Deutungsmuster und mediale Präsentationen fokussierende Naturkatastrophenforschung an. Allerdings ist das Verhältnis der Bundeswehr zu den Medien seit ihrer Gründung fragil und von zahlreichen Konflikten begleitet.42 Die Nachkriegsgesellschaft stand allem Militärischen kritisch gegenüber und die neuen Streitkräfte hatten in den Massenmedien ein negatives Image. Dagegen konnte im Kontext einer Sturmflut ein eher positives Bild der Soldaten gezeichnet werden. Der Ausnahmezustand, in den die Sturmflut Hamburg versetzte, rief, wie oben bereits erwähnt, Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wach und wurde mit vielfach kriegerisch-militärischen Metaphern gedeutet. Der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs, Paul Nevermann ­(1902–1979), setzte in seiner Trauerrede am 26. Februar 1962 die Sturmflut in Bezug zum Zweiten Weltkrieg und den großen Katastrophen im kollektiven Gedächtnis der Stadt: »Diese letzte Woche, meine Hamburger, wird keiner von uns vergessen können, bis an das Ende seiner Tage. Nur in den Bombennächten des Jahres 1943 und in der Feuersnot 1842 wurde unsere Stadt von Heimsuchungen getroffen, die so schwer waren, wie dieser letzte Schlag. Diese Leidenserfahrung wird uns Warnung und Aufruf sein«43

Ein diensthabender Arzt beispielsweise verglich die Katastrophe mit seinen Erfahrungen an der Ostfront »Ich war an der Ostfront«, sagte er »das hier aber ist schlimmer«.44 Auch Helmut Schmidts Führungstugenden führte man auf seine militärische Expertise und Erfahrungen zurück: »In der hochgespannten Atmosphäre der Einsatzbesprechungen fühlten sich die Offiziere dank der militärisch zackigen Sprache des ehemaligen SPD-Militärexperten Schmidt (»ich erwarte Vollzugsmeldung!«) sogleich heimisch, den zivilen Beamten fuhr der – lang vermisste – Komißton in die Knochen und trieb sie an.«45

Der Hamburger Innensenator wurde in der Presse als »Katastrophen-Generalstabschef«46, »Oberkommandierender«47, oder »Generalstäbler der Wassernot«48 bezeichnet. Dabei kam es auch zur erschreckend unreflektierten Ver-

42 Franz Dörner, Das Verhältnis zwischen den Massenmedien und der Bundeswehr, Diss. Mainz 1991, zitiert nach: Bleicher, Hickethier, 269. 43 Zitiert nach: Simone Wörner, Das Überleben. Erinnerungen an die Katastrophe, in: Simone Wörner, Das Überleben. Erinnerungen an die Flutkatstrophe, in: Herbert Hötte (Hrsg.), Die große Flut. Katastrophe, Herausforderung, Perspektive. Hamburg und die Sturmflut 1962. Hamburg 2012, 49. 44 Ortwin Fink, Unterwegs in Hamburgs Katstrophenzentrum – »Schlimmer als an der Ostfront« – »Halbstarke als Retter«, in: Die Zeit, 23.2.1962. 45 Herr der Flut, in: Der Spiegel 7.3.1962/10. 46 Ebd., 30. 47 Ebd., 29. 48 Stadt unter, in: Der Spiegel 28.2.1962/9, 26. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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wendung von Sprachbildern aus dem Dritten Reich, wie etwa »Sofort fuhr er ins Polizeirevier und ergriff die Macht.«49 Zwar entsprach der Hilfseinsatz im Rahmen der Naturkatastrophe keinesfalls der eigentlichen Aufgabe der Bundeswehr, die für Kriegseinsätze zur Landesverteidigung geschaffen wurde. Die öffentliche Darstellung als »rettender Helfer« lieferte eine Legitimationsbasis für die neu gegründete Armee. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht in diesem Zusammenhang von nachhaltigen »Verbrüderungsszenen« zwischen den Soldaten und der in Not geratenen Bevölkerung. »Wer in diesen Tagen als Zivilist Kontakte zur Bundeswehr unterhalten muß, ist immer wieder erstaunt, wie verständnisvoll und hilfswillig alle Staatsbürger in Uniform auch auf journalistische Quälgeister reagieren. Vollends bei der Begegnung der Bundeswehrhelfer mit den sonst so verschlossenen Bauern in den Obstmarschen und der expropriierten Bevölkerung in den ehemaligen Laubenkolonien ergeben sich von der Not verordnete Verbrüderungsszenen, wie sie noch vor wenigen Tagen nicht recht denkbar waren. Es scheint, die verheerende Sturmflut hat noch einen anderen Dammbruch bewirkt. Und von dem Guten, das dabei zutage gekommen ist, dürfte vieles bleiben, auch wenn sich die Deichlücken einmal wieder geschlossen haben.«50

Dieser positive, teils geradezu euphorische Tenor der Berichterstattung ist charakteristisch für die Gesamtheit der ausgewerteten Presseberichte. Zweifelsohne war die Sturmflut eine willkommene Gelegenheit öffentlich zu betonen, dass die neue Armee offensichtlich von der Bevölkerung anerkannt wurde. Wichtig ist anzumerken, dass der Pressespiegel der Bundeswehr hauptsächlich auf konservativen Zeitungen wie der Welt, Frankfurter Allgemeinen und Bild-Zeitung basiert. Im Spiegel dagegen standen der detaillierte Ablauf des Ereignisses und die Unterschätzung der Gefahr von Seiten der städtischen Bevölkerung Hamburgs sowie die Führungsrolle Helmut Schmidts im Fokus. Die Bundeswehr wurde beispielsweise im Spiegel nicht zum »Retter in der Not« stilisiert oder gar ein neues Soldaltenbild damit transportiert. Die Bild-Zeitung (9. März 1962) entwarf dagegen ein neues Soldatenbild, das sich vom Zweiten Weltkrieg distanziere und angeblich auf der Zustimmung der Bevölkerung basierte. »›Ohne unsere Bundeswehr wäre es uns viel dreckiger gegangen.‹ Der Mann, der das sagte, stand am Bahnhof Wilhelmsburg, dem vom Hochwasser am stärksten betroffenen Hamburger Ortsteil. Er sah zu, wie zwei Hubschrauber der Bundeswehr landeten und Lebensmittel ausluden. Und er sagte: ›Unsere Bundeswehr‹, als sei das ganz selbstverständlich. Ich hatte die letzten deutschen Soldaten 1945 erlebt  – bei der Schlacht um Berlin. Und ich habe die Schnauze voll vom Krieg, von Soldaten, von Uniformen […] Jetzt – eigentlich über Nacht – stand ich plötzlich zwischen die 49 Herr der Flut, in: Der Spiegel, 7.3.1962/10, 28. 50 BA-MA: BH 28–2/486. Frankfurter Allgemeine Zeitung, am 22.2.1962. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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sen neuen deutschen Soldaten. Nicht auf irgendeinem Kasernenhof oder bei einem Manöver – nein, ich erlebte diese neue deutsche Armee im Einsatz. […] Was war das für ein ›Haufen‹? Ich suchte nach Parallelen zum alten deutschen Kommiß, aber ich fand sie kaum. Woran lag es? Ein anderer, völlig neuer Ton schien in dieser Truppe zu herrschen. Manchmal klang es wie auf einem Sportplatz. Oder wie in einem großen, gutgehenden Betrieb. Es klappte alles. (›Eigentlich schon wieder zu gut!‹ schoß es mir durch den Kopf.) Aber es klappte ohne Gebrüll. Jeder schien von alleine zu wissen, was zu tun war. Jeder packte zu, wo er helfen konnte. Es wirkte alles so selbstverständlich – so, als hätte diese junge Truppe nie etwas anderes getan, als im Hoch­ wasser Menschen zu helfen.«51

Der Artikel verdeutlicht den Wahrnehmungswandel, der sich in einigen Medien vollzog. Die Bundeswehr wurde nun als eine Institution in der Mitte der Gesellschaft dargestellt und nicht als eine Armee, die eine Sonderrolle spielte. Die Medien unterstrichen das neue Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« und der »Inneren Führung«, die im Kontrast zur Schleiferei und Entmündigung der Wehrmacht standen. Die Welt ging sogar soweit, angeblich nebenbei geäußerte Gedanken abzudrucken, um die Freundlichkeit und den Wunsch nach Akzeptanz, der innerhalb der Bundeswehr bestehe, zu betonen. »Was wären wir ohne die Bundeswehr? […] Aber es steht auch schon fest, daß die Bundeswehr für Land und Mensch nicht nur ihre Kräfte und Geräte, sondern auch das Leben ihrer Offiziere und Männer eingesetzt und geopfert hat. […] In einer Pause sagt der Kommandeur so in Gedanken vor sich hin: Es wäre schön, wenn wir danach mehr Freunde hätten.«52

Zwar stand die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft dem Krieg ablehnend gegenüber, entwickelte aber zumindest, wie Axel Schildt gezeigt hat, gegenüber der Bundeswehr eine pragmatische Einstellung.53 Vor dem Hintergrund eines sich Anfang der 1960er Jahre zuspitzenden atomaren Konfliktes zwischen den USA und der Sowjetunion, der auch zeitweilig den politischen Wunsch auf atomare Bewaffnung aufkeimen ließ, wuchs die Sorge vor einem Atomkrieg.54 Gleichzeitig akzeptierte die Bevölkerung die Einbindung ins westliche Verteidigungssystem und damit auch das Existenzrecht der Bundeswehr als »ungeliebte Notwendigkeit«, so Schildt.55 Allerdings muss im Kontext der Sturmflut betont werden, dass die herausgestellte öffentliche Identifikation mit der Bundeswehr und das Hoffen auf mehr Vertrauen durch die Bevölkerung eine mediale Inszenierung war. Die untersuchten Zeitungen agierten hier offensichtlich politisch. 51 BA-MA: BH 28–2/486. 52 BA-MA BH 28–2/486. So schrieb »Die Welt« am 20.2.1962. 53 Schildt, Moderne Zeiten, 322–323. 54 Bald, Bundeswehr, 56–57. 55 Schildt, Moderne Zeiten, 322. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Durch die positive Berichterstattung über die Soldaten konnte dem vorhandenen gesellschaftlichen Misstrauen öffentlich begegnet und jene politischen Strömungen und Positionen zum Ausdruck gebracht werden, denen an einer positiven Berichterstattung über die Bundeswehr gelegen war.56 Die Einsatzbereitschaft der Soldaten wurde herausgestellt. Angesichts des Engagements der Soldaten sprach beispielsweise die Lüneburger Zeitung davon, dass die Bevölkerung »stolz auf diese Söhne des Landes« sein könne.57 Damit finden sich auch am Beispiel der Hamburger Sturmflut in der Presse erste Anzeichen einer nationalen Aufladung der Sturmflut. Allerdings ging es auch hier primär darum, ein neues Bild der Soldaten zu zeichnen, das den vorhandenen gesellschaftlichen Ressentiments gegen das Militär begegnete: »Unser aller Dank gilt diesen Soldaten, ohne deren Rettungswerk vieles noch viel schlimmer gekommen wäre. Wir alle sind stolz auf diese Söhne unseres Volkes. Hut ab vor diesem Mann in lehmverkrusteter Uniform. Dem Namenlosen, der hier stellvertretend für alle 25 000 Helfer gegen die große Not steht. Vom jüngsten Rekruten bis zum General hat die neue Bundeswehr bewiesen, was in entscheidender Stunde gut geführte, gut ausgebildete Streitkräfte zu leisten vermögen. Im großen Orkan schmolz das letzte Ressentiment zusammen. In diesen Tagen ist die Bundeswehr wirklich zu einer Sache des ganzen Volkes geworden: Ein starker Schutz in der Stunde der Not.«58

Die Einstellung der oftmals skeptischen Bevölkerung zu den Soldaten habe sich durch deren Hilfs- und Einsatzbereitschaft gewandelt, so das in regionalen und überregionalen Medien gezeichnete Bild der Bundeswehr. Auch die Bundeswehr selbst unterstrich dies. Bei der internen Beurteilung stellte sie fest, dass der Einsatz als Fluthelfer das Vertrauen in die neu gegründete Armee stärkte und dass dies die beste Öffentlichkeitsarbeit sei, die man sich denken könne.59 »Alles, was bisher an Öffentlichkeitsarbeit gesteuert getan worden ist, wurde durch den Katastropheneinsatz in den Schatten gestellt. Die Bevölkerung erkannte sehr schnell, daß die Soldaten sich ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben einsetzten und daß die Bundeswehreinheiten das einzige die Lage beherrschende Element waren. Die bisherige, gerade im Raum Hamburg-Harburg gezeigte Skepsis wandelte sich schnell in Achtung und Vertrauen. Das Verständnis der Bevölkerung für die Bundeswehr ist in großem Maße gewachsen. Es wurde gefördert durch das disziplinierte Verhalten der Truppe und das Einfühlungsvermögen der Führer in die 56 Vgl. zum gesellschaftlichen Misstrauen gegenüber der Bundeswehr: Loch, Soldatenbilder im Wandel, 273; Bleicher, Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr, 269; Schildt, Moderne Zeiten, 308–309. 57 BA-MA: BH 28–2/486. 58 BA-MA: BH 28–2/486. Die »Landeszeitung« – für die Lüneburger Heide –24.02.1962. 59 Vgl. Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a. D. Wolfgang Altenburg, 18.11.2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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örtlichen sozial-politischen Verhältnisse (Wilhelmsburg). Man sprach häufig auch in der Presse nicht mehr nur von der Bundeswehr, sondern von unserer Bundeswehr.«60

Auch innerhalb der Bundeswehr war man sich der positiven öffentlichen Wirkung bewusst. So war es ein »willkommener Nebeneffekt«, dass der unvorhergesehene Katastropheneinsatz ein positives Image als Helfer in der breiteren Öffentlichkeit beförderte. Die Bundeswehr selbst zielte zwar nicht auf Medieneffekte, so Altenburg, der mit dieser Äußerung den zeitgenössischen Verzicht auf militante Kriegsbilder oder Heroismen unterstreicht: »Der Bonus oder der Nebeneffekt für die Bundeswehr durch den Einsatz in der Flutkatastrophe war ungeheuer. Das Ansehen der Soldaten stieg.«61 Dieses neue Bild der Bundeswehr beförderte die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Armee und blendete den eigentlichen, in der deutschen Gesellschaft umstrittenen militärischen Verteidigungsauftrag im Rahmen eines drohenden Atomkriegsszenarios aus. In seiner am Konstrukt der Nation orientierten Analyse der Oderflut sieht Martin Döring unmittelbare Parallelen zur Hamburger Sturmflut. Dies macht er an den beiden Führungspersönlichkeiten von Helmut Schmidt und Matthias Platzeck, der Rolle der Bundeswehr als Helfer sowie insgesamt an der nationalen Bedeutung der beiden Katastrophen fest. Dennoch kann man die von Döring am Beispiel der Oderflut konstatierte nationale Aufladung nicht in gleichem Maße für die Sturmflut von 1962 feststellen. Im Unterschied zur Oderflut wurde die Hamburger Sturmflut nicht mit nationalen Topoi und Pathos aufgeladen, wie es im Kontext der Wiedervereinigung geschah, als die Medien von einem »Kristallisationspunkt einer vereinten bzw. wiedervereinigten Nation« und »Bewährungsprobe der deutsch-deutschen Nation« sprachen.62 Im Kontext der Hamburger Sturmflut finden sich zwar erste Anzeichen einer inneren Vergemeinschaftung der Bundeswehr und auch einer Identifikation der breiten Bevölkerung mit der Armee. Dennoch sind diese Prozesse keinesfalls vergleichbar mit der stark aufgeladenen Nationalisierung von Flutkatastrophen in der Nachwendezeit der 1990er Jahre. Fragen der nationalen Identität wurden 1962 nicht verhandelt, wenngleich die Identifikation mit »unserer Bundeswehr« ein erster Schritt in diese Richtung darstellte. 1962 trat die Bundeswehr als sinnstiftendes Element in die Leerstelle der Deutungsnot der Katastrophe. Das Bild, das hier vermittelt wurde, entspricht den postheroischen Zügen eines neuen Soldatenbildes, mit dem sich die Bundeswehr explizit vom Pathos der kriegerischen Soldatenbilder der Wehrmacht absetzte.63 60 BA-MA, BH 7–1/769, 8 Erfahrungsberichte der 1. PzGrenDiv, 3. PzDiv, 6. PzGrenDiv, 11. PzGrenDiv. 61 Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a.D. Wolfgang Altenburg, 18.11.2011. 62 Döring, »Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel«, 319 u. 324. 63 Thorsten Loch, Soldatenbilder im Wandel, 279. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 3: Ein Hubschrauber des Heeres evakuiert Bewohner eines Hauses. Aufgrund der hohen Windstärken herrschte teilweise Flugverbot, was die Piloten nicht davon abhielt, ihre Helikopter zu starten. Dieses Foto ist offensichtlich aus der Perspektive eines zweiten, hier nicht sichtbaren Militärhubschraubers gemacht, der den eigenen Einsatz dokumentiert. In der Presseberichterstattung prägten solche Bilder das neue Image der Soldaten als »rettende Engel« (Quelle: Staatsarchiv Hamburg, Plankammer, o. A.).

Der Befund, dass das Selbstbild der Bundeswehr in weiten Teilen mit den hier analysierten öffentlichen Presseberichten übereinstimmte, ist allerdings frappierend und erklärungsbedürftig. Denn wie Bleicher und Hickethier in ihrer Studie zur Bundeswehr in den Medien feststellten, entsprach die zeitgenössische Selbstwahrnehmung keinesfalls der medialen Darstellung der Bundeswehr.64 64 Bleicher, Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr, 269. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Es spricht deshalb einiges für die Annahme, dass die Bundeswehr, die im Laufe ihrer Geschichte eher in einem fragilen Verhältnis zu den Medien stand, zwar keine aktive Medienstrategie verfolgte, aber innerhalb der Presselandschaft zumindest konservative, bundeswehrnahe Blätter die Chance nutzten, ein neues, positives Image der Armee zu transportieren. Wie Hickethier und Bleicher resümieren, ist der Bundeswehrsoldat in der Öffentlichkeit eher eine »Randfigur« und könne allenfalls in der entmilitarisierten Variante des Helfers gegen Naturkatastrophen an klassische heldenhafte Handlungsmuster anknüpfen.65 Grund hierfür ist, zumindest nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, so die beiden Medienwissenschaftler, das Fehlen einer »europäische[n], deutsche[n] Erzählform für Krieg, Gewalt, Militär, Männlichkeit und Vernichtungstechnik«.66 Das neue Bild der Soldaten als Helfer in Uniform konnte jedoch die Leerstelle der Sinnstiftung der Flutkatastrophe ausfüllen und beförderte die gesellschaftliche Anerkennung der Bundeswehr.

4. Schluss Während der Sturmflut von 1962 kam es zu einer unvorhergesehenen und zugleich verfassungswidrigen Mobilisierung der Bundeswehr. Die Notlage der Bevölkerung und die begrenzten Kapazitäten der zuständigen Behörden von Stadt und Land machten den Einsatz der Armee notwendig. Bundeswehr und Einheiten der verbündeten NATO -Streitkräfte konnten – im Verbund mit den vielen anderen Helfern – Hilfe leisten und retteten direkt oder indirekt Menschen das Leben. Insgesamt hatten die Ereignisse im Februar 1962 eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Bundeswehr. Diese erhielt durch die Naturkatastrophe Gelegenheit, ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Die Naturkatastrophe war aus Sicht der Bundeswehr ein willkommenes Experimentierfeld, auf dem sie ohne Kampfeinsatz oder Tötungshandeln insbesondere ihre logistischen und organisatorischen Strukturen testen und ihr öffentliches Ansehen verbessern konnte. Schließlich schuf der Einsatz von Bundeswehrtruppen im Innern auch neue Fakten und lieferte Argumente für eine Grundgesetzänderung, die dann durch die umstrittenen Notstandsgesetze 1968 umgesetzt wurde. Die Katastrophe selbst wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gedeutet. Mit dem neuen Bild der Soldaten als Helfer in Uniform distanzierte sich die neu gegründete Armee von den immer noch präsenten Soldatenbildern der Wehrmacht und betonte neue Werte und Ziele, wie sie durch die Leitlinien der Inneren Führung formuliert wurden. Der schnelle 65 Ebd., 282. 66 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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und als erfolgreich zu bewertende Einsatz, der in Presse und Medien ausführlich präsentiert wurde, war Teil eines Diskurses, der ein neues postheroisches Soldatenbild konstruierte, wie es die Bundeswehr selbst zu schaffen wünschte. Die wichtigste gesellschaftliche Wirkung war somit die erstmals nachweisbare mediale Inszenierung und Identifikation der breiten Bevölkerung mit »unserer Bundeswehr«. Damit kam der medialen Darstellung des Katastrophenschutzes eine wichtige politische Funktion zu, die zur Legitimation der Streitkräfte beitrug und die gesellschaftliche Problematik eines Kriegseinsatzes ausblendete.67

67 Vgl. den Beitrag von Jochen Molitor in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Bei Katastrophen ruhig zu werden und zu überlegen, was tue ich jetzt, das habe ich auf Helgoland gelernt. Auf dem harten Weg […] Ich war 16 und habe die Angriffe auf Hel­ goland mitgemacht […] und habe ja in wenigen Stunden einen Teil meiner Schulkame­ raden verloren. Aber die Art wie wir uns zu verhalten hatten usw., das gibt Ihnen zu­ mindest das Gefühl, wenn es sehr chaotisch wird, dann müssen Sie ganz ruhig bleiben, dann dürfen Sie sich nicht aufregen, ganz ruhig bleiben und stehen bleiben und sagen, was hilft mir jetzt? Was hilft uns jetzt? Wie kommen wir weiter? […] Sie müssen vermei­ den, dass Sie auch mental selber in ein Chaos kommen. […] Katastrophen dieser Art: Flutkatastrophen, Brände, Feuer, Bombenangriffe, verlangen immer im Wesentlichen, ›bleib jetzt ganz ruhig‹. In dem Moment wo du ›panikst‹ oder erregt wirst, wirst du ver­ mutlich dein Leben verlieren. Aber wenn du jetzt ganz ruhig bleibst und überlegst, was ist jetzt der nächste Schritt, hast du eine Chance.« »Aber eine Sache steht fest […] nach dieser Flutkatastrophe, jetzt vom Menschlichen gesehen und von der Zusammenarbeit, war die Batterie eine Einheit. Vorher war sie ein Haufen Soldaten. […] das ganze Gefühl, sie waren anders. Auch der Umgang der Unteroffiziere mit ihren Soldaten ist anders geworden. Eine bestimmte Sprache stand nicht mehr im Vordergrund. Es gibt eine Kameradschaft auch in der Diktion, in der Wortwahl von oben nach unten. Auch von unten nach oben. Und die wird durch so et­ was pfleglicher. Man estimiert den Anderen ja nun nicht nur mehr als etwas was sein könnte, für den Fall, dass mal was passiert, sondern etwas was ist.« »Der Bonus oder der Nebeneffekt für die Bundeswehr durch den Einsatz in der Flut­katastrophe war ungeheuer. Und auch in Hamburg z. B. das Image bei der Be­ völkerung, die nannten das nicht Image. Die nannten das das Ansehen der Sol­ daten […] Nur darf man dabei nie vergessen, wenn man nachher weiter kommt, die Bundeswehr ist nicht geschaffen worden und organisiert worden, um bei Flut­ katastrophen zu helfen. Sie hat eine höhere Aufgabe. Sie kann sich nicht dahin­ ter verstecken, ja wir sind ja gut bei der Flut. […] Ich glaube, dass die Flutkatastro­ phe Hamburg auch eine andauernde Wirkung, wesentlich mehr Wirkung hatte, als uns so landläufig bewusst ist. Wenn Sie heute Leuten sagen: ›Ja, denken Sie mal an den Elbeinsatz‹, weiß erst kaum ein Mensch, wovon Sie sprechen. Sogar der OderEinsatz ist ziemlich vergessen. Wenn Sie sagen, damals: Flutkatastrophe in Hamburg, erinnern alle ja, ja, 400 Tote und Schmidt. Die zwei Schlagworte. Es fällt aber leicht, auch an den Einsatz der Bundeswehr zu erinnern – man sollte es auch tun.« Interview: Christian Kehrt, Daniel Uhrig mit General a.D. Wolfgang Altenburg, 18. November 2011. Wolfgang Altenburg wurde am 24. Juni 1928 in Schneidemühl geboren und trat 1956 als Rekrut in die Bundeswehr ein. Er gehört damit zur Aufbaugeneration der Bundes© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

wehr. Er durchlief die Ausbildung zum Artillerieoffizier und hatte Verwendungen im Truppendienst einschließlich Batteriechef. Von 1983 bis 1986 war er Generalinspekteur der Bundeswehr und von 1986 bis 1989 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Altenburg war als Soldat während der Sturmflut im Jahr 1962 im Einsatz. Er war im Jahr 1962 Hauptmann und Batteriechef im Raketenartilleriebataillon 32 in Dörverden und hatte den Auftrag, den Schwinge-Deich-Bruch in Stade zu flicken.

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Lehren für den Verteidigungsfall Die Sturmflutkatastrophe von 1962 und der bundesdeutsche Zivilschutz

1. Bundesluftschutzverband, Sturmflutkatastrophe und der »Helfertag Hamburg« Als der Bundesluftschutzverband (BLSV) beschloss, den von ihm ausgerichteten »Helfertag« des Jahres 1964 in Hamburg stattfinden zu lassen, waren die damit verknüpften Erwartungen hoch. Dies lag weniger am anvisierten Programm, das sich mit seiner Mischung aus Redebeiträgen zu Sinn und Zweck des Zivilschutzes, Danksagungen an die ehrenamtlichen Mitglieder der Hilfsorganisationen sowie der werbewirksamen Demonstration verschiedener Rettungsmaßnahmen wenig von denjenigen vorangegangener Helfertage unterschied.1 Keine andere deutsche Stadt war jedoch aufgrund der jüngeren Vergangenheit so sehr zum Symbol für die Bemühungen des Luft- bzw. Zivilschutzes geworden wie Hamburg. Aufgrund dieser symbolischen Strahlkraft plante der BLSV eine »machtvoll-repräsentative«2 Großveranstaltung mit über 10.000 Teilnehmern, mit der sich auch Hoffnungen eines Richtungswechsels oder gar eines Neuanfangs für den bundesdeutschen Zivilschutz verbanden. »Grünes Licht für den Zivilschutz«, titelte die Verbandszeitschrift des BLSV, Ziviler Bevöl­ kerungsschutz, in ihrer Rezeptionsausgabe zum Helfertag, der als »wichtiger Markstein« und sogar als »großes Debüt des Bundesluftschutzverbandes und befreundeter Organisationen auf Bundesebene«3 bezeichnet wurde. Diese Darstellung mag eigenartig erscheinen für einen Verband, der bereits 1951 gegründet worden war und dessen historische Wurzeln bis in die Weimarer Republik zurückreichten.4 Zu beachten sind hierbei jedoch die prominent besetzte Gäs 1 Zu den Aufklärungsveranstaltungen des BLSV vgl. Nicholas Steneck, Everybody Has a Chance. Civil Defense and the Creation of Cold War West German Identity, 1950–1968. Diss. phil. Columbus, Ohio 2005, 304–310. 2 Helfertag 64. Die große Leistungsschau des BLSV, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 2, 1964, 1. 3 Grünes Licht für den Zivilschutz, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1964, 2. 4 Steneck, Everybody Has a Chance, 58 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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teliste des Helfertags Hamburg, zu der neben Bundesinnenminister Hermann Höcherl erstmalig auch Bundeskanzler Ludwig Erhard zählte, sowie die Beteiligung des BLSV beim Hilfseinsatz während der norddeutschen Flutkatastrophe zwei Jahre zuvor. Bei der Flutkatastrophe in Hamburg war der BLSV mit geschätzten 5.000 Helfern5 die zahlenmäßig am stärksten vertretene Hilfsorganisation gewesen. Sein damaliger Hauptaufgabenbereich hatte darin bestanden, die aus allen Stadt­ teilen kommenden, freiwilligen Laienhelfer aufzufangen, mit passender Kleidung und Gerätschaften auszustatten und in die betroffenen Stadtteile zu transportieren. Außerdem hatte der BLSV die oftmals notwendige Kurzunterweisung der eingesetzten Laien durchgeführt und teilweise auch deren konkreten Einsatz (etwa für Räumarbeiten) im Katastrophengebiet geleitet. In einem späteren Erfahrungsbericht des BLSV zum Einsatz in Hamburg wurde die Fachkenntnis und Führungskompetenz der eigenen Mitglieder ebenso gelobt wie die Kooperation mit den anderen Hilfsorganisationen und der Bundeswehr, während man der Hamburger Stadtbevölkerung zwar große Hilfsbereitschaft, aber auch mangelhafte Kenntnisse in der Katastrophenabwehr attestierte, die durch möglichst flächendeckende Ausbildungen beim BLSV zu verbessern seien. Bemängelt wurde außerdem, dass die Katastrophenstäbe der zuständigen Behörden teilweise kaum etwas über Umfang und Einsatzbereitschaft des BLSV gewusst hatten und dieser deshalb  – im Gegensatz zu Feuerwehr, Technischem Hilfswerk (THW) und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) – erst verspätet über den notwendigen Einsatz informiert worden war. Für die Zukunft erhoffte man sich vor allem eine signifikante Verbesserung der viel zu zögerlich angeschafften technischen Ausstattung sowie die bundesweite, ständige Integration des BLSV in die zentralen, regionalen und örtlichen Katastrophendienststäbe, um im Katastrophenfall rechtzeitig den Auftrag zur Organisation und Leitung der Selbstund Nachbarschaftshilfe der Bevölkerung erhalten zu können.6 Trotz mancher Unstimmigkeiten war der eigentliche Einsatz des BLSV sowohl vom Verband selbst als auch von Politik und Öffentlichkeit im Nachhinein positiv bewertet worden. Ein Schlüsselbegriff der Selbstbeschreibung des 5 Die Zahl, die in der Zivilschutzliteratur zumeist angeführt wird, vgl. z. B.: Der Blick zurück. Ziviler Bevölkerungsschutz im Jahre 1962, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 12, 1962, 8. Das Technische Hilfswerk war mit ca. 1.100 Helfern (Herbert Dau, Sturmflut – in Hamburg, in: Das Technische Hilfswerk 3, 1962, 3) ebenso wie das Rote Kreuz mit 1.050 Helfern (Positive Kritik und Verbesserungsvorschläge der Helfer, in: Luftschutz-Rundschau 3, 1962, 4) deutlich weniger personenstark vertreten gewesen, während die Bundeswehr mit ca. 6.000 Soldaten allein im Hamburger Stadtgebiet mehr Personal eingesetzt hatte als alle Hilfsorganisationen: Vgl. Werner Eilers, Ablauf des Geschehens in Hamburg, in: Zivilschutz 6, 1962, 197. Zur Rolle der Bundeswehr vergleiche den Beitrag von Kehrt/Uhrig in diesem Band. 6 Erfahrungsbericht über Katastropheneinsätze des Bundesluftschutzverbandes, BArch B 106/51796. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 1: Einsatz des BLSV während der Flutkatastrophe. Durch die Auswahl der einzelnen Motive wird hier vor allem das Zusammenspiel zwischen schwer arbeitenden Helfern im Katastrophengebiet und einer professionell arbeitenden Einsatzleitung hervorgehoben (Quelle: Ziviler Bevölkerungsschutz 4, 1962).

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bundesdeutschen Zivilschutzes in diesem Zusammenhang war »Bewährung«. Dieser Ausdruck ist in der Zivilschutzpublizistik zur Sturmflut immer wieder an prominenter Stelle zu finden. In Ziviler Bevölkerungsschutz etwa lautet die Überschrift eines Artikels zur Flutkatastrophe schlicht »Die Bewährung«7 und an anderer Stelle wird behauptet, dass der BLSV »in dem schlimmsten Ernstfall des Notstandes einer Weltstadt eine große Bewährungsprobe ablegte und bestand.8« Gerade dieser erbrachte Beweis der eigenen Fähigkeiten ermutigte die Veranstalter des Helfertages im Jahr 1964 dann auch zu der Annahme, dass hinsichtlich der finanziellen Ausstattung und vor allem der Unterstützung des Zivilschutzes durch die bundesdeutsche Bevölkerung nun endlich ernsthafte Verbesserungen erzielt werden könnten. Die prestigeträchtige Präsenz Kanzler Erhards und seine dem gesamten Zivilschutz gegenüber sehr wohlgesonnene, von den 15.000 tatsächlich erschienenen Helfern des BLSV immer wieder mit begeistertem Applaus unterbrochene Eröffnungsrede9 schien diese Erwartungen zu unterstreichen. Katastrophen sind immer auch »Kommunikationsereignisse«10. Als belastende Extremsituationen verlangen sie nach verschiedenen Formen der sprachlich-kulturellen Verarbeitung. Ob das Katastrophengeschehen als göttliche Strafe, zu bestehende Prüfung oder einfach als grausamer Zufall verstanden und dargestellt wird, hängt stark von der betroffenen Gesellschaft und ihrer jeweiligen Art der Kommunikation ab. Die Untersuchung derartiger Selbstverständigungsprozesse liefert dabei weniger Erkenntnisse über das als »katastrophal« bezeichnete Ereignis als solches, sondern vielmehr über die Weltvorstellungen der Personen bzw. Personenverbände, welche jenes medial bearbeiten und sich gleichsam darum bemühen, es argumentativ in bestehende Sinnzusammenhänge einzuordnen. Da sich anhand der sprachlich-kulturellen Verarbeitung extremer Ereignisse das Spezifische unterschiedlicher Gesellschaftsformen gut untersuchen lässt, ist ein beachtlicher Teil  der aktuelleren Katastrophenhistoriographie epochenübergreifend und teilweise auch transdisziplinär ausgerichtet.11 Auffallend ist hingegen, dass trotz des generell üblichen Interesses der Geschichtswissenschaft an Institutionen und Institutionalisierungsprozessen gerade der institutionelle Katastrophenschutz – und damit auch der Zivilschutz – bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Dies mag 7 Der Blick zurück. Ziviler Bevölkerungsschutz im Jahre 1962, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 12, 1962, 8. 8 Helfertag 64. Die große Leistungsschau des BLSV, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 2, 1964, 2. 9 Zeichen echter Gemeinschaftsgesinnung, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1964, 1­ 0–12. 10 Kurt Imhof, Katastrophenkommunikation in der Moderne, in: Peter Rusterholz, Rupert Moser (Hrsg.), Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen. Bern (u. a.) 2004, 145–163. 11 Vgl. hierzu auch Text und Literaturangaben der Einleitung dieses Bandes. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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unter anderem damit zusammenhängen, dass die Erforschung des Zivilschutzes nach 1945 zumindest hierzulande insgesamt noch am Anfang steht.12 Obwohl zu seiner Bedeutung als mentalitätsgeschichtlich relevantes System des »Angstmanagements« während einer Epoche anhaltender, latenter (Atom-) Kriegsgefahr13 sowie zu seiner konkreten Primärfunktion als Teil  der Kriegs- und Verteidigungsplanung14 inzwischen erste Studien erschienen sind, steht eine eingehendere Beschäftigung mit seiner spätestens ab den sechziger Jahren an Bedeutung gewinnenden Sekundärfunktion im Rahmen des Katastrophenschutzes noch aus. Derartige Untersuchungen scheinen jedoch bestens dafür geeignet zu sein, Erkenntnisse über Prozesse der Normierung und Pragmatisierung von Extremereignissen zu liefern. Es wäre beispielsweise zu fragen, welche Katastrophenfälle im Rahmen des Zivilschutzes überhaupt antizipiert wurden, in welchem Umfang und mit welchem Aufwand man sich konkret auf sie vorbereitete und ob die Allgemeinbevölkerung in solche Planungen einbezogen wurde. Auch Mentalität und Formen der (Selbst-)Darstellung der hauptund ehrenamtlichen Mitglieder der Zivilschutzorganisationen scheinen untersuchenswert: Versuchten sie, sich über formalisierte Ausbildungswege sowie

12 Auf den Zivilschutz anderer Nationen, der sich in Planung, Umsetzung und Rezeption vom bundesdeutschen Zivilschutz teilweise drastisch unterschied, kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Einzelne Überblicksartikel finden sich in: Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg  3), Hamburg 2009. Zum Zivilschutz der DDR: Clemens Heitmann, Schützen und Helfen? Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90 (Militärgeschichte der DDR 12). Berlin 2006. Zum schweizerischen Schutzraumbau: Silvia Berger Ziauddin, »Wahre Schweizer Architektur ist unterirdisch«. Die Formation globaler Bunkerexpertise in der Schweiz des Kalten Krieges. Im Erscheinen. Zum schwedischen Zivilschutz: Marie Cronqvist, Survivalism in theWelfare Cocoon. The Culture of Civil Defense in Cold War Sweden, in: Annette Vowinckel, Marcus M. Payk, Thomas Lindenberger (Hrsg.), Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies. Oxford 2012, 1­ 91–209. Insgesamt besser erforscht ist der US-amerikanische Zivilschutz, vgl. z. B.: Kenneth Rose, One Nation Underground. The Fallout Shelter in American Culture. New York 2001; Tracy C. Davis, Stages of Emergency. Cold War Nuclear Civil Defence. Durham 2007; David Monteyne, Fallout Shelter. Designing for Civil Defense in the Cold War. Minneapolis 2011. Zum sowjetischen Zivilschutz ist nach wie vor nur wenig bekannt; vgl. jedoch Edward Geist, Was There a Real Mineshaft Gap? Bomb Shelters in the USSR, 1945–1962, in: Journal of Cold War Studies 14, 2, 2012, 3–28. 13 Vgl. Frank Biess, »Jeder hat eine Chance«. Die Zivilschutzkampagnen der 1960er Jahre und die Angstgeschichte der Bundesrepublik, in: Greiner u. a. (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, 61–93; Jochen Molitor, Mit der Bombe überleben. Die Zivilschutzliteratur der Bundesrepublik 1960–1964. Marburg 2011. 14 Vgl. Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952–1960 (Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland 1). München 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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über Sprache und Habitus als »Katastrophenexperten« zu etablieren?15 Wie gestaltete sich ihre Beziehung zu anderen, ebenfalls mit dem Katastrophenschutz befassten Expertengruppen (z. B. Feuerwehr, Polizei, Ärzteschaft) sowie zu den politischen Entscheidungsträgern? Und schließlich zwei zentrale Fragestellungen dieser Untersuchung: Mit welchen Gefahrenkonzepten arbeiteten sie und welche Weltvorstellungen lagen diesen Konzepten zugrunde? Wie versuchten sie, die Bevölkerung vom Sinn des Zivilschutzes zu überzeugen und zur ehrenamtlichen Partizipation zu bewegen? In Anlehnung an Konzepte der Argumentationsgeschichte sowie der Historischen Semantik16 soll es im Folgenden das Ziel sein, über eine Untersuchung der Sprache und der Argumentationsmuster Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Einrichtungen und Verbände des Zivilschutzes die Hamburger Sturmflut rezipierten, in welche Kontexte sie das Ereignis einordneten, welche Schlüsse sie daraus zogen und welche Mentalitäten und Befindlichkeiten diesen zugrunde lagen. Dies soll nicht nur eine thematisch fokussierte Analyse des bundesdeutschen Zivilschutzes zu einer Hoch- und Wendezeit ermöglichen, sondern auf einer generelleren Ebene auch verdeutlichen, wie eine Naturkatastrophe in ihrer Darstellung und Bewertung professions- und interessenspezifisch »bewirtschaftet«17 bzw. argumentativ genutzt werden kann. Nach einigen generellen Bemerkungen zum bundesdeutschen Zivilschutz konzentriert sich die Untersuchung auf die Auswertung der Zivilschutzliteratur der frühen sechziger Jahre, wozu neben der bereits erwähnten, an einen breiten Personenkreis gerichteten Verbandszeitschrift Ziviler Bevölkerungsschutz, auch Das Tech­ nische Hilfswerk als Verbandsschrift des THW, die privat herausgegebene Luft­ schutz-Rundschau sowie die eher wissenschaftlich ausgerichtete Fachzeitschrift Zivilschutz gehörten.18

15 Die Zahl soziologischer (und verstärkt auch geschichtswissenschaftlicher) Werke zum Typus des »Experten« und dessen gesellschaftlicher Funktion ist groß. Als Einführung siehe z. B.: Nico Stehr, Reiner Grundmann, Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern. Weilerswist 2010. 16 Vgl. z. B.: Heiner Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979, 43–74; Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987. 17 Imhof, Katastrophenkommunikation, 158. 18 Die Auflage der berücksichtigten Zeitschriften war – im Vergleich zu anderer Spezialliteratur – hoch (z. B. 100.000 Exemplare bei Ziviler Bevölkerungsschutz, vgl. Ziviler Bevöl­ kerungsschutz 5, 1964, 11), wobei ein großer Teil oft nicht frei verkauft, sondern an Verbandsmitglieder und/oder Einrichtungen der Politik, der Presse sowie andere, mit dem Zivilschutz befasste Organisationen versandt wurde. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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2. Der bundesdeutsche Zivilschutz: Entstehung, Organisation und Aufgaben Die in den sechziger Jahren zumeist noch synonym verwendeten Begriffe Luftbzw. Zivilschutz bezeichneten im weitesten Sinne Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung während eines gegnerischen Luftangriffs. Hierzu zählte neben der Errichtung geeigneter Bunkeranlagen und der Aufstellung von Zivilschutzhilfsdiensten19 auch die Ausbildung der Bevölkerung im sogenannten Selbstschutz, die beispielsweise Kenntnisse der Gefahrenortung, der Brand­ bekämpfung oder der Rettung Verschütteter vermitteln sollte. Der Zivilschutz war »ein genuines Kind des 20. Jahrhunderts«20. Er entstand aufgrund des Wandels der Kriegsführung während der beiden Weltkriege, die nicht nur zwischen Kombattanten, sondern auch als tendenziell »totale« ideologisch-wirtschaftliche Konflikte geführt worden waren. Gerade die dramatischen Entwicklungen des globalen Kalten Krieges während der frühen sechziger Jahre, vor allem die Berlin- (1961) und die Kubakrise (1962), machten dabei zusehends klar, dass ein vorstellbarer »heißer« Krieg zwischen den Supermächten USA und UdSSR mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Einsatz von Atomwaffen geführt werden würde. Von solchen Einsätzen wäre die Zivilbevölkerung schon aufgrund der kaum kontrollierbaren Waffenwirkung ebenso betroffen gewesen wie das Militär, was die Durchführung von Zivilschutzmaßnahmen in den Augen ihrer Befürworter umso dringlicher erscheinen ließ. Zusätzlich betrachteten die meisten Regierungen echte oder vorgetäuschte Maßnahmen zum Schutze ihrer Bürger als notwendige Ergänzung zur militärischen Rüstung, um im Rahmen atomarer Abschreckung der gegnerischen Seite die eigene Verteidigungsbereitschaft glaubhaft zu versichern. Damit verband sich allerdings die Gefahr, einen Atomkrieg führbarer erscheinen zu lassen, als er es wirklich war, und der jeweilige Gegner konnte Zivilschutzmaßnahmen stets auch als Kriegsvorbereitung interpretieren bzw. propagandistisch ausnutzen. Da der Zivilschutz im Gegensatz zu anderen, einen potenziellen Krieg vorbereitenden Maßnahmen zwingend auf die aktive Teilnahme der Bevölkerung vor allem im Selbstschutz angewiesen war, konnte er sich nie im Verborgenen abspielen. Er nimmt daher eine historisch interessante Position an der Schnittstelle zwischen

19 Für die Bundesrepublik ist hierbei neben dem ehrenamtlich organisierten THW vor allem die in den frühen sechziger Jahren geplante Aufstellung eines hauptberuflich organi­ sierten Zivilschutzkorps anzuführen. 20 Bernd Lemke, Zivile Kriegsvorbereitungen in unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftssystemen. Der Luftschutz im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, 68, in: ders. (Hrsg.), Luft- und Zivilschutz in Deutschland im 20. Jahrhundert (Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte 5). Potsdam 2007, 67–88. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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politischer Entscheidungsfindung, militärischer Eventualplanung und ziviler Gesellschaft im Kontext sich stetig wandelnder Bedrohungsszenarien ein. Vor dem Hintergrund der prekären Lage der Bundesrepublik als dicht be­ siedelter »Frontstaat des Kalten Krieges«21 wurde bereits seit den späten vierziger Jahren in kleineren Kreisen über die Wiederaufnahme von Zivilschutzmaßnahmen diskutiert.22 Nach Erlangung der (eingeschränkten) Souveränität am 5. Mai 1955 legte die Bundesregierung schließlich ein Zivilschutzprogramm vor, dessen Resultat das im Oktober 1957 unter Ausklammerung einer ursprüng­lich vorgesehenen Schutzraumpflicht für Neubauten verabschiedete »Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung« war. Auf dieser Grundlage wurde am 5. Dezember 1958 das dem Bundesministerium des Innern (BMI) unterstellte Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz (BzB)23 gegründet und am 14. Oktober 1960 der bereits seit 1951 existierende BLSV in eine Körperschaft des öffentlichen Rechts umgewandelt.24 Zu den Aufgaben des BzB zählten unter anderem die Ausbildung von Fachpersonal, die Errichtung eines Warndienstes samt umfangreichem Sirenensystem, die Vorratshaltung von Medikamenten sowie die Sichtung, Sanierung und Erprobung noch vorhandener bzw. neuer Bunkeranlagen. Darüber hinaus waren dem BzB als oberster Instanz sowohl das aus der ehemaligen Technischen Nothilfe entstandene THW25 als auch der Luftschutzhilfsdienst (LSHD) unterstellt, der im Ernstfall ehrenamtliche Helfer in verschiedenen Ressorts sowie eine entsprechende technische Ausrüstung bereitzustellen hatte und dessen Mitglieder sich zumeist aus den einzelnen Hilfsorganisationen (etwa dem THW oder den Feuerwehren) rekrutierten.26 Als Ergänzung zur Arbeit des BzB hatte der BLSV die Aufklärung, Ausbildung und Organisation der Bevölkerung im Selbstschutz durchzuführen, während eine vom BMI bereits 1951 eingesetzte, aus angesehenen Wissen 21 Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst: Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, 267, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 267–318. 22 Steneck, Everybody Has a Chance, 109–185. 23 Ausführlichere Informationen zur Geschichte des BzB sowie dessen Vorläufer- und Nachfolgeeinrichtungen liefert: Wolfram Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr. Zur Entwicklung der zivilen Verteidigung in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Zivilschutzes und seiner Reformen vor und nach Beendigung des Kalten Krieges. Diss. phil. Marburg 2003. 24 Ulrich Wegener, 10 Jahre Bundesluftschutzverband: Ein historischer Rückblick, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 11, 1961, 8 f. 25 BMI (Hrsg.), Weißbuch zur zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1972, 30 f. 26 Vgl. BzB (Hrsg.), Der Luftschutzhilfsdienst. Was er ist und was er will. Bad Godesberg 1961. Es waren vornehmlich die Fahrzeuge und Gerätschaften des LSHD gewesen, auf die der BLSV während seines Einsatzes bei der Hamburger Sturmflut zurückgegriffen und deren unzureichende Anzahl und Qualität er anschließend kritisierte hatte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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schaftlern verschiedener Fachrichtungen zusammengesetzte »Schutzkommission« der wissenschaftlichen Erforschung zivilschutzrelevanter Fragestellungen dienen sollte.27 Trotz dieser akribischen Organisation blieb der bundesdeutsche Zivilschutz umstritten. So betonten zwar alle politischen Parteien seine Bedeutung, forcierten jedoch nach einer These Wolfram Geiers den Ausbau »bestimmter Zivilschutzmaßnahmen« bewusst nicht, »um die generelle Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung […] als äußerst sensibles […] Druckmittel zu nutzen«28. Der kaum wahlkampfgeeignete Kostenfaktor eines umfassenden, staatlichen Schutzraumbauprogramms schien zudem kaum popularisierbar zu sein.29 Generell kann festgehalten werden, dass dem Zivilschutz – trotz zunächst durchaus vorhandener, oft jedoch rein passiver Unterstützung durch die Bevölkerung30 – stets das Stigma anhaftete, ein »heißes Eisen« zu sein, an dem man sich politisch nur verbrennen konnte. Diese Unpopularität resultierte vor allem aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, in dem nach Aussagen bundesrepublikanischer Zivilschutzexperten der Luftschutz durchaus erfolgreiche und lebensrettende Arbeit geleistet hatte.31 Die Bevölkerung erinnerte sich hingegen eher an das kata­strophale Scheitern jeglichen Luftschutzes während der vernichtenden Flächenbombardierungen Hamburgs oder Dresdens und nahm den bundesdeutschen Zivilschutz – auch aufgrund vielfacher personeller Kontinuitäten32 – oftmals als Relikt des NS -Regimes wahr. Die vom BzB durchgeführten Versuche einer Popularisierung des Zivilschutzgedankens etwa durch die massenhafte Versendung verschiedener Aufklärungsbroschüren »an alle Haushaltungen«33 der Bundesrepublik erzielten bestenfalls ambivalente Reaktionen,34 während die sich zu Anfang der sechziger Jahre verstärkt formierenden, oppositionellen Bewegungen den Zivilschutz zumeist als strikt abzulehnende Kriegsvorbereitung deklarierten und damit weiter unter Druck setzten. Zu Beginn der sechziger Jahre war der bundesdeutsche Zivilschutz vom Katastrophenschutz durch die jeweiligen Zuständigkeiten zumindest theoretisch 27 Steneck, Everybody Has a Chance, 125. 28 Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, 544. 29 Nicholas Steneck, Eine verschüttete Nation? Zivilschutzbunker in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1965, 82, in: Inge Marszolek, Marc Buggeln (Hrsg.), Bunker. Kriegsort, Zu­f lucht, Erinnerungsraum. Frankfurt a. M., 75–88. 30 Molitor, Mit der Bombe überleben, 75–83. Erwähnt werden muss hingegen die teils jahrelange, ehrenamtliche Tätigkeit hunderttausender Bundesbürger im BLSV, im THW, beim Deutschen Roten Kreuz und anderen direkt oder indirekt am Zivilschutz mitwirkenden Organisationen. Von einer »Generalverweigerung« der Bundesbürger kann also insgesamt keine Rede sein. 31 Ebd., 37–43. 32 Steneck, Everybody Has a Chance, 172 f. 33 BzB (Hrsg.), Jeder hat eine Chance. Bad Godesberg 1961. 34 Vgl. Biess, »Jeder hat eine Chance«, 82–88. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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klar getrennt: Während die Aufgabe des Zivilschutzes die Vorbereitung auf einen Verteidigungsfall war und daher in die Zuständigkeit des Bundes fiel, war der Katastrophenschutz Ländersache. Die tatsächliche Organisation des Katastrophenschutzes war jedoch aufgrund dieser Aufteilung oft schwer zu durchschauen.35 So kam beispielsweise die Bundesanstalt THW trotz ihres Zivilschutzhintergrundes im Rahmen der Amtshilfe häufig auch im Katastrophenschutz zum Einsatz. Gerade diese Verfügbarkeit des THW konnte umgekehrt aber dazu führen, dass die Länder eigene Investitionen auf dem eigentlich ihnen zugeordneten Gebiet des Katastrophenschutzes vernachlässigten. Die Unklarheiten und Überschneidungen in der Organisation des Katstrophenschutzes schienen jedenfalls den Hilfsorganisationen Gelegenheiten zu bieten, sich relativ fluide zwischen Zivil- und Katastrophenschutz zu positionieren. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass gerade der klar dem Zivilschutz zugeordnete BLSV in seiner Verbandszeitschrift die Hamburger Sturmflut deutlich häufiger thematisierte als die ihn eher betreffenden politischen Krisen der damaligen Zeit. Der eingangs geschilderte Helfertag Hamburg veranschaulicht die beinahe existentielle Bedeutung, die der BLSV der Symbolkraft seines Hilfseinsatzes während der Flutkatastrophe beimaß, obwohl dieser in keiner Weise seiner Kernaufgabe entsprochen hatte. Es drängt sich die These auf, dass sich der BLSV zu Beginn der sechziger Jahre gerade deshalb so massiv als Katastrophenschutzorganisation zu inszenieren suchte, weil er eben faktisch keine war und seine Entstehung nicht Sturmfluten und Erdbeben, sondern dem Kalten Krieg verdankte. Um die Art und Weise der sprachlich-argumen­tativen (und beim Helfertag Hamburg schließlich auch performativen) Versuche solcher Umdeutungen des ursprünglichen Auftrags des Zivilschutzes wird es im Folgenden gehen.

3. Die Rezeption der Sturmflutkatastrophe von 1962 in der bundesdeutschen Zivilschutzliteratur »Wohlstandsbürger« und »Idealisten«: Betroffene und Helfer der Flutkatastrophe In seiner Diskursanalyse der Presselandschaft nach der Hamburger Sturmflut36 hat Jens Ivo Engels verschiedene wiederkehrende Topoi und Argumentationsmuster herausgearbeitet. Hinsichtlich der Darstellung der Betroffenen erwähnt er zunächst die in kulturkritischer Tradition stehende, verbreitete Schilderung 35 Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, 69. 36 Zur Rezeption der Sturmflut durch die allgemeine Presse vgl. auch Blüthgen/Heßler in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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einer »Brüchigkeit des Alltags, der Technik und geregelter Abläufe«37, die fatale »Sorglosigkeit als Folge von Überheblichkeit«38 der städtischen Bürger gegenüber der Natur sowie die größere Resilienz der naturnäheren Landbevölkerung. Dem wurde zumeist die Betonung einer immer noch intakten gemeinschaftlichen Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenübergestellt.39 Ähnliche Darstellungsweisen finden sich auch in der Zivilschutzliteratur der damaligen Zeit, wenn auch interessenspezifisch fokussiert und adaptiert. In allen untersuchten Zeitschriften wird die Sorglosigkeit einer Bevölkerung kritisiert, die sich in der Katastrophennacht des 17. Februar 1962 nicht nur arglos schlafen legte, sondern auch gegebene Warnungen – soweit diese überhaupt vernommen wurden – nicht ernst nahm und weitgehend ignorierte.40 Als Ursache für dieses Verhalten führten die Zivilschutzexperten zumeist die Existenz einer übertechnisierten Lebenswelt und einen damit einhergehenden Niedergang natürlicher Überlebensinstinkte an.41 Da aber alle technischen und zivilisatorischen Errungenschaften oft genug machtlos gegenüber den Naturgewalten seien,42 müsse man sich vom »falschen Wahn« eines »verhängnisvollen Sicherheitsgefühls«43 abwenden. Gelegentlich attestierte man der Bevölkerung auch offene Bosheit, wobei insbesondere die Schilderung hinderlicher Schaulustiger eine Rolle spielte;44 generell dominierten jedoch Darstellungen einer gedankenlosen und zu sehr von ihren technischen Errungenschaften abhängigen Bevölkerung. Eine gute Zusammenfassung dieser Argumentationsmuster findet sich beispielsweise in Zivilschutz: »Je weiter sich die Technik entwickelt und je stärker die Menschen dann von ihr abhängig werden, umso weniger sind sie bereit, sich darüber Gedanken zu machen, was geschieht, wenn diese Technik einmal versagt. Der Instinkt für die Gefahr ist den Menschen schon lange abhanden gekommen. Bekanntlich schlägt die Mehrheit aller Menschen alle Mahnungen in den Wind.«45

37 Jens Ivo Engels, Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik, 122, in: Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 13). Tübingen 2003, 119–142. 38 Ebd., 126. 39 Ebd., 127. 40 Werner Eilers, Ablauf des Geschehens in Hamburg, in: Zivilschutz 6, 1962, 195. Vgl. dazu auch den Beitrag von Blüthgen/Heßler in diesem Band. 41 Die Zivilschutzexperten inszenierten den Zivilschutz demgegenüber häufig als unmittelbare, organisatorische Ausprägung solcher Überlebensinstinkte, vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, 47 f. 42 Katastrophen und ihre Lehren, in: Zivilschutz 6, 1962, 179. 43 Erich Hampe, Vorläufiger Erfahrungsbericht, in: Zivilschutz 6, 1962, 221. 44 Etwa in: Gerhard Roos, Die Erfahrungen, in: Zivilschutz 6, 1962, 214. 45 Werner Eilers, Ablauf des Geschehens in Hamburg, in: Zivilschutz 6, 1962, 199. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Teilweise wurden für das Fehlverhalten der Bevölkerung aber auch Gründe angeführt, die über rein technik- und kulturkritische Deutungsmuster hinauswiesen. Interessanterweise bezogen sich diese häufig auf den Zweiten Weltkrieg und eine daraus resultierende, passiv-fatalistische Lebenseinstellung. Man bemühte sich zumeist darum, der Bevölkerung gegenüber ein gewisses Verständnis aufzubringen, war doch »unter den bitteren Erfahrungen des Krieges, des Zusammenbruchs und der darauf folgenden Elendsjahre […] jeder mehr oder weniger darauf bedacht, sein eigenes Wohl in den Vordergrund seines Tun und Lassens zu stellen«46 Auch die Befunde des am 27. Februar 1962 vom Hamburger Senat in Auftrag gegebenen Sachverständigenberichts entsprachen in diesem Aspekt den Aussagen der Zivilschutzliteratur. Dort heißt es etwa in den Schlussbetrachtungen: »Die stundenlange Verkennung der Gefahr in Hamburg und die Beschränkung auf gewohnheitsmäßiges Denken und Handeln […] entspricht der Geistesverfassung, die heute vielfach in Westdeutschland vorherrscht. Bei uns hat sich nach dem Durchstehen des Zusammenbruchs von 1945 und in der Zeit des Wiederaufbaus eine Art seelischer Abschließung gegen die Gefahr herausgebildet. Sie mag aus der Gewöhnung an die Bedrohung stammen oder aus dem bloßen Bedürfnis, unbequemen Entscheidungen, Mühen und Vorkehrungen auszuweichen.«47

Die Schuld für das unvernünftige Verhalten der Bundesbürger wurde letztlich also weniger moralisch-sittlich verortet, als vielmehr durch die traumatische Erfahrung des Krieges begründet und als reversibles Phänomen charakterisiert. Hierdurch lassen sich auch die ebenfalls zahlreich zu findenden, scheinbar gegenläufigen positiven Schilderungen der Hilfsbereitschaft und des freiwilligen Einsatzes der Hamburger Bevölkerung erklären. Dabei wurde regelmäßig die Geschlossenheit betont, mit der sich die Menschen über alle generationellen, geschlechtlichen oder schichtspezifischen Grenzen hinweg zur Hilfe bereit erklärten. Ein interner Erfahrungsbericht des BLSV stellte beispielsweise heraus, dass unter den Laienhelfern »nahezu alle Berufsstände und Altersschichten, zum überwiegenden Teil Jugendliche (Studenten, Schüler, Handwerker und zahlreiche Ausländer) vertreten«48 gewesen waren. In einem Themenheft über Frauen im Zivilschutz wurde deren Einsatz besonders gewürdigt, wobei neben den tradierten Rollenmustern (»ureigenstes Gebiet« der Frau sei »der soziale Sektor«49) auch weniger eindeutig konnotierte Tätigkeiten wie das Bergen von Wasserleichen geschildert werden. Besonderes Lob erfuhr aber vor allem die zu 46 Julius Fischer, Nach zwölf Jahren. Rückblick und Ausschau, in: Das Technische Hilfswerk 8, 1962, 2. 47 Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverstän­ digenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe. Hamburg 1962, 70. 48 Erfahrungsbericht über Katastropheneinsätze des Bundesluftschutzverbandes, 3, BArch B 106/51796. 49 Erika Schoknecht, Frauen griffen herzhaft zu, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 9, 1962, 15. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Beginn der sechziger Jahre oftmals in der öffentlichen Kritik stehende Jugend.50 In mehreren Artikeln wird betont, dass man sich trotz gegenteiliger Vorurteile in entscheidenden Situationen auf die Jugend verlassen könne51 und »die Hilfsund Einsatzbereitschaft in viel größerem Umfang vorhanden ist, auch und besonders in der jungen Generation, als angenommen wurde.52« Die Jugend wurde somit als vom Krieg unbelastetes Vorbild präsentiert, das den traumatisierten, nach wie vor zu sehr auf sich bedachten »Wohlstandsbürgern« wieder die Sinnhaftigkeit alter Tugenden aufzuzeigen vermochte. Um diese ging es nämlich vielfach; man äußerte sich hoffnungsvoll darüber, dass die Katastrophe die Gesellschaft wieder zusammengeschweißt habe,53 »daß im Bürger des Wirtschaftswunders noch nicht der Mensch gestorben«54 und »das Gefühl für die Schicksalsgemeinschaft im deutschen Volk noch nicht verschüttet«55 sei. Die Darstellung der bundesdeutschen Bevölkerung während der Hamburger Flut wurde also trotz der breit geschilderten negativen Aspekte letztlich auch dazu benutzt, den Zusammenhalt zu stärken und der Leserschaft zu versichern, dass die ethischen Grundlagen der Bevölkerung trotz aller Widrigkeiten des Krieges intakt geblieben seien und lediglich eines externen Notzustandes zur Reaktivierung bedurft hätten. In einer in Ziviler Bevölkerungsschutz abgedruckten, auf dem Helfertag Hamburg gehaltenen Rede brachte dies auch der durch die Flut populär gewordene Hamburger Innensenator Helmut Schmidt zum Ausdruck: »Alles das waren für mich Zeichen, daß der moralische Kern dieses Volkes trotz all der Katastrophenjahre, durch die unser Volk seit 1914 gegangen ist – es waren kaum noch normale Jahre dazwischen […] – daß der moralische und sittliche Kern unseres Volkes trotz all dieser 50 Katastrophenjahre im Wesentlichen gesund ist.«56

Die Zivilschutzliteratur bediente sich also in ihrer Beschreibung der Hamburger Bevölkerung zumeist eines Narratives des Zusammenwachsens durch die 50 Der Jugend wurde z. B. häufig eine amerikanisch-individualistisch geprägte Konsumorientiertheit sowie mangelhaft ausgeprägter Gemeinschaftssinn vorgeworfen. Vgl. Kaspar Maase, Establishing Cultural Democracy. Youth, »Americanization«, and the Irresistible Rise of Popular Culture, in: Hanna Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968. Princeton/N. J. (u. a.) 2001, 428–450; Werner Faulstich, Die neue Jugendkultur. Teenager und das Halbstarkenproblem, in: ders. (Hrsg.), Die Kultur der fünfziger Jahre. München 2002. 51 Erich Hampe, Mahnruf und Warnruf bei Katastrohen, in: Zivilschutz 7/8, 1962, 228. 52 P. W. Nüßler, Konsequenzen in führungsmäßiger Hinsicht aus Erfahrungen im Katastrophenfalle, in: Zivilschutz 7, 1962, 231. 53 Roderich Lüttgen, Rotkreuz-Einsatz bei der Flutkatastrophe 1962, in: Zivilschutz 6, 1962, 211. 54 86 Dankmedaillen an BLSV-Helfer und -Helferinnen, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1963, 33. 55 Kurt Dobratz, Kritische Gedanken zur Organisation eines Katastrophenschutzes, in: Zivilschutz 6, 1962, 218. 56 Ehrung des freiwilligen Helfers, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1964, 18. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Herausforderung. Gerade die Beschwörung einer »Schicksalsgemeinschaft« erinnert dabei sprachlich klar an bekannte Topoi des Zweiten Weltkriegs bzw. der Vorkriegszeit, wenn auch zumeist ohne vergleichbar ideologisch-militaristische Konnotationen. Neben einer tatkräftigen Jugend dienten in der Zivilschutzpublizistik vor allem die Zivilschutzaktivisten selbst als größte Vorbilder: Sie hatten durch ihr ehrenamtliches Engagement schließlich bereits bewiesen, dass ihnen weder ein gesunder Überlebensinstinkt noch die klassischen Gemeinschaftstugenden abgingen. Konsequent und in vielfältigen Schattierungen werden die Zivilschutzhelfer als »aktive Idealisten in unserer ansonsten so viel geschmähten Zeit der Egoismen« beschrieben, die keinerlei Mühen scheuten und denen das »Helfenwollen und Helfenkönnen selbstlose humanitäre Verpflichtungen«57 seien. Das »Helfenkönnen« bezog sich dabei auch auf die perfekte Beherrschung technischer Gerätschaften. In scheinbarem Kontrast zu den technikfeindlichen Elementen der Darstellungen wurde regelmäßig hervorgehoben, dass man fachlich bestens ausgebildet sei und über umfangreiches technisches Wissen verfüge, um im Falle einer Katastrophe effektiv helfen zu können.58 Da sich solche Beschreibungen jedoch zumeist eher auf den Wert einer gründlichen Aus­bildung und Schulung beziehen als auf das eingesetzte Gerät selbst, halten sich erzähle­ rische Elemente echter Technikbegeisterung dennoch in engen Grenzen.59 Vielmehr werden die bereits genannten menschlichen Qualitäten, vor allem Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft, als zentrale Motive der Selbstbeschreibung aufgebaut. In dramatischen Worten und unter Verwendung militärischen Vokabulars wird die Härte des »schonungslosen Einsatzes« der Zivilschutzaktivisten beim »Kampf mit dem tückischen Element«60 beschrieben, wobei die Helfer konsequent alles Persönliche zurückstellen würden, um sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Angesichts einer als egozentrisch charakterisierten Zeit sei es umso wesentlicher, sich die Fähigkeit zu bewahren, selbst das eigene Leben notfalls für andere herzugeben. In einem kurzen Nachruf zum Gedenken an einen im Einsatz für Hamburg verstorbenen Helfer heißt es beispielsweise: »Die ideelle Einstellung und das Pflichtbewußtsein […] leben aber in seiner Familie fort. Nach seinem Tode stellten sich seine beiden Brüder ohne Zögern zur Durchführung weiterer Rettungsmaßnahmen dem THW zur Verfügung. Sie selbst füllten die schmerzliche Lücke, die der Tod ihres eigenen Bruders in den Reihen der THW 57 Grünes Licht für den Zivilschutz, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1964, 2 (beide). 58 Julius Fischer, Einsatz des Technischen Hilfswerks, in: Zivilschutz 6, 1962, 205. 59 Am ehesten trat Technikbegeisterung in Verbindung mit den zur damaligen Zeit noch neuartigen Helikoptern auf, die sich während der Hamburger Flut besonders bewährt hatten (vgl. z. B. Hans Drebing, Die Februar-Flut und der Einsatz von Hubschraubern, in: Zivilschutz 6, 62, 200–203). Auch hier lag der Fokus jedoch eher auf Beschreibungen ihres potenziellen humanitären Nutzens als auf den technischen Details. 60 Julius Fischer, 220.980 Arbeitsstunden, in: Das Technische Hilfswerk 6, 1962, 2 (beide). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Kameraden hinterließ. Möge dieser Geist, den uns unser toter Kamerad vorgelebt hat, in uns allen als ein leuchtendes Beispiel wachbleiben.«61

Hier und an vielen anderen Stellen der Zivilschutzliteratur treten traditionelle Heldenbilder der Kriegs- und Vorkriegszeit sowie die ihnen zugrunde liegenden, soldatisch geprägten Weltvorstellungen zutage. Die Sprache ist in unterschiedlichem Maße mit militärischen Begriffen durchzogen; so wird der Katastropheneinsatz gelegentlich als »Schlacht«62 zwischen mehreren »Fronten«63 beschrieben. Das erzählerische Element des selbstlosen Heldentods im Kampf gegen einen menschlichen Gegner wird jedoch seiner aggressiven Komponente weitgehend beraubt und zu einem »unbelasteten« Heldentod im karitativ motivierten Kampf gegen verursacherlose Naturgewalten umgedeutet. Passend dazu wurde oft betont, dass man trotz aller Härte des Einsatzes und der teils lebensgefährlichen Situationen, in die man sich begebe, keinen Dank für die geleistete Arbeit verlange (wenn auch gerade in der Verbandsliteratur vielfach gedruckte Danksagungen zu finden sind). Eine paradigmatische Darstellung hierzu findet sich in Ziviler Bevölkerungsschutz: »Viele Helfer sind selbst zum Umfallen erschöpft. Tief liegen die Augen in den Höhlen. Das Haar ist wirr, sie sind durchnäßt und verdreckt. Aber sie sind glücklich, helfen zu können. Früh am nächsten Morgen sind sie wieder dabei. […] Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft lassen sich nicht erzwingen. In Norddeutschland wurden diese edlen Eigenschaften durch die Not der Betroffenen wieder geweckt. Die vielen tausend Helfer, ob behördlich geführt oder aus eigener Initiative ihren Mitmenschen helfend, bleiben anonym. Man möchte ihnen danken, jedem einzelnen. Doch sie wollen keinen Dank. Das Leben der Geretteten […] ist ihnen Dank genug.«64

An dieser Stelle wird auch eine Brücke zu den Laienhelfern geschlagen, die sich (noch?) nicht zur Mitarbeit in einer der Hilfsorganisationen entschieden hatten. Sie alle dienten mit ihrem selbstlosen Einsatz nicht nur ihren Mitmenschen, sondern – durch die tatkräftige Demonstration bereits verloren geglaubter Tugenden – vor allem auch der Gemeinschaft als solcher. Gelegentlich wurde diese durchaus mit einem gewissen Stolz als demokratische Gemeinschaft beschrieben, denn gerade die »soziale Verhaltensweise«, die alle sich um den Zivilschutz bemühenden Staatsbürger zur Schau stellten, bilde »die Grundlage der Demokratie.65« Solche Bemerkungen finden sich zwar recht selten, verweisen aber gemeinsam mit den untersuchten sprachlichen Motiven klar auf das Bedürfnis, 61 Hemut Meier, Er gab sein Leben, in: Das Technische Hilfswerk 4, 1962, 4. 62 Günther Zaepernick, Sturmflut – In Niedersachsen, in: Das Technische Hilfswerk 3, 1962, 7. 63 Ebd., 5. 64 H. Freutel, Jederzeit einsatzbereit, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 3, 1962, 5. 65 Helmut Meier, Auszeichnung für Bremer THW-Helfer, in: Das Technische Hilfswerk 7, 1962, 10 (beide). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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traditionelle Wertvorstellungen mit der veränderten Lebenswirklichkeit in Einklang zu bringen. Es ist deutlich geworden, dass in der Zivilschutzpublizistik zwischen vorbildlichen Aktivisten, hilfsbereiten Laien und gänzlich Fehlgeleiteten unterschieden wurde. Die Grenze zwischen diesen Gruppen wurde jedoch als fließend dargestellt. Den passiven Bundesbürgern wurde oftmals Verständnis für ihren einstweiligen Unwillen zur Mithilfe entgegengebracht und gerade anhand des Beispiels einer aktiven Jugend wurde attestiert, dass die Zukunft der Bundesrepublik trotz der psychologischen Last der Kriegsvergangenheit durchaus auf einem soliden moralischen Fundament aufbauen könne. Dem Zivilschutz wurde über seine rein karitative Ausrichtung hinaus bescheinigt, eine integrative Wirkung auf die Gemeinschaft auszuüben und insgesamt ein Sammelbecken traditioneller Tugenden zu sein. Seine Einrichtungen und Verbände standen dabei prinzipiell jedem offen und diejenigen, die sich aufgrund der Sturmflutkatastrophe als freiwillige Laienhelfer gemeldet hatten, wurden in den Darstellungen der Zivilschutzpublizistik sprachlich geradezu vereinnahmt; da »Zivilschutz« mithin nur bedeuten würde, seinen Mitmenschen in Notsituationen selbstlos beizustehen, schien jeder, der dies tat, zumindest indirekt »dazuzugehören«. Sprachlich lehnte man sich dabei durch ein militärisch konnotiertes Vokabular, einen anti-individualistischen Tonfall sowie durch die Beschwörung traditioneller Heldenbilder häufig an althergebrachte Erzählmuster der Kriegs- und Vorkriegszeit an und deutete dabei deren ursprünglichen, ideologischen Hintergrund zu selbstlosem, humanitärem Engagement um.

»Mahnruf und Warnzeichen«66: Die Flutkatastrophe und ihre Lehren In Bezug auf katastrophale Ereignisse war der Erfahrungsraum der bundesdeutschen Bevölkerung während der frühen sechziger Jahre weniger von Naturkatastrophen als vom Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit dominiert. Anhand einer angespannten internationalen Lage und einer weitgehend als untragbar empfundenen nationalen Teilung scheint es plausibel, dass die Möglichkeit eines Krieges mithin auch ihren Erwartungshorizont67 prägte. Es ver 66 Erich Hampe, Mahnruf und Warnzeichen bei Katastrophen, in: Zivilschutz 7/8, 1962, 227. 67 Zu den Begriffen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, 359–375. Aus begriffsgeschichtlicher Perspektive ist auf die hohe Flexibilität des Begriffs »Katastrophe« hinzuweisen, der im Lauf der bundesdeutschen Geschichte zur Beschreibung des Zweiten Weltkriegs ebenso genutzt wurde wie zur Beschreibung befürchteter Atomkraftwerkunfälle. Der Begriff wurde also den gesellschaftlich antizipierten Bedrohungsmustern immer wieder angepasst und veränderte dabei grundlegend seine Bedeutung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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wundert also kaum, dass die mit dem Zivilschutz befassten Einrichtungen und Verbände die Erfahrungen der Flutkatastrophe als exzeptionelles Großschadensereignis auch für ihren eigentlichen Wesenszweck, die Verhinderung ziviler Verluste während eines Krieges, nutzbar zu machen suchten. Der Appell, die Sturmflut als »Testfall für den Kriegszustand«68 zu sehen, findet sich in der zeitgenössischen Zivilschutzliteratur häufig. Es fehle »eine nüchterne Projektion der Flutkatastrophe auf einen militärischen Ernstfall«, in dem »die Zerstörungen größer, der Hilfseinsatz der Bundeswehr nicht möglich und die Bevölkerung noch hilfloser wäre«69. Gefordert wurden nach derartigen Aussagen zumeist eine allgemein verbesserte, finanzielle Ausstattung des Zivilschutzes, der Beginn möglichst weitreichender Schutzraumbauprogramme, die Aufstellung eines spezialisierten Zivilschutzkorps sowie die zeitnahe Verabschiedung der Notstandsgesetze.70 In diesem Zusammenhang wurde häufig darauf hingewiesen, dass deren Fehlen die während der Flutkatastrophe agierenden Verantwortlichen oft zu rechtlichen Übertretungen gezwungen hätte.71 Gelegentlich wurde hiermit auch das bereits beschriebene Motiv des egoistischen »Wohlstandsbürgers« verknüpft. So wurde etwa kritisiert, dass ein uneinsichtiger Hamburger Bootsverleiher seine Boote nicht freiwillig zur Hilfe bereitgestellt habe und dass die erleichterte, legale Durchführung von Zwangsmaßnahmen für solche und andere Fälle dringend erforderlich sei.72 Vor allem verlangten die Zivilschutzexperten jedoch nach einer stärkeren Unterstützung des Zivilschutzes durch die Bevölkerung, wobei sogar über eine »SelbstschutzPflicht«, etwa zur obligatorischen Teilnahme an Selbstschutzkursen des BLSV, nachgedacht wurde.73 Generell sei die Flutkatastrophe als Mahnung für den energischen Ausbau des Zivilschutzes aufzufassen, »denn letzten Endes dienen alle in Begleitung von Naturkatastrophen vorzusehenden Schutzmaßnahmen dem in Not geratenen Menschen, und ist der Ernstfall die größte aller Katastrophen. Was hier an positiven – und auch negativen – Erfahrungen gewonnen werden konnte, kann dort vorbeugend verwertet werden.«74 Die in solchen Passagen zum Ausdruck gebrachte Nähe zwischen der Sturmflut und der sich hinter dem Begriff »Ernstfall« verbergenden Möglichkeit des Atomkriegs erscheint zumindest insofern konstruiert, als dass sich manche der 68 Engels, Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik, 124. 69 Bevorratung ist lebenswichtig, in Luftschutz-Rundschau 6, 1962, 1. 70 Gerhard Roos, Die Erfahrungen, in: Zivilschutz 6, 1962, 213. 71 Ähnlich äußerte sich auch der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt während einer Sitzung des Bundesinnenausschusses, vgl. Entwurf eines Gesetzes über das Zivilschutzkorps und über den Zivilschutzdienst; hier: Sitzung des Bundesinnenausschusses am 5./6. Mai in Hamburg, 14, BArch B 106/51796. 72 Gerhard Roos, Die Erfahrungen, in: Zivilschutz 6, 1962, 214. 73 Bevorratung ist lebenswichtig, in: Luftschutz-Rundschau 6, 1962, 1. 74 Katastrophen und ihre Lehren, in: Zivilschutz 6, 1962, 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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erfolgversprechendsten Gegenmaßnahmen kaum glichen. So ließ sich die im Zuge der Katastrophe vielfach geforderte Deichverstärkung relativ leicht umsetzen und war weder hinsichtlich ihrer Kosten noch hinsichtlich der politischen Implikationen etwa mit den von Zivilschutzverantwortlichen vehement geforderten Schutzraumbauprogrammen oder der Aufstellung umfangreicher, kasernierter Zivilschutzeinheiten vergleichbar. Lediglich bei den allgemeinen Vorkehrungen  – zum Beispiel bei der Alarmplanung oder der verstärkten Durchführung von Erster-Hilfe-Ausbildungen  – deckten sich die Lehren aus der Flutkatastrophe mit den Forderungen des Zivilschutzes.75 Die Zivilschutzbehörden und -verbände suchten die Nähe zum Katastrophenschutz gerade deshalb so sehr, weil dieser von Politik, Presse und Bevölkerung als unproblematisch angesehen wurde; die Maßnahmen zu seiner Verbesserung schienen ebenso sinnvoll wie erreichbar zu sein und waren gegenüber Vorwürfen der »Kriegstreiberei« gänzlich immun. In zahlreichen Variationen finden sich in der Zivilschutzliteratur dementsprechend sprachlich-argumentative Verknüpfungen zwischen der erlebten Flut und dem befürchteten Atomkrieg. In Zivilschutz etwa heißt es im Rahmen einer Würdigung der Vorzüge des Helikopters, dass es in Bezug auf die Nichtbenutzbarkeit der Straßen letztlich egal sei, »ob die Oberfläche überflutet oder ob sie radioaktiv vergiftet ist«76, und in der LuftschutzRundschau findet sich folgende Passage: »Der weitere Aufbau des zivilen Bevölkerungsschutzes […] muß schnell und energisch vorangetrieben werden, denn schon eine Flutkatastrophe könnte – falls einmal die Bundeswehr für Rettungsarbeiten nicht verfügbar sein sollte – an der Nordseeküste Ausmaße annehmen, die nur noch mit einer atomaren Zerstörung zu vergleichen sind. Den Gedanken, was geschieht, wenn man im Wortspiel für »Flutkatastrophe« einmal »Atombombe« einsetzt […], darf man beim heutigen Stand des Bevölkerungsschutzes […] gar nicht zu Ende denken.«77

Solche Argumentationen wiesen zwar nicht unberechtigt darauf hin, dass zahlreiche Maßnahmen des Katstrophenschutzes auch in einem kriegerischen Ernstfall menschliches Leiden lindern könnten. Gleichzeitig wurde jedoch der an sich unbekannte, kaum vorstellbare Schrecken des Atomkriegs in bekannte 75 Anzumerken ist hierbei, dass die Verantwortlichen des zivilen Katastrophenschutzes oft genug von bereits existierenden Alarmplänen überhaupt nichts erfuhren, da diese eben primär für den Verteidigungsfall vorgesehen waren und somit strenger Geheimhaltung unterlagen. Dies war auch während der Hamburger Flutkatastrophe teilweise der Fall gewesen. Vgl. hierzu etwa: Hamburg-Flut: Sturm statt Bombe, in: Der Spiegel 42, 1962 oder die Kritik Helmut Schmidts an dieser Praxis in: Entwurf eines Gesetzes über das Zivilschutzkorps und über den Zivilschutzdienst; hier: Sitzung des Bundesinnenausschusses am 5./6. Mai 1964 in Hamburg, BArch B 106/51796. 76 Erich Hampe, Überlegungen zum Luftschutzprogramm der Bundesregierung, in: Zivilschutz 3, 1962, 78. 77 Was hat uns die Katastrophe gelehrt?, in: Luftschutz-Rundschau 3, 1962, 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Erfahrungsmuster eingebettet und diesen in seinen präjudizierten Auswirkungen angeglichen. Das Genuine der Atomkriegsgefahr drohte sich in derartigen Vergleichen ebenso zu verlieren wie die Tatsache, dass Kriege, im Gegensatz zu Naturkatastrophen, von Menschen begonnen werden und demnach eben keine schicksalhaft hereinbrechenden Ereignisse darstellen. Die Zivilschutzliteratur verließ sich hingegen häufig auf eben diese Deutung. »Die Naturkatastrophe in der Nacht zum 17. Februar 1962 müsste jedem klargemacht haben, daß man sich gegen die unberechenbaren Naturgewalten schützen müsse«, heißt es etwa in Ziviler Bevölkerungsschutz, und »ebenso unberechenbar seien die Aktionen von Diktatoren«.78 Vergleichbare Erzählstrategien konnten in Deutschland auf eine lange Vergangenheit zurückblicken, und metaphorische Umschreibungen des Krieges als verursacherloses »Stahlgewitter« waren den Bundesbürgern bestens bekannt. Um vorhandenen Ressentiments einer Bevölkerung zu begegnen, die gegen reinen Katastrophenschutz nichts einzuwenden hatte, wurde seitens der Zivilschutzexperten also trotz vielfacher gegenteiliger Beteuerungen eine zeitweise euphemistisch anmutende Darstellungsweise verwendet, die den Atomkrieg mit eben den Katastrophenszenarien verglich, in denen die Zivilschutzverbände bereits effektive Arbeit hatten leisten können. Diese in der Zivilschutzliteratur so oft vorgenommene, argumentative Verknüpfung der Kriegsgefahr mit sonstigen, weniger ausweglos wirkenden Bedrohungen endete jedoch nicht beim Topos der Hamburger Sturmflut. Wie bereits angesprochen konzentrierte man sich in der Darstellung der Zielsetzungen des Zivilschutzes weitgehend auf positiv besetzte, karitative Aspekte zwischenmenschlicher Hilfe, während der militärische Hintergrund zeitweise kaum mehr eine Rolle spielte. Der zivile Bevölkerungsschutz habe »nichts mit Politik zu tun«, heißt es an einer Stelle in Ziviler Bevölkerungsschutz (obwohl er doch stets ein Politikum gewesen war), er sei vielmehr »selbstverständliche Notwendigkeit, eine karitative Aufgabe, auch im friedlichen Alltag oder in unvorhergesehenen Katastrophenfällen«.79 Die Luftschutz-Rundschau führt dazu aus: »Jeder Bürger auf dieser Welt wird hoffen, daß der Tag X nicht eintreten möge. Woran allerdings kein Mensch etwas ändern kann, sind die Naturkatastrophen. Hier hat sich bewiesen, daß die Helfer des Luftschutzverbandes schon wertvolle Arbeit geleistet haben. Denken wir an den Waldbrand in Kaldenkirchen-Venlo, an die Hamburger Flutkatastrophe. Täglich erleben wir Verkehrsunfälle. Oft sah man bei den helfenden Menschen das Abzeichen des BLSV (Bundesluftschutzverband).«80

An dieser und vielen vergleichbaren Stellen wurde der Zivilschutz sprachlich nicht nur mit dem Katastrophenschutz, sondern sogar mit der Unfallhilfe ver 78 Parade der Hilfsbereitschaft, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1962, 2. 79 Erika Schoknecht, Frauen griffen herzhaft zu, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 9, 1962, 15. 80 Selbstschutz auch in Friedenszeiten wertvoll, in: Luftschutz-Rundschau 9, 1963, 2. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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bunden – und selbst mögliche Anwendungsgebiete im Haushalt finden stellenweise in der Literatur Erwähnung,81 wenn hier auch zwischen den untersuchten Zeitschriften differenziert werden muss. Während die bisher identifizierten Topoi und Argumentationsmuster in allen untersuchten Zeitschriften anzutreffen sind, finden sich vergleichbare Einbettungen des kriegerischen Hintergrundes in einen allgemeinen, von Naturkatastrophen bis Haushaltsunfällen reichenden Gefahrenkontext in der Fachzeitschrift Zivilschutz seltener und in der Verbandsschrift des THW, Das Technische Hilfswerk, praktisch gar nicht. Zwar wird dort der Katastropheneinsatz ebenso wie in den anderen Zeitschriften als kriegerisch anmutender Abwehrkampf beschrieben – der angenommene Feind bleibt jedoch die Natur selbst. Weder finden sich forcierte Vergleiche zwischen der Sturmflut und einem vorstellbaren Verteidigungsfall, noch häufen sich Beteuerungen, dass die im THW erworbenen Fähigkeiten für »alles Mögliche« sinnvoll sein könnten. Sowohl die Mitglieder als auch die bundesdeutsche Bevölkerung mochten das THW aufgrund seiner vielfach geleisteten Einsätze im Katastrophenschutz tatsächlich bereits mehr als Katastrophen- denn als Zivilschutzorganisation wahrgenommen haben; es war daher auf rhetorische Umdeutungen wohl weniger angewiesen als der bereits aufgrund seines Namens »belastete« BLSV. Es mag den Zivilschutzverantwortlichen wegen der erwähnten, den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geschuldeten Skepsis der Bundesbürger notwendig erschienen sein, beständig aufzuführen, für was man den Zivilschutz auch brauchen konnte. Sein eigentlicher, prinzipiell keineswegs irrationaler oder unverständlicher Auftrag verlor sich hingegen zusehends in solch vielfältigen Umdeutungen sowie in Darstellungen des Aufgehens in Aufgaben, die genuin nicht die eigenen waren. Auch wenn der Einsatz des BLSV im Hamburger Katastrophengebiet erfolgreich verlaufen war  – konnte dessen Schilderung die Zeitgenossen wirklich vom Sinn des Zivilschutzes überzeugen? Mussten gehäufte Warnungen vor Naturkatastrophen sowie vor Verkehrs- und Haushaltsunfällen nicht weniger dem BLSV als vielmehr den »konkurrierenden« Hilfsorganisationen des Katastrophenschutzes oder der Unfallhilfe zugutekommen?

4. Noch einmal »Helfertag Hamburg« – Schlussbemerkungen Am Ende dieser Untersuchung lassen sich einige der Erwartungen und Hoffnungen, die die Zivilschutzaktivisten insgesamt und der BLSV im Besonderen mit der Ausrichtung des Helfertag Hamburg verbunden hatten, besser einord 81 Etwa in: Hedi Flitz, Klug und richtig handeln, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 9, 1962, 12; E. Szillat, »…dann dachte ich an meine Kinder«, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 2, 1962, 27. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 2: Ein Werbeplakat des BLSV für den Helfertag Hamburg. Die Darstellung der »helfenden Hände« sowie der Slogan »Selbstschutz will gelernt sein« betonen beide den karitativen Gedanke des Zivilschutzes. Lediglich der Name »Bundesluftschutzverband« selbst erinnert noch an den eigentlichen Hintergrund der Organisation: Kalter Krieg und (Atom-)Kriegsgefahr (Quelle: Ziviler Bevölkerungsschutz 5, 1964, 34).

nen. Es ging um die Rückkehr der ehemaligen Helfer in die Stadt, in der man sich vor über zwei Jahren während einer Flutkatastrophe bewährt hatte, welche man in den eigenen Printmedien seitdem beständig als atomschlagähnlich inszenierte. Im Umkehrschluss bedeutete dies natürlich, dass man sich als zumindest den in eigenen Planungen angenommenen räumlich und zeitlich begrenzten Atomwaffenangriffen ebenfalls gewachsen präsentierte, wenn auch erst bei entsprechend tatkräftiger Mitwirkung der Bevölkerung. Die eigene Leistung während der Flutkatastrophe verdeutlichte jedoch ebenso den friedens© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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zeitlichen Sekundärnutzen eines Zivilschutzes, der sich verstärkt vom kriegerischen NS -Luftschutz abzugrenzen suchte. Der Zivilschutz sollte als rein karitativ ausgerichtetes Sammelbecken staatsbürgerlichen Engagements auftreten und bei der Formung einer verantwortungsvolleren Gesellschaft mitwirken, die sich der Affirmation traditioneller, seit dem Zweiten Weltkrieg zu Unrecht diskreditierter Werte nicht mehr verschließen müsse. Die Anwesenheit und die Eröffnungsrede des Bundeskanzlers, eine ausführliche Presseberichterstattung sowie eine unüberschaubare Vielzahl angereister Helfer: Der Helfertag Hamburg war zweifellos ein großer Erfolg.82 Entschlossen suchte sich der BLSV  – und mit ihm das gesamte Zivilschutzprojekt  – als fest etablierte Einrichtung der jungen, demokratischen Bundesrepublik zu präsentieren: »Die ihn [den Zivilschutz] betreiben, sind nicht […] einige bedauernswerte und angesichts der nicht bestreitbaren Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln unbelehrbare Feuerpatschen-Ideologen, es sind rund 300.000 Frauen und Männer, die einem von allen Parteien des Bundestags angenommenen Gesetz zum Schutze der Zivil­ bevölkerung folgen und freiwillig und ehrenamtlich einer Organisation dienen, die für Kriegs- und Katastrophenfälle das Handwerk des Selbstschutzes lehrt. Diese Organisation ist die bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts ›Bundesluftschutzverband‹ mit ihrem aus der Resignation und der Bequemlichkeit aufrüttelnden Motto: Im Wohlstand an den Notstand denken!«83

Der Helfertag fand auf dem Heiligengeistfeld statt und damit in unmittelbarer Nähe der dort stehenden großen Flaktürme des Zweiten Weltkriegs – physisch wie psychisch schwer zerstörbare Mahnmale unrühmlicher Kriegserlebnisse.84 In seiner Rede erinnerte Innenminister Hermann Höcherl die Zuhörer an »das schwere Schicksal, das diese schöne, große und traditionsreiche Stadt im letzten Kriege und vor zwei Jahren in der Flutkatastrophe erlitten«85 hatte. Was der Luftschutz der NS -Zeit, trotz aller öffentlichen Kritik, den bundesrepublikanischen Zivilschutzaktivisten zufolge im Krieg geleistet hatte,86 das war ihnen selbst im friedenszeitlichen Einsatz während der Sturmflutkatastrophe gelungen. Der Zivilschutz riet nicht nur der Bevölkerung, das erlittene Trauma der eigenen Vergangenheit endlich abzustreifen – auch für den BLSV selbst war die öffentliche und von höchster Stelle erfolgte Bestätigung des eigenen Wirkens im 82 Steneck, Everybody Has a Chance, 312. 83 Helfertag 64. Die große Leistungsschau des BLSV, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 2, 1964, 1. 84 Nicholas Steneck, Hitler’s Legacy in Concrete and Steel, 69, in: Helmut Schmitz, Annette Seidel-Arpaci (Hrsg.), Narratives of Trauma. Discourses of German Wartime Suffe­ ring in National and International Perspective. Amsterdam, New York 2011, 59–73. 85 Zeichen echter Gemeinschaftsgesinnung, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 7, 1964, 13. 86 Vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, 37–43. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Schatten der alten Großbunker ein geradezu therapeutischer Akt: »Dieser Helfertag markiert das Ende eines alten und den Beginn eines neuen Abschnittes in der Geschichte des Bundesluftschutzverbandes.«87 Die dem Zivilschutz gegenüber vorgebrachten Bedenken bestanden jedoch fort. Es gelang seinen Einrichtungen und Verbänden nicht, sich sprachlich konsequenter vom ungeliebten Luftschutz des Zweiten Weltkrieges zu lösen.88 Die Verwendung teilweise martialisch anmutender Motive der Todesverachtung und des Opfermuts passte wenig zu der behaupteten, rein humanitär-karitativen Ausrichtung; gerade die Sprache der Zivilschutzexperten avancierte folgerichtig zur gerne verwendeten Argumentationsbasis der dem Zivilschutz ablehnend gegenüberstehenden Friedensaktivisten. Die Einrichtungen und Verbände des Zivilschutzes setzten zudem immer stärker auf eine Informationsstrategie, die den Atomkrieg als eine von vielen Gefahren präsentierte, unmerklich eingebettet zwischen Natur- und sonstigen großen wie kleinen »Katastrophen«. Vor allem in diesem Zusammenhang blieb die Hamburger Sturmflut auch in späteren Jahren ein allgegenwärtiges Motiv der Zivilschutzliteratur. Unter anderem fand sie auch in der zweiten bedeutenden Aufklärungsbroschüre des BzB, der Zivilschutzfibel, in einer »Zwischenbemerkung« Verwendung, die vorgeblich »nichts, aber auch gar nichts mit Krieg zu tun«89 hatte, während einige Seiten zuvor noch die Wirkungsweise einer Atombombe erklärt worden war. In dieser mit einem Verkehrsunfallfoto illustrierten »Zwischenbemerkung« wird die ganze Bandbreite des vorstellbaren Sekundärnutzens einer umfassenden Selbstschutzausbildung aufgeführt (Abb. 3). Eine solche Darstellungsweise des Zivilschutzes als für alles Mögliche nützliche, unpolitische Karitas sowie der Verweis auf den »Sieg« des Zivilschutzes während der norddeutschen Flutkatastrophe mochte tatsächlich manchen Ressentiments entgegenwirken. Ob sich die Einrichtungen und Verbände des Zivilschutzes mit diesem sprachlich-argumentativen Abrücken von ihren eigentlichen »Kernkompetenzen« langfristig einen Gefallen taten, scheint aufgrund später zu beobachtender Entwicklungen zumindest fraglich zu sein. An der weltweit einsetzenden Entspannungspolitik der späten sechziger Jahre kam auch der Zivilschutz als der politischen Wetterlage zumeist recht sensibel folgendes Programm90 nicht vorbei und manche Hoffnungen des Helfertages wurden am Ende schlicht von der Realität eingeholt. Das Gesetz über die Erweiterung des Katastrophenschutzes von 1968 verband Zivil- und Katastro 87 Dietrich Rollmann, Das eindrucksvolle Zeugnis, in: Ziviler Bevölkerungsschutz 9, 1964, 1. 88 Vgl. Molitor, Mit der Bombe überleben, 37–43. 89 BzB (Hrsg.), Zivilschutzfibel. Informationen, Hinweise, Ratschläge. Bad Godesberg 1964, 23. 90 Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr, 554. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Abb. 3: In dieser »Zwischenbemerkung« der 1964 veröffentlichten Zivilschutzbibel wird der Nutzen des Zivilschutzes für eine ganze Reihe möglicher Szenarien hervorgehoben. Dabei ist von Sturmfluten und Haushaltsunfällen die Rede, während die Kriegsgefahr nur in distanzierter Form Erwähnung findet. (Quelle: Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz [Hrsg. im Auftrag des BMI], Zivilschutzfibel. Informationen, Hinweise, Ratschläge. Bad Godesberg 1964, 23).

phenschutz schließlich formell miteinander,91 während zeitgleich der BLSV in »Bundesverband für den Selbstschutz« umbenannt wurde. Der weitere Aufbau des Zivilschutzes stand ganz im Sinne eines bereits im Zusammenhang mit der Sturmflutkatastrophe sichtbar gewordenen »Doppelnutzens« des Zivilschutzes.92 Es wurde weitgehend die Entwicklung forciert, die bereits im offiziellen Bericht des Sachverständigenausschusses zur Hamburger Flutkatastrophe verlangt worden war: »Trotz der verschiedenen Rechtsgrundlagen liegt es deshalb nahe, Katastrophenschutz und Zivilen Bevölkerungsschutz organisatorisch so zu gestalten, daß die Maßnahmen des Zivilen Bevölkerungsschutzes auch dem Katastrophenschutz im Frieden dienlich sein können, im Verteidigungsfall dagegen der Zivile Bevölkerungsschutz auf dem Katastrophenschutz aufbauen kann.«93 91 Ebd., 553. 92 Vgl. ebd., 197–221. 93 Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverstän­ digenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe. Hamburg 1962, 66. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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Diese Ausrichtung des Zivilschutzes auf den Katastrophenschutz bedeutete de facto das Ende genau der Programme, auf deren Realisierung die bundesdeutschen Zivilschutzexperten jahrelang gedrängt und hingearbeitet hatten. Vor allem war es das Schutzraumbauprogramm, welches über keinerlei Sekundärnutzen für den Katastrophenschutz verfügte und das von den Zivilschutzverantwortlichen doch stets als absolut unersetzlich deklariert worden war: »Ohne Schutzraum gibt es nun einmal kein luftschutzmäßiges Verhalten und selbst die beste Organisation müßte ohne dieses Rückgrat im Theoretischen steckenbleiben.«94 Es ist festzuhalten, dass die Erfahrung und die Rezeption der Hamburger Flutkatastrophe zwar durchaus den Ausbau und die Professionalisierung des bundesdeutschen Katastrophenschutzes förderte; der bundesdeutsche Zivilschutz hatte mit seinem Einsatz während der Flut hingegen bereits den Zenit seiner Bedeutung erreicht, wenn er auch im Zuge des sich verschlechternden internationalen Klimas gegen Ende der siebziger Jahre wieder verstärkt wahrgenommen (und kritisiert) wurde.95 Seine Einrichtungen und Verbände mussten sich in Organisation und Zielsetzung dem Katastrophenschutz fortan mehr oder weniger radikal anpassen oder waren dazu verdammt, weiterhin ein Nischendasein zu führen. Auf eine ausreichende Finanzierung seines zentralen Vorhabens, der Bereitstellung umfassender und wirksamer Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung im Falle eines Krieges, mussten die Zivilschutzexperten jedenfalls ebenso vergeblich warten wie auf die lang ersehnte, breite Unterstützung der Bevölkerung.

94 Sautier, Der Weg des BLSV, in: Zivilschutz 2, 1961, 47. 95 Claudia Kemper, Atomschlag und Zivilschutz. Vorbereitungen auf den Ernstfall in Politik und Wissenschaft, in: Christoph Becker-Schaum, Philipp Gassert, Martin Klimke u. a. (Hrsg.), »Entrüstet Euch!« Nuklearkrise, Nato-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Paderborn 2012, 309–324. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

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»Angenommen es wird [heute] aufgerufen zur Evakuierung, weil Wilhelmsburg even­ tuell unter Wasser gehen könnte. Dann versucht jeder auf seine Art seine Haut zu ret­ ten […] oder sein Hab und Gut zu retten, zu dem allererstes das Auto gehört. Ich hab das erlebt 1962, dass die Leute, die überhaupt nicht weg mussten, die keinen nassen Fuß gekriegt haben, weg wollten. Und das Denken hat sich meiner Meinung nach nicht ge­ ändert. D. h. sie würden alle versuchen irgendwie aus Wilhelmsburg rauszukommen. Welche Möglichkeiten gibt es? Über die Norderelbe über die Autobahn, nach Süden gibt’s die Reichsstraße und die Autobahn […] und nach Osten und Westen gibt es nichts. D. h. ich sag mal 20.000 Menschen, das ist die Hälfte der Einwohnerzahl Wilhelmsburg, wollen oder versuchen auf fünf Wegen rauszukommen aus Wilhelmsburg. Das gibt an bestimmten Stellen Staus. Angenommen […] und da geht dann nichts mehr weiter […] in dem Augenblick tritt dieser Fall ein vor dem gewarnt wird […] die Leute versaufen doch in den Autos. Das möchte ich mir nicht vorstellen.« Videointerview Marco Kreutzer mit Hans-Heinrich-Hofmann, Quarrendorf, 22. Juni 2012. Hans-Heinrich Hofmann ist gebürtiger Wilhelmsburger, geboren 1943. Er lebte 51 Jahre auf der Elbinsel. Er war Landwirt und engagierte sich ehrenamtlich im Deichverband. Sein Vater war ehemaliger Deichgeschworener in Wilhelmsburg. Mit 24 Jahren, also 1967, nahm Hoffman im Wilhelmsburger Deichverband das Amt eines Funkers wahr. 1975 wurde er Deichgeschworener des Bezirks 6 in Wilhelmsburg. Er erlebte die Sturmflut 1962 in Wilhelmsburg.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168

Dank

Dieser Band basiert auf einer Tagung, die im Kontext der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Hamburger Sturmflut im Museum für Hamburgische Geschichte stattfand. Wir danken Prof. Dr. Lisa Kosok ganz herzlich für die Kooperation und für die Möglichkeit, im Museum tagen zu können. Zu danken haben wir auch der Schimank-Stiftung für die Finanzierung der Tagung. Ein herzlicher Dank geht zudem an die Herausgeber der Reihe »Umwelt und Gesellschaft« des Rachel Carson Centers für die Annahme des Bandes sowie instruktive Kritik und Hinweise. Schließlich möchten wir Sara Ziaabadi für ihre sorgfältige und engagierte Arbeit bei der Erstellung dieses Bandes danken.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525317167 — ISBN E-Book: 9783647317168