Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo nach Wesen, Inhalt und Grenzen, unter dem geschichtlichen, psychologischen und dogmatischen Gesichtspunkte prinzipiell untersucht [Reprint 2019 ed.] 9783111665498, 9783111280783

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Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo nach Wesen, Inhalt und Grenzen, unter dem geschichtlichen, psychologischen und dogmatischen Gesichtspunkte prinzipiell untersucht [Reprint 2019 ed.]
 9783111665498, 9783111280783

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: Jesu prophetische Offenbarung im allgemeinen
I. Jesus der ideale Prophet
II. Ableitung der religiösen Unfehlbarkeit der Gottesoffenbarung Christi aus seiner sittlichen Fehllosigkeit
III. Inhalt und Form der Gottesoffenbarung in Jesu Christo im allgemeinen
IV. Die Offenbarung Jesu und ihre Grenzen in seiner Stellung zur zeitgenössischen Theologie
Schluss

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Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

Die

Gofctesoffenbarung in Jesu Christo nach Wesen, Inhalt und Grenzen, unter dem geschichtlichen, psychologischen und dogmatischen Gesichtspunkte prinzipiell

untersucht

von

Dr. Paul

Schwartzkopff

Professor in Wernigerode.

Giessen J. R i c k e r ' s e h e

Buchhandlung

1896.

Alle Kechte

vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Vorwort Einleitung: Jesu prophetische Offenbarung im allgemeinen . Ihr Verhältnis zu Traum und Vision

.

I. Jesus der ideale Prophet 1. Als Priester 2. Als König 3. Als Sündloser II. Ableitung der religiösen Unfehlbarkeit seiner Gottesoffenbarung aus seiner sittlichen Fehllosigkeit III. Inhalt und Form seiner Gottesoffenbarung im allgemeinen . 1. Die Grundoffenbarung: Jesu (religiöse) Gottessohnschaft . 2. Die abgeleiteten Offenbarungen über Gottes a l l g e m e i n e Vaterliebe und die eigene Siindlosigkeit, sowie über seine Stellung als Heilsmittler 3. Seine Gottesoffenbarung als Inhalt seiner Predigt, im Gegensatz zum alttestamentlichen Prophetentum . . . . 4. Die Form seiner Gottesoffenbarung als Massstab für die Kritik der heiligen Schrift IV7. Die Offenbarung Jesu und ihre Grenzen in seiner Stellung zur zeitgenössischen Theologie 1. In bezug auf die heilige Schrift Vorbemerkung über Jesu geographischen Gesichtskreis a) Jesus und die Inspiration der heiligen Schrift . . . b) Jesu Stellung zu den geschichtlichen Bestandteilen des Alten Testaments im allgemeinen c) Jesus und der alttestamentliche Wunderglaube . . . d) Jesus und die prophetische Weissagung und Erfüllung e) Jesus und die zeitgenössische Auslegungsmethode . . 2. In bezug auf die Grundgedanken der pharisäischen Lehre vom Vollendungsreiche

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a) Das Vollendungsreich in der zeitgenössischen Anschauung et) Die alttestamentliche Grundlage der Anschauung vom messianischen Reiche ß) Die zeitgenössische und pharisäische Anschauung vom Vollendungsreiche im allgemeinen Y) Die jüdische, insbesondere pharisäische Anschauung von der Auferstehung 8) Die jüdische, insbesondere pharisäische Anschauung vom jüngsten Gericht und ewigen Lose der Menschen b) Jesu allgemeine Stellung zum Gottesreiche und die Thatsache seines Messiasbewusstseins a) Der messianische Anspruch Jesu ß) Jesus kein Messias eines rein äusseren Weltreiches Y) Jesus der Bundesengel S) Jesus der Menschensohn e) Die Entstehung des messianischen Bewusstseins Jesu c) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung von der Auferstehung d) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung vom jüngsten Gericht e) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung vom ewigen Lose der Menschen Schluss

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Vorwort. Hiermit übergebe ich den letzten Teil des ursprünglich einheitlichen grösseren Werkes der Öffentlichkeit. Es enthält den eigentlichen Kern desselben und führt daher auch seinen Titel. Da die andern Teile sich auch zu kleineren selbständigen Ganzen umgestalten liessen, insofern sie Voraussetzungen oder Konsequenzen dieser Hauptschrift darstellen, so habe ich sie unter den Überschriften „Die Weissagungen Jesu Christi von seinem Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft",*) „Konnte Jesus irren?"**) und „Die prophetische Offenbarung", 1896***) vorher als Einzelschriften erscheinen lassen. Wegen der engen Zusammengehörigkeit dieser Schriften habe ich nicht unterlassen, wo es erforderlich oder wünschenswert war, stets an geeigneter Stelle von der einen auf die andere zu verweisen. So ist es mir möglich geworden, ohne mich wiederholen zu müssen, den betr. Gegenstand allseitig zu begründen und zu beleuchten. Natürlich ist daher auch ein unif a s s e n d e s Urteil Uber die einzelnen Schriften nur von demjenigen zu gewinnen, welcher den Uberblick über das Ganze besitzt. Indes schädigt der angegebene Zusammenhang dennoch die selbständige Bedeutung der einzelnen Schriften nicht, da ich diesen im wesentlichen ihre eigene Grundlage gegeben habe. Ein kleineres Teilstück, „Die Siindlosigkeit Jesu Christi", ist im Dezemberheft 1895 von Zöcklers „Beweis des Glaubens" erschienen.f) Wenn es alle diese Schriften mit einer psycho*) Bei Vaudenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1895. **) J. Rickersche Buchhandlung, Giessen 1896. ***) In demselben Verlage, t) „Jesu Dämonen- und Teufelsglaube" wird, wie ich hoffe, demnächst an andrer Stelle veröffentlicht werden.



VIII



logischen Untersuchung des inneren Lebens Jesu als des Entstehungsortes und Empfängnisvermittlers der zentralen Gottesoffenbarung zu thun haben, so legt die Schrift „Konnte J e s u s irren? : ' die unentbehrliche rein anthropologische Grundlage; „Die prophetische Offenbarung" weist Wesen, Entstehung, Inhalt und Grenzen dieser Gottesoffenbarung im allgemeinen an dem klassischen vorchristlichen Repräsentanten der letzteren, dem alttestamentlichen Prophetentum, nach; „Die Weissagungen J e s u Christi von seinem Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft" zeigen die Gottesoffenbarung in Christo in ihrer konkreten Ausgestaltung zu Bildern, in denen sich sein eigenes und seines Reiches Vollendungsgeschick für ihn abspiegelt. Sie selbst sind aber wiederum nichts anderes als auf die Zukunft gerichtete Anwendungen der wesentlichen ursprünglichen Gottesoffenbarung, welche das Geistesleben Jesu Christi selbst mit seinem Heilsgehalt erfüllt und ihn zum ewigen Mittler des vollkommenen Heiles für die Welt macht. Die Darlegung dieses unfehlbaren göttlichen Gehaltes wird stetig in der Weise vollzogen, dass er gegenüber seiner menschlich und zeitgeschichtlich bedingten Form näher bestimmt und abgegrenzt, von ihr geschieden und unterschieden wird. Damit ergiebt das Ganze die Beleuchtung aller wesentlichsten Punkte der gesamten Christologie unter dem Gesichtspunkte der Gottesoffenbarung nach Wesen, Inhalt und Grenzen. Möchte auch mein Versuch die Erkenntnis fördern, dass nur auf psychologischem Wege eine exakte und lebensfrische Kenntnis des gotterfüllten Innern unseres Heilands von dem gläubigen und denkenden Christen gewonnen werden kann, und dass jetzt die Zeit gekommen ist, wo die Theologie die Psychologie als Hilfswissenschaft in ihren Dienst nehmen muss. Damit wird sie zugleich vor der Gefahr geschützt werden, über dem Erforschen geschichtlicher Einzelheiten den Gesamt- und Tiefblick für die gottmenschliche Persönlichkeit J e s u Christi zu verlieren. Gott gebe, dass auch dies Büchleinn zur Erkenntnis der in seinem Sohne beschlossenen unerschöpflichen göttlichen Wesenstiefe in menschlicher Gestalt einen kleinen Teil beitrage! W e r n i g e r o d e , im März 1896.

Einleitung. Jesu prophetische Offenbarung im allgemeinen. Unter der Gottesoffenbarung in Jesu Christo versteht man seit Schleiermacher vielfach diejenige, welche sich vermittelst der Person und des Werkes Christi den M e n s c h e n darstellt. Für mich jedoch handelt es sich um die Offenbarung Gottes in Jesu I n n e r e m , welche jene sogenannte „geschichtliche" Offenbarung für die Welt bedingt und begründet. Die o b j e k t i v e Offenbarung steht überall da im Vordergrunde, wo der letzte Zweck der Erscheinung Jesu, seine Bedeutung für das Heil der Menschheit, unmittelbar in frage kommt. Dagegen liegen dieser Schrift vor allem die s u b j e k t i v e n Gründe und Bedingungen am Herzen, welche Jesum zu seinem Heilandsberufe befähigten, und ohne welche eine Erlösung der Welt unmöglich war. Hier ist der schöpferische Quell, Herd und Mittelpunkt der Offenbarung überhaupt. Hätte sich Gott nicht in einzigartiger Weise in Jesu H e r z e n offenbart, dann konnte dieser auch nicht die einzigartige Offenbarung f ü r d i e W e l t sein.*) Freilich ist eine solche Untersuchung der i n n e r e n Offenbarung eine mögliche Aufgabe nur. soweit diese der Forschung zugänglich ist. Dies muss aber bis auf einen gewissen Grad der Fall sein. Das folgt schon daraus, dass das Seelenleben Jesu ein wahrhaft m e n s c h l i c h e s ist. Sofern nun das innere Leben sich ä u s s e r t , sind Rückschlüsse auf die U r s a c h e n dieser Äusserungen und den I n h a l t dessen, *) Da für mich die das Thema meiner Schrift bildende Offenbarung, welche von Gott an Christus ergeht, zwar zugleich überweltlich, aber durchaus seelisch vermittelt ist und eben als solche voll und ganz i n J e s u H e r z e n stattfindet, so konnte dies nur durch den vorstehenden Titel treffend ausgedrückt werden; die Fassung ,.Gottesoffenbarung a n Jesum Christum" würde zu i i u s s e r l i c h sein. S c h w a r t z k o p f f , Die üottcsotfenbaruug in Jesu Christo.

1

2 was sich äussert, möglich. Wer die Reinheit, Heiligkeit und Liebe Jesu, genug die Göttlichkeit seines Personlebens, anerkennt, hat thatsächlich diese inneren Eigenschaften aus ihren geschichtlichen Äusserungen erschlossen. Er hat also ohne nähere Begründung und Bestimmung kein Recht, die Erkennbarkeit der Beziehungen seines inneren Lebens in seelischer, sittlicher, religiöser Hinsicht abzuweisen. Auch die „Heilsthatsachen", z. B. Jesu Tod und Auferstehung, gewinnen d a d u r c h ihre r e l i g i ö s e Bedeutung, dass in ihnen der sittlich-religiöse G e h a l t d e s i n n e ren L e b e n s oder ihre im H e r z e n Jesu begründete Zweckbeziehung auf das Heil der Menschen zum Ausdruck kommt. Es herrscht in unserer Zeit, welche an die geschichtlichen Erscheinungen immer noch zu sehr den bloss äusseren und noch nicht hinreichend zugleich den p s y c h o l o g i s c h e n Gesichtspunkt anlegt, die Neigung, auch die prophetische Offenbarung, welche sich nicht gänzlich von a u s s e n her sicher stellen lässt, deshalb in ihrer o b j e k t i v e n Thatsächlichkeit nicht hinreichend zu würdigen. Dies zeigt sich schon auf alttestamentlichem Gebiete. So meint man, die Weissagungen der Propheten Israels nicht in ihrem Charakter als wirkliche Gottesoffenbarungen bewähren und dem Zweifel der Kritik entrücken zu können. Nun kann ja freilich ein befangener Krittler mehr anzweifeln, als zehn besonnene Forscher festzustellen vermögen. Einer nicht voreingenommenen Prüfung, welche den rechten Weg einschlägt, werden sich aber (loch wirkliche geschichtlicheThatsachen auch in dieser Richtung als solchc ausweisen. Was z. B. die Weissagungen eines Jesaia betrifft, so lässt sich der Cyklus seiner Prophezeiungen wider Sanherib im w e s e n t l i c h e n ebensogut als geschichtlich feststellen und ihre wirkliche Erfüllung zeigen, als sich etwa die Vorhersagungen Geibels von der Neuschöpfung des Deutschen Reiches und deren Eintreffen aus Dichtung und Geschichte belegen lässt. So wird der nüchterne Geschichtsforscher nicht umhin können, eine Ahnung des Propheten von zukünftigen Dingen als eine g e s c h i c h t l i c h e T h a t s a c h e anzuerkennen. Nun muss man aber bei den echten alten Propheten die unerschütterliche und g e w i s s e n s r e i n e U b e r z e u g u n g derselben hinzunehmen, dass, was sie als solchen Gehalt ihrer Weissagungen verkündigen, das Wort G o t t e s s e l b e r sei. Man muss beachten, dass sie sich bewusst sind, diese Worte nur

als Gottes Werkzeuge zu reden, und dass sie dessen Auftrag-, zum T r o t z aller Welt und nicht zuletzt i h r e m e i g e n e n W u n s c h und W i l l e n , unter einem unwiderstehlichen inneren Z w a n g e , auf die Gefahr selbst des Todes hin, vollziehen. Angesichts dieser inneren T h a t s a c h e n d e s S e l b s t b e w u s s t s e i n s lauterer, für das Wohl ihres Volkes sich hinopfernder Persönlichkeiten wird demnach der vorurteilslose Historiker genötigt sein, eine innerseelische Offenbarung des tiefsten Lebensgrundes anzuerkennen; der g o t t e s g l ä u b i g e Forscher aber wird hierin die Offenbarung G o t t e s als eine geschichtliche T h a t s a c h e i n n e r e r E r f a h r u n g bewährt finden. Diese selben geschichtlichen Beweismittel stehen nun der unbefangenen Forschung in noch vorzüglicherem Masse Jesu Christo gegenüber zu geböte. Denn hier haben wir es mit einer Offenbarung zu thun, wTelche unbestreitbar heller, reicher und reiner fliesst, als irgend sonst; mit einer Gottesgemeinschaft, deren Echtheit, Grösse, Kraft, Innigkeit, Fruchtbarkeit, Segensfülle, Einzigartigkeit schwer zu verkennen ist und diejenige der alten Propheten unermesslich überragt. Doch werden sich Wesen, Inhalt und Grenzen der Gottesoffenbarung in Jesu Christo in diesem Buche selber im einzelnen auszuweisen haben. Ich lasse daher fürerst diese allgemeineren Erwägungen fallen. Aber schon die Wahrheit des P r o p h e t e n t u n i s Jesu berechtigt uns dazu, alle wesentlichen Eigenschaften der alten prophetischen Offenbarung, welche anderweitig festgestellt sind, von vornherein auch an der Form s e i n e r Offenbarung zu erwarten. Dass Jesus überhaupt ein P r o p h e t war, bedarf keines Beweises. Auch die Kirche hat es niemals bestritten, im Gegenteil ausdrücklich anerkannt. Ebenso werde ich Uber die einzelnen Seiten seines Prophctcutums hier nur weniges zu sagen brauchen.*) Niemand wird leugnen können, dass Jesus sich als n a t i o n a l e n *) Für den genaueren Nachweis inuss ich auf meine Schrift „Die prophetische Offenbarung" verweisen. Ich benutze diese Gelegenheit zu bemerken, dass ich wegen des inneren Zusammenhangs dieser Schrift mit den von mir kurz vorher herausgegebenen, wozu ausser der soeben angeführten noch „Die Weissagungen Jesu" und ..Konnte Jesus irrenV" gehören, wiederholt genötigt bin auf diese zu verweisen.



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» S e e l s o r g e r wusste.*) Dieser innere Beruf aber floss ihm, noch in höherem Sinne als den Propheten, aus seiner Gottesgemeinschaft. W e n n daher die Propheten als nationale Beter und Fürbitter anzusehen sind, so gilt dies in vollster Bedeutung von Christo, insofern als es niemals einen vollkommeneren B e t e r gegeben hat. Hierauf werden wir noch ausführlicher zurückkommen, wo wir von seinem priesterlichen Amte zu sprechen haben. Doch k a n n man nicht ganz mit demselben Recht von Jesu als P o l i t i k e r reden, wie bei den alten Propheten. Dies ergiebt sich schon aus der veränderten Zeitlage; denn es gab keinen eigentlichen israelitischen Staat mehr. Und mit dem einheimischen Königtum w a r die prophetische Aufgabe der Beratung desselben geschwunden. Das Herodeische ist hier nicht mitzurechnen, da diese Könige Roms Kreaturen waren. Wenn der Täufer den Antipas w e g e n der unerlaubten Verbindung mit Herodias tadelte (Mr. 6. 18), so ging selbst dieser Schritt den König als Gesetzesverächter, aber nicht zunächst als Spitze der nationalen Thcokratie an. Diese w u r d e nur noch durch den hohen Rat vertreten, insbesondere durch das Hohepriestertum. Das Wort Jesu: ..Gebt dem Kaiser, w a s des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist" (.Mr. 12, 17). weist j e d e n Verdacht zurück, als habe er in politischer Hinsicht irgendwelchen Einfluss auszuüben gesucht, und zeigt zugleich, dass dies Verhalten allein seinen Grundsätzen und der Auffassung seines Berufes entspricht. Das schliesst indes keineswegs aus, dass er, gleich den alten Propheten, von der Zukunft auch das Zerbrechen der ä u s s e r e n Ketten erwartet hat, welche sein Volk unter die Fremdherrschaft knechteten. Dies liegt j a schon darin, dass er sich als Herold**) des Vollcndungsreiches wusste. Ebenso versteht es sich schon aus dem Berufe des nationalen Seelsorgers, zumal von diesem grossen Menschenfreunde und Liebhaber seines Volkes, dass er über das schwere Geschick, welches dies wegen seiner Unbussfertigkeit treffen musste, vom herzlichsten Mitleid bewegt worden ist. Wie gern hätte er Israel vor diesem *) Dass dem sein Bcwusstsein als "Weltheiland nicht widerspricht, ist an anderer Stelle zu erweisen. Vrgl. übrigens meine Schrift ..Die Weissagungen J e s u Christi von seinem Tode, seiner A u f e r s t e h u n g und W i e d e r k u n f t " IV, c, a, Vandenhoeck 1895. *'*) Freilich noch als mehr.

Gerichte, das er, wiederum ähnlich den alten Propheten, voraussah und vorausverkündigte, bewahrt (Mt. 23, 37 f. Lk. 19, 41 ff.)! Damit haben wir schon j e n e Seite des Prophetentums berührt, welche demselben auf alttestamentliehem Boden besonders charakteristisch ist, ich meine das Weissagen zukünftiger Ereignisse. "Wie die alten Propheten, als nationale Buss- und Verheissungsprediger, einzelne Gerichte und Heilszeiteu und endlich, nach einem abschliessenden Gerichte, die Heilsvollendung am Ende der T a g e in Aussicht stellten, so w a r Jesus auch in diesem P u n k t e ihnen im allgemeinen formell gleichartig. N u r konzentriert sich sein prophetischer Blick, insofern er sich als Anbalmer und Bringer des Vollendungsreiches weiss, auf den Anbruch desselben und das damit verbundene Endgericht. Die unmittelbare Nähe jenes Reiches bildete j a von A n f a n g an, echt prophetisch, das Hauptthema seiner Predigt (Mr. 1, 15. Mt. 4, 17)*). Auch in seinen Prophezeiungen vom Endgericht hören wir, wie ehemals, von Drangsalen und Kriegen. Und zuletzt wird daraus auch für ihn der gläubige Rest gerettet. Als Gipfel j e n e s Gerichtes erscheint auch in Jesu Munde die von so vielen Propheten verkündigte Strafe der Zerstörung Jerusalems (Mr. 13, 2). Ahndete diese im alten Bunde Israels Abfall von Jalive, so wird sie bei Jesu zur endgiltigen Heimsuchung für die V e r w e r f u n g des Messias (Mt. 23, 38). Hiermit hängt jedoch zugleich der wesentliche Unterschied der altprophetiselien Weissagung gegenüber derjenigen Jesu zusammen, den wir indes hier nur anzudeuten b r a u c h e n . N a t ü r lich konnte die Vorhersagung k ü n f t i g e r Dinge für Jesum erst von dem Zeitpunkt an und insoweit zu ihrem vollen Recht kommen, als j e n e Vollendung auch für ihn noch als zukünftige in betracht kam. Da er sich aber im wesentlichen als g e g e n w ä r t i g e n Stifter des Vollendungsreiches wusste, so konnte die Z u k u n f t desselben für ihn nicht eher eine b e d e u t s a m e Rolle spielen, als ihm die Gewissheit seines Todes aufging. So haben erst von da ab die Weissagungen Jesu eine besondere Bedeutung. *) Der nähere Beweis ist an anderer Stelle zu erbringen. Vrgl. Sclmedermann, .,Die israelitische Vorstellung vom Königreiche Gottes 11 18 < ( a i r o i ^ ) . Auch die Stimme: ,.Das ist mein lieber Sohn (an welchem ich Wohlgefallen *) Marcusevang. Berlin 1872. S. 49. Yrgl. desselben Evangelium des Johannes. 7. Aufl. 1880. S. 106. **) Synoptische Erklärung der drei ersten Evangelien, Leipzig 1862. ***) Yrgl. B. Weiss, Evangelium des .Johannes.

S. 489 f.



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habe)", wird j a nicht an Jesum, sondern offenbar au die Jünger gerichtet. Dies ergiebt sich noch deutlicher aus dem Zusätze: ..Höret auf ihn!" (Mr. 9, 7. Mt. 17, 5). Gänzlich abzusehen ist aber von dem Gedanken, als hätten wir diese Erscheinung des Elia und Mose für Jesum oder die Jünger als eine ä u s s e r e Wirklichkeit zu fassen, obwohl dies zweifellos die Meinung des darstellenden Evangelisten ist. Dass Elia in Wirklichkeit nicht erschienen ist, ergiebt sich schon aus dem gewiss echten Herrenworte unmittelbar nach dieser Scene (Mr. 9, 12. 13. Mt. 17, 12 f.). Denn dort deutet Jesus, dass Elia gekommen ist, keineswegs auf das soeben Erlebte. Er findet es vielmehr im Auftreten Johannes des Täufers, also m e t a p h o r i s c h , verwirklicht. S o konnte er das Erscheinen des Elia schwerlich ignorieren, wenn, was ihm soeben widerfahren, ein wirklich ä u s s e r e s Ereignis war. Andrerseits macht Holtzmann mit Recht auf V. 11 aufmerksam, wonach auch die Jünger seine Erscheinung noch verinissten.*) Wir werden daher hier eine Vision auch nicht einmal als geschichtliche Grundlage vor uns haben, sondern vielmehr mit Holtzmann darin „das glänzendste aller poetisch didaktischen Produkte des Urchristentums" erkennen (a. a. 0 . S. 198). Ich finde demnach keinen Anlass, eine Traumoffenbarung oder Vision bei Jesu selbst anzunehmen. Hier handelt es sich schliesslich nur nocli darum, zu betonen, dass das Wesen des alttestamentlieheu Prophetentunis in ihm seine Erfüllung findet, dass andrerseits die Eigenart Jesu eben in der E i n z i g a r t i g k e i t dieser Erfüllung besteht. Denn er ist der i d e a l e Prophet. Dies dürfte zunächst als eine nicht triftige Grundanschauung erscheinen. Denn die Eigenart des Herrn pflegt nicht sowohl in seinem prophetischen, als vielmehr in seinem königlichen und hohepriesterlichen Amte gefunden zu werden. Auch stösst die Bezeichnung desselben als des idealen Propheten vielleicht auf ein gewisses Misstrauen gegen ihre Richtung. Sie könnte rationalistisch klingen, obwohl mir nichts ferner liegt, als Jesu Heilandsberuf zu der Stellung eines grossen Tugendlehrers abschwächen zu wollen. Ich erkenne vielmehr sowohl seine Messianität. als sein Priestertum völlig an. Jedoch *) Handkommentar zu den Synoptikern.

S. 198.



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glaube ich, dass sich beide Ämter, gerade wenn man sie, wie man muss, im idealen Sinne versteht, notwendig in dem vollkommen gefassten Prophetentum vollenden und daher aufheben. Freilich kommt auf den Namen a n s i c h nicht viel an. Aber es wird sich zeigen, dass Jesus n u r a l s d e r i d e a l e P r o p h e t der T r ä g e r und Mittler der vollkommenen G o t t e s o f f e n b a r u n g sein kann. Treten wir daher zunächst den Nachweis a n , dass J e s u p r i e s t e r l i c h e s Amt, wie es ihm die Kirche zuzuschreiben pflegt, seinem religiösen Gehalte nach, im P r o p h e t e n t u m aufgeht.

I. Jesus der ideale Prophet. 1. A l s P r i e s t e r . * ) Wenn wir die wesentlichen Merkmale des Priestertums zusammenfassen, so ergiebt sich, dass dieser Begriff, sogar schon flir den Standpunkt des alten Testaments, seine Erfüllung nur im vollkommenen Prophetentum finden kann. Allerdings liegt im Begriff des Priesters vorwiegend die Vermittlung der Gottesgemeinschaft von seiten des M e n s c h e n , im Begriffe des Propheten dagegen von G o t t e s Seite aus. Doch handelt eben auch der Priester in Gottes Auftrage, und auch der rechte Prophet vertritt betend sein Volk vor Gott (2. Mos. 32, 11 ff. 31 f. 33, 12—16. 34, 9. 1. Sani. 7, 9. 12, 19—23. Jer. 7, 16. 11, 14. 14, 11. 19—15, 1. 42, 1—4. 9 ff. lies. 14, 14 ff. Ps. 99, (j).**) Jedenfalls hat also Priestertum und Prophetentum die gemeinsame Aufgabe, dem Volke die Gnade des Bundesgottes zu vermitteln. So verfolgen sie, wenn auch von verschiedenen Standpunkten aus und mit vorwiegend verschiedenen Mitteln, im wesentlichen dasselbe Ziel. Der Priester bedient sich für seinen Zweck vor allem der sinnbildlichen Opferhandlung, der Prophet des ausdrücklichen Gotteswortes. *) Ich darf hier davon aksehen, dass Priester und Seher ursprünglich dieselben Personen waren (Smend, Isr. Religionsgesch. S. 20), wie denn auch etymologisch dem hebräischen Kühen (Priester) der arabische K a h m (Seher) entspricht. Es k o m m t hier nicht auf die geschichtliche E n t w i c k l u n g , sondern auf den Begriff beider Amter an. **) Vrgl. Grau, Das Selbstbewusstsein Jesu. S. 271.



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Dennoch muss dieses gemeinschaftliche Mittleramt. in seiner Vollkommenheit gefasst, als p r o p h e t i s c h e r k a n n t werden. D e n n erst der P r o p h e t erreicht das, w a s der Priester anstrebt. Dies ergiebt sich aus folgendem. Die Priester bieten in den Opfern, dass ich so s a g e , die offiziellen sakramentlichen Gnademnittel d a r , an deren Gebrauch der Wille Gottes die Erteilung seiner G n a d e k n ü p f t . Indessen r u h t ihre K r a f t , die Versöhnung und Gemeinschaft des Volkes oder des einzelnen Gliedes mit Gott herzustellen, auf der subjektiven Voraussetzung, dass der äusseren Darstellung der gottesfiirchtigen Gesinnung im Opfer ihr i n n e r e s Vorhandensein entspricht. So a h n e n rechte Israeliten schon früh, dass der w a h r e W e r t desselben nicht in dieser äusseren D a r bringung, sondern in d e r völligen Hingabe des eignen Herzens und Willens an den göttlichen liegt, und dass ohne diese die Opfer wertlos sind. I n d e m so d e r Priester Busse und Glaubensgehorsam als Gesinnung nur stillschweigend voraussetzen k a n n , macht er t h a t s ä c h l i c h eine an sich ä u s s e r i i e h e Bethätigung des Gehorsams im opus operatum zur B e d i n g u n g der Gnadengewährung. D e r P r o p h e t d a g e g e n w i r k t durch seine Anbietung der G n a d e im W o r t e der P r e d i g t d i r e k t auf Busse und Glaubensgehorsam als Gott einzig wohlgefällige Grundgesinnung hin. So verwirklicht er, den E r f o l g seiner W i r k s a m k e i t vorausgesetzt, im I n n e r e n des Menschen selbst mehr oder weniger die allein zureichenden subjektiven B e d i n g u n g e n der wahren Gottcsgenieinschaft. Das Hauptziel des Priesters k a n n dalier auch nur die Beseitigung der ä u s s e r e n S c h r a n k e n sein, die den ä u s s e r e n V e r k e h r des Volkes und seiner einzelnen Glieder mit Gott hemmen. D e r P r o p h e t aber will die i n n e r e n S e h r a n k e n des halsstarrigen Herzens n i e d e r r e i s s e n , um so erst den eigentlichen p e r s ö n l i c h e n V e r k e h r mit Gott nicht nur vorzubereiten und a n z u b a h n e n , sondern wirklich einzuleiten und zu beginnen. Der Ausserlichkeit der F o r d e r u n g auf seiten des Priesters im Gegensatz zum P r o p h e t e n entspricht n o t w e n d i g die verhältnismässige A u s s e r l i c h k e i t d e r d a r a n g e k n ü p f t e n G n a d e n v e r h e i s s u n g e n und - e r w e i s u n g e n . F o r d e r t der Priester mehr die Erfüllung äusserer Gebote, einzelner k o n k r e t e r A u s p r ä g u n g e n



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des göttlichen Willens, so verbürgt er darauf hin die Gottesgemeinschaft auch mehr in einer negativen oder doch mehr äusserlichen Form, als Erlass von Strafe und Teilgabe an den äusseren Buudesgütern. Der Prophet arbeitet auf die innere Herzensgemeinschaft der Menschen mit dem persönlichen Gott im neuen göttlichen Geiste hin. In diesem sollen sie den Willen Gottes in seinem sittlich-religiösen Kern erfüllen lernen. Dem entsprechend bietet er nach Massgabe des Erfolges seiner Wirksamkeit in steigender Vollkommenheit das höchste Gut der G n a d e und Gemeinschaft Gottes selbst in ihrem tiefsten Gehalt zur positiven, innerlichen, p e r s ö n l i c h e n A n e i g n u n g dar und spricht diese dem Sünder, unabhängig von äusserem Thun priesterlicher Art, einzig unter der Bedingung des bussfertigen Glaubens zu. Ist also das letzte Ziel des Priesters die Vermittlung der Gottesgnade für sein Volk und dessen Glieder, und ist die letzte Bedingung ihres Empfangens das bussfertige Herz, so kann der Priester seinen Zweck aus den angeführten Gründen nur auf p r o p h e t i s c h e m W e g e erreichen. Diese Erfüllung des priesterlichen Berufes im prophetischen zeigt sich auch im folgenden. Allerdings bildet das G e b e t in seiner reinen Form nur einen zurücktretenden Bestandteil des geschichtlichen Priestertums, stellt aber dennoch d i e Seite desselben dar, in welcher sich seine Idee unter dem Gesichtspunkte der religiösen Vertretung des Volkes am vollkommensten ausdrückt, So ist das Gebet um Vergebung und die göttliche Verheissung derselben durch den Priester der höchste Punkt seiner Funktion am grossen Versöhnungstage. Ist nun, wie sich gezeigt hat, der Prophet als Volksprediger in erster Linie ein nationaler B e t e r und Flirbitter, so ist auch hier ersichtlich, wie das Prophetentum das vollzieht, was das Priestertum auf seiner Spitze mehr anstrebt, als zu verwirklichen vermag. Erst wenn der Priester seine Aufgabe zur prophetischen verinnerlicht und ergänzt hat, kann er sein letztes Ziel erreichen. Fassen wir zusammen. Während der Priester die Gottesgemeinschaft mittelbar, sachlich und äusserlich mehr anbahnt, als darstellt, vollzieht sie der Prophet innerlich, unmittelbar und persönlich durch Versöhnung der Herzen der Sünder. Nach alle



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dem geht die Idee des vollkommenen Priestertums im Prophetentum auf. So sinkt denn vor dem tiefer dringenden Blick ßchon der alttestamentlichen Propheten mit dem prinzipiellen Falle der nationalen jüdischen Schranken und der religiösen Privilegien das Priestertum dahin. Der exilische oder nachexilische PseudoJeremia*) sagt geradezu die Zeit voraus, in der man der Bundeslade nicht mehr gedenken werde (Jer. 3. 16. 17). Und schon Arnos weiss, dass Religion o h n e O p f e r bestehen kann (5,221?.).**) Ohne dieses ist aber ein echtes jüdisches Priestertum undenkbar. Was dann vom wahren Priester bleibt, ist der Prophet, der nicht mehr unter äusseren und äusserlichen Gesetzes- und Kultusformen, sondern als Prediger und Seelsorger, durch Verkündigung des ihm offenbarten Gotteswortes und durch Bekehrung uutl Versöhnung der Herzen, die Gemeinschaft mit Gott vermittelt. Kann doch diese Gottesgemeinschaft auch nur von einem rechten P r o p h e t e n wahrhaft, d. h. innerlich, den anderen Gliedern des Volkes mitgeteilt werden. Denn nur dieser, als erleuchteter Frommer, b e s i t z t sie selbst, durch seine Begabung mit göttlichem Geiste, während sie dem priesterlichen Amte als solchcm fehlen mag. Aus diesem Grunde erscheint daher, gerade um die V o l l e n d u n g des Gottesrciches herbeizuführen, wobei doch das Priestertum zu missen ist, das Prophetentum unentbehrlich. Unser grosser H ö h e r p r i e s t e r J e s u s C h r i s t u s scheint dem gegenüber aber, auf den eisten Blick, Gnade und Vergebung Gottes n i c h t auf prophetischem Wege zu erwirken. Treten wilder Frage näher. Sicherlich v o l l e n d e t er in sich selbst d a s H o h e p r i c s t e r t u m durch seine v o l l k o m m e n e F ü r b i t t e uutl sein v o l l k o m m e n e s Opfer. Die Vollkommenheit der ersteren gründet sich nun sachgemäss darauf, dass er der einzige vollkommene B e t e r ist. da er in ununterbrochener Gottesgeineinschaft steht, welche im Gebet ihren Ausdruck fordert und erhält. Ich darf hier als zugegeben voraussetzen, dass bei ihm allein das Gebet ohne Unterlass eine Wahrheit ist. Der umfassende Umfang der Gegenstände, auf welchc sich sein Gebet bezog. *) Sinend, a. a. O. 283. **) Yrgl. Smend 168.



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und das Wertverhältnis derselben ergiebt sich hinreichend aus dem Vaterunser, das er seine Jünger selbst zu beten anwies, und, ausser der fünften Bitte, sich zweifellos selbst aneignete. Aber auch diese wird er im Sinne seiner Brüder fürbittend mitgebetet haben (Mt. 6, 9—13. Lk. 11, 1—4). Die Spuren seines Gebets sind freilich nur gelegentlich verzeichnet, aber doch auf Schritt und Tritt nachzuweisen. Der beständige Gebetsumgang mit Gott erhellt schon daraus, dass er die Jünger als auf das einzige Mittel, sich in Versuchung zu schützen und von der Macht des Bösen und des Satans frei zu werden, aufs Gebet weist (Mr. 9, 29. 14, 38). So finden wir denn, dass er alle Angelegenheiten seines Lebens, zumal die seines Heilandsberufes, im Gebet vor Gott bringt. Zweifellos schliesst der Zusatz des Lukas, dass bei der Taufe Jesu der h. Geist auf den b e t e n d e n Jesus herniedergefahren sei (Lk. 3, 21), eine psychologische Notwendigkeit für Jesum ein. Und der, welcher den Satan in der Wüstenversuchung mit lauter Gottesworten schlägt, kann j a diesen einzig durchs Gebet überwunden haben. Im Gebete klar zu werden über den göttlichen Heilswillen und mit demselben den seinen zu einigen, muss selbst der eigentliche Zweck dieses Rückzuges in die Wüste gewesen sein. Zwar wird dies nicht ausdrücklich angegeben, aber durch den ganzen Zusammenhang unausweichlich vorausgesetzt (Mt. 4, 1 —11 u. Par.). So darf die Notiz, welche Markus gelegentlich bringt, Jesus habe sich an eine öde Stätte zurückgezogen, um dort zu beten (1, 35), als t y p i s c h für seine Lebensgewohnheit angesehen werden. Charakteristische Beispiele, welche die Evangelisten anfuhren, sind die Gebete vor der wichtigen Apostelwahl (Lk. 6, 12) und der Gebetskampf in Gethsemane (Mr. 14, 32—42). Bei dem ersteren Gebete fügt der Evangelist ausdrücklich hinzu, dass es die ganze Nacht hindurch gewährt habe (a. a. 0.). Die Gebetsworte am Kreuz, mit welchen er sein Leben aushauchte, sind bekannt. Ja er besucht nicht nur die Stätten gemeinsamen Gebetes, die Synagogen, regelmässig, sondern weiht auch die Speise nach alter guter Sitte für sich und die Seinen durch ein Dankgebet (Lk. 4, 16. Mr. 8, 7 u. f.). Aus diesem Gebetsgeiste, welcher mit Jesu Heilandsliebe eine wahrhaft göttliche Vereinbarung einging, entsprang nun notS c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

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wendig seine F ü r b i t t e . Es ist selbstverständlich, dass der grosse Beter zugleich der grosse Ftirbitter war, selbst wenn die Fürbitte niemals ausdrücklich erwähnt würde. Doch finden sich auch in der bruchstückartigen Erzählung einiger wichtiger Ereignisse aus dem Leben Jesu, welche uns durch die Evangelien aufbewahrt ist, Erinnerungen daran, dass Jesus die Fürbitte geübt hat. Und die wenigen Beispiele sind derart, dass sich daraus ebenfalls auf die Gewohnheit derselben schliessen lässt. So stützt er seine Zuversicht, dass der verleugnende Petrus sich wieder bekehren werde, darauf, dass er für ihn zu Gott gebeten hat, dass sein Glaube nicht aufhöre (Lk. 22, 32). J a in allen seinen Wundern sieht er Wirkungen der Erhörung seiues fürbittenden Gebets (Job. 11, 41. 42). Die unbedingte Gewissheit dieser Erhörung aber*) giebt seinen Gebeten zugleich den Charakter der Dankgebete (11, 41). So gipfelt sein Gebet auf Höhepunkten seiner Wirksamkeit, zuweilen in frohlockenden Dankesworten, gerade für die Erhörung seiner Fürbitte und die göttliche Hülfe bei seinem Wirken zum Heil der Seinigen (Lk. 10, 21). Auch alle seine Segnungen (Mr. 8, 6. 14, 23), sowie die Worte, in denen er den Reuigen die göttliche Vergebung zuspricht, sind zugleich als Ausdruck des Gebets und der Erhörung desselben zu betrachten (Mr. 2, 5 ff. u. 10, Lk. 7, 48 u. sonst). Die Seufzer aber, welche er wiederholt, besonders bevor er eine Wunderheilungen vollbringt, zu Gott sendet, sind gleichsam verkürzte Gebete (Mr. 7, 34). So bedeutet die Wirksamkeit Jesu als des völlig gottinnigen und darum alle Zeit erhörten Fürbitters die Vollendung auch der h o h e p r i e s t e r l i c h e n Fürbitte, die ihren herrlichsten Ausdruck in dem „hohepriesterlichen Gebet" (Joh. 17) gefunden hat. Aber auch die zweite Hauptfunktion des alttestamentlichen Priestertums, das O p f e r , hat seine erfüllende Vollendung in Christi S e l b s t o p f e r u n g erreicht. Wenn er es als Ziel seines Wirkens bezeichnet, sein Leben hinzugeben als Lösegeld an vieler Statt (Mr. 10,45), oder wenn er seinen Leib darbietet und sein Blut ausgiesst zum Heile vieler (Mr. 14, 22. 24), und zwar als das Blut des *) Gethsemane, das in gewissem Sinne eine Ausnahme bildet, hellt diese Regel nicht auf.



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(neuen) Bundes (24). d. h. des dazu gehörigen Bundesopfers: so ist er sich bewusst und gewillt, sich selbst als Opfer für das Heil der Seinigen, behufs endgültiger Vollziehung, Besiegelung und Verbürgung des neuen Bundes zu heiligen und darzubringen (Joh. 17, 19). Diese Dahingabe des Lebens für die Menschen ist aber sicherlich im rollen Sinne eine priesterliche, j a hohepriesterliche Aufgabe. Denn es ist das grösste Selbstopfer der Welt, und die volle Versöhnung derselben mit Gott ist erst durch dies vollzogen worden. Freilich nicht in dem Sinne, als wenn Jesus stellvertretend die S t r a f e des göttlichen Zornes und e w i g e n T o d e s , welchen die Sünde der Menschheit verdiente, in irgend einer Form, a l s S t r a f e im e i g e n t l i c h e n S i n n e , erlitten hätte. Beides konnte den, der in ununterbrochener Gottesgemeinschaft lebte und diese selbst während der furchtbarsten Todesqualen im Glauben festhielt, überhaupt nicht treffen. Dennoch bleibt der religiöse Kern der Vorstellung von Jesu sühnendem Opfertode bestehen. Denn eine vollwirksame Sündenvergebung und Versöhnung der Menschheit mit Gott ist in der That erst durch Jesu freiwillige Selbsthingabe zum Heile der Menschen, bis in den Tod, möglich geworden und erwirkt. Nicht nur, dass die Rettung der Menschen vom Verderben allein durch J e s u Selbstopfer vollbracht wird. So stirbt er nicht allein f ü r sie, sondern an ihrer Statt. Es konnte andrerseits ein durchgreifender Erfolg der Vergebung nur eintreten, nachdem die volle Besserung des Menschengeschlechts grundsätzlich v e r b ü r g t war. Der vollkräftige Beweggrund zur Besserung ist aber allein die göttliche Liebe, die sich für die ihr feindliche Welt (Rom. 5, 6 — 1 0 ) zu Tode liebt. Und dies Motiv trat in die Geschichte ein mit dem Leben dessen und erreichte Höhepunkt und Ziel seiner Wirkung mit dem Tode dessen, der Gottes ganzes Liebeswesen und seinen Heilswillen nicht nur in seinem Worte verkündete, sondern in seinem Leben vollkommen bis zum Tode darlebte. Indem er das Leben für das Heil der Welt daliingiebt, tritt er als Bürge für die Menschen vor Gott. Er verbürgt ihm die Bekehrung und Rettung seiner Brüder durch die Gotteskraft der sich für sie opfernden Liebe. Durch den Gottesgeist, der den Reichtum seines Liebeswesens in Christo offenbart, werden die Menschen neu, nämlich aus Gott, geboren. Das geschieht, indem die Gottesliebe in die Herzen derer ausgeschüttet wird,



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ftir die Jesus lebte und starb (Rom. 5, 5). Von ihr ergriffen, lieben sie den wieder, der sie zuerst geliebt hat (1. Joh. 4, 19). Und weil sie Gott und seinen Sohn lieben und den Geist der menschenfreundlichen Liebe Gottes (Titus 3, 4) in sich aufgenommen haben, so werden sie nun fähig, auch die Brüder zu lieben. Diese Liebe aber ist des Gesetzes Erfüllung (Rom. 13. 8—10. Gal. 5, 14. Mr. 12, 30. 31). Auf diese Weise gewinnen die Menschen erst durch Christi Tod die vollwirksame Sündenvergebung, in der ihnen die dauernde Gottesgnade verbürgt wird. Und so wird Christi Tod das Opfer „für sie zur Vergebung der Sünden" (Mt. 26, 28). Auch den Frommen des alten Bundes vergab der sich ewig selbst gleiche gnädige Gott die Sünden. Aber diese Vergebung half ihnen nicht ausreichend, da sie immer wieder sündigten. Erst die aus Gottes Geist wiedergeboren und so zu Gotteskindern geworden sind, überwinden die Sünde principiell (1. Joh. 3, 9). So bleibt Jesus also in seinem ganzen Leben und zumal in seinem Tode unser priesterlicher Bürge und Vertreter. Aber nicht im juridischen, sondern im sittlich-religiösen Sinne. Der G o t t e s s o h n allein bürgt Gotte durch seinen Tod für die Wiedergeburt der Menschen aus dem Gottesgeist, der in ihm Fleisch geworden ist. Sind demnach Sündopfer und Fürbitte die höchsten Aufgaben des Hohenpriestertums: so vollendet es sich in Jesu vollkommener Fürbitte und in seinem Blute, „das besser redet als Abels Blut(Hebr. 12, 24). Und ist das Opfer zuletzt ein Gebet in symbolischer Form, so ist Jesu Selbstopferung die grosse hohepriesterliche Fürbitte für die ewige Vergebung der Sünden aller derer, die an Christum glauben. Da es ewig gültig ist, so bedarf es niemals der Erneuerung (Hebr. 9, 28). Unter demselben Gesichtspunkte hat auch Jesu Fürbitte dies nicht nötig. In diesem Sinne will Jesus den Vater fernerhin nicht für die Jünger bitten. Denn der Vater selbst hat die lieb, die den Sohn lieb haben (Joh. 16, 26 f.). Jesus braucht nicht mehr fiir die Seinigen zu bitten, sofern ihr eigenes Gebet durch Christi fürbittendes Lebensopfer die Kraft seiner Fürbitte gewonnen hat. Denn der Gottesgeist, der auf grund des Todes Christi auch in den Christen als der Geist Christi wirksam wird.

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vertritt sie, nach des Paulus vergeistigter Anschauung, mit unaussprechlichen Seufzern (Rom. 8, 26. 9). Eben damit macht Christus, wie es der Hebraerbrief sinnlich-anschaulich darstellt, sein ewig gültiges Verdienst, als unser hohepriesterlicher Ftirbitter, vor Gottes Throne geltend (Hebr. 9, 2 4 — 2 7 ) . Beide Anschauungen sind gleichberechtigt. Denn sie stellen die immanente und transzendente Seite derselben Sache dar. Und das Wirken Gottes in uns ist eben niemals bloss immanent, sondern zugleich transzendent. Zeigt sich Jesus aber durch seine Fürbitte und Selbstopferung als unser vollkommener Hohepriester, so stellt er sich nach obigem gerade damit als den i d e a l e n P r o p h e t e n dar. Dies leuchtet von der Fürbitte des vollkommenen Beters, welcher als Seelsorger die volle Verwirklichung des Heilswillens in seinem Volke herbeiführt, von selbst ein. Jedoch scheint dem gegenüber die sühnende Wirkung des Todesleidens Jesu sein ideales Prophetentum zu überragen. Dennoch wird diese völlige Hingabe von der erfüllten Idee desselben gefordert. Zunächst schon subjektiv. Denn nur sofern Gesinnung und Wandel des Propheten gänzlich durch Gott bestimmt werden, nur indem sich der Wille des Propheten völlig mit dem göttlichen Willen einigt und ihm gleichartig wird, und wenn er im Aufhorchen auf Gottes Stimme das ganze Leben seinem Dienste weiht, kann er dem Ideale des Prophetentums entsprechen (Jes. 50, 4 ff.). Denn wie mag der der volle Mund der Gottheit sein, der nicht zugleich im vollen »Sinne Ohr und Hand derselben ist? Ein rechter Prediger ist nicht, wer nur mit Worten, sondern wer durch sein ganzes Sein predigt; wer den Heilsrat nicht nur verkündigt, sondern auch verwirklicht. Und zwar zunächst im eignen Leben. Erst das Fleisch gewordene ist das volle Gotteswort. Der Hebräerbrief wendet auf diese volle Hingabe Jesu an den göttlichen Willen für das Heil der Menschen das Psalmwort 40, 8 an. Er übersetzt dasselbe, zwar syntaktisch etwas ungenau, aber dem Hauptgedanken nach richtig: „Siehe, ich bin gekommen, Gott, deinen Willen zu tinin. * Damit meint er Jesu Eutschluss, für das Heil der Menschen zu sterben. Er macht diese Aufopferung J e s u , dem ganzen Zusammenhang gemäss, für sein H o h e p r i e s t e r t u m geltend, indem er sagt: „Durch dieseu Willen



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sind wir geheiligt mittelst der Opferung des Leibes Jesu Christi ein- für allemal* (10, 7. 10). Wir sahen bereits, dass die Beurteilung dieser Selbstopferung als hohepriesterliche Handlung völlig sachgemäss ist. Ebenso wird aber nach dem obigen einleuchten, und zwar zunächst von der subjektiven Seite aus: dieses Liebesopfer J e s u ist zugleich echt prophetisch. Und damit ist die ebenfalls schon angedeutete o b j e k t i v e Beziehung desselben auf das Prophetentum in seiner Vollendung eng verknüpft. Denn eben in diesem Opfer stellt sich die vollkommenste Offenbarung des göttlichen Liebeswesens und Heilswillens dar. Bewährte Jesus durch diese selbstlose Opferung seines ganzen Seins die vollkommene Treue gegen seinen Beruf, so besteht dieser doch darin, die göttliche Liebe in Wort und Leben völlig zu offenbaren. So haben wir hierin auch o b j e k t i v die höchste Gottesoffeubarung, und damit die Spitze aller Prophetie. Denn darin bezeugt Gott seine alle Erkenntnis tibersteigende Liebe, dass er den Menschen, der mit ihm in einzigartig inniger Gemeinschaft seines Wesens und Willens steht, seinen eingeborenen Sohn, in den Tod dahingiebt, um das Heil der Menschen zu verwirklichen (Rom. 5, 8. 8, 32. Eph. 3, 19. Joh. 3, 16). Nur diese völlige Offenbarung des göttlichen Liebeswesens konnte das Heil schaffen. Eine Ahnung von dieser Erkenntnis schwebt offenbar schon dem zweiten Jesaia vor. Das sieht man aus der Art, wie er das Ideal des Gottesknechtes zeichnet, der sich priesterlich für sein Volk dahingiebt, um für dasselbe die Vergebung der Sünden zu erlangen. Denn dies Ideal ist das des vollkommenen P r o p h e t e n . Bezeichnend ist schon, dass Jesaia einen solchen als idealsten Typus der h o h e p r i c s t e r l i c h e n Funktion wählt. Mit vollem inneren Rechte. Dcnu wenn der Gottesknecht die Höhe des P r i e s t e r t u m s durch makellose Selbsthingabe und Fürbitte für die Sünder vor Gott darstellt, so ist er zu beidein nur fähig als der vollendete Fromme, der, auf grund innigsten Gebetsverkehrs (53, V. 12), sein Leben für den Auftrag Gottes zum Heile der Brüder einsetzt. Und dieser besteht nach dem Zusammenhange in der prophetischen Predigt zum Zweck ihrer Bekehrung (vgl. 50, 4—7. 49. 5. ß. 53, 1). Das priesterliche Eintreten ist demnach die



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Spitze seiner zum Tode getreuen p r o p h e t i s c h e n Wirksamkeit. So erreicht diese ihren Erfolg, dass Jahves Angelegenheit durch seine Hand gedeiht (V. 10), dadurch, dass er durch seine Weisheit viele zum Herrn bekehrt und so zu Gerechten macht (53, 11). Insofern erweist sich also auch die priesterliche Funktion des Gottesknechtes in ihrem Kern als eine p r o p h e t i s c h e . Und zwar ist ihre vollkommene Erfüllung nur denkbar in der Person des i d e a l e n Propheten. Denn nur der v o l l e n d e t e Gottesknecht, der selber der Vergebung nicht bedarf, kann dem Volke Gottes die Vergebung schaffen, nur wer selbst gerecht ist, viele gerecht machen (53, 9. 6. 11).*) Auf diese Art wird das Hohepriestertum des göttlichen Mittlers in der Idee des idealen Prophetentums aufgehoben und erfüllt. 2. Als K ö n i g . Wie nun Jesu Priestertum, so ist auch sein M e s s i a s t u m auf das ideale Prophetentum zurückzuführen. Schon das Ideal des wahren theokratischen Königs im alten Bunde geht im Prophetentum auf. Das höchste Ziel dieses Königs war: ein durchaus entsprechendes Werkzeug des sein Volk durch ihn regierenden Gottkönigs zu sein. Seine höchste Aufgabe war, den göttlichen Willen zu vollziehen und ihm Geltung zu verschaffen.**) Um dies aber thun zu können, musste er ihn zunächst so v o l l k o m m e n a l s m ö g l i c h e m p f a n g e n . Und er konnte ihm zuletzt nur durch ein Gotteswort kund werden. Je unmittelbarer diese Mitteilung geschah, desto völliger und lauterer vernahm er den göttlichen Willen. In vollkommener Weise konnte dies daher nur ganz unmittelbar, das heisst durch Offenbarung des Gotteswortes in seinem eignen Inneren, geschehen. Nur als P r o p h e t konnte mithin der König des auserwählten Volkes den göttlichen Willen vollkommen e m p f a n g e n . Somit ist auch die vollkommene V o l l z i e h u n g desselben durch das Prophetentum des Königs bedingt. In diesem Sinne war sein Amt also ein p r o p h e t i s c h e s . *) Nämlich im vollen Sinne. **) Vrgl. auch G. Schnedermann, a. a. 0. S. 19. 44. 46.



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Und zwar konnte der König des Gottesvolkes dies Ideal nnr als v o l l k o m m e n e r Prophet erreichen. Denn es musste das von ihm zu vollziehende Gotteswort der r e i n e Ausdruck des göttlichen Willens sein. Nur des vollkommenen Propheten Wort und Wille ist Gottes Wort und Gottes Wille im vollen Sinne. Daher kann nur er der wahre Träger und Vertreter des Gotteswillens im Gottesreiche, nur sein Wille deshalb Gesetz und Massstab fiir alles Handeln des Volkes und des Einzelnen sein, das sich auf Gott bezieht. Nur der rechte Prophet ist somit der wahre Messias. Hier liegt die Wahrheit des platonischen Ideals, dass der Weiseste herrschen soll. Der vollendete theokratischc Herrscher kann nur derjenige sein, der völliges Organ des sich in ihm offenbarenden und durch ihn hindurch wirkenden Gotteswillens ist. Wo Gottes Wort so die Regel und Richtschnur der Regierung bildet, zeigt sich naturgemäss auch ihre v e r f a s s u n g s m ä s s i g e G r u n d l a g e als eine p r o p h e t i s c h e . Demgemäss ruht der Gottesstaat auf der prophetischen Basis der sittlich-religiösen mosaischen Gebote. Diese bilden zusammen, jedenfalls sachlich, wo nicht zugleich geschichtlich, die Grundlage der gesamten prophetischen Offenbarung. So ist die Norm der Theokratie eine prophetische. Schon von hieraus ergiebt sich die p r i n c i p i e l l e U n t e r o r d n u n g d e s K ö n i g t u m s unter das P r o p h e t e n t u m für den Gottesstaat. Konnte in ihm grundsätzlich nur Gottes Wort unbedingte Geltung beanspruchen, und geschah jede Regierungshandlung des echt theokratischen Königs unmittelbar oder mittelbar in Gottes Auftrage, so erscheint als Z w e c k des theokratischen K ö n i g t u m s die möglichst a l l s e i t i g e A u s f ü h r u n g des p r o p h e t i s c h e n G o t t e s w o r t e s und Vollziehung des prophetischen Amtes. Das Königtum ist das Werkzeug des Prophetentums, dem es Geltung zu schaffen hat. Thatsächlich nahmen ja die Propheten auf ihrer Höhe der Funktion des Königtums gegenüber diese übergeordnete Stellung in Anspruch. Denn sie forderten unverbrüchlichen Gehorsam gegen den durch sie geltend gemachten Gotteswillen. Ja, diese V o l l z i e h u n g des göttlichen Willens selbst lag im höchsten Sinne schon im K r e i s e des p r o p h e t i s c h e n A m t e s



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eingeschlossen. Ist doch, wie wir sahen, der vollkommene Prophet nicht nur als Prediger mit dem Munde, sondern mit seinem ganzen Leben und Wandel anzusehen. Dadurch gerade berührt sieh das echte Prophetentum so nahe mit dem theokratischen Königtum, dass die Propheten nicht theoretische Religionslehrer, sondern nationale Seelsorger waren, die mit der Verkündigung des göttlichen Willens grundsätzlich den praktischen Zweck seiner unmittelbaren Ausrichtung verbanden und daher, wo es sein musste, ihm auch persönlich nach Möglichkeit Geltung zu schaffen suchten. Besteht im Gottesreiche allein die Herrschaft des göttlichen Willens zu Recht, so sind die Propheten, besonders untheokratischen Königen gegenüber, selbst die wahren Vertreter der Idee des Gottkönigtums. Schon aus dem Bisherigen ist zu ersehen, dass das vollkommene theokratische Königtum die volle Vermittlung und Erfüllung des prophetischen Amtes bedeutet. Diesem Ideal der vollkommenen Theokratie, nach welchem der König den göttlichen Willen vollzieht, den er selbst, prophetisch, als ein ihm innerlich offenbartes Gotteswort, empfangen hat, entsprachen natürlich die wirklichen Könige im besten Falle nur annähernd, j a oft durchaus nicht. Unerreicht steht in dieser Hinsicht der Prophet Mose da, der, nach israelitischer Überlieferung, thatsächlich, wenn auch nicht dem Namen nach, der erste und bedeutendste König war. Dieser versah sein Amt auf grund stetiger Gottesoffenbarung. Heisst es doch von ihm, dass Jahve mit ihm redete, wie ein Mann mit seinem Freunde redet, ja, dass er Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen habe (2. Mose 33, 11—13. 19—23. 34, 5 ff. 5. Mos. 34, 10. 4. Mos. 12, 7. 8). Daher gilt Mose zugleich für alle Folgezeit als das Ideal des Propheten (5. Mos. 18, 18). Er selbst weissagt, dass Gott dem Volke Propheten, wie ihn, schenken werde, die es, eben auf grund ihrer Offenbarung, allein wahrhaft theokratisch regieren können und sollen (5. Mose 18, 15). So tritt denn auch im M e s s i a s b i l d e d e r P r o p h e t e n immer deutlicher die Erkenntnis hervor, dass zum idealen Könige des Gottesreiches die wesentlichsten prophetischen Eigenschaften gehören. Der vollkommene Messias muss von innen her der vollkommene Prophet sein. Die Person des Messias wird immer



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mehr zum idealen Propheten vergeistigt. Der König steht nicht mehr bloss in amtlicher Beziehung zu Jahre, sondern der auf ihm ruhende Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht macht ihn persönlichster Gottesgemeinschaft teilhaftig. Hier liegen die starken religiösen Wurzeln der Kraft und Tugenden des theokratischen Königs (Jes. 11, 2—5. Vergl. 9, 5. 6. Jer. 23, 5. 6. Micha 5, 3. Sach. 4, 6. 9, 9. Ps. 21, 8. Ps. Sal. 17. 35. 40. 41. 42. 44 ff. 49. 18, 8 f.). Auf diesem Wege gewinnt er zugleich die Fähigkeit, jene Gotteserkenntnis und Gottesfurcht im Volke als rechter Prophet zu verbreiten (Jes. 11, 9). Und damit wird er aus dem theokratischen Vollzieher des göttlichen Willens zum unmittelbaren Werkzeuge prophetischer Offenbarung. Die Ausführung des Willens selbst aber wird zur praktisch-seelsorgerlichen Anwendung und Auswirkung seines Prophetentums. Dieser religiösen Erkenntnis, dass der wahre Messias prophetische Eigenschaften besitzen muss, tritt im „Gottesknecht" die andre gegenüber, dass dem idealen Propheten in seiner Vollendung die Herrscherstellung zukommt (Jes. 53, 12). Neben dieser Unselbständigkeit des Königtums im Verhältnis zum Prophetentum steht jedoch eine Abhängigkeit des Prophetentums vom Königtum. Denn jenes bedarf in der Wirklichkeit gerade des Königtums als der Macht, welche die äussere Vollziehung des ihm anvertrauten Gotteswortes, als des Ausdrucks des göttlichen Heilswillens, verbürgt — nur dies kann seine Verwirklichung gegenüber widerstrebenden äusseren Kräften regelrecht durchsetzen. Aber auch dieser empirische Mangel des Prophetentunis liebt sich von selbst auf, sobald wir das Ideal desselben verwirklicht denken. Denn gerade dasjenige Merkmal des theokratischen Königtums, welches seine Aufhebung in der Idee des Prophetentums zu verbieten scheint, nämlich die Vollziehung des göttlichen Willens durch ä u s s e r e n Z w a n g , widerspricht im Grunde nicht nur der Idee des Prophetentunis, sondern auch des wahren Königtums. Ist doch nur die Herrschaft über freie Unterthanen die volle Herrschaft, weil nur der freiwillige Gehorsam der volle Gehorsam ist. Es ist unleugbar, dass die Gottesherrschaft als eine nur äussere unvollkommen bleibt und nur vollkommen



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werden kann, wenn das Gottesgesetz von innen her alles Sein und Leben beherrscht (vrgl. Jer. 31, 33). Der volle Gehorsam aber entspringt nur dem Herzen, das vom Geiste Gottes durch Busse und Glauben erneuert ist (Hes. 36, 25—28). So kann wiederum der König den Zweck seiner Regierung, die Unterthanen zur wahrhaften, das heisst innerlichen Befolgung des göttlichen Willens zu vermögen, nur als Prophet erreichen. Er muss die Glieder des Reiches zu Busse und Glauben rufen. Als Bussprediger aber ist er Diener am Gottesworte und Prophet. Die Propheten schauen denn auch für die Glieder des Reiches eine Zeit voraus, in welcher sie das Gottesgesetz nicht bloss äusserlich erfüllen, sondern innerlich. Dies wird dadurch möglich, dass Gott das steinerne Herz aus ihnen herausnimmt und ihnen ein fleischernes schenkt, in welches er selbst sein Gesetz hineinschreibt. Zu jener Zeit giesst er seinen Geist aus über alles Fleisch, wie er sonst nur den Propheten thut. Dann werden die Gaben der Prophetie allen Gliedern des Gottesvolkes inne wohnen. Gleich den Propheten werden alle Gott erkennen klein und gross, sodass niemand mehr den andern belehren wird: „Erkennet Jahve", weil sie alle mit Gott in unmittelbarster prophetischer Gemeinschaft stehen. So werden sie nicht nur ein Königreich von Priestern, sondern von Propheten sein (Hes. 36, 25—28. Joel 3, 1. 2. Jer. 31, 33 f. 2 Mos. 19, 6). Nur auf prophetische Weise kann also auch von Seiten der Unterthanen, wie des Herrschers, das ideale Ziel der theokratischen Gottesherrschaft verwirklicht werden. Sowohl dem Könige als den Beherrschten darf der göttliche Wille nicht mehr als ein fremder Zwang gegenüberstehen, sondern muss in beider Willen als ein neues Geistes- und Lebensgesetz aufgenommen sein. Nur in einem solchen Reiche wird sich jedermann völlig aus göttlicher Gesinnung zu göttlichen Zielen bestimmen. Nur so kann ein vollkommenes Gottesreich entstehen und bestehen. Damit hängt eine Erwägung zusammen, die uns noch von einer neuen Seite zeigt, dass die Spitze des Messiastums im Prophetentum ausläuft. Ist der Ort jener Herrschaft und jenes Gehorsams bei König und Volk ins I n n e r e verlegt, so fallen damit alle n a t i o n a l e n und sonstigen Schranken und Formen



der Regierung grundsätzlich

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dahin.

Auf diese W e i s e wird

das

Reich, wenigstens principiell, ein ethisch-persönliches und menschlich-universales.

Dies bedeutet a b e r eben den Wegfall desjenigen

Merkmals, welches das Königtum vom Prophetentum noch

spe-

zifisch unterschied, nämlich der A u s s e r l i c h k e i t

und

Art der H e r r s c h a f t .

der Form

Damit also geht das Messiastum wiederum

im idealen Prophetentum auf. Dies findet

Ideal

sich

aber

Königtum

des nur

vollkommenen in

Jesu

prophetischen

Christo

Königtums

verwirklicht.

ist ein rein p r o p h e t i s c h e s ,

Sein

welches alle äusseren

Schranken der Messianität durch ihre völlige Yergeistigung überwunden hat.

Denn der K e r n

des Reiches, welches J e s u s auf-

richten will, ist sicherlich etwas Innerliches:

die Herrschaft des

Gotteswillens in den Menschenherzen; oder konkret gefasst: Leben

das

der Gläubigen in seiner Bestimmtheit durch das Grund-

gesetz des göttlichen Heilswillens.*) In

einem

Himmel,

also

solchen auch

Reiche

geschieht Gottes Wille,

auf Erden.

wie

im

Nun erst werden alle Lebens-

äusserungen desselben von innen her durch den heiligen Gotteswillen

bestimmt.

Daseinsform

Das

Erbitten

dieses

Reiches

in

endgültiger

legt J e s u s seinen J ü n g e r n ans Herz (Mt. 6 , 10. 9).

Hierin liegt notwendig das Ideal des Gottesreiches. Nur J e s u s

als

Reich g r ü n d e n .

der

ideale

Prophet

kann

ferner

dieses

Denn die Herrschaft Gottes in den Menschen-

herzen kann, wie wir sahen, durch k e i n e äussere Gewalt, sondern nur durch des Propheten Gotteswort gewirkt werden. Nur dieses als T r ä g e r des Geistes kann j a das neue Herz schaffen,

dessen

Richtung derjenigen des göttlichen Willens gleichartig ist.

Daher

erbaut allein Christus, durch welchen sich, als durch das völlig entsprechende Organ, spricht,

a u f grund

der Königswille Gottes

des W o r t e s

der Wahrheit

macht doch die Steine dazu baufertig.

Wer

vollkommen

aus-

das R e i c h ,

oder

das Evangelium in

bussfertigem Glauben annimmt, dem giebt er Macht, Gottes K i n d zu werden, und damit die Anwartschaft auf das Gottesreich (Mr. 4, 3 — 8 .

J o h . 1, 12. 18, 3 6 f.).

W e r diesem idealen Propheten

*) Die nähere Art und Form dieser Gottesherrschaft, .abgesehen von ihrem hier allein in frage kommenden Kerne, gehört nicht hierher.



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dagegen nicht gehorcht, widerstrebt damit dem Gottkönig selber (5 Mos. 18, 19). Aber auch unter einem verwandten Gesichtspunkte zeigt sich die Methode seiner Reichsgründung als eine echt prophetische. Indem Jesus nämlich den Heilswillen, der im „Gesetz" noch in unzureichender Form enthalten ist, die Gottes- und Nächstenliebe,*) endgültig in vollkommener Gestalt offenbart und bei sich und den Menschen, zunächst dem Volk Israel, durchführt, e r f ü l l t er das Gesetz. Indem er ferner die tiefste Idee der messianischen Weissagung, mit Abstreifung des Sinnlich-Ausserlichen, offenbart und verwirklicht, erfüllt er die Propheten. Deren Messiasideal aber haben wir auf den idealen Propheten zurückgeführt. Dies ist der doppelseitige Weg der Anbahnung seines prophetischen Königtums. Und dieser Erfüllung von Gesetz und Propheten ist er sich als des Zieles seiner Sendung bewusst (Mt. 5, 17). So erweist er sich wiederum als Stifter des Gottesreiches, indem er die höchste Idee des Prophetentums erfüllt. Eben als solcher Erfüller von Gesetz und Propheten fühlt er sich nicht nur den Schriftgelehrten, sondern dem Mose selber überlegen, in welchem wir zugleich das Muster eines theokratischen Königs und Propheten fanden. Dies Bewusstsein bekundet sich in seinem „Ich aber sage euch", das er immer wieder den mosaischen Geboten in ihrer äusseren Fassung entgegenstellt (vrgl. besonders Mt. 5, 31. 32. 38 f. mit 2. Mos. 21, 24). Er sieht sich eben in religiöser Hinsicht alles von seinem Vater übergeben (Mt. 11, 27), dessen Sendung seinen Beruf ausmacht (10, 40). Durch dieses ideale Prophetentum Jesu wird also die vollkommene Gottesherrschaft, das Ideal der Theokratie, das die Propheten erstrebten, in ihrem Kern gänzlich verwirklicht. Und dieser prophetische Messias waltet auch jetzt seines Regimentes als Uberwinder und Beherrscher der H e r z e n . Seine Herrschaft aber w a h r t er durch dasselbe Mittel, durch welches er sie gründet. Sie wird auch fernerhin nur durch die Wirkung des Gotteswortes und Gottesgeistes auf d a s I n n e r e , ohne jeden äusseren Zwang vollzogen. Gottes Wort ist der Herrsoherstal) dessen, welcher zur Rechten Gottes sitzt. Es ist das durch die *) Anthropologisch gefasst.



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Seele dringende, sie bis in ihre Tiefen scheidende Schwert in Christi Munde; der Massstab und die Richtschnur, wonach allein der Menschen ewiges Los entschieden werden kann (Offenb. 19, 15). Damit wird der w a h r e P r o p h e t zum A u s f ü h r e r d e s W e l t r e g i m e n t s und zum W e l t r i c h t e r . Da nun die Vermittlung der Gottesherrschaft Jesu durch das Wort zugleich eine durchaus wirkungskräftige, gottesmächtige ist, welcher der Sieg über alle feindlichen Mächte zukommt (Lk. 10, 17—20. 1. Kor. 15, 24—28. Hebr. 4, 12 f.), so wird Jesu Prophetentum sein eigener Vollzieher, wie wir dies oben vom idealen Prophetentum als notwendig erkannten. Indem es das Königtum überflüssig macht, rückt es selbst an seine Stelle oder nimmt es vielmehr, in seiner Vollkommenheit, in sich auf. Somit ist die Verwirklichung des Gottesreiches auf seiner höchsten Stufe nicht nur einzig als vollprophetische denkbar, sondern Jesus gründet und regiert es auch wirklich als der ideale Prophet. Obwohl sich Jesus seiner m e s s i a n i s c h e n Stellung bewusst ist, oder vielmehr gerade deswegen, findet er daher ausdrücklich in sich die Weissagung erfüllt, in welcher sich der exilische Jesaia*) bestimmt weiss, die Zeit des wahren Heils und den Beginn der Vollendung des Gottesreiches zu verkündigen und heraufzuführen (Lk. 4, 18. Jes. 61, 1. 2). Er ahnt in sich selbst, gerade in der Gestalt, in welcher er Anspruch auf Messianität erhebt, die Verwirklichung des p r o p h e t i s c h e n Ideals. So glaube ich denn meine Berechtigung erwiesen zu haben, Jesum als den i d e a l e n P r o p h e t e n anzusehen und zu bezeichnen. Denn auch die beiden andern Hauptseiten seiner Funktion, das sogenannte königliche und priesterliche Amt, gehen, in ihrer Vollkommenheit gefasst, im idealen Prophetentum auf. Nicht der Priester und König, sondern der P r o p h e t , ist der c e n t r a l e B e g r i f f f ü r J e s u H e i l s m i t t l e r s c h a f t . Im idealen Prophetentum liegt sein Wesen und seine Aufgabe. Diesem Ideale entsprachen alle Vorgänger Jesu, auch der *) So schon das Targum zu dieser Stelle. Vrgl. Delitzsch, Kommentar S. 585.



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letzte und grösste, der vor ihm auftrat, Johannes der Täufer, nur unzulänglich (Mt. 11, 9 — 1 1 ) . J e s u s ist unter diesem Gesichtspunkte nicht etwa mehr als der ideale Prophet, sondern alle andern sind weniger. In ihm allein ist der Begriff des Propheten in seinem vollen Gehalte erfüllt. Als einziger und einzigartiger wahrer Prophet aber unterscheidet sich Jesus von den unvollkommenen empirischen Darstellungen dieses Begriffs nicht nur dem Grade nach. Der Abstand, durch welchen die i d e a l e Erfüllung eines Begriffs dessen unvollkommene Einzel Verwirklichungen überragt, bewirkt vielmehr notwendig zugleich einen Unterschied der A r t . Denn die Gleichartigkeit mit jenem wird insofern aufgehoben, als der „Begriff" in ihrer G e s a m t h e i t die Form seiner Existenz hat, während er im „Ideal" als solcher gleichsam in seinem Generaloder Normalexemplar Wirklichkeit gewinnt.

3. A l s

Sündloser.

Wenn wir das ideale Priestertum und Messiastum im idealen Prophetentum Jesu erfüllt fanden, so machten wir für die Thatsächlichkeit dieses letzteren eine stillschweigende Voraussetzung. Nämlich die, dass in J e s u Wesenstiefe die Bedingung liegt, unter welcher allein die volle Erfüllung dieses Ideals möglich ist. Das ist die Sündlosigkeit. Nur der Sündlose kann der ideale P r i e s t e r sein. Denn nur, wer selbst nicht eigne Sünden zu sühnen hat, kann die Sünden andrer wahrhaft sühnen; wie der Hebräerbrief richtig ausführt. Nur er vermag das vollkommene Opfer darzubringen: nämlich das Opfer seines heiligen und unbefleckten Personlebens (Hebr. 4, 15 f. 7, 26 ff. 9, 12 ff). Nur der Sündlose kann andrerseits der ideale theokratische K ö n i g sein. Denn nur er kann das vollkommene Organ für die Empfängnis und Ausführung des göttlichen Willens darstellen. Der Grund für beides liegt freilich zuletzt darin, dass sowohl das priesterliche, als das königliche Amt in ihrer Vollkommenheit im idealen Prophetentum auslaufen. Nur der Sündlose kann eben der vollkommene Prophet sein. Denn wenn Heilswahrheiten den eigentlichen Gehalt der pro-



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phetischen Offenbarung als solcher bilden, dieser also ein sittlichreligiöser ist, so ruht sie auf der innigen Gemeinschaft mit dem Quell aller Sittlichkeit und Religion, als auf ihrer Voraussetzung. Nicht jeder Gottesmann ist schon ein Prophet. Dazu gehört noch mehr. Aber jeder wahre Prophet ist ein Gottesmann. Ahnungen mag es sonst auch geben. Aber die Wege des Heiles macht Gott in ursprünglicher und schöpferischer Weise nur dem kund, der sie selber gehen will und führen soll. Oder mit andern Worten: Die prophetische Offenbarung ist eine G e w i s s e n s oflfenbarung. Nur dem v ö l l i g l a u t e r e n Gewissen ist sie, auf grund uneingeschränkter Gottesgemeinschaft, in ihrer V o l l k o m m e n h e i t zugänglich. Diese ist entweder überhaupt nicht da, nicht verbürgt, nicht denkbar. Oder sie ist die Sprache Gottes im Herzen des S ü n d l o s e n zum Heile der Menschheit.*) Soll demnach Jesus der ideale Prophet und seine H e i l s o f f e n b a r u n g die v o l l k o m m e n e sein, so ist dafür seine Sündlosigkeit die notwendige Bedingung. Diese ist aber ein zu weitläufiges und schwieriges Problem, um sie hier eingehend nachweisen zu können. Ich muss mich begnügen, den Weg ihres Erweises mit einigen Strichen anzudeuten.**) Von vorn herein u n m ö g l i c h darf man die Sündlosigkeit Jesu d e s h a l b nicht nennen, weil sich die Sündigkeit des Menschen nicht als notwendiges Merkmal seines Begriffs erweisen lässt.***) Jedenfalls müsste, wenn es wirklich einmal einen Süiidlosen gegeben haben sollte, der letzte Grund dieser Erscheinung auf religiösem Gebiete, nämlich in der innigsten Beziehung auf den Quell alles Guten, auf den Gott gesucht worden, der die ewige Liebe selber ist. Freilich würde auch die angelegte vollkommene Herzensgüte eines solchen Menschen, welcher, durch eine einzigartig enge Gemeinschaft mit Gott, von Hause aus sündlos wäre T der Entwicklung bedürftig sein, um die Anlage völlig auszubilden und zu verwirklichen. Und das könnte nur *) Zu unvollkommenerer Offenbarung oder zu ihrer Weiterbildung und Überlieferung genügen freilich auch s ü n d i g e Gottesmänner, wie wir an den Propheten des alten Bundes sehen; vrgl. meine Schrift „Die Sündlosigkeit Jesu Christi im Beweis des Glaubens" S. 445 f., Dez. 1895. **) Vrgl. im übrigen die soeben citierte Abhandlung. ***) Vrgl. a. a. 0. S. 446—453.



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im Kampfe gegen widerstrebende Triebe der s i n n l i e h e n Naturseite des Menschen vollzogen werden. Dieser Kampf aber miisste Versuchungen einschliessen. Die Versuchbarkeit des Menschen an sich beweist jedoch zwar seine Sinnlichkeit, seine Empfindlichkeit flir körperlich-seelischen Schmerz und Lust, seine Bedürftigkeit und relative Abhängigkeit vom Weltlauf, aber keineswegs schon notwendig die Sündigkeit. Denn die Sünde besteht nicht, wie die Versuchung, in der Reizung durch und Reizbarkeit für natürliche Triebe, sondern in der zustimmenden Aneignung v e r k e h r t e r durch die sittliche Persönlichkeit. Wies Jesus demnach dergleichen von vornherein mit unbeflecktem Willen zurück, dann blieb er auch in der Versuchung ohne Sünde. Dass er nun wirklich sündlos, d. h. in s i t t l i c h e r Hinsicht vollkommen, gewesen ist, davon ist auf alle Fälle nur der zu überzeugen, der nicht von vornherein ohne alles Verständnis für s i t t l i c h e und religiöse Grösse ist. Nur ein solcher ist im günstigen Falle durch Vermittelung der richtigen Sachkenntnis zur Anerkennung der a b s o l u t e n sittlichen Genialität Jesu als einer geschichtlichen Thatsache zu bringen. Der Beweis, den ich hier nur andeuten kann, ist vor allem aus der gerechten Würdigung des thatsächlichen Selbstbewusstseins Jesu zu gewinnen. Die kritisch gesicherten charakteristischen Merkmale desselben treten uns, indem sie sich zu einem völlig einheitlichen, einzigartigen und zugleich unerfindbaren Charakterbilde ergänzen, gleichmässig aus den Synoptikern, aus dem Johannesevangelium und teilweise auch aus den Briefen entgegen. Solche Thatsache ist es, wenn Jesu, was bis auf ihn in der ganzen Menschheitsgeschichte unerhört ist. der Vatername als s t e h e n d e c h a r a k t e r i s i e r e n d e Bezeichnung für Gottes unmittelbares Verhältnis zu ihm dient.*) Für eine derartige Beziehung ist seine einzigartige sittlich-religiöse Integrität die notwendige Voraussetzung. Denn die absolute Innigkeit der Gemeinschaft eines so gewissenhaften Menschen mit dem heiligen Gott würde durch die kleinste Sünde aufgehoben werden. Zumal bei der schöpferischen Ursprünglichkeit dieser Selbstbeziehung Jesu und bei der Undenkbarkeit einer Selbsttäuschung in diesem Punkte. Diese wunderbare *) Hierüber etwas Näheres unter III. 1. S c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

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Gottesgemeinschaft wird durch Jesu ebenso einfältigen als vollkommenen Gebeteverkehr nur bestätigt. Wiederum weist auf seine Sttndlosigkeit der scharfe Gegensatz hin, den er zwischen sich und allen andern Menschen in sittlicher Hinsicht befestigt. Während er, der die Splittcrricliterei so hart verdammt (Mt. 7, 1—5), bei alle dem selbst an den heiligsten Gottesmännern Mängel sieht (Lk. 9, 55. Mt 11, 9. 11) und sich bewusst ist, dass die Menschen sonst ohne Unterschied der täglichen Vergebung Gottes für eine unendliche Schuld bedürfen (Mt 18, 35. 24. 6, 12), schliesst er sich niemals mit ein, wo es sich um diese Sünde und Gottes v e r g e b e n d e Gnade handelt, und zeigt auch nicht die geringsten Spuren der Dankbarkeit in dieser Sichtung, die sich doch sonst gerade bei den Allerfrömmsten, weil sie zugleich gewissenhaft sind, stets nachweisen lassen. Im Gegenteil. Er stellt sich hier zu den andern, schon rein negativ, in einen unverkennbaren Gegensatz (Lk. 11. 13. 23, 31). Und nun erst positiv. Er weiss sich nicht nur als den Arzt, den andern als den Kranken gegenüber (Mr. 2, 17), sondern als den, der allein den Vater kennt und den Mühseligen und l$eladenen dessen Offenbarung und Gemeinschaft vermittelt (Mt. 11, 27—30), j a als den Versöhner der Verlorenen (Mt. 15, 24), der durch Hingabe seines Lebens zum Heile vieler den neuen Bund der vollendeten Gottesgemeinschaft und Sündenvergebung zu stiften hat (Mr. 10, 45. 14, 24). J a er weiss sich, als dem persönlichen Messias, die Anbahnung und Herbeiführung des Gottesreiches in seiner Vollendung aufgetragen. Er erkennt in sich den Gottessohn, welcher, als lauteres Werkzeug des göttlichen Geistes, schon jetzt principiell die Macht des Bösen bricht, j a als den Weltrichter an Gottes Statt, der Uber das ewige Los der Guten und Bösen entscheidet (Mr. 8, 38. 14, 02. Mt. 12, 28. Mr. 12, 37 u. s.). Wollen wir demnach diesem Menschen mit dem wahrhaft göttlichen Selbstbewusstsein nicht eine gotteslästerliche Selbstüberhebung, wollen wir nicht dem Quell höchster sittlicher Reinheit für die Jahrtausende die tiefste sittliche Unlauterkeit zuschreiben: dann müssen wir die Berechtigung jener bei völliger Demut und Gewissenhaftigkeit einzigartigen Selbstschätzung, als



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des gotterwählten Erlösers der Menscheit, anerkennen. Damit aber muss die Sttndlosigkeit Jesu als eine geschichtliche Thatsache zugestanden werden. Und wir können gläubig ahnend den Ratschluss Gottes mit diesem einzigartigen Gottmenschen verstehen. Denn wenn nur ein Sttndloser. wir wir soeben sahen, den Heilsrat Gottes als der ideale Prophet vollkommen offenbaren, daher als der Heiland auch einzig vollziehen konnte, so hängt an seiner sittlichen Vollkommenheit die Erlösung der Menschheit. Die Stindlosigkeit Jesu erweist sich nach allem als ein konstituierendes Merkmal seines idealen Prophetentums. Nur die s i t t l i c h e kann die r e l i g i ö s e Unfehlbarkeit begründen und bestimmen. II. Ableitung der religiösen Unfehlbarkeit der GottesofTenbarung Christi aus seiner sittlichen Fehllosigkelt. Wir haben gefunden, dass im sündlosen Jesus das Ideal des Propheten wirklich geworden ist. Damit sind wir nun in den Stand gesetzt, die Unfehlbarkeit seiner Offenbarung einerseits und ihre Grenzen andrerseits festzustellen. Denn es muss schon aus dem Bisherigen klar geworden sein, dass, trotz Jesu Stindlosigkeit und seiner vollkommenen Gottesgemeinschaft, die Irrtümer nicht völlig ausgeschlossen sein können. Wiederum ist es von vornherein sicher, dass Jesus als der ideale Prophet einen Kreis von Vorstellungen besessen hat, in welchen der Irrtum nicht eindringen konnte. Es handelt sich nun darum, diesen zu bestimmen. Suchen wir demnach von demjenigen, was Jesus als Mensch nicht unfehlbar wissen, worin er daher unter gewissen Bedingungen auch irren konnte oder musstc, zunächst ganz im allgemeinen dasjenige abzugrenzen, worin er als sttndloser Gottmensch auch im Gebiete des Wissens notwendig Unfehlbarkeit besass. Die Fülle der Gottheit, welche in ihm leibhaftig wohnte, ist in seinem tiefsten Inneren, seinem Wesenskerne, zu suchen. Sie muss, da Jesus voller Mensch war, in seinem lauteren sittlich-religiösen Triebe und der Selbsterfassung desselben im sittl i c h - r e l i g i ö s e n G e f ü h l e gewaltet haben. Denn nach dem, 3*



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was ich bei (1er Untersuchung der alttestanientlichen Offenbarung näher ausführte und begründete, liegt hier allein der Punkt, in welchem eine unmittelbare Gemeinschaft Gottes mit dem Personleben des Menschen möglich ist.*) J e d e andere Art des Verkehrs zwischen Gott und Mensch würde die Selbständigkeit und geschlossene Einheitlichkeit des menschlichcn Geisteslebens stören und nur magisch oder äusserlich mechanisch vermittelt werden können. Hier allein ist also auch ein als Anlage angeborener immanenter Zusammenhang der Persönlichkeit Jesu mit Gott zu denken. Gründet sich nun auch Jesu Gemeinschaft mit Gott unmittelbar nur auf das sittlich-religiöse Gefühl, so kommt sie auch bei ihm im D e n k e n nur m i t t e l b a r zu stände. Denn die mehr peripherischen Seiten sind der persönlichen Einwirkung Gottes nicht ohne jene t i e f e r e seelische Vermittlung zugänglich. Auch der b e w u s s t e W i l l e Jesu konnte sich daher erst nach jenem sittlichen Gefühle und den diesem entsprechenden Gedanken bestimmen und regeln, somit seine Gegenstände und Ziele empfangen. Auf grund dieser einzigartigen vollkommenen Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater konnte Jesus schon bei Lebzeiten von sich sagen, dass des Menschen Sohn im Himmel sei (Joli. :>, 13) und den Vater gesehen habe (1, 18): Johanneische Worte von innerer Wahrheit. Es war dies eine tiefste innere Scliauung, an deren Lcbensfülle ein bloss sinnliches Sehen, wenn diesem auch eine grössere Bestimmtheit eignet, unmöglich heranreichen kann. Und was er geschaut, was ihm der Vater gezeigt (Job. 3. 11. 5, 19 f.), das konnte er der Welt offenbaren in Wort und That. Hier ist also die Quelle der U n f e h l b a r k e i t Jesu als des idealen Propheten. Bei niemandem von allen Propheten sonst konnte die Gottesoffenbarnng eine völlig lautere sein. Denn die Lauterkeit und darum die Gottinnigkeit ihres Herzens war keine völlige. Nur bei Jesu ist die s i t t l i c h e Unfehlbarkeit eine vollkommene. Darum ist auch nur bei ihm von i n t e l l e k t u e l l e r Unfehlbarkeit zu reden.**) Nur liier konnte die göttliche Walir*) Ich muss hier auf „Die prophetische Offenbarung" verweisen. **) Darauf deutet neuerdings auch Meinhold hin in seiner Schrift ...Jesus und das Alte Testament", a. a. 0 . S. 64 f. 1896.

— lieit unmittelbar strömen.

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und ungehemmt

— aus des Vaters Herzen Uber-

So ist auch seine prophetische G e w i s s h e i t allen andern Menschen gegenüber in d e m Verhältnis als stärker anzunehmen, in welchem er alle an sittlicher Lauterkeit und in der Gewohnheit seines stetigen ungestörten Verkehrs mit Gott, in der völlig1 gehorsamen Hingabe seines Willens und Herzens und seines gesamten Seins an den himmlischen Vater (Mr. 14, 36), mit einem Wort: durch seine vollendete Gottesgemeinschaft, überragte. Auf diese innere Offenbarung hat J e s u s stets gewartet, ehe er das Geringste unternahm. Erst wenn er die Stimme seines Vaters hörte, dann war seine Stunde gekommen (Joh. 2, 4. 7, 6. 11, 6. 7). E r that nichts, was er nicht sah den Vater thun. Denn es war seine Speise, zu thun den Willen seines Vaters (Joh. 5 , 19 f. 4 , 34). Auf das Bewusstsein von der stetigen Hingabe seines eignen Willens an Gottes Willen (Joh. 6 , 38. 8 , 2 8 f.)., dessen er im tiefsten Herzen vollkommen inne wurde, gründet sich dem entsprechend die Thatsache, dass er in der Regel von vornherein seiner Gebetserhörung subjektiv g e w i s s ist (Joh. 11, 41. 42). Diese Gewissheit muss ihre höchste Kraft mittelst der sich gleichmässig wiederholenden Erfahrung erreicht haben. Darauf also stützt sich, nach dem Bisherigen, wiederum auch bei ihm die e i g e n t l i c h sogenannte p r o p h e t i s c h e Gewissheit. Diese besteht j a , wie wir sahen,*) in nichts anderem, als in dem Gewisswerden des Propheten von seiner Gebetserhörung. Wie Gottes Stimme im Herzen auf diesem Wege J e s u alle religiöse Wahrheit enthüllte, so konnte er auch zukünftiger Heilsthatsachen nur in der p r o p h e t i s c h e n Art und Weise gewiss werden (vrgl. Joh. 11, 4 1 — 4 3 unter diesem Gesichtspunkte). * * ) Es handelt sich also um die F r a g e , welche Gegenstände dem Herrn auf diese Weise unmittelbar, welche nur mittelbar und welche Überhaupt nicht gewiss werden konnten. Ist nun

*) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung il . **) Ich habe diesen Punkt in der soeben angezogenen Schrift näher behandelt.



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Jesu sittlich religiöses Gefühl als ein völlig lauteres und seine Gottinnigkeit als eine vollkommene anzusehen, so folgt aus dieser s i t t l i c h e n Unfehlbarkeit von selbst die p r o p h e t i s c h e fiir alle Offenbarungen des Guten und Göttlichen, welche nichts als die innere Gefühlserfahrung selbst ausdrücken. Der I n h a l t eines solchen Gefühls aber kann erst mittelst der unterscheidenden Thätigkeit des Menschengeistes in begriffliches D e n k e n gefasst werden. Nur die einfache Übersetzung der GefÜhlserfahrung in die Form der Vorstellung oder des Begriffs kann daher einen Ausdruck darstellen, welcher diese Erfahrung unmittelbar dcckt. Aus Jesu Sündlosigkeit folgt mithin eine Irrtumslosigkeit von vornherein einzig fiir seine s i t t l i c h - r e l i g i ö s e n Vorstellungen, und zwar u n m i t t e l b a r nur für diejenigen, welche nichts weiter als jenes Gefühl selbst nach irgend einer Seite direkt wiedergeben oder beschreiben oder unmittelbare Folgerungen daraus bilden. III. Inhalt und Form der Gottesoffenbarung in Jesu Christo im allgemeinen. 1. D i e G r u n d o f f e n b a r u n g : J e s u r e l i g i ö s e G o t t e s sohnschaft.*) Damit hat sich uns der Weg eröffnet, auf welchem wir die Jesu zu teil gewordene ursprüngliche Offenbarung erforschen können. Es handelt sich für diesen Zweck nach dem soeben Erörterten um die Untersuchung der besonderen beschaffenlieit seines religiösen Gefühls als des Centrums und der Norm seines gesamten inneren Lebens. Nun musste sich unter dem s i t t l i c h e n Gesichtspunkte dem sündlosen Jesus sein gesamtes geistiges Sein. Wollen und Thun als dem Massstabe seines vollkommenen sittlichen Gefühls völlig harmonisch, also als g u t , erzeigen. Auch der Inhalt seines Denkens ist nacli obigem so weit mit einzuschließen. als er *) Von dem wesentlichsten Gehalt von III habe icli in «Ion „Wcissngungen Jesu" S. 5—7 eine vorläufige Skizze gegeben, ilie aber erst in unserm Zusammenhange ihre eigentliche Begründung und Ausführung finden kann.



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wenigstens mittelbar der Ausdruck sittlicher Gefühle oder Willensbewegungen war. Der durch keinen Gewissensbiss gestörte Einklang seines Wesens mit seinem Ideal, seiner Bestimmung, musste in seinem inneren Lebensgefühl die völlige freudige Zufriedenheit mit sich selbst bewirken (Joh. 8, 29). Andrerseits musste sich Jesu mittelst des sittlichen Gefühls unter dem r e l i g i ö s e n Gesichtspunkte die völlige Übereinstimmung seines gesamten inneren Lebens, Wesens und Willens mit dem g ö t t l i c h e n Wesen und Willen offenbaren. Wirkt doch das Göttliche, wie wir an seinem Orte entwickelten, auf das Gefühl von innen her ein.*) Denn der sittliche Trieb, sowie das ihm entsprechende Gefühl haben, wie wir sahen, unter dem religiösen Gesichtspunkte eine transzendente Seite.**) Man könnte sie insofern als Gottestrieb und Gottesgeftihl bezeichnen. Daher stellte sich Jesu im Guten das Göttliche dar. Denn wenn sein gänzlich lauteres Gefühl am eignen innersten Personleben in concreto die Norm des Guten gewann, so offenbarte sich ihm zugleich notwendig in seiner vollkommenen Menschenliebe, die thatsächlich aus Gott stammte, Gott als ihr lebendiger persönlicher Urheber. Mittelst dieser Übereinstimmung und Gemeinschaft des objektiven Willens des persönlichen Gottes als solchen mit seinem Willen und Sein aber gab sich nicht nur der volle Friede Gottes und mit Gott, sondern dessen gänzliches Wohlgefallen an seiner Gesinnung und damit die innigste Zuneigung zu seiner Person zu erfahren. So lehrt uns auch das neue Testament, zumal das Evangelium Johannis, das religiöse Gefühl des geschichtlichen Jesus als ein sittlich vermitteltes kennen. Das Wohlgefallen seines Vaters, welches er alle Zeit empfand, vermittelte sich unmittelbar zunächst durch das Gefühl und Bewusstsein Jesu, den Willen desselben zu erfüllen (Mr. 1, 11. Mt. 11, 27. Joh. 6, 38. 10, 17. 8, 29. 15, 10).***) *) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung". **) A. a. 0. ***) Wenn die Liebe des Vaters zum Sohne auch objektiv vor Grundlegung der "Welt vorhanden war (Joh. 17, 24), so konnte der irdische Jesus doch erst mittels des sittlichen Gefühls zum Bewusstsein derselben kommen.



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Da haben wir die innerste Herzenserfahrung Jesu. Sie besteht in dem beständigen Erleben der persönlichen Liebe Gottes zu ihm, als dem mit Wesen und Willen von ihm abhängigen und ihm ergebenen Ebenbilde: seinem S o h n e . Es zeigt sich auch hier, wie allein die Frömmigkeit und Gottinnigkeit des Sündlosen die zureichende Voraussetzung für die Entstehung eines lauteren S o l i n e s b e w u s s t s e i n s Jesu dem heiligen Gotte gegenüber bilden kann. Dies oder, von der anderen Seite gesehen, das Bewusstsein von Gottes unbedingter Y a t e r l i e b e gegen ihn ist also die religiöse Grundthatsache seines inneren Lebens. Sie ist um so merkwürdiger, als sie etwas in dieser Form bis dahin Unerhörtes darstellt. Zwar hat man sich neuerdings bemüht, gewisse Spuren und Anfänge eines Sohnesgefühls trommer Menschen Gott gegenüber zusammenzusuchen. Dabei k a n n , aus verschiedenen hier nicht weiter zu erörternden Gründen, von dem Heidentum, auch des klassischen Altertums, abgesehen werden. Denn selbst der ..Vater der Götter und Menschen - ' kennzeichnet etwas anderes als eine wirkliche Solinesbeziehung. Auch fehlt dem gesamten Heidentum der tiefe Lebensernst und die klare Sündenerkenntnis und damit die allein haltbare der Wahrheit entsprechende Grundlage eines echten Kindschaftsverhältnisses gegenüber dem h e i l i g e n Gotte.*) Dagegen lassen sich allerdings gewisse, wenn auch schwache, Anfänge des Gefühls der Gotteskindschaft auch e i n z e l n e r Frommer im Volke des alten Bundes nachweisen. **) Besonders auch Montefiore (a. a. 0.) macht darauf aufmerksam und tritt einseitigen Darstellungen der alttestamentlichen Frömmigkeit als blosser Gesetzlichkeit entgegen, die nur von Furcht vor Gott, aber nicht von Liebe zu Gott wisse. Dennoch bleibt der Gesamteindruck bestehen, dass auch die Frommen des alten Bundes sich im wesentlichen nicht als Kinder, sondern als Knechte Gottes gefühlt und ihn nicht als ihren Vater, sondern als ihren Herrn und König an*) Vrgl. Preller-Plaw, Griechische Mythologie. 1872. I. S. 116 ff. **) Vrgl. Wittichen, Die Idee Gottes als des Vaters. 1865. Abschn. II. S. 15 f. 32—40. Keim, Geschichte Jesu von Nazara. 1872. II. S. 58—62. Montefiore, Hibbert-lectures 18^2. S. 540 f. 463 f.



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gesehen haben. Dafür liefert in neuerer Zeit auch Wendt den treffenden Nachweis (Lehre Jesu I I , 142 — 145). Nicht die G o t t e s k i n d s c h a f t , sondern der Gottesdienst giebt der alttestamentlichen Frömmigkeit das Gepräge. Wie konnte das anders sein! Ein bedeutsamer Vorzug der Juden vor den Griechen besteht j a in ihrem kräftigen Slindenbewusstsein. Gerade dies liess aber den Gedanken der Gottesferne des Sünders und die notwendige Furcht vor dem Zorne des dreimal Heiligen um so mehr in den Vordergrund treten. Die Frömmsten fühlten zugleich ihre Sünde am tiefsten. So sahen sie es als höchsten Beweis der göttlichen Huld an, dass sie als seine Knechte ihm dienen durften. Einen ganz entsprechenden Eindruck erweckt in dieser Hinsicht auch die rabbinische Litteratur. Über diese fasst Ferd. Weber*) sein Urteil in die Worte zusammen: „Ein tieferes Eindringen in das Wesen Gottes, als der die Liebe ist, hat der Name „Vater" in der jüdischen Theologie nicht zur Folge gehabt." Er begründet dies vor allem dadurch, dass der Transzendentismus des jüdischen Gottesbegriffs den älteren Zeiten gegenüber noch zunahm, und zeigt, wie eine solche wachsende Entfernung zwischen Gott und Menschen überhaupt einen unmittelbaren Verkehr zwischen beiden streng genommen nicht mehr dulden könne, sodass die Rabbinen ihn aus der Bibel heraus interpretieren (S. 150—152). Während also bisher nur hier und da ein Frommer auf dem Höhepunkte seines religiösen Lebens Gott mit dem Vaternamen benennt oder gar anredet, ist es Jesu „originale und bedeutsame That . . . dass er . . . die in erster Linie das zuvorkommende und treue Liebesverhaltcn in bctracht ziehende und deshalb in dem Vaternamen ihren kurzen Ausdruck suchende Gesamtanschauung von Gott, welche bis dahin nur vereinzelt hervorgetreten und unvollständig durchgeführt war, jetzt seinerseits zur allein massgebenden erhoben hat." (Wendt, a. a. 0 . II, S. 145). Der Hauptnachdruck ist dabei auf das Eigentümliche und Neue in Jesu Gebrauch des Vaternamens von Gott zu legen. Er *) Die Lehre des Talmud.

1886.



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betet nicht nur hier und da, sondern s t e h e n d zu Gott als zu seinem Vater und spricht, wo er die Grundbeziehung Gottes zu ihm ausdrücken will, nie anders als von seinem „Vater4*. Hierin liegt eben, dass wir es nicht nur mit einem Grad-, sondern, recht verstanden, mit einem Artunterschiede zu thun haben. Was sonst nur abgerissen, p u n k t w e i s e , zeitweise erscheint, zeiirt sich hier als Ausdruck eines k o n t i n u i e r l i c h e n , stetigen, lebendigen V e r h ä l t n i s s e s . Dabei will ich von so vielen Abschnitten des Johannesevangeliums ganz absehen. Diese haben, dem Charakter desselben gemäss, nichts anderes zum Inhalte, als die Tiefe des Verkehrs Jesu mit dem „Vater" (vrgl. nur die Kapitel 5. G, S, 10, 14—17). Aber auch die Synoptiker bestätigen es, dass die väterliche Beziehung Gottes zu Jesu und Jesu Sohnesstcllunsr zum Vater von ihm als das S u b s t r a t s e i n e s g a n z e n i n n e r e n L e b e n s und als der Mittel- und Brennpunkt seines Glaubens erlebt wurde. Überall liegt hier die Voraussetzung einer so innigen geistigen Gemeinschaft zu Grunde, dass diese den Namen für die engste Zusammengehörigkeit heischte, die sich vor allein in der Gleichartigkeit und Einigkeit des Fuhlens, Wollens und Thuns bewährt. Es tritt besonders an charakteristischen Stellen klar hervor, dass es die einzigartige Innigkeit seines s i t t l i c h - r e l i g i ö s e n Verkehrs mit Gott ist, welche ihm den Anlass und die Berechtigung giebt, sein Verhältnis zu ihm als das des Sohnes zum Vater zu empfinden. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkte Lk. 10, 21. 22. Soeben ist ihm die Dämonenaustreibung der Jünger zum Zeichen geworden, dass es mit der Satansherrschaft, die zu zerstören er gekommen, aus sei (Mt. 12, 29. 28. Lk. 10. IS). Da jauchzt er im Geiste auf und dankt Gotte, dass er die Einfältigen zu Mitwissern des Reichsgeheimnisses gemacht habe, welches den Weisen verborgen bleibt. Und dabei redet er Gott im Gebete an: „Vater. Herr des Himmels und der Erde!41 Man bedenke, was schon dies heissen will, den Herrn des Himmels und der Erde als seinen Vater zu wissen, mit dem Allmächtigen und Heiligen auf diesem Fusse zu verkehren! Wie einzigartig ist aber zugleich dieses Sohnesverhältnis! Das ergiebt sich aus den hier auge-



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schlossenen, au die Jünger gerichteten, Worten: „Alles ist mir von meinem Vater Übergeben worden, und niemand erkennt den Sohn als den, der er ist, denn der Vater, und den Vater als den, der er ist, denn der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will" (Lk. 10, 22). Danach ruht also Jesu Befähigung, einzig den Vater seinem wahren Wesen nach zu offenbaren, und damit die Ü b e r g a b e der Vollführung des gesamten Täterliehen H e i l s w i l l e n s , auf seiner Gottessohnschaft. Diese aber bethätigt sich in der allertiefsten g e i s t i g e n Liebesgemeinschaft. Sie ist so umfassend, dass sie sich offenbar nicht nur auf den Intellekt, sondern vor allem auf das Gemüt und den Willen bezieht, da es sich ja um die Ausführung des göttlichen Heilswillens handelt. Sie ist demnach zugleich so innig, dass Jesus dadurch zum vollkommenen Werkzeuge dieses Willens wird und so ausschliesslich, dass sie jedem andern nur durch Jesum vermittelt wird. Der Jolianneische Ausdruck „der eingeborene Sohn Gottes;' (Joh. 1, 18) entspricht daher nur der Einzigartigkeit dieses Verhältnisses. Aber auch bei den Synoptikern drückt sich dasselbe noch auf eine andere Welse aus: Jesus setzt nämlich seine Gottessohuschaft derjenigen aller übrigen Menschen zu Gott, die er doch anerkeunt, entgegen. Dies zeigt sich z. B. in seiner stehenden Art, von dem Vaterverhältnisse Gottes zu ihm und wiederum zu den andern zu reden. So spricht er niemals von „unsernr (himmlischen) Vater. Und doch würde dies zweifellos seiner Demut und seiner heranziehenden und e i n s c h l i e s s e n d e n Liebe am nächsten liegen, wenn für ihn diese Glcichsctzung die Wahrheit enthielte. Aber nicht ein einziges Mal findet es sich. Wohl rodet er oft von „eurem Vater'1. Aber daneben sagt er nur „mein Vater'.*) Indem ich von der schärfsten Entgegensetzung dieser Art (Joh. 20, 17) absehe, bleibe ich bei den Synoptikern. Ich erinnere daran, wie er das „Unser Vater" in den Himmeln nur den Jüngern bei dem ihnen mitgeteilten Mustergebete in den *) Für den häufigen Gel'rauch dieser Wendung vrgl. die von Keim und Weiss gesammelten Belegstellen: Mt. 7, 21. 10, 32 f. 12, 50. 15, 13. ]6, 17. 18. 10. 25, Mr. 8, 38. Weiss, Biblische Theologie S. 57. Keim a. a. O. II, :f89.



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Mund legt (Mt. 6, 9 ff., Lk. 11, 1—4). Andrerseits ermahnt er sie: „Seid vollkommen wie e u e r himmlischer Vater vollkommen ist." Er warnt: ..Ihr habt sonst keinen Lohn bei e u r e m Vater in den Himmeln." Er verheisst: ,,Dein Vater, der im Verborgenen siehet, wird dir vergelten." In ähnlicher Weise redet er zu ihnen einzeln oder zusammenfassend: „Bete zu d e i n e m Vater, der im Verborgenen weilet, und d e i n Vater usw.'- .,Euer Vater kennt eure Bedürfnisse"; . . E u e r himmlischer Vater ernährt sie (die Vögel)"; . , E u e r himmlischer Vater weiss, dass ihr all dieser Dinge bedürfet." Ferner: „Wenn also ihr, o b w o h l i h r b ö s e s e i d , euren Kindern gute Gaben geben könnet, wie viel mehr wird e u e r Vater in den Himmeln Gutes geben, denen, die ihn bitten(Mt. 5, 4S. 6, 1. 4. 6. 8 [vgl. 18j. 26. 32. 7, 11). Diese Beispiele werden genügen. Der G r u n d , weshalb Jesus so geflissentlich seine Sohnesstellung zum Vater und die Kindesstellung der übrigen Mensche» zu Gott auseinanderhält, liegt wiederum, wenn man den letzten Spruch mit der eben angeführten Mahnung zur Vollkommenheit vergleicht, deutlich in Jesu s i t t l i c h - r e l i g i ö s e r Einzigartigkeit. Das Wunder seines Selbstbewusstseius liegt auf d i e s e r Seite. Das innere Verhältnis Gottes zum Mensehenherzen ist eben ein sittliches. Und so niuss Gott zu dem, der von Hause aus böse ist, entscheidend anders stehen, als zu dem völlig Gottgeniüssen und Guten. Die Siindlosigkeit ist eben die Bedingung, unter welcher er sich uneingeschränkt als Gottes geliebten Sohn empfinden kann. Und damit ist zugleich klar, warum niemand vor dem sttndlosen Jesus Gottes Vaterschaft voll erleben und offenbaren konnte. Nur derjenige vermag doch das volle Wohlgefallen Gottes, die Stellung und Bestimmung eines von Gott in einzigartiger Weise Erwählten und völlig zu ihm Gehörigen zu haben, welcher in Wesen, AVillen und Gesinnung ihm ganz in Sohnesart ergeben ist. Nur der ist wirklich von Gottes Art, verdient daher Stellung und Namen des Gottessohnes. Denn Gottes Söhne können ihre Sohnesart nur durch gottebenbildliche Artung ihres Wesenskernes, ihrer sittlichen Persönlichkeit, erweisen (vgl. Mr. 3, 34. 35). So zeigen sich in der Bergpredigt diejenigen, welche ihre Feinde lieben, als Söhne ihres Vaters im Himmel (Mt. 5. 45), dessen



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Gruudwesen die Liebe ist (1. Job. 4 , 8. 16). So erweisen sich die als Gottgeborene und dadurch Gottes Kinder, welche die Gerechtigkeit thun (1. Joh. 2, 29. 3, 2). Während aber die andern Gottessöhne nur in abgeleiteter und relativer Weise gottähnlich sind, ist Christus als völlig Gerechter und Sündloser im vollen Sinne Gottes Sohn. Nur indem er in dieser ethischen Grundbeschaffenheit einzigartig dasteht, kann er das Verhältnis des „eingeborenen" Sohnes Gottes voller Gnade und Wahrheit einnehmen (Joh. 1, 17 f.). Als notwendige Voraussetzung dieser einzigartigen Beschaffenheit Jesu inmitten des sündigen Menschengeschlechts erscheint allerdings ein entsprechend eigenartiges m e t a p h y s i s c h e s Verhältnis zu Gott, eine Gottverwandtschaft, ein Ursprung aus Gott völlig einziger Art. welcher einer Neuschöpfung gleichkommt (1. Kor. 15, 47). Aber das W e s e n der sittlichen Persönlichkeit liegt nicht in ihrer Naturunterlage. So kann diese metaphysische Beziehung auch nur die B e d i n g u n g , aber keineswegs das W e s e n der Gottessohnschaft bilden. Und in der That giebt das neue Testament mit richtigem Takte derselben niemals jenen metaphysischen, sondern stets den sittlich-religiösen Sinn.*) Sehr deutlich ist dies Rom. 1, 3 f. Denn, wenn irgendwo, so handelt es sich zwischen Jesu und Gott vor allem um ein Verhältnis von Person zu Person, von Geist zu Geist. Der Kern seiner Gottessohnschaft muss daher der sittlich-religiöse sein. Gewisse Versuche, jene metaphysische V o r a u s s e t z u n g der Gottessohnschaft, als diese selbst aufzufassen, bewegen sich demnach, selbst wenn sie das unser Denken Ubersteigende in unfehlbaren Gedankenfornien zum Ausdruck brächten, jedenfalls nicht in der massgeblichen Richtung der b i b l i s c h e n Bedeutung dieses Begriffs. Hier liegt der springende Punkt der Erneuerung der Welt durch Christus. In dieser subjektiven Erfahrungserkenntnis Jesu von seiner Gottessohnschaft birgt sich der Kern aller seiner Heilsoffenbarung und Heilswirksamkeit. Einer anderen unfehlbaren Heilserkcnntnis bedurfte es nicht. Einer anderen konnte aber Jesus als voller Mensch auch nicht unmittelbar teilhaftig werden. *) Ausser vielleicht Lk. 1, 35.



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2. D i e a b g e l e i t e t e n O f f e n b a r u n g e n ü b e r G o t t e s allgemeine V a t e r l i e b e u n d d i e e i g n e S t i n d l o s i g k e i t , s o w i e über seine S t e l l u n g als H e i l s m i t t l e r . Sehen wir nun, wie weit sich von diesem Mittelpunkte unmittelbarer Gotteserkenntnis Jesu aus der Inhalt seiner unfehlbaren Offenbarung m i t t e l b a r erstreckt: Der U m f a n g dieser U n f e h l b a r k e i t muss nach dem Bisherigen genau so weit sein, als die unmittelbaren Folgerungen reichen, die sich aus jener centralen Thatsache für Jesu prophetisches Bewusstsein ergeben. Wir fanden als Inhalt der Grundoffenbarung die unmittelbare Erfahrung der vollkommenen Vaterliebe Gottes gegen ihn. Dieses Werturteil über das Verhältnis Gottes zu ihm selbst, dem slindlosen Menschen, war ein u n f e h l b a r e s . Denn es drückte nur den zu gründe liegenden Gefühlsinhalt begrifflich aus. Die unbedingte Liebe Gottes, die Jesus erfuhr, war aber, wie wir sahen, sittlich-religiös bezogen. Sie galt ihm als gutem und frommem Menschen. Daher wurde Jesus in diesem Wohlwollen Gottes, das er als guter Mensch zu empfinden bekam, dos Willens Gottes inne, auch der Vater aller guten Menschen zu sein und durch Verwirklichung des Guten das Heil unter ihnen zu schaffen. So erkannte er die Bestimmung der Menschen zu Kindern Gottes und die Selbstbestimmung Gottes zum Vater der Menschen.*) Darin besass er also die Offenbarung der a l l g e m e i n e n göttlichen Vaterliebe den Menschen gegenüber.**) Noch einer andern unfehlbaren Offenbarung aber musste er auf grund desselben sittlichen Gefühls teilhaftig werden. Denn Jesus als Siindloser musste zugleich Unfehlbarkeit besitzen in Bezug auf die sittliche Wertung der Sünde und Schuld der ihn umgebenden Menschheit. Er musste dieser Siindigkeit als dem göttlichen Willen und Wohlgefallen widersprechend viel tiefer als die andern Menschen, und überhaupt erst fundamental inne werden. Denn alle Einsicht in den Unwert der Sünde hat die *) Dass Jesus die wesenhafte Stellung aller Menschen zu Gott als ein Kindesverhältnis auffasst, ergiebt sich z. B. schon daraus, dass das seinen Jüngern gelehrte Mustergebet mit „Unser Vater" beginnt (Mt. 6, ii). **) Vrgl. Weissagungen Jesu, S. 5.



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volle Erkenntnis des Guten zur Voraussetzung, von welchem erst Jesus die einzigartig vollkommene Erfahrung besass. Andrerseits musste er im Laufe seines heranreifenden Lebens erfahren, dass es mit den andern nicht so stand, wie mit ihm. Er sah, dass alle andern der Sünde mehr oder weniger unterworfen waren. Er lernte aus der Geschichte seines Volkes und aus dem Umgang mit seinen Zeitgenossen, dass selbst unter den Heiligsten niemand heilig war, dass vor allem die innerste Richtung der Menschenherzen dem Willen Gottes widerstrebte.*) Das Gefühl des entwickelten Gottessohnes musste diese Beschaffenheit der andern in sittlich-religiöser Hinsieht, im Vergleich mit sich selbst, als Gegensatz empfinden. Und an diesem ging ihm notwendig das Bewusstsein seiner eignen S ü n d l o s i g k e i t auf. So wurde er durch berechtigten Induktionsschluss gewahr, dass er der einzig Sündlose unter Sündern, der einzig Gott wohlgefällige Mensch inmitten einer Gott missfallenden Menschheit sei. Er erkannte diese Sünde als der Leute Verderben, als das Hindernis der Gottesgemeinschaft. Er ersah daher das alleinige Heil für sie in der Befreiung von der Sünde und in der Wiederanknüpfung des durch sie abgebrochenen Verkehrs mit Gott. Indem er nun wahrnahm, dass in ihm selber die Gottesgemeinschaft in ihrer vollkommenen Form, als Gotteskindschaft, und infolge dessen das göttliche Heil, thatsächlich vorhanden war: wurde ihm notwendig, auf grund dieser Herzenserfahrung, auch sein H e i l a n d s b e r u f offenbar. Sah er sich selbst im Besitze desjenigen, wozu auch die andern bestimmt waren, dessen sie aber ermangelten, und fühlte er sich beseelt von der aus Gott stammenden, das Heil der Menschen suchenden Liebe: so musste er sich berufen fühlen, in Gottes Namen und Auftrag jene ihre Bestimmung ZAI Heil und Gotteskindschaft zu vermitteln. Er, bei dem ein unverfälschtes, unverletztes und uneingeschränktes Sohnesverhältnis seinem Vater gegenüber obwaltete, war der berufene Hersteller der Kindschaft für die verlorenen Söhne Gottes (Lk. 15, 11—32, vgl. 19, 10). In der That wusste er sich gerade als der Sohn zu dem *) Vrgl. „Die Sündlosigkeit Jesu" a. a. 0. S. 460.



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Erlöseramte bestimmt (Mr. 1, 11. Mt. 21, 37, vgl. 22, 2. Hebr. 1 , 1 . Joh. 8, 36, vgl. mit 35). Wiederum ergab sich aus dieser Entstehung seines Berufsbewusstseins, wenigstens im allgemeinen, die Art, in welcher die ihm vom Vater gegebene Sendung anzugreifen war. Es handelte sich doch vor allem um die Führung der Verlorenen zum Vater. So galt es zunächst die Herzen zu bekehren, u m , auf dem Grunde bussfertigen Glaubens an die von ihm selbst erlebte Vaterliebe Gottes, auch den andern das neue Kindschaftsverliältnis zu Gott einzustiften. Das w a r aber eben die Aufgabe des i d e a l e n P r o p h e t e n . Nur als solcher war der Sündlose und Gotterfüllte befähigt, einer sündigen und gottentfremdeten W e l t , zunächst seiner jüdischen Umgebung, j e n e Gottesliebe nicht nur in vollkommenen Gottesworten zu verkündigen, sondern in seinem ganzen Sein und Wesen, seiner Person und seinem Leben zugleich in vollkommener Weise darzustellen. Nur als das vollkommene Werkzeug der Gottesoffenbarung, welches, auf dein G r u n d e einer w u n d e r b a r e n Wesenseinigkeit, dem Vater in Herz, Gesinnung und Willen gleichgeartet war. w a r er im stände, das Ziel, die Pflicht, die alles erfüllende Seligkeit des göttlichen Lebens, das er selbst in sich hegte, den Menschen zu lebendiger, leibhaftiger Anschauung zu bringen und sie so der Rettung bedürftig und für dieselbe empfänglich zu machen. Genug: nur als der ideale Prophet, welcher in ihm Person geworden war, und dessen Gottesgeist der Welt allein das ewige Leben einzuzeugen vermochte, konnte er sich als den einzig möglichen Mittler zwischen Gott und den Menschen wissen, durch welchen Gott die Welt mit sich versöhnte. Wenn Jesus diese seine göttliche Mittlerschaft unter den von ihm selbst geläuterten Vorstellungsformen des Messias, des Menschensohnes, des Priesters usw. auffasste, so ist teilweise schon aus dem Bisherigen ersichtlich, und werden wir, soweit dies hier angängig ist, später noch im einzelnen sehen, dass er sich in diesen Formen, wenn nicht den Ausdruck, so doch den Inhalt des idealen Prophetentums zueignete. Dies alles nun niusste Jesu, auf grund der Erkenntnis seines persönlichen Verhältnisses zu Gott und zur Menschenwelt, als l a u t e r e G o t t e s o f f e n b a r u n g g e w i s s w e r d e n . Denn es gründet



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sich Jesu Bewusstsein, der Heiland der Welt zu sein, ohne weiteres auf sein sittlich-religiöses Selbstgefühl im Verhältnis zu der an demselben gemessenen sittlich-religiösen Beschaffenheit der Menschen. Der unmittelbare Ausdruck dieses Gefühls stellt demnach wiederum ein u n f e h l b a r e s W e r t u r t e i l dar. Die Erkenntnis seines Heilandsberufs schloss Jesu grundsätzliche Gewissheit des göttlichen Heilswillens ein. Die Anwendung derselben auf den einzelnen Sünder ergab daher seine Fähigkeit, in bestimmten Fällen getrost und zuversichtlich in Gottes Namen die Sünden zu vergeben, indem zur angeführten theologischen die anthropologische Bedingung hinzutrat. Denn er besass die s e e l s o r g e r l i c l i e Gabe in ihrer Vollkommenheit. So erwuchs ihm auf grund seiner sittlichen Lauterkeit und seiner ungeteilten Liebeshingebung jene vollendete Kenntnis des Menschenherzens, welche die Fähigkeit desselben, die göttliche Gnade anzunehmen, mit dem Blick der Liebe und Weisheit bis auf den Grund durchschaut. Ebenso unfehlbar als Jesu Urteil, der Heiland zu sein, ist endlich ein anderes Werturteil, das er oft geltend gemacht hat. War in ihm die vollkommene Gottesgerechtigkeit erschienen, so war auch notwendig sein darauf gegründetes Urteil über den sittlich-religiösen Wert der Menschen der Ausdruck des göttlichen Urteils selbst und enthielt somit die Entscheidung Uber ihr ewiges Los. War er aber als der vollkommene Träger der GottesofFenbarung zugleich der Mittler zwischen Gott und Menschen, so war seine Person nicht nur der ewige Massstab für den Wert der Menschen, sondern dann war auch durch ihn allein jenes Los vollziehbar (Mt. 11, 27. Mr. 8, 38. 14, 62). Dies Bewusstsein Jesu von seiner Weltrichterstellung drückt offenbar nichts anderes als die unbedingte Geltung seines Heilandsberufs aus.

3. J e s u O f f e n b a r u n g a l s I n h a l t s e i n e r P r e d i g t im G e g e n s a t z zum a l t t e s t a m e n t l i c h e n P r o p h e t e n t u m . Durch die angeführten GrundolTcnbarungen Jesu und zuletzt durch die Stellung Jesu als des Solines Gottes und des idealen Propheten, ist, der Sache gemäss, Jesu Predigt in ihrer Eigenart, auch im Gegensatze zu derjenigen der alten Propheten, bedingt. S c h w a r t z k o p f f , Die G o t t e s o f f e n b a r u n s in J e s u Christo.

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So sehr er auch a n f a n g s , aus G r ü n d e n der H e i l s p ä d a g o g i k , mit der unmittelbaren B e k u n d u n g seiner religiösen Centralität zurückhielt,*) trat doch J e s u Persönlichkeit unvermeidlich in den Mittelpunkt seiner eignen Predigt. W a r die prophetische Offenbarung im Grunde der Ausdruck der Heilsbeziehung Gottes zu seinem erwählten Volke, so w u r d e diese jetzt durch seinen v o l l k o m m e n e n Stellvertreter vermittelt. D a m i t ging sie völlig durch Gottes persönliches Verhältnis zum Heilsmittler als ihrem T r ä g e r hindurch. Dessen Wille und W e r k fiel mit dem göttlichen Willen und W e r k zusammen und w u r d e denselben gleichwertig, somit göttlich (Mt. 11, 27). D a d u r c h erhielt andrerseits das V e r h a l t e n der Menschen g e g e n J e s u m als den Heilsmittlei - einen unbedingten religiösen Wert. Die Stellung zu ihm b e d e u t e t e ihre Stellung zu Gott und w u r d e für ihr ewiges Los entscheidend. In diesem Sinne erhielt J e s u Person g ö t t l i c h e Stellung und W ü r d e (Mr. 8, 38. Joh. 2 0 , 28). Es trat also die bis dahin einfache Heilsbeziehuug Gottes zu seinem Volke, infolge der vollkommenen Mittlerschaft des idealen P r o p h e t e n , in die beiden Beziehungen Gottes und der Menschen auf den Heilsmittler a u s e i n a n d e r . S o w a r d die Heilspredigt Jesu zum Ausdruck dieser beiden Seiten der Heilsoffenbarung. Seine f r ü h e r e mehr sachliche P r e d i g t d r a n g d a r a u f , das* m a n Busse thun sollte, damit man in das h e r a n g e n a h t e Reich Gottes hineinkommen könne (Mr. 1.15.**) Sie nahm nun, auf ihrem Höhepunkte, die p e r s ö n l i c h e W e n d u n g d e s Sinnes a n : Kommt her zu m i r , dem vollkommenen Offenbarer des Heilswillens Gottes und dem Bringer seines Reiches, um, meiner E i n l a d u n g folgend, Anteil an demselben und seinen Gütern zu erhalten (Mt. 11. 2 7 — 3 0 . L k . 4 , 21. Mt. 11, 3. ff. 12, 28. 2 5 , 10. Lk. 13, 25. 28 f.).***) *) Vrgl. auch Schnedermann, Das Judentum und die christliche Verkündigung, S. 253 f. **) Vrgl. Schnedermann a. a. O. ***) Ob diese Teilnahme schon gegenwärtig stattfindet oder überhaupt unter dem eschatologischen Gesichtspunkte steht, verschlägt hier nichts.



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Aber nicht nur die Heilsmittlerschaft Jesu an sich bedingte die Neugestaltung seiner Predigt im Verhältnis zu derjenigen der alten Propheten. Es wurden naturgemäss zugleich die verschiedenen Seiten dieser Heilsmittlerschaft, und die Formen, in welchen Jesus sie auffasste, seine Stellung als Gottessohn, seine messianische und priesterliche Thätigkeit usw. Gegenstände seiner Heilspredigt. Denn der unbedingte Wert seiner Mittlerschaft machte jede derartige Funktion dieser Person, deren Wirken mit ihrem Berufe zusammenfiel, als solche zum wertvollen Inhalt der Gottesoffenbarung. Der gesamte Gehalt wurde also nun gleichsam durch eine Ellipse gebildet, indem zu dem einen s a c h l i c h e n Punkte, dem Gottesreiche, der bisher den Mittelpunkt gebildet hatte, nun, gleichsam als ein zweiter Brennpunkt, die Person Jesu mit selbständiger Bedeutung hinzutrat. So predigte der Herr zuletzt nur sich s e l b s t , d. h. sein eigenstes, tiefstes, religiöses Erleben: Die V a t e r l i e b e G o t t e s als die Uroffenbarung, die ihm in der oben dargestellten Weise aufgegangen war. Die gesamte daraus abfolgende Offenbarung erweist sich von hier aus nur als Korollar seiner persönlichen Gotteserfahrung. Wenn wir demnach zurückblickend die Predigt Jesu mit derjenigen der Propheten vergleichen, so zeigt sich, dass die Idee der Religion, welche den Gottesgehalt der Offenbarung Jesu bildet, hier zum crstenmale und grundlegend in ihrer Vollendung erscheint. War für die alten Propheten die Zweckbeziehung des Verhältnisses Gottes zu dem erwählten Volke vorwiegend n a t i o n a l , so ist die Religion in Jesu völlig i n d i v i d u e l l geworden, eine direkte Beziehung seines Herzens auf Gott. Die Vermittlung des persönlichen Verhältnisses Gottes zu ihm durch die Mitgliedschaft des auserwählten Volkes, wie sie die Voraussetzung des Verkehrs der bisherigen Frommen mit Gott war, kommt hier nicht mehr in betracht. Die Religion hat völlig ihren Lebensort im Subjekte gefunden; sie ist in diesem Sinne durch und durch subjektiv geworden. In Jesu stand aber die Vollkommenheit der sittlich-religiösen Beziehung des Einzelnen auf Gott ihrer Unvollkommenheit und Verkehrtheit bei allen andern gegenüber. So entsteht der ge4*



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rade Gegensatz gegen früher. Bisher gab wesentlich die Gesamtheit dem einzelnen Gliede an ihrer objektiven Religion teil; bei Christo steht es umgekehrt. Allerdings ist sein sittlichreligiöses Ausreifen nicht ganz unabhängig von der Gesamtheit. Indes, nach erlangter Reife, schafft hier das I n d i v i d u u m seinem Volke, j a der gesamten Menschheit, die zum ersten Male aus völlig lautrer subjektiver Quelle geschöpfte wahre Religion. Der Gottessohn macht die Menschen zu Gotteskindern (Job. 1.12). Der Königssohn errichtet unter ihnen das Reich seines Vaters (Mt. 17, 25 f.). Die schöpferische Eigenart der ursprünglichen Offenbarung Jesu bedingte aber zugleich sein Verhältnis gegenüber der heiligen, sowie der zeitgenössischen Uberlieferung (im weiteren Sinne). Doch steht liier in unserem Augenpunkte in erster Linie das alte Testament. Jesu unfehlbares religiöses Erleben gab ihm nämlich notwendig einen unfehlbaren Massstab für das wahre Wesen der Religiosität des Verhältnisses zwischen Gott und Menschen überhaupt an die Hand. Sein Wahrheitssinn und sein Hcilsberuf aber mussten ihm auf Schritt und Tritt Anlass geben, diesen an die alttestamentliche Gestalt der Offenbarung anzulegen. So wurde sein vollkommenes Prophctentum kritisch gegen das empirische unvollkommene. Und zwar zunächst positiv; von Iiier aus dann aber sogleich negativ. 4. D i e F o r m d e r G o t t e s o f f e n b a r u n g in J e s u C h r i s t o Massstal) für die Kritik der heiligen Schrift.

als

Musste dem vollkommenen Inhalt des religiösen Erlebens Jesu die Mustergültigkeit der F o r m entsprechen: so gewinnen wir den gesuchten Massstab, indem wir die wesentlichsten Merkmale von Jesu Gottesverhältnis ins Auge fassen.*') Da tritt zunächst die oben schon berührte rein i n d i v i d u e l l - p e r s ö n l i c h e Art seiner Gottesgemeinschaft hervor. Diese hing unmittelbar an der Grundoffenbarung Jesu von seiner Gottessolmschaft. In dieser unvergleichlichen Innigkeit der Gemeinschaft mit dem *) Ich habe dieselben schon in den „Weissagungen Jesu" kurz s k i z z i e r t , aber ohne eingehendere Begründung. Yrgl. S. S f.



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persönlichen Gott erfuhr er die abschliessende Unmittelbarkeit der Richtung dieses Verkehrs auf ihn selbst, den Frommen. E s war eine völlig ungehemmte gegenseitige Hingabe der Person an die Person, ein Zwiegespräch von Mund zu Ohr, ein direktes Teilgeben und Teilnehmen von Geist zu Geist, eine Wechselbeziehung von Herzen zu Herzen. Damit erlebte Jesus also in innerster Erfahrung die alleinige Wahrheit der wesentlich p e r s ö n l i c h e n Art der Gottesgemeinschaft. Und dieser Grundsatz musste sich natürlich für das ausgereifte sittlich-religiöse Bewusstsein des Heilsmittlers zugleich massgebend gegenüber j e d e r unvollkommenen OfFenbarungsgestalt geltend machen. Zumal gegenüber der Überlieferung des alten Testaments. Zunächst positiv insoweit, als er mit unvergleichlichem Feingefühl auch dort schon die Anfänge dieses einzig wahren Personverhältnisses entdeckte. Welches Gewicht legt er z. B. auf die lebendige Beziehung Gottes zu den Erzvätern! Dies persönliche Verhältnis ist ihm dabei so wesentlich, dass ihm dessen ewige Dauer verbürgt erscheint. So hängt er die ganze Gewissheit des Unsterblichkeitsglaubens, den Sadduzäern gegenüber, allein an die p e r s ö n l i c h e Beziehung der Frommen zum Gotte des Lebens (Mr. 12, 2 6 f. Lk. 20, 37 f.). Denn die Gotteskraft j e n e s Verhältnisses (Mr. 1 2 , 2 4 ) , deren Verständnis hier zweifellos auch die alttestamentliche Stufe selbst überragt, wurde Jesu als tiefe Wahrheit seines eignen persönlichen Verkehrs mit Gott offenbar. Daher konnte er sie in der Schrift des alten Testaments wieder erkennen. Mit der Erkenntuis dieses I n d i v i d u a l i s m u s der Religion, demzufolge Gott sich persönlich unmittelbar auf die Einzelnen bezieht, musste J e s u zugleich der S u b j e k t i v i s m u s als die entsprechende Form dieses Verkehrs aufgehen. Ging Gottes Gemeinschaft unmittelbar den Einzelnen an, so bedurfte es zwischen ihm und Gott, der Wahrheit gemäss, überhaupt k e i n e r V e r m i t t l u n g in irgend einer Form mehr. Freilich fühlte Jesus sich selbst als Mittler. Aber diese Mittlerstellung schliesst die U n m i t t e l b a r k e i t des Verkehrs mit Gott nicht aus, sondern ein. Denn in ihm versöhnt Gott selbst die Welt mit sich (2. Kor. 5 , 18 f.). So stiftet Christus gerade den u n m i t t e l b a r e n Verkehr m i t G o t t , der allein der Idee der



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Religion entspricht, und dessen Verwirklichung bisher die bekannten Hindernisse entgegenstanden. Jesu eigener Gotteserfahrung gemäss, musste, nachdem durch ihn dem Subjekte der Zugang zu Gott eröffnet war, alle objektive Vermittlung, wenigstens grundsätzlich, unwesentlich oder überflüssig weiden. Der Verkehr Gottes konnte also nicht, wie im alten Bunde, ein vorwiegend s a c h l i c h e r bleiben, welcher durch die Nationalität, das Priestertum, den Kultus, den Tempel und alle hergehörigen Bedingungen und Einrichtungen ins Werk gesetzt wurde. Denn der Grundsatz des Subjektivismus, welcher für die Wahrheit der Religion wesentlich war, musste in allen jenen Beziehungen zur durchgängigen Geltung kommen. Die tiefsten Propheten hatten davon eine Ahnung gewonnen. So Jeremia, nach welchem man einst der Bundeslade nicht mehr gedenken sollte (3, 16). Doch ist selbst hier die hinzufügte partikularistische Einschränkung zu beachten (V. 17). Erst Jesu ging diese Erkenntnis in ihrer vollen Klarheit auf. Danaeli haben wir keinen Grund, jene berühmten Johanneischen Worte als Ausdruck der echten Anschauung Christi anzufechten, dass für die Verehrung Gottes als des reinen Geistes jeder Ort an sich gleichwertig, daher gleichgültig ist (Joh. 4, 21). Entsprechen aber solche sachlichen Vermittlungen prinzipiell der Idee des Gottesverkehrs nicht, so konnte künftighin, und grundsätzlich schon jetzt, das Fehlen derselben kein religiöses Hindernis sein. Dann hatte der Priestersatnd durch sein Opferwesen den Zutritt des einzelnen Subjekts zu Gott nicht erst zu ermöglichen. Jeder sollte von nun an selbst Priester sein und einen Zugang zu Gott haben, welchen Sachen an sich weder fördern noch hindern konnten (2. Mos. 19, 6). Diesen zu schaffen, wusste sich Jesus berufen. Damit tritt weiter das Subjekt als ein i n n e r l i c h e s , g e i s t i g e s allem Sachlichen als etwas A u s s e r l i c h e m gegenüber. So vertieft sich das Merkmal des Subjektivismus zur r e i n e n G e i s t i g k e i t des Verkehrs des Menschen mit Gott. Der göttliche Heilswille hat es, unmittelbar, überhaupt nicht mehr mit irgend etwas Äusserem oder Ausserlichem, sondern nur noch mit Geist, Willen, Herz und Gesinnung des Subjektes zu thun. Dem gegenüber wird also alles S a t z u n g s w e s e n , überhaupt



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alles, w a s im Bereich des Äusseren als solchen liegt, f ü r die Religion gleichgültig. D a s gilt folgerichtig auch für alle bloss äusserlichen H a n d l u n g e n , selbst gottesdienstlicher Art. Denn nichts Ausserliches und Materielles ist f ü r die w a h r e Gottesv e r e h r u n g mehr von i r g e n d massgeblichem W e r t e . Gott will als Geist nur in Geist und W a h r h e i t a n g e b e t e t sein (Joh. 4, 2 3 f.) Die W a h r h e i t der Religion k a n n dementsprechend nur in reiner Geistigkeit liegen. Diese h a t die E r f ü l l u n g der A n b e t e r mit Man dem Geiste Gottes zur Voraussetzung und Grundlage. k ö n n t e diesen Grundsatz als ,,pneumatischen" und die ents p r e c h e n d e religiöse A n s c h a u u n g s f o r m J e s u als dessen „ P n e u m a t i s m u s " bezeichnen. Von diesem voll bewussten Prinzip der Innerlichkeit und Geistigkeit aus führte J e s u s einen energischen unnachgiebigen Kampf gegen alles Ausserliche, sofern es sich a n Stelle der f ü r die Religion allein wesentlichen Innerlichkeit setzt, dieser damit feindlich e n t g e g e n t r i t t u n d sie aufzuheben strebt. D a h e r die h e f t i g e B e k ä m p f u n g der P h a r i s ä e r . So e n t w e r t e t e er die Reinigungsgesetze, weil sie nur a u f ausserliche Dinge Bezug hatten, w ä h r e n d die w a h r e Reinheit d a s I n n e r e des Menschen a n g e h e (Mr. 7, 1—23). Er hob f ü r seine J ü n g e r die n o t w e n d i g e Befolgung der F a s t e n g e b o t e a u f , welche die Schüler des T ä u f e r s und d e r P h a r i s ä e r b e o b a c h t e t e n (Mr. 2 , 18—20). Denn die Seinigen hätten damit unmöglich einen i n n e r e n Zustand zu e n t s p r e c h e n d e m Ausdruck g e b r a c h t . W i e konnten die Brautführer fasten, w ä h r e n d sie den Bräutigam in ihrer Mitte h a t t e n ! Die rein äusserliclie Sitte w ü r d e deshalb der Grund zu innerer U n w a h r h a f t i g k e i t g e w o r d e n sein (Mr. 2. 19). Freilich lässt J e s u s auch die äusseren Bräuche insoweit bes t e h e n , als er nirgends revolutionär einreissend auftritt. Sonst hätte er j a g e r a d e W e r t auf d a s Äussere als solches in religiöser Hinsicht gelegt. Und das that er nicht. Selbst die Tempelr e i n i g u n g hatte einen a n d e r n Sinn. Sie w a r eine durch die besondere L a g e veranlasste veranschaulichende Bezeugung seiner i n n e r e n Bcrufsstellung, seiner Messianität.*) So ging er offenbar auch nicht unmittelbar polemisch g e g e n *) Vrgl. ,.Dis Simdlosigkeit Jesu" a. a. 0. S. 455.



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das Opferwesen vor, obwohl nirgends von ihm erzählt wird, dass er ein Opfer dargebracht habe.*) Hätte er sich indessen überhaupt dagegen gesetzt, so würde man ihn auch deswegen angegriffen haben. Und dies scheint nicht der Fall zu sein. Er setzt die Vollziehung des Opfers vielmehr bei seinen Jüngern, und zwar als zu Kccht bestehend, voraus (Mt. 5, 23). Die Selbstverständlichkeit der Darbringung tritt sogar noch besonders durch die an der angezogenen Stelle gebrauchte Partikel läv hervor. Denn dieses „»wenn« du deine Gabe auf den Altar bringst," setzt nicht eine blosse M ö g l i c h k e i t der Handlung. Vielmehr bezeichnet es, dem griechischen Sprachgebrauch gemäss, die Erwartung des Erfolges bei einem e r f a h r u n g s m a s s i g e n Thun. Jesu aber kommt es darauf an, dass das äussere religiöse Handeln, wenn es geübt wird, nicht äusserlich bleibe, sondern der wahre Ausdruck der wertvollen inneren Beziehung sei. Deshalb warnt er so eindringlich davor, dass man dergleichen äussere Betätigungen der Gottesverehrung ihres religiösen Zweckes entleere, um sie anderen, selbstsüchtigen Zwecken dienstbar zu machen. Denn durch solche Veräusserlichung werden sie unwahr und heuchlerisch. Daher Jesu Polemik gegen das scheinheilige und ehrgeizige Schaugepränge beim Almosengeben, Beten und Fasten (Mt. 6,1—8. 16—18. Vgl. auch 4, 5—7). So wehrt er der Anschauung, welche das an sich sittlich-religiös Wertvolle hinter einer Kultushandlung zurückstellt. Dadurch wird flir ihn auch der bedingte Wert der letzteren aufgehoben (Mt. 5, 23 f. Mr. 3, 4 f. 7, 1 — 16 u. sonst.). Damit stehen wir schon vor derjenigen Form des religiösen Verhältnisses, in welcher es sich von seiner tiefsten und zugleich konkretesten Seite darstellt. Das ist die s i t t l i c h - r e l i g i ö s e Beziehung als solche. Wir gingen von der abstraktesten Form dieses Verkehrs Gottes mit den Menschen aus, nämlich von dein individualistischen Charakter desselben. Wir schritten alsdann *) So auch Meinhold a. a. O. S. 70. Dazu stimmt aber nicht, dass Jesus den kultischen Verordnungen dabei doch ewige Giltigkeit zugestanden habe (S. 17).



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zu den lebensvolleren Merkmalen des Subjektivismus und wiederum seiner Innerlichkeit und Geistigkeit vor. Jetzt berühren wir diesen Verkehr in seiner grössten Unmittelbarkeit. Hier zeigt sein sittlich-religiöser Gehalt offenbar die Form der wechselseitigen, auf Vertrauen gegründeten, Liebeshingebung. Was den Inhalt des Verhältnisses ausmacht, ist also die Erfüllung dieser Form mit den beiden wechselwirkenden konkreten Subjekten, Gott und Mensch, welche sich eben in der angegebenen Weise auf einander beziehen. Insofern nun diese Liebe von Jesu als eine Gesinnung Gottes erlebt wurde, welche ihre Selbstmitteilung nur durch die aufnehmende und sich hingebende Empfänglichkeit des Menschen bedingte, gewann er den Massstab für die innerste Beschaffenheit dieses Wechselverhältnisses überhaupt. Weiter erfuhr er nun in sich selbst den auch von seiner Seite völlig ungehemmten Liebesverkehr mit Gott. Bei den andern Menschen aber lernte er in der Sünde einen Gegensatz und Widerspruch gegen das göttliche Wesen kennen. Er schloss notwendig, soweit als er vorhanden war, die Selbstmitteilung Gottes aus. Denn dieser, dessen Wille und Gesinnung allein gelten muss, und der in dieser Treue gegen sein eigenes Wesen „heilig" ist, kann eine ihm entgegenstehende, die Liebe aufhebende Gesinnung und deren Äusserung nicht dulden. Er kann daher so lange und so weit keinen Verkehr mit dem Sünder haben, als dieser sich nicht auf die Seite des göttlichen Willens und Wesens stellt. Dies kann selbst der Sünder, welcher seine Sünde als verkehrt anerkennt und bereut, insofern also grundsätzlich verneint und aufhebt. Auch von hier aus ergiebt sich als Bedingung für die Erteilung der göttlichen Gnade an den Sünder dessen bussfertiger Glaube. Jesu Gottesherz, das mit sympathischer Liebe der Sünder Rettung sucht, fühlt sich in ihr Herz hinein. Und so erlebt er jene Gesinnung der reumütigen Umkehr zu Gott als die notwendige, aber auch einzige Voraussetzung der Gnadenmitteilung des unbedingt liebenden Gottes. Diese Thatsache selbst hat sich besonders in dem Gleichnis vom verlorenen Sohne einen unvergleichlich schönen Ausdruck geschaffen. Wir sahen früher, dass das religiöse Gefühl eine Modifikation des sittlichen Gefühls ist, insofern Gott sich in diesem unmittelbar offenbart. So könnte man den zuletzt behandelten Grundsatz.



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welcher der innersten Form der religiösen Offenbarung entspricht, ethizistisch und die entsprechende Anschauungsweise Jesu seinen E t h i z i s m u s nennen. Wir haben diesen bisher unter dem individuellen Gesichtspunkte behandelt. Indessen ist noch ein andrer Anwendungspunkt des Ethizismus in betracht zu ziehen. Er geht nämlich nicht nur das Verhältnis Gottes zu dem Einzelnen, sondern auch zu den Menschen in ihrer gleichartigen Gemeinschaft als Kinder Gottes an. Damit bezieht er sich also auf diese Gemeinschaft selbst, in ihrer Wechselwirkung, wie sie sich nach Gottes Heilswillen und Liebesgesinnung bestimmt. Oder wenn wir dieselbe Sache von einer hiermit eng verwandten Seite auffassen, handelt es sich um die H e r r s c h a f t Gottes, insofern sich diese auf die Gemeinschaft aller Einzelnen unter einander erstreckt. Damit kommen wir von der individuellen zur s o c i a l e n Beziehung der Religion. Der göttliche Wille ist j a naturgemäss nicht nur massgebend für das Verhältnis des Einzelnen zu Gott, sondern auch dieser gemeinschaftlich durch ihn bestimmten Einzelnen unter sich. Hier berühren wir die religiöse Seite der (im angegebenen Sinne) s o z i a l e n Ethik. Diese Regelung der menschlichen Willen, auch in ihrer Wechselbeziehung, ist zweifellos die Hauptbethätigung der Gottesherrschaft, insofern als diese nicht nur vereinzelte Individuen, sondern ein organisches Ganzes menschlicher Persönlichkeiten zu ihrem Gegenstande hat. Christus ist gekommen, diese Gottesherrschaft unter den Menschen aufzurichten. So stellt er denn auch die selbstaufopfernde, dienende Liebe als leitenden Grundsatz des Gemeinschaftslebens auf (Mr. 10, 43—45). Dadurch ist alles selbstsüchtige Geltendmachen der eignen Person zu Ungunsten der andern grundsätzlich verurteilt und gerichtet. Ehrgeiz und Vergewaltigung sind Dinge, welche in direktem Gegensatze zu dem Verhalten der Menschen unter einander stehen, wie es dem Wesen des Gottesreiches entspricht (Mr. 10, a. a, 0 . Mt. 5, 38—48). Uberhaupt muss jedes eigentliche, bloss äusserliche Herrschen der Gotteskinder unter sich, sofern dieses einen Gegensatz unter den menschlichen Willen voraussetzt, in der idealen Gottesherrschaft verschwinden. Jenen ethizistischen Grundsatz wendet Jesus in erster Linie



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auf sein eignes Verhalten gegen die Menschen an, indem er sich nicht gekommen weiss zu herrschen, sondern zu dienen. So kann er für die Bethätigung jener selbstopfernden und eben darin Gott gleichartigen Gesinnung (Joh. 3, 16. Rom. 8, 32) auf sein eignes Vorbild verweisen (Mr. 10, 45. Joh. 13, 12—17). Schon unter diesem Gesichtspunkte des s o z i a l e n E t h i z i s m u s Jesu sinkt jede Möglichkeit dahin, dass er das von ihm zu stiftende Gottesreich in irgend einer wesentlichen Beziehung als ein mit äusseren politischen Mitteln zu errichtendes oder zu regierendes angesehen hätte. Es würde dadurch die lückenlose Einheitlichkeit der religiösen Grundanschauung aufgehoben, wie wir sie durchweg bewährt finden. Auch hier zeigt sich also, dass der Streit über dergleichen Dinge nur durch die Erforschung der Grundbeschaffenheit des Selbstbewusstseins Jesu und durch die Beachtung seiner wunderbaren inneren Konsequenz aus dem Grunde zu entscheiden ist. Aus diesem Ethizismus in seiner Anwendung auf das Gemeinschaftsleben der Gotteskinder ist endlich noch ein anderer Grundsatz abzuleiten. Dieser ergiebt sich nach dem Obigen mit Notwendigkeit als Jesu Urteilsnorm für die Religion in ihrer s o z i a l e n Beziehung. Wir erkannten als einzige Bedingung für die Gemeinschaft mit Gott auf seiten der Menschen eine rein innerliche, sittlich-religiöse. Sie bestand in der Empfänglichkeit für die Gnade, welche sich im bussfertigen Glauben darstellt. Damit fällt also jeder andersartige Bestimmungsgrund für ein unterschiedliches Verhalten Gottes gegen die Menschen fort. Dann sucht Gott mithin aller Menschen Heil. Die Erwählung der Einzelnen oder der Nationen ist demnach in diesem Sinne, wenn wir von der heilsökonomischen Beziehung absehen, nur sittlich-religiös bedingt. So folgt aus dem Ethizismus der U n i v e r s a l i s m u s des Heils, mittelbar also auch des Gottesreiches. Dieser Ethizismus wird von Anfang an der gesamten religiösen Anschauung Jesu die Färbung gegeben haben, weil er nichts anderes als die innerste Form seines Verkehrs mit Gott selbst darstellt. Daher muss er von vornherein der Leitstern für die Bewegung seiner Gedanken in dem von ihm erkannten Mittlerberuf gewesen sein. Insofern wird ihm aber auch, seit der Übernahme seines Berufs, der U n i v e r s a l i s m u s als sicherer

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Grundsatz und Urteilsnorm in religiöser Hinsiebt festgestanden haben. Damit erschien ihm als Ziel der W e g e Gottes das d i e g a n z e M e n s c h h e i t u m f a s s e n d e Gottesreich. Zugleich sank für ihn die nationale Schranke in religiöser Hinsicht dahin.*) Wiederum wurde ihm also hier auf grund seiner eignen persönlichen Offenbarung das zu unfehlbarer Gewissbeit erhoben, w a s die am weitesten und tiefsten blickenden Propheten geahnt hatten: ein gleiches Herrschafts- und Liebesverhältnis Gottes gegenüber allen Nationen (Jes. 19, 18 f., 2 1 ff., 24 f., 66, 2 1 - 2 3 usw.**) Blicken wir demnach zurück, so stellen I n d i v i d u a l i s m u s , S u b j e k t i v i s m u s , P n e u m a t i s m u s , sowie der individuelle und soziale E t h i z i s m u s samt dem aus ihm folgenden U n i v e r s a l i s m u s , die immer konkreteren Formen der Gotteserfahrung Jesu dar. An ihnen gewann er zugleich im einzelnen die Massstäbe für die Beurteilung aller fremden Offenbarung, in erster Linie der alttcstamentlichen, soweit sie sich auf das Verhältnis Gottes zu den Menschen bezog. Ich behaupte nicht, dass Jesu diese Normen durchgängig in ihrer ganzen begrifflichen Schärfe gegenwärtig gewesen wären. Doch kam das zu gründe liegende Geflihlserlebnis in korrespondierenden deutlichen Vorstellungen zum Bewusstsein. Zum Zeugnis des erinnere ich an die Worte, in welchen er zum teil die entsprechenden Formen jener religiösen Anschauungen ausdrückt. Die Unmittelbarkeit s e i n e s i n d i v i d u e l l e n p e r s ö n l i c h e n Verhältnisses zu Gott findet sicli am schlagendsten im V a t e r n a m e n Gottes wiedergegeben. Der Kern jener persönlichen Wechselbeziehung ist am treffendsten in der Wendung niedergelegt: „Es kennt niemand den Sohn, als der Vater, und niemand den Vater, als der Sohn" (Mt. 11, 27). Parallel ist die Johannesstelle: „Ich und der Vater sind eins", in ihrem sittlich-

*) Dafür kommt der W e g , auf welchem das Gottesreich universell werden sollte, zunächst nicht in betracht (vgl. darüber „Weissagungen Jesu" S. 140 ff.). **) Für die nähere Art des Universalismus Jesu vrgl. die soeben angezogenen Stellen.



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religiösen, genauer: heilsökonomischen Zusammenhange (Job. 10, 28—30).*) Der S u b j e k t i v i s m u s der religiösen Urteilsform zeigt sich allerdings mehr in praktischer Anwendung. So wenn er jede sachliche Vermittelung des Verkehrs mit Gott ignoriert und zurückschiebt. Indes scheint dieser Grundsatz als solcher bei ihm eine theoretische Formulierung nicht empfangen zu haben. Dagegen tritt Jesu Bewusstsein, dass die Wahrheit der Religion in ihrer I n n e r l i c h k e i t und G e i s t i g k e i t liege, in vollendeter Klarheit und Bestimmtheit hervor (Mr. 7, 15. 18—23. Job. 4, 21—24). Wenn endlich eine einheitliche Vorstellung, welche dem Begriffe des Ethizismus entspräche, in einem bestimmten Worte nicht zum Ausdruck gekommen ist, so hat dies wohl mehrere Gründe. Der eine mag darin liegen, dass die zeitgenössische Stufe der Sprachentwicklung kein entsprechendes Wort anbot. Sodann aber war das Sittlich-Religiöse das Element seines inneren Lebens selbst. Gerade weil sein Allereigenstes ihm völlig selbstverständlich war, mochte kein Bedürfnis vorhanden sein, dies noch ausdrücklich sprachlich zu erfassen. Dazu kam, dass hier naturgemäss der Inhalt die Form völlig überwog. Und jener hatte in den geläufigen alttestamcntlichen Wendungen der Furcht Gottes, bezw. der Liebe zu Gott und andrerseits in der „Liebe zu den Menscbcn" seinen hinreichenden Ausdruck gefunden. Der Ethizismus nach seiner sozialen Seite aber tritt uns in Jesu Grundsatz und Forderung der opferwilligen dienenden Nächstenliebe deutlich entgegen, wenn es auch an einem alles zusammenfassenden einheitlichen Ausdruck gebricht (vrgl. Mr. 10, 44 f. Mt. 7, 12. Mr. 12, 31). Die prinzipielle nationale Beschränkung dieses Ethizismus jedoch lehrt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10, 30—37). Und der grundsätzliche Univcrsalismus des Heils tritt, trotz Mt. 10, 5, entsprechend der rein sittlich-religiös bedingten Annahme des Sünders, in lichten Farben, Mt. 11, 28—30, zu tage. Freilich auch hier ohne ein-

*) Für die individualistische Frömmigkeit auch der anderen Menschen verweise ich auf jene Stellen, die bereits früher für die Vaterschaft Gottes auch ihnen gegenüber angezogen wurden.



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heitlicken Ausdruck. Indem indes der .seelensuchende Heiland seine Arme gegen alle Mühseligen und Beladenen ausbreitet, um sie zu erquicken, springt die u n i v e r s a l e R i c h t u n g des Heils deutlich hervor. Doch sehen wir nun auf das Ganze. Hier tritt uns ein Ausspruch Jesu entgegen, welcher beweist, dass er das volle Bewusstsein seiner religiösen Ursprttnglichkeit besass. Er wusste, dass er in seiner Gottesoffenbarung im Gegensatz zu der zeitgenössischen, besonders pharisäisch geprägten Art judischer Frömmigkeit, einen neuen religiösen Inhalt bot, welcher neuer Formen der Gottesverehrung bedurfte. Denn ihre Formen waren veraltet. Er vergleicht sie mit einem alten Kleide. Und er wusste, dass zu ihrer Verbesserung das Aufsetzen neuer Flicken nichts utitzeu konnte. Die Folge wäre nur die Zerstörung der alten frommen Sitten und Anschauungen gewesen, während das Neue in seiner ZerstUcktheit und Vereinzelung doch nicht zur Geltung kam (Mr. 2, 21). Die verschwiegene, aber deutlich in dem Vergleiche enthaltene positive Folgerung Jesu ist also die Notwendigkeit einer völligen einheitlichen Erneuerung der gesamten Form. Wir sahen j a , dass er die Hauptmängel derselben in dem zu starken Vorwiegen des Unpersönlichen, Sachlichen, Ausserlichen. Ungeistigen. Partikularistischen und in ihrer unvollkommenen sittlich-religiösen Durchbildung erblicken musste. Die ideale Ursprttnglichkeit seiner Gottesoffenbarung, welche alles Alte aufhob, weil sie es erfüllend vollendete, war ihm also wohl bewusst. In der völligen Neuheit dieses Gehaltes lag die Notwendigkeit der radikalen Reform. Der neue Wein konnte daher nicht wieder in die alten Schläuche gethan werden. Er hätte sie unausbleiblich zerrissen und wäre dabei selbst verschüttet worden. Nur in persönlicher, innerlicher, geistiger, rein sittlich-religiöser, grundsätzlich universeller Fassung konnte der neue Offenbarungsgehalt sein volles Leben entwickeln, seine ganze Kraft und Geltuug darstellen. Das wusste Jesus, und darin haben wir den Beweis, dass der Vollender von Gesetz und Propheten (Mt. 5, 17), wenigstens ahnend, die Notwendigkeit einer Umbildung der alten Religion von grund aus erfasst hatte. So hat er auch das Zerbrechen der alten Form nach mehr als einer Seite ausdrücklich geweissagt (vrgl. nur Joh. 4, 21—24.



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Mt. 23, 38. Mr. 14, 58). Ja an unserer soeben berührten Stelle selbst wendet er den klar ausgesprochenen Grundsatz gegen die Fastensitte der Johannes- und Pharisäerschüler (Mr. 2, 18). So wie in dieser Hinsicht, so hatte aber die Kritik der heiligen Gebräuche in allen gleichartigen Beziehungen die gleiche Berechtigung. Es konnte sich dann nur noch darum handeln, wann ihre praktische Aufhebung zeitgemäss war. Und in dieser Hinsicht verfuhr Jesus, aus den bereits angeführten Gründen, durchaus antirevolutionär. Dass er das volle Bewusstsein von dem neuen Gehalt und der neuen Form der Offenbarung besass, daher auch das Entgegenstehende deutlich als solches erkannt hat und sich prinzipiell Uber die Stellung seiner Religion zu der alten klar gewesen ist, bezeugt auch sein entschiedenes „Ich aber sage euch", mit welchem er in der Bergpredigt seine höhere Offenbarung der mosaischen entgegenstellt (Mt. Kap. 5, an den wiederholt zitierten Stellen). Aber auch, wo dies Bewusstsein im einzelnen nur ein mehr oder weniger deutliches gewesen sein sollte, ist gewiss, dass sein unmittelbares sittliches Gefühl mit der Selbstgewissheit des Instinkts, welche aus seiner sittlich-religiösen Vollkommenheit folgte, die Harmonie oder Disharmonie mit seiner eignen Offenbarung ermessen haben wird. Denn die Unfehlbarkeit jenes sittlichen Massstabes verbürgte die unbedingte Sicherheit dieses Treffers. Auf grund jenes unfehlbaren sittlich-religiösen Gefühls und dieser daraus entsprungenen sittlich-religiösen Anschauungsformen mu8S Jesus nun den echt religiösen Kern in den Überlieferungen der heiligen Schriften und in den Vorstellungen seiner Zeitgenossen, insbesondere der Scliriftgelehrten, mit Sicherheit als solchen erkannt, das Unvollkommene aber an Inhalt und Form, so weit es dem unfehlbaren Massstab seines Gottesbewusstseins zugänglich war, gesichtet, gereinigt, berichtigt, vervollkommnet haben. Soweit jedoch jene fremden Anschauungen eine nicht ganz sachentsprechende Form besassen, welche indes den sittlichreligiösen Kern in seiner Bedeutung nicht massgeblich mo ifizierten, wird er dieselben angenommen habeu als das, wofür sie galten, ohne dass er auf grund seiner sittlich-religiösen Einzigartigkeit allemal hätte Anlass oder Fähigkeit haben müssen, auch die nicht völlige Entsprechung der Form als solche zu erkennen.



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Dass dem so ist, erweist sich z. B. schon in seiner Stellung zu der zeitgenössischen Anschauung vom 110. Psalm.*) Hier gilt es. die Seite der religiösen Weltanschauung überhaupt zu entwickeln, welche in derartigen Thatsachen hervortritt. Damit gehen wir zu der weiteren Bestimmung der Grenzen der Offenbarung Jesu Uber.

IV. Die Offenbarung Jesu und ihre Grenzen in seiner Stellung zur zeitgenössischen Theologie. 1. I n B e z u g a u f d i e h e i l i g e S c h r i f t . Stellen wir die Formen des wesentlichstenOffenbarungsgehaltcs, welche im Ethizismus gipfeln, unter den praktisch-sozialen Gesichtspunkt, so ergeben sich daraus als massgebliche Grundsätze Gottesund Menschenliebe. Dies sind die Pole, um welche sich zuletzt alle menschlichen Pflichten drehen (Mr. 12. HO f.). Damit stellen sie zugleich d i e A c h s e d e s m o s a i s c h e n S i t t e n g e s e t z e s dar. Diese dem göttlichen Wesen gleichartige Gesinnung bewährt sich in der Feindesliebe und unbedingten Vergebung als der Spitze der christlichen Ethik (Mt. 5, 44 f. 6. 12. 14 f. 18, 21—35). Von hier aus vertiefte und vcrinnerlichte sich Christo das ganze, in seiner Ausserlichkeit nicht zureichende G e s e t z zum Ausdruck der u n m i t t e l b a r e n F o r d e r u n g des göttlichen H e i l s w i l l e n s (Mt. 22. 37—40). Darauf beruht zunächst Jesu p o s i t i v e K r i t i k d e s m o s a i s c h e n G e s e t z e s , wie er sie in der Bergpredigt, als sein Erfüller, nach der theoretischen Seite an den Geboten vom Töten, vom Ehebruch, vom Schwören übt. Sodann kehrt Jesus diesen Massstab notwendig n e g i e r e n d und polemisch gegen alles dasjenige auch im Gesetze, welches der Alleinwesentlichkeit oder gar Berechtigung jener Grundsätze widerspricht. So erlaubt er z. B. selbst am Sabbat das Ahrenausraufen und heilt persönlich Kranke. Denn die Gottesordnung der Sabbatsheiligung ist zu gunsten des Menschen getroffen, dessen Wohl zu Gottes eignen Zwecken gehört, dadurch also selbst religiösen Wert erhält (Mr. 2, 23—28. 3, 1—5). Ja, er *) Vrgl. „Konnte Jesus irren?" I, auch Meinholtl a. a. 0. S. 30 f.

— erkennt

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unumwunden an, dass des Mose Erlaubnis, dem miss-

liebigen W e i b e einen Scheidebrief zu geben, gegen die wahre, ursprüngliche Gottesordnung Verstösse (Mr. 10, 4—6. Mt. 19, 8).*) Der Standpunkt Jesu nun, den er in der Beurteilung des mosaischen Sittengesetzes als des sittlichen Kerns des alten Testamentes einnimmt, gilt gegenüber lieferung Uberhaupt.

der

gesamten heiligen Über-

Er ermisst ihren sittlich-religiösen Wert an

den erörterten Grundnormen.

Was damit in Widerspruch steht,

wird von seinem unfehlbaren sittlich-religiösen Takte

ignoriert,

abgewehrt, verworfen. Dieses unfehlbare Urteil steht ihm jedoch nur eben in bezug auf den Offenbarungsgehalt ohne weiteres zu. Nur diesen konnte er in seiner Qualität empfinden und an den angegebenen Massstäben ermessen stellungen

und würdigen.

verknüpft war, welche

Insofern er jedoch unter dem

mit

Vor-

sittlich-religiösen

Gesichtspunkte keinen unmittelbaren Wert hatten, konnte Jesus in Hinsicht auf diese, wie wir an seinem Orte zeigten, wegs ein unfehlbares Urteil besitzen.

keines-

Dabei ist es gleichgültig,

ob jene Vorstellungen unwesentliche Voraussetzungen und Folgerungen

oder gar die Formen

eDgeven Sinne) darstellen. gegebenen

des religiösen Gehaltes selbst (im

Denn wenn Jesu auch, aus dem an-

Grunde, in bezug auf

das Sittlich-religiöse

in

der

Gesamtwelt, also auch im Hinblick auf das Alte Testament, Unfehlbarkeit

beiwohnte:

so

konnte

doch

dasjenige,

was

nicht

unmittelbar unter den sittlich-religiösen Gesichtspunkt fiel, selbst von einem unfehlbaren sittlich-religiösen Wertmesser weder bejaht noch verneint werden.

Es unterlag vielmehr dem Gesichtskreise

seiner Welterfahrung, deren notwendige relative ich an anderer Stelle psychologisch begründete.**)

Beschränktheit Insofern also

auch die heilige Schrift ihren religiösen Gehalt in Vorstellungsformen (geographischer,

geschichtlicher,

psychologischer,

meta-

physischer Art) darbot, welche zwar zeitgemäss, aber durchaus nicht in jeder Hinsicht sachgemäss waren, nahm auch Jesus notwendig an den Schranken und Irrtümern jener Zeitvorstellungen *) Darüber näheres unter dem Gesichtspunkt der Stellung Jesu zur Inspiration der heiligen Schrift S. 70 tf. **) Vrgl. „Konnte Jesus irren?" Ricker 1896, III, und „Die prophetische Offenbarung". S c l i w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbaruug in Jesu Christo.

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teil. Eine Ausnahme musste nur da stattfinden, wo er irgendwie Gelegenheit hatte, sein weltliches Wissen über die Stufe seiner Zeitgenossen emporzuheben. Dies mochte sehr wohl in Einzelheiten, besonders mittelbar durch gewisse Zusammenhänge mit seinem unfehlbaren religiösen Wissen, der Fall sein. Indessen ist andrerseits, gerade bei seiner einseitigen Konzentration auf das Religiöse, anzunehmen, (lass er weder Zeit noch Trieb besessen, noch Anlass gefunden oder genommen hat, um seine Welterkenntnis rein als solche über die Höhenlage seiner Zeitgenossen hinaus zu vervollkommnen. Die Form seiner religiösen Vorstellungen konnte daher nach d i e s e r Seite nicht unfehlbar sein Sie musste im Gegenteil, allemal unter den früher angegebenen Bedingungen, dem Gesetze der prophetischen Irrtümer unterstehen.*) Besonders wird hier also jene Regel Anwendung finden, in welcher ich, a. a. 0., die Irrtumsfähigkeit Jesu in bezug auf die Form seiner religiösen Anschauungsweise vorblickend zusammenfasse. Auch Jesus wird gewisse irrige Formen seiner religiösen Offenbarung der Uberlieferung oder den natürlichen, insbesondere den zeitgenössischen Anschauungsforrnen entnommen oder ihnen nachgebildet haben. Ihre Irrtümlichkeit zu erkennen, fautl er keinen Anlass. Denn ein seine Zeit überragendes objektives Wissen musste ihm in allen jenen Richtungen abgehen, wo nicht durch die Eigenart seiner, zumal religiösen, Persönlichkeit ein höheres Wissen verbürgt war.**) Dies folgte notwendig aus der Abhängigkeit des prophetischen Bewusstseins von der objektiven Geisteswelt, insbesondere von deu Anschauungen und Überlieferungen seiner Zeit. Damit kommen wir also auf diejenigen Beziehungen der Stellung Jesu zum Alten Testament, in welchen dieselbe der menschlichcn, beziehentlich prophetischen Irrtumsfähigkeit unterliegen musste. Es handelt sich nun hier zunächst um die Abhängigkeit Jesu von der allgemein menschlichen und von der religiösen Vorstellungswelt seiner Zeitgenossen in bezug auf Auffassung und '*) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung". **) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung", S. 149—155, und „Weissagungen Jesu" S. 10 f.



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Auslegung der h. Schriften. Denselben Gesichtspunkt werden wir dann später auch an die zeitgenössischen Religionsvorstellungen als solche anzulegen haben, sofern sie, zumal in der spezifisch jüdischen Anschauung vom Vollendungsreiche, ihren eigentümlichen Mittelpunkt besitzen. Nach dem früher Entwickelten tritt die N o t w e n d i g k e i t des Irrens auch für Jesum überall da ein, wo die übermittelte objektiv verkehrte Auffassung sittlich gleichgültig ist, ohne dass doch auf dem Wege des Welterkennens Möglichkeit oder Anlass zu derzeitiger Berichtigung vorläge.*) Dagegen dürfen wir von jenem andern Anlass zu Irrtümern, wo die überlieferten Anschauungen zwar nicht sittlich gleichgültig sind, wo es aber dem sittlichen Gefühle des Propheten an Zartheit gebricht, um des Widerspruchs der Vorstellung oder des Gedankens gegen den sittlichen Massstab inne zu werden, für Jesum völlig absehen. Denn wir erkannten sein sittlich-religiöses Gefühl als ein unbedingt vollkommenes. Um die Abhängigkeit Jesu von der zeitgenössischen Anschauung in seiner Stellung zum Alten Testamente in concreto nachzuweisen, müssen wir auf die Voraussetzungen eingehen, mit welchen man an die heilige Schrift herantrat, und auf die besonderen Gesichtspunkte, unter denen man sie anschaute. Diese Merkmale der damaligen Weltanschauung liegen im besonderen in geographischer, geschichtlicher, metaphysischer und psychologischer Richtung. Unsere Erörterung wird sachgemäss zunächst die geographische Beziehung berühren, da diese das allgemeine Weltbild enthält, welches Jesus von vornherein der Auffassung der heiligen Schrift entgegenbrachte. Wir werden alsdann die unfehlbare Geltung zu berücksichtigen haben, welche ihr als unmittelbar von Gott eingegebener zugeschrieben wurde. Denn dadurch müssen alle einzelnen Seiten ihrer Beurteilung massgeblich bestimmt gewesen sein. Ich meine die allgemeine zeitgenössische Annahme von ihrer „Inspiriertheit". Hieran wird sich Jesu zeitgenössisch bedingte Stellung zu ihren geschichtlichen Bestandteilen im allgemeinen, sowie zu den Wundergeschichten im besonderen anschliessen. Dabei kommt zugleich seine A11*) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung" a. a. 0.



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s c h a u u n g vom W u n d e r in physischer und m e t a p h y s i s c h e r Hinsicht mit in betracht. Danach wird von dem zeitgenössischen, vorw i e g e n d geschichtlich-psychologischen, Einfluss zu reden sein, u n t e r welchem J e s u s in seinem Urteil Uber W e i s s a g u n g u n d Erfüllung stand. Endlich ist das Mass der A b h ä n g i g k e i t zu bestimmen, in welcher sich seine Bibelauslegung überhaupt, gegenü b e r der derzeitigen Art und Methode der Schriftgelehrten, befindet. Beginnen wir demnach mit einigen v o r b e r e i t e n d e n allgemeinen B e m e r k u n g e n über J e s u geographischen Gesichtskreis.

Vorbemerkung über Jesu geographischen Gesichtskreis. N a c h der geozentrischen Anschauung der Alten und auch der Zeitgenossen J e s u stand die E r d e als eine platte Scheibe, vom Ocean rings umspült und von der massiven H a l b k u g e l des Himmels bedeckt, im Mittelpunkte der W e l t , und die Sonne bew e g t e sich um sie herum. Dazu kommt für die nacliexilischen J u d e n zum Teil noch der Einfluss der späteren persischen Ansicht, wonach die Sterne hier und da mit Engeln und ihre Scharen mit Himmelsmächten zusammenfliessen.*) N a c h dem Bisherigen w i r d die völlige W i l l k ü r der A n n a h m e k l a r g e w o r d e n sein, J e s u s h a b e über diese D i n g e a n d e r s als die J u d e n gedacht. W o h e r u n d auf welchem W e g e sollte er denn eine a n d e r e Anschauung über E r d e und Himmel b e k o m m e n als seine Zeitgenossen?! Dies erweist sich durch meine psychologische Untersuchung seines Prophetismus als einfach unmöglich.**) Nur wird sich Jesu Bedingtheit hierin natürlich nicht in j e d e m einzelnen Falle nachweisen lassen. D e n n g e r a d e weil dieser Kreis sein eigentliches Interesse nicht b e r ü h r t e , so könnten wir eine d e r a r t i g e Möglichkeit nur einem Zufall der Überlieferung d a n k e n . I n d e s s e n haben wir j e d e n f a l l s allen Grund, Andeutungen, welche

*) Vrgl. 2. Kon. 17, 16. 21, 3. 23, 5. Nehem. 9, 6. Dan. 4, 32. Henocli Kap. 18, 13—16. Br. Jud. 13; Kohut, Angelologie und Dämonologie in ihrer Abhängigkeit vom Parsismus, Leipzig 1866 in den Abhandlungen der deutschen morgenländischen Gesellschaft, herausgegeben von Brockhaus. Bd. IY, No. 3, S. 20 f. Yrgl. auch Jes. 24, 21. **i Yrgl. „Konnte Jesus irren" S. 78 ff. und „Die prophetische Offenbarung", u. a. S. 168 f.



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in dieser Richtung liegen, als Symptome der unter den angegebenen Bedingungen für Jesum notwendigen Anschauung aufzufassen und nicht um jeden Preis umzudeutein. Selbst angenommen, dass Mr. 13, 25 zu einer kleinen judenchristlichen Apokalypse gehören sollte, so hat doch offenbar auch der Herr mit seinen Zeitgenossen jene Vorstellung geteilt, welche in den Weissagungen des Alten Testaments wiederholt wiederkehrt, dass die Sterne vom Himmel herabfallen, und dass Uberhaupt die himmlischen Mächte in eine gewaltige Erschütterung geraten werden. Wenn der exilische Prophet am Tage der Rache Jahves sich die Himmel wie ein Buch zusammenrollen und all ihr Heer wie die welken Blätter des Weinstocks und Feigenbaums herabfallen lässt (Jes. 34, 4), so ist dies im wesentlichen der Gedanke von Mr. 13. Er ist allerdings auch im Munde Jesu wohl als poetische Hyperbel aufzufassen, wird aber einem e i g e n t l i c h g e m e i n t e n N a t u r v o r g a n g nachgebildet, somit s e l b s t als m ö g l i c h gedacht. Dasselbe gilt von Mr. 13, 27, wo die Engel im Auftrage des Menschensohnes die Auserwählten vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels zusammenbringen. Hier erklärt Holtzmann sicherlich richtig „vom Ende der Erde, das heisst: östlich von Palästina bis zum Ende des Himmels, westlich, wo das Land zum Meer abfällt, daraus das Himmelsgewölbe sich erhebt."*) Uns ist die Kugelgestalt der Erde von Kind auf geläufig. Wir wissen daher, dass man von einem Berge aus, mag man ihn noch so hoch denken, niemals die ganze Erde überblicken kann. Man müsste j a , um ihre abgewandte Seite zu sehen, durch sie hindurch schauen können. Dies war jedoch für jene frühere Auffassung, wonach man die Erde als eine S c h e i b e ansah, keineswegs selbstverständlich. Für sie war im Gegenteil der gleichzeitige Uberblick über die ganze Erde an s i c h denkbar. Nur musste man sich den Berg ausserordentlich hoch vorstellen und die Schranken der menschlichen Sehfähigkeit mittelst der Phantasie etwas erweitern. Auf diesem Wege gewinnen wir wohl den richtigen Gesichtspunkt fiir jene bekannte Wüstenversucliung Jesu, von welcher Matthäus und Lukas berichten. Danach führte ihn der Teufel *) H.-C. a. a. 0. 262.



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auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Königreiche der Welt und ihre Herrlichkeit (Mt. 4,8) in einem Augenblick (Lk. 4,5). Gewiss: Jesus meint hier einen i n n e r e n Vorgang. Das B e s t e i g e n j e n e s h o h e n B e r g e s auf Antrieb des Versuchers gehört daher zur gleichnisartigen Einkleidungsform. Auch wird der Herr sich bewusst gewesen sein, dass die menschliche Sehfäliigkeit gar nicht oder nur sehr annäherungsweise zureiche, um von dem höchsten Berge aus den ganzen Erdkreis zu tiberschauen. Und dieser Berg ist ihm ebenfalls kein wirklicher, sondern nur ein gedachter. Dies alles aber vorausgesetzt, bedeutet ihm die S a c h c s e l b s t sicherlich ebensowenig eine Unmöglichkeit als seinen Zuhörern. Denn kein Vernünftiger wird in einem solchen, zumal so ernsten, Falle einen überhaupt und an s i c h a l s u n m ö g l i c h erkannten Gedanken zur Veranschaulichung eines wirklichen inneren Erlebnisses wählen. Wa6 hätte es denn für einen Sinn gehabt, Jesum Uberhaupt auf einen hohen Berg zu führen, mit dem offenbaren Z w e c k e , ihm von dort aus a l l e R e i c h e d e r W e l t zu z e i g e n , wenn dies an sich unmöglich war?! Dass auch fiir Jesum u n t e r der Erde der Hades und Uber der Erde im Himmel der Aufenthalt der Seligen sich befand, habe ich schon an anderer Stelle betont (Weissagungen Jesu S. 44 ff.). Im übrigen mag dies hier hinsichtlich Jesu geographischen Horizonts genügen, zumal derselbe nicht nur ausserhalb des eigentlich religiösen Gebiets fällt, sondern auch für seine Beurteilung des Alten Testaments nicht unmittelbar in bctracht kommt. In diese selbst aber treten wir mit der Erörterung seines I n s p i r a t i o n s g l a u b e n s ein. n.) Jesus und die Inspiration ilcr heiligen Schrift.

Wie alle Zeitgenossen hatte auch Jesus gegenüber der h. Schrift des Alten Testaments, hinsichtlich ihrer äussern Entstehung, keine ganz unbefangene Stellung. Gleich ihnen setzt er arglos die (wörtliche) Eingebung derselben durch Gott voraus.*) '•) Meinhold in seiner soeben erschienenen Schrift „Jesus und das Alte Testament", 1896, schreibt Jesu den Inspirationsglaubcn zu, scheint aber daraus zu weitgehend zu folgern, dass er daraufhin selbst an dem



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Nach dieser zeitgenössischen Anschauung ist, genau genommen, Gottes Sehecliina oder heiliger Geist der Urheber der h. Schriften (im weiteren Sinne). oder

mündlich

E r hat sie den Verfassern entweder diktiert

wörtlich

eingegeben.

Kein

des Gesetzes ist für ungültig zu erklären. Mose von

Jahre

auf dem Sinai

ging aber verloren

Jod

noch

Häkchen

J e d e r Accent ist dem

beigebracht.

Die

Schreibung

und wurde durch die Propheten erneuert.*)

J a selbst das Sanhedrin gilt für inspiriert.

Denn es interpretiert

die Thora in göttlicher Erleuchtung und Vollmacht.**) Finden

wir hier

nicht Vorspiel

und Vorbild

der

späteren

unfehlbaren Schriftauslegung durch Konzilien und Papst? Wer

daher behauptet,

„die Thora sei nicht vom Himmel,

der hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt" (Sanhedrin X , 1) und „Wer da sagt,

dass Mose auch nur einen Vers aus eignem

Wissen geschrieben habe, der ist ein Leugner und Verächter des Wortes Gottes"

(bab. Sanhedr. 9 9 a.

Z w a r ist die Inspiration

Schtirer a . a . O .

S. 2 4 9 f.).

der Propheten und Hagiographen

gegenüber der Thora nur sekundär.

Jedoch

stehen sie

dieser

nur darin nach, dass sie, nach der Meinung der Schriftgelehrten, nichts neues zu offenbaren, haben. die

sondern die Thora zu

explizieren

Denn in ihr ist alles, nicht nur das Gesetz, sondern auch

Prophetie

und

das übrige

schon implicite

enthalten.

heisst

es Pesachim 1 1 4 von dem Psalmisten David:

druck

mismor ledavid lehrt,

dass die S c h e c h i n a

So

„Der Ausauf

David

s i c h n i e d c r l i e s s ; dann erst sprach er den Psalm" (Weber, S. 79). Dem entsprechend sind auch für Jesus sogar die P s a l m e n , die doch erst zur dritten Klasse der schriftlichen heiligen Überlieferung, zu den eigentlichen sogenannten „heiligen Schriften", gehörten,

von

(Mr. 12, 30).

ihren

Verfassern

„im heiligen

Geiste

geredet"

Wenn er jedoch den Ausspruch getlian hätte, dass

ganzen inspirierten Gesetze wenigstens grundsätzlich festgehalten habe (a. a. 0 . S. 19 vrgl. 16 t'.; vrgl. dagegen S. 71 ff. 6-1 f.). Über die strenge jüdische Inspirationslehre der Zeitgenossen Jesu vrgl. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Autl. 1886. II. S 25, 1. — Ferd. Weber, Die Lehre des Talmud. Leipzig 1880. bes. 20—23. *) Weber a. a. O. S. 85 f. **) A. a. O. S. 87. Vrgl. überhaupt § 20 und 21.

eher Himmel und Erde, als ein Jota vom Gesetz vergehen solle (Mt. 5 , 1 8 ) , so würde uns diese Ähnlichkeit mit Wajjikra rabba 19 peinlich berühren. Indessen spricht gerade die auffallende, fast wörtliche Gleichheit mit jener Talmudstelle stark für eine judenchristliche Interpolation (vrgl. Offenb. 22, 18. 19). Andrerseits widerstreitet der Geist dieser Wendung durchaus der Stellung zum Gesetz, welche Jesus nachweislich eingenommen hat. Dergleichen ist mit den aufgezeigten Grundsätzen der Offenbarung Jesu unverträglich. Denn ein solches Wort würde der Geistigkeit und Innerlichkeit und dem Ethizismus unmittelbar ins Gesicht schlagen. Auch in diesem Punkte kann daher Jesus keinenfalls kleinlich, peinlich und äusserlich gewesen sein.*) Jedenfalls aber beweisen derartige Stellen des Neuen Testamentes, dass jene strenge Inspirationsanschauung schon der Schriftgelehrsanikeit der Zeitgenossen Jesu eigentümlich war und nicht etwa erst dem nachchristlichen Iiabbinismus angehört. Für Jesum seinerseits giebt es allerdings einen Fall, in welchem sein praktisches Urteil die sonstige stillschweigende Annahme der Inspiration der Schrift zu verleugnen scheint. Diese scheinbare Ausnahme findet statt, wo er sich s e l b s t einer tieferen Gottesoffenbarung bewusst ist. Sie geht daher bloss religiöse Vorstellungen an und bat mit seiner Stellung zu rein G e s c h i c h t l i c h e m als solchem nichts zu tliun. Man erinnere sich jener Stellen der Bergpredigt, an welchen er sein eignes Wort über des Mose Gebote stellt, und bedenke dabei, dass gerade die T h o r a als die u n b e d i n g t e N o n n der L e h r e galt.**) Aber selbst hier erklärt er des Mose noch nicht vollkommene Anschauung, wie sie z. B. in der laxen Erlaubnis der Ehescheidung hervortritt (Mt. 5 , 3 1 f. 19,7), nicht aus einem o b j e k t i v e n Mangel der mosaischen Offenbaruugserkcimtnis. Er führte sie vielmehr augenscheinlich auf den s u b j e k t i v e n Beweggrund der Volkspädagogik zurück, welche dem unvollkommenen geschichtlichen Entwicklungsstaude der Heilsökonomie entsprach (Mt. 19, 8).

*) Dies gilt auch gegen Meinhold a. a. 0. S. 4. **) Ob er seine Kenntnis hier unmittelbar aus den „Sprüchen der Väter-' schöpfte, verschlägt hierfür nichts. S. A. Meyer, „Jesu Muttersprache", 189H.



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Ob er dies absichtliche Entgegenkommen des Mose gegen die thatsächlichen sittlichen Schwächen des Volkes für jene Zeit für richtig hält, sagt er nicht ausdrücklich. Jedoch setzt er es, nach Massgabe der Darstellung, voraus. Dennoch flihlt Jesus den Abstand jener theokratischen Anordnung vom sittlich-religiösen Ideal und spricht ihn unumwunden aus (Mt. 19, 8). Das wird also überhaupt sein Standpunkt in allen denjenigen Fällen sein, in welchen er sittlich flache oder geradezu mangelhafte Verordnungen des mosaischen Gesetzes oder seiner anerkannten Auslegung durch seine tiefere Offenbarung aufhebt. Er erkennt dergleichen, auf grund seines lauteren sittlichen Gefühls, ohne weiteres als sittlich minderwertig, bezw. verwerflich. Daher stellt er ihm unbeirrt seine eigne abweichende oder geradezu entgegengesetzte sittlich-religiöse Erkenntnis, als unbedingt gültige, mithin höhere, Gottesoffenbaruug entgegen. So hebt er das „Auge um Auge„ Zahn um Zahn" (Mt. 5, 38) durch sein ausdrückliches Verbot auf: „Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen (das heisst der böswilligen Schädigung) nicht Widerstand entgegensetzen sollt" (5, 39). Ihm kommt es eben auf den eigentlichen Gotteswillen an, der ihm, wie wir sahen, als der objektive Kern des ganzen mosaischen Gesetzes offenbar geworden war (Mr. 12, 29 — 31).*) Im Hinblick auf diesen beurteilt er dergleichen mangelhafte sittliche Einzelvorschriften und Anschauungen als dem wahren Gehalte des Gesetzes nicht ganz entsprechende Anhängsel oder Schalen und Hüllen. Doch genügt es ihm, ihren thatsächlichen Widerspruch gegen die eigentliche Wahrheit des göttlichen Willens festzustellen, Wie weit derartige Grundsätze in früheren Zeiten, mit Rjücksicht auf die niedrigere Stufe der Volkserziehung, ihr Recht gehabt haben mochten oder nicht, das lässt ihn als praktischen Seelsorger unbekümmert. Gerade deswegen aber nimmt er keinen Anlass, eine gewisse zeitweilige Berechtigung derselben in frage zu stellen, setzt sie vielmehr, wie wir aus seiner Äusserung über die Ehescheidung ersehen, anscheinend voraus. *) Vrgl. auch Schnedermann, Das Judentum und die christliche Verkündigung, S. 254.



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Daneben jedoch entwertet er mehrfach dieselben Bestandteile des Gesetzes und Kultus schon für jetzt, deren relatives g e s c h i c h t l i c h e s Recht er für frühere Zeiten zugestehen mag. Denn jenes Recht ist ihm eben an sich nur ein zeitweiliges, daher vergängliches. Stellt er doch, entsprechend seinen Grundsätzen der Geistigkeit und Innerlichkeit, selbst die Aufhebung des ganzen Kultus in seiner jetzigen Form für die nahe Zukunft in Aussicht (Mr. 14, 58. Apg. 6. 14. Joh. 4, 23 f.). Bei alledem findet sich, wie gesagt, nirgends eine Hindeutung darauf, dass Jesus die mosaischen Vorschriften als solche auf eine mangelhafte sittlich-religiöse Offenbarung zurückgeführt hätte. Er hält vielmehr die Vollkommenheit der mosaischen Inspiration und Uberhaupt diejenige der heiligen Schriften augenscheinlich fest. Wir werden bald Gelegenheit haben, hierfür noch reiclilichc Beispiele zu erbringen. Zunächst erinnere ich nur an die bereits erörterte Geschichtc des Jona. Gerade das Vorurteil ihrer Inspiration verleitete Jesum j a zu den an anderer Stelle nachgewiesenen Irrtümern.*) Allerdings ist es eine auffallende Erscheinung, wie Jesu unfehlbare und rücksichtslose Kritik der sittlich-religiösen Seite der alttestamcntlichen Offenbarung neben seiner Anerkennung der zeitgenössischen Anschauung von der Inspiration bestehen kann, welche den Inhalt mit seiner teilweise mangelhaften Form sich decken lässt. Wir haben jedoch den Grund schon angedeutet. Wohl ist seine grosse, göttliche Seele für alle Seiten des Lebens geöffnet. Sein weiter Geist und sein warmes Herz nimmt sie willig auf, wie sie sich ihm bieten. Aber unbedingt wichtig ist ihm nur sein Heilandsbcruf, in welchem er völlig aufgeht (Lk. 12, 14). Deshalb hat bei ihm, dem idealen Seelsorger, die religiöse Richtung seines Interesses die ausschliessliche Herrschaft. Sogar die Vorstellungen, die nur mittelbar mit Religion zu thun haben, werden daher von ihm sogleich unter den religiösen Gesichtspunkt gestellt und von hier aus nach ihrem letzten und wahren Werte gemessen. Auch aus ihnen scheidet er in erster Linie ihren sittlich-religiösen Gehalt aus und kritisiert mit unfehlbarer Sicherheit die Form desselben, *) Vrgl. „Konnte Jesus irren?" I, 2; ferner MeiuholJ a. a. 0. S. 10.



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soweit sie der Wahrheit widerspricht. Damit aber hat er seiner Hauptaufgabe in dieser Hinsieht genügt. Gerade darum liegt ihm also eine Kritik des Nichtreligiösen an den Dingen, Verhältnissen, Ereignissen, zumal in der heiligen Schrift, fern. So muss er darin durch die Zeitanschauung unwillkürlich bedingt sein. Es ist der ganz in Gott konzentrierten Unmittelbarkeit seines Lebens fremd, sich über Dinge der Welt als solche ein seine Zeit überragendes, selbständiges Urteil zu bilden. Er nimmt daher die Vorstellungen geschichtlicher, metaphysischer und dergl. Art, welche ihm der Stand des Wissens und der Bildung seines Zeitalters entgegenbringt, unbeanstandet hin, soweit sie das religiöse Interesse nicht verletzen. Dahin gehören aber auch die Anschauungen, in welchen sich seine Zeitgenossen die Form, Entstehung und Autorität ihrer heiligen Überlieferung vorstellig machten. So kommt es, dass Jesus die Widersprüche des jüdischen Inspirationsglaubens nicht bemerkt, diesen vielmehr unter dem angegebenen Gesichtspunkte teilt. Und gerade von diesem Standpunkte aus erfährt für ihn die Autorität auch der nicht religiösen B e s t a n d t e i l e der h. Schrift unwillkürlich noch eine Steigerung. Musste sich doch die Heiligkeit des r e l i g i ö s e n Gehaltes der Schrift, welche die Wahrheit utid das tiefste Motiv der Inspirationslehre bildet, psychologisch notwendiger und berechtigter Weise auf jene nichtreligiöse Seite der Sache zu übertragen. So traten auch ihre profanen Geschichten oder deren Bestandteile, zumal bei dem Mangel an geschichtlicher Kritik, in die heilige Beleuchtung des Ganzen. Wer auf dem Inspirationsstandpunkte steht, hat keinen Grund, die Wirklichkeit der heiligen Geschichten, gerade wie sie berichtet werden, in Zweifel zu ziehen. Dies führt uns zunächst zu einer kurzen Besprechung der Stellung Jesu zu den geschichtlichen Bestandteilen des Alten Testamentes an sich.*) *) Vrgl. hierzu auch Meinhold a. a. 0., welcher S. 6—11 und sonst unter seinem besonderen Gesichtspunkte gerade hierzu reichlichen Stoff beibringt.



7»)



b) Jesu Stellung zu den geschichtlichen Bestandteilen des Alten Testaments im allgemeinen. Jesus nimmt geschichtliche Dinge, welche die Schrift überliefert, einfach hin, wie sie sind, ohne dass ihn dabei kritische Bedenken anwandelten. So sagt er (Lk. 11, 31. vrgl. Mt. 12, 42), dass die Königin des Südens im Gericht seinen Zeitgenossen gegenübertreten solle, um sie zu verdammen. Denn sie sei von den Enden der Erde gekommen, Salomos Weisheit zu hören, während jene ihn verachteten, der mehr als Salomo sei. Dabei wird also sowohl Salomos Weisheit, als die Geschichte von der Königin von Saba, welche 1. Kön. 10, 1—9 erzählt wird, als historisch vorausgesetzt. Lad doch muss wohl nicht nur jener traditionell gewordenen Weisheit, sondern auch der immer mehr ausgeschmückten Legende von dieser Königin des Südens, nach den neuesten Untersuchungen, die Geschichtlichkeit, wenn nicht ganz, so doch teilweise abgesprochen werden.*) Dass Jesus die Erzählung von Abels ungerechter Ermordung kennt, beweist Lk. 11, 51. .Mt. 23, 35. Dass er ihre Geschichtlichkeit anerkennt, geht aus dem Zusammenhange der ganzen Strafrede gegen die prophetenmörderischen Pharisäer hervor. Und doch: wer möchte die Geschichtlichkeit dieser Sage u n b e d i n g t verbürgen? An einer andern Stelle will Jesus beweisen, dass es unter Umständen gestattet sei, selbst für heilig geltende Gebräuche zu übertreten. Daher greift er auf jene Erzählung zurück, wie David mit seinen Begleitern zu Nob in der Not die Schaubrote gegessen habe, die nur den Priestern zu essen erlaubt war (1. Sam. 21, 1—7). Es scheint kein Grund vorzuliegen, die Geschichtlichkeit dieser Flucht Davids zu bezweifeln. Jedoch wird der Name des Hohenpriesters, mit dessen Bewilligung der königliche Flüchtling die Schaubrote gegessen haben soll, von Markus fälschlich als Abjathar angegeben (Mr. 2, 26). Dies ist bekanntlich eine Verwechselung des Vaters mit dem Sohne, wie aus der Vergleichung von 1. Sam. 21, 1. 22, 9 mit 22, 20 ff. hervorgeht. Matthäus und Lukas haben dies vielleicht bemerkt. Wenigstens erwähnen sie den *) Vrgl. Stade, Geschichte des Volkes Israel, Berlin 1887, Bd. I. S. 308—311; 309; Anm. 4.

Namen au den Parallelstellen Überhaupt nicht (Mt. 12. 4. Lk. 6, 4). Indessen könnte der Irrtum, welchen der zweite Evangelist allerdings J e s u in den Mund legt, dennoch auf jenen selbst zurückgehen. Nur ist, der ganzen bisherigen Erörterung gemäss, die Anerkennung zu fordern, dass sich die andere M ö g l i c h k e i t nicht g r u n d s ä t z l i c h bestreiten lässt. Ist doch nachgewiesen, dass Jesus in jeder Hinsicht den Gesetzen des menschlichen Seelenlebens unterworfen war, und sind doch verschiedene Irrtümer desselben anderer Art aufgezeigt worden. So kann man sich schwerlich dagegen sträuben, dass ihm hier und da auch ein G e d ä c h t n i s f e h l e r begegnen mochte. Auch seine Erinnerung, zumal in unwichtigeren und seltener erinnerten Dingen, kann j a nicht unbedingt zuverlässig gewesen sein. Denn eine schrankenlose Kraft des Gedächtnisses übersteigt das Mass des Menschlichen. Ähnlich steht es mit einer andern Stelle. Unmittelbar nachdem der Herr, in der soeben berührten Drohrede, von der Ermordung Abels gesprochen, erwähnt er den im Vorhofe des Tempels ermordeten Sacharja. Er nennt ihn, wenigstens nach Matthäus, den Sohn des Berechja (23, 35). Hierin liegt eine Verwechslung mit dem vorletzten der sogenannten kleinen Propheten, welcher einen Berechja zum Vater hatte (Sacli. 1, 1). Dagegen ist jener Sacharja, dessen ungerechte Ermordung hier berührt wird, vielmehr der Sohn des Jojada (2. Chron. 24. 20—22). Ob freilich dieser Gedächtnisfehler wirklich Jesu selber zuzuschreiben ist, muss wiederum fraglich bleiben. Lukas bringt nämlich in der Parallelstelle den Namen des Vaters nicht. Dies kann darin seinen Grund haben, dass er ihn als fehlerhaft erkennt. Es könnte aber auch darauf hinweisen, dass derselbe in der Matthäus und Lukas gemeinsamen Redequelle nicht gestanden hat. Das Hebräerevangelium giebt den r i c h t i g e n Vaternamen.*) Schliesslich erwähne ich noch, dass Jesus sowohl die Flutsage mit Noalis Rettung durch die Arche (Lk. 17, 26 f. vrgl. Mt. 24, 37—39), als den Untergang Sodoius und Gomorrhas durch Feuer und Schwefel, in Verbindung mit Lots Errettung *) Vrgl. Holtzmann, H.-C. S. 255.



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und der Bestrafung seines Weibes, als geschichtlich (Lk. 17. 2 8 f. 3 2 . 10. 1 2 . Mt. 10, 15). die Art und W e i s e ,

wie

der T a g

voraussetzt

Denn er stellt bei L u k a s

des Menschensohnes

herein-

brechen werde, in Vergleich mit dem plötzlichen Einbruch j e n e r Gerichte a u f ein frevelhaftes und leichtsinniges Geschlecht. in seiner Aussendungsrede doms und Gomorrhas

Und

sagt er, dass es den Bewohnern So-

am T a g e

des (jüngsten) Gerichts

erträg-

licher ergehen werde als einer Stadt, welche seine Apostel nicht hören

wolle

(Lk. 10, 12.

Mt. 1 0 , 15).

Eintritt seiner Wiederkunft

ist

Mit

dem

es ihm a b e r

unvermuteten

ein

bittrer

Ernst.

Richtet er doch darauf hin oft genug die eindringlichsten W a r nungen an seine Körer (vrgl. z. B . Mr. 13, 3 3 — 3 7 . L k . 1 7 , 3 3 ff. E r konnte also bei derartigen Gerichtsdrohungen

21, 3 4 — 3 6 ) . * )

unmöglich auf Ereignissen fussen, deren Geschichtlichkeit er nicht voraussetzte.

Nun mag denselben immerhin ein

Kern zu gründe liegen.

geschichtlicher

Doch kann j e d e r , der eiuiges geschicht-

lichc Urteil besitzt, Einzelheiten der Ausführung j e n e r Erzählung als sagenhaft erkennen. Sicherlich

ist

auch Christo

an diesen Geschichten

nur die

Wahrheit von Gewicht, dass furchtbare Gottesgerichte die Frevler je und j e Messias

ereilt haben und in Zukunft diejenigen,

verwerfen,

erst

recht

ereilen

müssen.

welche den

Zugleich

aber

fusst er mit seinen Zeitgenossen einfach auf der Voraussetzung der Geschichtlichkeit

jener Ereignisse.

Diese

ist ihm

so

selbstver-

ständlich, dass ihm dabei nicht einmal der G e d a n k e eines möglichen Bezweifeins derselben gekommen sein wird.

c) Jesus und der alttestanientliche Wunderglaube. W i e Jesus diejenigen geschichtlichen Bestandteile der Schrift ohne weitere Kritik annahm, welche im übrigen dem regelrechten Laufe der Dinge entsprachen, so nahm er auch keinen Anstoss an ihnen, wenn sie Naturwunder enthielten. Bewusstsein

von der

spirationsstandpunkte,

Allmacht

Das ist bei seinem

Gottes, zumal

ganz folgerichtig.

Die

*) Vrgl. „Die Weissagungen Jesu" IV, 2 d.

auf an

seinem

andrer

In-

Stelle



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erörterte Geschichte vom Jonazeichen*) bietet uns hier die beste Handhabe für das Verständnis. Mag Jesus mit seiuem Ausspruch auf die Rettung des Propheten aus dem Bauche des grossen Fisches angespielt haben oder nicht: jedenfalls haben wir keinen Anlass anzunehmen, dass er diese Wundergeschichte nicht fitr glaubwürdig ansah.**) Wie hätte ihm in solchen Dingen ein durchschlagender Zweifel kommen sollen? Dazu hätte er seine Zeitgenossen sowohl an naturwissenschaftlichen als an metaphysischen Kenntnissen in unnatürlicher Weise überragen müssen. Und zu dieser Annahme haben wir, wie wir sahen, durchaus kein Recht. Wie Uber Erde und Himmel, so teilte Jesus zweifellos auch in bezug auf das natürliche Sein und Werden und die Gesetze desselben im wesentlichen die Anschauungen seiner Zeitgenossen. Seinem klaren und nüchternen Auge war zwar die ihm täglich entgegentretende Gesetzlichkeit des gewöhnlichen Geschehens nicht fremd, wurde vielmehr ausdrücklich von ihm anerkannt (Mt. 7, 17. 18. 12, 33). Dennoch hatte er weder besondere Kenntnisse, noch ein massgebliches Urteil in solchen Dingen, welche auf tiefere, der unmittelbaren Erfahrung u n z u g ä n g l i c h e Zusammenhänge der übersinnlichen Welt hinweisen, s o n s t vor seinen Zeitgenossen voraus. Nur besass er auch hier wieder in der wiederholt geltend gemachten unmittelbar r e l i g i ö s e n Beziehung an seinem sittlich-religiösen Gefühl ein unfehlbares Richtmass. Wie wenig entwickelt aber die genauere Kenntnis der Juden von der Natur in vielen Beziehungen war, kann man aus ihrer Archäologie lernen. Ich erinnere nur daran, dass man z. B. den Hasen für einen Wiederkäuer hielt (3. Mose 11, 6. 5. Mose 14, 7).***) Und was mochte es für die Vorstellung jener wunderliebenden Zeit alles für Ungeheuer geben! Man kannte wohl auch, wenigstens von Hörensagen, Ungetüme von der Gattung der Walfische, hatte etwa auch von Tieren dieser Art gehört, welche in

**) Wenn ich auch die Auffassung des Matthäus von dem Jonazeichen nicht teile, so wähle ich dennoch dies Beispiel wegen seiner vorbildlichen Wahrheit. ***) Vrgl. Riehms Hw. S. 573 unter „Hase".



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beiden Kiefern keine Zähne, sondern oben nur Barten haben, vielleicht aber nicht, dass diese, wegen ihres ungemein engen Schlundes, sich von kleinen Krebsen und Weichtieren ernähren müssen und höchstens kleinere Fische verschlingen können. Wie dem auch sei: jedenfalls konnte der Allmächtige einen grossen Fisch „beordern" („minnäh"), der den Jona unzerkaut verschluckte und ungefährdet in seinen geräumigen Magen beförderte. Wohl mochten gewisse Zweifel auch in damaliger Zeit den Hörer solcher Wundergeschichten streifen. Aber sie konnten wegen des oben begründeten Mangels an Kritik und wegen der Wundergläubigkeit, gegen die Glaubwürdigkeit einer, zumal heiligen, Geschichte im Herzen des Gläubigen keine ernsten Bedenken hervorrufen. Und die Inspirationsanschauung musste die Kritiklosigkeit schützen.*) So wird der Gläubige nicht darüber gegrübelt haben, wie Jona im Fischmagen Luft bekommen konnte. Mochte Gott in seiner Allweisheit den Propheten von einem solchen Ungeheuer verschlingen lassen, dessen physiologische Beschaffenheit nach damaligen Vorstellungen das Atmen gestattete. Oder mochte er in seiner Allmacht sorgen, wie er dem Propheten dort unten Luft schaffte. Da nun unser Heiland den Beruf hatte, die vollkommene Offenbarung des Heils zu bringen, so hatte gerade er Besseres zu thun, als seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse auf eine seine Zeit überflügelnde Höhe zu fördern. Auch den andern biblischen Wundern gegenüber war Jesu Standpunkt natürlich gleichartig. Er setzt das Wunder der Brotvermehrung durch den Elia bei der Witwe zu Zarpat, sowie die Verschliessung des Himmels durch diesen Propheten auf drei Jahre ohne weiteres als geschichtlich voraus (1. Kön. 17, 1 ff. *) Für die Leichtgläubigkeit selbst von Rabbinern in solchen Dingen stehe hier folgendes kleine Beispiel: „Indem Mechilta und der Midrasch rabba erzählen, dass Mose Josephs Gebeine aus Ägypten mitgenommen habe, wenden sie folgende Auslegungsart an: »Wenn Elisa das Eisen vom Grunde des Jordans an die Oberfläche kommen lassen konnte, so gewiss noch mehr Mose den Sarg Josephs, der auf dem Grunde des Nil ruhte« " (Weber a. a. 0. S. 95).



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9—16. vrgl. 18. 1 ff. Lk. 4, 25 f.).*) Auch die wunderbare Heilung des Naeman durch Elisa wird von ihm o h n e j e d e B e a n s t a n d u n g als ein historisches Ereignis beurteilt (2. Kön. 5,9—14. Lk. 4, 27). Der Ernst der Annahme Jesu geht daraus hervor, dass ihm diese Geschichten Vorbilder für die Art seiner eignen Wunderthätigkeit in Nazareth bedeuten müssen (V. 23 f.). Nun ist j a nicht nur Elia zweifellos eine geschichtliche Persönlichkeit sondern es wird auch diesen Wundererzäblungen ein historischer Kern zu gründe liegen. Dieser lässt sich jedoch unmöglich mit Gewissheit von seiner sagenhaften Schale lösen. Und mag auch die M ö g l i c h k e i t von dergleichen feststehen: sicherlich kann Jesu Annahme ihrer Geschichtlichkeit, aus den zur Genüge erörterten Gründen, nicht diese W i r k l i c h k e i t verbürgen. "Wenn Holtzmann die Echtheit jener Aussprüche Jesu anzweifelt (H.-C. a. a. 0.), so kann man doch mit Grund nur beanstanden, dass Jesus dieselben schon so f r ü h gethan habe. Dagegen hat sie Lukas wohl in seiner Sonderquelle vorgefunden. Neuerdings hat F e i n e * * ) nachgewiesen, dass der Evangelist hier (Lk. 4, 14—30) einer festen, schriftlichen, judenchristlichen Überlieferung gefolgt ist, mit welcher er allerdings eine Erinnerung an die Darstellung Mr. 6, 2 f. zusammengearbeitet hat.***) Der Grund, warum Jesus derlei unbeanstandet hinnahm, liegt also in der mit den Zeitgenossen unter den angegebenen Einschränkungen geteilten Form seines Wunderglaubens, der Anlass in seiner, ebenfalls zeitgenössischen, Inspirationsanschauung. Gegen diese gleichartige Beurteilung des Wunderglaubens Jesu und der zeitgenössischen Anschauung erhebt sich nun aber ein wichtiges Bedenken, welches die m e t a p h y s i s c h e Seite der Vorstellung vom Wunder angeht. Man meint, da Jesus s e l b s t Wunderthäter war, so folge daraus n o t w e n d i g , dass er einen unfehlbaren Begriff von dem Wunder als solchem, auch nach seiner metaphysischen Seite, hatte. Dies ist indessen keineswegs der Fall. Denn auch hier konnte die Richtigkeit seiner An* Die Hinzufiigung von sechs Monaten zu den drei Jahren könnte wohl dem symbolisierenden Evangelisten zu danken sein. Vrgl. H o l t z m a n n , H.-C. S. 162. **) Eine kanonische Überlieferung des Lucas 1891. ***) Feine S. 42—44. S c h w a r t z k o p f f , Die G o t t e s o f f e n b a r u n g in J e s u Christo.

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schauung nur so weit verbürgt sein, als dafür die e i g n e r e l i g i ö s e E r f a h r u n g einstand. Von dieser r e l i g i ö s e n Seite aus erkannte er das Wunder als eine ausserordentliche Erweisung göttlicher Macht; Gott vollzog es, auch durch seine Gläubigen, für seine Heils- oder Reichszweeke. Mochte J e s u Wunderkraft nun in einer besonderen körperlichen Ausrüstung ihre Unterlage haben: ihre wesentliche B e d i n g u n g war für seine Anschauung rein religiös. Sie bestand in der Festigkeit des Glaubens und seiner Äusserung im Gebet (Mr. 9, 23. 29). Ihm selbst hatte sich diese Wundergabe ungezählte Male in Heilungen mannigfacher Art bewährt, und gerade weil ihre Ausübung für ihn unter die Gebetserhörung fiel, atmen alle hergehörigen Aussprüche die unbedingte Sicherheit seines Könnens (Mt. 26. 53. Job. 11, 42). Dies war für die absolute Innigkeit der Gemeinschaft des Gottessohnes mit seinem allmächtigen Vater nur das Natürliche. Dennoch erprobte sich diese Sicherheit bei ihm erfahrungsmässig nur an solchen Fällen, in welchen er des H e i l s w i l l e n s G o t t e s z w e i f e l l o s g e w i s s war. Denn er wusste sich, wie wir sahen, gekommen, allein jenen zu vollziehen. So hat er sich dieser göttlichen Kraft niemals zu eigenen, sondern stets nur zu Gottes Zwecken bedient. Sein völlig selbstloses und gottergebenes Herz wies schon den Gedanken an ein Gott nicht wohlgefälliges Wunderthun als eine satanische Versuchung zurück (Mt. 4, 3 f. 6 f.). Gegenüber der Massgeblichkeit von Jesu Beurteilung des Wunders unter dem religiösen Gesichtspunkte war hingegen die Unfehlbarkeit seiner Anschauung vom m e t a p h y s i s c h e n Wesen desselben nicht verbürgt. Wie Gott es anfing, das Wunder zu wirken; welche Stellung er demselben zu seiner Weltordnung angewiesen; ob es z. B. nicht seinem Walten widersprechen würde, den J o n a durch einen grossen Fisch drei Tage in seinem Magen beherbergen und nachher ans Land speien zu lassen: über solche Fragen, welche in die Metaphysik gehören oder diese voraussetzen, stand auch Jesu rein religiöser Erfahrung ein unbedingt massgebliches Urteil nicht zu. Denn Frömmigkeit hilft nichts zur Kenntnis der Geschichte als solcher oder der Metaphysik und Keligionsphilosopliie. Im Gegenteil konnte gerade Jesus auf grund seiner thatsächlichen religiösen Erfahrung einem Irrtum kaum entgehen.



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Er war, aus dem angeführten Grunde, der allmächtigen Wunderhilfe seines Vaters überall sicher. Freilich immer unter der Voraussetzung, dass er nur das dem göttlichen Willen Entsprechende begehrte. Diese aber erlitt eben keine Ausnahme. Sehen wir uns darauf hin den Ausspruch an: „Meinst du, dass ich nicht eben jetzt meinen Vater zu Hilfe rufen kann, und er wird mir mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellen?" (Mt. 26, 53). Scheint dieser Satz nicht einen theoretischen Irrtum zu enthalten? Nämlich den, dass Jesus der Erhörung seiner Bitte stets u n b e d i n g t gewiss sein durfte? Wenn aber nach Gottes Willen und der Vorhersagung der Schrift die Hinrichtung des Messias erfolgen m u s s (54), kann Jesus dann w i r k l i c h noch in diesem Augenblicke seinen Vater bitten, ihn durch seine Wunderhilfe davon zu erretten? Hätte er Gottes Wundermacht, gegen dessen ausdrückliche Bestimmung, zur S e l b stliilfe benutzen wollen (Mt. 4, 7), so würde ihn dieser keineswegs erhört haben. Vielmehr würde Jesus, wenn dieser Gedanke auszudenken wäre, der Stellung des auserwählten Sohnes und Heilsmittlers verlustig gegangen sein. Aber gerade weil für Jesum in diesem Augenblicke ein Zwiespalt seines Willens mit dem seines Vaters zwar keine abstrakt logische, aber eine i n n e r e sittliche U n m ö g l i c h k e i t bedeutet, kommt ihm die M ö g l i c h k e i t eines solchen nicht einmal zum Bewusstsein, Ist er doch entschlossen, seinen Vater eben n i c h t zu bitten. Und zwar aus keinem andern Grunde, als weil er weiss, dass diese Bitte dem in der Schrift vorherverkündeten Willen Gottes widersprechen würde (Mr. 8, 35). So liegt ihm auch jede weitere Reflexion über die Folgen fern, die ein gottwidriges Bitten für ihn mit sich bringen müsste. Indem Jesus, überzeugt, dass sein Tod dem Willen Gottes entspreche, der s c h e i n b a r e n sittlichen Möglichkeit, um dessen Abwendung zu bitten, keine Folge giebt, bricht er seinem Irrtum die praktische Spitze für sein Verhalten ab und macht ihn, schon im Momente seiner Empfängnis, sittlich unschädlich. Aber aus dieser ausnahmslosen Erhörung seiner Gebete und aus der unentwegten Sicherheit seines Wunderthuns musste ihm fast notwendig der Irrtum entspringen, dass Gott überhaupt j e d e Art v o n W u n d e r n tliue, und dass für den Frommen kein 6*



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Wunder unmöglich sei. Wieviel mehr für ihn, als seinen eingeborenen Sohn! Es war dies eine psychologisch fast unvermeidliche Verallgemeinerung der eigenen Erfahrung. Zumal bei einem ausschliesslich religiös gerichteten und um Geschichte, Katurgeschichte und Metaphysik unbekümmerten Gemiite. Nur so erklärt es sich, wie er selbst die Vollziehung s o l c h e r Wunder voraussetzen kann, von welchen er es e m p f i n d e t und a u s s p r i c h t , dass sie dem wahren Wesen des göttlichen Geistes widersprechen. Derartige Zeichen wurden eben mehrfach von den h. Schriften berichtet, welche auch ihm für inspiriert galten. Ich erinnere daran, wie er einst Boten in ein Dorf clcr Samariter gesandt hatte, um ihm Herberge zu bereiten. Die Bewohner aber hatten sie abgewiesen, aus Hass gegen die Judäcr, weil er auf der Heise zum jüdischen Passahfest begriffen war. Als dies Jakobus und Johannes vernahmen, sprachen sie zu ihm: „Herr, willst du, dass wir Feuer vom Himmel herabfahren heissen. sie zu verzehren?'' Da wandte sich Jesus um und schalt sie (Lk. ü). Auch wenn der Zusatz einer Variante hinter der Frage der Zebcdaiden, ob sie Feuer herabfahren lassen sollten, ..wie E l i a t h a t " , eine Glosse sein sollte, so zeigt doch der Zusammenhang, dass jene Jünger in der That Miene machten, dem Beispiel des Elia zu folgen. Denn von diesem berichtete das Königsbuch (2. Kön. 1, 10. 12), dass er über zwei Scharen von je fünfzig Mann samt ihren Obersten Feuer vom Himmel fallen liess, welches sie verzehrte. Der untheokratische König Ahasja hatte nämlich den Elia durch diese vor sich bescheiden lassen. Die dritte Schar entrann demselben Geschick nur, weil ihr Oberst den Propheten um ihr Leben anflehte (V. 13. 14). Ein solches Strafwunder also wollten die Donnerssöhne jetzt ebenfalls verrichten. Jesus aber wendet sich, offenbar erstaunt, erschrocken und entrüstet, um und schilt sie deswegen. Dadurch erkennt er rückhaltslos die Verwerflichkeit (1er beabsichtigten Handlung, sowie der Gesinnung an, aus welcher die Absicht hervorging. Diese beurteilte er zugleich als unsittlich und uufromm. Sie widersprach j a seinem sittlich-religiösen Ideale, dem Grundsatz der Menschenliebe, sowie dem göttlichen Geiste und Heilswillen. So ist jener Zusatz der einen Lesart: .,Wisset ihr nicht, wes G e i s t e s Kinder ihr seid?" dem Sinne Jesu durchaus



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angemessen. Daher empfand er auch den scharfen Gegensatz solcher Wunder gegen seinen Heilandsberuf. ,.Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu retten." Dies spricht die Glosse des 56. Verses völlig sachgemäss ausdrücklich aus. Wenn Jesus aber selbst an solcher Stelle von der Unmöglichkeit d e r a r t i g e r ungiittlicher Strafwunder schweigt, so ist das offenbar nach dem Bisherigen nicht nur ein Beweis dafür, dass es ihm vor allem darauf ankommt, die verwerfliche Gesinnung zu züchtigen. Es liegt darin vielmehr zugleich ein Hinweis darauf, dass er gar nicht daran denkt, derlei für unmöglich zu erklären. Er Uberträgt demnach auch hier die nur auf dem religiösen Gebiete erprobte Erfahrung, dass Gott alle Dinge möglich seien (Mr. 10, 27. 9, 23), unwillkürlich sogar auf solche Ereignisse, deren Widerspruch gegen das ihm selbst bewährte Thun ihm zum Bewusstsein kommt. Aber sie treten ihm eben nicht unmittelbar unter dem religiösen, sondern unter dem g e s c h i c h t l i c h e n Gesichtspunkte, geschützt durch die Inspirationslehre, entgegen. Und so mochte er dies dem unerforschlichen Walten Gottes in den Führungen der Menschen- und Völkergeschicke anheimstellen. Fassen wir das Bisherige zusammen, so ergiebt sich, dass J e s u U n f e h l b a r k e i t a u c h in d e r B e u r t e i l u n g d e s A l t e n T e s t a m e n t s s i c h n i c h t auf d e s s e n g e s c h i c h t l i c h e n , n a t u r wissenschaftlichen oder metaphysischen Gehalt bezieht. Er ist darin vielmehr sogar von gewissen r e l i g i ö s e n Auffassungsf o r n i e n seiner Zeit abhängig. Denn er teilt im wesentlichen nicht nur die Inspirationsanschauung der Schriftgclehrtcn, sondern auch die Kritiklosigkeit des jüdischen Wunderglaubens, j e d o c h n a t ü r l i c h n u r s o w e i t , als durch beides nicht die religiösen Interessen unmittelbar oder wesentlich verletzt werden.

d) Jesus und die prophetische Weissagung und Erfüllung.

Mit jener Bedingtheit Jesu durch die zeitgenössische Inspirationslehre hängt noch eine andere gleichartige Schranke seiner religiösen Anseliaunngsform in bezug auf das Alte Testament zusammen. Wir sahen soeben, dass er sich weigerte, die Wunder-



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liilfe seines Vaters für seine eigne Rettung vom Kreuzestode in Anspruch zu nehmen (Mt. 26, 54). Diese Weigerung begründet er durch den Satz: „Wie sollen demnach die Schriften erfüllt werden, dass es so geschehen muss?" Seine Voraussetzung ist hier also diese, dass die Prophetie die Hinrichtung des Messias „durch den heiligen Geist" (vrgl. Mr. 12, 36) im eigentlichen Sinne vorhergesagt hat, und dass diese Prophezeiung die Vorherbestimmung des göttlichen Willens ausdrückt. Darum m u s s die Weissagung erfüllt werden. Nnn ist j a eine göttliche Bestimmung und Notwendigkeit seines Todes nicht in Abrede zu stellen.*) Dennoch kann von einem e i g e n t l i c h e n V o r h e r s a g e n des Todes Jesu durch die P r o p h e t e n nicht die llede sein.**) Wir stossen hier vielmehr wiederum auf eine Schranke zeitgenössischer D e u t u n g der prophetischen Weissagung. Wie die Schranke des Wunderglaubens insbesondere aus der Verkennung der natürlichen, so entspringt diese aus derjenigen der geschichtlichen und seelischen Vermittlung. Die Kabbinen waren es im besonderen, welche die Weissagung überhaupt als i n s p i r i e r t e V o r h e r s a g u n g z u k ü n f t i g e r D i n g e auffassten. Diese eben hielt man für die Hauptaufgabe jener Gottesboten. Daraus ergab sich dann notwendig ihre w ö r t l i c h e Erfüllung. Dies galt natürlich auch von den als weissagend aufgefassten Psalmen, auf welche, aus den angeführten Gründen? so gut als auf die prophetischen Schriften, die Autorität der Tliora übergegangen war. Auch die Schriftgelehrten erwarten daher, im Gegensatz zu den Propheten der Blütezeit (Jerem. 26, 19), das unbedingte Eintieften jeder Kleinigkeit, selbst des geringfügigsten Nebenumstandes, und legen das Gewicht oft gerade auf rein Äusseres und Äusserlichcs. Und die Kehrseite ist diese. Es sieht zuweilen fast so uns. als hätte ein gewisses geschichtliches Faktum weiter keinen Zweck, als dass irgend eine alttestamentliche Weissagung erfüllt werde. Die Erfüllung erscheint also als Selbstzweck. Dabei sah *) Vrgl. „Weissagungen Jesu" II. S. 24 il'. **) Vrgl. „Die prophetische Offenbarung".



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man vielfach Aussprüche, deren Sinn auf die damalige Gegenwart ging, und deren Verfasser nicht einmal an eine s p ä t e r e oder nach mehreren vorbildlichen an eine v o l l e n d e n d e Erfüllung gedacht hatte, als j e t z t zu e r f ü l l e n d e Weissagungen an. Ja man suchte wohl zu der vorausgesetzten Erfüllung unwillkürlich erst die Weissagung hinzu. Diese Anschauung von dem Verhältnis der Weissagung zur Erfüllung, und zwar in ihrer ganzen Äusserlichkeit, Wörtlichkeit und Kleinlichkeit spielte natürlich eine besondere Rolle auf dem Gebiete der zeitgenössischen messianischen Erwartung. Der Kern derselben e n t s p r a c h der wahren Gottesverheissung von der herrlichen Vollendung der Theokratie. Jetzt wurde aber jedes W o r t der Schrift, wo es irgend anging, auf den Messias und sein Reich, j a auf die zufälligsten Umstände seines Lebens vorausgedeutet. Die Propheten und Psalmen weissagten, auch in diesem kleinlichen Sinne, alle auf Christus. Da man nach einer Fülle von Regeln, welche es für den Schriftbeweis gab, und, gestützt auf geachtete Autoritäten, deren Inhalt im mannigfaltigsten und willkürlichsten Sinne auslegen konnte, so machten dergleichen Hineindeutungen keine Schwierigkeit, und selbst anscheinende Widersprüche der Weissagungen unter einander bildeten keinen Anstoss.*) Schlimmstenfalls war das kritische Gewissen nicht überzart. So mussten wiederum „eher Himmel und Erde vergehen", als dass ein Buchstabe der unmittelbar von Gott eingegebenen Weissagung unerfüllt blieb (Lk. 24, 44—47. 27).**) Diese Tendenz ist vor allem auch bei dem ersten Evangelisteu sichtbar (Mt. 2, 23. 27, 9 f.), welcher für Judenchristeu schrieb, und dessen Evangelium zeigen will, dass Gesetz und Propheten des Alten Testaments in Jesu, dem Messias, ihre Erfüllung finden (Mt. 5, 17 f. 11, 13. 4, 15. vrgl. 2. Kor. 1,20; sowie Holtzmann, H.-C. S. 5). So führt er bekanntlich mancherlei Ereignisse des Lebens Jesu auf die Erfüllung von Weissagungen zurück, welche ihm die ältere Quelle ohne solche Rückbeziehuug überliefert hatte (vrgl. z.B. die Einschieb ung des Matthäus 4,13—16 mit Mr. 1. 14 f. u. a). Aber auch bei anderen Schriftstellern

*) Weber a. a. 0. S. 81 f. 95 f. 106 ff. **) Vrgl. das oben über die Inspiration der Thora Gesagte und Weber S. 110 ff.



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des Neuen Testaments ist j a die gleichartige Auslegung von Weissagungen vielfach nachweisbar (Apg. 1, 20. 2, 25—31. Joh. 19, 24. 28. 36 f. Es bedarf nach dem Bisherigen nicht der Versicherung, dass J e s u s in der Deutung der prophetischen und insbesondere der messianischen Weissagungen n i c h t peinlich oder gar kleinlich gewesen sein kann. Greift er doch sogar die Halachoth der Schriftgelehrten an, welche den Gcsetzesinhalt der Thora entwickeln. Und diese standen von Hause aus in weit höherem Ansehen, als die Hagaddoth, die Erläuterungen des geschichtlichen und prophetischen Inhalts der Schrift (vrgl. besonders Mr. 7,1—13. Mt. 23, 4. 16—22. 23—26. Weber a. a. 0. S. 92 ff.). So kann er sich, zumal seit er seiner Sendung bewusst geworden war, unmöglich in sklavischer Abhängigkeit gegenüber der rabbinischen Auslegung auch der prophetischen und messianischen Schriftstellen befunden haben. Wie er vielmehr das W e s e n des göttlichen Willens im G e s e t z herausfühlt, so nimmt er, dem erörterten Grundsatz gemäss, auch nur den Offenbarungskern in der H e i l s g e s c h i c h t e und im P r o p h e t i s m u s als wesentlich, welchen er an seinem lauteren sittlich-religiösen Gefühle ermisst. Doch bestimmen wir zunächst seine Stellung zu den e i n z e l n e n Weissagungen. Er hatte unter gewissen Bedingungen keinen Anlass, war also auch nicht in der Lage, die überlieferte, zumal die aus der Schrift geschöpfte Auffassung, im besonderen vom Messias, zu kritisieren. Nämlich dann nicht, wenn diese Auffassung sittlich nichts Anstössiges hatte. Noch weniger, wo sie geeignet war, unmittelbar oder mittelbar zum tieferen Verständnis z. B. der messianischen Aufgabe beizutragen. Nur nmsste sich nach obigem, gemäss seinen Grundsätzen der Innerlichkeit und Geistigkeit, unter seiner Hand der Kern auch aller messianischen Weissagungen vergeistigen und seine innerste göttliche Tiefe herauskehren. So hatte Jesus, von besonderen Umständen abgesehen, sicherlich keinen Grund, die Abstammung des Messias von Davids Königsstamm nicht ohne weiteres anzuerkennen. Ein solcher wäre für ihn nur etwa vorhanden gewesen, wenn er selber nicht von David abstammte. In diesem Falle würde er allerdings, auf grund seines Offenbarungsbewusstseins, vermöge dessen er sich



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als Messias erkannt hatte, von jener Vorstellung als einer nicht zutreffenden, unwesentlichen abgesehen haben. Und mit vollem Rechte. Denn das Wesentliche der Verheissung lag darin, dass ein in der engsten Gemeinschaft mit Gott stehender Mensch in seinem Auftrage und in seiner Vollmacht die Gottesherrschaft bringen und derselben an Gottes Statt walten sollte. War dieser aus königlichem Stamme und gar aus dem Geschleclite des theokratischen Musterkönigs, so stand dies seiner Gottesherrschaft um so besser an und konnte die innere Wahrheit der prophetischen Verheissung noch steigern. War er es aber nicht, so blieb darum der Kern der Verheissung d e n n o c h bestehen. Indessen würde Jesus die Gründe des Widerspruchs, da er hier nur religiös interessiert war, auf seinem Inspirationsstandpunkte haben auf sich beruhen lassen. Ebenso verhält es sich mit der Annahme der Schriftgelehrten, dass der Messias nach Micha 5, 1 müsse in Bethlehem geboren werden (Mt. 2, 4—6). Traf auch dies äussere Merkmal zu, so mochte es die Erkenntnis der eignen messianischen Sendung noch erleichtern und befestigen. War er jedoch in Nazareth geboren, wie nach Mr. 1, 9 und nach der Darstellungsweise Mt. 2, 22 f. wahrscheinlich ist, so konnte ibn dies keinenfalls hindern, sich dennoch als den von Gott erwählten König und Gründer des Vollendungsreiches zu wissen. Im übrigen nahm er selbstverständlich von vornherein auch in dieser Hinsieht die religiösen Vorstellungen seiner Zeit auf und behielt sie bei, soweit er nicht die angegebenen Anlässe zur Kritik fand. So erkannte Jesus thatsächlich auch die oben berührte Vorstellung der Schriftgelehrten an, dass eine Erscheinung des Elia dem Auftreten des Messias vorausgehen und dieses vorbereiten werde.*) Xähcr sollte Elia, nach rabbinischer Auflassung, das Volk für die Aufnahme des Messias durch die Reinigung von denen würdig machen, die in Israel nicht reiner Abstammung waren. Aber doch zugleich auch durch sittlich-religiöse Reform, wobei die Anleitung zur grossen Russe Israels die Hauptsache war.**) *) Weber a. a. O. S. 337. **) Sirach 48. 10 f. Pirke de — R. Elieser Kap. 43; bei Weber a. a. 0 . S. 337 f.



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Jene erstere Seite lässt Jesus, seinem sittlich-religiösen Gesichtspunkte gemäss. fallen; die andere aber nimmt er herüber. Gerade jene Frage der Jünger, was diese Widerkunft des Elia vor dem Auftreten des Messias zu bedeuten habe, ist besonders belehrend dafür, wie Jesus die Erfüllung von Weissagungen auffasst (Mr. 9, 11). Er antwortet: .Elia kommt zuerst und bringt alles in die rechte Stellung; und wie steht doch Uber den Menschensohn geschrieben, dass er viel leiden und Verachtung erfahren solle? Aber ich sage euch: Elia ist in der That gekommen und sie verfuhren mit ihm nach ihrem Belieben, wie über ihn geschrieben steht" (Mr. 9, 12. 13). Hier hat Jesus also drei messiauiscb bedeutsame Weissagungen gleichzeitig im Auge. Zwei davon betrachtet er als schon erfüllt, und die Erfüllung der dritten erwartet er in bezug auf seine eigne Person. In Erfüllung gegangen ist für ihn zunächst die Weissagung jener Maleachistelle, dass Elia wiederkommen solle. Allerdings wird das gemeine Volk unter dieser Erscheinung des Elia wohl den geschichtlichen Propheten, als in einer zweiten Persönlichkeit, wie dem Johannes, wiedererstanden, erwartet haben. Und wenn einige, darunter Herodes selbst, andrerseits in Jesu den wiedererstandenen Täufer, oder auch wiederum den Elia sahen, so wäre danach Elia zuerst im Johannes und dann zum zweitenmnle in Jesu auferstanden (Mr. 6, 15. 16). Jedoch ist es müssig, für Jesum besonders zu versichern, dass er dergleichen wunderliche Volksmcinungen nicht geteilt hat. Dies hiesse schon seiner Geistesklarheit Unmögliches zumuten. Elia bedeutete ihm vielmehr im übertragenen Sinne eine E l i a p e r s ö n l i c h k e i t , wie wohl dem Maleachi selbst. Er fand die dem Elia von Maleachi vorbestimmte Aufgabe, Vorläufer und Vorbereiter des Messias zu sein und dadurch alles „in die rechte Stellung zu bringen," von Johannes dem Täufer, durch dessen B u s s p r e d i g t , erfüllt. Weiter urteilt Jesus, dass die Leute mit jenem nach ihrem Belieben verfahren sind, „ w i e Uber ihn g e s c h r i e b e n s t e h t (Mr. 9, 13, vrgl. Mt. 11, 16—18). Dies kann man mit Holtzmann nur von der typischen Vorbildung seines Schicksals durch das Leidensgeschick des Elia verstehen (1. Kön. 17—19).*) *) Holtzmann, H.-K., S. 201.



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Auch Jesus hat also mauche Weissagung nicht direkt-, sondern typisch-messianisch aufgefasst. Er kannte nicht nur weissagende W o r t e , sondern E r e i g n i s s e . Und Gottes Führung seiner Frommen muss in der That wegen der Gleichartigkeit der göttlichen Gesetze allezeit etwas ewig Gültiges, daher auch Vorbildliches haben. Freilich ist damit nicht gesagt, dass Jesus schon den B e g r i f f der typischen Weissagung erfasst habe. Dies ist vielmehr mindestens unwahrscheinlich. Trotz jener „Erfüllung" von des Elia messianischer Vorgängerschaft in dem Täufer erkennt Jesus nun daneben eine scheinbar widersprechende dritte Weissagung als gleichfalls erfüllungsbcrechtigt an, wenngleich er sich, wie aus seiner verwunderten Frage hervorgeht,*) der P a r a d o x i e dieser Erfüllung bewusst ist. Der Menschensohn soll danach viel Leiden und Verachtung zu gewärtigen haben. Mit dem Menschensohne aber meint er augenscheinlich sich selbst unter dem messianischen Gesichtspunkte.**) Wäre jene Aufgabe des Elia ganz gelöst, dann müsste ihm (Jesu) doch eine andre Aufnahme durch die vom Täufer Vorbereiteten beschieden sein. Damit schränkt sich für ihn also die Erfüllung der Maleachiweissagung in gewissem Sinne ein. Hier geht ihm mithin unvermeidlich, wenn auch vielleicht unbestimmt, das Bewusstsein auf, dass für manche Weissagungen nur eine derartige b e d i n g t e Erfüllung zu erwarten steht. Der Grund liegt im boshaften Eigenwillen der Leute. Eben weil sie in ungerechter Willkür mit dem Täufer verfahren, wird nun für den „Menschensohn" die Bewahrheitung jenes andern Schriftwortcs nötig, welches ihm Leid und Verachtung in Aussicht stellt. Gewiss wird man die Worte nicht pressen dürfen. Aber der Sinn ist unzweifelhaft. Die u n v o l l k o m m e n e E r f ü l l u n g der Eliaaufgabe durch seinen Vorgänger erfordert für Jesum als Messias ein diesem Vorgänger gleichartiges Todesgeschick, dessen Paradoxie sich auf diese Weise löst (Mr. 9, 12).***) Dem allem *) Wie steht doch über den Menschensohn geschrieben, dass er viel leiden . . . sollte? **) Vrgl. u. ***) Vrgl. die Erörterung dieser Stelle in den „Weissagungen Jesu" unter einem anilurn Gesichtspunkte, S. 14 f.



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liegt also bei Jesu das richtige Gefühl zu gründe, dass die Art und Weise der Verwirklichung der göttlichen Bestimmung in bezug auf die Geschicke der Menschen m i t v o n i h r e r S e l b s t bestimmung abhängt. Dies führt uns zu dem Hauptpunkte zurück, von welchem wir ausgingen, dass Jesus, trotz seiner soeben hervorgehobenen Freiheit seiner Behandlung der Weissagungen, dennoch in seiner allgemeinen Auffassung von ihrer Erfüllung zugleich durch die zeitgenössische Anschauung bedingt ist. Wie er Mt. 26, 54 die Weissagung, wenigstens grundsätzlich, als genau inspirierten Ausdruck des „Dass" einer göttlichen Vorherbestimmung auffasste (s. o.), so liegt auch Mr. 9, 12 die Vorstellung einer d i r e k t e n V o r h e r s a g u n g s e i n e s T o d e s g e s c h i c k s zu gründe. Beide Weissagungen zeigen auf Jes. 53 zurück. Wir müssen daher auch in dieser Hinsicht den echten Kern der Auffassung Jesu hinsichtlich der Erfüllung der Weissagungen von ihrer menschlichunvollkommenen Hülle unterscheiden. Er fand hier die göttliche Notwendigkeit seines Leidens als Messias, die er auf i n n e r e m Wege erkannt hatte, vorgebildet. Er fühlte die Gleichheit des Gesetzes der göttlichen Weltrcgierung bei dem Gottesknechte und sich selbst heraus, wonach das Leiden des Gerechten durch die Ungerechten diesen Heil bringen soll. So b e s t ä t i g t e sich ihm Gottes Absicht mit seiner e i g n e n H i n g a b e in den Tod für das Gottesvolk. Andrerseits aber tritt auch jene Einseitigkeit seiner Beurteilung des Weissagens überhaupt, als eines direkten Vorhersagens, zu tage. Diese liegt zweifellos auch einigen Lukasaussprüchen Jesu zu gründe, falls wir diese als echt ansehen dürfen. So soll Lk. 18, 31 „alles durch die Propheten Geschriebene" an dem Menschensohne vollendet werden. Dabei handelt es sich im besondern wieder um die Weissagung des Messiaslcidens. In demselben Sinne soll Lk. 22,37 die Weissagung an ihm erfüllt werden: „Er ward unter die Ubelthäter gerechnet". Auch dieses Wort Jesu, das ebenfalls auf Jes. 53 zurückgeht, könnte echt sein. Denn der ganze Zusammenhang Lk. 22, 35 — 38 ruht als „wertvolles Sondereigentum des Lukas" auf schriftlicher Überlieferung. (Holtzmann, H. C. 280 Feine, Eine vorkanonische Überlieferung des Lukas 1S91, S. 64 f.).



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So haben selbst für die Auffassung des Auferstandenen nach Lk. 24, 25—27 alle Propheten von Mose an von Jesu Leiden und Eingehen in seine Herrlichkeit geredet. Und nach V. 44—47 musste alles erfüllt werden, was in dem Gesetz Mose und in den Propheten und Psalmen davon geschrieben steht, dass Christus leiden und am dritten Tage auferstehen müsse, und dass Sinnesänderung und Sündenvergebung in seinem Namen unter allen Völkern zu verkündigen sei. Allerdings hat man in solchen Aussprüchen zwischen einem Kern zu unterscheiden, der sehr wohl Jesu eignen kann, und zwischen der Ausgestaltung desselben durch die Uberlieferung und den Evangelisten. Nur wird die Grenze zwischen Gehalt und Einkleidung nicht mit unbedingter Sicherheit anzugeben sein.*) Dass der U m f a n g , in welchem die Weissagungen dieser Art verallgemeinert werden, so wenig der Sache entspricht, kommt wohl auf Kosten der Überlieferung. Doch darf man andrerseits mit dieser Einschränkung nicht zu weit gehen. Denn man muss auch bei Jesu die schon wiederholt berührten und im nächsten Abschnitt ausdrücklich zu behandelnden Mängel der A u s l e g u n g s m e t h o d e mit berücksichtigen. Wenn in dem obigen Ausspruche Jesu auch die Busspredigt und die Sündenvergebung unter den Völkern als Inhalt prophetischer Vorhersagung erscheint, so mag man hier an Worte, wie Jes. 66, 18—21. 2,2—4. 1 9 , 1 8 - 2 5 . 60, 2 ff. Kap. 56. 42,6. 49,6 zu denken haben und Parallelen, wie Mt. 8, 10 — 12 heranziehen. Von Jesu Stellung zur eigentlichen Heidenmission indes darf hier abgesehen werden.**) Andrerseits erscheint jener Ausspruch, wonach alle Schriften erfüllt werden müssen, die Jerusalems Zerstörung vorhersagen (Lk. 21, 22), kaum als ein echtes Wort des Herrn, da weder die entsprechenden Stellen bei Markus, noch bei Matthäus eine Rückbezielmng auf Prophetenwcissagung enthalten. Dagegen darf Jesu Anspielung auf den von den Bauleuten verworfenen Stein, welcher zum Eckstein wird (Mr. 12, 10). als *) Vrgl. über das Verhältnis .Jesu zu der prophetischen weissagung die „Weissagungen Jesu", S. 14 f. **) Vrgl. dazu die „Weissagungen Jesu", S. 142 ff.

Todes-



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unanfechtbar gelten. Denn sie klingt nicht nur in den evangelischen Parallelstellen, sondern auch an andern Orten des Neuen Testaments wiederholt, als offenbare Reminiszenz eines Herrenspruchs, wieder. Der religiöse Wahrheitskern der Erfüllung liegt auf der Hand. Es ist die Grundthatsache der Geschichte des Reiches Gottes, dass sich auf dem verworfenen Messias Jesus der Bau seiner Gemeinde erhebt. Trotz der Einschränkung, welche sich aus der nachgewiesenen Geistigkeit und sonstigen Freiheit seines Standpunktes auch in dieser Hinsicht ergiebt, zeigen demnach diese Stellen, wenn man auch nur ihren wesentlichen Inhalt für echt hält, dass auch Jesus derartige, insbesondere messianische, Weissagungen als direkt inspirierte Vorhersagungen aufgefasst hat. So Hess er j a auch von David seinen göttlich erhabenen Nachkommen vorausschauen und dessen Erscheinung u n m i t t e l b a r prophezeien.*) Die erörterten wesentlichen Schranken seiner Auffassung des Prophetismus entsprangen also einerseits der zeitgenössischen Inspirationsanschauung, andrerseits der Beurteilung der Weissagung als d i r e k t e r V o r h e r s a g u n g einzelner bestimmter Thatsachen und Ereignisse, welche von der Auslegung dann meist unmittelbar auf die Person des Messias gedeutet wurden. Letztere Richtung Hess die Weissagung auf, meist messianische, Einzelheiten beziehen und erstere ihre unbedingte, selbst wörtliche Erfüllung erwarten. Beide gehen auf derzeitige Mängel des geschichtlichen Urteils zurück, welche durch eine gewisse wissenschaftliche Unreife der Zeit bedingt sind. Damit hängen dann, teilweise, unklare und unfertige Vorstellungen psychologischer Art zusammen. So veranlasste Jesu irrige Auffassung hinsichtlich der Inspiration des 110. Psalms nicht nur die, alle geschichtliche Entwicklung aufhebende, Annahme, dass David schon eine Kenntnis der Persönlichkeit des Messias besessen habe, sondern schloss auch das unkritische psychologische Vorurteil ein, er habe diese durch ein vorausblickendes Hellsehen gewonnen.**) Gerade dies beweist, dass Jesus sieh, bis unmittelbar vor seinem Tode, eine *) Vrgl. „Konnte Jesus irren?" I, 3. **) Siehe die letzte Anmerkung.



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geschichtlieh und psychologisch richtige Anschauung von der Entstehung prophetischer Stücke nicht gebildet hat; somit auch nicht über den Gesichtskreis der Propheten und die Art ihrer messianischen Anschauung. Sonst hätte er bei derselben nicht den Charakter des zweiten Gesichts voraussetzen können. Dass er dies that, ist um so auffallender, als man annehmen sollte, dass ihn seine eigne Prophetengabe vor diesem Irrtum bewahren würde. Denn weder seine allgemeinen Weissagungen von Gerichten und Heilszeiten u. dgl., die er von den alten Propheten überkommen und fortgeführt hat. noch die ihm eigentümlichen, welche aus seiner Uroffenbarung abfolgen, haben etwas mit dem zweiten Gesichte zu thun. Auch die letzteren sind vielmehr, wie die der alten Propheten, durch das sittlich-religiöse Gefühl vermittelt.*) Dennoch hinderte ihn, neben der Inspirationsanschauung, die Ausschliesslichkeit, mit welcher sein religiöses Interesse vorherrschte und alles Geschichtliche in den Hintergrund drängte, überhaupt alle andern Vorstellungskreise bestimmte und beschränkte, daran, die teilweise wohlempfundene Art und Schranke seiner eignen eigentlichen Weissagung auf die alten Propheten zu übertragen. Und doch wusste er sich, wie wir sahen, mehr als alle Propheten. Mehr als jene, fühlte er selbst sich vom heiligen Geiste getrieben, der j a sogar seinen J ü n g e r n in Notlagen die rechte Verteidigung ihrer Person und Sache eingab (Mt. 10,19 f. Mr. 13,11). So hätte er von hier aus kein Bedenken tragen können, die Unvollkommenheiten des Prophetismus, so gut, wie die Mängel des Gesetzes, zu kritisieren (vrgl. Mr. 13, 32).

e) Jesus und die zeitgenössische Auslegungsmethode.

Dieser Mangel an der Auffassung der Weissagung und Erfüllung hängt noch mit einer andern zeitgenössischen Schranke zusammen. Das ist die derzeitige Art der Auslegung der h. Schrift überhaupt. Ich erinnere zunächst an diejenige Unvollkommenheit derselben, welche aus der geschichtlichen und philologischen Unbildung der Zeit entsprang. Diese zeigt sich z. B. auch in *) Vrgl. hierzu die „Weissagungen Jesu".

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-

Jesu Behandlung des 110. Psalms. Hätte er ein richtigeres h e r m e n e u t i s c h e s Urteil besessen, so würde er, auch wenn er ihn selbst für inspiriert hielt, doch nicht zugleich seine Ü b e r s c h r i f t als eingegeben angesehen haben. Dann wäre aber die Annahme, die er mit den Pharisäern teilte, fortgefallen, dass das Gedicht von D a v i d stamme. Und damit war die andere Vorstellung beseitigt, dieser habe den Messias als seinen Herrn Torausgesehen. So brachte zuletzt jener p h i l o l o g i s c h e Mangel, in welchem er ron seiner Zeit abhängig war,*) das Irrige an seiner Gesamtauflfassung hervor. Freilich war Jesus vor der rabbinischen W i l l k ü r der Schriftauslegung, sofern diese auf den I n h a l t ging, durch sein lauteres sittlich-religiöses Gefühl geschützt; aber nicht so u n b e d i n g t vor gewissen Mängeln derselben, welche jenen Gehalt nicht schädigen. So bezog z. B. auch Jesus die Erfüllung der Weissagung vom Gottesknechte o h n e w e i t e r e s auf einen Einzelnen, und zwar auf die Messiaspersönlichkeit. Damit verkannte er zugleich, dass sie schon ihre eigentliche Erfüllung gefunden hatte, und erwartete sie unmittelbar von seiner eignen Person (Mr. 9. 12. Lk. 22. 37. 24, 26). Und doch ist deutlich das Israel gemeint, das seiner Bestimmung als Bundesmittler des Volkes (Jes. 49, 8) und Licht der Nationen (V. 6) Ehre macht (49, 3. 4—8 s. u.i. Ähnlich steht es mit Jesu „personlicitlicher" Auffassung des Danielschen Menschensohnes. D a s s er sich mit diesem Namen als Bringer und Kichter des Vollendungsreiches bezeichnet hat. ist dort zu beweisen, wo von dieser messianischen Selhstbencnnung als solcher zu handeln ist (vrgl. 2. b, d). Hier kommt nur seine E x e g e s e der Daniclstellc in frage. Nun bedeutet der Menschensöhn nach der eignen unzweideutigen Auslegung des Verfassers des Danielbuches die Personifikation des Volkes der Heiligen (7. 18. 21 f. 25. 27).**) Jesus aber konnte ihn, nach allem Bisherigen, und entsprechend der Anschauung wenigstens seiner gelehrten Zeitgenossen, schwerlich für etwas andres als eine einzelne Person nehmen. Sonst hätte er ihn j a auch nicht ohne weiteres auf seine eigne einzelne Person deuten können. *) Vrgl. Pesachim 114. **) Vrgl. Weiffenbach. Der Wiederkunftsgedanke Jesu. 1873. S. 149 f.



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Während nun die exakte exegetische Fassung weder Jesu zugänglich noch auch von religiösem Werte war, fand er den Kern der Weissagung thatsächlicb im persönlichen Sinne solchergestalt in sich erftlllt, dass ihre einzig treffende Vorbildlichkeit dem ihm innewohnenden feinen religiösen Takte unmöglich entgehen konnte. Wurde doch in Daniel 7,13 f. dem in himmlischer Herrlichkeit daherfahrenden Mensohensohne von dem Gotte des Himmels (Dan. 2, 44) dessen allumfassendes Reich übergeben. Jesus aber wusste sich tbatsächlich als den himmelentstammten, Ton Gott selbst berufenen Herrscher und Richter des Reiches, das seinem Vater im Himmel gehörte, im Himmel schon wirklich war und auch auf Erden in vollendete Wirklichkeit treten sollte (Mt. 6, 9 f.); welchem sich alle Reiche der Welt auf ewig unterwerfen mussten.*) Wenn aber die Erfüllung, bei ihrer wesentlichen Gleichartigkeit mit der Weissagung, tiefer als diese war, so kann das die Bedeutsamkeit der ersteren nur steigern. Nicht wesentlich anders ist es mit dem oben berührten Zitate Jesu vom Eckstein (Mr. 12, 10). Während darunter in der zu gründe liegenden Stelle Ps. 118, 22 Israel verstanden wird, findet Jesus hierin ebenfalls eine unmittelbare Weissagung auf sich selbst, wenn auch erst Matthäus (21, 42) und Lukas (20, 17) dem Spruche die Form der erfüllten Weissagung geben. Allerdings beeinträchtigt diese Auslegung des Herrn nicht die thatsächliche Wahrheit, dass er wirklich von Gott zum Gründer der Gemeinde bestimmt war. Dass er sie indes unmittelbar dort findet, wo sie höchstens in vermittelter Weise zu suchen ist, bleibt vom hermeneutischen Standpunkte aus ein, mindestens teilweise irriges, Hineinlegen. Freilich legt er diesen Gehalt wiederum nur deshalb hinein, weil er ihn in seinem eignen gottcrfüllten Inneren findet. Es wird also der Mangel seiner Interpretation auch hier weit von der Fülle seiner unfehlbaren Offenbarung überwogen. Noch deutlicher ist das Hineinlegen eines vom geschichtlichen *) Die eingehendere Erörterung dieser Thatsache des Selbst bewusstseins Jesu selbst gehört an eine andere Stelle, ist daher hier im übrigen vorauszusetzen. Sckwartzkopff, Dia Gottesoffenbarung in Jesu Christo. 7



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Standpunkte aus nicht zutreffenden Sinnes in Jesu Beweise für die Unsterblichkeit, Mr. 12,18—27 (vrgl. bes. S. 170 ff.). Er bezieht sich dort auf Jahves Worte: .,Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" (2 Mos. 3, 6). Ihr Sinn ist zweifellos zunächst nur dieser. Derselbe, der sich den Vorvätern gegenüber (bei ihren Lebzeiten), als ihr treuer Buiidesgott bewährt und ihnen verheissen hat, dass er ihr Geschlecht einst zu seinem Volke machen wolle, will eben diese Treue, durch Erfüllung jener Verheissung, auch den Nachkommen erzeigen.*) Die Hermeneutik gestattet nicht, mehr herauszulesen. An die Unsterblichkeit der Väter hat der Schriftsteller hier augenscheinlich gar nicht gedacht. Ja, er selbst hat sicherlich den Unsterblichkeitsglauben überhaupt noch nicht; geschweige denn Mose. 2 Mos. 3, 1 — 15 ist j a im wesentlichen der Quelle „E" zuzuweisen, und diese ist ohne Zweifel älter als die Veröffentlichung des Deuteronomiums, also vor 621 verfasst (Cornill, Einleitung in das Alte Testament 1891 S. 29. 32. 46. 51). Die Anfänge des Glaubens an ein Fortleben nach dem Tode, und zwar an ein leibliches, welches durch die Auferstehung vermittelt wird, lassen sich aber frühestens für die Zeit des babylonischen Exils nachweisen.**) Wenn Jesus also daraus, dass Gott nicht der Gott Toter, sondern Lebendiger sei, schliesst, dass Mose hier die Unsterblichkeit lehre, so folgert er, formell angesehen, aus jener Stelle zu viel.***) Aber vor allem deshalb, weil ihm gar nicht an einer philologischen Auslegung des vorliegenden Textes, sondern im gründe nur an einer Auslegung seiner eignen Gottesoffenbarung liegen konnte, mittelst deren er den Sinn des heiligen Gottesgeistes unmittelbar verstand und deutete. Die exegetischen Schranken zugestanden: so konnten doch alle solche Stellen für Jesu eigentliches Interesse nur den Wert vou Vorahnungen und dann von Bestätigungen seiner eignen Offenbarung haben. So legt er also historisch falsch, aber „pneumatisch"*) richtig *) Vrgl. auch 0. Holtzmann, Jesus Christus und das Gemeinschaftsleben der Menschen. 1893. S. 14 f. **) Vrgl. 2, a, y. ***) Diese irrige Folgerung berührt auch Meinhold a. a. 0. S. 27.



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aus, nämlich unmittelbar aus dem göttlichen Geiste selbst heraus. Denn wenn Gott zu Mose sagte, dass er der Gott der Erzväter sei, so wusste er (Gott) sich dabei als der Gott des Lebens und der Lebendigen und nicht der Toten. So erschloss Jesus im Grunde aus dem W e s e n des Bundes- und Heilsgottes die Unsterblichkeit derer, die ihm angehören. Von dieser Kraft Gottes hatten die Sadduzäer keine Ahnung, fanden sie deshalb auch in der Schrift nicht (Mr. 12, 24).**) Wenn Jesus demnach auch bis zu einem gewissen Grade die Auslegungsmethode der Schriftgelehrten teilt, so bleibt doch ein grosser Unterschied bestehen. Bei jenen wird sie oft zur Karrikatur. Mit ihren sophistischen Künsten wissen sie in jedes hineinzulegen, was sie Lust haben, statt auszulegen, und beweisen aus allem alles. Davor bewahrt Jesum sein grosser, aller rabbinischen Kleinlichkeit und Peinlichkeit fremder Geist, sein unbedingter Wahrheitssinn und sein vollkommener religiöser Genius. Selbst, wo er, der zeitgenössischen Methode folgend, in unrichtiger Weise auslegt, ist dennoch der Inhalt des Ausgelegten stets a n s i c h wahr, königlich, göttlich. Ja, sogar wo er irrt, fällt alle Überschreitung des Masses von Jesu massvoller Art ab. So war selbst die teilweise von ihm übernommene pharisäische Auslegungsmethode nicht imstande, die Klarheit und Geradheit seines religiösen Blickes zu trüben oder zu verkehren. Dieser bleibt uberall unbeirrt auf das grosse Ziel der Heilswahrheit gerichtet, das er, auch bei nicht sachgeniässer Auffassung, nicht verfehlt. Wiederum ein handgreiflicher Beweis dafür, dass Jesus durch seine Göttlichkeit zwar nicht vor gewissen f o r m e l l e n Mängeln in sittlich gleichgültigen Dingen geschützt war, wohl aber vor jeder s a c h l i c h e n Verkehrtheit in allen Beziehungen, die mit den höchsten Werten zusammenhingen. Fassen wir zusammen. Jesus war in Auffassung und Beurteilung der naturgeschichtlichen, metaphysischen, geschichtlichn *) Man gestatte hier diese Verwendung des von Origenes freilich anders aufgefassten Wortes, im Sinne der Auslegung nach der Norm des in ihm selber wohnenden G o t t e s g e i s t e s . **) Siehe übrigens unten (S. 170 ff.) in bezug auf den Offenbarungskern des Spruchs. 7*



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und psychologischen Gegenstände, wo nicht aus den angegebenen Gründen Ausnahmen stattfanden, im wesentlichen von den Vorstellungen seiner Zeitgenossen abhängig. Und zwar in bezug auf Inhalt und Form derselben. Zu letzterer ist auch die sprachliche Darstellungsform zu rechnen, deren exegetische Behandlung ebenfalls an sich eine unvollkommene war. Ja. selbst seine Vorstellungen von religiösen Dingen waren diesen Gesetzen unterworfen. Doch konnte hier die Unvollkommenheit oder der Irrtum der Auffassung nur die Form betreffen. Die Abhängigkeit auch in dieser Hinsicht beweisen schon seine Anschauungen und Voraussetzungen von der Inspiration, vom Wunder, von dem messianischen Bewusstsein der Gottesmänner, von der prophetischen Weissagung Uberhaupt und ihrem Verhältnis zur Erfüllung und ähnliches. Anders gestaltete sich die Sache nur, wenn er Anlass hatte, au6 dem Interesse heraus, dass der G e h a l t der religiösen Offenbarung nicht geschädigt werde, Kritik an den religiösen Vorstellungen zu üben. Diese Schranken Jesu traten uns entgegen, indem wir seine Stellung zur h. Schrift untersuchten. Wir haben uns nun die Frage vorzulegen, wie Jesus sich gegenüber der schriftlich fixierten oder nicht fixierten, eigentlich z e i t g e n ö s s i s c h e n Überlieferung, zumal der Theologie, verhielt.

2. D i e O f f e n b a r u n g J e s u und ihre Grenzen in bezug a u f d i e G r u n d g e d a n k e n der p h a r i s ä i s c h e n L e h r e vom Vollcndungsreiehe. a) Das Volleudiingsreicli in der zeitgenössischen Anschauung.

Erst wenn wir uns die Frage beantworten, wie Jesus sich zu der gegenwärtigen religiösen Entwicklungsstufe, als selbständiger Erscheinung von verhältnismässiger Ursprünglichkeit, gestellt habe, werden wir die stärksten konkreten Fäden seiner Bedingtheit durch die zeitgenössische lieligionsansehauung in die Hand bekommen. Der nachkanonisclie Judaismus hatte zu Jesu Zeit in der Schriftgelehrsamkeit eine eigenartige Gestaltung auf religiösem Gebiete gewonnen. Diese, vorwiegend pharisäische, Anschauung



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aber durchdrang damals die breitesten und tiefsten Schichten des Gottesvolkes

und drückte

wesentlichsten konservative

zweifellos ihrer Frömmigkeit in den

Beziehungen Priesteradel

sie als Neuerung.

den

der

Sind j a

Stempel

auf.

weltförmigen

Nur

der

Sadduzäer

ultra-

verwarf

doch die Pharisäer die „klassischen

Repräsentanten derjenigen Richtung, welche die innere Entwicklung Israels in der nachexilischen Zeit überhaupt eingeschlagen hat."*)

Denn „ w i e in der Stellung zum Gesetz, so vertritt der

Pharisäismus schauungen

auch

in

lediglich

den

den

religiösen

und

dogmatischen

orthodoxen Standpunkt

des

An-

späteren

Judentums.1, * * ) Jedenfalls hatten seine Glaubensgedanken insofern eine innere Berechtigung, als sie die geradlinige Fortentwicklung der alttestamentlichen Religion bedeuteten, und vor allem, so weit sie

der

vom Prophetismus gepflanzten Herzensfrömmigkeit

ent-

sprachen. Der starke Einfluss dieser Anschauung auf das Volk wird schon

allein

durch

die

salomonischen Psalmen

Thatsachc

bewiesen,

der Liturgie

dass damals

die

des Synagogenkultus

ein-

verleibt waren.

Denn diese atmen in allen dogmatischen Haupt-

punkten

echt pharisäischen

einen

Geist, allerdings

in

edelster

Gestalt. Das

pharisäische

Gepräge der

Volksfrömmigkeit tritt uns

sodann fast auf jeder Seite der Evangelien, zumal der Synoptiker, und überhaupt in den neutestamentlichen Schriften, soweit

sie

im wesentlichen ein Ausdruck urchristlichen Glaubens sind, entgegen.

Aus diesen werden wir daher am sichersten die Art der

zeitgenössischen Frömmigkeit ermitteln, um alsdann Jesu Bedingtheit

durch

dieselbe

im

einzelnen

feststellen zu

können

(vrgl.

Apg. 15, 5 f.. 21. 20 f., 23, 6—9. 24, 15 f.). So sehr Christus das Satzungswesen der Pharisäer und ihre verkehrte Richtung auf Werkgerechtigkeit bekämpft, so werden wir uns doch fast in jedem einzelnen Falle Uberzeugen, dass er in den bewegenden Gedanken des Pharisäismus, welche sich um

* ) Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter

Christi.

II, * * ) A . a. O. S. :fcKJ. Ricker 1802.

S.

165.

V r g l . Schwally,

Das Leben

nach

dem

Tode.



102



die Anschauung: vom Vollendungsreiche gruppieren, im stärksten Masse durch sie beeinflusst ist.*) Dem gegenüber tritt die Einwirkung der apokalyptischen und pseudepigrapbischen Litteratur auf Jesu D e n k w e i s e sehr zurück. An nur vereinzelten Stellen der Evangelien finden sich gewisse Spuren eines Einflusses von dieser Seite her. Gewisse feine Bezüge zwischen den Anschauungen Jesu u n d der spezifisch apokalyptischen Richtung seiner Zeit sind sorgfältig in dem bedeutsamen W e r k e von Baldensperger, „Das Selbstbewusstsein Jesu", 2. Aufl., nachgewiesen worden. Indessen betreffen auch diese keinen von den wesentlichsten Punkten. Abgesehen davon lässt sich mit Sicherheit fast nichts dieser Richtung Eigentümliches in der Anschauungsweise Jesu nachweisen, wie sie uns im neuen Testamente entgegentritt. Selbst der „Menschensohn-, über den wir später ausführlicher zu sprechen haben, zeigt keine Züge, die man nicht aus dem kanonischen Danielbuche selbst abzuleiten imstande wäre.**) Alles dies spricht d a f ü r , dass auch die Volksanschauung nicht massgeblich mit jenen apokalyptischen Ideen durchtränkt gewesen sein wird, und dass j e n e Richtung mehr einer Schulmeinung gewisser Schriftgelehrten gleich zu achten ist. Daneben ist freilich nicht zu verkennen, dass dennoch hier und d a m i t t e l b a r e Einflüsse von dort aus die F ä r b u n g und Gefühlsstimmung mancher religiösen Einzelvorstellungen beeinflusst haben mögen. Ich erinnere an das Bestreben der Pharisäer, den Anbruch des Vollendungsreiches zu berechnen (Lk. 17, 20. 21). Auch mag jene Richtung dazu beigetragen h a b e n , den escliat((logischen Ideen einen mehr transzendenten C h a r a k t e r aufzudrücken. Im Daniel selbst macht die Verjenseitigung des Gottesreiches nur einen sehr mnssvollen Anfang. Man k a n n hier eigentlich nur von Hervorkehrung des Ewigen, Himmlischen und einer *) Auf die E n t a r t u n g der praktischen F r ö m m i g k e i t zurückzukommen, halien wir natürlich keinen Anlass. H i e r handelt es sich vielmehr um die Stellung des H e r r n zu den a u s g e p r ä g t e n , eschatologischen Vorstell u n g e n der Pharisäer. Auf Ausnahmen kann daher an i h r e m Orte a u f m e r k s a m g e m a c h t werden. Sie beziehen sich im wesentlichen auf die Apokalypse des Henoch aus dem J a h r h u n d e r t vor Christo.



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-

gewissen Vergeistigung der im übrigen wesentlich altprophetischen Auflassung des Messianismus*) reden. Da nun Jesus sich mit dem Spezifischen jener Richtung so wenig berührt, so werden wir von derselben im allgemeinen absehen können. Ausser dem neuen Testamente sind dagegen vor allem die rabbinischen Erzeugnisse mit heranzuziehen, soweit diese mutmasslich bis in Jesu Zeit zurückreichen. Die einleuchtende Verwandtschaft so vieler Vorstellungen derselben mit nachweislichen Anschauungen Jesu und seiner Zeitgenossen bestätigt die Abstammung dieser Litteratur von den geistigen Vätern des Rabbinismus und bezeugt sie als ein Erbstück der pharisäischen Schriftgelehrsamkeit der Zeit Jesu. Auf diesem Wege wird unsere Einsicht in dessen Bedingtheit durch die Religionsvorstellungen der Zeitgenossen unterstützt werden.**) Um diese zeitgeschichtlichen Beziehungen Jesu richtig zu würdigen, wollen wir nun zunächst die Anschauung vom Vollendungsreiche in ihrer Ausbildung auf alttestamentlichem Boden in betracht ziehen, soweit sie die Grundlage der pharisäischen Vorstellung bildet. Sodann werden wir auf die Hauptbeziehungen eingehen, in denen das Exil und der Pharisäismus jene ihm überlieferten Gedanken entwickelt hat. Und endlich ist das Verhältnis Jesu zu den einzelnen Punkten der zeitgenössischen Anschauung ins Auge zu fassen. a.) D i e a l t t e s t a m e n t l i c h e G r u n d l a g e d e r A n s c h a u u n g messiauischen Reiche.

vom

Werfen wir fürerst einen kurzen Blick auf die grossen geineinsamen Züge, welche der Prophetismus vom messianischen Reiche darbietet. Schon nach den alten Propheten errichtet Jahve selbst oder durch seinen Messias, den grossen Zukunftskönig, nach Besiegung' *) I m weiteren Sinne. '••'*) Allerdings lässt sich in manchen Nebenpunkten öfter nicht sicher entscheiden, ob eine A n s c h a u u n g der vormakkabäischen oder der eigentlich pharisäischen, unter U m s t ä n d e n auch der nachchristlichen Schriftgelehrsamkeit angehöre. Indes fällt dies h i e r , wo es n u r auf die A n s c h a u u n g im grossen und ganzen ankommt, nicht ins Gewicht.



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und Ausrottung der nationalen Feinde mit äusseren Machtmitteln, das Königreich, d. h. ein politisches Weltreich, und regiert es in entsprechend äusserlicher Weise (Jes. 9, 3 — 6 . 10, 1 2 — 2 7 . 11, 1 — 5 . 9. 60, 12. 32, 1 f. Ps. 2, 47, 72, 97, 99. Ps. Sal. 17).*) Selbst bei Daniel wird den Heiligen des Höchsten die Weltherrschaft erst nach dem Sturze der übrigen Reiche, und zwar als eine äussere, übergeben. Freilich wird sie in Gottes Auftrage und Namen gegründet und ist in demselben Sinne zu verwalten (Dan. 7, 1 1 — 1 4 . 2 6 f.). Aber die Äusserliohkeit der Regierung selbst bleibt dabei bestehen. Die Vernichtung der Feinde des Gottesvolkes bedeutet für diese ein Gottesgericht. Die Zeit, für welche es erwartet wird, heisst „der T a g J a h v e s " . Mit der Erweiterung des geschichtlichen und geographischen Gesichtskreises nimmt der Umfang derer zu, Uber welche das Gericht ergeht, bis endlich der Gedanke des Gerichts über alle Völker und selbst Uber die Frevler unter den Israeliten daraus hervorgeht**) (Jes. Kap. 34. 63, 1 - - 6 . Hes. Kap. 38 u. 39. J o e l Kap. 4. Kap. 1 u. 2, 1 — 1 1 . Am. 9 , 1 0 . * * * ) So wird das Gottesvolk selbst gesichtet (vrgl. schon Jes. 1, 8 f. 6, 13. 10, 2 0 ff.). Der Rest wird dann Jahves Volk sein (vrgl. auch Micha 7, 18). Darauf soll die Heimkehr der zerstreuten Israeliten und Judäer, ihre Vereinigung und die endgültige Wiederherstellung des Volkes und Königtums Israels in ihrem Lande erfolgen (Am. 9, 1 1 — 1 5 . J e r . 23, 3 — 8 . K. 3 0 u. 31 u. 33. Jes. K. 45 u. 51. Hes. 34, 1 3 — 3 0 . K. 36 u. 37). Im allgemeinen schreitet dann die Vergeistigung dieser Anschauung stetig fort und erreicht mit dem Exil ihren Höhepunkt. Um dieselbe Zeit wird die universale Art des Gottesgerichts und der Gottesherrschaft endgültig erkannt. Seil Jahve J u d a in die Hand der babylonischen Weltmacht gab, umspannt das Gericht die ganze Erde, j a trifft selbst die Mächte der Höhe (Jes. 24, 19—21). Das Vollendungsreich aber nimmt deutlich den Cha*) Vrgl. Hengstenberg, Christologie, III, Abt. 2, S. 192 f. **) Dies ist nicht streng geschichtlich, sondern genetisch aufzufassen. ***) Bei Arnos steht die Vergeltung gegenüber den Israeliten freilich noch nicht unter dem universalen Gesichtspunkte. 5, 18. 20. Vrgl. Jes. 11, 4. 65, 11—15. 66, 15-18.



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rakter der Weltherrschaft an. Nicht nur viele Fremdlinge siedeln ins heilige Land über und schliessen sich Jahve an (Jes. 56, 3—7), um dann als Hirten, Winzer und Ackerleute den Israeliten zu dienen (Jes. 61, 5), sondern alle Völker der Welt, soweit sie nicht vernichtet sind, werden Israel unterwürfig oder doch tributpflichtig (Jes. 11, 4 f. 60, 12. 14. 49, 23. 45, 14. 23 f. 60, 5—11. 16. 61, 6. 66, 12). Damit beginnt aber zugleich Israels religiöse Weltherrschaft, in welcher die Rechtfertigung der politischen liegt. Denn Jahve, früher Nationalgott, ist nun als der alleinige Herr der ganzen Welt erkannt.*) Die Völker selbst, unter denen Jahve seine Macht erwiesen, werden ihn nun verehren und sich durch seinen Stellvertreter richterlich und religiös weisen und belehren lassen (Jes. 49, 6 f. 23. 60, 12. vrgl. Ps. 2, 10—12). Solche, die dem grossen Gerichte entronnen sind, werden unter den Völkern Jahves Herrlichkeit kund thun (Jes. 66, 19). Auch die Heiden werden ihm in seinem Tempel dienen. Selbst Priester und Leviten sollen einst aus ihnen genommen werden (Jes. 66, 21). Insofern nehmen also auch Nichtjuden jetzt an dem Reiche Gottes und seiner Herrlichkeit Teil (Jes. 25, 6 f.). Zuweilen dämmert sogar die Ahnung auf, dass die heidnischen Weltmächte in innigster Gottesgemeinschaft Israel ebenbürtig zur Seite treten werden (Jes. 2, 1—4. Mich. 4, 1—3. Jes. 66, 18. 21. 23. 19, 18—24). Soweit aber das Volk für die Propheten in seinem höchsten Vertreter als in seiner Spitze zusammengefasst ist, waltet dieser Weltherrschaft des Gottesvolkes der messianische König aus dem Davidischen Geschlechte, der sie an Gottes Statt regiert (Am. 9,11. Jes. 9. Jer. 33,11—17. 21 f. 26. Hes. 34,12.23 f. 30 f. 37, 24 f.).**) Unter ihm wird dem Volke nun äusseres und inneres Heil zuteil werden. Dieses soll sich selbst auf die Natur erstrecken (Jes. 11, 1—9. 65, 17—25). *) Vrgl. Schürer II, 421. Smend, Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte, 181 f. **) Das un messianische Vollendtuigsreich geht uns hier nicht näher an, da die herrschende Anschauung der Zeitgenossen Jesu, und zumal Jesu selbst, nur ein m e s s i a n i s c h e s kennt.



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Was die P e r s o n d e s m e s s i a n i s c h e n K ö n i g s im besondern betrifft, so wird zuweilen ausdrücklich gesagt oder doch vorausgesetzt, dass Jahve d u r c h i h n die Feinde, welche sich nicht unterwerfen, richtet, bezw. ausrottet (Jes. 9, 3—5). In der Regel indes tritt das Werkzeug in dieser Beziehung hinter Jahve zurück, der persönlich den Anbruch der Heilszeit herbeiführt und dann seinen König an seiner Statt einsetzt (Je. 52, 12. 30, 27. 24, 21—23. Kap. 32 u. 33, 21 ft. 41, 10—14 u. ff. 43, 3. 59, 16—20. 61, 2 ff. 63, 6. 66, 15 f. Vrgl. Ps. 110, 1 f. 5 f.). So wird auch der Menschensohn, Dan. 7, erst n a c h d e m G e r i c h t e Jahres über die Weltreiche mit dem Gottesreiche betraut (10-14). Der Messias wird als das Ideal eines Herrschers gedacht. Er ist nicht nur ausgezeichnet durch Kraft, Macht, Majestät, Gerechtigkeit und Weisheit, ein Sieger im Streit, ein Gottheld, ein Beuteverteiler, ein Wunderrat und ein Fürst des Friedens (Mich. 5, 3 f. Jes. 9, 5 f. 11, 4 f. 32, 1), sondern auch ausgerüstet mit dem Geiste Jahves, fromm und gottesfiirchtig (11, 2 f.), und steht, als Vertreter des Gottcsvolkes, mit Jahve selbst in engster Gemeinschaft (Jcr. 30, 21 f.). Schon durch den Hauch seiner Lippen tötet er die Gottlosen (Jes. 11, 4). Der äusseren Umwandlung von Natur und Menschen entspricht, schon seit Jesaia, die i n n e r e der Glieder des Volkes selbst. Es ist nun das wahr geworden, was die Propheten verheissen haben: Die Israeliten sind im vollen Sinne ein Volk Gottes, das in völligem Gehorsam den Willen seines Königs und des Statthalters desselben vollzieht (Jer. 31, 33. Hes. 36, 26 f. 37, 24). Ihre wirkliche innere Goltzugehörigkeit entspricht der ihres Regenten. Auch sie sind mit Gottes Geist erfüllt (Hes. 36, 26 f. vrgl. Jer. 31, 33). Das Land ist mit Gotteserkenntnis bedeckt, wie vom Wasser der Grund des Meeres (Jes. 11, 9. Jer. 31, 34). Das wahre Israel macht nun durch Verbreitung und Bewährung dieser Erkenntnis viele gerecht (Jes 53, 11), j a wird zum Licht- und Heilbringer der Heiden, deren oben schon berührte Bekehrung und Verehrung Jahves als des alleinigen Gottes auch hieraus mit erfolgt (Jes. 45, 14. 42, 6. 49, 6). Die Glieder des Gottesreiches werden dann volle Vergebung der Sünden haben (Jes. 53, 11. Jer. 31, 34 u. a.) und aus lauter Gerechten



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bestehen (Jes. G0, 21. 32, 1 - 8 . Ps. Sal. 17, 28. 30. 3(3, 46. 49. 18, 10. Apok. Henoch 5, 8. 107, 1. 91, 8. 108, 2).*) Die Vorstellung ist anfangs allerdings die, dass in endlose Zeit hinein das Geschlecht Davids das niemals vergehende verherrlichte Volk Gottes regiert (2 Sam. 7, 16. Vrgl. Sclitirer II. 444 f.). Indessen wird später auch dem Messias als einer Einzelpersönlichkeit diese ungemessene Dauer der Herrschaft beigelegt. Dabei liess der, noch recht sinnlich gedachte, Verklärungszustand von Land und Volk den Israeliten älterer Zeiten nichts mehr zu wünschen übrig. Im Laufe der Zeiten wurde jedoch aus der unermesslich langen Dauer der Herrschaft eine wirkliche Ewigkeit und aus der Verklärung des Landes und seiner lange lebenden Bewohner (Jes. 65, 20—23) eine völlige Welterneuerung und Unsterblichkeit der Individuen (vrgl. Job. 12, 34).**) So lange die messianische Zeit als unbegrenzt gedacht wurde, fiel natürlich, da sie mit der Heilszeit überhaupt identisch war, das Gericht Uber die Heiden und Gottlosen v o r ihren Beginn. Aber schon Ilesekiel traut den früher Israel bis auf den Tod feindlichen, nun unterworfenen, Weltmächten, nicht eine ewig friedliche Unterwürfigkeit zu. Er lässt, nachdem die in ihr Land zurückgekehrten Israeliten hier ..geraume Zeit" „in Sicherheit gewohnt" (38, 8), „in der letzten Zeit' (V. 16) den König Gog ans dem Lande Magog an der Spitze aller feindlichen Völker einen letzten Ansturm gegen Israel machen. Dann wird sie Jahve durch Erdbeben, Schwert, Pest, Regen, Hagel, Feuer und Schwefel insgesamt endgültig vernichten und den Tieren zum Frasse geben (38, 19—39, 5 f. 17—20). Auf grund der Annahme dieses Propheten, dass die Heiden sich ein zweites Mal gegen die messianische Herrschaft empören würden, erwartet die spätere Theologie, auch der Zeitgenossen Jesu, wie sich später zeigen wird, teilweise einen grossen zweiten Gerichtstag am Ende der begrenzt gedachten niessianisehcn Zeit,***) welcher dann erst das eigentliche zukünftige Weltalter der Voll*) Bei Sekwally a. a. 0. 141. "*) Vrgl. Schürer 457. '•'**) Siehe die Stellen bei Schürer 457.

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endung, den „olam habba", einleitet. An diesem Tage tritt nunmehr erst die endgültige letzte Entscheidung ein, durch welche das ewige Los der Heiden bestimmt wird. Den Massstab bildet naturgemäss ihr Verhalten gegen den Messias und sein Reich.*)

ß) D i e z e i t g e n ö s s i s c h e und p h a r i s ä i s c h e A n s c h a u u n g V o l l e n d u n g s r e i c h e im allgemeinen.**)

vom

In diesen angeführten messianisch-eschatologischen Vorstellungen sind augenscheinlich bereits alle wesentlichsten Faktoren der Anschauungen enthalten, welche die frommen Zeitgenossen Jesu beherrschten. Die Thätigkeit der Schriftgelehrsamkeit besteht auf dieser Seite hauptsächlich in der systematischen und schematischen Zusammenfassung des in den heiligen Schriften Überlieferten und in der möglichsten Harmonisierung desselben im Sinne der unfehlbaren Inspiration. Die pharisäische Schule insbesondere bildete sodann gewisse Seiten der Zukunftshoffnung ins Einzelne weiter. Zwar lief, wie wir schon andeuteten, eine zunehmende Verjenscitigung der Vorstellungen von Gott und seinem Verhältnis zur Welt überhaupt und der messianischen Idee insbesondere nebenher und wurde durch die apokalyptische Litteratur gepflegt; wie dies Baldensperger vortrefflich nachgewiesen hat. Indessen tritt dieser Transzendentismus in letzterer Hinsicht, zumal in der Vorstellung der von den Pharisäern im wesentlichen abhängigen frommen Zeitgenossen Jesu, keineswegs so weit vor, dass aus dem messianischen Königtum ein Reich nicht von dieser Welt und aus dem Messias ein übermenschliches Wesen geworden wäre. Dieser gewann allerdings allmählich, schon auf alttestamentlicher Grundlage,***) eine, wenigstens ideale. Prä*) Im übrigen verweise ich hinsichtlich der Anschauung von dem messianischen Vollendungsreiche auf die Ausführungen in meiner Schrift „Die prophetische Offenbarung" über die Grundformen der messianischen Weissagungen. **) Für das Folgende vergl. besonders Schürers mehverwähntes Werk und Webers „Lehre des Talmud", denen ich die wesentlichsten hergehörigen Data entnommen habe. ***) Vrgl. Mich. 5, 1, das man in diesem Sinne deutete.



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existenz.*) Er wurde aber, auch nach derzeitiger Anschauung, als Fleisch vom Fleische aus Davids Stamme geboren.**) Auch besass er nur eine relativ zu verstehende Slindlosigkeit (Ps. Sal. 17, 41),***) war selbst, nach der Ansicht einiger, dem Tode nicht durchaus entnommen (IV. Esra) und beherrschte das ihm von Jahve verliehene Gottesreich als ein irdisches, politisches Weltreich. Der Messias wird zur Zeit Jesu gegen früher insofern mehr in den Vordergrund geschoben, als er die ursprünglich vorwiegend g ö t t l i c h e Funktion des Sieges und Gerichts über Feinde und Gottlose selbst zu übernehmen pflegt.f) Auch die pharisäische Theologie liess vielfach die überlieferten Gedanken, selbst die Widersprüche, einfach bestehen. Schon die alttestamentliche Weissagung war nicht ganz einstimmig darin gewesen, ob die Feinde des Gottesvolkes in dem gewaltigen Gottesgerichte völlig oder nur teilweise, nämlich so weit vernichtet werden würden, dass sie Israel nicht mehr schaden konnten. Diesen Widerspruch der Ansichten pflanzte die Schriftgelehrsamkeit fort. Indes macht Weber mit Recht darauf aufmerksam, dass die völlige Vernichtung der Feinde zu Beginn des messianischen Zeitalters f f ) nicht die ursprüngliche Meinung sein könne, da j a dann keine Unterthanen mehr da waren, über welche die Glieder des Gottesreiches ihre Herrschaft ausübten. Ferner hatten schon die Propheten das Verhältnis nicht ganz gleichmässig bestimmt, in welchem die übrig gebliebenen Heiden *) Bilderreden des Henoch, 46, 1. 2. 48, 3. 6. 49, 2—4. 62, 7. Das 4. Buch Esra 13, 26. 14, 9. vrgl. Schürer II, 445 f. Bereschit rabba Ivap. 1 und 8, 6. Targum jer. I. Jes. 9, 5. Midrasch zu den Proverbien fol. 67 c; bei Weber 339 ff. *») Ps. Sal. 17, 5. 23. Esra IV, 12, 32. Targ. jer. zu Jes. 11, 1. und zu Hosea 3, 5. Schemone Esra 15. Schürer II, 444. Bereschit rabba 85 u. 12 u. 98. Bammidb. rabb. Kap. 13. Jalkut Schim. Bereschit. 18. Pesikta 149a. Sanhedrin '.»3 a. b. Targum Jon. zu Jes. 11, 1. Schir rabba 18a. vrgl. Sanhedrin 94a. Jalkut Schim. Bereschit 160. Bereschit rabba zu Gen. 18, 1. Weber 341 f. Lk. 1, 6 8 - 7 5 . Mt. 2, 5. vrgl. Rom 1, 3 u. die Gesclilechtsregister Mt. 1 u. Lk. 3. ***. Vrgl. Weber 343. f ) Vrgl. Sibyll. III, 652 ff.; die salomonischen Psalmen und Philo de praemiis § 16. Schürer II, 443. 449; weitere Stellen dort, f t ) Targ. jer. II. Num. 11, 26. Weber 370 f.



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von den Israeliten abhängig sein und andrerseits an den Segnungen des messianischen Reiches selbst teilnehmen sollten. Was zunächst die zur messianischen Zeit im h. Lande weilenden Fremdlinge betrifft, so genossen diese nach wie vor als Ackerbauer und Winzer die Gastfreundschaft des israelitischen Volkes. Natürlich gab es aber, wie früher, auch solche, die durch die Beschneidung G l i e d e r des Gottesvolkes wurden. Und eine derartige Eingliederung von Heiden in das Volk Israel wurde auch von einem Teil der rabbinischen Theologie gerade ftir die messianische Zeit in reichem Masse angenommen.*) Andrerseits aber wurde im Widerspruch damit erwartet, dass in jener Zeit überhaupt keine Proselyten mehr zugelassen werden würden.**) Ferner lehrt die pharisäische Theologie, gleich der prophetischen, eine Herrschaft des Gottesvolkes, politischer und religiöser Art, auch Uber die Heiden, in irgend einer Form. Obwohl aber die Erde „Israels Herrschaftsgebiet 11 ist, bleibt doch das h. Land sein „Wohngebiet' 1 (Weber 367). Weber fasst die Abhängigkeit der Heiden zur messianischen Zeit dahin zusammen, „dass sie den Einfluss des Gesetzes sich gefallen lassen, Tribut oder grosse Geschenke nach Jerusalem bringen und allen Raub erstatten müssen."***) Die apokrypliische und apokalyptische Litteratur hegt hier in religiöser Hinsicht teilweise eine günstige Erwartung auch für die Heiden. So lehren die Sibyllinen (III, 652—794), um 140 vor Christo, die Anerkennung des Gesetzes Gottes bei allen Völkern und die Errichtung eines ewigen Reiches über alle Menschen mit Jerusalem als theokratischem Mittelpunkt, nachdem der König, von Gott gesandt, vom Aufgang her gekommen ist.f) In der Urschrift des Buches Henoch aber (Kap. 90, 16—38), welches aus dem letzten Drittel des 2. Jahrh. vor Chr. stammt, wird, nach endgültiger Besiegung der Heiden durch Gottes wunderbares Eingreifen, ein Thron im lieblichen Lande errichtet. Gott setzt sich zum Gerichte, verstösst die abgefallenen Engel und gefallenen

*) **) ***) f)

Aboda sara 24 b. Weber 368. Aboda sara 3 b. Jebamoth 24 b. Weber 368. 369. Siebe dort die midrasisch-talmudischen Belegstellen, Schürer II, 428 f.



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Israeliten in die Tiefe und bringt das neue Jerusalem an Stelle des alten auf wunderbare Weise vom Himmel. Dann erscheint der Messias als weisser Farre, und d i e H e i d e n b e k e h r e n sich.*)

y. D i e j ü d i s c h e , i n s b e s o n d e r e p h a r i s ä i s c h e V o r s t e l l u n g v o n der A u f e r s t e h u n g .

Gehen wir vorläufig nur noch auf den wichtigsten Gedanken ein, welchen die pharisäische Theologie in eigenartiger Weise weiter entwickelt hat, indem die Besprechung der übrigen den Gelegenheiten verbleibt, wo die Vergleichung der Anschauung Jesu mit derjenigen seiner Zeitgenossen darauf führt. Es ist die Auferstehungshoffnung, welche dann wieder die Vorstellung vom messianisehen Gerichte beeinflusst. Richten wir zunächst unser Augenmerk darauf, wie sich der Auferstehungsgedanke aus der Idee des messianisehen Vollendungsreiches entwickeln musste. Es war naturgemäss das Ziel der Sehnsucht jedes wahren Gliedes des Gottesvolkes, dereinst an diesem Reiche teilzunehmen. Nun wurden die Judäer durch die Gefangenfiihrung nach Babylon ihres Landes beraubt. Damit ging ihnen zugleich der Sitz und Mittelpunkt der heilwirkenden Gegenwart Gottes in ihrer Mitte und ihre staatliche Existenz als unabhängige Nation verloren. Dieser Verlust konnte bei den Besseren nur das Verlangen nach einer völligen politisch-nationalen Erneuerung steigern. Damit verband sich das wachsende Bedürfnis der i n d i v i d u e l l e n Heilserfahrung, welches dadurch, dass man sich nicht mehr auf die Nation stellen konnte, und durch die Einbusse des Tempelkultus besonders hoch gespannt wurde.**) Aus diesem nationalen und individuellen Bedürfen gingen, auf grund einer vertieften persönlichen Religiosität,***) zuerst im Exil die Anfänge des Glaubens an eine, und zwar leibliche, Auferstehung hervor.f) *) Vrgl. Sibyll. III, 36—92. assumpt. Mos. 431. Schürer II, 429. **) Vrgl. Smend, 255. 309 ff. ***) Vrgl. Ps. 49, 8—10 mit V. 16 und beachte das gleiche Wort jiphdeh und den Gegensatz. f ) Vrgl. Schürer II, 421. 457 f.



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Jeremia hatte den Gefangenen nach siebzig Jahren Rückkehr aus der Verbannung und Erneuerung der Theokratie verheissen. Dies Versprechen Gottes durch seine Propheten erschien nicht völlig eingelöst, wenn nicht auch d a s Israel, welches die Strafe seiner Sünden gebüsst und sich nun reuig zu Gott bekehrt hatte, vollzählig die Vergebung und Wiederherstellung Gottes erfuhr und somit an den verheissenen Segnungen des messianischen Reiches teilnahm, dessen Eintritt unmittelbar nach der Rückkehr erwartet wurde. Denn die Nachkommen Abrahams bildeten damals für die theokratische Anschauung schon eine solidarische Einheit. (Genes. 12.2 f. 15,5. 17,6 ff. Mt. 3,9, vrgl. auch Mr. 12, 26.) Die Toten von Jalives Volk mussien daher a u f e r s t e h e n . Denn die im Hades "Weilenden waren als solche von der Mitgliedschaft am Gottesreiche ausgeschlossen. Man traute also der Treue Gottes gegen sein erwähltes Volk. Auf diesem religiösen Grunde erhob sich der Auferstehungsglaube. Jedoch dankte er seine Entstehung zunächst mehr national-theokratischen als individuellen Motiven. Die gläubige Gewissheit von der theokratischen Unsterblichkeit des sozialen Volkskörpers war es hauptsächlich, welche dann erst der Gewissheit der Unsterblichkeit auch der Individuen kräftiges Leben gab, die seine derzeitigen Glieder bildeten. Das Vertrauen auf die Gemeinschaft, die Gott seinem erwählten Volke auf ewig zugestanden hatte, gab der Uberzeugung Bestand, dass auch den einzelnen Gliedern desselben diese Gemeinschaft selbst nach ihrem Tode in einem nationalen Vollendungszustande zuteil werden würde.*) In Hesekiel 37 ist die Wiederbelebung und Erhebung der Totengebeine im wesentlichen noch blosses Bild flir die nationale Neubelebung und Erhebung der Israeliten behufs Rückkehr in ihr Land (1—14)**). Diese politische Neubelebung nahm aber, wie *) Wie weit die Entwicklung dieser Anschauung etwa durch persisches Vorbild mit veranlasst oder gefördert worden ist, kommt hier nicht unmittelbar in betracht, da die Auferstehungslehre, als organischer Bestandteil der Anschauung von dem den Heimgekehrten in Aussicht stehenden Vollendungsreiche, eine innerjüdische Entstehung zeigt; vrgl. Schwallys Kachweis a. a. 0. § 38, dass die Auferstehungslehre nicht aus Persien stammt. **! Mit Recht macht Schwally a. a. 0. S. 113—115 auch auf Hos. 6, 1 f. 13, 14 unter demselben Gesichtspunkte aufmerksam.



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wir sahen, leicht die persönliche der Glieder des Gottesvolkes in sich auf. Jedenfalls dämmert Jes. 25, 8 schon der Glaube an ein ewiges Leben (vrgl. auch Schwally, S. 117 f.). Daniel 12,2 aber, in makkabäischer Zeit, hat sich aus dem Wunsche, dass Jahves Tote lebendig werden möchten, und der Hoffnung, dass die Erde die Schatten wieder ans Licht bringen werde (Jes. 26, 19,*) wie sie es sonst nicht zu thun pflegt, (V. 14), schon die glaubensvolle Uberzeugung der Auferstehung im eigentlichen Sinne erhoben. J a wir finden hier, neben der Auferstehung der Gerechten zum ewigen Leben im messianischen Reiche, sogar schon die Auferstehung der Gottlosen zur Schmach und zum ewigen Abscheu. Allerdings ist auch hier noch nicht an alle verstorbenen Juden, sondern nur an die frommen Märtyrer gedacht, „die unmittelbar vor Anbruch der messianischen Zeit sterben mussten", und an die dem Gesetz untreu gewordenen Abtrünnigen jener Tage (Smend, 505 f.). Dass gerade die besonders Frommen, die einen kläglichen Tod für ihren Glauben gestorben waren, die Auszeichnung der Auferstehung empfingen, weist wiederum darauf bin, dass neben den theokratischen Motiven für die Auferstehung individuelle mitwirkten. Es ist einerseits das der persönlichen Frömmigkeit, welche die Gottesgemeinschaft auch über das Leben hinaus fortzusetzen sich getrieben fühlen muss, und andrerseits das der Vergeltung.**) Das erstere tritt naturgemäss besonders in dem geistlichen Liederbuch der nachexilischen Zeit, den Psalmen, zu tage. So richtig der meines Wissens zuerst von Stade geltend gemachte Gedanke ist, dass wir hier im wesentlichen Gesänge der G e m e i n d e vor uns haben, so ist diese deshalb doch noch nicht als das Subjekt a l l e r Psalmen aufzufassen. Man geht darin jetzt zuweilen zu weit. So gut in diesen Psalmen einzelne Glieder der G e m e i n d e in d e r e n N a m e n singen können, können sie darin auch ihre i n d i v i d u e l l e Frömmigkeit, überhaupt dasjenige aussprechen, worin gleichmässig das Interesse jedes e i n *) Diese Stelle steht ebenfalls unter dem nationalen Gesichtspunkte vrgl. Schwally S. 118. **) Vrgl. auch Smend a. a. 0. S c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

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z e i n e n frommen Gemeindegliedes, daher der ganzen Gemeinde liegt. Wenn man aus Ps. 16, 9—11 mit Schwally die Unsterblichkeit erschliessen will, was ich nicht ftir zwingend halte, so ist doch das Subjekt derselben schwerlich die fromme G e m e i n d e , besonders wegen V. 3 u. 4, wo sich gerade der E i n z e l n e den Heiligen im Lande und den Götzenopfern entgegensetzt. Der Gedankengang aber von Ps. 49 ist dieser: Ich will mich nicht fürchten, wenn mich reiche und angesehene Unterdrücker vergewaltigen. Denn bald wird sie der Tod, dem der Weise so wenig als der Thor entrinnen kann, samt ihrem Reichtum, ihrem Ansehen und ihrer Herrlichkeit auf ewig dahinraffen. Ich aber vertraue auf Gott, der allein vermag, was kein Bruder für den andern kann, nämlich selbst aus der Gewalt der Unterwelt loszukaufen*) und seinen Frommen aufzunehmen. Die mit äusserstem Gewicht angekündigte neue Gottesoffenbarung (V. 2 — 5) besteht also hier in der That in dem Wege der Errettung vom eigentlichen Tode, dem sonst alle Menschen verfallen, durch Frömmigkeit. Den Frommen nimmt nicht der Hades, sondern Gott unmittelbar auf (16). Auch hier passt als Subjekt nur der Einzelne, aber nicht die Gemeinde; wegen des Gegensatzes zu andern Einzelnen, hier den gewaltthätigen Reichen (vrgl. bes. 1 8 - 2 0 ) . Wenn endlich in Ps. 73, 25—28 der Sänger Jahve über alles auf Erden, j a mehr als sein eignes Leben liebt (V. 25 f.), so hat dieser Felsenglaube (26) zwar die individuelle Unsterblichkeit nicht unmittelbar zum Inhalt, aber macht gleichsam berechtigten Anspruch darauf. Das andere Motiv, das der individuellen V e r g e l t u n g , fordert besonders im Buche Hiob die Auferstehung vom ethischen Gesichtspunkte, als das Postulat der Gerechtigkeit Gottes und der sittlichen Persönlichkeit. Indes hat es, wie Schwally nachgewiesen, nicht vermocht, den Glauben an eine allgemeine Auferstehung zu erzeugen.**) „Aber die sittliche Forderung der Ver*) jiphdeh; vrgl. V. 8 f. mit V. 16. **) Yrgl. Schwally, § 24—31.



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geltung ist von Hiob aus vielleicht in diesen Ideenkreis eingedrungen.*) Den besonderen Grund, warum hier „der religiöse Individualismus, wie er im Buche Hiob zum Ausdruck kommt, sich zu einem Auferstehungsglauben nicht erheben konnte",**) findet Smend wohl mit Recht darin, dass Hiobs Wiederaufleben nach dem Tode, ohne dass er indes vom ewigen Leben danach etwas weiss, „für ihn lediglich die Erfahrung seiner Rechtfertigung" bedeutet, die ihm „diesseits des Grabes versagt ist, die ihm aber hier als das Ende s e i n e s Glaubens erscheint" (499). Diese rein individuelle Hoffnung konnte Hiob nicht „mit der Zukunftshoffnung der Gemeinde . . . zusammenschliessen" (507).***) Das Buch Daniel vollzieht alsdann, wie wir sahen, jene Verknüpfung der Vergeltung mit der, mehr als individuellen, Auferstehung (Schwally § 36). Die Auferstehung nun leitete zunächst naturgemäss nicht eine wirkliche Unsterblichkeit, sondern nur eine ausserordentlich lange, unerhört kraftvolle Lebensdauer ein (Jes. 65, 20—22). Diese währt nach Henoch 40, 9. 58, 3 ,,ewig";f) genauer 500 Jahre (10,10). Es zeigt sich doch aber auch, wie wir sahen, vereinzelt schon die Ahnung, dass Jahve in seinem Reiche den Tod für immer vernichten wird (Jes. 25, 8). Betrachten wir nun noch etwas eingehender Auferstehung und Gericht, wie Jesu zeitgenössische, insbesondere die p h a r i s ä i s c h e Theologie sie auffasste. Wenn die Auferstehung ursprünglich den Zweck hatte, den schon gestorbenen Gliedern aus der Verbannung, alsdann zumal den Märtyrern aus der makkabäischen Zeit, die Teilnahme am Vollendungsreiche zu ermöglichen, so wurde daraus leicht die Auferstehung aller f r o m m e n Israeliten.ff) Denn was dem einen recht war, war für den andern *) A. a. 0. S. 133. **) Smend, 506. ***) Schwally (a. a. 0.) findet freilich, nach dem Vorgang von Cheyne, den Text der Hiobstelle so verderbt, dass nur daraus hervorgehe, dass Hiob überhaupt eine Rechtfertigung erwartet. Ob diese aber erst nach dem Tode, wie nach 14, 13—15 möglich sei, oder schon im Diesseits stattfinde, müsse unentschieden bleiben (S. 110 f.). f) Schwally, 121. f f ) Vrgl. Smend 507 f.

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billig. War doch die Stellung der Glieder des auserwählten Volkes J a h v e , ihrem Gotte, gegenüber grundsätzlich die gleiche. So ist die vorwiegende ursprüngliche Form die Auferstehung der . . G e r e c h t e n " (Israeliten). Dabei liegt die allgemeine Anschauung des frommen Volkes zu Grunde, dass das „persönliche Heil" j e d e s einzelnen . . . . nur garantiert" erscheint „unter Voraussetzung der leiblichen Auferstehung". Wer nicht auferstand, blieb im Tode und im Hades und war damit des Anteils am messianischen Reiche beraubt (vrgl. auch 1 Kor. 15, 17 f.)*). Da nun die Gottlosen sich selbst von dem wahren Gottesvolke ausgeschlossen hatten, so hatten sie im allgemeinen auch keine Auferstehung zu erwarten. Die Auferstehung nur der Gerechten war offenbar die Meinung auch der pharisäisch geschulten Volksgenossen Jesu, unter deren Einfluss daher auch dieser gestanden haben muss. Das ersehen wir deutlich auch aus den salomonischen Psalmen. Danach ist. der „Tag der Barmherzigkeit" nur für die gestorbenen G e r e c h t e n vorhanden, die auch allein auferstehen, aber nicht für die gestorbenen Gottlosen, welche an ihm werden nicht -gefunden" werden (Ps. Sal. 14, 6 f. 3 , 1 3 . 1 4 , 1 6 ) * * ) . Allerdings reichen die Anfänge der Annahme einer Auferstehung a u c h d e r G o t t l o s e n , wie wir sahen, schon in die Zeiten des Danielbuches zurück, und nach seinem Vorgang findet sie sich, immerhin in eingeschränkter Form, auch in der Ileuochapokalypse (Schwally 138. 171). Jedoch hatte sie eigentlich nur in d e r Zeit eine innere Berechtigung, in welcher die Vergeltung noch nicht auf die Scheol ausgedehnt war. Später hatte sie im Wesentlichen nur „dramatische Bedeutung. u (Schwally 172.) Auch Schwally giebt zu, dass die Masse der hierher gehörenden zeitgenössischen Litteratur, wie Josephus, nur von der *) Darum wird, auf die Auferstehung in der Mischna ein so grosses Gewicht gelegt, dass sie demjenigen, welcher sagt, dieselbe sei nicht vom Gesetz herzuleiten, den Anteil an der zukünftigen Welt abspricht (Sanhedrin X, I. Schürer II, 324. vrgl. übrigens Mr. 12, 18 u. 26. **) Die synoptischen Stellen, wo die Auterstehung der Gerechten vorausgesetzt wird, werden später an ihrem Orte zur Besprechung kommen; vrgl. Lk. 14, 14. 20, 35 f. Mr. 12, 26 f.



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Auferstehung der Gerechten zu wissen scheinen (170 f.). Auch er zitiert dafür die salomonischen Psalmen (170 f.). Er erkennt ferner an, dass auch das zweite Makkabäerbuch nicht die Auferstehung, sondern nur die (schattenhafte) Fortexistenz der Gottlosen im Hades fordert (170 f.). Ebenso könnten die synoptischen Evangelien möglicher Weise nur eine Auferstehung der Gerechten kennen, zumal sich das Gericht Mt. 10,15, wie Henoch 22, 13, auch ohne Auferstehung vollziehen könne (171). Demnach schliesst er, dass es für weite Kreise keine Auferstehung der Gottlosen gegeben habe. Wenn sich mithin eine solche weder aus Josephus noch dem zweiten Makkabäerbuche, noch den Synoptikern, und selbst aus Henoch nur in beschränktem Masse, erweisen lässt, so bleiben im wesentlichen nur Daniel und die hierin wohl von ihm abhängige Off. Joh., sowie Job. 5,28 f. Ap. 24,15 und vielleicht noch einige wenige Stellen fiir die d o p p e l s e i t i g e Auferstehung übrig. Mag also in beschränkten Kreisen um die Zeit Jesu, „der Glaube an die Auferstehung auch der Gottlosen . . . vertreten gewesen 11 sein, so war die herrschende Meinung sicherlich die Auferstehung n u r d e r G e r e c h t e n . So versichert auch Schlirer, dass die Erwartung einer allgemeinen Auferstehung niemals zu durchgängiger Geltung gelangt sei (421 f. vrgl. II, 324). Insofern indes auch die Gottlosen auferstehen, konnte der Zweck nur das Endgericht sein. Prüfen wir nun die pharisäische Auffassung von der Auferstehung und dem, was ihr vorhergeht, auf grund des Josephus noch etwas näher. Er berichtet, dass die Seelen der Gerechten sogleich nach ihrem Tode an den heiligsten Ort des Himmels kämen. Diese Aufnahme hat in solchen Stellen eine biblische Grundlage, wo nicht der Hades, sondern Gott den Frommen unmittelbar zu sich nimmt (Ps. 49, 16). Von hier aus werden sie dann nach Josephus im Wechsel der Äonen in reine Leiber übergesiedelt.*) Mit dieser hellenistischen Darstellungsalt hat er offenbar die Rückkehr der Seele behufs Annahme ihrer verklärten Leiblichkeit den Römern, welchen die Vorstellung der Seelen*) svj-ev 17. jud. III, 8. s 5-



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Wanderung zugänglicher war, mundgerecht machen wollen. Ähnlich umschreibt er Ant. XVIII, 1, § 3 die hier zweifellos gemeinte Auferstehung nur durch die Worte „von neuem leben" (uvaßiovv). So bedeutet auch das „Ubergehen in einen andern Leib" *) gewiss dasselbe, und nicht, wie Schwallv meint, die wirkliche Seelenwanderung. Nur hat er auch hier den Ausdruck jener den Römern verständlicheren Vorstellungsweise genähert. Die in den Himmel bezw. das Paradies versetzten Seelen der Gerechten kehren folgerichtig, wie in der Apokalypse Henoeh,**) so nach gemein-pharisäischer Vorstellung, um die messianische Zeit auf die Erde zurück, um am messianischen Reiche teilzunehmen. Dazu werden sie eben durch den Übergang iu die Auferstehungsleiber befähigt. Auch Martha, des Lazarus Schwester, erwartet demgemäss die Auferstehung ihres Bruders . a m l e t z t e n T a g e " (Joh. 11. 2 3 f ) : ein Beweis, dass für die Anschauung der Juden zur Zeit Christi dies der Termin der Auferstehung gewesen ist. Dass sie erst mit Anbruch des messianischen Reiches stattfand, folgte j a auch, wie wir sahen, aus der Entstehung dieses Glaubensgedankens mit Notwendigkeit. Daher konnte auch der neue Bestandteil des Glaubens, der sofortige Ubergang der Gerechten in den Himmel, daran schwerlich etwas ändern. Nur musste der Geist, statt aus dem Hades, nunmehr aus dem Himmel zu seinem Leibe zurückkehren. So befinden sich auch nach der Off. Joh. 6, 9 (vrgl. 4,1) die Seelen der Märtyrer im Himmel bis zu ihrer Auferstehung, um danach mit dem Messias zu herrschen (Off. Joh. 2 0 , 4 f.). Der V o r g a n g d e r A u f e r S t e l l u n g selbst wurde, sogar noch in späteren Zeiten, vielfach ausserordentlich krass sinnlich gedacht. Die besondere Art der Vorstellung ging gerade von den schriftgelehrten Kreisen aus. welche sich dabei vor allem auf jene bereits berührte Hesekielstelle von dem Felde voller Totengebeine gestützt haben. Indem sie die Bildlichkeit derartiger prophetischer Darstellungen nicht mehr von ihrem geistigen Gehalte trennten, sondern diese eigentlich nahmen, mussten sie dem Materialismus verfallen. Freilich hatte Hesekiel selbst, wie wir sahen, *) MeraßaivE'.v eic etepov JW|JIOC. Bell. jud. II, 8. § 14. **) Die Belegstellen bei Schwallv. S. 140 f.



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in seiner theokratisch gemeinten Weissagung noch nicht an die i n d i v i d u e l l e Unsterblichkeit gedacht. Dennoch formte die Theologie augenscheinlich nach diesem Vorbilde ihre Hoffnung auf diese. Schauen wir uns daraufhin zunächst die Hesekielstelle selbst an. Danach vollzieht sich die Auferstehung in der Fläche eines Thaies, das mit verdorrten Totengebeinen erfüllt ist, in der folgenden höchst anschaulichen und vollsinnlichen Weise. Es entsteht ein Geräusch. Gebein nähert sich Gebeine, die Gebeine verbinden sich durch Sehnen, Fleisch wächst darauf, und Haut zieht sich darüber hin. Alsdann kommt Geist von den vier Winden, weht die Toten an und fährt in sie hinein. So werden sie lebendig, treten auf ihre Ftisse und werden in ihr Land versetzt (Hes. 37, 1. 2. 6 — 10. 14). Da es sich in diesem Bilde um die Auferstehung von Erschlagenen handelt, so ist hier nicht von Gräbern, sondern von einem F e l d e (voller Totengebeine) die Rede. Wohl aber wird in der Anwendung des Bildes auf die Hoffnung des Volkes ausdrücklich und wiederholt auf das Offnen der G r ä b e r und das Hervorführen der Toten aus ihnen durch Jahve bezug genommen (V. 12. 13). Vergleichen wir damit nun die r a b b i n i s c h e Anschauung, wie sie sich nach dem Vorbilde vor allem dieser Stelle gebildet hat und der Art entspricht, welche allerdings auch Hiob 14, 22 und sonst die Anschauung vom Zustande nach dem Tode charakterisiert. Nur Führichs drastische Darstellung der Auferstehung, wo die Toten nach ihren Köpfen greifen um sie sich aufzusetzen, bringt die naive Sinnlichkeit solcher Anschauungen zum entsprechenden Ausdruck.*) Da nur im heiligen Lande selbst die Auferstehung erfolgt (Jalkut Scliim. Beresch. 130), so werden dazu „die ausserhalb des Landes Begrabenen unter der Erde hergewälzt . . . um im heiligen Lande aus der Erde hervorzugehen." (jer. Kilajim 9, 3. Kethuboth l i l a . ) r Um die Schmerzen (der Wälzung) . . . zu ersparen, will man im Lande Israel begraben sein." **) Die Auf*) Vrgl. zum Folgenden besonders Webers „Lehre des Talmud", S. 351—354, welchem ich hier folge. **) Vrgl. auch Jalkut Schim. Beresch. 156. Weber 352.



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erstehung selbst aber vollzieht sich dann nach dem Muster der Schilderung des Hesekiel. Nur wird sie noch pedantischer ins Einzelne ausgeführt. IV. Esra 6, 23 f. findet sich die folgende Darstellung davon. „Es wird die Posaune ertönen, und bei ihrem Schalle werden die Toten erbeben. In dem Othioth des E. Akiba 17 c. wird dies näher so geschildert. Der Heilige „nimmt eine grosse Posaune, welche nach göttlichem Masse tausend Ellen lang ist, und bläst mit derselben, und ihre Stimme wird von einem Ende der Erde bis zum andern gehen. Bei dem ersten Blasen wird die ganze Welt sich bewegen, bei dem zweiten wird der Staub abgesondert, bei dem dritten werden die Gebeine der Toten gesammelt, bei dem vierten werden die Glieder derselben erwärmt, bei dem fünften wird die Haut übergezogen, bei dem sechsten gehen die Seelen und die Geister in ihre Leiber ein, bei dem siebenten werden sie lebendig und stehen auf ihren Füssen, in ihren Gräbern" (Weber 352 f.). Sowohl Bereschith rabba Kapitel 14, als Sanhedrin 92 b nehmen bei ihren hergehörigen Anschauungen ausdrücklich auf Hes. 37 bezug. Die erstere Stelle enthält im Anschluss an diese prophetische Darstellung „eine Erörterung darüber, ob die Bildung des Leibes künftig dieselbe sein werde, wie jetzt, das lieisst, ob die Reihenfolge der Bildung sein werde: Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, oder: Sehnen, Knochen Haut, Fleisch". Diese Sinnlichkeit der Auffassung zeigt uns, dass es im gründe „dem Stoffe und der Organisation nach" dieselben Leiber sind, welche begraben wurden und nun, sogar in denselben Kleidern, auferstehen.*) Wie viel mehr mit den alten Gebrechen,**) welche dann aber „sofort geheilt werden." Die Auferstehung ist danach eine Wiederherstellung in d i e s e s z e i t l i c h e L e b e n , freilich eine Versetzung in einen normalen gesunden Zustand (Weber 351). Dazu stimmt, dass die Auferstandenen ein dem bisherigen entsprechendes Leben fllhren. Auch die Unsterblichkeit wird nur relativ gefasst (354). *) Jer. Kilajim 9, 3. vrgl. Tauch. Emor. 2. Sanhedrin 90 b. Weber 353. 2 Makk. 7, 11. 14, 46. Schwally 169 f. **) Beresch. rabba, Kap. 95, vrgl. Apok. Baruch 50.



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Diese Anschauung überwiegt besonders für diejenigen, für welche das messianische Zeitalter erst ein Vorspiel der eigentlichen zukünftigen Welt ist und nicht mit dieser zusammenfällt (a. a. 0.). Nach andrer Anschauung freilich ist die Unsterblichkeit, wenigstens für die Glieder des Gottesvolkes, eine vollkommene. Auch tritt für diese die Glorie des Urstandes in seiner Herrlichkeit wieder ein.*) Wenn andrerseits die messianische Zeit, wie für die meisten Zeitgenossen Jesu, mit der zukunftigen Welt zusammenfällt, so tritt naturgemäss teilweise eine geistigere Anschauung hervor.**) Ist doch der leitende Gedanke dann dieser, dass der Messias die zukünftige Welt vom Himmel auf die Erde herniederbringt, sodass auch diese in ihren Bereich aufgenommen und zu himmlischer Verklärung durchläutert wird (vrgl. Henochbuch 90. Off. Job. 21, 1—3. Gal. 4, 26. 2 Kor. 5, 1). Essen, Trinken, Handel, Heirat, Kinderzeugen, Hass und Streit fallen, jener Vergeistigung entsprechend, fort.***) Die Gerechten, mit einem Lichtleibe, wie die Engel, ausgestattet f ) und mit Kronen geschmückt, geniessen vom Glanz der Schechina und erfreuen sich in seliger Ruhe und Herrlichkeit der Gemeinschaft Jahves, welchen sie schauen und preisen (Berachot 17 a) und von welchem sie unmittelbar belehrt werden.ff) Nach einer andern mehr materialistischen Anschauung indes sinken die Formen des zukünftigen Lebens wieder in die ursprüngliche Sinnlichkeit zurück. Danach finden auch jetzt noch Essen und Trinken, sowie Zeugung, wenn auch nur gerechter Kinder, und überhaupt sinnliche Freuden, statt. Die Gerechten speisen vom Fleische des Behemoth und Leviathan und trinken aus dem Becher des Heils (Weber 383 f.). Selbst Sünde wird an gewissen Stellen vorausgesetzt.fff) Jene zuletzt auf die buchstäbliche Deutung der Hesekielstelle *) Pesikta 68a. Beresch. rabba 12. Jalkut. Schim. Beresch. 17. Weber 363. **) Vrgl. Mechilta 23 b. Weber 354. 384. Schürer II, 460. ***) Beresch. 111 zu Genes. 26, 31. t) Vrgl. IV. Esra 6, 71. Apok. Baruch 51, 35. tt) Weber 383—386. vrgl. Henoch 41, 4. 39, 1. Schwally 174. f f t ) Weber 384.



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zurückgehende Anschauung klingt nun augenscheinlich auch noch in der juden-christlichen Urgemeinde nach. Den besten Beweis dafür bietet uns der erste Evangelist selbst, Kap. 27, 52 f. Hier zeigt sich dieselbe massiv äusserliche Auffassung von dem Vorgänge der Auferstehung, wie sie dem krassen Materialismus der rabbinischen Denkweise entspricht, deren Abdruck sie offenbar darstellt. Eine Beleuchtung dieser Stelle ist für die Anschauung des urchristlichen Volkes hierüber belehrend. Es handelt sich um die Auferstehung der Frommen v o r der Auferstehung Jesu selbst. Unmittelbar nachdem der Evangelist erzählt hat, dass bei Jesu Tode der Vorhang im Tempel zerrissen sei, die Erde gebebt habe und die Felsen sich gespalten hätten, fährt er wörtlich fort: „Und die Gräber öffneten sich (!) und viele Leiber (!) der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt,*) und nachdem sie aus ihren Gräbern hervorgegangen nach seiner Auferweckung, gingen sie in die heilige Stadt und erschienen vielen." Hier treten also die aufeinanderfolgenden Akte deutlich hervor, die nach der Vorstellung der damaligen Zeit zur Auferstehung gehörten: die Öffnung der Gräber, die Auferweckung oder das Erwachen („eyeQOis"), das Herausgehen aus den Gräbern, das Herumwandeln der Auferstandenen und ihre Erscheinung vor vielen Auserwählten. Diese Erscheinung bewies eben ihre Auferstehung. Das eigentliche „Auferstehen" der neu Belebten ist hier offenbar nach ihrem Erwachen und vor ihrem Herausgehen aus den Gräbern zu ergänzen. Die Auferstehung wird danach in handgreiflicher Ausserlichkeit vorgestellt als ein Aufstehen und Herauskommen aus den Gräbern, im eigentlichen Sinne. Die Öffnung der Gräber musste nach unserm Zusammenhang den Leibern erst die physische Möglichkeit gewähren, aus ihnen hervorzugehen. Später gingen sie dann, nach dem Verlassen ihrer Gräber, auch in die heilige Stadt. Auf welche materielle Beschaffenheit der Auferstehungsleiber müssen wir schon von hier aus zurückschliessen! Wir finden hier dieselbe stumpfe Sinnlichkeit der Auffassung, welcher gemäss die Rabbinen annahmen, dass die Leiber der ausserhalb des h. *) -rjepa^sav; de Wette: „standen auf", oder auch „erwachten".



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Landes Gestorbenen zum Zweck ihrer Auferstehung unter der Erde dorthin gewälzt werden mussten. Man könnte beim Urtext dieser Stelle in Zweifel sein, ob man den Zusatz „nach seiner (nämlich Jesu) Auferweckung" zum vorhergehenden, zu dem „Herausgehen der Leiber aus den Gräbern", oder zum folgenden, zu dem „Hineingehen in die heilige Stadt" ziehen soll. Indes gehört er seiner Stellung nach zum Vorhergehenden, in dem Sinne „Nachdem sie, nach seiner Auferweckung, aus den Gräbern herausgegangen, gingen sie in die heilige Stadt." Hätte er zum Folgenden gehören sollen, dann würde man nach griechischer Art jenen Zusatz nicht vor das „Sie gingen in die heilige Stadt" gestellt haben, sondern besser nach. In diesem Falle würde der Satz lauten: Nachdem sie aus den Gräbern herausgegangen, gingen sie nach seiner Auferstehung in die heilige Stadt. Danach würden sie also schon früher aus den Gräbern herausgegangen sein — freilich wohin? — aber erst nach Jesu Auferstehung die h. Stadt betreten haben. Im andern Falle aber hätten sie überhaupt erst nach Jesu Auferweckung ihre Gräber verlassen. Indessen verwirrt der Zusatz „nach seiner Auferweckung", wie auch Keim (a. a. 0 . III, 445 f.), Holtzmann (a. a. 0 . S. 294) und vor ihnen schon Strauss und andere bemerkt haben, überhaupt den Zusammenhang. Denn das Zerreissen des Vorhangs und das Spalten der Felsen, wie die Öffnung der Gräber, sind ununterschiedlich mit „und" aneinander gereiht. Sie sind hier also offenbar als unmittelbare Folgen des Erdbebens aufzufassen, welches im Augenblicke des Todes Jesu eintrat. So denkt der Verfasser auch die Auferweckung der Toten, die wiederum an die Öffnung der Gräber gleichartig mit „und" angefügt wird, als unmittelbar mit ihr eintretend. Und der Auferweckung folgt wiederum unmittelbar die Auferstehung. Denn wenn man selbst diese beiden Begriffe trennt, die Auferweckung (syeqaig) also der Auferstehung (avdaraatg) vorhergehen lässt und letztere vor dem Herausgehen aus den Grähern, als dessen Voraussetzung, ergänzt, so ist doch natürlicherweise die Auferstehung nichts anderes als die Bethätigung der Auferweckung. Bei dieser wie jener Fassung fallt also im wesentlichen beides zusammen. Daher giebt es allenfalls einen Sinn, dass die Leiber erst nach Jesu Auferweckung,



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also am dritten Tage nach ihrer eignen, in die h. Stadt gingen. Aber gerade diese Auffassung entspricht nicht der besseren griechischen Wortstellung. Sinnlos dagegen ist es, wenn bei der andern Deutung die Auferweekten bis zum dritten Tage noch in ihren Gräbern geblieben sein sollen. Wegen dieses prekären Sinnes macht der Zusatz „nach seiner Auferweckung" den Eindruck einer Glosse. Eine solche ist aber gerade hier sehr begreiflich. Denn es musste, zumal nachdem Paulus seine Anschauung von Jesu Christo als dem Erstling der Auferstehung entwickelt hatte (1 Kor. 15, 20—23), befremden, dass andere Fromme, deren Auferstehung erst durch die Christi ermöglicht werden konnte, sollten vor dem Erlöser ihre Gräber verlassen haben.*) Und doch lässt hier die urchristliche Überlieferung die Auferwcckung der Frommen unleugbar der Auferstehung Christi vorangehen. An dieser Stelle zeigt sich also deutlich die Anschauung, die der erste Evangelist überhaupt von der Auferstehung hat. Da wir hier aber den Ausdruck christlicher Uberlieferung vor uns haben, so besitzen wir darin zugleich die Vorstellung der damaligen Judenchristen von ihr. Dieser Auffassung liegt mithin wohl auch hier der wörtlich verstandene Hesekiel zu gründe. Allerdings hätte man schon auf grund des Alten Testaments eine weit geistigere Auffassung bilden können. Man denke nur an jene Hiobstelle (19, 25—27): „Ich weiss, dass mein Erlöser lebt, und als Letzter wird er über dem (nämlich: meinem) Staube auftreten, und nachdem meine Haut zerstört ist, wird das geschehen, und o h n e m e i n F l e i s c h werde ich Gott schauen. Ihn werde ich, mir zum Heile, schauen. Meine Augen werden (ihn) sehen, und nicht als Gegner.'' Danach vertraut Hiob, persönlich, mit seinen eignen Augen, aber ohne Fleisch und nachdem seine Haut zerstört ist, Gott zu schauen. Dies ist nicht mit de W e t t e von äusserster Magerkeit zu verstehen. Dafür erscheinen schon die gebrauchten Ausdrücke zu stark. Vielmehr ist die völlige Aufreibung durch den Tod und die Verwesung gemeint. Denn der Ketter tritt j a auf den Staub, das heisst: auf Hiobs zu Staub zerfallenen Leib, oder auch auf seinen Grabhügel. Ist aber der *) Übrigens entspricht dies, wie wir später sehen werden, auch ganz der rabbinischen Anschauung vom Messias als „Jinnon".



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Leib zerfallen, dann kann auch das „mit eignen Augen schauen" nicht mehr sinnlich, sondern nur geistig verstanden werden. Die Worte können bloss gewählt sein, um die völlige Selbigkeit der Persönlichkeit auszudrücken, die auch nach dem Tode noch Gott schauen soll. Aber gerade solche mehr geistige Auffassung, wie sie der Hiobstelle zu gründe liegt, mochte sich dem Volke wenig empfehlen. In gewissen auserlesenen Kreisen mögen j a Einflüsse, w i e z. B. die des Alexandrinismus, verfeinernd gewirkt haben. Dort kehrt der Staub zur Erde zurück, wie er gewesen, während der Geist zu Gott geht, der ihn gegeben hat (Prediger 12, 7).*) Man hofft, infolge der Berührung mit der platonischen Philosophie, auf die Unsterblichkeit der Seele als solcher (Weish. Sal. 2, 23. 3, 4), welche auch schon vor ihrer Verleiblichung präexistiert hat und bei ihrer Geburt in einen ihrem vorirdischen Dasein entsprechenden Leib übergegangen ist (8, 19. 20). Aber die Masse liebt das Drastische, Sinnliche, Konkrete. Übrigens ist j a selbst die Anschauung mancher heutigen, und zwar nicht nur ungebildeten, Christen teilweise noch ebenso roh, als die der jüdischen Menge war. Und dabei geht dieselbe merkwürdigerweise gerade auf eine falsche Auffassung unsrer Hiobstelle zurück. Luther hatte bekanntlich die Worte: „achar ort niqphu zöt" und „mibbzäri" nicht richtig übersetzt. Sie heissen: „nachdem meine Haut zerstört ist" und „getrennt von meinem Fleisch" oder „ohne mein Fleisch". Er aber hatte den Satz gefasst: „Ich werde danach mit dieser meiner Haut umgeben werden und werde in diesem Fleisch Gott sehen". Diese Ubersetzung vor allem hat seitdem jener derb sinnlichen Auffassung vieler Christen scheinbar das Siegel der llechtgläubigkeit aufgedrückt. So umschreibt Luise Henriette**) in ihrem sonst so schönen Licde „Jesus meine Zuversicht" die Hiobstelle mit den Worten: „Dann wird eben diese Haut mich umgeben, wie ich gliiube; Gott wird weiden angeschaut dann von mir in diesem Leibe. *) Wenn liier wirklich die Rückkehr des Geistes zu Gott die Fortexistenz desselben bei ihm bedeutet. Indes macht Schwally wahrscheinlich, dass sie von einer Zurücknahme des Lebensgeistes durch ihn zu verstehen sei (a. a. 0. S. 87). **) Ich sehe von der Unsicherheit der Verfasserschaft hier ab.



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und in diesem Fleisch werd' ich Jesum sehen ewiglich". Viele, die dies unsrer fürstlichen Dichterin nachsingen, halten nun an der eigentlichen Fassung der Worte fest. Hiob hat demnach eine weit geistigere Auffassung als solche Christen. Sie sind auf den vulgär-jüdischen Standpunkt zurückgesunken. Ihr Materialismus der Anschauung kann freilich nur gestärkt werden durch die im „apostolischen Glaubensbekenntnis" immer noch mitgeführte „Auferstehung des Fleisches". Krasser ist nur noch die Art und Weise, w i e manche Christen, und hier ohne j e d e biblische und vernünftige Begründung, die Identität des alten Leibes bei der Auferstehung festhalten wollen. Dabei hat einige Kenntnisnahme von der neueren Naturwissenschaft dazu beitragen müssen, die Vorstellung noch materialistischer zu gestalten, statt sie zu klären. Bei Hesekiel sind es doch neue Sehnen, neues Fleisch, neue Haut, die auf die verdorrten Gebeine gefügt werden; wodurch ein im ganzen neuer, wenn auch immerhin sinnlicher Körper entsteht. Nach der berührten Auffassung aber werden durch geheimnisvolle Macht aus aller Welt Enden die Atome zusammengeholt, die einst unsern irdischen Körper bildeten. Damit sind doch diejenigen gemeint, die wir zuletzt besessen haben. Denn im Verlaufe von etwa sieben Jahren erneuern sich bekanntlich fast sämtliche Bestandteile desselben. So gelten also die Elemente des verfallenden und absterbenden Leibes für besonders geeignet, um zusammengebracht und verklärt zu werden. Bedarf es noch eines Beweises, wie widerspruchsvoll und unmöglich eine solche Vorstellung ist? Müssten nicht dieselben Atome, welche im Laufe der Jahrhunderte nacheinander die Bestandteile vielleicht einer ganzen Anzahl der verschiedensten Menschen-, Tier- und Pflanzenorganismen gebildet haben, nun gleichzeitig den verschiedensten Auferstchungsleibern angehören? Oder sie müssten in einer Art verteilt werden, die nur zu sehr der Gefahr der Lächerlichkeit unterliegt. Dass die Auferstehungsleiblichkeit von den ersten Christen halb sinnlich, halb geistig gefasst wurde, zeigt auch die Darstellung der Körperlichkeit des auferstandenen Christus durch die Evangelisten. Einerseits isst er und lässt sich betasten (Lk. 24, 4 0 — 4 3 ) , andrerseits erscheint er, trotz verschlossener Thüren, und verschwindet plötzlich (Lk. 24, 31. 36. 37. Joh. 20. 19).



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Nachdem die Auferstehung allgemeine Anschauung geworden war, machte sie sich naturgemäss auch für die Auffassung vom Messias geltend. Hatte er doch das Heil des Volkes Israel herbeizuführen. Ahnlich, wie Abraham die Toten, welche ihre Sünden hinreichend im Hades geblisst hatten, in das Paradies hinaufführt,*) wurde die A u f e r w e c k u n g der Toten am jüngsten Tage nun die Aufgabe des M e s s i a s . Wie sich die Auferstehung in ursprünglichster Fassung nur auf die Israeliten bezieht,**) so gilt die Auferweckung meist als sein ausschliessliches Vorrecht. Er heisst als der Lebendigmacher Jinnon und wird gerade als solcher die Völker zur Anbetung Gottes bringen.***) Er führt die gestorbenen Glieder seines Volkes aus der Scheol herauf und stellt sie dann ins zeitliche Leben wieder her.f)

8) D i e j ü d i s c h e , i n s b e s o n d e r e p h a r i s ä i s c h e V o r s t e l l u n g j ü n g s t e n G e r i c h t u n d e w i g e n L o s e der M e n s c h e n .

vom

Ziehen wir endlich noch die Umgestaltung in betracht, welche der Einfluss des Auferstehungsgedankens in der Vorstellung vom m e s s i a n i s c h e n G e r i c h t e und dem Lose der Menschen nach ihrem Tode hervorgebracht hat. Da das Gottesgericht, schon ehe sich der Auferstehungsglaube ausgebildet hatte, in der Besiegung und Vernichtung der Feinde bestand, so konnte für diese ursprünglich keins mehr erforderlich sein (vrgl. Ps. 49, bes. V. 12—15 mit 16 u. a.). Ebenso glaubte man die Vernichtung auch der gottlosen Israeliten, welche den Heiden gleich geachtet wurden. Sobald sich das Gericht nicht mehr bloss auf die politischen Feinde Israels, sondern auf es selbst, und zwar unter sittlich-religiösem Gesichtspunkte, bezog, wurde es naturgemäss mehr zu einem forensischen Akte. Bei dieser Umbildung mochte das 7. Kapitel des Daniel einen Einfluss üben. *) Vrgl. „Weissagungen Jesu" S. 42. **! Kidduschin 39 b. Weber 373. ***) Sanhedrin 13 a, Midrasch Mischle 67 c. E. Levi ben Gerschom zu Deuteron 34, 10. Weber 352. t) Jalkut Schim. zu Jes. 26, 9. Beraschit rabba zu Gen. 44, 8. Abarbanel in seinem Kommentar zu Jes. 18, 3. Weber 351 f.



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Du: Entwicklung der Anschauung vom Hades und vom Paradiese musste ihrerseits besonders dafür bedeutsam sein, wie man sich das Schicksal der Menschen nach dem Tode vorstellte. muss hier gentigen, darüber folgendes zu bemerken.*)

Es

Der Ge-

danke der Scheol mag sich bei den Juden „mythologisierend aus demjenigen einer kollektiven Gräberstätte gebildet haben" (Stade, Geschichte des Volkes Israel I, 418 ff. 420 ff.).**) Noch im 32. Kapitel des Hesekiel fliesst die Vorstellung von den Gräbern selbst und dem Hades ineinander über

(V. 17 bis

32).

Er lautet:

Schon

der Anfang

„Menschensohn,

senke es hinab . . . gestiegenen"

der Totenklage

wehklage

über

das

zeigt

Gepränge

es.

Ägyptens

und

in die Unterwelt zu den in die Gruft Hinab-

(V. 18. vrgl. bes

V. 21 f. 24).

deutete demnach anfangs Uberhaupt

Der Hades

be-

den Aufenthalt der Toten.

Ursprünglich werden alle hineingekommen sein, da alle ins Grab gelegt wurden. Er befand sich natürlich, der Entwickelung seines Begriffs entsprechend, unter der Erde (Joseph, aüt. X V I I I 1, 3). Seit sich aber die göttliche Vergeltung selbst Uber das Grab hinaus erstreckte, erhielten die Menschen liier vielfach auch nach ihrem Tode die Strafe für das auf Erden Verübte.

So verstand

man unter Scheol die Unterwelt auch als S t r a f ort. Erst seit diese Anschauung durchdrang, kann man den Namen Gehinnom

dafür gebraucht haben.

Denn das ist ursprünglich

ein Thal südlich von Jerusalem, „ w o die Israeliten nach 2. Kön. 23, 10. Jer. 7, 31. 32.

lü, 2 — 5 dem

Baal

ihre Kinder

geopfert

h a b e n , " * * * ) und wohin man auch später nach Kimchi zu Ps. 27, 13 alles Unreine besonders alle Gebeine zu bringen pflegte und ein beständiges Feuer unterhielt, um dasselbe zu verbrennen.

Da-

nach also hat man dann die Stätte für die verstorbenen Gottlosen als

„Ort für die Unreinen" benannt.

Sie gelangen dahin, um

von dem Feuer „entweder gereinigt oder verzehrt zu w e r d e n . " f ) *) Eine Skizze der Entwicklung dieser Vorstellung vom Hades findet sich „Weissagungen Jesu" S. 41 f. **) Schwally hält es für wahrscheinlich, dass hier eine Übertragung der Stammes- und Familienzugehörigkeit hat (a. a. 0 . S. 62). * * * ) Holtzmann, H.-C. 109. t ) W e b e r a. a. 0 . S. 327.

auf das Jenseits stattgefunden



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Das sittlich religiöse Bedürfnis heischte aber eine Trennung des Loses der Frommen von dem der Gottlosen. Auf Anlass davon konnte leicht eine Scheidung auch der beiderseitigen Aufenthaltsorte entstehen. Wenn auch das Volksbewusstsein dazu neigte, an der Scheol als dem Aufenthaltsorte fllr alle Verstorbenen festzuhalten,*) so findet sich, wie wir sahen, daneben in späterer Zeit, besonders bei den pharisäischen Zeitgenossen Jesu, wirklich die Vorstellung, dass die Seelen der Frommen sogleich nach ihrem Tode in das Paradies, die Wohnung Gottes, kommen und nur die Gottlosen den Hades bevölkern. Zum erstenmale tritt uns der sofortige Ubergang der abgeschiedenen Frommen dorthin in der wohl auch hierin mit hellenistisch beeinflussten Weisheit Salomonis entgegen. Wie der Hades unter der Erde lag, so liegt das Paradies naturgemäss im Himmel Uber der Erde.**) Demgemäss steigt Abraham aus dem Himmel in die Scheol hinab,***) und Manasse in den Himmel hinauf.f) Jesu Zeitgenossen dachten sich den „Gan Eden" in dem obersten siebenten Himmel, der noch weit höher als der untere Sternhimmel lag (Chagiga 12 b). Dorthin wurde auch Paulus in der Entzückung versetzt (2 Kor. 12, 3 f.). Eine Art Vorsteherschaft Uber das Paradies fuhren nach 4 Makk. 13, 16 die Erzväter: Abraham, Isaak und Jakob, insofern diese hier die Frommen in ihren Schoss aufnehmen.ff) Jedenfalls giebt es flir die geschichtliche ältere Auffassung nur „ein Gehinnom flir die Gottlosen und ein Gan Eden flir die Gerechten, keinen Zwischenort zwischen beiden" .+tt) Erst flir die spätere, kabbalistische Theologie des Mittelalters fällt allerdings das Gehinnom nicht mit der Scheol zusammen. Sie kennt vielmehr neben dem himmlischen Paradiese ein unteres, als einen Teil der Scheol, während das Gehinnom den andern darstellt. Es bildet eine Art Vorhof des Paradieses und ist von ihm nur durch eine Wand getrennt. *) Vrgl. auch Joseph, bell. jud. II, 8, 14. ant. 18. 1, § 3. **) Dass es d o r t h i n seit dem Sündenfall entrückt wurde, ist ganz sachgemäss. ***) Erubin 19a, Jalkut Chad. 35. Weber 329. t) Debarim rab. Kap. 2. vrgl. Bammidb. rab. Kap. 18. Weber 328 f f ) Feine a. a. 0. S. 88. f t t ) Chagiga loa. Weber S. 326 f. S c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

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Für die Grundanschauung hingegen haben z w e i Paradiese keinen Sinn. Eine solche Verdopplung enthält von Hause aus einen inneren Widerspruch. Denn der „Aufenthalt der Wonne" der ersten Menschen war nur e i n e r . Dieses Paradies dachte man sich aber jedenfalls z u n ä c h s t nicht unter der Erde, sondern*) im Himmel. Dort wohnten die Gerechten, als an ihrem vorläufigen Aufenthaltsorte, bis zur Auferstehung. Denn n a c h derselben kamen sie, genau genommen, nicht mehr hinein. Nachdem vielmehr mit der messianischen Ära das Paradies wieder aus dem Himmel a u f d i e E r d e herniedergekommen (Off. Joh. 21, 1—3. 10. 24—27), ist der Aufenthalt der Auferstandenen die himmlisch verklärte Erde, auf welcher sie „ein himmlisches Leben führen" (vrgl. Weber 384). Demnach war ein zweiter vorläufiger Ort fllr die Gerechten bis zur Auferstehung von vornherein überflüssig. Die Vorstellung von dem z w e i t e n Paradiese wird sich mithin erst gebildet haben, seit das ewige Leben des messianischen Reiches Uberhaupt nicht mehr auf der Erde, auch nicht auf der verklärten, sondern völlig jenseitig, im Himmel selbst gedacht wurde.**) Nun blieben die Gerechten bis zur Auferstehung im unteren und kamen dann in das obere Paradies. Diese Auffassung der älteren Ansicht ist wohl auch nicht durch die Angabe des Josephus zu erschüttern, welcher nicht nur von Strafe, sondern auch von „Belohnungen" (ri/tui) im Hades redet.***) Er dürfte sich hier im Interesse der ihm befreundeten Römer der hellenistischen Anschauungsweise angepasst haben. Auch dies spricht nicht dagegen, dass, wenn ganz im allgemeinen von dem Aufenthalte der Verstorbenen die Rede ist, der Hades als dieser vorausgesetzt wird. Das scheint deshalb zu geschehen, weil einerseits immer noch leicht die Vorstellung des Hades mit der des Grabes unwillkürlich zusammenfloss, und weil andrerseits den Juden die Mehrzahl der Menschen als vorwiegend böse galt. Daher ist also der Hades oder das Gehinnom für die vulgäre Anschauung gleichsam der normale Aufenthaltsort der Toten, in welchem sie wenigstens einige Zeit zu verbringen haben (vrgl. Weber, S. 326). *) Seit es von der Erde entrückt war. **) Vrgl. Schürer a. a. 0. II, S. 421 f. ***) Bell. Jud. II, 8, 14. C. ant. XVIII, 1, 3.

131



Die späteren Juden glaubten allerdings, dass für die meisten vor ihrer Aufnahme in das Paradies ein Z w i s c h e n z u s t a n d nötig sei. Wenn dies aber selbst die Ansicht jüdischer Zeitgenossen Jesu gewesen sein sollte, so folgt daraus noch keineswegs, dass diese auch einen Zwischenort geglaubt hätten. Die nicht vollendeten Gerechten oder Halbbösen sind vielmehr so gut im Gehinnom, als die Gottlosen. Nur ist dasselbe für sie nicht ein Ort der Verdammnis, sondern ein Purgatorium. Eine gewiss spätere Lehre liess andrerseits kein Glied des Gottesvolkes endgültig der Segnungen des Vollendungsreiches verlustig gehen. Alle wurden schliesslich, nachdem sie ihre Sünden im Gehinnom hinreichend gebüsst, für gerecht erklärt und von Vater Abraham in das Paradies hinaufgeführt.*) Wenn diese Ansicht von der endlichen Erlösung aller Juden überhaupt schon Jesu Zeitgenossen angehört hat, so tritt sie doch im neuen Testamente nirgends deutlicher hervor. Nachdem die Vergeltung auch den Hades in Anspruch genommen, verband sich hier entweder mit der Vernichtung des Leibes, nach längerer Qual, auch die der Seele. Dies galt für die gottlosen Juden so gut, als für die Heiden.**) Oder die Pein, in welcher die Seelen die Strafe ihrer Sünden erlitten, währte gar ewig. So ist das Los der Sünder nach der Auffassung der salomonischen Psalmen: Hades, Finsternis und Verderben (14, 6. 13, 10. 3, 13 ff.). Um so mehr hielt der herbe Gerichtseifer der Pharisäer die e w i g e V e r d a m m n i s aller Gottlosen fest.***) Man kann diese Auffassung nicht dadurch mildern wollen, dass man das Wort für „ewig", welches gewöhnlich in diesem Zusammenhang gebraucht wird (aiwviog), gemäss der ursprünglicheren, im alten Testamente vorwiegenden, Bedeutung des entsprechenden hebräischen bez. aramäischen Ausdrucks, nicht von eigentlich endloser, *) Erubin 19 a. Jalk. Chad. 35. Weber S. 329. 373. vrgl. auch Schwally S. 171. **) Rosch Scharia 17 a. Targ. Jer. I zu Num. 11, 26. Brammidb. rab. 2 u. sonst, vrgl. Weber 374 f. ***) Joseph, bell. jud. II, 8. 14. ant. XVIII. 1, 3. Schürer II, 433 f. vrgl. die Stellen aus der midrasisch-talmudischen Litteratur bei Weber 372. 43. 327 ff. 9*



132



sondern nur von sehr langer D a u e r zu verstehen habe.

Josephus

gebraucht nämlich, gerade indem er die Anschauung der Pharisäer wiedergiebt, für j e n e n Begriff vielmehr das Wort Dieses a b e r kann nur „für immer" bedeuten.

„uiötog".

Und auch 4. M a k k .

12, 1 2 und sonst wird das „ewige" F e u e r als ein solches gefasst, das den Gequälten in alle E w i g k e i t nicht verlässt.

Daraus

er-

giebt sich wenigstens für die pharisäischen Schriftgelehrten, dass sie unbedingt an i m m e r w ä h r e n d e Pein denken, wenn auch die Feuerqual

des Gehinnom ursprünglich, nicht ohne

persischer

Einflüsse,

der falschen

6 6 , 2 4 entstammen mag.

Mitwirkung

Auslegung j e n e r

Jesajastelle

Aber auch nach Pesachim 5 4 a währt

die Qual wenigstens für einen T e i l der Gottlosen im eigentlichen S i n n e : ewig ( W e b e r 3 7 5 ) . Schon dauach, dass die Anschauung der Pharisäer die bösen Thaten

in fester Ausserlichkeit genau gegen die guten

und nach

dem

Übergewichte

der einen

Uber die

Himmel oder Hölle erkennt,

scheint die Entscheidung

allemal

Auch

sein

zu

müssen.

ist

bei

ihnen

abwägt,

andern ein

von

auf für

keinem

Z w i s c l i e n z u s t a n d für BUsser im Gehinnom die Rede. Die

pharisäischen Ansichten

über die Höllenstrafen

sich auch im Buche Henoch im wesentlichen wieder. brennen die S e e l e n ,

finden

Hiernach

mit einer Schattenkörperlichkeit

bekleidet,

im F e u e r , sind gebunden, schreien und klagen in grösster Pein.*) Schwally

erinnert

auch

daran,

dass schon Judith

16,

17

die

judenfeindlichen Völker im Schmerzgefühl bis in Ewigkeit heulen (S.

135).

Als Mittel

der

Finsternis betrachtet.**)

Pein

werden

Feuer,

k e i t und die Seligen den Ort der Q u a l . * * * ) furchtbar, Thränen

dass

Schwefel

Die Strafen sind so

sich ihr Mass nicht ergründen lässt.

der Gerechten,

und

D i e Gottlosen sehen den Ort der Selig-

die

ins Gehinnom

fallen,

Nur die

kühlen

des

F e u e r s Pein (Schemoth rabba 6). Dasselbe wenigstens

Gehinnom

nach

mit

pharisäischer

denselben

Qualen

Anschauung,

erwartet

diejenigen

also, Bösen,

welche durch den T o d und diejenigen, welche durch den jüngsten T a g ihre Gerichtsentscheidung

empfangen.

*) Vrgl. die Stellen bei Schwally S. 137. **) Stellen bei Weber S. 374. ***) IV Esra ß, 61. 66. Fritzsche, Pseudepigraphi.

1871. S. 42.



133



Andrerseits sind auch die Freuden des Vollendungsreiches notwendig im wesentlichen dieselben, als die des Paradieses, da der Ort der ersteren die himmlisch verklärte Erde ist (Off. 21, 1 fl. 22, 1—5); nur dass die Genüsse im messianischen Reiche nicht Geistern, sondern Auferstandenen zu teil werden. Was aber die Beiwohner des jüngsten Gerichts betrifft, so ergiebt sich aus dem Bisherigen, dass für alle diejenigen Gottlosen, für welche mit ihrem Tode die Gerichtsentscheidung endgültig eintritt, ein jüngster Tag überflüssig (vrgl. Weber 313. 373) und unmöglich ist Sie werden ja am Tage der Bannherzigkeit, wie wir sahen, überhaupt nicht gefunden, da sie von der Auferstehung ausgeschlossen sind (Sal. Ps. 14, 4. 6. 3,13—15. vrgl. mit V. 16. 13, 10). Dennoch kennen auch die salomonischen Psalmen einen letzten entscheidenden Gerichtstag, selbst für die Gottlosen. J a nur für sie wird der Tag der Barmherzigkeit im eigentlichen Sinne zum Gerichtstag. Dies ergiebt sich durch Vergleichung von Ps. 15, V. 13 u. 15. Der scheinbare Widerspruch löst sich nur dadurch, dass er eben die Entscheidung für die noch lebenden Gottlosen bringt. Diese werden dann ins ewige Verderben gestossen (15, 13 f.), während die lebenden und gestorbenen Gottesftirchtigen, letztere durch die Auferstehung ins ewige Leben aufgenommen werden (15, 15. vrgl. 13, 9). Die Heimsuchung der „Erde" am jüngsten Tage muss ja in erster Linie den noch Lebenden gelten (15, 4). So waren auch die Thessalonicher für ihre heimgegangenen Brüder bange, weil die Wiederkunft des Herrn nur die noch Lebenden anzugehen schien (1. Thess. 4, 13—18). Paulus hält ihnen dagegen vor, dass dieser Tag für die in Christo Entschlafenen die Auferstehung bedeute (V. 14—17). Dabei weiss auch er hier nichts von einer etwaigen Auferstehung der Gottlosen, für die keine Hoffnung besteht (1. Thess. 4, 13). Auch unser jetziges Geschlecht interessiert der jüngste Tag im Grunde hauptsächlich insofern, als wir an die dann noch auf Erden Lebenden denken. Vom Gerichte verschont bleiben nach alter Lehre nur die Israeliten. Es lag in der Folgerichtigkeit des pharisäischen, von seinem nationalen und religiösen Partikularismus nicht befreiten



134



Systems, dass es die Heiden insgesamt, auch die Samariter treffen musste, weil auch sie nicht als echte Glieder des Gottesvolkes anerkannt wurden. Die Verheissung des Reiches galt eben nur Israel, aber auch unter ihm wiederum bloss den Gerechten. Aus ihrer Zahl schlössen die Pharisäer, ausser den Sündern, noch das gesamte „Volk des Landes", dazu die Zöllner und alle des Gesetzes Unkundigen aus (Lk. 18, 10—12. Mr. 2, 16. 7, 27. Mt. 15, 24. Joh. 7, 49).*) Da für die pharisäische Theologie, welche die frommen Volkskreise zur Zeit Jesu beherrschte, das messianische Reich von ewiger Dauer war, so fand das entscheidende Gericht naturgemäss, wie bei den Propheten, am Anfange seiner vollkommenen Errichtung statt.**) Dagegen pflegte es von den späteren Juden, für welche das messianische Zeitalter begrenzt war, allerdings ans Ende desselben geschoben zu werden.***) Da ihm schon ein Gericht bei der Eröffnung der messianischen Ara vorangegangen war, so wurde es damit zum zweiten, nunmehr dem eigentlichen Endgerichte. Doch konnte es dann nur für die übriggebliebenen, von neuem empörten Heiden die letzte Entscheidung bringen (vrgl. S. 293 f.), für Israel dagegen nur die Vollendung des Heilszustandes bedeuten, dessen es schon teilhaftig war. Indes weist diese letztere Anschauung von einem doppelten Gerichte nur wenige Spuren im neuen Testamente, sicher in der Off. Joh, auf und tritt gegenüber der Annahme des einmaligen Gerichts am Anfange völlig zurück. Daher können wir hier davon absehen. 1>) Jesu allgemeine Stellung zum (iottesreiche und die Thatsache seines Messiasbewusstseins.

Wir wollen nun mit den wichtigsten Punkten der dargestellten vorherrschenden zeitgenössischen Anschauung diejenige Jesu in Vergleichung stellen. So ermitteln wir. welche von den Bestandteilen derselben er aufnahm, und was er davon ausschied *) Vrgl. die hiermit zusammenstimmende talmudische Litteratur. Stellen bei Weber 372 f. und das Register unter am liaarez. **) Vrgl. 1. Petr. 4, 17 f. ***) Weber 376—380.



135



und änderte. Auf diesem Wege wird uns der Umfang seiner Abhängigkeit von der zeitgenössischen Theologie in diesen Beziehungen in concreto klar werden, und zugleich, in welchen Hinsichten seine Stellung zu derselben notwendig eine irrtumsfreie war, in welchen er sich dagegen wohl irren konnte oder musste. Die besonderen konkreten Gedankenformen, in welche er den Inhalt seiner originalen Gottesoffenbarung kleidete, wurden Jesu j a von seinem Volke und seiner Zeit, vor allem von der Schule der Schriftgelehrten entgegengebracht. Mochte er nun diese religiösen Gedanken ohne weiteres herübernehmen, oder durch eigne modifizieren: jedenfalls handelt es sich hier nicht mehr ausschliesslich um völlig ursprünglichen Offenbarungsinhalt, welcher u n m i t t e l b a r sein eignes Erleben des Göttlichen dargestellt hätte. Wir haben es unter diesem Gesichtspunkte in erster Linie mit Jesu Anschauung von dem M e s s i a s und dem G o t t e s r e i c h e zu thun, und zwar vor allem mit der Frage, ob und in welchem Sinne er sich selbst als den Messias ansah, und welche Stellung er seiner Person zu dem Gottesreiche gab. Indem wir zur geschichtlichen Untersuchung der Auffassung Jesu in der angegebenen Hinsicht übergehen, können wir ihre Hauptzüge schon a priori aus seinen allgemeinen Grundsätzen erschliessen. Fassen wir daher jetzt das schon hier und da Angedeutete zusammen. Die Erörterung selbst wird alsdann die Richtigkeit des Erschlossenen zu erproben haben. Für Jesu sittlich-religiöse Kritik der in Frage stehenden Begriffe musste vor allem die G e i s t i g k e i t , der E t h i z i s m u s und der U n i v e r s a l i s m u s seiner Grundanschauung massgeblich sein. Dadurch wurde alles rein Sinnliche, Ausserliche, Unsittliche, Irrreligiöse und Partikularistische notwendig aus den Vorstellungen ausgeschieden, und diese wurden in ihren religiösen Kern vertieft. Wohl war der Messias, wie wir sahen, auch für Jesum aus Davids Geschlecht (Mr. 12, 3 5 — 3 7 ) . * ) Auch hatte er eine Weltherrschaft an Gottes Statt. Diese aber stellte, dem Grundsatz der Innerlichkeit gemäss, unmöglich ein äusserlieh *) Vrgl. „Konnte Jesus irren?" I, 3, b.



136



politisches Königtum dar. Ihr unbedingt wertvoller e i g e n t l i c h e r G e h a l t musste, dem Ethizismus entsprechend, die i n n e r e r e l i g i ö s e G o t t e s h e r r s c h a f t sein.*) Demnach konnten nicht alle Israeliten daran teilnehmen, sondern nur die, welche sich durch bussfertigen Glauben dessen würdig machten. Hatte schon Johannes der Täufer erkannt, dass die unbussfertigen Glieder des Gottesvolkes rettungslos dem Gerichte verfallen würden (Lk. 3, 7—9), so konnten die Unbekehrten für Christus noch weniger an einem solchen Gottesreiche teilhaben (vrgl. Lk. 3, 7—9. 13, 25—29). Bussfertige Zöllner und Sünder mussten eher ins Gottesreich kommen können, als werkgerechte Scheinfromme (Lk. 18, 14. Mt. 21, 31). Hier liegt sein scharfer prinzipieller Gegensatz gegen den Pharisäismus klar zu tage. Mit einem solchen Ethizismus aber fielen zugleich die Schranken des nationalen Partikularismus und folgte, wenigstens grundsätzlich, der U n i v e r s a l i s m u s des Reichs. Konnte Gott schon nach jenem kühnen Worte des Täufers dem Abraham selbst aus den Steinen der Wüste Kinder erwecken, und war der bussfertige Glaube für ihn und für Jesum die einzige Bedingung der Teilnahme am Gottesreiche: dann hinderte nichts mehr, dass auch gläubige H e i d e n in dasselbe eingingen. Mit diesem ethischen Universalismus zog Jesus die volle Konsequenz der tiefsten unter den alten Propheten. Indessen müssen wir die Bewährung dieser allgemeinen Gesichtspunkte der geschichtlichen Untersuchung selbst vorbehalten, an die wir nuu herantreten. Es handelt sich darum, welche Stellung Jesus zu diesen Vorstellungen vom Messias und Gottesreiche im einzelnen thatsächlich eingenommen hat. Treten wir zunächst an die Messiasvorstellung heran. a) Der m e s s i a n i s c h e Anspruch Jesu.

Es ist unleugbar, dass er den Anspruch erhoben hat, der wahre Messias des israelitischen Volkes zu sein.**) Schon des Petrus Antwort im Namen der Jünger auf Jesu Frage: „Wer *) Vrgl. „Weissagungen Jesu" IV, 2, a. **) Skizziert findet sich diese Begründung auch in „Weissagungen Jesu" S. 112 f.



137



meint aber ihr, dass ich sei?", lässt keine andere als die direkt messianische Deutung zu. Denn sein Bekenntnis lautet einfach: „Du bist der Messias" (Mr. 8, 29). Und Jesus nimmt es nicht nur augenscheinlich an, sondern hat es selbst hervorgerufen (Mr. 8, 27—29. Mt. 16, 1 3 - 1 7 . Lk. 9, 18—20. Joh. 6, 68. 69).*) Er kann aber mit dem tiefsten Gehalte seines Lebensberufes kein unehrliches oder zweideutiges Spiel getrieben haben. Bis zu diesem Tage von Cäsarea Philippi reicht also mindestens Jesu unumwundenes B e k e n n t n i s zu seiner Messianität hinauf.*1*) Damals aber hielt er doch noch vor dem Volke damit zurück (Mr. 8, 30). Dagegen zeigt Jesu Einzug in Jerusalem, seine Tempelreinigung und sein letztes Bekenntnis vor dem hohen Rate seinen rückhaltlosen Anspruch auch vor der Öffentlichkeit, der Messias zu sein. Durch seinen Einzug auf dem Esel in Jerusalem nach dem Muster von Sach. 9, 9 f., liess er „mit Absicht alle Schleier fallen . . . die messianische Frage zur Aktualität erhebend und die Krisis herausfordernd" (Holtzmann, H.-C. 231).***) Aber auch die Tempelreinigung kommt hier als messianischer Anspruch in frage. Schon die Erhaltung unserer Geschichte bürgt umsomehr für ihre Geschichtlichkeit, als sie an sich geeignet war, Anstoss zu erregen. Wie hätte man dergleichen in urchristlicher Zeit erfinden sollen, dass Jesus die Verkäufer und Käufer aus dem Vorhofe des Tempels hinaustrieb und der Wechsler Tische umstiess! Und doch berichten dies sowohl die Synoptiker, als Johannes (Mr. 11, 15—18. Mt. 21, 12 — 16. Lk. 19, 45 f. Joh. 2, 13—17). War dies Ereignis nicht durch seine Geschichtlichkeit geschützt, so würde man wohl versucht haben, es aus der Überlieferung zu tilgen. So aber wagte man nicht, die Hand daran zu legen. *) Dazu vrgl. Weiss, Marcus S. 283. **) Den letzten Termin, seit welchem sich Jesus als Messias f ü h l t e , ergiebt schon die Versuchungsgeschichte, deren hergehörige letzte Versuchung L. Paul freilich in eben diesen Zeitpunkt von Caesarea verlegt (L. Paul, Die Vorstellungen vom Messias und vom Gottesreich bei den Synoptikern. 1895). ***) Allein schon die Willkür der gegen die Geschichtlichkeit dieses Ereignisses neuerdings von W. Brandt wieder vorgebrachten Einwürfe beweist, dass die Widerlegung derselben müssig ist; zumal hier, wo die Selbstschätzung Jesu auch sonst allseitig erhärtet wird.



138

-

Fraglich ist indes, ob die Synoptiker recht haben,

welche

diese That an das Ende der Wirksamkeit J e s u setzen, oder der letzte Evangelist, welcher sie an den Anfang verlegt. wort

hängt

damit

messianisch

zusammen,

ob

man

die

D i e Ant-

Tempelreinigung

aufzufassen hat.

Muss man dies, dann wird man

den Synoptikern recht geben.

Denn wenn man auch einräumt,

dass Jesus

während

seiner Berufswirksamkeit

Jerusalem

mehr

als einmal besucht h a b e , so hätte doch er, welcher fast bis zuletzt geflissentlich seine Messianität verborgen hielt, nicht gleich zu A n f a n g

seines

öffentlichen

Wirkens

so auftreten

können.

Auch erklärt

sich „nur bei den Synoptikern . . . der schleunige

Rückzug vor eiuem Einzigen durch den vorangegangenen Festeinzug

und grossen Anhang

Wirksamkeit

weder

Jesu,

während

zu Anfang

seiner

sein eignes messianisches Programm

schon

so ausgesprochen, noch sein R u f im Volke bereits so begründet war, dass Gewaltthat vermeidet,

er unter den Augen des Synhedriums eine derartige hätte die

unternehmen

öffentliche

können.

Aufmerksamkeit

Was

er

sonst

streng

auf Ansprüche,

die

seinem Auftreten zu gründe lagen, zu lenken, das hätte er hier sofort gethan".*) Wenn seiner

eine

solche

Tempelrcinigung

M e s s i a n i t ä t hinauslief,

auf

die

Erklärung

dann hätte sie zu A n f a n g

so-

gleich die messianische Revolution entfesseln müssen.**) Aber gerade dieser für uns wichtigste Punkt wird nicht allgemein zugestanden.

Und doch: was sonst, als die M e s s i a n i t ä t ,

hätte J e s u zu einem solchen Verfahren die Vollmacht g e g e b e n ? W a r es doch ganz und gar nicht im Sinne der amtlichen Behörde. Diese, die Synhedristen, betrachten es vielmehr „als ein Eingreifen in ihre R e c h t e , durch das sie zugleich wegen ihrer Konnivenz blossgestellt w u r d e n " . * * * ) darauf ausdrücklich, Mt. 21, 23.

was

J o h . 2, 18).

ihn

dazu

berechtige

Die Oberaufsicht

(Mr. 11,

27

f.

über die Kultusord-

nung, die J e s u s hier ausübt, stand nicht einmal dem als bloss politischem, zu.

bisherigen

S i e fragen daher unmittelbar

Könige,

W e r sich in j e n e r Zeit, ohne äusseres

*) Holtzmann, Joh. evang., H.-C., S. 50. **) Weizsäcker, Evang. Geschichte, S. 425. ***) B. Weiss in Meyers Kommentar zum Marcus. 1892. 8. Auti. S. 194.



139



Amt, aus eigener Machtvollkommenheit und der Obrigkeit zum Trotz, befugt wusste, die Jahrhunderte lang geduldeten Schäden des Gottesdienstes abzustellen; wer sich dergleichen erlaubte, wie es nicht einmal ein Johannes der Täufer, der doch allgemein vom Volke als grosser Prophet anerkannt ward, gewagt hat: musste die Vollmacht dessen haben, der mehr war als der Tempel (Mt. 12, 6), musste der theokratische Messias selber sein. Früher, als noch die Propheten selbst auf die Entschlüsse der theokratischen Könige massgeblichen Einfluss übten oder gar deren theokratische Befugnisse vertraten, hätte er vielleicht nicht mehr zu sein brauchen, als ein Prophet. Aber j e n e Zeiten waren vergangen. Wohl zum Busseruf an König und Volk mochte sich jetzt ein Prophet befugt wissen, aber schwerlich zu einem thätigen Eingreifen dieser Art. Doch gesetzt, dass dergleichen selbst damals noch aus prophetischer Autorität hätte geschehen können, so liegt j a die Thatsache deutlich vor, dass die Evangelisten Jesum hier vielmehr aus m e s s i a n i s c h e r Vollmacht handeln lassen. B. Weiss hält allerdings die Zeitangabe des vierten Evangelisten für die Tempelreinigung fest und ist, im Zusammenhang damit, der Ansicht, es handle sich „nicht um ein messianisches Auftreten, da niemand ohne ein erläuterndes Wort diese Beziehung erraten könnte, sondern um ein reformatorisches, in welchem er das Eingreifen in die Angelegenheiten des theokratischcn Volkslebens als sein heiligstes persönliches Interesse erklärt und sich damit zunächst einen prophetischen Beruf vor allem Volk vindiziert" (Meyer-Weiss a. a. 0 . 134), während er .,keinerlei messianische Befugnisse beansprucht" (Kommentar zum Johannes 134 f.). Aber gerade nach dem Worte Joh. 2, 16, welches Weiss mit in diesem Sinne geltend macht: „Macht nicht das Haus m e i n e s V a t e r s zu einem Kaufhaus", erscheinen doch die „Angelegenheiten des theokratischen Volkslebens" vor allem deshalb „als sein heiligstes persönliches Interesse", weil Gott s e i n Vater ist, dessen theokratische Autorität er hier nicht bloss als ein Prophet, sondern eben als S o h n wahrnimmt. Der Beruf jedoch, der ihm aus dieser Sohnesstellung fliesst und iiiessen muss, ksmn schwerlich ein anderer sein als der m e s s i a n i s c h e . Ganz Ahnliches macht Weiss selbst gegen Beyschlag



140



geltend.*) Also auch nach J o h a n n e s seine Legitimation vor.

schwebt

Jesu

dieser

als

Auch die Hierarchen scheinen J e s u m im Verdacht zu h a b e n , dass er in diesem Sinne seine T h a t gemeint h a b e , da sie ein or^teiov fordern (Job. 2, 18), w ä h r e n d die „Vollmacht zu einer reformatorischen T h a t . . . eines besonderen a^uilov durchaus nicht b e d u r f t e " (B. Weiss, J o h a n n e s 139). U n d nach den Synoptikern im augenscheinlichen Anschluss liche Messiasproklamation (Mr. hier als P r o b e der in Anspruch macht.**)

geschieht die T e m p e l r e i n i g u n g j a an die v o r h e r g e g a n g e n e öffent11, 10. u. 15). So erscheint sie g e n o m m e n e n messianischen Voll-

Dies ergiebt sieh ferner daraus, dass die Hierarchen, wie auch Weiss a n e r k e n n t , mit ihrer F r a g e nach der Vollmacht die Absicht h a b e n , ihm ein Bekenntnis seiner M e s s i a n i t ä t zu entlocken.***) Vor allem aber bestätigt j a J e s u s selbst, wie wir im unmittelbar F o l g e n d e n sehen werden, durch seine F r a g e n a c h d e r J o h a n n e s t a u f e , seine Vollmacht als die m e s s i a n i s c h e . Meinte also J e s u s die Tempelreinigung in diesem S i n n e , so ist aus den a n g e f ü h r t e n Gründen die Zeitangabe des vierten gegenüber dem zweiten Evangelisten schwerlich zu harlten. Das ist um so einleuchtender, seit W e n d t in seiner „Lehre J e s u " f ) wahrscheinlich gemacht h a t , dass die im vierten Evangelium bearbeitete Quellenschrift nur Reden enthält, welche „uns in die entscheidungsvolle Schlusszeit der W i r k s a m k e i t hinweisen 11 (S. 285), u n d dass in dieser Quelle „die geschichtlichen Angaben . . . nur eine s e k u n d ä r e Rolle spielen" (287), sodass wir uns auf sie „nicht verlassen" dürfen. Dies macht er selbst f ü r unsere Geschichte geltend. K a n n aber die johanneische Z e i t a n g a b e nicht mehr als authentisch gelten, so verlieren n o t w e n d i g alle G r ü n d e g e g e n die synoptische Ansetzung unmittelbar nach Jesu letztem Einzüge ihr Gewicht. *) Weiss a. a. 0. 138. Anmerkung. **) Vrgl. auch Holtzmann a. a. 0. 234. ***) Meyer-Weiss, Marcus 197. vrgl. Holtzmann, H.-C. 236. T) I, 4. Abschn.: Das Joh. ev. Kap. 4.



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Jedenfalls vermag ich in einem solchen Akte, ,.beim letzten Festbesuche, wo Jesus das Volk bereits aufgegeben hatte und den Untergang der Stadt und des Tempels verkündigte", nicht mit Weiss eine „zwecklose Provokation" zu erblicken (Komm. Joh. 135). Dies Urteil müsste in der Hauptsache auch seinen Einzug, der doch unbestreitbar ist, mittreifen. Jesus wollte noch einmal durch die Tempelreinigung, im Anschluss an seinen messianischen Einzug und diesem entsprechend, vor allem Volk und am heiligen Mittelpunkt der Theokratie, seine Messianität geltend machen. Eine Missdeutung derselben konnte jetzt, am Ende seiner Wirksamkeit, diese nicht mehr schädigen. Gerade in diesem Augenblicke, wo seine Hinrichtung alsbald seine Messianität ä u s s e r l i c h v e r n i c h t e n musste, wollte er unanfechtbar beweisen, dass er bis zum Tode, angesichts und trotz seiner, an dem Bewusstsein derselben festgehalten, j a es nun erst recht bezeugt habe. Wäre diese seine Überzeugung den Jüngern nach seiner Hinrichtung nicht Uber alle Zweifel erhaben gewesen, so hätten sie schwerlich zum Glauben an den Messias zur Rechten Gottes, an die Auferstehung des Lebensfürsten kommen können.*) Auf denselben Anspruch wies dann auch die Antwort hin, welche Jesus denen gab, die als Abgesandte des hohen Rats**) nach seiner Legitimation zu dieser Tempelreinigung fragten. Er antwortete in Form einer Frage, deren positiver Kern aber für die, die es wissen wollten, klar genug war. Er fragte die Sendlinge, woher die Taufe Johannis wäre, vom Himmel oder von Menschen (Mt. 21, 24 ff.). Darin lag, dass nach Jesu Auffassung die Taufe des Johannes und damit seine gesamte Mission eine göttliche war. Dann war aber Jesu Sendung die messianische. Denn Johannes hatte auf den kommenden messianischen Geistestäufer hingewiesen (Mr. 1, 7. 8), und Jesus hatte sich ihm gegenüber auf dessen Anfrage als diesen „Kommenden" bekaunt (Mt. 11. 3 ff.).***) War Jesus nun der „Kommende", dann hatte er auch das *) Auch L. Paul a. a. 0 . deutet die Austreibung der Käufer messianisch. " ) Wenn auch nicht „offiziell1'. ***) Ich lasse dabei Mt. 3, 14. 15 aus dem Spiel, da diese Verse, welche schon bei der Taufe Jesu die Erkenntnis des Täufers von seinem messianischen Berufe voraussetzen, dem Marcus und Lucas fehlen und nicht



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Recht, seines messianischen Amtes zu walten. Und damit war ihm vor allem die Aufgabe gestellt und das Recht geworden, die religiösen Beziehungen des Volkes zu Gott zu ordnen und zu reformieren. So ist Jesu messianischer Anspruch auch aus dieser Antwort deutlich.*) Den schlagendsten Beweis aber daflir, dass Jesus hat der Messias sein wollen, liefert sein Prozess vor dem hohen Rat. Denn dieser verurteilte ihn aus keinem andern Grunde zum Tode, als, weil er die Frage des Hohenpriesters, ob er der Messias sei, ausdrücklich bejahte (Mr. 14, 62). Dies Wort ist, trotz Volkmar u. a., sicherlich echt, obwohl die Jünger u n m i t t e l b a r es nicht verbürgen können. Aber es ist doch „sehr begreiflich, wie ein solches c h a r a k t e r i s t i s c h e s Wort, das im Synhedrium zum Ausbruch furchtbaren Entsetzens und zum definitiven Todesspruche führte, nicht in den vier Wänden des Gerichtssaales bleiben konnte, sondern mit Sturmesgewalt von Mund zu Mund fliegen und bald in aller Mund sein musste" (Weiffenb. a. a. 0 . 206). Die Echtheit dieses Bekenntnisses stände selbst dann fest, wenn man die F o r m desselben teilweise der jüdischen Apokalyptik zuschieben mtisste.**) Aber es lässt sich selbst zeigen, dass die Wiederkunft in göttlicher Herrlichkeit nichts anderes als der treffendste Ausdruck seines m e s s i a n i s c h e n Bewusstseins ist.***) Das Bekenntnis musste sich der Urgemeinde um so fester einprägen, als es ihrem Herrn das Leben kostete. So trägt es den Stempel innerer Wahrheit an sich. Während er bis in seine letzte Lebenszeit mit dem Messiasbekenntnisse vor der Öffentlichkeit zurückgehalten hatte, wurde unbedingt als authentisch angesehen werden können. Vrgl. Holtzmann, H.-O. 63. 133. Ebenso mag die uneingeschränkte Echtheit des entsprechenden johanneischen Berichtes (I, 29—34) dahingestellt bleiben. *) Vrgl. B. Weiss, Das Marcusevangelium und seine synoptischen Parallelen. 1872. S. 371—373 u. 377—382. Meyer-Weiss, Kommentar zum Marcus, 8. Aufl. 1892. S. 193 f. 194. 197—199. Desselben Kommentar zum Matthäus (8. Aufl. 1890) 351—353. 355—357; Joh. Weiss, zum Lucas. 8. Aufl. 1892. S. 584—586. Meyer-Weiss, Kommentar zum Johannes, 7. Aufl. 1886. Weiss, Leben Jesu I, 373—384. Holtzmanns H.-C. S. 234 bis 236 und zu Johannes. S. 47—50. **) Weiffenb. 207 ff.! ***) Vrgl. „Weissagungen Jesu" IV, b. c.



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dies ihm uun zur Pflicht. Als von seinem Messiastum nichts mehr für sein irdisches Leben zu hoffen war, rettete er die Königskrone seiner Sendung für die Zukunft und seine Wiederkunft. Eines eingehenderen Beweises scheint mir heutzutage die T h a t s a c h e des Messiasanspruchs Jesu nicht mehr zu bedürfen. Dagegen erfordert der genauere Sinn, in welchem Jesus auf die Messianität Anspruch erhoben, eine besondere Überlegung. ß) J e s u s k e i n M e s s i a s e i n e s r e i n ä u s s e r e n W e l t r e i c h e s .

Unmöglich konnte er auf ein Messiastum Anspruch machen, wie es sich die falschen Messiasse angemasst haben, in dem Sinne eines rein politischen Königtums. Dies folgt, wie wir soeben sahen, schon aus seinen Grundsätzen der Innerlichkeit und des Ethizismus. Es wird vor allem auch durch die Art und Weise bestätigt, wie ihm sein Messiasbewusstsein entstand.*) Hier nur so viel. Ein König wollte er allerdings sein. Aber selbst sein Königseinzug in Jerusalem legt es nahe, dass Jesu Messianität einen tieferen Kern einschliesst. Wählte er doch sicherlich dieses Bild des sanftmütigen Friedenskönigs nicht ohne eine besondere Absicht für die anschauliche Darstellung seiner Ansprüche. Daher konnte er keinesfalls gewillt sein, sein Königtum auf revolutionärem Wege zu gewinnen.**) Gerade ein F r i e d e n s k ö n i g konnte er im p o l i t i s c h e n Sinne nicht sein zu einer Zeit, wo die Römer mit Waffengewalt das Land beherrschten. Nur mit Blut und Eisen hätte er sich auf den Thron schwingen und auf ihm erhalten können. Übrigens konnte an solch eine gewaltsame Usurpation schon der Besonnene nicht denken. Auch Jesu musste das Misslingen aller bisherigen Aufstandsversuche der Juden gegen Rom bekannt sein. Seit Pompejus ihnen die politische Selbständigkeit genommen *) Siehe unter E S. 162. **) Andrerseits hätte sich Jesus nicht gegen seine eigentlichste Überzeugung zu einem nur s c h e i n b a r e n Zugeständnis an die messianischen Vorurteile des Volkes drängen lassen. Was mutet man dem zu, der doch unbestreitbar einen starken und geraden Charakter hatte; von seiner Sündlosigkeit ganz zu geschweigen!



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hatte, war aller Widerstand gegen die römischen Legionen, sowie auch gegen die von Rom abhängigen herodianischen Könige missglückt.*) Dass sein Einzug aber in seinem Sinne keinerlei politische Färbung hatte, ergiebt sich am schlagendsten daraus, dass er eben damals von der Notwendigkeit seines gewaltsamen Todes durch eben dies Volk, das ihm jetzt zujubelte, überzeugt war. Er konnte in Jerusalem**) nur in dem Bewusstsein einziehen, sich seinen Mördern preiszugeben (Lk. 13, 34 f.). Daraus erhellt wenigstens für den Schluss seiner Wirksamkeit unbestreitbar, dass er nicht nur an kein gewaltsames Erringen einer politischen Herrschaft, sondern an diese überhaupt nicht gedacht hat. Denn das Reich eines aus der Welt gegangenen verklärten Königs konnte unmöglich r e i n w e l t l i c h , es musste mindestens in seinem K e r n ein überweltliches sein. Als spätester m ö g l i c h e r Zeitpunkt, mit welchem er seine Messianität als eine im wesentlichen überweltliche aufgefasst haben muss, ist demnach schon nach dem Bisherigen der Augenblick anzusetzen, in welchem ihm das Bewusstsein der Notwendigkeit seines Todes aufging.***) Dass er aber v o n A n f a n g a n die Gewinnung der Gottesherrschaft mit äusseren Machtmitteln als eine satanische Versuchung von sich gewiesen hat, zeigt vor allem die Erzählung von dem Anbieten der Weltherrschaft durch den Satan. (Mt. 4, 8—10. Lk. 4, 5—8). Die Stellung Jesu zur Messiasfrage, wie sie hier zum Ausdruck kommt, wird in ihrer Wahrheit durch Mr. 8, 33 verbürgt, und Mt. 12, 29 zeigt, dass Jesus schon zu Beginn seines Wirkens die schwerste Versuchung, welche den Kern der Verwirklichung seines messianischen Berufs betraf, grundsätzlich überwunden hat. (Weiss, Leben Jesu I, 322). Nur aus seines Vaters Hand wollte er das ihm von demselben bestimmte Königtum nehmen; nur auf s e i n e m Wege, daher ohne

*) Schürer, a. a. 0. I, 236—241. 274—276. 277. 347—349. **) Siehe unten unter „Weissagungen Jesu" II, S. 18 ff. ***) Vrgl. über diesen Termin meine „Weissagungen Jesu" a. a. O., auch M. Vernes, Histoire des idées messianiques. Paris 1874. S. 230. Holtzmann, H.-C. 195.



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äussere Gewalt und Prunk, 'wollte er es, wie auch immer, jedenfalls nicht als ein p o l i t i s c h e s Weltreich, aufrichten. Wenn demnach Johannes berichtet, das Volk habe ihn nach der Speisung der 5000 greifen wollen, um ihn zum Könige zu machen, Jesus aber habe sich ihrem Begehren entzogen, indem er in die Einsamkeit zurückwich (Joh. 6, 14f.), so macht diese Erzählung den Eindruck der Geschichtlichkeit.*) Hätte doch die äusserliche Auffassung seiner Messianität durch das sinnliche Volk so leicht seiner stillen Predigt ein jähes Ende bereiten können. Diese Besorgnis bewog ihn j a auch, mit dem Anspruch seiner Messianität vor der Öffentlichkeit bis zuletzt zurückzuhalten.**) So trägt auch Jesu Antwort auf jene Frage der Pharisäer und Herodianer, welche dieselben, nach Markus, kurz nach seiner Messiasproklamation in der Hauptstadt an ihn richteten, ob es gestattet sei, dem Kaiser Abgaben zu entrichten oder nicht, das Gepräge der Wahrheit: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist." (Mr. 12, 13—17. Par.). Jesus schied grundsätzlich, ganz im Gegensatz zu jenem Galiläer Judas***) das, was Gottes war, und damit das, was des Gottessohnes war, von äusserer Politik und Macht. Selbst als Messias, als welchen er sich öffentlich erklärt hatte, verwarf er den Aufstand gegen die heidnische Obrigkeit des Gottesvolkes. B. Weiss macht darauf aufmerksam, dass schon in der Frage: „Was versucht ihr mich?" (Mr. 12, 15), welche er seiner eigentlichen Antwort voranschickt, liegt, „dass sie nach seinem bisherigen Verhalten ganz und gar keinen Grund haben, zu erwarten, er werde sich ftir die jüdische Revolution erklären, da der Sinn, in welchem er stets die Vollendung der Theokratie angestrebt hatte, mit politisch-messianischen Idealen nichts gemein hatte.f) Mit dieser „letzten Absage an die jüdische Revolution 1 ' aber vernichtete er „definitiv" alle „Hoffnung" des Volkes auf ein politisches Messiastum.ff)" Hiermit hängt es zusammen, wenn er unbeschadet seiner messianischen Stellung selbst gewissen theokratischen Obliegen*) Vrgl. Weiss, Leben Jesu II, 202—209. **) Vrgl. Holtzmann, H.-C. 195. ***) Vrgl. Holtzmann, H.-C. 244. Schürer I, 407. t) Weiss, Marcus 392. f f ) Ders., Leben Jesu II, 454—457. Schwartzkopff. Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

10



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beiten äusserer Art ohne weiteres nachkam. Wohl fühlte er sich innerlich von der Verpflichtung zur Tempelsteuer frei. Dennoch entrichtete er sie für sich und Petrus, um kein Ärgernis zu geben (Mt. 17, 26 f.). Die Bemerkung „So sind die Kinder (eigentlich) frei" hatte also nur den pädagogischen Zweck, seine Jünger auf ihre G-otteskindschaft und die dadurch erlangte i n n e r e Freiheit aufmerksam zu machen. Daraus sollten aber weder ihnen noch ihm selber, obwohl er in der Lage war, „Königsrecht in Israel beanspruchen zu dürfen,"*) irgend welche äusseren kirchenpolitischen Vorrechte erwachsen. Die Art des Königreichs J e s u ist also in diesem Sinne „nicht von dieser Welt" (Joh. I S , 36). Diese Johanneisehe Antwort Jesu auf des Statthalters Frage, ob er der Juden König sei, drückt den Geist der g r u n d s ä t z l i c h e n Auffassung Jesu von seinem Königtum aus. Er hatte daher auch den Triumph, dass Pilatus, obwohl Jesus auch vor ihm seine Messiasansprliche nicht verleugnete (Mr. 15,2), und obwohl er nach Lukas sogar der Steuerverweigerung gegen den Kaiser verleumderisch bezichtigt wurde (Lk. 23, 2), ihn dennoch unschuldig fand (Mr. 15, 14. Lk. 23, 4). Dieser Beweis wiegt um so schwerer, als die eifersüchtige römische Obrigkeit, auf den geringsten Verdachtsgrund hin, Prätendenteuansprlichen gegenüber kurzen Prozess gemacht haben würde. Aber der Prokurator vermutete das richtige Motiv der Anklage in dem Neide der Pharisäer und Schriftgelehrten auf seinen Einfluss beim Volke (Mr. 15, 1 0 ) * * ) . Eine Bestätigung dafür, dass Jesus seinem Messiastum grundsätzlich die „politische Seite" abstreifte,***) liegt weiter darin, dass er dasselbe, wie er es nicht durch äussere Mittel erwerben wollte, so auch durch dergleichen zu wahren verschmähte. Wäre sein Reich von dieser Welt, so würden seine Jünger dafür kämpfen, dass er den Juden nicht überantwortet würde (Joh. 18, 36). Aber er selbst hat keine Hand zu seiner Verteidigung gerührt und es auch den andern gewehrt (Mr. 14, 4 1 — 5 0 . Mt. 26, 4 7 — 5 6 . Lk. 22, 47—53). Wie leicht hätte er sich, noch unmittelbar vor *) Vrgl. Holtzmann, H.-C. 204. **) Vrgl. dazu Feine, a. a. 0. ***) Holtzmann, H.-C. 288.

— seinem Todespassah

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in Jerusalem, wenigstens durch die Flucht,

retten können, wenn er die Hülfe seiner galiläischen Anhänger anrief,

die das Synhedrium

14, 2). er für

Aber

weder

seine leibliche

fürchtete iMr. 11, 18.

menschliche

12, 12.

37.

noch göttliche Kräfte wollte

Rettung in gottwidriger Weise

aufbieten

(Mt. 26, 5 2 f.). Infolgedessen nahm die Bewegung, die auch in ihrem äusseren Eindruck auf das jüdische Volk als unvergleichlich dasteht, scheinbar einen kläglichen Ausgang.

Niemand regte sich für den, der

Hunderte geheilt und durch Wohlthaten verpflichtet hatte.

Dies

ist schon an sich kaum erklärlich ohne die Annahme, dass er jede äussere Hilfe zurückwies.

Gerade

daraus begreift sich die

plötzliche völlige Entmutigung und Flucht der Jünger, dass Jesus sich ohne den geringsten Widerstand in die Hände seiner Feinde gab.

Dies Hess sie an seiner Messianität verzweifeln (Mr. 14, 50,

siehe jedoch 5 4 . 6G ff.). B e d a r f es noch einer besonderen Betonung, dass das Streben Jesu

nach

einer äusseren Herrschaft mit äusseren

Mitteln

mit

seinem Charakter, seiner Gesinnung und Lebensanschauung völlig unvereinbar gewesen w ä r e ? !

Der Sanftmütige und Demütige, der

als seinen und seiner Jünger Lebenszweck den Dienst der Liebe betrachtete (Mr. 10, 4 3 - 4 5 ) ;

der Herzensreine, der jedes böse

Begehren vor das Gericht seines unbestechlichen Gewissens zog (Mt. 5, 22. 25. 28. 3 9 ff. 44. Mr. 7, 6. 16 ff. 21. 23. Mt. 12, 35), konnte

unmöglich den Plan hegen,

mit äusseren

Gewaltmitteln

ein äusseres weltliches Messiastum herzustellen.*) Aus alledem König

geht

hervor,

dass Jesus sicherlich

nicht ein

im Sinne eines rein äusseren Weltherrschers sein wollte,

wie auch die alten Propheten ihn darstellten.

So sehr sich das

prophetische Messiasbild im ganzen immer mehr vertieft und vergeistigt und zunehmend auch religiöse Ztigc annimmt (Jes. 9, 5 . 11, 2 - - 4 ) ,

gründet

doch

auch beim Propheten Sacharja,

nach

dessen Vorbild Jesus seinen Einzug in Jerusalem hielt, der Friedenskönig sein unbesiegliches Friedensreich auf die kraftvolle Vernichtung seiner Feinde.

Die äusserliehe Form jener Auffassung

*) Vrgl. J . Weiss, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892. S. 39 fT.

10*



148



konnte daher Jesus bei seinem Einzüge unmöglich teilen (Sach. 9, 4 - 7 . 13—17). Wohl gab es auch zu Jesu Zeit eine Anzahl von Leuten, welche vor allem auf die innerlichen Züge und die Gottesgemeinschaft des Messias Gewicht legten. Dies bestätigen die sogenannten salomonischen Psalmen. Danach soll der Messias als gottesflirchtiger, heiliger und geisterfüllter, j a sündloser König inmitten des geheiligten Volkes herrschen (17, 35 f. 41 f. 44. 46. 48—50. 18, 8—10). Dass er aber trotzdem als rein äusserer politischer Herrscher gedacht wird, ist nach obigem selbstverständlich (17, 23—35. 18, 3 f. u. a.). Ähnlich steht es um derartige Psalmen, wie jenen, welcher dem Zacharias beigelegt wird (Lk. 1,74 f. 77. 69. 71. 74). Selbst wenn nicht bloss der Anlass. sondern auch die Verfasserschaft desselben fingiert sein sollte, so hat B. Weiss gewiss darin recht, dass solche Erzeugnisse dem Kreise der Stillen im Lande angehören mochten.*) Wie viel mehr aber musste J e s u s die I n n er l i e h k e i l als die Wahrheit des messianischen Bildes erkennen! Er. der nicht nur zu jenen Stillen gehörte, sondern alles von der Tiefe seines Gottesbewusstseins und seiner Gottesgemeinschaft aus erfasste und nach den Grundsätzen der Innerlichkeit und des Ethizismus bemass! Gerade solch gediegene innerliche Züge der messianischen Weissagungen, wie sie die Propheten enthielten, gaben ihm Anlass und Nötigung, die mehr äusscrliclien oder gar der Innerlichkeit widersprechenden zu prüfen, zu vergeistigen oder auszuscheiden. Weil ihn seine ausgesprochen religiöse Anlage dazu trieb, sich die tiefste Idee des Messiastums anzueignen, konnte er nicht umhin, von hier aus an der überlieferten sinnlichen Form des Messiasbildes Kritik zu üben. Wir wollen daher, um auf diesem Wege der tiefsten Bedeutung des Messiastums Jesu näher zu kommen, hier insbesondere auf einige alttestamentliche Weissagungen hinweisen, welche Jesu bei der Ausbildung der Anschauung von seiner Messianität als Leitsterne gedient haben. *) Leben Jesu I, 228 f. 230 f.



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Y) J e s u s d e r B u n d e s e n g e l .

Wenn Johannes der Täufer sich als Wegbereiter und Vorläufer des Messias angesehen (Mr. 1, 7 f.) und Jesum, wenn auch nicht mit unerschütterlicher Gewissheit, als solchen erkannt hat (Mt. 11,3 ff.), so hat Jesus diese Stellung des Johannes anerkannt. Dies geht schon aus dem erwähnten Zusammenhang von Mt. 11, 3—6. 11. hervor. Gleichzeitig sah er in ihm auch den Boten, welcher dem in seinen Tempel ziehenden Jahve oder dessen Bundesengel vorausging (Mal. 3, 1. Mt. 11, 10). Aber auch jene andere soeben erwähnte Stelle von dem Auftreten des Elia vor dem Herrentage (Mr. 9, 11—13. Mt. 17, 10—12; vrgl. Mal. 3, 23. bez. 4, 5 (Mt. 11, 14 ist sekundär)*) bestätigt diese seine Auffassung. Daraus ist wiederum eine positive Seite der Anschauung zu ersehen, die Jesus von der Art seiner Messianität hatte. Einerseits sah er in Johannes dem Täufer seinen eignen Vorläufer und zugleich den Jahves selber und seines Bundesengels. Andrerseits erkannte er in ihm den Elia, welcher die Menschen auf die Erscheinung des grossen Tages vorbereiten sollte, an welchem Jahve zu seinem Volke kommen wollte. So konnte er in sich selbst nur den B r i n g e r des grossen Tages Jahves, den Bundesengel, den vollkommenen Vertreter Gottes in Offenbarung und Gericht finden.**) Hieraus ergiebt sich, dass Jesus in der vollkommenen, insbesondere auch richterlichen, Offenbarung Gottes in seiner eignen Person seine eigentliche Stellung und Aufgabe erblickt. Eine Mittlerschaft zwischen Gott und seinem Volke, von welcher freilich selbst das Messiastum nur ein schwaches Bild darstellen konnte. Dies führt uns noch zu einigen andern alttestamentlicliL'ii *) Vrgl. Holt/.mann, II.-C. 135. **) Auch ist, falls der Nachtrag Mal. 3, 22—24 authentisch ist, was zu bezweifeln kein Grund vorliegt Cornill, Einleitung 202), und mit dem Vorhergehenden eine ursprüngliche Einheit bildet, der Prophet Elia selbst unter dem Boten zu verstehen (3, 1). Vrgl. Delitzsch in Riehms H.-W. I, 380. Holtzmann, H.-C. 134. Smend, Religionsgeschichte S. 42—46. Anders Wendt, der das Wort Mt. 11, 10 für ein Einschiebsel des ersten Evangelisten hält in Erinnerung an Mr. 1, 2. Lehre Jesu II, 74 f.

— Stellen, Stellung

welche

ihm

für

als Wegweiser

die

150



Auffassung

gedient

haben.

seiner Ich

messianischen

denke

hier

vor

allem an Daniel 7.

8) J e s u s d e r

Menschensohn.

Die Untersuchung der F r a g e , in welchem Sinne und Umfange sich Jesus als den Menschensohn bezeichnet habe, ist neuerdings durch die beachtenswerte Schrift des Bonner Dozenten Lic. Arnold Meyer „Jesu Muttersprache" (Freiburg bei Mohr 1 8 9 6 ) in eine teilweise neue Bahn gebracht worden.*) Dieser erinnert daran, dass im derzeitigen Aramäisch, der Muttersprache J e s u , das Wort barnasch, dessen Ubersetzung ,,Menschensohn(v'u) r o c uvO-QWyiou) ist, von Hause aus einfach bedeute: Menschenkind, Mensch als Individuum, wie schon in dem aramäischen und auch hebräischen Sprachgebrauche des alten Testaments. Andrerseits weist er nach, dass (auch) der (galiliiische) Aramäcr, um einen beabsichtigten Gegensatz, zu Gott, zu einem andern Menschen oder einem Tiere usw. auch sprachlich hervortreten zu lassen, sich statt des persönlichen Pronomens, so auch für „ich", der Wendungen „Mann" oder ..Menschensohn" zu bedienen geneigt sei.**) Endlich könne ..Mann" oder „Menschensohn" auch ohne Gegensatz an die Stelle von „ich" treten, wenn der Redende sich sofort als Menschen von bestimmter Art kennzeichnen wolle, also im Sinne von „jemand (wie ich)," „ein Mensch (wie ich)" (Meyer a. a. 0 . S. 9 1 — 1 0 1 . vrgl. 140—149). Hiermit erneuert Meyer auf selbständigem Wege eine Erkenntnis, welche nach dem Vorgange von Genebrard (Meyer a. a, 0 . 141 f.) und Hugo Grotius (143 f.) im wesentlichen vor *) Danach ist sie soeben in der Abhandlung von I L Lietzmann, „Der Menschensohn", 189H (Mohr in Freiburg). im wesentlichen in gleichartigem Sinne, wenn auch hier und da berichtigend, noch eingehender erörtert worden. Da dieselbe mir jedoch erst während der Korrektur zugeht, so kann ich sie nicht ausgiebiger berücksichtigen. **) Doch weist Lietzmann auf die Singularität dieser Wendung im Aramäischen hin, welche es nicht gestatte, anzunehmen, dass dies in den Reden Jesu die überwiegende Gebrauchsweise sei (a. a. 0 . S. 85).



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hundert Jahren dem Pastor Bolten aufgegangen war, seitdem aber fast gänzlich wieder in Vergessenheit geraten ist. Die allgemeine Bedeutung „Mensch" macht er nun fiir die bisher eschatologisch oder doch messianisch aufgefassten Stellen Mr. 2, 10. 28 und Mt. 12, 32 geltend, während er in Mt. 8, 20 und 11, 19 den „Menschensohn" als „ein Mensch wie ich" deutet. Noch L. Paul versteht Mr. 2, 10 messianisch.*) In der That erscheint es auf den ersten Blick seltsam, dass Jesus als „Mensch" die Macht in Anspruch nehmen soll, auf Erden Sünde zu vergeben (Mr. 2, 10), zumal die Pharisäer gerade diesen Anspruch als eine Gotteslästerung ansehen (V. 7). Er spricht sie aber auch keineswegs j e d e m Menschen zu. Dennoch steht in ihm selber ein solcher da, der dieses Recht nicht nur hat, sondern es auch seinen Aposteln überträgt (Mt. 16, 19. 18, 18. Joh. 20, 23, A. Meyer a. a. O. S. 94). Man darf hinzufügen, dass, wenn auch er jene Vollmacht im N a m e n und A u f t r a g e des Vaters übt, dieselbe bei ihm, dem Herzenskündiger und vollkommenen Werkzeuge Gottes, eine u n b e d i n g t e ist. Mit Recht weist aber Meyer darauf hin, dass auch der Evangelist Matthäus in der Parallelstelle diese ovaia ihm als M e n s c h e n gegeben weiss. Dies bezeugt unweigerlich die in unverkennbarer Beziehung hierauf angeschlossene Wendung, das Volk habe Gott gepriesen, der eine solche Vollmacht („wieder IfywauP) „den M e n s c h e n " gegeben habe**) (Mt. 9, 8. Meyer a. a. 0. S. 94. 97). Ähnlich steht es mit Mr. 2, 27. 28. Denn wenn es dort heisst: ..Der Sabbath ist um des Menschen willen und nicht der M e n s c h um des Sabbaths willen geworden. Daher ist der „Menschensohn" ein Herr auch des Sabbaths," so muss man es Grotius zugeben, dass die Worte keinen strengen Zusammenhang haben, wenn man den Menschensohn als den M e s s i a s auf'fasst (Meyer a. a. 0. S. 144). ..Aus der VorausA. a. 0. S. 4ü. **) Freilich nur in e i n e m von diesem Menschengeschlecht, nämlich in Jesu, dem Gottessoline, der doch aber wirklich als voller M e n s c h erschienen war.



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setzung, dass der Sabbatb dem Menschen zum Dienst geschaffen ist, folgt logisch, dass der Mensch Herr des Sabbaths ist" (Meyer S. 93, vrgl. auch Paul a. a. 0. S. 46). Dies Recht kommt demnach dem M e n s c h e n da zu, wo das Halten des Sabbaths das Heil dessen in frage stellen würde, um dessentwillen der Sabbath da ist. Daher würde, „selbst wenn Jesus bei „barnasch" hier nur an sich gedacht hätte, ihn niemand anders als vom Menschen verstanden haben" (Meyer a. a. 0.).*) Endlich ist sich Jesus Mt. 12, 22 bewusst, dass er die Dämonen durch den Geist Gottes austreibt. Er weist deshalb (Mr. 3, 30) die Beschuldigung der Pharisäer, er thue dies durch Beelzebub (Mt. 12, 24), als eine u n v e r g e b b a r e Lästerung des in ihm waltenden heiligen Geistes zurück (31b 32b- Mr. 3, 29). Mithin kann er d i e s e l b e Sünde nicht zugleich als v e r g e b b a r betrachten. Dies müsste er aber thun, wenn er hier den „Menschensohn," gegen welchen die Sünde vergebbar sei, als m e s s i a n i s c h e Selbstbezeichnung meinte. Schon dies weist auf die Auffassung des „Menschensohnes" als „Menschen überhaupt" hin. Nun kann er jedoch in diesem Zusammenhang erst recht nicht Anlass haben, von einer vergebbaren Sünde gegen i h n , a l s Menschen überhaupt, zu reden. Denn die besprochene vergebbare Sünde gegen den „Menschensohn" steht ja im G e g e n s a t z zu der eben gegen ihn selbst als den Träger des Gottesgeistes verübten. Ist diese b e s t i m m t e Sünde aber unvergebbar, so ist sie es eben ü b e r h a u p t . So scheint schon logisch kaum etwas übrig zu bleiben, als das Zugeständnis, dass „Menschensohn" ebenso wie in den beiden angeführten Stellen ursprünglich auf den „blossen Menschen" gehe. Und dies wird nun durch A. Meyers Einsetzung des aramäischen „barnasch" so gut wie gewiss (a. a. 0. S. 94). Der Sinn von Mt. 12, 32 ist also der, dass, wenn jemand etwas gegen den „Menschen" („barnasch") sage, dies ihm vergeben *) Diese Auffassung der beiden Stellen vertrat neuerdings vor Meyer, schon vom exegetischen Standpunkt aus, Joh. Weiss, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes. 1892. S. 57.



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werden 6olle, wenn er aber etwas gegen den (in Christo waltenden) heiligen Geist sage, dies ihm nicht vergeben werden könne. Wir kommen zu der zweiten Reihe Meyers: Mt. 8, 20 und 11, 19, wo er unter „Menschensohn": „ein M e n s c h w i e i c h " versteht. An ersterer Stelle ist nach ihm die Wahl von barnasch statt „ich" deutlich durch den Gegensatz von Mensch und Tier erzeugt (97). Jesus will danach sagen: Während die Füchse ihre Gruben und die Vögel ihre Nester haben, hat „ein Mensch wie ich" nichts, wo er sein Haupt hinlegt. An der zweiten Stelle aber würde Jesus meinen: „Es kommt Johannes, isst und trinkt nicht: so sagen sie: er hat einen Teufel; es kommt (dagegen) jemand, der isst und trinkt," so sagen sie: „Siehe, er ist ein Fresser und Weinsäufer" (S. 97).*) Auch diese Auslegungen sind jedenfalls, wenn wir die Muttersprache Jesu beachten, von vornherein als m ö g l i c h zuzugeben. Freilich köunte hier an sich die Hindeutung auf den „Menschensohn" im m e s s i a n i s c h e n Sinne auch als möglich erscheinen. Wenn sich nämlich feststellen liesse, dass Jesus diesen Namen überhaupt als eine s t e h e n d e Selbstbezeichnung gebraucht hat und gebrauchen k o n n t e . Und zwar schon in einer so frühen Zeit, wie z. B. Mt. 8, 20 voraussetzt. Aber gerade dies ist mindestens fraglich. Überhaupt würde j a eine stehende Selbstbenennung Jesu durch den Ausdruck „der Mensch" — denn dies würde „barnascha" heissen — ihren Zweck höchst unzureichend erfüllen und zu unvermeidlichen Missverstäudnissen führen, da in vielen Fällen „niemand wissen konnte, wann Jesus sich, wann er den Menschen überhaupt meinte" (Meyer 92, vrgl. auch 93 zu Mr. 2, 28). Und dazu kommt, dass gerade diejenigen Stellen, auf welche sich bisher die Annahme einer derartigen, schon frühen und ständigen (mcssianischcn) Selbstbczcichnung vornehmlich stützte (vor allem Mr. 2 , 10 u. 28) nunmehr in Wegfall kommen. Auch wäre solch eine bedeutsame Anschauung natürlich nur auf g a n z s i c h e r e Überlieferung zu gründen. Und doch ist nicht zu leugnen, dass Sprüche, wo sich der ..Menschensohn" in *) Siehe indes zu letzteren zwei Stellen auch Lietzrnann S. 90 f.



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der einen synoptischen Parallele, in der andern aber statt dessen das Personalpronomen (ich usw.) findet, nicht ftir die Ursprünglichkeit der messianischen Verwendung dieses Wortes an solchen Stellen sprechen. Eber vielleicht dafür, dass die eine Quelle den „barnasch" eben im S i n n e des p e r s ö n l i c h e n P r o n o m e n s gehabt hat. Andrerseits wäre es unbegreiflich, wie das Wort „Menschensohn" a l s g e h e i l i g t e r M e s s i a s n a m e sollte von einem Evangelisten, der es in der Quelle fand, a u s g e l a s s e n worden sein, während es wohl zu verstehen wäre, wenn später die gewohnte Benennung auch an einige Stellen des Evangeliums geriet, wosie bis dahin nicht stand. Vrgl. Mr. 9, 1 mit Mt. 16, 28; ferner die von Meyer beigebrachten Stellen Mt. 5, 11 mit Lk. G, 22, Mr. 8. 27 mit Mt. 16, 13. und Mt. 26, 24 mit der Lesart dieser Stelle in Syr. Sin. welche statt des zweiten „Menscliensohn" einfach „ich" setzt (Meyer 92 f.). Ferner sind die Verse 13, 37 u. 41, in welchen der „Menschensohn" als Säemann und Entsender der Engel vorkommt, nicht unanfechtbar, weil sie nicht dem Texte der Gleichnisse selbst, sondern der Deutung derselben angeboren, die bekanntlich möglicherweise aus dein Gemeindegottesdienste stammt. Von dem schon h a n d s c h r i f t l i e h nicht gesicherten Menschensohn Mt. 25.13 ist natürlich abzusehen. Mag man den .,Menschensohn" Mt. 16, 13 im Sinne von „ichfassen. Aber selbst wenn man das Personalpronomen in der Parallelstelle Mr. 8. 27 vielmehr als ursprünglich nähme, so bewiese die Wendung des ersten Evangelisten „Wer sagen denn die Menschen, dass der Menschensohn sei" auf alle Fälle, dass jener selbst sie noch nicht bestimmt messianisch verstanden hat. Auch konnte Christus es nicht für eine Offenbarung seines Vaters an den Petrus erklären, dass der Messias der Messias sei (Mt. 16, 17).*) *) Dieser Titel kann vor Jesu Verwendung desselben sicherlich keine offenkundige Messiasbezeichnung gewesen sein (vrgl. auch Weizsäcker, Evangelische Geschichte 429). Wäre er, wie Baldensperger will, schon durch die vorchristliche Apokah'ptik dem Gehrauche der Synagoge zugeeignet gewesen und hätte somit bei jedem Besucher derselben, den Jüngern nicht zum wenigsten, sogleich messianische Vorstellungen erweckt (Baldensperger 134. dagegen Bousset 122). dann hätten nicht nur



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Von sämtlichen übrig bleibenden synoptischen Menschensohnsteilen wird sich aber nachweisen lassen, dass sie erst aus der l e t z t e n Z e i t Jesu stammen. Dies gilt auch von Mt. 10, 23. Denn es darf wohl als ausgemacht gelten, dass dieses Wort, welches die Wiederkunft auf d i e Zeit in Aussicht stellt, wo die Jünger noch nicht mit den Städten Israels fertig sind, seinen ursprünglichen Platz eben in einer W i e d e r k u n f t s r e d e hat. Andrerseits weist uns Lk. 11, 30,*) wenigstens schon in die Zeit, in welcher Jesus am Erfolge in Galiläa verzweifelte. Und die andern Sprüche stehen ja unbestritten sämtlich in unmittelbarem Zusammenhange mit Jesu Weissagungen von seinem Leiden und Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft. So habe ich denn nur noch wenige Bemerkungen hinzuzufügen, indem ich im übrigen auf die Aufhellung dieses Punktes verweisen darf, welche Arnold Meyer in Aussicht stellt (a. a. 0. S. 92. 93. 100. 149).**) Die frühste aller hergehörigen Stellen des Markus und Matthäus befindet sich in der ersten Todesweissagung Jesu bei Cäsarea Philippi, gehört also der Epoche an, in welcher er spätestens seinen Tod mit Bestimmtheit ins Auge gefasst haben muss.***) Hier findet sich bekanntlich die Vorhersagung von Leiden, Hinrichtung und Auferstehung sogleich verbunden. In ähnlicher Weise fassen dann Mr. 9, 31 u. 10, 33 die Dahingabe des „Menschensohnes" in die Hände der Menschen mit Tod und Aufdie Jünger eher die messianisohen Ansprüche des Herrn erkennen müssen, sondern Jesus hätte damit die messianische Revolution heraufbeschworen (Weiss, Lehen Jesu I, 442. Holtzmann, H.-C. 8. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. 1892. 110. Keim a. a. 0 . II, 69). Und trotz einer Berichtigung des Missverständnisses •würde er seine gesamte Wirksamkeit gelähmt haben. Nimmer hätten das Volk und die Pharisäer zu einer solchen stetigen Messiasproklamation schweigen, so lange über Jesu messianischen Anspruch selbst in Zweifel sein können. *) Nach meiner Überzeugung giebt uns hier Lukas und nicht Matthäus (12, 40) die u r s p r ü n g l i c h e Deutung des Jonazeichens (vrgl. „Konnte Jesus irren?" S. 9 f.). Übrigens würde das Gegenteil für unsere Frage nichts verschlagen. **) Und welche Lietzmann von seinem Standpunkte aus a. a. 0. gegeben hat. ***) Vrgl. die „Weissagungen Jesu" S. 18.



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erstehung zusammen. Dagegen deutet Mr. 9, 12 auf die Erfüllung der Weissagung des Propheten Jesaia (53) von Leid und Verachtung des Gottesknechtes in Christi Person hin, während wiederum unmittelbar vorher, 9, 9, die Auferstehung von den Toten vorausgesetzt wird. 14, 21 u. Par. enthalten den Weheruf über den Verräter des Menschensohnes und 14, 41 kündigt die Hingabe durch diesen in die Hände der Sünder als unmittelbar bevorstehend an. Derselbe Gedanke an die alsbald zu erwartende Auslieferung des Menschensohnes zur Kreuzigung klingt auch in der allerdings als solche vereinzelten Xotiz Mt. 26, 2 wieder, während Mr. 10, 45 u. Par. der Ausdruck einer ähnlichen Stimmung Jesum den Dienst der Selbsterniedrigung und die Hingabe des Lebens an vieler Statt als Zweck der Sendung des Menschensohnes aussprechen lässt. Überall hier steht dem Heiland also der Weg des Menschensohnes d u r c h K r e u z z u r K r o n e vor Augen. Wenn demnach mein Nachweis zu Recht besteht, dass Jesus veranlasst, j a genötigt war, derartige Weissagungen zu wiederholtenmalen auszusprechen,*) so lassen sich diese Stellen jedenfalls nicht ohne weiteres für unecht erklären. Freilich steht es von hier aus noch nicht fest, dass der Herr dabei jedesmal den „Menschensohn" zum Subjekt von Leiden, Tod und Auferstehung gemacht haben mttsste. Zuverlässiger erscheint diese Annahme von vornherein bei einer letzten Reihe von Stellen, in welchen er in deutlich eschatologischem Sinne von der W i e d e r k u n f t d e s M e n s c h e n s o h n e s v o m H i m m e l h e r zum G e r i c h t redet, oder dieses wenigstens voraussetzt. Allerdings hat Jesus Mr. 8, 38, wenn er sagt, wer sich unter diesem ehebrecherischen Geschlechte vor ihm schäme, vor dem werde der Menschensohn sich auch schämen,**) genau genommen nicht sowohl das Amt des Richters als des S a c h w a l t e r s . Dabei wird aber doch vorausgesetzt, dass sein Eintreten vor Gott thatsächlich das ewige Los der Menschen entscheidet. Ausserdem hat Markus noch zwei hergehörige Stellen, näm*) „Weissagungen Jesu" S. 18—22. 36—41. **) Die folgenden Worte: „wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln kommt", könnten eingeschoben sein. vrgl. Mt. 10, 32. 33.



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lieh 13, 26 u. 14, 62. Nach beiden sollen die Menschen, nach der zweiten insonderheit seine Richter, den „Menschensohn" in göttlicher Herrlichkeit in (mit) den Wolken kommen sehen. Was zunächst die letztere betrifft, so ist hier die Anspielung auf Dan. 7, 13 f. so deutlich, und die Drohung zumal für die Schriftgelehrten des hohen Rates so unmissyerständlich, dass schwerlich eine ungenaue Uberlieferung anzunehmen ist.*) Dies wird daher auch fast allgemein zugestanden. Hat sieh Jesus aber Uberhaupt in dem mit des Himmels Wolken kommenden Menschensohne Daniels wiedererkannt, so lässt sich ohne triftige Begründung die Möglichkeit nicht bestreiten, dass er gerade in der Form dieser Vorstellung wenigstens in der letzten Zeit vor seinem Tode, seinen Triumph vorausgeschaut hat. Man würde sich sogar nicht wundem dürfen, wenn der, welcher sich seiner himmlischen Art und seiner himmlischen Bestimmung zur Herrschaft über das himmelentstammte „Himmelreich" bewusst war, bereits mit den Anfängen seiner Heilsthätigkeit seinen messianischen Beruf**) unter diesem Bilde ergriffen hätte. Denn gerade diese Anschauung war der besonderen Auffassung Jesu von seiner Art und Bestimmung so adäquat wie kaum eine zweite im Alten Testament.***) Wenn nun aber auch keine unverkennbaren Spuren darauf weisen, dass Jesus vom Anfang seiner Berufsthätigkeit an in diesem Bilde Daniels eine vorbildliche Darstellung seines eignen ") Auch bei Lk. 22, 69 ist der „Menschensohn 1 , das Subjekt der Aussage; indes ist hier die unleugbare Beziehung auf die Danielstelle dadurch verwischt, dass das D r o h w o r t , jedenfalls weniger ursprünglich, n u r mit Psalm 110, 1 in V e r b i n d u n g gesetzt wird. **) Den Beweis f ü r ein so f r ü h e s Bewusstsein seines messianischen Berufs siehe im nächsten Abschnitt. Vrgl. die „Weissagungen J e s u " S. 124 Anm. ***) Allerdings ist die E r s c h e i n u n g des Menschensohnes zum G e r i c h t nicht der u n m i t t e l b a r e Sinn der Danielweissagung, sondern die Übergabe der Weltherrschaft an i h n durch Gott, welcher das Gericht an den W e l t m ä c h t e n bereits zuvor selber vollzogen h a t (Dan. 7, 11 f. 26. 14. 18. 27). Ein Endgericht in dem Sinne, dass es die alte Erdenzeit abschlösse, k o m m t hier überhaupt nicht vor. Dennoch g e h t auch diese Modifikation des Gedankens J e s u m i t t e l b a r auf die Danielische A n s c h a u u n g zurück. Denn da das Richten die H a u p t f u n k t i o n des Königs ist, so wird der



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Zieles erkannt hätte, so erscheint es immerhin als mindestens wahrscheinlich, dass er, seitdem er seinen Tod voraussah, jenes Ziel als Erfüllung der Danielweissagung verstanden hat. Denn von jenem Zeitpunkt an m u s s t e er sein K o m m e n vom H i m m e l h e r z u r R e i c h s e r r i c h t u n g ins Auge fassen.*) Wenn die Sache aber so liegt, dann kann er, etwa bei einem ähnlichen Ausblick auf seine Wiederkunft, im Kreise seiner Jünger fast eben so gut wie Mr. 14, 62, auch Mr. 13, 26 gesprochen haben, da der Sinn dieser Stelle seiner Drohung vor dem Synhedrium gleichartig ist.**) Auch das „Zeichen" des Menschensohnes (arjuiov) in der Parallelstelle des Matthäus (24, 3 0 ) wird, falls es echt ist, eben seine w u n d e r b a r e Erscheinung in göttlicher Herrlichkeit auf Himmels Wolken bedeuten (gen. epexeg.). Giebt doch das Ende des Verses offenbar eine Erläuterung in diesem Sinne. Das „ihio/.cdvTttto&ui"

des M e n s c h e n s o h n e s

L k . 17, 3 0 besagt

das-

selbe. Ganz auf dieser Linie liegen nun die noch übrigen Stellen des Matthäus vom Mcnschensohn mit ihren Lukanischeu Parallelen, welche eine Art Ergänzung des Markus bilden. Die Erscheinung des Menschensohnes geschieht plötzlich (Mt. 24, 4 4 Par.), aber auch allgemein sichtbar, wie der Blitz (Mt. 24, 27. Lk. 17, 24),***) da er eben als Weltherrscher und -lichter auftritt. Das überraschende Erscheinen des „Tages des Menschensolincs'- über die Weltherrscher folgerichtig zum W e l t r i c h t e r . — W a r ferner das Danielische Reich als ein politisches gedacht, so war es doch im schärfsten Gegensatz zu den früheren Weltreichen (s. o. Daniel 7, 3—14) ein, wenn auch irdisches, G o t t e s r e i c h ; entsprechend der Grundaufi'assung Jesu vom Himmelreich auf Erden (vrgl. den Beweis dafür in den „Weissagungen J e s u " IV, 2, c, i.. *) Siehe „Weissagungen J e s u " , 133 fl'. **) Die Hypothese, dass wir in Mr. 13 eine ursprünglich jüdische, bzw. judenchristliche Apokalypse besitzen, findet unter diesen Umständen, selbst wenn sie in gewissen Schranken richtig sein sollte, keineswegs eine nachweisbar notwendige Anwendung auf unsern Vers. Dass freilich die Verse 24—27 nicht wohl in den jetzigen Zusammenhang passen, ist zuzugeben. Vrgl. besonders Haupt, Die eschatologischen Aussagen Jesu, 1895, zu Mr. 13. ***) Der Gegensatz zu letzterer Eigenschaft liegt in dem Unvermerkten und Verborgenen (Mt. 24, 26. Lk. 17, 21. 23).



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Frevler wird mit dem unerwarteten Eintritt der Slindflut verglichen (Mt. 24, 37—39. Lk. 17, 26 f.). Lukas fügt noch den Vergleich mit der plötzlich über Sodoni hereinbrechenden Katastrophe hinzu (17, 28—30). Und zwar werden einige von Jesu Umgebung diese Wiederkunft des Menschensohnes als Herrschers des Gottesreiches noch erleben (Mt. 16, 27. 28).*) Auf die Wiederkunft des Menschensohnes in Herrlichkeit spielt endlich auch das eschatologische Gleichnis Jesu sichtlich an, welches Matthäus allein hat und als letztes bringt (Mt. 25, 31). Sollte es selbst ganz oder teilweise nicht unmittelbar auf Jesum zurückgehen, so spiegelt doch auch dies die echte Anschauung des Herrn wieder. Wie hier (Mt. 25, 31), so sehen wir auch Mt. 19, 28 den Mcnschensohn auf seinem Herrscher- und Richterthrone sitzen. Wenn Jesus an letzterer Stelle, wie Paul meint,**) die Palingenesie, n o c h a b s e h e u d v o n e i n e r W i e d e r k u n f t , erwartete, so würde freilich nach obigem die Echtheit des Wortes ,,Menschensohn" hier anfechtbar werden.***) An sich entspricht aber auch diese Stelle dem Tenor der bisher angeführten.f) Geht nun in allen völlig gesicherten Stellen der letzten Reihe der „Menschensohn" in Jesu Munde deutlich auf Dan. 7 zurück, so ergiebt sich hieraus, dass Jesus, wenn nicht ausschliesslich, jedenfalls in erster Linie den Namen des „Menschensohnes" beziehentlich des „Menschen" im Sinne des W e l t r i c h t e r s auf sich angewendet hat. Dies konnte er unmissverständlich immer nur im Hinblick auf die Danielstelle thun, die er daher bei solcher Gelegenheit, wenn nicht weiter ausgeführt, so doch kräftig angedeutet haben w i r d . f f ) Das scheint wirklich der Bestand der *) Wenn die Form von Mr. 9, 1 auch ursprünglicher sein sollte, als Mt. 16, 28, so kann doch der deutlich eschatologische Sinn nur der gleiche sein. **) A. a. 0. S. 106. ***) In der Parallelstelle Lk. 22, 29 f. findet sich das Wort nicht, t) Siehe die nähere Begründung für die Auffassung der auf die Wiederkunft bezüglichen Stellen überhaupt in den „Weissagungen Jesu" IV, b - f . f f ) Mag demnach „barnascha" an sich auch die „farbloseste" „Bezeichnung des menschlichen Individuums'1 sein (Lietzmann S. 38), so erscheint mir der Schluss hieraus doch nicht unbedingt zwingend, dass



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-

Stellen zu bestätigen. Nachdem der Herr dies wiederholt geübt hatte, mochten die Jünger allerdings wohl hier und da den Sinn der Selbstbezeichnung auch ohne weitere Ausführung ahnen, falls Jesus dieselbe in einem unverkennbar messianischen Zusammenhange verwendete, wie z. B. Mr. 9, 12. 10, 45.*) Wenn demnach die Selbstbenennung in ihrem Ursprünge messianischen, bezw. eschatologischen Sinn hat,**) so können diejenigen Stellen, in welchen, wie in den beiden zuletzt angeführten, vom Leiden, ja vom Tode die Rede ist, nur den p a r a d o x e n Sinn haben, dass der zum H e r r s c h e r d e s V o l l e n d u n g s r e i c h e s b e s t i m m t e „Mensch" im Dienen und Leiden bis zum Tode den einzigen Weg sieht, auf welchem er nach seines Vaters Ratschluss diese Stellung gewinnen soll, oder, dass der M e n s c h e n s o h n zugleich der „ G o t t e s k n e c h t " ist (Jes. 53. Lk. 17, 24 f.). Doch ist an sich nicht zu sehen, warum nicht ein derartiger paradoxer Gebrauch dieses Namens auf natürliche Weise aus Jesu Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein erwachsen sein konnte.***) Dass dem zu göttlicher Herrschaft bestimmten „ M e n s c h e n Jesus sich damit nicht als Erfüllung des Danielischen Menschensohnes, als welchen er sich sehr wohl wissen konnte, auch zu b e z e i c h n e n vermochte. Mochte diese gelegentliche vergleichende Benennung immerhin nicht zu einem förmlichen „Titel" werden, so konnte Jesus sich, wo er d e u t l i c h auf jene Danielstelle anspielte, doch wohl auch seinen Jüngern verständlich machen (vrgl. Lietzmann, bes. S. 85). Auch die sonstigen einer d e r a r t i g e n Selbstbenennung entgegenstehenden Schwierigkeiten kann ich noch nicht für unlösbar halten; jedoch mu.ss ich hier von weiterem absehen. Wenigstens die G r u n d l a g e des durchgehenden synoptischen Gebrauches dürfte Jesu Deutung des Danielischen Menschensohnes auf seine eigene Person zu danken sein. Spater wird dann der präzisierte Name der Gemeinde Anlass und Möglichkeit gewährt haben, ihn als eigentlichen stehenden Messiastitel in dem gegenwärtigen Umfange in die Evangelien einzuführen (vrgl. die scharfsinnige Entwicklung Lietzmann's bes. S. 92—95). *) Vrgl. zu Mr. 9, 12. Holtzmann, H.-C. 200 f. **) Vrgl. Baldensperger a. a. 0. S. 133. ***) Ich kann daher Cremer auch nicht zugeben, dass vielmehr die P r ä d i c i e r u n g e n der H e r r l i c h k e i t p a r a d o x e synthetische Urteile, dagegen die Leidens- und Niedrigkeitsaussagen analytische seien, sondern halte die umgekehrte Betrachtungsweise für sachentsprechend. Biblischtheologisches Wörterbuch. S. 912.



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e o h n e " ein solcher Leidens- und Todesweg als leidensfähigem M e n s c h e n zu gehen oblag, diesen Gegensatz mag Jesus wohl auch e m p f u n d e n haben. Dieser und ähnliche an sich mögliche Gedanken, wie: Der gebrechliche, der wahre, der ideale Mensch, der Prophet u. d g l , werden aber, wenn unsere Auffassung das Richtige trifft, höchstens Nebenklänge für das G e f ü h l Jesu gebildet haben, sind jedoch nicht zur eigentlichen B e d e u t u n g des „Menschensohn" zu rechnen. Ich halte deshalb ein näheres Eingehen darauf flir wenig ertragbringend.*) Neuerdings hat Paul, in Pfleiderers Fussstapfen, den feinsinnigen Nachweis versucht, dass das Wort „Menschensohn" nach Jesu Auffassung zunächst, und zwar schon verhältnismässig früh, die Bedeutung des „idealen Menschen" gehabt, indessen mit der fortschreitenden Entwicklung des Selbstbewusstseins Jesu immer mehr und zuletzt ausdrücklich m e s s i a n i s c h e n Sinn erhalten habe.**) Ich deutete schon an, dass zu einer derartigen Entwicklung der Bedeutung insofern hier kein Grund ersichtlich wäre, als Jesu messianisches Bewusstsein mit der Übernahme seines Berufes in allem wesentlichen ein vollendetes gewesen sein wird,***) und er insbesondere schon v o r h e r seine himmlische Art und göttliche Bestimmung erkannt haben muss. Doch verliert ja, wie die Sachen jetzt liegen, der Gedanke Pauls schon dadurch seinen Boden, dass sich weder eine frühe Verwendung jenes Namens als Selbstbezeichnung Jesu, noch eine andere als die messianische Bedeutung mit Sicherheit aufzeigen lässt. An wie vielen von den in frage kommenden Stellen, abgesehen von den bereits berührten, das als messianische Bezeichnung für Christum üblich gewordene Wort nachträglich durch die urchristlichc Gemeinde eingeschoben sein sollte, zu untersuchen, würde hier zu weit führen. Uns kam es hier nur darauf an, festzustellen, inwiefern sich *) Vrgl. besonders Wendt, Die Lehre Christi II, 448. Baur, Neutestamentliche Theologie, 1864. S. 81. Keim II, 73. Weizsäcker, Evang. Untersuchungen S. 429. 431. M. Vernes, Histoire des idées messianiques. 1874. S. 187. **) Paul, Die Vorstellungen vom Messias und vom Gottesreich. 1896. ***) Vrgl. den nächsten Abschnitt. S c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Christo.

H



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Jesu selbst etwa an der vorbildlichen Weissagung des Daniel sein eigenes messianisches Wesen erschlossen haben mag. Und wir fanden, dass diese Selbstbeziehung wenigstens in der letzten Zeit entschieden einen Höhepunkt seines Selbstbewusstseins ausdrückt, auch wenn sich der Name Menschensohn nicht als s t e h e n d e Selbstbezeichnung Jesu halten lässt. Blicken wir nun darauf zurück, welche alttestamentlichen Anschauungen Jesu dazu gedient haben, sich über das Wesen seiner Bestimmung klar zu werden und dem bereits angeeigneten Messiasberuf für sein eignes Bewusstsein Gestalt zu geben. Das war vor allem der Bundesengel des Maleachi, der Gottesknecht des Jesaia, den wir an andrer Stelle berührt haben (vrgl. Weissagungen Jesu 21. 26), und der Menschensohn des Daniel, wovon die beiden letzteren Bilder ihre Bedeutung erst seit Jesu Voraussicht seines Todes erlangen konnten. Indem er im Bundesengel das Nahen Jahves selbst zu seinem Volke auf seine eigne Persönlichkeit anwandte, musste er in sich den Träger der höchsten Gottesoffenbarung und den Vollzieher der innigsten Gottesgemeinschaft erkennen. Seitdem er dann seinen Tod ins Auge fasste, bildete für ihn, der sich längst seiner himmlischen Art bewusst geworden war, der Danielisehe Menschensohn den prophetischen Wegweiser für sein Wiederkommen vom Himmel her in himmlisch verklärter Gestalt zur Errichtung des ihm bestimmten himmelentstammten Gottesreiches. Der Weg dazu freilich bereitete ihm das Geschick des Jesaianischen Gottesknechtes. Durch Leiden bis zum furchtbarsten Tode hatte er sühnend für seine Brüder einzutreten, um so mittelst seines eignen Blutes den neuen Bund zu verbürgen, zu versiegeln und abschliessend zu vollziehen, welcher den Seinigen nach Jeremias Verheissung vollkommene Gottesgemeinschaft, Offenbarung und Sündenvergebung beschaffte (vrgl. die Weissagungen Jesu S. 22 f.). Bildete ihm der Menschensohn die göttliche Herrlichkeit seiner Herrschaft als Himmelskönig vor, so deutete der Bundesengel mehr auf sein prophetisches, der Gottesknecht des Jesaia aber vor allem auf sein sühnendes priesterliches Amt hin. Wenden wir uns nun endlich noch zur Entstehung dieses in seiner wesentlichen Beschaffenheit erkannten messianischen Bewusstseins Jesu.



1G3



c) D i e E n t s t e h u n g des m e s s i a n i s c h e n B e w u s s t s e i n s Jesu. Ich habe schon in meinen „Weissagungen Jesu" gezeigt, w i e seine

Stellung zum

Entstehung

seines

durch die

Art

der

messianischen Bewusstseins bedingt

Gottesreiche

notwendig

ist,

und

w i e daraus insonderheit Jesu Auffassung dieses Reiches als eines schon

durch

daher

darauf v e r w e i s e

auf

einige

ihn

und in

ergänzende

ihm gegenwärtigen

folgt.

Indem

(a. a. 0 . S. 124 ff.), darf ich mich

ich hier

und kritische Bemerkungen beschränken.

Erst aus seinem r e l i g i ö s e n SohneBgefühl konnte dem Herrn das

Bewusstsein

wachsen.*)

seiner

theokratischen

Gottessohnschaft

er-

Die Uberzeugung, d e r Gottessohn zu sein, bildet die

notwendige Voraussetzung, die Ursache, die treibende K r a f t für die

ungeheure Erkenntnisthat,

Ich kann daher Baldensperger

zum Messias berufen zu

sein.**)

nicht zustimmen, wenn er meint,

„ d a s Gefühl der Gottessohn zu sein, sei für Jesus nicht und

nicht

später,

als

sein

Messiasbewusstsein".

Bis

früher

zur

Er-

kenntnis seines Messiasberufs bei der T a u f e (S. 160) habe sein Gottesbewusstsein „immer noch in der Schwebe g e l e g e n " . sei

er

noch

nicht

d e r Gottessohn

Auffassung von Jesu a l s von

seiner Sündlosigkeit

haben III,

musste,

ist

(161)

gewesen.

dem Sündlosen,

der

Ansicht

meine

die Erfahrung

längst vor der Johannestaufe

Baldenspergers

Vorher

Für

gemacht

unmöglich

(vrgl.

1).***) Wusste

er nun eine ungeschmälerte Gottesgemeinschaft

seinen eignen Besitz

von Jugend

auf,

dann musste

als

die Stunde

kommen, w o Gottes Ruf an ihn erging, dieselbe auch seinen gottesfernen Brüdern mitzuteilen. den

Auf

grund

davon allein konnte

Messiasberuf als seine A u f g a b e , daher

greifen.

Denn

in

der

Vermittlung

der

als sein

Recht

vollkommenen

er er-

Gottes-

*) Selbst L. Paul a. a. 0. lässt Jesu Anspruch auf die Messiaswürde zuletzt auf das Bewusstsein seiner Gotteskindschaft zurückgehen. S. 51. **) Das habe ich schon in den „Weissagungen Jesu" S. 124 angedeutet. ***) Und doch weiss ich nicht, wie man sich, wenn man von unbedingter sittlicher Eeinheit absieht, ein derartiges Leben Gottes in Jesu denken soll, wie es auch Baldensperger ansieht, welches ihn. im Gegensatz zu den andern, mit tiefem Gottesfrieden erfüllt (159. 162). 11*



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gemeinscbaft, beziehentlich Gottesherrscliaft lag der innerste Kern seines Berufes.*) So hat sich Jesus auch nach Wendt „infolge der unverletzbaren Reinheit" seines religiösen Bewusstseins (Die Lehre Jesu II. S. 136) schon vor der Taufe (68), j a soweit jenes zurückreichte, „immer Gott gegenüber als Sohn gefühlt-' und bewährt (64 f. 136). wenn sich auch natürlich dieses Gefühl bei ihm „nur allmählich gebildet und erweitert und vertieft" hat (64). Diese Gewissheit der Gottessohnschaft blieb daher auch die Grundlage seines messianischen Bewusstseins" (145. 432 f.). Nur wäre hier wiederum die Sündlosigkeit als die Möglichkeitsbedingung jenes Sohnesgefühls ausdrücklich hervorzuheben, was Wendt, wohl als Historiker, unterlässt. Auch kann ihm das Bewusstsein schwerlich erst bei der Taufe „plötzlich und überraschend" entstanden sein, wie Wendt will (II, 66). Wohl aber geht aus dem Taufberichte hervor, dass Jesus hier durch die machtvolle Offenbarung des göttlichen Wohlgefallens gewiss wurde, dass nun die Zeit finden A n t r i t t seines messianischen Berufes reif sei. So kam jetzt das vorhandene messianische Bewusstsein zum entscheidenden p r a k t i s c h e n D u r c h b r u c h . Auch die sogleich folgenden Wüstenversuchungen beweisen nicht die p l ö t z l i c h e Empfängnis desselben bei Gelegenheit der Taufe. Denn die Zweifel, die Jesum anfochten,**) betrafen sicherlich nicht die nach solcher Gottesoffenbarung über eigentliche Zweifel erhabene Gewissheit „seiner Messianität", sondern vielmehr die schwierige D u r c h f ü h r u n g der messianischen Aufgabe.***) Dass dieser ihm von Gott gegebene Beruf, der Mittler der vollkommenen Gemeinschaft der Menschen mit Gott zu sein, aber gerade die m e s s i a n i s c h e Form annehmen musste, ist aus allem Erörterten deutlich geworden. Hierin war Jesu Auffassung eben notwendig durch die gottgeleitete Geschichte und *) Mochte das Volk auch jedem die Messiaswürde „anbieten", der sich zur Übernahme derselben berufen fühlte, so konnte Christus sich doch nur d u r c h G o t t s e l b s t dazu b e r u f e n fühlen. Dadurch ist zu ergänzen, was Paul sagt a. a. 0. S. 109. **) Wendt a. a. 0. 69. ***) Die Möglichkeit solcher Zweifel lässt auch L. Paul a. a. 0. S. 12 nicht gelten.



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den zeitgenössischen Anschauungskreis seines Volkes bedingt. Wurde ihm doch Uberhaupt der gesamte Inhalt der religiösen Vorstellungen zunächst durch seine Zeit überliefert. So übernahm er sogar die Gedanken vom Messias und vom Gottesreiche, welche sein Bewusstsein beherrschten, fürerst aus dem Ideeenkreise seiner Zeit. Er eignete sich ihren wesentlichen Wahrheitsgehalt an, indem er ihn durch sein unfehlbares sittlich-religiöses Gefiihl erprobte. Und so erweiterte und vertiefte er ihn, schied aus und änderte, was gegen seinen religiösen Kern verstiess. Wir sahen, mit w e l c h e m R e c h t e er sich als den von Gott seinem Volke bestimmten und von den Propheten verheissenen König des Vollendungsreiches gefühlt hat. Hätte Gott die Geschichte anders geleitet, und wäre die zeitgenössische Auffassungsweise des Zieles der vollkommenen Gottesgemeinschaft eine andere gewesen, so würde Christus seinen Beruf unter einer anderen Form erkannt haben. Indessen hätte der Wahrheitskern desselben schwerlich vollkommener von menschlicher Fassungskraft ergriffen werden können, als in der Anschauung des Messiastums. Auch Schnedermann hat neuerdings*) mit Nachdruck die Abhängigkeit Jesu von der zeitgenössischen Auffassung, selbst in der Gestaltung seines Berufsbewusstseius, geltend gemacht, und 0 . Holtzmann hat diesen Gesichtspunkt in seiner Schrift „Jesus Christus und das Gemeinschaftsleben der Menschen 1893" ergänzt. Danach ist auch die Auffassung L. Paul's von Jesu Ergreifen seines Messiasberufes zu beurteilen. Obwohl er den letzten Grund zu Jesu Anspruch auf denselben ebenfalls in seinem Bewusstsein der Gotteskindschaft vermutet (a. a. 0 . S. 51), hat der Herr diese Wlirde nach seiner Meinung doch erst in Cäsarea Philippi angenommen (S. 95), nachdem er sich bis dahin im wesentlichen nur als Prophet angesehen habe (Kap. 7). Musste der Stindlosc indes schon längst vor der Taufe seine religiöse Gottessohnschaft und infolge davon auch den wesentlichsten Kern seiues Messiasberufes erkenneu, so scheint mir der Höhepunkt der Entwicklung seines Selbstbewusstseins bis zur Einsicht, dass er denselben nunmehr praktisch zu ergreifen habe, spätestens mit der Taufe ge*) Jesu Verkündigung und Lehre vom ßeiche Gottes in ihrer geschichtlichen Bedeutung. 1. Hälfte 1893.



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geben zu sein. Auch hat thatsächlich nicht etwa erst die Unfruchtbarkeit des Streites mit seinen Gegnern ihm die Notwendigkeit gezeigt, dass er „eine neue Gottesordnung an Stelle der alten setzen" müsse (11). Dies war ihm vielmehr schon im Anfang seiner Berufsthätigkeit klar; denn er sprach es bereits den Johannesjüngern gegenüber in der Fastenfrage unzweideutig aus (Mr. 2, 18—22). Freilichwohl aber veranlasste ihn die höchste Spannung des Konfliktes, seine Gegner nun selbst in der Hauptstadt, im Mittelpunkte ihrer Macht anzugreifen, um ein letztes Zeugnis über sich und Uber sie abzulegen. So trat er diesen Zug, unmittelbar nach dem Wendepunkt von Cäsarea Philippi, mit der nunmehr sicheren Ahnung seines Todes an.*) Treffend stellt Paul den Beweggrund dieser Wendung Jesu nach Jerusalem dar. Da es sich jetzt um Gottesgebot wider Menschensatzuug gehandelt habe, so habe Jesus sich aus Treue gegen seine Aufgabe dem Kampfe mit seinen Gegnern nicht auf die Dauer entziehen, sondern ihn nun mit Einsetzung aller Kraft, am eignen Sitz ihrer gottwidrigen Herrschaft, wieder aufnehmen müssen (S. 93). Ja selbst mit Einsetzung seines Lebens**). Der Grund aber, weshalb Paul erst von damals ab Jesu Aufnahme des Messiastums datiert, liegt wohl hauptsächlich darin, dass er in dem Predigtworte Jesu ein spezifisches Mittel der Errichtung des Gottesreiches nicht erkennt. Unter diesem Gesichtspunkte stellt sich aber schon die bisherige Thiitigkeit Jesu, auch abgesehen von seinen grossartigen Heilerfolgen, als eine zugleich m e s s i a n i s c h e dar. (Näheres in den „Weissagungen Jesu'-, S. 125 f. 128). Mit Recht macht jedoch auch Paul geltend, dass Jesus seine gottgegebene geschichtliche Mission nur als eine messianische habe erfassen können (a. a. 0. S. 95 f.). So wird er denn auch im einzelnen alle hergehörigen Vorstellungen aufgenommen haben, sofern sie nicht seine Kritik herausforderten oder gar den Gehalt des religiösen Gedankens schädigten. Da ich dies schon im Hinblick auf die Davidssohn*) Siehe den Beweis dafür in den „"Weissagungen Jesu". S. 18 ft'. **) Paul selbst citiert hier mit Recht Mt. 16, 26. a. a. O.



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schaft des Messias, wie sie in der damaligen Theologie verstanden wurde, ferner in bezug auf Jesu Abstammung aus Bethlehem und ähnlichen Vorstellungen ins Auge gefasst habe,*) so bleibt hier nur noch eine einzelne Bemerkung nachzutragen. Die Rabbinen lehrten ein ursprünglich stilles und verborgenes Dasein des Messias behufs Ausreifung für sein Erlösungswerk. Niemand sollte ihn anfangs als solchen kennen (vrgl. auch Joh. 7, 27). Seine Beschäftigung bestand vor allem in der Erkenntnis Gottes und seines Gesetzes, und zwar durch unmittelbare göttliche Erleuchtung, und in der Übung des letzteren. Nach Sanhedrin 98 a sass er „unter den Armen, Kranken, Verwundeten; er dient ihnen, indem er sie verbindet; er ist also auch . . . ein Wohlthäter der Armen und Elenden, voll guter Werke; also in jedem Betracht . . . ein vollkommener Gerechter, würdig sein Volk zu erlösen". Ja er selber war „voll von Züchtigungsleiden; denn die Leiden sind nötig, um ein vollendeter Gerechter zu werden" (Weber a. a. 0. S. 343 f.). Also selbst eine Ahnung von der Notwendigkeit des L e i d e n s des Messias war in jener rabbinischen Anschauung vorhanden. Sie wurde wohl wesentlich durch Jes. 53 veranlasst. Diese Stelle deutete man, aller Wahrscheinlichkeit nach, bereits damals auf den Messias**). Denn der Messiasgedanke war eben nachweislich durch die pharisäische Theologie in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt. So mochte auch jene Stelle der Schrift, gemäss der damaligen Auslegungsmethode, welche alles mit den herrschenden dogmatischen Grundanschauungen versetzte und durchdrang, mit Leichtigkeit der messianischen Vorstellungsgruppe unterworfen und assimiliert werden. Freilich kommt selbst der hier massgebliche Targum des Jonathan in der Auslegung nicht über die Einsetzung des Lebens im Kampfe mit den Abtrünnigen und die Versöhnung seines Volkes durch fürbittendes Eintreten vor Gott hinaus.***) Ist nun anzunehmen, dass auch Jesus, dessen Innerstes von dem messianischen Gedanken bewegt war, das Wesentlichste von *) Vrgl. „Konnte Jesus irren?1' S. 14—37 u. s. **) Weber, 344—346. ***) Vrgl. Weber, S. 312.



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diesen rabbinischen Annahmen gekannt hat: dann ist es kaum denkbar, dass er darin nicht sein eigenes Bild, als die Wahrheit jener Vorstellung, wiederfand.*) Wie hätte er in seinem still lehrenden geräuschlosen Wirken, in der Offenbarung des göttlichen Heilswillens in seinem Inneren und dessen Erfüllung in seinem Leben; in seinem barmherzigen Annehmen der Armen und Kranken, endlich in seinem Leiden nicht die Bewährung jener rabbinischen Messiasvorstellung erkennen sollen! Aus dem Bisherigen ist ungefähr ersichtlich, in welchem Umfange Jesus von der Messiasanschauung seiner Zeit abhing. Wir sahen zugleich, wie er den wahren Gehalt der Offenbarung auch hier vermöge seines unfehlbaren religiösen Genius herausfühlte und in diesem Sinne übernahm; wie sich andrerseits seinem selbständigen Glauben prophetische Anschauungsformen aus dem alten Testamente darboten, in welchen er in völlig ursprünglicher Weise die Idee seiner Messianität nach allen ihren wesentlichen Beziehungen erfasste und für sich selbst nach ihrem tiefsten Kern verkörperte. Es würde nun Jesu Auffassung vom Gottesreiche a l s s o l c h e m und seiner persönlichen Stellung zu ihm einer besonderen Untersuchung zu unterziehen sein. Indessen ist letzterer Punkt bei der Erörterung seines messianischen Bewusstseins für unseren gegenwärtigen Zweck, die göttlichen und menschlichen Bestandteile der Gottesoffenbarung in Jesu im allgemeinen aufzuweisen, hinreichend berührt worden. Und was andrerseits Jesu eigentümliche Anschauung vom Gottesreiche nach der objektiven Seite, sowie die Frage betrifft, ob er dasselbe beziehungsweise bereits als ein gegenwärtiges angesehen habe, und was damit zusammenhängt, so habe ich ¡dies schon in meinen „Weissagungen Jesu" eingehender besprochen, so dass ich hier darauf verweisen muss.**) Wir werden daher nun, indem wir uns weiter an die pharisäischen Grundgedanken anschliessen, von Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung von der Auferstehung zu handeln haben. *) Darauf ist neuerdings auch von anderer Seite hingedeutet worden. **) Vrgl. a. a. 0. IV, 2 a.



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c) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung von der Auferstehung.*)

Ich wies darauf hin, dass die Auferstehung von Hause aus die Ausrüstung der Abgeschiedenen zur Teilnahme am Vollendungsreiche bedeutet, in welches sie damit Ubergehen.**)

Indes war

j a an sich freilich auch zu Jesu Zeit eine andre Anschauung hier nicht geradezu undenkbar.

So könnte man fragen, warum sich

Jesus die Unsterblichkeitshoffnung gerade

in der Form des Ge-

dankens der leiblichen Auferstehung angeeignet habe.

W i e wir

jedoch überhaupt keine sichere Spur eines direkten Einflusses der alexandrinischen

Philosophie

auf

Jesu Anschauung

finden,

so

lagen ihm auch die Vorstellungen von einer Unsterblichkeit allein der Seele und von einer d a u e r n d e n

l e i b l o s e n Existenz

selben nach dem T o d e fern.

auch

der echte Sohn seines Volkes. er von j e

zu wirken

Er

war

in

Aus diesem Kreise, in welchem

berufen war,

traten

ihm alle

Ideeen in ihrer eigentümlichen palästinischen pharisäischen Form entgegen. lichen Auferstehung.

der-

diesem Punkte religiösen

und insbesondere

So auch die Vorstellung der leib-

Diese abzulehnen, hatte er um so weniger

Anlass, als ihr Kern, wie wir sahen, auf bestem alttcstamentlichen prophetischen Boden erwachsen war. Und nun die Hauptsache.

Der i n n e r e Grund, weshalb er

auch in diesem Falle die ihm entgegengetragene Anschauung eben in der Form,

welche sie besass, annehmen musste, nämlich als

Auferstehung des Leibes, war dieser.

Ihr Gehalt war eine wahr-

hafte Gottesoffenbarung, die sich seinem unfehlbaren sittlich-religiösen Gefühle als echt bewährte: die Fortdauer der Persönlichkeit des Frommen in und durch Gottesgemeinschaft.

Aber nur

diese Thatsache an sich hatte unmittelbares religiöses Interesse. Keineswegs dagegen die äussere Form, in welcher sie sich verwirklichte.

So fand er, gemäss unserm früheren ausführlichen

Nachweise,

wegen ihrer

kritisieren.

Und aus demselben Grunde kann wiederum in dieser

religiösen Indifferenz, nichts daran zu

Hinsicht seine Voraussetzung

nicht u n b e d i n g t unfehlbar, daher

absolut massgeblich sein. *) V r g l . auch „Weissagungen Jesu", S. 41 ff. * * * ) V r g l . auch „Weissagungen Jesu", S. 44.



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Andrerseits entsprach die Anschauung der Pharisäer, dass nur d i e G e r e c h t e n auferstehen (s. S. 142 ff.). Jesu eigenstem religiösen Erleben. Er hatte durch Gewissensoffenbarung die Liebe Gottes erfahren und erfuhr sie stündlich, in welcher sieh der Vater in unbedingter selbstloser Hingabe den Menschen mitteilte. Aber er hatte 9ie erfahren eben als f r o m m e r Mensch, der sich dieser dargebotenen inneren Vereinigung in dankbarer gehorsamer Gegenliebe ergab und sie sich zu eigen machte. Und nur die Teilgebung Gottes an seinem eignen Sein und Leben konnte doch dem vergänglichen Geschöpfe das ewige Leben, nach Form und Inhalt, verbürgen. Der gottlose Mensch aber musste in seinem Sündenbewusstsein schon hier die Gottesferne, die Trennung vom Gotte des Lebens, erfahren. Diese schmerzliche Lehre hatte dem grossen Sttnderfreundc sein Unigang mit den „Verlorenen" reichlich gewährt. Entsprang nun allein bei Gott der Quell ewigen Lebens, aus welchem die selige Unvergänglicbkeit und unvergängliche Seligkeit zu schöpfen war (Jer. 2, 13. 17, 13. Ps. 36, 10. Luc. 15. 32), dann bestand für die Gottlosen keine Hoffnung (vrgl. 1. Tliess. 4, 13). Wie hätte Jesus daher eine Anschauung anfechten sollen, welche von den frömmsten seiner Zeitgenossen geteilt wurde und die das bestätigte, was seiner eignen Gotteserfalirung zugänglich war! Jedoch können wir die M ö g l i c h k e i t e n lassen. Denn diese psychologisch erschlossene Anschauung liegt zugleich in der notwendigen Konsequenz unbezweifelter Aussprüche des Herrn. Schon Lk. 14, 14*) sagt der Herr, dass die selbstlose Liebesübung gegenüber den Armen und Elenden ihre Vergeltung finden werde „bei der Auferstehung der G e r e c h t e n / ' Wollte man die Sache hier vom Standpunkte einer rein äusserlichen Kritik aus betrachten, so könnte man vielleicht unter den Worten „der Gerechten" einen erklärenden Zusatz des Evangelisten vermuten und diesem die Anschauung als seine Sonderansicht zuschieben. Dass dem aber nicht so ist, beweist eine zweite Stelle, die wir früher schon unter einem andern Gesichtspunkte *) In dem der besonderen Lukasquelle angehörigen Abschnitt Lk. 14, 12—14. vrgl. Feine a. a. 0 . S. 120 f.



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berührten. Mr. 1 2 , 2 4 — 2 7 wird die Auferstehung, welche Jesus gegen die Sadduzäer verteidigt, einerseits auf die Macht Gottes zurückgeführt (V. 24). Diese hat offenbar den Sinn der o b j e k t i v e n Vermittlung der Totenerweckung; der s u b j e k t i v e Grund derselben ist aber die Zugehörigkeit auch der gestorbenen Frommen zu ihrem Gott, nachdem diese einmal zu ihren Lebzeiten mit ihm in Gemeinschaft gestanden haben (V. 26). Dieser bildet die stillschweigende Voraussetzung, unter welcher Jesu Schlussfolgerung steht. Denn wenn Jahve sich Mose gegenüber als den Gott der bereits Gestorbenen, Abrahams, Isaaks und Jakobs, bezeichnet und Jesus daraus schliesst, dass die Erzväter leben, so hat dieser Schluss nur Zugkraft, wenn für Jesus die Dauer des Verhältnisses Gottes zu ihnen über ihren Tod hinaus selbstverständlich ist. Jene lebendige Bethätigung der Beziehung kann aber nur unter der Bedingung innerer Zugehörigkeit zu Gott gelten. Nur gegenüber den zu ihm Gehörigen muss sich Gott als den Gott Lebendiger und nicht Toter erweisen. Die persönliche Einigung mit dem allmächtigen Gotte des Lebens kann nicht ohne Teilnahme an seinem göttlichen Leben nach Form und Inhalt sein. Oder mit andern Worten: „Die Z u g e h ö r i g k e i t zum l e b e n d i g e n G o t t e s i c h e r t den F r o m m e n das Leben.*) Aber eben in jener Zusammengehörigkeit mit Gott, wie sie nur dem F r o m m e n eignet, liegt diese Bürgschaft. Auch hieraus ergiebt sich mithin, dass es für Jesu Auffassung nur eine Auferstehung der Gerechten geben kann. Dem Sinne, welcher schon dieser, ursprünglicheren, Fassung des Streitwortes bei Markus zu Grunde liegt, fügt die Lukasparallele nichts hinzu. Nur spricht sie die Anschauung Jesu bestimmter aus. Hier heisst es, dass diejenigen, welche gewürdigt werden, jenen Aon und die Auferstehung aus den Toten zu erlangen, weder heiraten noch verheiratet werden, j a auch nicht mehr sterben können, da sie engelgleich und als „Söhne der Auferstehung" „Gottes Söhne" (im vollen Sinne) sind (Lk. 2 0 , 3 5 f.). Hier ist also das Herrenwort im übrigen dasselbe, nur durch die von mir zwischen Anführungszeichen gesetzten Worte ver*) Die früher berührte e x e g e t i s c h fehlerhafte Auslegung Jesu gehört nicht hierher.

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vollständigt. Ferner ergänzt Lukas noch die Begründung für das ewige Leben der Patriarchen, dass Gott ein Gott nicht Toter, sondern Lebendiger ist, durch den Zusatz: „denn a l l e leben ihm." (38).*) Wenn Lukas demnach diejenigen besonders hervorhebt, welche des zukünftigen Weltalters und der Auferstehung „gewürdigt" werden, so wird hier die unleugbare Voraussetzung auch schon des Markus ausdrücklich ausgesprochen. Wir haben es mit einer Auszeichnung zu thun, welche nicht überhaupt allen, sondern nur „allen denen" in Aussicht gestellt wird, die derselben „würdig" sind. Damit können nur die GottesfUrchtigen, die „Gerechten", gemeint sein. Die Gottlosen werden also von der Auferstehung ausgeschlossen. Ferner sind hier in den Worten von der Erlangung „jenes Aons und der Auferstehung aus den Toten" beide Begriffe gleichwertig zusammengestellt. Das zeigt deutlich, dass diese den Ubergang zum ewigen Leben bedeutet, also diejenigen nichts angeht, welche der Teilnahme am messianischen Reiche nicht würdig sind. Wenn wiederum erst die „Söhne", das heisst: Teilhaber der Auferstehung im vollen Sinne als „Gottes Söhne" dastehen, so bewährt und vollendet sich in der Auferstehung die wahre Gottessohnschaft. Die Auferstehung ist also durch die innigste Zugehörigkeit zu Gott bedingt. Dabei ist schon die Begründung dieser Folge aus Gottes Wesen vorausgesetzt, die Lukas im Folgenden noch ausdrücklich bringt: „Denn a l l e leben ihm." Dies bedeutet, negativ ausgedrückt: Es ist unmöglich, dass jemand zu Gott, wie ein Sohn zum Vater, gehören und nicht leben, d. h. an seinem göttlichen Leben teilhaben sollte. So folgt auch für die heimgegangenen Erzväter aus ihrer Zugehörigkeit zu diesem Gotte des Lebens ihr eignes ewiges Leben, und somit ihre Auferweckung, welche dieses vermittelt (V. 38). Daraus ergiebt sich, dass Lukas, selbst wenn er hier die ergänzenden Gedanken hinzuthut, jedenfalls sachlich die genuine Anschauung Jesu von der Auferstehung der Gerechten wiedergiebt. Dana wird Jesus aber für diese mit den Pharisäern geteilte Denkweise auch keine fremdartigen, sondern die ihm überlieferten *) Vrgl. Holtzmann, H.-C. 246.



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Wendungen mit übernommen haben. Dies thut er durchgängig. Man denke an die Ausdrücke: Gottesreich, Messias u. s. w. Auch die Gründe dieser Thatsache werden nach allem Bisherigen klar sein. Insofern dürfen wir annehmen, dass Lukas, mit seiner Umschreibung, selbst Jesu A u s d r u c k s w e i s e im wesentlichen getroffen hat. Aus Stellen, wie Lk. 11, 31 f. Mt. 11, 20—24. kann man schon darum nicht schliessen, dass auch die Gottlosen auferstehen, weil das Strafgericht dort nur Jesu Z e i t g e n o s s e n angeht, welche am Wiederkunftstage des Herrn als noch lebend vorausgesetzt werden (vrgl. S. 181 ff.). Wir fanden nicht nur, dass die Auferstehung der Gerechten in der notwendigen psychologischen und logischen Konsequenz der religiösen Grundoffenbarung Jesu lag, sondern dass sie im neuen Testament ausdrücklich als die seinige verbürgt wird (vrgl. Schürer II, 324). Dass diese Auferstehung den Gerechten eben als solchen und nicht a l s J s r a e l i t e n zukommt, folgt aus Jesu ethischem Universalismus. Wenn daher auch Lk. 13,29 den ursprünglichen Zusammenhang wiedergiebt, in welchem nur von den Juden die Rede ist, so entspricht doch die Zusammenstellung von Mt. 8, 10. 11., wonach auch Heiden, wie der Hauptmann von Kapernaum, in das Gottesreich aufgenommen werden, der Grundanschauung Jesu. Diese Aufnahme konnte dann natürlich für letztere, wenn sie gestorben waren, ebenfalls nur durch die Auferstehung vermittelt werden (vrgl. 245 f.). Holtzmann bemerkt mit Recht, dass das Auftreten der heidnischen Königin des Südens und der Nineviten vor Gericht (Lk. 11,31 f.) ihre Auferstehung voraussetze (H.-C. 141). Da das Ziel der Auferstehung die Teilnahme am Vollendungsreiclie ist, das Sein in demselben aber für Jesum mit dem „ewigen Leben" zusammenfällt, so bedarf es keiner besonderen Bestätigung, dass die A u f e r s t e h u n g eine solche für immer ist, welcher kein Tod mehr etwas anhaben kann (Mk. 8,35. vrgl. Rom. 6,9 f. 1. Kor. 15,42). Die religiös gleichgültige Form des Vorgangs der Auferstehung selbst konnte natürlich Jesu Interesse nicht auf sich ziehen. Indes widerspricht es indirekt seinem Grundsatze der Geistigkeit



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und Innerlichkeit, dass er denselben sollte krass-sinnlich und äusserlich oder kleinlich vorgestellt haben. Vielleicht kann Jesu Auffassung der Auferstehungs l e i b l i c h k e i t , wenigstens in gewissen Schranken, einigen Aufschluss über seine Vorstellung von der Auferstehung geben. Er konnte die Auferstehungsleiblichkeit, schon weil er die Auferstehung als eine solche für immer ansah, nur vergeistigt auffassen. Wie Jesus näher über dieselbe dachte, ersehen wir aus der soeben berührten Stelle in dem Streit mit den Sadduzäern. Hier sagt er, dass die von den Toten Auferstandenen weder heiraten noch verheiratet werden, dass sie vielmehr wie die Engel in den Himmeln sind (Mr. 12, 25). Lukas fügt der Aussage vom Nichtheiraten der Auferstandenen noch die besondere Begründung hinzu: „Denn sie können j a auch nicht mehr sterben" (20, 36). Er bringt also das Aufhören jedes geschlechtlichen Verkehrs mit dem Aufhören der Sterblichkeit in ursächlichen Zusammenhang. Dem liegt das richtige Gefühl zu gründe, dass zu der durch die Zeugung gesetzten Geburt, als dem Anfang eines vergänglichen Lebens, auch das Ende desselben, der Tod, gehört. Lukas empfindet also den Widerspruch zwischen einem unsterblichen Sein und einem vergänglichen Werden. Der Aufhebung der Zeugung entspricht aber notwendig auch der Wegfall der alsdann zwecklosen entsprechenden Organe in der neuen Körperlichkeit. Dies setzt schon an sich eine grosse Veränderung voraus. Sicherlich wird Jesus also auch die andern Funktionen des Körpers entsprechend entsinnlicht haben. So hat er der neuen Leiblichkeit schwerlich noch ein sinnliches Essen zugeschrieben, das doch ebenfalls ein Zeugnis der Bedürftigkeit von Sterblichen ist. Beides sind zuletzt Prozesse sinnlichen Wachstums. Und wenn man diesen Grund der Verwandtschaft auch nicht begrifflich erkannte, so fühlte man doch diese selbst. Oder sollen jene Rabbinen das neue Leben weniger materiell gedacht haben, als der durch und durch geistig gerichtete Heiland? (vrgl. S. 121). Jedoch was bedürfen wir weiter Zeugnis? Wenn die Auferstandenen gleich den Engeln im Himmel sein sollen (Mr. 12, 25), so ist die Vergeistigung ihrer K ö r p e r l i c h k e i t notwendig in ihrer „Engelgleichheit" (Lk. 20, 36) mit eingeschlossen. Wird



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diese hier doch ausdrücklich in Verbindung mit der Unsterblichkeit und in Gegensatz zu sinnlichen Funktionen vergänglicher K ö r p e r gesetzt, ist also g e r a d e mit Rücksicht auf die neue himmlische Leiblichkeit und die ihr widersprechenden oder entsprechenden Bethätigungen gemeint. In beireff der Auferstehungsleiblichkeit scheint J e s u s also die geistigere Auffassung seiner Zeitgenossen zu teilen. E r bewegt sich hier in der Richtung der schon der Henochapokalypse bekannten Engelgleichheit der vollendeten Gerechten und wendet dies auf die Auferstandenen an. Freilich so, dass er das sinnliche Residuum der Henochstelle noch abstreift. Denn er begründet mit dem Engelgleichsein, d a s s die Auferstandenen nicht heiraten werden, während sich bei Henoch die Engel selber noch mit Sterblichen verbinden. J a hierin scheint er selbst der pharisäischen Meinung entgegenzutreten. Denn diese muss fast notwendig dem sadduzäischen Spott j e n e Blösse gegeben haben. Schon Schwally weist darauf hin. E r vergleicht dazu den talmudischen B e w e i s für die Auferstehung, welcher Sanhedrin Fol. 90 b. ebenfalls den S a d d u z ä e r n entgegengehalten wird (Schwally 163). Indessen fehlt diesem g e r a d e die tiefe Wahrheit, welche J e s u s enthüllt. In der talmudischen Litteratur findet sich aber auch eine Auffassung, welche die Leiblichkeit der Auferstandenen nicht nur als engelartig und himmlisch vorstellt,*) sondern die Engel s o g a r der Nahrung nicht bedürftig und frei von Sinnlichkeit hält. Wie viel mehr die Gott näherstehenden V e r k l ä r t e n ! * * ) Indes bin ich nicht imstande, zu entscheiden, wem hier der Vorgang zukommt, J e s u oder seinen Zeitgenossen. Doch sehen wir nun von seiner Anschauung von der Auferstehungsleiblichkeit ab, zumal der Schluss, d a s s ihr die Vorstellung von der Auferstehung selbst entsprochen haben werde, nicht unb e d i n g t sicher ist. Erfährt doch auch für die Rabbinen der m a t e r i e l l a u f e r s t a n d e n e Körper eine Verklärung ins Geistigere. *) Vrgl. auch Dan. 12, 2 f. Mt. 13, 43. Apok. des Petrus bei Harnack a. a. 0 . V. 5—20. S. 20 f. **) Jalkut zu Beresch. 82. Beresch. rabba 48. Wajjikra rabba Kap. 30. jer. Schabb. VI, 8, d. Weber 162. 158. 385 f. Henoch 41, 4. 39, 1.

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Gewiss dürfen wir annehmen, dass Jesus den Vorgang der Auferstehung mit der Verkläruug zu einer neuen geistigen Körperlichkeit verbunden gedacht hat. Konnte er diesen Prozess doch kaum anders vorstellen als die entsprechende Verwandlung der Überlebenden. Und eine solche muss nicht erst Paulus, sondern schon Jesus angenommen haben. Dies ergiebt sich aus folgender Erwägung. Jesus ermahnt gleich nach seiner ersten Auferstehungsweissagung die Seinigen, sich seiner nicht zu schämen, sondern willig selbst ihr sinnliches Leben um seinetwillen preiszugeben, um das ewige zu gewinnen (Mr. 8, 35—37). Nur dann will er sieb auch ihrer nicht schämen, wenn er in göttlicher Herrlichkeit zur Reichsgründung wiederkommen wird (Mr. 8, 38. 9, 1). Damit verheisst er also den des zukünftigen Aons Würdigen (Lk. 20, 35 f.) die Teilnahme an dem von ihm errichteten Reiche. Wenn er nun näher erklärt, dass einige der Umstehenden das machtvolle Kommen desselben noch erleben sollen (Mr. 9 , 1 ) , so kann er den Gedanken der Teilnahme der Gerechten unter ihnen an demselben gar nicht vermeiden, wird also auch einen unmittelbaren Ubergang ihrer irdischen Leiblichkeit in eine himmlische ohne Auferstehung, durch blosse Verwandlung, gedacht haben. Paulus kann daher das Geheimnis" der Verwandlung der übrig Bleibenden in unvergängliche Leiblichkeit (1. Kor. 15, 51 f.) schwerlich ohne die Grundlage dahin zielender Herrenworte, welche die Überlieferung noch besass, verkündigt haben. So allein wird auch das Gewicht und die Sicherheit, mit welcher der Apostel dies ausspricht, begreiflich und berechtigt.*) Und wirklich besass die Überlieferung noch ein solches Wort. Denn Paulus selbst führt 1. Thess. 4, 15 den Trost, welchen er seinen Thessalonichern spendet, .,dass d i e b i s zur W i e d e r k u n f t d e s H e r r n l e b e n d e n C h r i s t e n d e n ents c h l a f e n e n n i c h t z u v o r k o m m e n s o l l e n " (in der Vereinigung mit dem Herrn), ausdrücklich auf ein „Herrenwort" zurück. Mindestens dies Angeführte muss doch zum Bestände jenes Ausspruchs gehören, wenn man auch das Folgende zur Ausführung *) Vrgl.besonders V.50.51. „Siehe, ein Geheimnis sage ich eucli" usw.



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des Paulus selbst rechnen mag. Dann muss der Herr also auch die Form berührt haben, in welcher die Uberlebenden, im Gegensatz zu den Entschlafenen, die neue Leibliohkeit gewinnen, um in dieser, mit jenen gemeinsam, dem Herrn entgegenzueilen (1. Thess. 4, 16—18). Daher wird Jesus schon Mr. 9, 1 das „Mysterium", die unmittelbare Verwandlung der vergänglichen in unvergängliche Leiblichkeit, voraussetzen, sofern diese schon 1. Thess. 4, 15 als sein eigner Gedanke gefordert wird.*) Indessen würde es zu kühn sein, von hier aus zu folgern, dass Jesus für sich selbst Uberhaupt nicht mehr das Eingehen seines Geistes in die im Grabe liegende Leiblichkeit erwartet habe. Wenn freilich die noch Lebenden durch Gottes Kraft an Stelle des vergänglichen einen unvergänglichen Leib empfangen, warum sollte dieselbe Gotteskraft diesen nicht auch frei erschaffen? Aber die religiöse Indifferenz dieses Punktes scheint eine Abweichung der Ansicht Jesu von der Volksanschauung oder genauer von der pharisäischen Vorstellungsweise, der er hierin doch auch sonst folgte, nicht zu motivieren. Diese aber nahm eine Rückkehr der Seelen in die Leiber, behufs Auferstehung derselben, an (S. 117 f.). Jedenfalls konnte nach obigem die Auferstehung auch für Jesum nur das Wohnen der verklärten Leiblichkeit auf der verklärten Erde vermitteln (Mt. 19, 28).**) Auf diese sollte nach der Volksanschauung das himmlische Jerusalem selbst herniederfahren, damit das Zelt Gottes, als dessen Statthalter und Regenten sich Jesus wusste, mitten unter den Menschen sei (Off. 21, 2 f.). Blieb doch für seine Anschauung, wie für die seiner Zeitgenossen, die Erde das Zentrum der himmlischen Welt, die sich dann auf jene niederliess, um sie in ihren Bereich aufzunehmen und ihr die eigne Verklärung mitzuteilen. In dieser sollte Jesus selbst seiner geistleiblichen Herrschaft an Gottes Statt walten. Uber den T e r m i n der Auferstehung der Gerechten — denn nur für sie gab es eine solche — kann Jesus nicht wohl anders gedacht haben, als seine jüdischen Zeitgenossen, für welche sie, *) Diesen Punkt habe ich in meinen „Weissagungen Jesu" S. 41 f. schon angedeutet. **) Näheres in meinen „Weissagungen Jesu" IV, 2, c. S c h w a r t z k o p f f , Die Gottesoffenbarung in Jesu Cbri9to.

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als Übergang der Abgeschiedenen in das Vollendungsreich, mit dem Anbruch desselben eintrat (vrgl. auch Job. 5, 25 ff.)- Sofern nun die Gerechten mit ihrem Tode zu Gott gegangen waren, mussten sie auch für seine Anschauung behufs der Auferstehung vom Himmel zur Erde zurückkehren, um ihre neue Leiblichkeit anzunehmen.*) Endlich haben wir hier noch mit einigen Worten die Frage zu berühren, wie Jesus Uber die Stellung des Messias zur Totenauferweckung gedacht hat. Wir dürfen nach dem Bisherigen von vornherein vermuten, dass er auch hier die religiöse Anschauung seiner Zeitgenossen, zumal der Pharisäer, soweit geteilt haben wird, als sie nicht seiner eignen religiösen Offenbarung widersprach. Nun ist der Messias, wie wir sahen, als „Jinnon" nach allgemeiner Anschauung derjenige, welcher die Totenerweckung in Gottes Auftrage und Kraft vollzieht,**) indem er die Gestorbenen aus der Scheol herauffuhrt und wieder in das Leben herstellt. Diese Anschauung wird Jesus also aufgenommen haben. Denn ein Hindernis von religiöser Seite konnte nicht vorliegen. Vielmehr war eine tiefe und lautere religiöse Wahrheit darin enthalten (s. o.).

d) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung Tom jüngsten Gericht.

Mit der Anschauung von der Auferstehung hing die von dem jüngsten Gerichte eng zusammen; denn beide haben mit der Form der göttlichen Vergeltung zu thun. Nachdem wir die wesentliche Gleichartigkeit der Auffassung Jesu von der Auferstehung mit derjenigen der Pharisäer erkannt, dürfen wir aus den wiederholt angeführten Gründen von vornherein annehmen, dass er auch die letztere Anschauung dem Stoffe nach auf*) Da dieser Punkt indessen vor allem in bezug auf Jesu eigne Auferstehung interessiert, so verweise ich auf die Erörterung derselben in den „Weissagungen Jesu" III, 2. **) Vrgl. S. 127. Die zweite Bitte in dem Gebet Schemone Esre bei Schürer II, 384 f.



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genommen hat. Vor allem, weil der religiöse Kern des Weltgerichts als der endgültigen göttlichen Vergeltung seiner eignen Uroffenbarung entsprach. Und zwar musste er sich die Anschauung der zeitgenössischen Schriftgelehrten zugleich i n d e r F o r m aneignen, in welcher sie sich, nicht lange vor seiner Zeit, entwickelt hatte. Denn in welcher Gestalt das jüngste Gericht zu vollziehen war, das hatte mit dem angezeigten, allein sittlich-religiös wertvollen I n h a l t der Anschauung an sich nichts zu thun (vrgl. bes. S. 49 u. s.). Dies gehörte vielmehr in das Gebiet, welches durch die Schranken rein menschlichen Denkens nicht unbeeinflusst bleiben konnte, eben deshalb aber auch nicht notwendig allseitig unfehlbar sein musste. Doch wird Jesus natürlich auch bei diesem Punkte alles dasjenige, was seinem religiösen Massstab, vor allem seinem ethischen Universalismus, nicht entsprach, aus der pharisäischen Anschauung ausgeschieden haben. Wenden wir uns nun zum Einzelnen. Da für ihn, wie für die Pharisäer, die messianische Ära mit dem Vollendungszustande zusammenfiel, so fand das letzte Gericht auch für ihn am eigentlichen Anfang derselben mit der siegreichen Erscheinung des Messias statt. Dabei ist von der Gegenwart des Reiches Gottes schon zu seinen Lebzeiten abzusehen. Die galt ihm unter diesem Gesichtspunkte, da das Reich im wesentlichen noch nicht in seiner Vollendungsgestalt als ein äusseres, sondern nur als ein i n n e r l i c h e s gegenwärtig war, als Anbahnung desselben. Es war das Ausstreuen der Saat und das Reifen des Getreides. Erst die Ernte brachte den entscheidenden Abschluss und damit den eigentlichen Volleudungszustand. Das Gericht der Bösen bestand für Jesu Anschauung in seinem Kerne in ihrer Ausschliessung vom Reiche Gottes. Die sittlich-religiös bedingte Teilnahme oder aber Nichttcilnahme ist augenscheinlich der Mittelpunkt seines Denkens in allen hergehörigen Gleichnissen, während die andern Züge diesem untergeordnet oder als Mittel bildlicher Veranschaulichung erscheinen. So findet sich die e i n f a c h e A u s s c h l i e s s u n g in dem Gleichnisse von dem Fischnetz (Mt. 13, 48) und in der ursprünglichen Fassung der Einladung zum Gastmahl (Lk. 14, 24). Auch in der entsprechenden Parabel vom königlichen Hochzeitsmalile 12»



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(Mt. 22, 2 — 1 0 ) besteht die Strafe der Geladenen darin, das* sie nicht am Mahle teilnehmen. In diesem Sinne wird a in S c h l ü s s e des Gleichnisses Uberhaupt von ihnen abgesehen. Die Ermordung der Gesandten und die Bestrafung der Mörder, Y. 6 u. 7, ist j a bekanntlich später eingeschoben. Ebenso steht es Lk. 13, 28 f., Mt. 7, 23. 21. Selbst in den beiden Parallelgleichnissen von den anvertrauten Talenten und Minen verhält es sich von Hause aus nicht anders. Auch bei Matthäus nimmt der wiederkehrende Herr dem unnützen Knechte eben das schlecht benutzte Talent fort (Mt. 25, 28). Und die Spitze des Ganzen wird dementsprechend in dem Verse zusammengefasst: Jeder, der da hat, dem wird im Überfluss gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird, auch was er hat, genommen werden (V. 29.) Allerdings folgt nuu noch ein Vers, in welchem cler Herr befiehlt, den unnützen Knecht „in die Finsternis drausseu" hinauszuwerfen (V. 30). Dieser kennzeichnet sich aber sowohl seinem Inhalt, als seiner Form nach als unecht. Inhaltlich; denn die Anschauung von der „Finsternis d r a u s s e n " passt nicht hierher. Da sie nur aus dem Gegensatze zu dem hellerleucliteten Festsaale erklärlich ist, muss sie einem Zusammenhange entnommen sein, wo die Freuden des Gottesreiches unter dem entsprechenden Bilde vorgestellt werden. Man denke z. B. an das Gleichnis von dem Gaste ohne hochzeitliches Kleid (Mt. 22, 1 1 — 1 3 ) * ) Aber auch f o r m e l l ist die Unechtheif dieses Verses zu erkennen. Denn erstlich zeigen schon die vorhergehenden Verse (28. 29) die Merkmale a b s c h l i e s s e n d e r Bestrafung. Und dann setzt der noch hinzutretende Vers 30 ganz sonderbar mit den Worten ein: „und den unnützen Knecht," als sollte jetzt von einem a n d e r n Knechte geredet werden. Und doch dreht sich der Grundgehalt des letzten Abschnitts um nichts anderes, als um die Bestrafung d i e s e s unnützen Knechtes (V. 2 4 — 2 9 ) . So fehlt denn auch in dem s o n s t weniger ursprünglichen Gleichnis von den zehn Minen jede weitere Bestrafung desselben ausser der, dass ihm das anvertraute Gut genommen wird (Lk. 19, 24. 26). Nur die politischen Feinde des hier als König *) Vrgl. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 1888, zu der Stelle.



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zurückgekehrten Vornehmen werden mit besonderer Züchtigung bedacht (V. 27). Doch setzt dies bekanntlich einen zweiten Zusammenhang voraus, welcher neben dem Hauptfaden der Geschichte herläuft. Demgemäss bildet für Jesus die Aufnahme in das oder Ausschliessung aus dem messianischen Reich so sehr den Kern des Endgerichtes, dass er vielfach gar nicht weiter auf das folgende Los reflektiert oder sich doch mit Andeutungen darüber begnügt. Dennoch ist daneben die Anschauung der zeitgenössischen Theologie von der Verdammung der Ausgeschlossenen zur Gehenna, worin sieh auch schon die v o r dem jüngsten T a g e Gerichteten befinden, die selbstverständliche Voraussetzung.*) Aus Jesu unbedingtem Ethizismus ergiebt sich notwendig, in teilw y eiser Ubereinstimmung mit den Propheten, aber im Gegensatz zu den Pharisäern, dass die Gerichtsentscheidung ausschliesslich nach dem s i t t l i c h - r e l i g i ö s e n Massstabe stattfand. Daraus folgt, auch unter diesem Gesichtspunkte, Jesu U n i v e r s a l i s m u s , welcher, wie wir sahen, allein seiner Grundanschauung entsprach. Wohl hatten auch die Pharisäer einen Universalismus des U n h e i l s , welchem nicht nur alle Gottlosen, sondern Uberhaupt die Heiden, sowie die Samariter und das Volk des Landes zum Opfer fielen (vrgl. a, S). Jesus dagegen allein hatte einen ethischen Universalisnius, daher auch des H e i l s , wonach die Gerechten nicht nur aus eleu Juden, sondern auch aus den Heiden, sofern sie sich dem Messias unterwarfen, und zwar die Verstorbenen mittelst der Auferstehung (Mt. 8, 11. Mr. 12, 26 f., vrgl. S. 115 ff.), in das Vollendungsreich und eben damit in den Zustand ewigen Lebens aufgenommen, die Ungerechten aber, ob Juden oder Heiden, ausgeschieden wurden. Die gleiche Behandlung von Juden und Heiden folgte für Jesum insbesondere aucli unmittelbar aus Gottes unbeugbarcr Gerechtigkeit. Die Formulierung der Ansieht des Paulus trilit daher hierin sicherlich auch auf Jesu Anschauung zu, dass Gott die Heiden s gut wie die Juden, am Gerichtstage nach ihrem *) Ich werde hiervon im nächsten Abschnitt im besondern handeln.



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Wandel richte (Mt. 7, 23. 16. IG, 27. 25. 31—46. 14—30. Rom. 2, 5 - 1 1 . 2 Kor. 5, 10). Jesu Ausspruch, dass die Königin des Südens samt deu Nineviten am jüngsten Tage mit dem gottlosen Geschleckte der Zeitgenossen Jesu zusammen vor Gericht auftreten und dasselbe verurteilen werde (Lk. 11, 31 f.), weil jene durch ihre Achtung vor dem thcokratischen König Salomo und die andern durch ihre Bekehrung auf des Jona Predigt ihre Gottesfurcht bezeugten: erweist zunächst wiederum die lebendige Bewährung von Busse und Glauben als die einzige und gleichartige Urteilsnorm für die Entscheidung des Gerichts Uber Juden und Heiden, ohne irgend welches theokratische Privilegium. Sodann liegt offenbar die Anschauung zu gründe, dass der höhere sittlich-religiöse Wert derer, die mehr aus Unwissenheit gesündigt haben, zum richtenden Massstabe für solche wird, die sich, trotz besseren Wissens und höherer Offenbarung, nicht zu Gott bekehrt haben (vrgl. auch Lk. 12. 48. Mr. 4, 25). Andrerseits aber wird doch hier mindestens die Möglichkeit vorausgesetzt, dass auch die frommen Heiden nicht vom Vollendungsreichc ausgeschlossen werden (vrgl. auch Mt. 8, 11). Im Gegensatz hierzu kann daraus, dass die gottlosen Zeitgenossen Jesu beim jüngsten Gerichte zugegen sind, die Anwesenheit auch der gestorbenen Gottlosen, nicht gefolgert werden. Hieran konnte er folgcrichtigcrweise nicht denken, da er, wie wir sahen, gleich den Pharisäern nur eine Auferstehung der Gerechten kannte (vrgl. 116 ff.). Die Anwohnung des Gerichtes durch die a b g e s c h i e d e n e n Gottlosen würde über ohne deren Auferstehung unmöglich sein. Wenn man also ihr Auftreten im Gerichte e i g e n t l i c h nehmen will, so denkt Jesus an seine Zeitgenossen, sofern diese den jiiugsteu Tag noch erleben sollen. Von hier aus beantwortet sich endlich auch die Frage wegen jenes furchtbaren Strafgerichts, das Garizim, Bethsaida und Kapernaum nach Jesu Worten am jüngsten Tage erfahren sollen. Das über die letztere Stadt bestimmt er ausdrücklich dahin, dass sie bis zum Hades herniederfahren werde. Im Vergleich mit dem Gerichte, welches diese Städte treffen wird, soll dasjenige, das Tvrus und Sidon zu erleiden haben, noch erträglicher sein.



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Denn wären solche Thaten in jenen heidnischen Städten geschehen, wie sie Jesus in den israelitischen gethan hat, sie hätten in Sack und Asche Busse gethan, und Sodom stände noch heutigen Tages (Mt. 11, 20—24). Auch hier ist für Jesus offenbar wieder der religiöse Kern die Hauptsache. Daher darf man seine gleichnisartige Hülle nicht zu kleinlich nehmen. Dieser Gehalt aber ist im wesentlichen, ähnlich, wie in den soeben angeführten Beispielen, folgender: Das Mass der Verdammlichkeit dessen, welcher eine Gottesoffenbarung zurückweist, steht in geradem Verhältnis zur Grösse dieser Offenbarung. Daher erreicht erst die Verwerfung der höchsten in Christo den Gipfel der Verwerflichkeit. Der grösseren Verschuldung entspricht die grössere Strafe; wenn also die letzte Konsequenz platzgreift, ein härteres ewiges Los. Man darf aber dies Auftreten jener heidnischen und jüdischen Städte im Gericht schon deshalb nicht durchaus eigentlich nehmen, weil S t ä d t e als solche hier nicht auftreten k ö n n e n . Es handelt sich zuletzt um E i n z e l n e . In Kapernaum selbst haben sich doch Verschiedene bekehrt, welche von der Verurteilung zur Höllenfahrt ausgeschlossen sein müssen. Ich erinnere an den Hauptmann von Kapernaum, das Muster des Glaubens. Oder, will man diesem als Heiden nicht das volle Bürgerrecht zugestehen, so denke man an das Brüderpaar, welches zu den vertrautesten Jüngern des Herrn gehörte, und welches dort ansässig war. Darunter der Felsenmann, auf welchen Jesus seine Gemeinde gründete (Mr. 1, 29. 30ff.). Also hat doch höchstens die M e h r zahl der Einwohner wegen ihrer Unbussfertigkeit Verwerfung zu erwarten. So gut, wie die verstorbenen frommen Israeliten und H e i d e n ohne weiteres in das Paradies gelangen, kommen also die abgeschiedenen Gottlosen an den ihnen gebührenden Ort der Qual.*) Ihre Teilnahme am j ü n g s t e n G e r i c h t , nur zum Behufe ihrer Verwerfung, muss daher nach Jesu Anschauung zwecklos sein, da sie schon im T o d e gerichtet sind. Die richterliche Entscheidung des jüngsten Tages selbst hatte *) Siehe den nächsten Abschnitt.



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aus dem angeführten Grunde (S. 127) schon längere Zeit vor Christus die Form eines wesentlich f o r e n s i s c h e n Aktes gewonnen. Er behielt diese Auffassung bei. Denn er mochte, so weit sie eine blosse Form bedeutete, keinen Anlass finden, sie zu ändern.*) Auch über die Stellung, welche der Messias nach Jesu Anschauung zu diesem Gerichte einnimmt, hat sich schon im Vorhergehenden das Nötigste ergeben. Wir sahen, dass Jesus sich als den Messias und insonderheit als den Danielischen Menschensohn auffasste und sich gerade als solchem das Endgericht vom Vater übergeben wusste.**) So erprobt sich seine Anschauung von der Beziehung des Messias zum Weltgerichte an der Auffassung seines eignen Berufes als Weltrichters. Diese ist am besten bei Gelegenheit seiner Wiederkunftsweissagung, und zwar auf der exegetischen Grundlage der hergehörigen Herrensprüche, eingehender zu erörtern.***) Die innere Berechtigung zu dieser Selbstbeurteilung Jesu haben wir schon aus der Entstehung seines Messiasbewusstseins erkannt. Wir fanden den religiösen Kern seines Weltrichterbewusstseins darin, dass er sich selbst als den Träger der vollendeten Gottesoflfenbarung und Mittlerschaft wusste. Somit war er das vollkommene Organ für das endgültige Gottesurteil über das ewige Los der Menschen (vrgl. b, e u. s.). Denn die Stellung zu ihm war die (religiöse) Stellung zu Gott.

e) Jesu Stellung zur zeitgenössischen Anschauung vom ewigen Lose der Menschen. Schon nach dem Bisherigen wird klar sein, dass Jesu auch im Hinblick auf das j e n s e i t i g e L e b e n fast nur an der Sache, weniger an ihrer Form liegen konnte. Der religiöse Angelpunkt, um welchen sein Interesse kreiste, war j a die Gottesgemein*) Die Frage, inwiefern das Gericht als ein Weltgericht anzusehen sei, ist bei der Erörterung der Wiederkunft Christi zum Gerichte zu behandeln. Siehe „Weissagungen Jesu" S. 149 ff. **) Vrgl. überhaupt die Abschnitte IV, 2, b, a, S, s. ***) Vrgl. die „Weissagungen Jesu" IV, 2, b.



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schaft selbst, die er für sich schon besass und seinen Brüdern brachte, und deren Vollendung er erwartete. Die Vermittlung des ewigen Heils für die Menschen und die Bewahrung derselben vor seinem Verlust war seine praktische Aufgabe, als des Seelsorgers im höchsten Sinne. So wird er in solchen Dingen, in welchen die menschliche Phantasie der religiösen Ahnung in Bildern Gestalt giebt, persönlich schwerlich etwas hinzugethan, aber bereitwillig die ehrwürdigen theologischen Vorstellungen über das jenseitige Sein übernommen haben, welche die Uberlieferung bot, immer mit dem Vorbehalt des Ausscheidens oder Modifizierens solcher Bestandteile, welche gegen seine religiöse Grundnorm verstiessen, und die sich nicht mit dem Inhalt seiner eignen vollkommenen Offenbarung vereinigen Hessen. Er wird eben auch hier das Irreligiöse verworfen, das sinnliche Ubermass vergeistigt, das Äussere verinnerlicht, das Partikularistische universell gemacht haben. Uberhaupt aber wird er die überlieferte Form, so viel möglich, mit seinem eignen Leben aus Gott durchdrungen haben. Und dies bestätigt das Neue Testament in jeder Hinsicht. Nach der bereits erörterten Anschauung seiner jüdischen Zeitgenossen gelangten die Seelen der gestorbenen Gerechten oder Gottlosen mit ihrem Tode, jene in das Paradies, diese in das Gehinnom (vrgl. S. 129 ff.). Hierhin wurden auch diejenigen Gottlosen, welche den jüngsten Tag erlebten, durch die Entscheidung des Endgerichts versetzt. Die Gerechten dagegen wurden durch die Auferstehung in das messianische Reich auf der nunmehr verklärten Erde aufgenommen, wo ihrer ein vollkommenes, mehr sinnlich oder geistig und engelähnlich vorgestelltes Leben wartete. Auch Jesus weiss nichts von einem Zwischenzustande. Das beweist Lk. 23, 41—43, wo er dem gekreuzigten Schächer „noch heute" das Paradies verheisst (Mr. 15, 27). Ohne Zwischenz u s t a n d hat aber ein Zwischen o r t keinen Sinn. So kennt er auch nicht etwa, wie manche meineu, ausser dem himmlischen noch ein anderes Paradies. Dies wird nach Weber schon durch das Gleichnis vom reichen Manne bewiesen. Jesu Vorstellung von dem Aufenthalt der abgeschiedenen Gottlosen und Frommen stimmt vielmehr völlig mit der oben nachgewiesenen volkstümlichen Anschauung zusammen, wonach das Paradies im Himmel,



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der Hades aber unter der Erde ist. Ja, diese Übereinstimmung erstreckt sich noch weiter ins Einzelne.*) Das Los, welchem die Gottlosen nach ihrem Tode verfallen, wird in mehreren Gleichnissen berührt. So wird der am Erntetage ausgesonderte Afterweizen verbrannt (Mt. 13, 30), ganz entsprechend der Predigt Johannes des Täufers, dass der Geistestäufer die Spreu verbrennen werde (Mt. 3, 12). Ähnlich wird im Gleichnisse vom Fischnetz das Fortwerfen der schlechten Fische durch das Werfen der Bösen in den Feuerofen der Gehenna erklärt (Mt. 13, 49 f.). Stammt diese Erklärung auch nicht von Jesu, so giebt sie doch zweifellos auch seine Anschauung wieder (vrgl. auch 13, 42. 24, 51. 25, 30). Ebenso ist das bereits erwähnte Hinauswerfen des nicht hochzeitlich gekleideten Gastes in die Finsternis draussen, wo „Heulen und Zähneklappen" sein wird, leicht in diesem Sinne verständlich.**) Dass Jesus an eine Verdammnis der Gottlosen glaubt, wird z. B. auch durch jene Stelle bestätigt, wo er seine Jünger ermahnt, sich nicht vor Menschen zu fürchten, die nur den Leib töten können, aber vor dem, der Leib und Seele in der Hölle verderben könne (Mt. 10, 28). Andrerseits wird er sicherlich die zeitgenössische Vorstellung von den Freuden des Paradieses v e r g e i s t i g t haben. Denn er trug selbst den Himmel in sich und war schon auf Erden im Himmel (Joh. 3, 13). Auch waren ihm die ewigen Güter über die vergänglichen erhaben (Mt. 6, 20. Lk. 12, 21). Die „Freude ihres Herrn" aber, in welche die Frommen eingehen (Mt. 25, 21), musste, entsprechend der verklärten Erde und ihrer eignen Geistleiblichkeit, bei der messianischen Vollendung, für Jesu Anschauung g e i s t l e i b l i c h sein.***) Danach ist zu ermessen, wie er die Bilder aufgefasst haben wird, welche er, meist altüberliefert, als Ausdruck der Genüsse und Bethätigungen im Vollendungsreiche übernahm. Wie dasselbe als höchstes Gut, auf grund prophetischer Stellen, von den *) Siehe den näheren Beweis in meinen „Weissagungen Jesu" S. 44 f. **) Lk. 13, 28 ist dieselbe Wendung zur Verbindung mit den Versen 28. 29, welche ursprünglich nicht in diesen Zusammenhang gehören, eingefügt worden. Vrgl. Holtzmann, H.-C. S. 132. ***) Vrgl. Esra 3, 19. 22.



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Zeitgenossen Jesu als eine Mahlzeit aufgefasst wurde (Jes. 25, 6 ff. Lk. 14, 15), so benutzt auch Jesus dieses Bild nicht nur in Gleichnissen, sondern auch sonst, für die Veranschaulichung dieser Freuden (Lk. 14, 16—24. vgl. Mt. 22, 1—14. Lk. 13, 29. vgl. Mt. 8, 11. Lk. 22, 30. Mt. 25, 1—12). Wie die Juden die Seligen ihr Brot und ihren Honig mit Freude essen und Wein trinken lassen,*) so will auch er im „Reiche Gottes" das Passah als ein „vollkommenes" essen und nicht eher wieder von der Frucht des Weinstocks trinken, als bis er sie dort als „eine n e u e " trinken wird (Lk. 22, 16. 18. Mr. 14, 25).**) Vergleicht man dem gegenüber Jesu Vorstellung von den Strafmitteln des Gehinnom mit derjenigen seiner Zeitgenossen, so zeigt sich, dass er auch die Anschauung vom Feuer und wiederum von der Finsternis und Kälte übernommen hat (Mr. 9,43. Mt. 22, 13 u. sonst, vrgl. S. 132). Doch hat er sie, wiederum gemäss der Geistigkeit seiner Anschauung, wahrscheinlich ebenfalls nicht sinnlich, sondern als Bilder für geistige Zustände verstanden. Konnte doch das Gefühl der Gottesferne, was die Hölle zur Hölle macht, nur i n n e r l i c h , als Qual des Gewissens, empfunden werden. Dahin hat er gewiss, wenigstens vorwiegend, auch „den Wurm, der nicht stirbt", gedeutet (Mr. 9, 48), falls ihm jene Wendung zuzuschreiben ist. Es bleibt hier endlich noch die Frage nach der D a u e r des Loses zu beantworten, welches, insbesondere den Gottlosen, nach ihrem Tode zufallt. Die E w i g k e i t des s e l i g e n Daseins im V o l l e n d u n g s r e i c h e versteht sich nach dem obigen für Jesu Anschauung von selbst. Fällt es doch mit dem „ewigen" Leben zusammen. Auch dass Jesus Höllenstrafen angenommen hat, ist aus dem Bisherigen klar. Dagegen hat die Annahme der E w i g k e i t derselben bei seiner sonstigen Anschauung ihr Bedenkliches. Die Pharisäer freilich, von denen er im allgemeinen den dogmatischen Stoff aufnahm, lehrten sie (S. 131 f.). Es fragt sicli aber, ob er sich nicht dennoch in diesem Punkte einer milderen Anschauung zuneigt (vrgl. a. a. 0.). *) Lk. 14, 15. Jalkut Schim. Beresch. 20. Weber :i:il. **) Wenn Paul Jesum das messianische Gastmahl wiederum s i n n l i c h verstehen lässt (a. a. 0. 102), so vrgl. dagegen „Weissagungen Jesu" S. 14(5 f.



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Prüfen wir die Stellen, aus welchen man vor allem die E w i g k e i t der Höllenstrafen auch für Jesu Anschauung zu folgern pflegt. Jesus giebt Mr. 9, 47 die Weisung, sein Auge auszureissen, wenn es einem zu Ärgernis Anlass gebe. Denn es sei besser, einäugig ins Reich Gottes einzugehen, als mit zwei Augen in die Gehenna geworfen zu werden, „wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlischt." Durch diesen Zusatz spielt der Herr auf Jes. 66, 22—24 an. Dort hat das grosse messianische Gericht stattgefunden, und das Vollendungsreich ist angebrochen. Und nun sehen die, welche nach Jerusalem ziehen, um dort anzubeten, ausserhalb der Stadt Neumond auf Neumond die Leichen der von Jahve erschlagenen Abtrünnigen liegen; „denn ihr Wurm s t i r b t n i c h t , und ihr Feuer v e r l i s c h t nicht." Das fasst Jesus also als vorbildliche Darstellung der Qual des Gehinnom auf. Sein Volk selbst hatte, wie wir bereits andeuteten, schon vor seiner Zeit das F e u e r flir die Gehenna besonders aus dieser Jesaiastelle geholt; während das Thal Gchinnom, wo das Unreine ausserhalb der Stadt verbrannt wurde, zugleich Vorbild und Namen für den Ort der Qual lieferte. Die Apokalyse des Henoch hatte ihre Vorstellung ganz in Entsprechung mit dieser Anschauung gebildet.*) So griff Jesus auch hier auf bekannte und anerkannte Beziehungen zurück. Das unaufhörliche Brennen des Feuers nun wurde von den Pharisäern auf die Ewigkeit der Höllenstrafen gedeutet. Dennoch liesse sich die Stelle an sich auch gerade entgegengesetzt verwerten. Denn dies Element bewirkt durch sein Verzehren die V e r n i c h t u n g des ihm Dargebotenne. Man hätte daraus also ebenso gut auf ewige V e r n i c h t u n g der Seele in der Gehenna schliessen können, wie sie in der That von einem Teile der Juden angenommen worden ist. Wiederum brennt das Feuer nur deshalb und insofern, als ihm immer neuer Stoff gewährt wird. Nahm man es mithin mit dem Verzehren weniger genau und legte den Nachdruck auf das E r g r e i f e n i m m e r n e u e r L e i c h e n , dann konnte man auch an ein Rcinigungsfeuer denken, welches die Einzelnen, wenn es seinen Zweck an ihnen verrichtet, *) Belegstellen bei Schwally S. 143 f.



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entliess, um andere aufzunehmen, so lange sie ihm eben Uberliefert wurden. Dann war seine U n a u s l ö s c h l i c h k e i t nur eine relative. Man darf aber dergleichen Bilder Uberhaupt nicht pressen. Jedenfalls lässt sich aus einer derartigen „Unauslöschlichkeit", wie auch Jesus sie in der Markusstelle dem Feuer des Gehinnom beilegt, nicht die ewige Pein des E i n z e l n e n mit Bestimmtheit folgern. Auch darf man auf Mr. 9, 48 schon darum kein zu grosses Gewicht legen, weil dergleichen Zitate nicht selten von späterer Hand eingeschoben werden. Ganz derselbe Vers ist hinter Vers 43 und 45 bereits als Glosse anerkannt. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass er auch hinter V. 47 nicht ursprunglich ist, zumal er keine originale Ansicht Jesu enthält. Sollte dagegen nicht nur dieser Vers 48, sondern auch seine Begründung, V. 49 a, „ein jeder soll mit Feuer gesalzen werden", trotz Holtzmann*) echt sein, dann würde der Evangelist, und, falls dieser recht referiert, auch Jesus hier die Hölle als ein, wenn auch furchtbares, L ä u t e r u n g s f e u e r ansehen; wie dies, freilich durchgängig nur im Hinblick auf Israel, später die fast allgemeine Ansicht war. Von dieser Stelle abgesehen, bleiben nur wenige Worte Jesu im neuen Testament übrig, welche man, in Ubereinstimmung mit jener pharisäischen Auffassung, vielleicht auf e w i g e Qual der Bösen deuten könnte. Nach Mt. 25, 46 gehen diese allerdings in „ewige Züchtigung" (:r.6/.aoi$ alwviog), die Gerechten aber in ewiges Leben. Jedoch ist dieser Vers wahrscheinlich ein späterer Zusatz, der den über die Bösen bereits im 41. Verse ausgesprochenen Fluch noch einmal durch einen kräftigen Abschluss bestätigen soll. Für den Sinn wenigstens ist er nicht nur entbehrlich, sondern stört auch den sonst durchgängigen P a r a l l e l i s mus in der Gegenüberstellung des Schicksals der Guten und Bösen. Denn der Schluss der Verheissung des Segens an die Guten in Vers 40 wird durch die Worte gebildet: „Das h a b t ihr mir gethan." Diesem Segen entspricht der Fluch über die Bösen als ein Ganzes genau, wenn man den fraglichen Vers 46 *) H.-C. 207 f.



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auslässt. Denn dann scbliesst der 45 te das Gericht ebenfalls mit den Worten ab: „Das h a b t ihr mir gethan."*) Indessen auch davon abgesehen, besagen die hier gebrauchten Worte „ewige Z ü c h t i g u n g " (lexikalisch) nicht notwendig eine „ewige Qual." Das hier mit „Züchtigung" übersetzte griechische Wort (y.b/MoiQj 7.0'f.aCuv) hat, seiner eigentlichen Tendenz nach, überhaupt eine andere Bedeutung, welche den Sinn der „ewigen Qual" vielleicht sogar ausschliesst, jedenfalls aber anfechtbar macht. Die Grundbedeutung des Yerbums geht nämlich auf das Kappen, Verstümmeln, Beschneiden der Bäume, welches den Zweck hat, das übermässig wuchernde, verkehrte Wachstum in Schranken zu halten. Auf das s i t t l i c h e Gebiet übertragen, bedeutet es dann die Einschränkung und Zügelung der masslosen Handlungen, besonders mit Rücksicht auf die E r z i e h u n g . Weiter hat es einfach den Sinn der „Strafe." Nicht der Begriff der „Qual", sondern der der „Strafe" ist auch an den wenigen Stellen, wo das Wort sonst im neuen Testamente vorkommt, mit dem Worte zu verbinden. Nimmt man dcmnach das Wort in seiner p ä d a g o g i s c h e n Richtung, dann ist schon damit die „ewige Qual" ausgeschlossen. Denn die „y.6).aais" in diesem Sinne hat von Hause aus den Zweck der Besserung. Und zu diesem Gesichtspunkte will wohl die „Strafe", aber schon die „Qual" nicht passen, geschweige denn eine „ewige". Ahnlich ist unter dem hebräischen Worte „jasar" und „hokiacb," die mit ihren Bedeutungen „schlichten, Rccht schaffen, zurechtweisen, züchtigen, strafen" unserm griechischen Worte entsprechen, ursprünglich die „eine Zurechtweisung und Besserung beabsichtigende Strafe" der Eltern und Erzieher zu verstehen.**) Dagegen liegt ihnen der Begriff der Peinigung durchaus fern. J a selbst f ü r T o d e s s t r a f c ist weder hokiach noch jasar üblich. Das g r i e c h i s c h e Wort kommt allerdings, selbst bei Klassikern, in dieser Bedeutung vor. Dürfte man diese Fassung hier an*) Yrgl. Holtzmann, H.-C. S. 271. **) Gesenius, Handwörterbuch. 11. Auflage. 1890. Die entsprechenden aramäischen Worte Jesu konnten hier nur auf die alttestamentlichen zurückgehen.



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wenden, dann könnte mit „ewiger Strafe" an unserer Stelle das gemeint sein, was sonst ,,ewiger Tod" heisst, im Sinne der „ewigen Vernichtung 1 ', d. b. der V e r n i c h t u n g für e w i g . * ) Damit würde das „ewige Feuer", als Mittel der ewigen Vernichtung, zusammenstimmen, das schon im 41. Verse den Verfluchten in Aussicht gestellt wird.**) Auch das Verderben in der Gehenna, Mt. 10, 28, könnte leicht so aufgefasst werden. Für die Bedeutung des ewigen Todes im Sinne der Vernichtung für ewig würde auch seine so häufige und auch hier vorhandene Entgegensetzung gegen das ewige Leben sprechen. Denn der volle Gegensatz zum Leben ist nun einmal nur der Tod, zum ewigen Leben also ein Tod für ewig. Dasselbe würde sich, sogar noch dringender, aus der Art und Weise ergeben, wie Jesus die Menschen einzig am Leben Anteil gewinnen lässt, nämlich durch ihre innere Gottzugehörigkeit. Ich weise femer darauf hin, dass auch für Paulus' Grundanschauung der ewige Tod ewiger Vernichtung gleichkommt. Und auch für Johannes bleibt nur der in Ewigkeit, der Gottes Willen thut, während die Welt als solche vergänglich ist (1. Job. 2, 17). Nur wer seine Neuzeugung aus Gott (3, 9. 4, 7) in der Bruderliebe bewährt, ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Wer diesen Stempel göttlicher Neugeburt nicht hat, bleibt im Tode (4, 7. 3, 14). Das Ergebnis ist demnach, dass die „ewige Züchtigung" (des 46. Verses) sehr wahrscheinlich eingeschoben ist, dass sich aber auch aus dieser Stelle höchstens die ewige Vernichtung, keinesfalls die ewige Q u a l als Jesu Anschauung zwingend erweisen lässt. Auch das Urteil Jesu über seinen Verräter, dass es gut wäre „für ihn" (airw), wenn er nicht geboren wäre (Mr. 14, 21, Par.), spricht nicht unbedingt für e w i g e Qual. Denn das „für ihn" kann leicht im aramäischen Grundtext gar nicht gestanden haben und erst aus Missverständnis, zur näheren Bestimmung, bei der griechischen Fassung hinzugefügt sein. Oder es ist vielleicht „m?" = „ihm" durch ein Versehen des Abschreibers aus dem zwei Worte später folgenden rd = = „nicht" her*) Anders Schwally S. 177. **) Vrgl. das soeben in dieser Hinsicht zu Mr. 9, 48 Bemerkte.



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genommen. Ein derartiges Vergreifen in ähnlich geschriebenen bez. klingenden, aber verschiedendeutigen Lauten kommt so oft Tor, dass diese Konjektur nicht zu gewagt erscheinen dürfte. Xoch weniger lässt sich aus dem Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus die e w i g e Verdammnis im Sinne nie endender Qual beweisen. Auch wenn wir sogar von der Bildlichkeit der Erzählung absehen, so ist jedenfalls mit keinem Worte davon die Rede, dass der reiche Mann „ e w i g " gequält werden müsse. Allerdings ist zwischen dem Orte, an welchem dieser sich jetzt befindet, und dem Aufenthaltsorte des Abraham eine grosse Kluft befestigt. Infolge dessen können weder Abrahams Genossen hinüberkommen, noch umgekehrt die aus dem Orte der Qual an den des Abraham. Doch gilt dies zunächst für solange, als sie sich an diesem Orte befinden. Es ist durchaus nicht angedeutet, für w i e l a n g e , oder dass es notwendig f ü r i m m e r so sein müsse. Es ist doch nicht gesagt, dass Gott den reichen Mann ewig an diesem Orte der Qual b e l a s s e n werde. Möglicherweise haben vielmehr, wie bereits erwähnt, schon Jesu Zeitgenossen die Anschauung gehabt, dass Abraham alle Israeliten, nachdem sie hinreichend im Gehinnom geläutert sind, aus diesem ins Paradies hinauf hole. Und dann wird Jesus diese Ansicht auch gekannt und könnte sie vielleicht hier vorausgesetzt haben. Andrerseits ist freilich aus der Stelle an sich auch nicht zu beweisen, dass er hier nicht dennoch an e w i g e Qual denke. Jedoch z w i n g e n d e r s c h l o s s e n werden kann diese hieraus nicht, sondern höchstens ein lange dauerndes Läuterungsfeuer. Ch. Kingsley betont auch die Seite des s i t t l i c h e n Gehalts dieses Gleichnisses. Er macht geltend, dass in die e w i g e Verdammnis nur die gehören, welche keinen Funken des Guten oder inhaltlich Göttlichen mehr in sich haben. Dagegen ist der „reiche Mann" sogar noch selbstloser Liebe für a n d r e fähig. Denn er möchte seine Brüder, ohne eignen Vorteil, gern vor dem Leiden bewahren, das ihn getroffen hat, „damit nicht auch sie kommen an diesen Ort der Qual" (Lk. 16, 28). Solche Menschen können in der That nicht s o schlecht sein, dass sie nicht der a l l m ä c h t i g e n Liebe noch Aussicht auf Erlösung gäben.



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Doch darf mau die Einzelheiten auch dieses Gleichnisses nicht im Übermasse allegorisch ausdeuten. Die Hauptabsicht Jesu auch hier ist zweifellos die s e e l s o r g e r l i c h e , vor einem furchtbaren Lose zu warnen, das auch nacli seiner Uberzeugung den Bösen, j a allen denen bevorsteht, welche, selbst ohne grosse Verbrechen zu begehen, nur sich selbst und ihrem Genüsse leben. Wenn der Herr ein andermal von „ewigen" Sünden spricht, welche „in Ewigkeit" nicht vergebbar sind (Mr. 3, 29 ttg röv ahöva, uuoviov), so kommt es bei einer so knappen Wendung natürlich auf die unbedingte Zuverlässigkeit des Wortlauts an. Wie leicht könnte sonst Jesu starke Verneinung ursprünglich nur den Standpunkt d i e s e s Äons voraussetzen! (vrgl. Mt. 7, 14). Aber selbst wenn die Ursprünglichkeit des Sinnes der endlosen Ewigkeit als verbürgt gelten darf, könnte dies doch wiederum nur Vernichtung f ü r ewige Zeit, aber nicht ewige Q u a l zwingend beweisen. Auf alle Fälle liegt nach dem Zusammenhang der Nachdruck auf dem Gedanken, dass v o l l e n d e t e B o s h e i t d e n B ö s e n v ö l l i g v o n G o t t s c h e i d e n m u s s . Damit ist aber noch nicht unbedingt gesagt, dass der Sünder notwendig auf ewig in dieser unvergebbaren Sünde verharren werde. Auch könnte für den Evangelisten, und vielleicht selbst für Jesum, die z e i t l i c h e E w i g k e i t hier der volkstümliche Ausdruck f ü r die Uberzeugung von der u n b e d i n g t e n G e l t u n g jener Wahrheit sein. Ahnlich machte sich die zeitgenössische Theologie die Geltung gewisser Dinge, z. B. des Gesetzes, Jerusalems, des Messias usw. für alle Zeit, dadurch vorstellig, dass sie ihnen eine ewige Vorexistenz beilegte. Wenn Jesus i n b e z u g a u f d i e e w i g e R e t t u n g d e r M e n s c h e n b e t o n t , dass G o t t e alles möglich sei (Mr. 10, 27 Par.), so schliesst, streng genommen, die unbeschränkte Allmacht (1er göttlichen Liebe gegenüber den Sündern die endgültige Uuvergebbarkeit von Sünden überhaupt aus. Dazu würde stimmen, wenn der Heiland nach l . P e t r i 3 , 19 und 4, ti die Heilsbotschaft a u c h d e n T o t e n verkündet, und zwar mit dem ausgesprochenen Zwecke, dass sie im Geiste g ö t t l i c h e s L e b e n empfangen (1. Petri 4 , 6). Und doch R i ' l i w a r t z k o p f f . Di- (rnttesoffenbarung in Jesu Christo.

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schweben dem Verfasser dabei nicht bessere, sondern besonders grobe Sünder vor (1. Petri 3, 19 f.). Wie dem auch sei: jedenfalls lehrt Jesus, dass man auch die Zeit versäumen könne, in das Gottesreich hineinzukommen. Denn es wird einigen, die zu spät danach trachten, der Eintritt verwehrt. Er sagt dies in der ursprünglichen Fassung des Spruches bei Lukas mit Beziehung auf seine Landsleute, die seiner Einladung zu seinen Lebzeiten nicht gefolgt sind, und denen daher später die äusserlich nahe Stellung, die sie einst zu ihm hatten, nichts helfen wird (Lk. 13, 23—27). Es ist dies nach dem Zusammenhang allerdings zunächst z e i t g e s c h i c h t l i c h gemeint. In der That hat sich die Mehrzahl der -Juden nach Jesu Tode nicht mehr bekehrt. Sie sind vielmehr draussen vor der Thtire des Himmelreiches, das ihnen so nahe war, stehen geblieben. Der, welcher die Schlüssel desselben hat (Off. Joh. 1, 18. 3, 7. Mt. 16, 19), hat sie ausgeschlossen (Lk. 13, 25. 27). So hat sich zugleich Jesu vorhergehende, ebenfalls wegen dieses Zusammenhangs zunächst zeitgeschichtlich aufzufassende Weissagung erfüllt, dass es vielen nicht gelingen werde, durch die enge Pforte einzugehen (V. 24). Sie haben den Weg zum Leben nicht gefunden, sondern sind ins Verderben geeilt (Mt. 7, 13 f.) Wenn nun aber nicht alle von denjenigen, welche zu Jesu Zeit den Eintritt in das Himmelreich versäumten (vrgl. Mt. 25 11—13), darum e w i g aus ihm ausgeschlossen sein sollten, so hat doch die irdische Entscheidung in diesem Leben für oder gegen Gott und Christus die gewaltigste Bedeutung auch für den zukünftigen Zustand. Daher die ernste Mahnung des Herrn, schon hier nach dem ewigen Leben zu trachten, wobei er sicherlich auch an furchtbare Gottesgerichte und Züchtigungen im Gehinnom denkt. Jesus kannte aus innerer Erfahrung die Seligkeit der Gottesgemeinschaft. Er hatte es an den Sündern gelernt, dass die Gottesferne die Unseligkeit, die Entbehrung des göttlichen Lebens in sich schliesst. So musste ja aus d a u e r n d e r G o t t e s f e r n e dauernde Unseligkeit folgen. Er wusste zugleich, dass, wer ihn, den Mittler, verwarf, damit sein Los der Gottesferne besiegelte. Ob auf ewig? das war jedenfalls eine Frage, die ihn als p r a k t i s c h e n S e e l -



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s o r g e r , welcher Seelen l e b e n d e r Menschen zu gewinnen hatte, nicht u n m i t t e l b a r anging. Man sollte freilich meinen, dass der, dessen Wesen die Liebe selbst war, den schreienden Widerspruch einer ewigen Verdammnis für Sünden schwacher, vergänglicher Menschen mit Gottes Liebe, Gerechtigkeit und Weisheit, in seinem tiefsten sittlich - religiösen Gefühle notwendig empfunden haben muss. Ja dass er selbst eine ewige V e r n i c h t u n g nicht mit der Allmacht der göttlichen L i e b e vereinigen konnte (vrgl. Riemann, Die Lehre von der Apokastasis. 1889. Baensch). Indessen wäre dennoch vielleicht auch hier ein Irrtum Jesu möglich. Denn seine Aufgabe war eben nicht die eines Lehrers über jenseitige Dinge, sondern die des Propheten und Heilands, welcher die Menschen von dem furchtbarsten Verderben zu retten hatte; mochte dieses nun ewig sein oder nicht. Gesetzt, Jesus hatte Anlass, in seinem Denken die Konsequenzen aus der göttlichen Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit zu ziehen, dann musste er sich fragDoch los gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen entscheiden. muss es dahingestellt bleiben, ob ihn nicht gerade jenes ihn beherrschende praktische Interesse von weiterem theoretischen Nachdenken über diese ihm nicht unmittelbar anliegende Frage abhielt. Wir können demnach das Ergebnis dahin zusammenfassen, dass Jesus allerdings jenseitige Strafen annahm, dass sioh jedoch kein zwingender Beweisgrund dafür erbringen lässt, dass er an die E w i g k e i t der Verdammnis geglaubt hat. Im Gegenteil entspricht die endliche Überwindung der Sünde durch die Allmacht der Gottesliebe, die in ihm selber erschien, der Folgerichtigkeit seiner Grundanschauung. Aber es ist fraglich, ob er d e n k e n d diese Konsequenz gezogen hat. S i c h e r hat er den Ausschluss unverbesserlicher Gottloser vom Gottesreiche und damit vom ewigen Leben und ebenso eine furchtbare, wenn auch wahrscheinlich nicht endlose Züchtigung derselben im Gehinnom, angenommen. Sollte er jedoch, was mindestens dahingestellt bleiben muss, an eine e w i g e Unverbesserlichkeit und ein d a u e r n d e s Widerstreben derselben gedacht haben, dann würde die Vorstellung vieler seiner Zeitgenossen von ihrer V e r n i c h t u n g noch am ersten Jesu Grundanschauung entsprochen haben. 13*



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Schluss. Da ich demnächst an einem andern Orte von Jesu Anschauung hinsichtlich der Engel, des Teufels und der Dämonen zu handeln denke, so sehe ich hier davon ab. Unter den Weissagungen Jesu nehmen diejenigen von seinem Tode, seiner Auferstehung und Wiederkunft ein besonderes Interesse in Anspruch. Zumal die beiden letzteren, insofern die Frage eine der wichtigsten der Theologie und von grossem Belang für den denkenden Christen ist: wo hier die Scheidelinie zwischen der Jesu eigentümlichen originellen Gottesoffenbarung und ihrer zeitgeschichtlich bedingten Form verläuft. Wiederum im Einzelnen igt es von höchster Wichtigkeit, festzustellen, wie Jesus seine Auferstehung aufgefasst hat, wie w i r sie aufzufassen haben, was sich daran als geschichtliche Thatsache feststellen lässt, und was ihren Glaubenswert ausmacht? Ähnlich steht es mit den Fragen: Hat Jesus erwartet, noch bei Lebzeiten seiner Zeitgenossen wiederzukommen? Und wenn das, ist dies, inwiefern und inwieweit ist es als ein Irrtum anzusehen? Alle diese Punkte kann ich hier indes nicht noch einmal entwickeln, da ich sie bereits in meinen „Weissagungen Jesu" ausführlich behandelt habe. Hier, wo es sich mehr um Wesen, Inhalt und Grenzen der Gottesoffenbarung an s i c h handelt, ist auch eine derartige Erörterung um so eher zu entbehren, als jene Weissagungen nicht einen u n mittelbaren Ausdruck der Gottesoffenbarung a l s s o l c h e r darstellen. Sie sind vielmehr mittelbare Anwendungen derselben durch Jesum auf die Gestaltung seines Lebensabschlusses, welcher sich so, wie er ist, nicht u n b e d i n g t als innerlich notwendig erweisen lässt, sondern durch den zeitgeschichtlichen Widerstand der Sünder gegen sein Heilswerk notwendig geworden ist. Wäre diese g e s c h i c h t l i c h e Thatsache nicht eingetreten, dann würde Jesus, im Gegensatze zum alttestamentlichen Prophetentum, kaum eine e i g n e , auf die Zukunft gehende Weissagung, ausgesprochen haben. Das liegt schon darin begründet, dass die ganze Prophetie eben in ihm ihre E r f ü l l u n g findet, indem er selbst das Gottesreich, und zwar in seinem inneren religiösen Kern schon g e g e n w ä r t i g , bringt. In betreff der näheren Entwicklung dieser das Zentrum der heutigen theologischen Gedanken-



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b e w e g u n g berührenden Probleme verweise ich demnach auf das a n g e z o g e n e Buch. Hier konnte mein Ziel nur sein, die schöpferische Offenbarung Jesu in ihrem wesentlichen Bestände aus seiner, unbefangen aufgefassten, geschichtlichen Persönlichkeit zu verstehen und aus ihrem gottmenschlichen Selbstbewusstsein abzuleiten, sodann die Grundlagen von Jesu Kritik der zeitgenössischen und biblischen Uberlieferung aus der F o r m seiner Uroffenbarung zu erschliessen und dieselben an seiner t a t s ä c h l i c h e n Stellung nach beiden Seiten zu bewähren. Daraus ergab sich einerseits das psychologische, geschichtliche und dogmatische Verständnis des Inspirationsglaubens Jesu, seiner Stellung zu den geschichtlichen Bestandteilen, zu Wunder, Prophetismus und Weissagungen des alten Testaments usw. und zur zeitgenössischen Auslegungsmethode.*) *) Auch Meinhold hat in seinem Buche „Jesus und das Alte Testament", 1896, nicht nur ebenfalls die Irrtumsfähigkeit Jesu in sittlichreligiös indifferenten Beziehungen anerkannt (vrgl. S. 19—43), was ich in meiner Schrift „Konnte Jesus irren?" prinzipiell zu begründen versucht habe, sondern hat, ebenfalls unabhängig von mir, die zeitgeschichtliche Bedingtheit Jesu in ihren Hauptmerkmalen wenigstens angedeutet, und zwar in einer Weise, die sich mit meiner eigenen Untersuchung in vielen Hauptpunkten berührt. Dennoch beurteilt er das Ganze von einem etwas andern Gesichtspunkte aus. Es kommt nämlich bei ihm die a b s o l u t e Sündlosigkeit des Herrn, die aucli er nicht zu leugnen scheint (S. 107), dennoch in ihren Konsequenzen für die volle Würdigung des göttlichen Gehaltes seines Wesens und seiner vollkommenen Offenbarung nicht immer hinreichend zur Geltung. So geraten die Züge seines Bildes Jesu nach meiner Schätzung an manchen Stellen nicht gross und einheitlich genug. Stellt er doch, allerdings nicht ganz konsequent, in Abrede, dass Jesus der, wenn auch ideal zu fassende, Messias sei und sich als solchen gewusst habe (S. 99, 101). Ja, er behauptet, um seinem Einzug auf dem Esel die Beweiskraft dafür zu nehmen, dass er sich habe „der Erregung eines Volkes, das ihn so wenig verstand, nicht entziehen" können (102). Wenn er aber nicht der Messias w ä r e , so würde dies doch von Charakterschwäche zeugen. Und dass diese ihm fern lag, bedarf keines Beweises. Auch scheint mir Meinhold Jesu innere mit seiner äusseren Stellung zum Alten Testament nicht h i n r e i c h e n d zu vermitteln, wenn er erklärt: „Die neuen Gedanken werden in aller Wucht ausgesprochen, die Folgerungen aber, welche mit diesen Hauptmerkmalen verbunden sind



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Andrerseits Hess eine Vergleichung der Grundgedanken der pharisäischen Lehre vom Vollendungsreiche (im weitesten Sinne) mit der geschichtlich nachweisbaren Anschauung Jesu das Verhältnis seiner Offenbarung zur Überlieferung und somit die Grenzen des Gehaltes der ersteren gegenüber den zeitgeschichtund welche sich bis auf die kleinsten Dinge der Lehre und Geschichte erstrecken", habe „er selbst nicht gezogen" (108). Wir sahen vielmehr, dass er dies fast durchgängig, wenn auch nicht immer mit voller begrifflicher Klarheit, gethan hat. Gerade aus dieser Anschauung aber folgen unerträgliche Widersprüche. So soll eben derselbe, welcher so scharf gegen die Äusserlichkeit der Sabbatfeier gestritten hat, dennoch (nach der in ihrer Echtheit sehr anfechtbaren Stelle Mt. 24, 20) den Seinigen, selbst in furchtbarster Not, nicht gestattet haben, mehr als einen Sabbatweg zu gehn (17). J a er, welcher die levitische Beinigung und so manche andere Ceremonieen, wie Meinhold selbst anerkennt (20), grundsätzlich entwertet, sich sogar als Bringer eines ganz neuen Gottesdienstes weiss und den Sturz des Tempels voraussagt, hat, wie Meinhold Mt. 5, 18 versteht, kein Jota vom Gesetz, im ä u s s e r l i c h s t e n S i n n e , verloren gehen lassen wollen (S. 4)! Wenn man dies (die Echtheit des Spruches vorausgesetzt), nicht vielmehr vom Gesetz im S i n n e v o n Mt. 22, 40 verstehen soll, so ist es unbegreiflich, wie der unerreichte religiöse Genius so kleinlich denken und wie ein so grosser einheitlicher Geist in sich solche unvermittelte Widersprüche hegen soll. Diese scheinen mir vielmehr auf Meinhold zu fallen und sich bei ihm nur daraus zu erklären, dass ihm nicht unmittelbar anlag, seinen Ausführungen die letzte psychologische Begründung zu geben, aus welcher Jesu Verhältnis zur zeitgenössischen Überlieferung im allgemeinen, wie zu den heiligen Schriften im besonderen, erst völlig verständlich werden kann. Gerade hierauf aber habe ich bei meiner Behandlung des Gegenstandes ausdrücklich meine Hauptaufmerksamkeit gerichtet. Um das zeitliche Verhältnis zu der Schrift Meinholds festzustellen, bemerke ich, dass meine Untersuchung als G e s a m t w e r k seit mehreren Jahren in allem Wesentlichen fertig liegt. Ihr letzter Teil „Die Weissagungen Jesu", welchen ich zuerst veröffentlichte und worin ich die Irrtumsfähigkeit und zeitgeschichtliche Bedingtheit Jesu in c o n c r e t o auf grund eben jener Weissagungen erwies und vor allem seinen Irrtum hinsichtlich des T e r m i n s s e i n e r W i e d e r k u n f t eingehend darlegte, kam etwa ein Vierteljahr vor Meinholds vorliegendem Buche heraus. Die zweite Veröffentlichung „Konnte Jesus irren?" war im Druck, als jene Schrift erschien. Auch bei der dritten, „Die prophetische Offenbarung", welche der Verleger bereits in Händen hatte, konnte ich Meinholds Buch nicht mehr berücksichtigen. Bei dieser abschliessenden Veröffentlichung endlich mit dem Titel des Gesamtwerkes habe ich zwar im Hinblick auf



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liehen Bestandteilen ihrer Form nach den wichtigsten Seiten hin erkennen. Zugleich wurde damit auf induktivem Wege die Probe auf die Richtigkeit der Ableitung der kritischen Massstäbe Jesu gemacht. Natürlich bedurften vor allem auch die Vorstellungen Jesu von der Auferstehung, vom messianischen Gerichte und ewigen Lose des Menschen, als Hauptpunkte der in Frage stehenden Gesamtanschauung, der Berücksichtigung. Dabei durften die schon in den „Weissagungen Jesu" genügend erörterten Beziehungen hier übergangen werden. Möchte auch dies Buch etwas beitragen zur immer festeren Abgrenzung zwischen dem ewigen Kern und der zeitgeschichtlichen Form der Gottesoffenbarung in Jesu Christo! Meinholds Abhandlung nicht zu der geringsten Änderung Anlass gehabt. Doch habe ich es nicht unterlassen, dasselbe in den Anmerkungen, so weit es die Sache erforderte, im einzelnen zu beachten. Jedenfalls darf ich seine Erörterung der hergehörigen Dinge teilweise als eine Bestätigung meiner eigenen Forschung in dieser Richtung willkommen heissen. Und das ist um so wertvoller, als w-ir von einigermassen verschiedenen Ausgangspunkten mehrfach zu gleichartigen Ergebnissen geführt worden sind. Endlich kann ich jetzt, nach Vollendung meiner Korrektur, über das jüngst in deutscher Übersetzung erschienene Büchlein vonP. V a l e t o n , „Christus und das Alte Testament" (Berlin, Reuter und Reichard, 1896) nur wenige Worte hinzufügen. Die hauptsächlichsten Gesichtspunkte, unter welchen Valeton Jesu Stellung zum Alten Testament und seine zeitgeschichtliche Bedingtheit auffasst, sind meiner Anschauung verwandt, wenn er mir auch in bezug auf Jesu materielle und formelle Abhängigkeit hier und da zu weit geht (vrgl. bei ihm S. 12 und 21). Auch den Sinn, in welchem der Herr z. B. den 110. Ps. und die Jonasgeschichte anzieht, beurteilt V. gleichartig mit mir (vrgl. a. a. 0. S. 44 ff.). Ebenso giebt er offen zu, dass Jesus, wenn er Erzählungen des Alten Testaments bespreche, so gut wie seine Zuhörer, stillschweigend von ihrer Historicität ausgehe (42). Dennoch soll, auch wenn Jesus o b j e k t i v u n r i c h t i g e A u f f a s s u n g e n mit seiner Zeit teilt, von I r r e n nicht die Rede sein (S. 28). Damit verfällt Valeton jedoch selbst, wie so viele andere noch, aus wissenschaftlich nicht berechtigter Ängstlichkeit einem I r r t u m . Denn er verkennt, dass der I r r t u m zunächst eine p s y c h o l o g i s c h e Erscheinung ist, und stellt ihn fälschlich von vornherein unter die ethische Kategorie. Ende. Druck von C. 0. Röder in Leipzig.

Verlag der J. Ricker'schen Buchhandlung in Giessen.

DAS PRONOMEN PERSONALE SUFFIXUM 2. UND 3. PEES. PLTJR.

DES H E B R Ä I S C H E N in der alttestamentlichen "Überlieferung von Dr. phü. W i l h . Diehl, Licentiaten der Theologie,

gr. 8° Format.



Mark 2.25.

Das Alte Testament im evangelischen Religionsunterricht von Dr. Friedr. Flöring, Professor der T h e o l o g i e in Friedberg i/H.

8° Format.



52 Seiten. Mark 1 . - .



1895.

Die Datierung der Psalmen Salomos. Ein Beitrag zur jüdischen Geschichte von Wilh. Frankenberg, Licentiaten der T h e o l o g i e .

gr. 8° Format.

— 7 Bogen. Mark 3.20.



1896.

Die Einheitlichkeit des ßuches Daniel, Vnteisuch.ung' angestellt von August Freiherr von Gall,

Sis.e

Licentiaten der Theologie,

gr. 8° Format,

— 8 Bogen. Mark 3.60.



1895.

Das Christentum Cyprians. Von Karl G. Goetz, Licentiaten (1er Theologie,

gr. 8° Format.

— 10 Bogen. Mark 3.60.



1896.