Die Globalisierung des Nihilismus 9783495820414, 9783495491164

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Die Globalisierung des Nihilismus
 9783495820414, 9783495491164

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Inhalt
I. Sinn und Leid
Schicksal und Schuld
Wie und warum wir anderen Leid zufügen
Wie und warum wir uns selbst Leid zufügen
Natur und Notwendigkeit der Negativität
Sinnloses Leiden
II. Naturrecht und Nihilismus
Die Frage nach dem Grund des Guten und Gerechten
Gott und Gesetz
Naturrecht ohne Gott?
Der Verlust natürlicher Normen
Naturrecht oder Nihilismus?
III. Nihilismus und Sinnsetzung
Moralische Theorie und moralische Praxis
Erziehung als Sinntradition
Sinn und Sinnsuche
Sinnmitteilung und Sinnvermittlung
Sinnbehauptung im Nihilismus
IV. Überwindung des Nihilismus?
Nihilismus und Sinnlosigkeit
Zur Genealogie des Nihilismus
Nihilisten und Antinihilisten
Facetten des Nihilismus
Relative Überwindungen des Nihilismus

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Werner Schneiders

Die Globalisierung des Nihilismus VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820414

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Werner Schneiders Die Globalisierung des Nihilismus

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

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Werner Schneiders

Die Globalisierung des Nihilismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Werner Schneiders The Globalization of Nihilism Nihilism has become a mass phenomenon. There has always been the practical (more or less unreflected) nihilism of quasi senseless living. There was indeed the theoretical (more or less reflected) nihilism of doubt and despair of a final sense of all being early on. And of course also the interplay of both, above all the superficial theoretical nihilism as alibi of a basically thoughtless practical nihilism. In the meantime, however, the principally reflective nihilism has increasingly gained a new quality and topicality - the general decline of meaning can hardly be overlooked. The originally rather diffuse nihilism has become more or less obvious and more or less decided nihilism, and it has become recognizably popular. Even though there may have always been a certain nihilism, globalized nihilism poses a new (intellectual, but also political) challenge.

The Author: Werner Schneiders was Professor of Philosophy at the Westfälische Wilhelms-Universität Münster until 1997. He has mainly published works on the history of philosophy, especially on the German Enlightenment. His book Die wahre Aufklärung (1974) was published by Karl Alber.

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Werner Schneiders Die Globalisierung des Nihilismus Der Nihilismus ist ein Massenphänomen geworden. Zwar hat es immer schon den praktischen (mehr oder weniger unreflektierten) Nihilismus des quasi-sinnlosen Dahinlebens gegeben. Zwar hat es auch schon früh den theoretischen (mehr oder weniger reflektierten) Nihilismus des Zweifels und der Verzweiflung an einem letzten Sinn alles Seins gegeben. Und natürlich auch das Wechselspiel beider, vor allem den oberflächlichen theoretischen Nihilismus als Alibi eines im Grunde gedankenlosen praktischen Nihilismus. Inzwischen aber hat der prinzipiell reflektierende Nihilismus zunehmend eine neue Qualität und Aktualität gewonnen – der allgemeine Sinnverfall ist kaum noch zu übersehen. Der ursprünglich eher diffuse Nihilismus ist zum mehr oder weniger offenkundigen und mehr oder weniger dezidierten Nihilismus geworden, und er ist erkennbar populär geworden. Auch wenn es einen gewissen Nihilismus wohl immer gegeben hat, der globalisierte Nihilismus stellt eine neue (geistige, aber u. a. auch politische) Herausforderung dar.

Der Autor: Werner Schneiders war bis 1997 Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er hat hauptsächlich Arbeiten zur Geschichte der Philosophie veröffentlicht, vor allem zur deutschen Aufklärung. Im Verlag Karl Alber ist von ihm das Buch Die wahre Aufklärung (1974) erschienen.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49116-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82041-4

https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Inhalt

I. Sinn und Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schicksal und Schuld (14) · Wie und warum wir anderen Leid zufügen (18) · Wie und warum wir uns selbst Leid zufügen (22) · Natur und Notwendigkeit der Negativität (26) · Sinnloses Leiden (32) II. Naturrecht und Nihilismus Über Theorien der Moral . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach dem Grund des Guten und Gerechten (42) · Gott und Gesetz (45) · Naturrecht ohne Gott? (49) · Der Verlust natürlicher Normen (52) · Naturrecht oder Nihilismus? (57) III. Nihilismus und Sinnsetzung Über moralische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Theorie und moralische Praxis (62) · Erziehung als Sinntradition (66) · Sinn und Sinnsuche (70) · Sinnmitteilung und Sinnvermittlung (75) · Sinnbehauptung im Nihilismus (79) IV. Überwindung des Nihilismus? . . . . . . . . . . . . Nihilismus und Sinnlosigkeit (89) · Zur Genealogie des Nihilismus (93) · Nihilisten und Antinihilisten (99) · Facetten des Nihilismus (103) · Relative Überwindungen des Nihilismus (108)

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Großen Dank für Rat und Tat schulde ich Herrn Dr. Kay Zenker. Ohne seine unermüdliche Hilfe hätte die vorliegende Arbeit so nicht erscheinen können.

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I. Sinn und Leid

Hauptursache der nihilistischen Verzweiflung am Sinn alles Seins und insbesondere an Gott als oberste Sinngarantie ist die Erfahrung unbegreiflichen Leidens. Und dieses Leiden, entsetzlich und unermesslich, ist faktisch allgegenwärtig. Man muss kein großer Pessimist sein, um zu sehen, dass Leid und Schmerz überall in der Welt gegenwärtig sind – Krankheit und Tod, Unglücke und Katastrophen, wo man nur hinschaut. Menschen leiden Hunger und Durst, körperliche Schmerzen aller Art, harmlose und weniger harmlose, und nicht zuletzt auch seelische Schmerzen, z. B. durch Einsamkeit oder Mangel an Liebe. Leiden scheint unabdingbar zum Leben zu gehören, vom Geburtsschmerz bis zum Todesschmerz. Man muß auch kein großer Pessimist sein, um zu sehen, dass es neben dem Leid, das die Natur oder das Schicksal uns bescheren können, auch noch das grauenhafte Leid gibt, das die Menschen selbst über sich bringen, das sie sich selbst antun und das sie anderen zufügen – Kriege und Morde, Überfälle und Vergewaltigungen, Verbrechen aller Art auf der einen Seite, körperliche und seelische Selbstpeinigungen und Selbstbeschädigungen aller Art auf der anderen Seite. Und diese von Menschen (nicht nur gegenüber anderen Menschen) verursachten Leiden scheinen nicht selten noch entsetzlicher zu sein als das, was ohne menschliche Schuld über uns hereinbrechen kann. Es gibt das Leiden durch Schicksal und Schuld, durch Fügung oder Natur einerseits und durch Dummheit oder Bosheit andererseits, und nicht selten kommt beides zusammen. Die ungeheure Verbreitung des Leidens in dieser Welt 11 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

ist, wenn man nicht die Augen davor verschließt, jedenfalls kaum zu leugnen. Es gibt das individuelle und das gemeinsame Leid kleinerer und größerer Gruppen, das mehr oder weniger öffentlich bekannte und das verheimlichte Leid, und vielleicht ist das verhehlte, klaglose Leid nicht selten das schlimmere Leid. Leben heißt offenbar nicht zuletzt: leiden. Menschen können mehr oder weniger leiderfahren oder leidgeprüft sein. (Um vom Leiden hilfloser Tiere, nicht selten von Menschen verursacht, ganz zu schweigen.) Aber es dürfte kaum jemand existieren, der nicht irgendwann einmal von irgendeinem Schmerz gepeinigt worden ist, also Leid am eigenen Leib oder sogar seelischen Schmerz erfahren hat. Und es dürfte kaum ein Mensch existieren, der nicht irgendwann in seiner nächsten Nähe oder auch von Ferne fremdes Leiden mitansehen mußte. Von dem unsäglichen Leid, mit dem uns die Medien tagtäglich versorgen und das uns vielleicht zumindest kurzfristig betroffen macht, ganz zu schweigen. Menschen können jedenfalls mit anderen Menschen mitleiden. (Und auch Tiere können uns leidtun.) Das eigene Leiden kann sogar, abgesehen davon, dass es mein Leid ist, im Vergleich mit dem ungeheuren Leid, das die Welt erfüllt, geradezu wie nichts erscheinen. Wie immer man das Ausmaß des Leidens beurteilen mag, die unverkennbare Existenz des Leidens hat immer wieder Fragen aufgeworfen. Warum trifft es diesen und nicht jenen, warum trifft es mich oder mich nicht? Außerdem stellt sich immer wieder die Frage, ob das Leiden, zumindest das durch Menschen verschuldete Leiden (das fremd- wie das selbstverschuldete oder doch mitverschuldete) Leiden, vielleicht vermeidbar gewesen wäre. Aber die Existenz des Leidens, ob nun durch die Natur oder durch Schicksalsschläge, ob durch menschliche Dummheit oder Bosheit verursacht, wirft nicht nur praktische Fragen auf 12 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

(Wie können wir das Leiden verhindern oder lindern?), sondern auch prinzipielle Fragen (Warum gibt es das Leiden, was ist der Sinn des Leidens?). Leiden scheint nämlich in den meisten Fällen unnötig und zweckwidrig, insofern sinnlos zu sein – normalerweise möchte kein Mensch leiden. Der Mensch als ein offenkundig sinnbedürftiges Lebewesen fragt unwillkürlich nach einem verstehbaren Sinn oder Zweck auch des Leidens, und zwar über alle kausal erklärbaren Tatsachen hinaus. Und als böser oder zumindest dummer Mensch ist er zugleich eine oder vielleicht sogar die Hauptursache des allgegenwärtigen Leidens und damit der Sinnfrage. Die alte Frage nach dem Sinn des Leidens zielt anscheinend zunächst auf das Leid, das wir erfahren, nicht auf das Leid, das wir selbst anderen oder uns selbst zufügen. Sie zielt auf das Unglück, das wie eine Naturgewalt über uns hereinbricht, dann aber auch auf das Leid, das durch den Menschen selbst in die Welt kommt, das Menschen anderen Menschen zufügen, also auf den Grund der Existenz des Bösen. Das blinde Schicksal scheint alles immer wieder sinnlos zerstören zu können, insbesondere aber kann das millionenfache Leid, das durch Gewalttaten aller Art, Kriege und Massenmorde, die Welt verdüstert, das Denken zur Verzweiflung bringen. Solches Leid, das die Menschen selbst einander zufügen, scheint erst recht sinnlos zu sein. Jedenfalls kann es nicht wundern, dass Menschen angesichts der Frage nach dem Sinn des Leidens, im Ausgang vom eigenen wie vom fremden Schmerz, allen Glauben an eine sinnvolle Weltordnung verlieren können. Und nicht zuletzt der Fromme fragt sich: Wie verträgt sich die Existenz des Leidens mit der Existenz eines gütigen und gerechten, allwissenden und allmächtigen Gottes? Warum wird es von Gott geduldet? Ist das Leiden der Welt vielleicht sogar gottgewollt? Was ist dann der Sinn des Lebens? Der Mensch als ein nach Sinn fragendes und 13 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

Sinn suchendes Wesen verlangt nach einem unhinterfragbaren Sinn, die verzweifelte Frage nach dem Sinn des Leidens kann daher zum dezidierten Atheismus oder Nihilismus führen.

Schicksal und Schuld Leiden hat es immer gegeben, Leiden wird es immer geben, allerdings sehr unterschiedliches Leiden. So banal es ist, aber das Problem des Leidens bedarf der Differenzierung, und zwar vor allem im Hinblick auf die Arten und Ursachen des Leidens. Es gibt das Leiden, dass anscheinend weder von mir noch von anderen Menschen verursacht worden ist, und es gibt das Leid, das durch andere Menschen oder sogar durch mich selbst verschuldet bzw. mitverschuldet worden ist, bewußt oder unbewußt, durch Dummheit oder Bosheit. Vielleicht ist das Elend dieser Welt sogar weitgehend unsere eigene Schuld. Jedenfalls lassen sich zunächst ganz grob zwei Ursachen und damit zwei Arten des Leidens unterscheiden: das Leiden, das von Menschen, auch von mir, verursacht wird, und das Leiden, das nicht von Menschen verursacht wird (wobei es möglicherweise auch Überschneidungen oder Verbindungen gibt). Immer wieder gibt es Naturkatastrophen und auch Krankheiten, an denen der Mensch selbst keine Schuld hat, qualvolles Sterben alter wie junger Menschen und sogar den Tod kleiner, krank geborener Kinder, denen zu leben nicht vergönnt ist, also anscheinend absolut unverschuldetes Leiden, Leid als unvermeidbares Schicksal. Aber der Mensch kann auch Leid durch andere erfahren und natürlich auch anderen Leid zufügen, ja sogar sich selbst. Das Leid, das der Mensch als Leidtragender erfahren kann, ist nicht zuletzt 14 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Schicksal und Schuld

von anderen Menschen verschuldet, oft ist es sogar selber verschuldetes Leid. Es ist daher, wenn oder weil die leidbringenden Handlungen auch unterlassen werden können, in aller Regel auch vermeidbares Leid, und zwar ein durch den Handelnden, eventuell auch durch die Betroffenen vermeidbares Leid, also verschuldetes Leid. Es gibt unübersehbar viel Leiden, das bei gutem Willen und einigem Nachdenken weitgehend vermeidbar wäre. Man pflegt das Leiden, das durch das blinde Naturgeschehen in die Welt kommt, als physisches Übel zu bezeichnen, auch wenn es psychische Auswirkungen hat. Das Leid, das durch den Menschen in die Welt kommt – also das aus Freiheit verursachte physische Übel, insbesondere das durch Bosheit angerichtete Übel, oder auch die Bosheit selbst – wird das moralische Übel genannt. Und dieses ist wahrscheinlich das größere Übel. Daher kann sich das Hauptinteresse der Sinnfrage, wenigstens zunächst, auf das durch Menschen verursachte, also verschuldete Leiden richten. Woher und wozu das moralische Übel? Aber natürlich stellt sich auch immer wieder die Frage nach dem Sinn des physischen Übels, zumal es nicht selten Folge eines moralischen Übels ist. Das Bild, das der Mensch sich von sich selbst macht, ist uneindeutig. Einerseits glauben viele, dass der Mensch im Grunde gut ist, dass zumindest sie selbst im Grunde gut oder eigentlich guten Willens sind – an sich wollen wir alle das Gute, das Vernünftige, das sogenannte Positive. Wie wäre sonst menschliches Leben, vor allem das Zusammenleben, überhaupt möglich? Andererseits sehen wir, dass die Welt an allen Ecken und Enden brennt, dass Menschen aus manchmal anscheinend unerfindlichen Gründen im privaten wie im öffentlichen, vor allem im politischen Bereich anderen Menschen nach Kräften schaden. Überall scheinen Neid und Eifersucht, Morde und Räubereien, zügellose Gewalt 15 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

und Grausamkeit mit manchmal geradezu irrationaler Macht friedliche Verhältnisse zu zerstören; absolut irrsinnige Greueltaten können bestehende Ordnungen zunichte machen (um von dem unsäglichen Leiden in den Internierungslagern unterschiedlichster Regime ganz zu schweigen). Ja, nicht wenige Menschen scheinen sogar sich selbst nach Kräften zu schaden, sich selbst bewußt zu verletzen oder zu verstümmeln, sogar sich selbst zu zerstören. Sie quälen sich aufgrund irgendwelcher ehrgeizigen Zielvorstellungen, aus ästhetischen oder religiösen Motiven, sie opfern sogar ihr Leben für irgendwelche Werte oder Hoffnungen, die anderen Menschen nicht selten nur als wahnhaft erscheinen können. Manche scheinen sich auch bewußt selbst demütigen zu wollen, sich geradezu für irgendeine reale oder auch nur imaginäre Schuld bestrafen zu wollen. Es gibt offenkundig nicht nur Folter, sondern auch Selbstfolter, nicht nur Vergewaltigung, sondern auch Selbstzerstörung, sozusagen Verbrechen gegen sich selbst. Der Mensch leidet nicht zuletzt an sich und durch sich selbst. Handeln richtet sich auf etwas, das der Handelnde für irgendwie positiv hält und dabei meist auch gegen etwas, das als negativ eingeschätzt wird. Aber natürlich gibt es auch das direkt und wesentlich als Negation gemeinte Handeln; es gibt das als Beschädigung, Verletzung, Zerstörung, Vernichtung usw. gemeinte Handeln, das allerdings paradoxerweise dann auch noch für irgendwie positiv gehalten werden kann. Der negative Aspekt des Handelns scheint zwar im normalen Handeln nicht vorzuherrschen, doch ist das oftmals lustvolle Interesse an der Negation oder am Negativen bis hin zur Mordtat nicht selten unverkennbar. Und es ist möglicherweise selbst schon ein Hinweis auf eine negative Grundeinstellung oder Grundverfassung des Menschen. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass es genug Elend in der Welt gibt, für das der Mensch die unmittelbare Verantwortung trägt, 16 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Schicksal und Schuld

das von Menschen, von mir oder von anderen, verschuldet worden ist (und sei es nur durch Unaufmerksamkeit). Wie dem im Einzelfall auch sei – der Mensch ist kein harmloses, immer nur auf Harmonie bedachtes Lebewesen, er ist nicht nur sozial und solidarisch, friedlich produktiv und kreativ. Er ist auch, obgleich manchmal nur verhohlen, asozial und unsolidarisch, aggressiv und destruktiv, er verhält sich, nicht selten entgegen seiner erklärten Absicht, in Worten wie in Taten negativ. Dabei ist das größte Leid geradezu sprichwörtlich das, was der Mensch sich selbst antut. Denn – was doch erstaunlich ist – der Mensch hat nicht nur eine Neigung, anderen Gewalt anzutun, sondern sogar eine Tendenz, sich selbst Leid zuzufügen, und zwar bis hin zum Selbstmord. Nicht nur ungewollt und indirekt, sondern auch direkt und mit Absicht verhält er sich auch zu sich selbst negativ, obwohl sich doch angeblich jeder selbst liebt. Der Mensch scheint durch und durch ein zumindest potentiell verneinendes Lebewesen zu sein, nämlich ein sich selbst und andere zumindest partiell verneinendes Lebewesen. Im sogenannten Selbstmordattentat fallen die beiden extremen Negationen sogar zusammen. Wie und warum auch immer der Mensch dazu neigen mag, sich selbst und anderen Leid anzutun – auch wenn sie im Grunde wahrscheinlich zusammenhängen, man muß die beiden Hauptrichtungen praktischer menschlicher Negativität, die laesio alterius und die laesio sui ipsius, deutlich auseinanderhalten (und natürlich auch die praktische Negation einerseits und die theoretische, geistige oder logische Negation andererseits). Sie bilden zwei nach ihren Zielobjekten unterschiedliche Hauptarten feindlichen Verhaltens, die man – quasi grammatisch – transitive und reflexive Negativität nennen könnte, aber sie haben auch gemeinsame Aspekte und vielleicht sogar eine gemeinsame Wurzel. Man muß sich daher fragen, warum sich der Mensch zu sich und 17 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

seiner Welt (Mitwelt wie Umwelt) immer wieder so negativ verhält. Warum stürzt der Mensch immer wieder sich selbst und andere ins Verderben? Ist es nur Gedankenlosigkeit oder irrationaler Haß, wenn er sich und seine Mitmenschen quält? Was verspricht sich der Mensch davon, wenn er andere oder sich selbst quält? Woher kommt der böse Wille? Möglicherweise lassen sich viele Untaten wie z. B. Massenmorde aber auch schmerzhafte selbstzerstörerische Rituale wie z. B. Initiationsriten wenigstens z. T. mit kollektiven Psychosen oder abergläubischen Wahnideen erklären. Man könnte auch eine Art Erbsünde als Quelle alles Bösen oder eine Art Aggressionstrieb als biologische Basis aller Schandtaten, auch aller Selbstquälerei, vermuten. Vielleicht ist der Mensch sogar prinzipiell oder doch potentiell neurotisch. Die gemeinsame Quelle der zweifachen, auf den ersten Blick völlig entgegengesetzten oder gegenläufigen Negativität ist jedenfalls nicht auf Anhieb zu erkennen.

Wie und warum wir anderen Leid zufügen Kränkungen und Verletzungen zwischen Menschen sind gang und gäbe. Wer lebt schon mit allen anderen Menschen in völliger Harmonie, wer ist schon mit allen Menschen absolut solidarisch? Das negative Verhalten der Menschen gegenüber anderen Menschen beginnt schon mit dem alltäglichen rücksichtslosen Benehmen. Es wird deutlicher im Lügen und im – offenen oder heimlichen – verletzenden und herabsetzenden Reden, im Beleidigen und Verleumden, im Verraten und Verstoßen, in Haß und Verachtung. Es zeigt sich in der Vernachlässigung von Sorgfaltspflichten seitens der Eltern und in der Aufsässigkeit von Kindern. ›Egoistisches‹, ›antialtruistisches‹ oder ›antisoziales‹ Verhalten ist 18 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Wie und warum wir anderen Leid zufügen

überall an der Tagesordnung. Nicht selten prügeln sich sowohl Kinder wie auch Erwachsene schon aus nichtigen Gründen, nichtige Anlässe können sogar zu tödlichen Streitigkeiten führen. Ausgesprochen feindlich zeigt sich die Negativität darüber hinaus in Konkurrenzkämpfen aller Art, in vielen brutalen Auseinandersetzungen und dann natürlich im Krieg, wie immer dieser sich rechtfertigen mag. Hier sind Gewalt und Grausamkeit, Greueltaten unvorstellbaren Ausmaßes, geradezu an der Tagesordnung. Vergewaltigungen, sadistische Strafen und Folterungen werden nicht selten zu Massenerscheinungen bis hin zum Völkermord. Was sonst Tötungsdelikt heißt, gilt nun als Heldentum. Das Töten ist die äußerste Konsequenz negativen Verhaltens. Negatives Verhalten gegenüber den Artgenossen gibt es natürlich auch bei Tieren, auch im Tierreich herrschen List und Gewalt. Hunger oder Futterneid, der erbitterte Kampf um Sexualpartner und nicht zuletzt das Ausfechten von Rangordnungen führen überall zu Streitigkeiten, die sogar tödliche Folgen haben können. Immer wieder geht es um Macht, um dominante Positionen innerhalb von Gruppen und gegenüber anderen Gruppen. Manchmal scheinen auch unter Tieren Gewalt und Streit sogar aus bloßer ›Langeweile‹ zu entstehen. Insofern könnte eine gewisse Neigung zur Negativität, die dem Aufbau der eigenen Position dient, zur biologischen Erbmasse des Menschen gehören. Allerdings dürfte aus dieser Perspektive der Mensch immer noch das größte, listigste und gewalttätigste Raubtier sein, also nicht nur so oder so im Einzelfall ›böse‹, sondern grundsätzlich angriffsbereit, den Mitmenschen feindlich gesonnen und ständig bereit, diesem zu schaden, negativ aus Egoismus. Aber sind Tiere (wie vermutlich nicht wenige Menschen) auch aus böser Absicht räuberisch, grausam, mörderisch? Macht es ihnen auch Spaß, anderen Tieren, auch Artgenossen, zu schaden, aus bloßer Lust an der Quälerei 19 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

Greueltaten zu begehen? Zweifellos gibt es auf menschlicher wie auf tierischer Ebene immer wieder den Kampf aller gegen alle. Natürlich sind Menschen, ähnlich wie Tiere, oft mehr oder weniger gezwungen, gegeneinander zu kämpfen, allein aus Gründen der Selbstbehauptung miteinander zu konkurrieren oder sogar Krieg zu führen. Und natürlich gibt es immer wieder erkennbare Lust an der Gewaltausübung. In menschlichen Auseinandersetzungen gibt es immer wieder eine sozusagen überbordende Brutalität, manchmal sogar Explosionen von überschießender Grausamkeit, sinnlose Massaker oder Gemetzel, Quälerei aller Art. Und am schlimmsten dürfte die Zerstörungswut da grassieren, wo sich das Morden durch höhere Ziele verschiedenster Art, etwa durch eine höhere Gerechtigkeit oder durch den Auftrag Gottes, zu rechtfertigen versucht, also – typisch menschlich – durch ›Ideologien‹ oder Wahnvorstellungen. Missionseifer aller Art ist jedenfalls eine Hauptursache menschenfeindlichen Handelns von Menschen. Dafür scheint es auf tierischer Ebene trotz aller individuellen und kollektiven Revierkämpfe, auch unter Raubtieren, nichts Vergleichbares zu geben. Die Bereitschaft, Schaden anzurichten, im Extremfall sogar Zerstörungswut, kann sich bekanntlich auch auf irgendwelche Dinge richten. Selbst schöne oder nützliche Dinge sind vor sogenanntem Vandalismus nicht sicher, und über dessen Ursache lässt sich aus verschiedenen Perspektiven spekulieren. In den meisten Fällen aber – ob nun Stress oder Depression, Frustration oder Verzweiflung, Hass oder Selbsthass als konkrete Ursache ausgemacht wird – dürfte das destruktive Verhalten gegen Sachen mit einer negativen Einstellung gegenüber anderen Menschen, einzelnen Menschen, einzelnen Gruppen oder der Gesellschaft im Ganzen, zusammengehen oder sogar aus dieser resultieren. Der Mensch ist wesentlich und wissentlich auch ein Feind des 20 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Wie und warum wir anderen Leid zufügen

Menschen und nicht selten sogar sein eigener Feind. Er existiert als potentielle Negation von allem und jedem und nicht zuletzt als potentielle Selbstnegation. Was aber ist der letzte Grund für all diese Kränkungen und Verletzungen, die Menschen einander zufügen? Sind Dummheit oder Bosheit, obwohl nicht selten erkennbare Ursachen größter Unglücke, zureichende Erklärungsgründe? Warum ist der Mensch immer wieder – gedankenlos oder leichtsinnig, ›böse‹ oder ›böswillig‹ – bereit, anderen Menschen Schaden zuzufügen? Eitelkeit oder Bedürfnis nach Anerkennung, Ehrgeiz oder Geldgier, Herrschsucht oder Machtwille, Ruhmsucht oder Eroberungslust, auch Abneigung und Angst mögen wesentliche Ursachen für private und politische Kämpfe sein. Aber sie erklären nicht die exzessive Grausamkeit, mit der so viele Auseinandersetzungen geführt werden. Es kann aus irgendwelchen Gründen unvermeidlich sein, andere zu berauben oder zu töten, aber die immer wieder offenkundige Lust, auch innerhalb der eigenen Gesellschaft zu verletzen und zu quälen, muß noch tiefere Gründe haben. Fast sieht es so aus, als ob es einen angeborenen, potentiellen Sadismus gebe, nämlich einen Sadismus im allerweitesten Sinne, den sexuellen Sadismus einschließend und sogar fundierend. Man kann das jederzeit mögliche feindliche Verhalten gegenüber anderen Menschen transitive Negativität nennen. Sie ist transitiv im doppelten Sinne. Das Ich richtet sich auf ein anderes Ich und geht insofern über sich selbst hinaus, es überschreitet sich redend und handelnd. Dabei negiert es sich sozusagen selbst, indem es sich in gewisser Weise und bis zu einem gewissen Grade hinter sich läßt. Primär aber und direkt zielt die konkrete transitive Negation auf den anderen Menschen. Dabei negiert das Ich das andere Ich, schon indem es dieses im Denken objektiviert (selbst wenn der Mensch einen anderen zum Gegenstand eines beabsichtigten 21 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

›wohlwollenden‹ Handelns macht). Aber diese unvermeidliche Objektivierung schon im Akt der Erkenntnis ist wie die ebenso unvermeidliche Selbstnegation durch Selbstüberschreitung nur die Basis der wirklichen transitiven Negation, die auf die bewußte Verletzung eines anderen Menschen zielt; offensichtlich wollen Menschen einander auch absichtlich schaden, also zumindest partiell zerstören. Letztlich wird in der feindlichen transitiven Negativität, der Gewalttat, sogar das Menschsein des anderen in Frage gestellt, der andere durch praktische Negation herabgesetzt und verdinglicht. Der Verbrecher erniedrigt den anderen Menschen, indem er sich durch sein Verhalten über ihn setzt, ihn als anderen Menschen verachtet; er negiert den anderen, indem er ihm die Anerkennung als ein anderes mitmenschliches Ich, als potentielles Du, verweigert. Allerdings negiert das Ich, das sich auf diese Weise entsolidarisiert und einem anderen Ich wissentlich und willentlich Schaden bzw. Leid zufügt, indirekt auch das eigene Menschsein.

Wie und warum wir uns selbst Leid zufügen Die Fähigkeit, ja Neigung der Menschen, einander zu schaden, ist bekannt und wird immer wieder hochemotional und lautstark beklagt. Die Fähigkeit, ja Neigung der Menschen, sich selbst zu quälen, wird hingegen vergleichsweise weniger beachtet, obwohl sie vielleicht fundamentaler ist. Dabei braucht man noch gar nicht an Selbstkasteiung oder Selbstverstümmelung, z. B. aus ›religiösen‹ Motiven, zu denken; die Gewalt gegen sich selbst fängt im Grunde schon mit der einfachsten, alltäglichen Selbstdisziplin an. Die allgemeine Selbstquälerei beginnt schon dann, wenn Menschen z. B. aus Geldgeiz sich selbst nichts gönnen, aus Ehrgeiz sich zu 22 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Wie und warum wir uns selbst Leid zufügen

besonderen Leistungen zwingen wollen, sich aufgrund irgendwelcher Schönheitsvorstellungen seelisch und körperlich malträtieren. Selbstbezogene Negativität gibt es überall da, wo Menschen mehr sein wollen, als sie ohnehin schon sind. Alle Kultur braucht wie schon die einfachste Sozialisation Selbstdisziplin und insofern Negation. Selbst banale, oftmals sogar lächerliche Sporterfolge setzen meist harte Arbeit an sich selbst, Askese und Triebverzicht voraus; sie implizieren, wie so viele andere ambitionierte Unternehmungen, immer auch eine gewisse Selbstausbeutung. Kurz, der Mensch tendiert dazu, sich, d. h. seine faktische Existenzform, sich selbst, d. h. seinen vorgestellten Zielen, zu unterwerfen. Er verneint, was oder wie er ist, um zu werden, was oder wie er nicht ist, aber sein möchte. Menschen können ihr Äußeres bis hin zur Selbstverstümmelung formieren bzw. deformieren, und sie können bis zur physischen und psychischen Selbstzerfleischung oder Selbstzerstörung um ein gesuchtes und erhofftes Seelenheil ringen. Immer wieder scheinen Menschen – aufgrund welcher Vorstellungen auch immer – mehr, meist sogar immer mehr, von sich zu wollen und sich daher zu immer mehr zu zwingen. Sie sind sich immer wieder nicht genug. Überall in der Welt suchen Menschen – in der Regel indirekt und vielleicht sogar unbewusst – durch Selbstnegation nach Selbsterfahrung und Selbsterfüllung, nicht zuletzt mit Hilfe von Schmerzen, die sie sich selbst zufügen oder sich von anderen zufügen lassen. Wahnvorstellungen aller Art bestimmen die menschliche Mentalität und damit nicht zuletzt deren Negativität, nämlich die Art der Negativität. Manchmal scheinen Menschen geradezu, wie von Selbsthass getrieben, Krieg gegen sich selbst zu führen, und zwar eine Art Unterwerfungskrieg, Krieg gegen den eigenen Körper und sogar Krieg gegen die eigene Seele. Und diese ständige Selbstverneinung kann sogar zum Selbstmord führen, gelegentlich sogar zum 23 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

kollektiven Selbstmord (meist mit ideologischer Glorifizierung). Tieren scheint diese Art freiwilliger Selbstverneinung grundsätzlich fremd zu sein. Zwar können auch Tiere sich Fressen versparen und Vorräte anlegen, also ihre Freßlust anscheinend aus ›Selbstdisziplin‹ zügeln; zwar können sich z. B. Elterntiere spontan für ihren Nachwuchs ›opfern‹, ihr Leben also einem bestimmten Ziel unterordnen. Aber all dies scheint eher eine hormonell begründete Triebhandlung als eine bewußte und absichtliche Negation seiner selbst zu sein. Zwar können Tiere sogar dazu erzogen werden, in bestimmten Situationen auf gewisse Handlungen, zu denen sie an sich neigen, zu verzichten, aber dies dürfte ein bloßer Dressurerfolg, also auch keine spontane Selbstnegation sein. Und wenn Tiere z. B. auf Gefangenschaft mit Selbstverstümmelungen reagieren oder sogar durch Nahrungsverweigerung zugrunde gehen, dann dürfte dies eher Folge einer äußerlich verursachten ›Neurose‹ als eine frei intendierte Aktion sein. Nur der Mensch exerziert eine reflexive, wenn auch selten wirklich reflektierte Negativität. Bleibt die Frage nach dem Grund dieser typisch menschlichen, potentiellen und nicht immer nur partiellen Selbstverneinungen. Zweifellos können kulturelle Determinanten, z. B. religiöse und politische Ideologien, aber auch Moden eine große Rolle spielen, Anerkennungsbedürfnis und Anpassung an andere kann zur Selbstverachtung mit allen möglichen Konsequenzen, z. B. zu Minderwertigkeitskomplexen, führen. Auch individuelle Vorstellungen, die zu individuellen Ambitionen und daraus folgender negativer Selbsteinschätzung führen können, zu sogenannten narzißtischen Kränkungen, dürften nicht selten im Spiel sein. Überhaupt scheint die Fähigkeit bzw. die Bereitschaft oder sogar Lust, sich selbst zu erniedrigen, sich selbst Schmerzen zuzufügen oder auch zufügen zu lassen, wesentlich von irra24 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Wie und warum wir uns selbst Leid zufügen

tionalen Vorstellungen abzuhängen. Manchmal möchte man fast meinen, der Mensch sei ein geborener Masochist, nämlich Masochist in einem metasexuellen oder vielmehr präsexuellen Sinn. Die auf sich selbst, das eigene Ich, den eigenen Geist bzw. die eigene Seele, nicht zuletzt auch auf den eigenen Leib bezogene, also reflexive, Negativität ist reflexiv in dem Sinne, dass das eigene Wesen, d. h. die eigene Natur im doppelten Sinne des Wortes), einer Formation oder Reformation unterzogen wird, die nicht selten auch eine Deformation ist. Der Mensch versucht, sich durch Selbstgestaltung, sich selbst objektivierend, sich gleichsam verdinglichend, eine neue oder zweite, bessere Natur zu erarbeiten, wobei er sich zumindest partiell zerstört. Voraussetzung dieser praktischen reflexiven Negativität scheint eine gewisse theoretische oder geistige reflexive Negativität zu sein, eine gewisse, wenn auch minimale Reflektiertheit, ein gewisses Selbstgefühl, und zwar ein unzufriedenes als Bedingung der Selbstformierung. Der Mensch nimmt sich selbst wahr, fühlt oder denkt sich, wie er ist, und zwar als unzureichend im Hinblick auf seine Vorstellung von sich; er entwirft sich, wie er zwar nicht ist, aber wie er sein möchte bzw. glaubt, sein zu sollen. In diesem Sinne verneint er sich im Selbstbewußtsein selbst, indem er sich selbst so oder so ›positiv‹ entwirft. Falls nicht die Möglichkeit der Selbstverneinung sogar die Bedingung der Möglichkeit der Reflexion ist.

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I. Sinn und Leid

Natur und Notwendigkeit der Negativität Trotz der verbreiteten Sehnsucht nach Frieden und Harmonie sind Unruhe und Streit unter den Menschen allgegenwärtig, der Mensch ist meist nicht besonders friedfertig. Unter der Decke der Heuchelei von Einvernehmen herrscht ein Kampf aller mit allen und oft sogar eines jeden mit sich selbst. Jeder will etwas werden – auf Kosten anderer wie auf Kosten der eigenen Physis und Psyche. Was könnte der Grund, was könnte der Sinn dieses allgegenwärtigen Leidens sein? Geschieht dies alles etwa nur aus Leere und Langeweile? Der letzte Grund aller Übel scheint in der Tat ›metaphysischer‹ Natur zu sein. Die Welt ist nicht vollkommen, sie ist sogar prinzipiell unvollkommen; sie ist ohne irgendeine Form von Negativität überhaupt nicht denkbar. Ohne irgendeinen Abstand, irgendeine Leere zwischen den Dingen gäbe es überhaupt keine relativ eigenständigen Dinge, ohne das Nichts zwischen dem, was ist, kein einzelnes (›individuelles‹) Seiendes. Ohne zumindest partielle Leere gäbe es keine Abständigkeit, alles wäre eine absolut dichte, in sich unterschiedslose, homogene Masse, das reine Sein als solches. Es gäbe keine Differenz und folglich keine Diversität, alles würde sozusagen bruchlos aneinanderkleben. Diese Negativität im Sein, das sozusagen partikulare oder lokale Nichts, das in gewisser Weise überall, sozusagen in allen Fugen des Seins, herrscht und insofern durchgängig, vielleicht sogar vorherrschend ist, dürfte zunächst (ähnlich wie die Frage nach der Möglichkeit eines alles Sein umgreifenden Nichts) nur ein ontologisches, kein existentielles Problem sein. Selbst der Tod, der in aller Regel auch ein existentielles Problem ist, läßt sich als naturnotwendig und insofern als sinnvoll denken; Leben muss zugrunde gehen, um anderes Leben zu ermöglichen. Negativität ist unabdingbar. 26 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Natur und Notwendigkeit der Negativität

Mit der Entstehung der Lebewesen entwickelt sich neben dem sozusagen passiven Abstand zwischen allem, was ist, der aktive Abstand, das Abstandnehmen und Abstandhalten aller Lebewesen von allem und insbesondere allen anderen; die Negativität der Brüche im Sein schlägt um in eine aktive Negation, die auch über alle Antagonismen innerhalb der Materie hinaus geht. Lebewesen sind noch in einem ganz anderen Sinne vereinzelt, als es die leblosen Dinge sind; sie sind Einzelwesen in einem starken Sinne des Wortes, relativ geschlossene biologische Einheiten, die nicht nur voneinander verschieden sind, sondern sich auch voneinander unterscheiden, also absetzen können und sogar müssen. Sie können dann als einzelne mit-, aber auch gegeneinander agieren. Es beginnt der Kampf ums Dasein, der seinen Höhepunkt auf der Ebene des artikulierten Bewußtseins bzw. Selbstbewußtseins findet. Diese gewusste und gewollte Negativität des Menschen ist nur der Gipfel möglicher Negativität, sie setzt ontologische Distanz und darüber hinaus biologische Distanz und Distanzierung voraus. Negativität ist auch insofern in vielen Formen eine Notwendigkeit. Und sie ist die Voraussetzung aller theoretischen und praktischen Negation. Was ist der letzte Grund alles negativen Verhaltens? Was führt zu bestimmten negativen Handlungen? Offenkundig gehören wie zu allem Handeln so auch zum negativen Handeln irgendwelche Vorstellungen des Handelnden, sowohl von den vorgegebenen Fakten als auch von den eigenen Zielen oder Zwecken, also, wenn man so will, Wirklichkeitsannahmen und Wertschätzungen. Und es ist durchaus möglich, dass der Handelnde das, was er tun will, immer in irgendeiner Weise für richtig oder gut, ja sogar für lustbringend hält, auch wenn es an sich oder nach allgemeinen Maßstäben vielleicht schlecht oder böse ist. Handeln erfolgt in aller Regel aufgrund von Vorstellungen, wenn auch nicht 27 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

selten aufgrund von irrigen Vorstellungen oder sogar Wahnvorstellungen. Dennoch darf angenommen werden, dass derjenige, der schlecht oder böse handeln will, immer auch irgendwie weiß, dass sein Vorhaben böse oder nicht-gut ist, dass er nicht guten Willens ist, dass er also bewusst oder unbewußt sich selbst etwas vormacht, wenn er falsch oder böse handelt und dies irgendwie für gut hält. Wie auch immer es mit dieser Dialektik von Wissen und Wollen stehen mag, irgendwie wird man jedem Handelnden ein gewisses Maß an Erkennen und vor allem einen Rest von freier Entscheidung zubilligen bzw. imputieren müssen, jedenfalls wenn man einen strengen Begriff von Handeln voraussetzt. Ein ›böses‹ Handeln nur als Folge eines vorgeschichtlichen mythischen Sündenfalls oder nur aufgrund biologischer Zwänge wäre nicht im strengen Sinne des Wortes (moralisch) böse. Zwar gibt es für aggressives Handeln vermutlich immer auch eine biologische und soziale Konditionierung. So kann z. B. oftmals ein falsches Männlichkeitsideal oder ein natürlicher Aggressionstrieb (ein hoher Testosteronwert oder dergleichen) im Spiele sein, wenn es zu Gewalttaten kommt. Aber ungeachtet aller biologischen und sozialen Umstände – das Böse geschieht letztlich aus Freiheit, ›von Natur böse‹ ist ein Widerspruch in sich. Wohl aber ist der Mensch von Natur, d. h. wesensmäßig, der Möglichkeit nach böse. Denn er ist allem Anschein nach irgendwie frei und möchte auch irgendwie frei sein. Die Möglichkeit, böse zu sein, ist der Preis der Freiheit. Falls man die entsetzliche Bereitwilligkeit, anderen und sich selbst mit einer gewissen Lust – nicht selten aufgrund wahnhafter Wertvorstellungen – Leid zuzufügen, Sadismus bzw. Masochismus im weitesten Sinne des Wortes nennen will, dann muß der Mensch als potentieller Sadist und potentieller Masochist gedacht werden. Und mehr Menschen, als gewöhnlich vermutet wird, dürften es auch in diesem 28 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Natur und Notwendigkeit der Negativität

Sinne wirklich sein. Wahrscheinlich ist der Mensch sogar ein potentieller Sadomasochist in einem prä- und metasexuellen Sinn. Denn die Vermutung, dass die Bereitwilligkeit, um irgendeiner Lust willen Schmerz zuzufügen, und die Bereitwilligkeit, um irgendeiner Lust willen Schmerz zu erleiden, eine gemeinsame Wurzel haben, liegt nahe. Man könnte sogar im Masochismus eine Art reflexiven Sadismus und im Sadismus einen unreflektierten Masochismus vermuten. Jedenfalls geht es in beiden Phänomenen um eine analoge Neigung zu Schmerz und Gewalt. Beide Phänomene beruhen auf einer Tendenz zur Negation, einer Neigung zur Destruktion. Kurz, es stellt sich die Frage nach der Grundstruktur und Grundursache aller dieser Kränkungen, die Menschen sich und anderen zufügen können, also beiden Arten von Negativität. Zur Grundstruktur aller Läsionen gehört zweifellos eine gewisse Verdinglichung. Jeder Mensch macht in der Regel alle anderen Menschen, insofern er sie zu Gegen-ständen seines Bewußtseins macht, unvermeidlich zu ›Gegenständen‹. Jedes Subjekt macht alle anderen Subjekte – handelnd, redend, ja sogar schon im Denken – zu Objekten, genauer gesagt, zu objektivierten Subjekten. Insofern ist das Bewußtsein die Bedingung der Möglichkeit von Negativität gegenüber anderen Menschen bzw. ist als Bewußtsein diese Negativität. Vor allem aber hat der Mensch auch Selbstbewußtsein, er hat Vorstellungen von sich und kann sich selbst, sogar sich selbst verdinglichend, denken. Daher kann sich der Mensch auch gegenüber sich selbst negativ verhalten und tut dies auch ständig. Das Ich verhält sich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu sich selbst, und zwar nicht zuletzt negativ, denn es ändert sich ständig, und zwar auch aus Freiheit. Es wandelt und entwickelt sich, nicht nur passiv oder rein prozessual, sondern auch aktiv oder produktiv. Das Ich scheint sich, wenn es erst einmal exi29 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

stiert, in einem fort durch sein Handeln ›neu‹ zu erschaffen. Und in dieser creatio sui continua der causa sui contingens, die er ist (um so metaphysisch zu reden), erzeugt es sich nicht nur, es zerstört sich auch, und zwar sozusagen simultan, creator und negator in einem Akt; es produziert sich, indem es sich reduziert oder destruiert. Der Mensch ist sich einerseits schon gegeben, aber macht sich andererseits auch immer noch selbst, und zwar nicht nur konstruktiv, sondern auch destruktiv; er produziert sich, indem er sich transformiert. Der Mensch läßt sich immer wieder hinter sich, schleppt sich allerdings auch immer mit. Indem der Mensch sich Ziele setzt, setzt er sich selbst und seine Situation zur bloßen Gegebenheit herab. Jede Neigung zur aktiven oder produktiven Veränderung von irgendetwas ist auch eine Negation des Gegebenen. Zu dieser destruktiven wie produktiven ›Arbeit‹ an sich selbst, zur permanenten reflektierten wie unreflektierten, innerlichen wie äußerlichen Umschaffung seiner selbst, gehört eine gewisse Selbstverdinglichung, in der sich der Mensch selbst als eine Art Ausgangsmaterial für vorgestellte höhere Zwecke versteht. Wenn man das Selbstbewußtsein nicht nur statisch als Spiegel seiner selbst, sondern auch dynamisch als reflexive Tätigkeit versteht, dann ist das Bewußtsein selbst diese permanente Transformation: das destruktive und konstruktive Ich, das sich selbst bejahende und verneinende und auf diese Weise sich ständig neu positionierende Ich. Kurz, der Geist ist wesentlich Negativität. Der Mensch kann nicht nur theoretisch negieren, logische Nein-Sätze bilden; er kann auch praktisch destruieren, sich selbst und andere praktisch negieren. Die Fähigkeit zu bejahen, setzt die Fähigkeit zu verneinen voraus. Was aber treibt den Menschen immer wieder zur ›schöpferischen‹ Negation dessen, was ist? Genügt es, ganz abgesehen von den physischen Notwendigkeiten, einen allgegen30 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Natur und Notwendigkeit der Negativität

wärtigen Willen zur Macht, einen natürlichen Aggressionstrieb oder sogar einen Todestrieb zu behaupten? Oder wird das Problem des ›Bösen‹ so durch Verallgemeinerung, metaphysisch bzw. biologisch neutralisiert? Was treibt den Menschen zur permanenten Negation (und Produktion) dessen, was er selbst ist? Wahrscheinlich kommt man nicht umhin, eine Art prinzipielle Unrast im Inneren des Menschen zu statuieren. Offensichtlich wollen wir ständig mehr sein, als wir schon sind, genauer gesagt, wir müssen es wollen. Wir müssen immer noch werden und deswegen so oder so agieren. Der Mensch ist anscheinend noch nie fertig, er ist immer noch unterwegs, sich so oder so zu verwirklichen. Konkret sind es zwar, außer Hunger und Durst, sexuelle Interessen sowie z. B. Habgier oder Herrschsucht, die den Menschen antreiben. Aber: Was ist der Grund der Gier, wenn nicht irgendein Mangel? Was sucht die Sucht, wenn nicht irgendeine Erfüllung? Letztlich ist es also, außer den jeweiligen konkreten Notsituationen und den konkreten Bedürfnissen, das Ungenügen an sich selbst, aber natürlich auch an der Welt, das den Menschen zu allen seinen Aktionen antreibt. Es ist die erlebte, gleichwohl meist verhehlte innere Leere, das innere Nichts, insofern Langeweile, Mangel an Sinn oder Erfüllung bzw. die Flucht vor der Leere, durch die der Mensch sich im Innersten bedroht fühlt, die ihn überall und noch in den absurdesten Vorstellungen und Taten Befriedigung suchen läßt. Insofern erweist sich die Neigung oder Fähigkeit, um nicht zu sagen, der Zwang, sich zu sich selbst produktiv negativ zu verhalten, als fundamentaler gegenüber der Neigung bzw. Fähigkeit, anderen zu schaden. Wenn ich andere Menschen negiere, negiere ich immer schon mich selbst, denn ich versuche, durch meine Handlung eine höhere Position oder neue Seinsform zu gewinnen, mich selbst als ein ›besseres‹ Ich zu etablieren. Es ist die innere Nichtigkeit des Ich, der Mangel an Substanz, der 31 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

das Ich vorantreibt und das materielle oder geistig Gegebene, sich selbst und andere, negieren läßt. Damit sind allerdings nur die formalen und prinzipiellen Bedingungen der Möglichkeit aller konkreten Negationen benannt: die Fähigkeit zur Verneinung, ja Selbstverneinung, die innere Unerfülltheit und Rastlosigkeit, die Leere als Motor des Handelns und vielleicht sogar des Denkens. Warum wer was konkret tut, ist eine ganz andere Frage. Ich kann vernünftig oder verblendet handeln, überlegt oder emotional. Und meine Situation kann im Grunde unproblematisch oder aber äußerst schwierig sein. Offensichtlich können Menschen in ihren verschiedenen Situationen auf diese Situationen verschieden reagieren, und zwar nicht nur aufgrund ihrer verschiedenen Charaktere bzw. Gewohnheiten, sondern irgendwie auch aufgrund freier Entscheidung. Offensichtlich können Menschen auf ihre Unzufriedenheit, ihre Not und ihre Erfahrung von Bedrohung, ihre eigene Leere und Langeweile verschieden reagieren; ihr mögliches Ausleben ihrer eigenen Nichtigkeit ist daher nur sehr begrenzt vorhersehbar, aber auch das mögliche Aushalten der eigenen Leere. Es gibt, trotz aller verstehbaren Motivationen (z. B. Geldgier oder Abreaktion von Frustrationen), keinen Zwang zu kriminellen Handlungen. Was aber in meiner Freiheit steht, ist auch vermeidbar, und was wirklich geschieht, ist auch verschuldet. Bestenfalls bin ich als Ursache von Leid immer unschuldig schuldig.

Sinnloses Leiden Der Mensch als ein offenbar sinnbedürftiges Wesen kann nach dem Sinn von diesem und jenem fragen und am Sinn von diesem und jenem zweifeln oder sogar verzweifeln. Und 32 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnloses Leiden

angesichts der vielen augenscheinlichen Sinnlosigkeiten und Sinnwidrigkeiten, die durch Schicksal oder Schuld entstehen und diese Welt verunstalten, kann das konkrete Fragen irgendwann zum prinzipiellen Fragen werden. Was ist der Sinn des Leidens? Ja sogar: Welchen Sinn hat das Ganze? Fragen, auf die es keine befriedigenden Antworten gibt; alle Versuche einer Theodizee sind gescheitert. Wenn das Leiden immer wieder nach menschlichem Ermessen keinen erkennbaren Sinn hat, dann scheint auch die Welt als solche keinen Sinn zu haben. Die auf Verstehen zielende Sinnfrage scheint am unbegreiflichen Leiden zu stranden, die Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen entsetzlichen Leid ist daher ein Prüfstein des Glaubens. Die Frage nach dem Sinn des Leidens bedarf, um es zu wiederholen, der Differenzierung, denn das Leid, das wir erfahren, kann verschiedenen Ursprungs und daher auch verschiedener Art sein. Der sozusagen harmloseste Fall scheint das Leid zu sein, das wir uns – aus welchen Ursachen auch immer – selbst antun; es ist selbstverschuldetes und in aller Regel, falls oder soweit wir frei handeln können, vermeidbares Leid. Hingegen ist das Leid, das Menschen (vielleicht sogar wir selbst) – aus welchen Ursachen auch immer – anderen Menschen antun, zwar auch, soweit freies Handeln möglich ist, verschuldetes und insofern vermeidbares Handeln; aber von den Betroffenen dürfte es meist als unverschuldetes und vielleicht auch als vermeidbares Leid erfahren werden. Aber auch das nicht von Menschenhand, sondern z. B. durch Naturkatastrophen oder Krankheiten verursachte Leid (soweit solche Katastrophen oder Krankheiten nicht selbst wieder auf menschliche Schuld, Dummheit oder sonstiges Versagen zurückgehen) verlangt nach Verstehen. Immer wieder stellt sich die Frage nach dem Sinn des Leidens, sie stellt sich für das sogenannte physische wie für das sogenannte moralische Übel. 33 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

Das meiste Leid, das die Menschen sich selbst und anderen zufügen, dürfte sinnlos, weil unnötig, sein. Dennoch kann man versuchen, in dem einen oder anderen Fall in solchem Leiden einen gewissen, nämlich bedingten, relativen Sinn zu entdecken. So können z. B. die Entbehrungen, die ich auf mich nehme, um ein Ziel zu erreichen, aus der Perspektive des Ziels einen gewissen Sinn haben, d. h. Entbehrungen können im Hinblick auf ihre Funktion bedingt gerechtfertigt sein. Sogar die Leiden, die ein Mensch aus irgendeinem Grunde anderen Menschen zumutet, damit bestimmte übergeordnete, vermeintlich sinnvolle Ziele erreicht werden, können, zumindest aus der vermeintlich höheren Perspektive, als relativ sinnvoll betrachtet werden. So wird ein Arzt, der seinem Patienten im Hinblick auf die erstrebte Gesundheit eine schmerzvolle Behandlung verschreibt, diese in aller Regel als sinnvoll ansehen. So können Eltern, die aus ihrer Sicht das Beste für ihre Kinder wollen, ihren noch unvernünftigen Kindern, um ihnen eine Zukunft zu ermöglichen, immer wieder guten Gewissens Entbehrungen und Strapazen zumuten. Irgendwie gelten viele Opfer, falls sie nicht erkennbar unnötig sind, den meisten Menschen als sinnvoll; irgendwie wird sogar das freiwillige wie das unfreiwillige Opfer, nicht zuletzt der Opfertod, immer wieder mit Sinn verklärt, glorifiziert, auch wenn es aus anderer Sicht sinnlos ist. Allerdings steht die Annahme eines bedingten Sinns im Grunde unter der unwillkürlichen Voraussetzung eines letzten Sinns. Leiden scheint, so wie die Welt eingerichtet ist, letztlich unvermeidbar zu sein. Anscheinend müssen immer wieder Menschen sterben, damit andere Menschen leben können, und es scheint auch unvermeidbar zu sein, dass Menschen sich selbst und anderen Leid zufügen. Alles Lebenwollen geht auf Kosten von Leben. Schon indem ich atme, nehme ich anderen die Luft weg – was natürlich nicht auffällt, 34 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnloses Leiden

solange genug Atemluft da ist. Wo ich stehe, kann kein anderer stehen. Sogar der Verzicht auf Selbstbehauptung, der Ausstieg aus dem tagtäglichen Betrieb, im Extremfall der Selbstmord, kann anderen Menschen Schaden oder Leid zufügen. Kurz, alles Handeln impliziert eine gewisse Negativität. Jedenfalls ist es bis zu einem gewissen Grade unvermeidbar, dass ich anderen, aber auch mir selbst Leid zufüge, allein schon dadurch, dass ich mich beherrschen muss, dass ich mit meinen Kräften haushalten muss. Immer wieder gibt es das unvermeidbare Leiden, es gibt und gab jederzeit unverschuldetes elendes Leben, unsägliches Leid hilfloser Menschen, frühes oder qualvolles Sterben. Zwar könnte man das eine oder andere Leiden aus der einen oder anderen Perspektive als sinnvoll (zweckbedingt, zielorientiert usw.) betrachten, z. B. bei Strafen oder medizinischen Maßnahmen, oder angesichts selbstverschuldeten Leidens versuchen, die Sinnfrage abzuweisen. Aber damit ist das Problem des entsetzlichen und unermesslichen Leidens nicht aus der Welt geschafft. Außerdem: Selbst wenn alles Leiden sofort aus der Welt verschwinden würde, wer oder was könnte das vergangene Leiden rechtfertigen oder gar wieder gut machen, was könnte ihm wenigstens nachträglich einen Sinn verleihen? Die Sinnfrage stellt sich so oder so, sie stellt sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise für verschuldetes (selbst- und fremdverschuldetes) und unverschuldetes Leiden, für vermeidbares und unvermeidbares Leiden. Man mag sowohl dem physischen wie dem moralischen Übel irgendeinen bedingten Sinn abgewinnen – die Existenz des sinnlosen Leidens ist nicht aus der Welt zu schaffen. Warum müssen manchmal schon gerade geborene Kinder qualvoll sterben? Freiheit ist, wenn ihre Existenz gewollt wird, Freiheit zum Guten und zum Bösen. Aber ist die Freiheit eines blutrünstigen Diktators ein so hohes Gut, dass dafür Millionen unschuldiger Menschen elend sterben müssen? 35 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

Die Erfahrungen des physischen Leidens und des moralisch Bösen stellt vor allem den frommen Glauben auf eine harte Probe; die Frage nach dem Sinn des Leidens ist vor allem in den monotheistischen Religionen fast unvermeidbar. Polytheistische Religionen können sich damit begnügen, das Leiden auf böse Geister zurückzuführen, und dann versuchen, diese höheren Mächte z. B. durch Opfer günstig zu stimmen. Der Pantheismus oder ihm verwandte Religionen können das Leiden als Grundtatsache, sozusagen als Naturtatsache, akzeptieren und, ohne weiter nach dessen Sinn zu fragen, auf Erlösung hoffen. Wenn wie im Monotheismus ein personaler Gott geglaubt wird, stellt sich irgendwann das Problem der Gerechtigkeit bzw. der Rechtfertigung Gottes, der sogenannten Theodizee. Wenn es einen Gott gibt und wenn dieser allmächtig und allwissend, absolut gut und gerecht ist, wie lassen sich dann die Leiden dieser Welt, also seiner Schöpfung, erklären? Wie kann Gott das Leid dulden oder sogar wollen? Die teils rührenden teils geradezu (ungewollt) zynischen Versuche, diese Fragen zu beantworten, haben letztlich immer wieder zur Resignation geführt. Hilflos haben die Gläubigen sich ihr Unwissen eingestehen müssen. Sie haben ihr Nichtwissen verklärt und sich in Demut dem Unbegreiflichen gebeugt. Wenn Gott existiert, dann muß alles irgendwie gut sein, dann ist das Rechten mit Gott sogar Sünde. Angesichts des aus menschlicher Sicht unerklärlichen Leidens in der Welt gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Einerseits: Festhalten an Gott bzw. an dem Glauben an Gott und an unerschütterlichem Gottesvertrauen. Andererseits: Verstehenwollen und aufgrund der Unverstehbarkeit des unübersehbaren und unbegreiflichen Leidens an der Existenz eines geistigen und gerechten Gottes bzw. an der Existenz Gottes überhaupt zweifeln. Aus der Sicht der geistigen Selbstbehauptung ist der Glaube unter Verzicht 36 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnloses Leiden

auf eine Beantwortung der Sinnfrage blind, aus der Sicht vieler Frommen ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Sinn und Leid schon Ausdruck menschlicher Selbstüberschätzung. Moderne Menschen, die nicht auf ihr Denken verzichten wollen und den salto mortale zu einem auf Erkenntnis verzichtenden Glauben verweigern, pflegen aus dem Dilemma, dass die Existenz eines allmächtigen und allwissenden, guten und gerechten Gottes mit der Existenz der Übel dieser Welt für den menschlichen Verstand nicht in Einklang zu bringen ist, die Konsequenz zu ziehen: Es gibt keinen Gott, das Leiden hat letztlich keinen Sinn. Wenn es keinen Gott gibt, entfällt das Theodizeeproblem. Die Frage nach dem Sinn ist unbeantwortbar, denn es gibt keinen alles erklärenden Sinn. Der Atheismus ist konsequenterweise Nihilismus, der Nihilismus ist wesentlich Antimonotheismus. Dieser früher anscheinend seltene, heute weitverbreitete Nihilismus ist, auch wenn er durch theoretische Überlegungen gestützt wird und als reflektierter Nihilismus auftritt, im Grunde eine existentielle Einstellung oder Entscheidung. Faktisch ist die Erfahrung unerklärbaren Leidens eine der Hauptwurzeln des Atheismus: Unter welchen Vorzeichen auch immer – es gibt nach menschlichem Ermessen keine plausible oder akzeptable Erklärung alles Leidens. Worin könnte der Sinn einer Welt bestehen, in der es einerseits wunderbare Sinnversprechen (z. B. die Kunst), andererseits auch unaussprechliches Leid gibt, immer schon gab und wahrscheinlich immer geben wird? Die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Leidens ist eine Hauptursache des existentiellen Nihilismus, das globalisierte Leidbewußtsein provoziert einen globalisierten Atheismus. Streng genommen ist der Schluß von der Existenz unerklärbaren Leidens auf die Nichtexistenz Gottes natürlich nicht hieb- und stichfest, er ist eher ein Ausdruck der Verzweiflung. Denn da ein alles übersteigender Sinn gesucht 37 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

I. Sinn und Leid

wird, ist es nicht möglich, diesen aufgrund empirischer Tatsachen zu finden oder auszuschließen. Eigentlich wäre auch im Rahmen moderner Skepsis nur Agnostizismus möglich. Aber wo (aus welchen Gründen auch immer) das Vertrauen in die eigene Vernunft größer ist als der fromme Glaube, muß die nihilistische Tendenz des Agnostizismus größer sein als die religiöse Neigung zum Vertrauen im Nichtwissen.

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II. Naturrecht und Nihilismus Über Theorien der Moral

Vielleicht täuscht der Eindruck, vielleicht ist es nur die Echoverstärkung durch die professionell sensationslüsternen Medien oder die Folge zivilisationsbedingter Sensibilität, jedenfalls scheint es auch inmitten der weitgehend pazifizierten modernen Gesellschaften immer noch erschreckend große kriminelle Potentiale zu geben, ja gelegentlich sogar ein quantitatives und qualitatives Anwachsen von sittlicher Verwahrlosung und brutalen Verbrechen. Auch wenn es immer eine Klage der Alten war, dass die Jugend ›vor nichts mehr Respekt‹ habe, die gefühlte ›Disziplinlosigkeit‹ der heute Heranwachsenden ist kaum zu leugnen; Kinder tun sich anscheinend mehr denn je schwer, andere Menschen zu achten, vielweniger Autoritäten anzuerkennen. Überall scheinen sogar ganze Gesellschaften in einem Prozeß der Demoralisierung begriffen zu sein, überall scheinen Hemmschwellen, Scham- und Gewaltschwellen, rapide zu sinken; totale Enttabuisierung und offene Brutalisierung scheinen zusammenzugehen. Gewalttaten von oft unfaßbarer Brutalität zeugen von der Hemmungslosigkeit und Bindungslosigkeit haltloser, weil anerkennungsunfähiger Existenzen. Wie auf der Ebene des faktischen Verhaltens, so scheint auch auf der Ebene der Theorie, nämlich in der Rechts- und Moralphilosophie, seit langem schon eine Art Depotenzierung oder doch Destabilisierung aller überlieferten Normen im Gange zu sein. Dabei ist es nicht das Hauptproblem, dass sich mit dem Wandel der Zeiten die Moral und Rechtsauffassung erkennbar ändert und unter dem Druck der gesellschaftlichen Praxis z. B. einzelne Gesetze geändert oder sogar 39 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

aufgehoben, andere Gesetze oder Rechte hingegen aufgewertet oder sogar erst initiiert werden. Schwerer wiegt die weitverbreitete Überzeugung, dass eigentlich alle Gebote geschichtlich-gesellschaftlich relativ sind; ein gewisser, teils moderater, teils radikaler Werte- oder Normenrelativismus scheint zu den Grundüberzeugungen der modernen Welt zu gehören. Das Hauptproblem der Rechts- und Moralphilosophie dürfte jedoch heute darin bestehen, dass ihr eine tragfähige Begründung der immer noch proklamierten Normen, ja der Normativität als solcher, fehlt. Warum sollen wir überhaupt gut oder gerecht sein, wenn es nicht gerade in unserem, nämlich im allgemeinen und vor allem im eigenen Interesse liegt, d. h. irgendwie nützlich ist? Was sind Gebote und Gesetze anderes als von Menschen für Menschen (vor allem für andere Menschen) zu irgendwelchen Zwecken erfundene, daher auch jederzeit wieder zurücknehmbare Spielregeln? Normen sind nichts als gesellschaftlich sanktionierte kulturrelative Verhaltensregeln, eine Art Straßenverkehrsordnung, Verbrechen folglich nur noch grobes Fehlverhalten. Insofern bedeutet der Verlust der möglichen Unbedingtheit der Normen auch eine Depravierung ihrer Gültigkeit bzw. Bindungskraft. Die Parallelität zwischen dem oftmals erschreckenden Mangel an Unrechtsbewußtsein auf der Ebene der Praxis und dem Fehlen einer überzeugenden Begründung der Rechts- und Moralnormen in der Theorie der Praxis lässt einen Zusammenhang, wenn nicht sogar ein Zusammenspiel beider, vermuten. Vielleicht gibt es sogar eine Art dialektische Wechselwirkung. Jedenfalls ist es – zumindest subjektiv – ein Unterschied, ob eine Untat als bewußter Bruch mit einer als existent und gültig vorausgesetzten Norm, d. h. einer an sich oder von sich aus bestehenden und unbedingt gültigen Norm, begangen wird oder ob das Handeln in einem anscheinend an sich rechts- und moralfreien Raum, 40 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

der nur durch menschliche Gesetze, Setzungen (Satzungen) oder Konventionen bestimmt wird, stattfindet, letztlich also im Belieben der Gesellschaft oder sogar des einzelnen steht. Wie kann man von haltlosen Menschen verlangen, moralisch zu sein, wenn man ihnen keinen letztgültigen Grund dafür nennen kann, wenn man selbst nicht mehr weiß, warum man moralisch sein soll? Ist die neue Art von Gesetzlosigkeit, der Mangel an Rechtsempfinden oder das Fehlen eines ethischen Bewusstseins, etwa eine Folge der modernen Gottlosigkeit? Man kann die, wenn nicht prinzipielle, so doch faktische Mißachtung aller moralischen und rechtlichen Standards, das generelle unmoralische Handeln, moralischen oder – allgemeiner – praktischen Atheismus oder auch moralischen bzw. praktischen Nihilismus nennen – wenn man nämlich den Nihilismus als die unmittelbare Folge des Atheismus betrachtet. Denn der landläufige, oftmals rücksichtslose Hedonismus ist tendenziell Atheismus, ein moralischer oder praktischer Nihilismus, er leugnet de facto die Existenz unbedingter, nämlich transzendent oder transzendental fundierter Normen. Im reinen Hedonismus wird de facto ein metaphysischer Grund des Sollens, insbesondere ein göttlicher Garant menschlicher Moral, geleugnet. Streng genommen handelt es sich bei dem Gesetzes- oder Gebote-, Werte- oder Normenrelativismus – zumindest beim radikalen, nicht nur relativen Relativismus – um einen praxistheoretischen Atheismus bzw. Nihilismus, um eine zumindest methodisch oder intentional atheistische Philosophie der moralischen und rechtlichen Praxis. Allerdings kann dieser mehr oder weniger reflektierte moralische Nihilismus in der Lebenswirklichkeit durchaus mit einem strengen Moralismus zusammengehen, während er in der Reflexion meist mit einem umfassenden theoretischen Nihilismus verknüpft ist. 41 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

Wie dem auch sei, wie immer der theoretische Nihilismus differenziert werden muß und seine verschiedenen Formen verbunden sein mögen, der allgemeine praktische oder moralische Nihilismus der modernen Welt ist als solcher kaum zu übersehen (vom Verlust guter Sitten einmal ganz abgesehen). Als primitiver Hedonismus wie als philosophische Leugnung aller transzendent fundierten Normen hat er sich heute überall ausgebreitet. Inzwischen fragen sich immer mehr Menschen: Warum soll ich gut sein? Warum soll ich überhaupt noch irgendein Sollen anerkennen? Gibt es das überhaupt: das Gute oder Gerechte? Worin könnte es, falls es existiert, gründen?

Die Frage nach dem Grund des Guten und Gerechten Die Anfänge dessen, was heute Recht und Moral genannt wird, und natürlich auch die Anfänge der diesbezüglichen Reflexionen, liegen im Dunkeln. Aber seit es normative Sitten und eine darauf bezogene Sittlichkeit gibt, stellt sich auch die Frage nach dem Grund des Guten und Gerechten. Dabei wurde immer wieder – über alle normative Überlieferung, alle Sitten- und Gesinnungssittlichkeit hinaus – sowohl nach deren Seins- oder Entstehungsgrund als auch nach ihrem Geltungs- oder Verpflichtungsgrund gefragt, und sowohl der Ursprung unserer Grundnormen wie auch ihrer normativen Kraft wurde in aller Regel in irgendeiner Art von Transzendenz, in irgendeiner göttlichen Macht gesucht. Diese soll dann meist auch – z. B. in einem letzten Gericht – die endgültige Durchsetzung des Guten und Gerechten, also die Umsetzung des Sollens in Sein, garantieren:

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Die Frage nach dem Grund des Guten und Gerechten

Gott ist auch der Garant des letztendlichen Sieges des Sollens. Im alten Europa waren die Überlegungen zum Grund des Guten und Gerechten seit fast zweieinhalbtausend Jahren mit dem Begriff des Naturrechts verknüpft. Spätestens in der durch die Sophisten geführten Diskussion über die Grundlagen der Moral entstand die Unterscheidung zwischen dem, was von Natur und dem, was aufgrund bloßer Menschengesetze gilt. Es gibt ein Naturrecht oder natürliches Recht (im weitesten, ›moralischen‹ Sinne des Wortes), und es gibt ein vom Menschen gesetztes, ›positives‹ Recht, das allerdings (als eine Art Sittengesetz im ursprünglichen Sinne des Wortes) zunächst noch sehr viel mehr beinhaltet als das, was heute positives Recht genannt wird. Das Naturrecht ist als eine Art ewiges Gesetz der ursprüngliche Grund alles Sollens überhaupt und zugleich der Maßstab oder die Norm für die Inhalte dieses Sollens. Insofern war die Naturrechtslehre der Versuch einer transzendenten, metaphysischen oder theologischen Begründung von Recht und Moral, sie war insofern prinzipiell idealistisch. Die moderne Rechts- und Moralphilosophie bemüht sich fast überall, ohne den Gottesgedanken auszukommen. Sie ist, ähnlich wie die modernen Wissenschaften, zumindest methodisch oder interimistisch atheistisch, denn der Glaube an Gott kann in der modernen, verwissenschaftlichten Zivilisation offensichtlich nicht mehr als allgemeine Reflexionsbasis vorausgesetzt werden. Im Zeitalter einer mehr oder weniger offenkundigen Glaubenslosigkeit versucht der Mensch, sich ganz auf sich selbst zu stellen und dabei auch eine (anscheinend mögliche und offenbar nötige) normative Daseinsordnung, also Moral und Recht, aus eigener Kraft, ohne irgendwelche Anleihen bei einer übermenschlichen Macht zu begründen. Im Zeitalter des heutigen – teils schon offenen, teils noch verborgenen oder verhehlten – 43 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

Nihilismus versucht die Rechts- und Moralphilosophie, vor allem im Ausgang von den individuellen oder kollektiven Interessen der Menschen, unter bewußtem Verzicht auf irgendeine irgendwie vorgeordnete übermenschliche, letztlich absolute Instanz, den Grund für ein moralisches oder rechtliches Verhalten im Menschen selbst zu finden; sie argumentiert anthropologisch, z. B. biologisch oder soziologisch. Zumindest vorgeblich ist sie mehr oder weniger antimetaphysisch oder antiidealistisch, für sie gibt es kein unableitbares metaempirisches Sollen. Es lässt sich nicht leugnen, dass die heutige Rechts- und Moralphilosophie in aller Regel glaubt, mit der großen Tradition der Naturrechtslehre, d. h. mit der Annahme eines meta-physischen Rechtsgrundes, brechen zu müssen, und insofern einen zumindest methodischen Atheismus propagiert. Faktisch impliziert dieser hypothetische Atheismus nicht selten sogar einen offenkundigen theoretischen Nihilismus, dem dann in der Realität nicht selten sogar ein praktischer oder moralischer Nihilismus entspricht. Im Nihilismus kann es kein Naturrecht geben – falls es im Nihilismus überhaupt noch so etwas wie Recht und Moral im überlieferten Sinn des Wortes geben kann. Allerdings ist der anscheinend kontradiktorische Gegensatz zwischen einer transzendenten und einer nicht-transzendenten Begründung normativer Sittlichkeit nicht immer so klar, wie die zugespitzte Formulierung Naturrecht und Nihilismus (um nicht zu sagen: Naturrecht oder Nihilismus) vermuten lassen kann. Im Prinzip dürfte es jedoch möglich sein, beide Positionen klar zu unterscheiden: die transzendente bzw. transzendenzbezogene Begründung von Recht und Moral in der Naturrechtslehre einerseits und die alle Transzendenz leugnende oder ausklammernde Begründung von Recht und Moral im Zeitalter des Nihilismus andererseits.

44 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Gott und Gesetz

Gott und Gesetz Ursprünglich wurden alle Fragen nach dem Grund des Guten und Gerechten, sowohl nach dem Seins- als auch nach dem Sollensgrund, fast ausnahmslos durch den Hinweis auf eine höhere Macht als Quelle aller Gebote oder Gesetze beantwortet. Meist waren es irgendwelche Götter oder doch quasi-göttliche Heroen, die als Stifter, z. T. auch als Garanten der bestehenden und verpflichtenden Gesellschaftsordnung, verehrt wurden. Selbst wenn es erkennbar eine menschliche Autorität war, die irgendwelche Anordnungen erließ, sie wurde in aller Regel mit irgendeinem Nimbus umgeben bzw. umgab sich selbst damit. Insofern war alle Rechts- und Moralbegründung zunächst und zumeist transzendent bzw. transzendenzbezogen. Die geltenden Sittengesetze mußten, um als unerschütterlich gegründet gelten zu können, höheren Ursprungs und insofern metaempirisch oder metapositiv sein, das überlieferte Sittengesetz war heilig, selbst quasi-göttlich. An diesem Verständnis von Recht und Moral änderte sich auch wenig, als in der Antike auf einer höheren Reflexionsstufe alle wesentlichen Normen auf eine allumfassende Natur zurückgeführt wurden. Die Natur als Quell alles Lebens galt auch als der Quell der Ordnung des Lebens – sowohl der faktischen oder physischen Ordnung als auch der geforderten oder normativen Ordnung. So wie es Gesetze der physischen Natur gibt, so auch moralische Gesetze, die von Natur aus gelten. Mit anderen Worten, es gibt, allem menschlichen Recht voraus, eine Art Naturrecht. Es existiert – sozusagen von Natur – eine Art moralisches Recht, das als natürliches Recht mehr und anders ist als die gerade geltende Sitte, mehr und anderes als das geschichtliche oder positive, d. h. durch eine rein menschliche Instanz gesetzte Recht (aber auch mehr als die gewordene, rein geschichtliche, so45 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

zusagen positive Moral). Dieses natürliche Recht legitimiert und limitiert das positive Recht, seine Forderungen sind transfaktisch und daher gegebenenfalls kontrafaktisch. Es gründet in der Natur, die der Grund alles Seienden ist, aber es regelt auch die Natur, die als Ganzes letztlich ihr eigenes Gesetz ist. Dabei wird die Natur nicht nur physikalisch oder biologisch gedacht, sondern auch ›metaphysisch‹ oder ›theologisch‹ : als das Absolute, als ein alles erzeugender Ursprung und ein alles bestimmendes Gesetz, als der alles bewirkende und durchwaltende, durch sich selbst existierende Sinnzusammenhang dessen, was schon vor allem menschlichen Tun und Lassen ist. Die Natur ist insofern ein geradezu geistiges Sein, letztlich sogar göttlich, und die Berufung auf ein höheres Recht, das Naturrecht, ist auch in dieser Form eine transzendente oder transzendenzbezogene Rechtsbegründung, die allerdings eine Art urtümliche (noch nicht romantische) Naturfrömmigkeit voraussetzt bzw. impliziert. Eine alles übersteigende und umgreifende, letztlich jedoch unbegreifliche Natur ist der dunkle Grund aller Normen. Die Idee eines über- oder vormenschlichen Naturrechts überdauert nicht nur die Verschmelzung von antiker Philosophie und christlicher Theologie, sie gewinnt durch sie sogar ein neues Gewicht, allerdings auch eine andere Gestalt. Denn nun ist der eine persönliche Gott der Fluchtpunkt alles Denkens, die Natur hingegen nur noch Schöpfung, nicht mehr der erste und letzte Grund von allem. Zwar wird die Natur auf diese Weise durch den Monotheismus entgöttlicht, aber selbstverständlich ist die Natur, weil von Gott geschaffen, gerade auch im christlichen Denken noch ein durch und durch übermenschlicher Sinnzusammenhang, eine metaphysische Ordnung, nämlich eine Wesensordnung, nicht nur ein irgendwie physischer oder physikalischer Prozeß. Sie ist zwar »entgötterte Natur«, aber als sogenannte Schöpfungsordnung scheint sie sich einer Begründung von Recht 46 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Gott und Gesetz

und Moral in Form eines Naturrechts geradezu anzubieten. Denn die von Gott geschaffene Natur ist eine Ordnung von unveränderlichen normativen Wesensnaturen, deren teleologische Rangordnung der Mensch, der seine eigene Natur in Freiheit verwirklichen darf und soll, unbedingt zu beachten hat. Das auf der Schöpfungsordnung basierende Naturrecht kann daher nur in einer metaphysisch oder vielmehr theologisch korrekten Naturrechtslehre richtig entwickelt werden und so als göttliches Recht zum Grund und Maßstab des menschlichen Rechts gemacht werden. Insofern ist das christliche Naturrecht die transzendenzbezogene Rechtsbegründung par excellence. Allerdings bringt der Versuch einer metaphysischen Letztbegründung allen Rechts und aller Moral aus der gottgeschaffenen Natur und damit letztlich aus dem monotheistisch personal verstandenen Gott auch neue Probleme mit sich. Denn wenn Gott als (ewige) Person gedacht wird, wird er unwillkürlich – trotz aller immer wieder erklärten Selbstbescheidung des Denkens – nach dem Bilde des Menschen gedacht, und zwar so, wie dieser sich selbst in seiner Zeit sieht bzw. sehen möchte. Gott, der als Grund der Existenz wie der Geltung von Normen zugleich fundamental deren Inhalte bestimmt, ist eine ideale Person; er besitzt im Prinzip ähnliche Vermögen wie der Mensch, der sich selbst als eine von Gott nach dessen Bild geschaffene Person versteht. Gott als Geist besitzt die Vermögen zu denken und zu wollen, wenn auch in einer unvergleichlichen Weise. Dementsprechend kann die (monotheistisch) theologische Naturrechtsbegründung entweder primär auf Gottes Verstand bzw. Vernunft oder primär auf Gottes Willen abheben. Im Falle der rationalistischen Option wird Gott, nicht zuletzt unter dem Einfluß der antiken Philosophie, wesentlich als sich selbst denkendes Denken verstanden. Gott ist Geist, reine oder absolute Intelligenz. Die göttlichen Gebote 47 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

gründen daher wie der ganze Schöpfungsplan wesentlich in Gottes Verstand bzw. Vernunft, mit deren Hilfe Gott das, was ist und was sein soll bestimmt, und zwar indem er auf sein eigenes vollkommenes Wesen reflektiert, d. h. in sich selbst das Gute als Gesetz erkennt. Gottes Wesen ist als der absolute Geist oder als substantielle Vernunft selbst das ewige Gesetz, aus dem alles stammt und das alles regelt. Nicht zuletzt in Reaktion auf dieses rationalistische Modell wird in der voluntaristischen Option, unter nachdrücklicher Berufung auf die Bibel, Gott vor allem als Willenswesen gedacht. Gott war frei, die Welt so wie geschehen zu schaffen, und auch die moralischen Gebote hat er in voller Souveränität erlassen, wozu er als Schöpfer berechtigt war, wie es gelegentlich in einer sich überschlagenden Argumentation heißen kann. Die Ordnung dieser Welt ist nicht die logisch und ontologisch notwendige Folgerung aus ewigen Wahrheiten – es könnte auch alles ganz anders sein. Dennoch ist Gott kein Willkürgott, denn sein Handeln bleibt jederzeit durch seine unendliche Liebe bestimmt. Gottes unerschütterliche und überfließende Liebe ist der Grund von allem, sie ist auch das verläßliche Fundament des richtigen und richtungsweisenden Rechts, des (moralischen) Naturrechts. Damit wird allerdings doch wieder ein letztes Fundament aller Dinge und Normen in Gottes Wesen, in seinem ewigen Willen zum Guten, statuiert. Gottes Wesen, ob nun primär als sich denkendes Denken oder als freier Liebeswille verstanden, ist – so oder so – selbst die letzte und oberste Norm. Insofern konvergieren die voluntaristische und die rationalistische Begründung von Recht und Moral in einer essentialistischen. Gottes Wesen ist selbst das ursprüngliche und allumfassende ewige Gesetz, dessen Ausdruck das Naturrecht ist. Damit nähert sich die (monotheistische) theologische Normendeduktion aus der Natur Gottes in der Sache der antiken (pantheistischen) Berufung auf eine göttliche Natur, 48 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Naturrecht ohne Gott?

nur dass jetzt das ewige Gesetz zugleich als Person gedacht werden soll. Aber natürlich ist der christliche Gott sozusagen noch transzendenter als die allumfassende Natur, aus der alles stammt und zu der alles zurückkehrt. Der Ursprung alles Guten und Gerechten ist transzendent, liegt im Jenseits.

Naturrecht ohne Gott? Nun war es allerdings auch schon früh möglich, die Gottesfrage bei der Begründung der Rechts- und Moralphilosophie gewissermaßen auszuklammern, also Si Deus non daretur zu denken, und doch zugleich eine ewige Gesetzlichkeit, etwa die Existenz eines allem menschlichen Denken und Wollen vorgeordneten Werte- oder Normensystems, eine Art Ideenhimmel zu behaupten. Auch wenn es Gott nicht gibt (oder vielmehr: nicht gäbe), es existiert eine Art intelligible Welt, nämlich wie die Ordnung der theoretischen so eine Ordnung der praktischen ›Wahrheiten‹. Auf diese Weise konnten theologische Fragen unberücksichtigt bleiben und zugleich die Existenz unabdingbarer Normen, und zwar unabhängig nicht nur von den Menschen, sondern auch von Gott (als Schöpfer wie als Herrscher), behauptet werden. Die »Hypothese Gott« schien mehr und mehr verzichtbar zu sein. Allerdings konnte der Versuch, von der Existenz Gottes bei der Begründung des Naturrechts zu abstrahieren, auch als sündhaft betrachtet werden, und er erwies sich in der Tat als zunehmend gefährlich für eine idealistisch metaphysische Begründung von Recht und Moral. Der zunächst allem Anschein nach nur methodische Atheismus konnte nämlich später zu verschiedenen Optionen – einem wirklichen Atheismus, also einer expliziten Leugnung Gottes, und einem neuen Theismus, z. B. der Annahme eines ober49 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

sten Wertes, eine Art Wertegott – führen. Faktisch postuliert der methodische Atheismus allerdings mit der Existenz einer absolut gesetzten ideellen Ordnung von Werten oder ›Wahrheiten‹ immer noch ein so oder so transzendentes Absolutes, insofern etwas Metaphysisches oder Göttliches, das zum Maßstab der menschlichen Dinge taugen soll; auch eine Naturrechtslehre ohne Gott wie z. T. die atheistische Werteethik versucht, obwohl nicht selten unzureichend reflektiert und unwillkürlich, eine transzendenzbezogene, irgendwie ontologische Begründung von Recht und Moral. Damit bleibt auch diese Art von Normenverabsolutierung mit ihrer ideellen Begründung der Geltungen von Normen faktisch noch theologisch, nämlich kryptotheologisch, um nicht zu sagen, pseudotheologisch. Dies gilt in aller Regel auch noch für die anscheinend rein anthropologische, der Absicht nach jedenfalls völlig untheologische, betont säkulare Naturrechtslehre. Auch wenn, wie seit dem Beginn der Neuzeit üblich, die Naturrechtslehre eine Bezugnahme auf Gott (und insbesondere auf dessen sogenannte Offenbarung) soweit wie möglich vermeidet und sich statt auf Gott auf den Menschen und dessen sogenannte Natur als oberste Norm konzentriert, bleibt der Transzendenzbezug des Naturrechts in der erklärtermaßen profanen Philosophie und Jurisprudenz noch indirekt, verborgen oder verschleiert erhalten; denn der Mensch wird – jedenfalls zunächst – immer noch als Geschöpf Gottes betrachtet. Zwar wird gerade mit der sogenannten Säkularisierung des Naturrechts, nämlich dem Versuch, aus reiner Vernunft und auf rein anthropologischer Grundlage eine systematische Naturrechtslehre als Theorie einer vernünftigen normativen Daseinsordnung zu entwickeln, die Konjunktur dieser Naturrechtslehre als tendenziell theologiefreie Völkerrechts- bzw. Staatsrechtslehre, dann sogar als umfassendes System der Rechts- und Moralphilosophie, in einem bisher ungekannten 50 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Naturrecht ohne Gott?

Ausmaß möglich. Aber der angeblich letzte Bezugspunkt dieser Naturrechtslehre, der Mensch (genauer: die gegebene Natur des Menschen), existiert, wie immer die Natur des Menschen inhaltlich gedacht werden mag, nur unter der metaphysischen Voraussetzung, dass es so etwas wie ein ›Wesen‹ oder eine überzeitliche ›Natur‹ des Menschen überhaupt gibt. Diese dem individuellen lebenden Menschen vorgegebene und in ihm vorfindliche Wesensnatur, eine Art normative Humanität, wird, auch wenn der Mensch nicht ausdrücklich als ein Geschöpf Gottes bezeichnet wird, in der anthropologischen Naturrechtslehre meist noch wie selbstverständlich vorausgesetzt – auch da, wo unter Vermeidung des Begriffs Naturrecht z. B. eine Art apriorisches Vernunftrecht postuliert wird. Erst wo die Idee einer Wesensnatur vor allem durch die zunehmende Historisierung und zugleich Naturalisierung der menschlichen Existenz seit der Aufklärung in Frage gestellt wird, geht auch dieser indirekte Transzendenzbezug der naturrechtlich begründeten Rechtsund Moralsysteme und damit das Naturrecht als solches mehr und mehr verloren. Offensichtlich war die Idee eines Naturrechts immer schon problematisch, sie setzte einen starken Glauben an eine sozusagen übernatürliche Natur, an Gott oder eine quasi-göttliche Natur, zumindest an eine Art ›ewige‹, irgendwie gottgeschaffene Menschennatur, ein quasi-metaphysisches Wesen des Menschen voraus. Der transzendente, geistige oder göttliche Grund von allem, aus dem alles Sein und Sollen hergeleitet werden sollte, entzog sich jedoch dem menschlichen Denken. Der Ursprung von Recht und Moral wurde durch die Behauptung eines Naturrechts nicht wirklich klarer, er blieb problematisch wie das vorausgesetzte metaphysische Sein. Außerdem waren die Folgerungen, die aus der vorausgesetzten Existenz eines Naturrechts gezogen werden konnten, immer zweifelhaft und gefährlich; denn 51 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

offensichtlich konnte und mußte das nur unter großen logischen und ontologischen Schwierigkeiten begründete Naturrecht auch noch inhaltlich verschieden interpretiert werden, z. B. konservativ oder revolutionär. Was ist eigentlich von Natur geboten? Naturrecht scheint, wenn es denn überhaupt existiert, nur in einer geschichtlichen Interpretation als eine immer nur geschichtliche Idee von Gerechtigkeit gegeben zu sein. Und bei deren Entwicklung spielen die jeweiligen individuellen wie gesellschaftlichen Interessen selbstverständlich eine große Rolle. Immer wieder diente die Behauptung angeblicher naturrechtlicher Normen nur der Überhöhung, der Durchsetzung und zugleich Verschleierung von Interessen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch insofern blieb das Naturrecht problematisch, seine tendenzielle Dogmatisierung aller Gebote und Gesetze konnte das Leben lähmen oder sogar Leben zerstören, aber natürlich auch schützen.

Der Verlust natürlicher Normen Die Idee eines Naturrechts, einer transzendenten Grundlage von Recht und Moral, wurde nicht nur durch ihre eigenen Probleme in Frage gestellt, sie scheiterte auch nicht nur am Wandel des Menschenbildes durch die Historisierung und Naturalisierung des Menschen, zumal diese zumindest z. T. schon Folgeerscheinungen eines noch grundsätzlicheren geschichtlichen Wandels des Menschenbildes waren. Vor allem wurde sie Opfer des modernen, inzwischen nur noch schwach verschleierten Atheismus oder Nihilismus, der den Menschen und seine Normen durch die totale Relativierung von allem und jedem heute weltweit in den Sog der Sinnlosigkeit zu ziehen beginnt: Es gibt keinen Gott – also gibt es auch keine göttliche Schöpfung, als dessen Krone sich der 52 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Der Verlust natürlicher Normen

Mensch verstehen könnte, also auch keine dem Menschen vorgegebene göttliche Schöpfungsordung. Es gibt keinen Gott, der, aus welchen Gründen auch immer, in welcher Art und Weise und mit welchem Recht auch immer, Gebote erlassen könnte. Wenn Gott tot ist, so heißt es, ist – im Grunde – alles erlaubt. Entscheidend für das Schicksal der Naturrechtslehre wie aller irgendwie transzendenzbezogenen Rechts- und Moralphilosophie wird so erst der erklärte Verlust des Gottesglaubens als solcher ersichtlich, der allerdings mit der Historisierung und Naturalisierung des Menschen in Wechselwirkung steht. Die radikale Reduktion der Religion, die in der Aufklärung europaweit mit der emotionalen und rationalen Erschöpfung durch die Glaubenskämpfe begonnen hatte, setzte sich bekanntlich im 19. Jahrhundert aufgrund des wachsenden Glaubens an eine universale Problemlösungskompetenz der Wissenschaft mit zunehmender Beschleunigung fort und führte trotz aller Gegenbewegungen zu einem weitgehenden Glaubensverlust: Gott ist nichts als menschliche Projektion. Dieser neue (theoretisch argumentative) Atheismus konnte sich zwar zunächst positiv als Emanzipation von Gott verstehen, wurde aber bald auch negativ als Anfang einer neuartigen (nicht zuletzt praktisch wirksamen) Sinnlosigkeit erfahren – die gelassene Gleichgültigkeit der Glaubenslosigkeit war existentiell nur schwer durchzuhalten. Vor allem entstand mit dem Verlust der Religion die Bedrohung durch eine neue allgemeine Bindungslosigkeit, eine tiefreichende Haltlosigkeit. Recht und Moral, die mit der Abschaffung der sogenannten Hinterwelt ihr transzendentes Fundament verloren hatten, degenerierten für mehr und mehr Menschen zu absolut relativen Spielregeln, die sich die Menschen selbst aufgrund welcher Interessenkalkulation auch immer – so oder so – geben können oder auch nicht. Seitdem befinden sich Recht und Moral, vor allem das Recht im engeren Sinne, 53 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

das sogenannte positive Recht, in einer permanenten Legitimationskrise. Denn für den Nihilismus löste sich nicht nur der biblische Theismus, sondern auch aller Pantheismus in Nichts auf. Auch die Natur, die nach früherer Ansicht als das Absolute alles erzeugte, umfaßte und regelte, fällt im Nihilismus als normative Instanz aus; denn das, was heute Natur genannt wird, ist im Grunde nur das sinnfreie Produkt rein physikalischer Ereignisse. Sogenannte ewige Gesetze existieren nur noch als Naturgesetze im Sinne der Physik, und selbst dies ist zweifelhaft. Daher gibt es auch keine normative Wesensnatur des Menschen, die als Seins- oder Verpflichtungsgrund oder sogar als Maßstab von Recht und Moral verstanden werden könnte. Der Mensch ist, wenn er auf sein temporäres empirisches Erscheinungsbild reduziert wird, nur eines der vielen Produkte der Evolution, eine anscheinend mehr oder weniger zufällige Anhäufung von Zellen. Wie könnte man aus einer temporären empirischen Erscheinung, dem Menschen als Evolutionsprodukt, eine überzeitliche, sozusagen metanatürliche Norm, also aus etwas Materiellem etwas Ideelles ableiten? Kurz, es gibt kein höheres Sein als die Materie bzw. Energie und deren Derivate, folglich auch keine vom geschichtlich-empirischen Menschen unabhängige Werte- oder Sollensordnung, die sich ihm in Form unbedingter Forderungen darstellen könnte. Könnte nicht alles auch ganz anders geregelt werden? Recht und Moral scheinen reines Menschenwerk zu sein, vielleicht sind sie sogar überflüssig. Oder gibt es, ungeachtet aller Entzauberung der Normen, inmitten der Profanierung aller Gesetze und Gebote doch gewisse sachlogische Zwänge, die aus der ›Natur der Sache‹ resultieren und die als moralische Konstanten oder normative Imperative interpretiert werden könnten? Natürlich lassen sich auch unter nihilistischen Voraussetzungen 54 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Der Verlust natürlicher Normen

viele Gründe für eine gewisse Existenznotwendigkeit von Normen anführen – immer vorausgesetzt, dass die Existenz des Menschen erhalten bleiben soll. Wenn es keine Regeln des Zusammenlebens gibt, könnte nämlich das totale Chaos ausbrechen. Dann geriete die Existenz des Einzelnen wie die Existenz der verschiedenen Gruppen oder sogar die Existenz der ganzen Menschheit in Gefahr, und zwar die sogenannte nackte Existenz. Kann der Mensch das wollen, darf das geschehen? Brauchen wir nicht, um einen drohenden blutigen Kampf aller gegen alle zu unterbinden oder doch zu begrenzen und um auf diese Weise auch den eigenen Untergang zu verhindern Gesetze – auch als pure Gewaltandrohungen ohne weitere Legitimation? Praktischen Nihilismus kann sich eigentlich nur die gedankenlose Masse leisten, ›verantwortungsbewußtes‹ Denken, das nach Orientierung sucht, wird nach gültigen Regeln suchen, dann aber auch auf die prinzipiellen Implikationen unseres Handelns reflektieren müssen. So kommt es gerade heute, unter den Bedingungen einer im Werden begriffenen Weltgesellschaft, die um ihre zukünftige Organisation streitet, immer wieder zu unwillkürlichen wie auch reflektierten Normrettungsversuchen. Ein Krieg aller gegen alle als Dauerzustand wäre der Untergang der Menschheit – es sei denn, selbst der Krieg ließe sich noch gewissen Regeln unterwerfen (woher auch immer dieses sogenannte Völkerrecht dann kommen mag). Also muß es, wenn die Menschheit überleben will, auch im größten drohenden Chaos noch eine gewisse Ordnung geben, irgendwie normative, möglichst auch wieder gewaltbewehrte Regeln als Überlebensstrategie, zumindest gewisse Verabredungen, auch wenn deren Einhaltung wieder problematisch ist. Aber was hat diese Forderung nach einer normativen Existenzsicherung noch mit Recht und Moral in irgendeinem klassischen Sinne zu tun – falls nicht unter der Hand wieder ein 55 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

unbedingter Anspruch auf Gerechtigkeit und folglich auf gerechtes, richtiges oder legitimes Recht gemacht wird? Was hat eine reine Überlebensstrategie mit Moral zu tun – falls nicht unter der Hand das Überleben der Menschheit zu einem oder vielmehr zum höchsten normativen Wert bzw. Moralprinzip erhoben, d. h. zum primären Inhalt des Sollens erklärt wird? Aber vielleicht ›sollten‹ Recht und Moral wirklich und endgültig ihres ganzen bisherigen Nimbus entkleidet und nur noch als zweckbedingte Regelungen betrachtet werden, vielleicht ›sollte‹ mit dem Nihilismus auch rechtsund moralphilosophisch endlich Ernst gemacht werden. Möglicherweise genügt es, um die Existenz von Recht und Moral zu legitimieren, auf deren Nutzen für das menschliche Überleben hinzuweisen. Jedenfalls ist es, wenn nicht z. B. kryptoidealistisch eine Art normative Vernunft oder irgendein angeblich evidentes Prinzip eingeführt und auf deren geschichtliche Realisierung gehofft wird, immer wieder der Hinweis auf den individuellen und kollektiven Nutzen, den die Menschen von einer Einhaltung gewisser Spielregeln haben, der als sicheres Fundament einer postmetaphysischen Moral gelten soll. Und zwar, da alle davon profitieren können ›sollen‹, unter der Voraussetzung einer tendenziellen Übereinstimmung zwischen allgemeinem und persönlichem Glück bzw. Nutzen. Natürlich gibt es auf dieser Ebene keine unbedingten Forderungen mehr, kein absolutes Sollen, nur noch das Postulat der Möglichkeit und Notwendigkeit der Verallgemeinerung: Generalisierung als Verpflichtung (woher diese auch immer kommen mag). Wenn ich nicht umgebracht werden will, darf ich auch nicht selber töten – dies lässt sich so oder so als universalisierbarer hypothetischer Imperativ einigermaßen plausibel erweisen, Recht und Moral können insofern als Produkt oder Konstrukt eines umfassenden Gesellschaftsvertrags betrachtet werden. Und: Pacta sunt servanda. Womit allerdings – im 56 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Naturrecht oder Nihilismus?

Rahmen eines wie immer gearteten Normrettungsversuches – ein Rest von Sollen behauptet wird. Jedenfalls ist auf der Ebene der reinen Interessenkalkulation die empirische Bedingtheit aller Regeln offenbar, daher auch die moralische Selbstausnahme nicht leicht zu widerlegen. Ich will nicht belogen werden, also will ich, dass keiner lügen darf, folglich darf ich selbst auch nicht lügen. Aber wenn es keiner merken würde, dass ich mir durch eine Lüge einen individuellen Nutzen verschaffe? Wer läßt sich schon durch das Argument Wenn alle so handeln würden leiten, wenn er keinerlei moralische Verpflichtung fühlt? Und wenn der Ursprung aller Moral wie auch des Rechtes der individuelle Überlebenswille ist, wie läßt sich dann die Forderung, das eigene Leben z. B. im Krieg für andere zu opfern, als Norm begründen?

Naturrecht oder Nihilismus? Die Vorstellung eines allgemeinen und immergültigen, wenn auch nicht immer allen Menschen bekannten Naturrechts, also die Vorstellung, dass es für alle Menschen im Prinzip inhaltlich gleiche, transzendent fundierte, letztlich also gottgegründete, ewige Normen gebe, dürfte heute weitgehend obsolet geworden sein. Vorherrschend ist ein, wenn auch nicht selten uneingestandener oder unausgesprochener Nihilismus, und zwar sowohl auf der Ebene der Praxis als gelebter Hedonismus wie auch auf der Ebene der Theorie, also praxistheoretisch, und zwar in unterschiedlichen Formen der gelehrten Moralkritik (Relativismus, Utilitarismus usw.). Aber während der totale praktische Hedonismus, also – auf der Ebene der Praxis – das stumpfsinnige Vergnügen, im Grunde nicht diskursfähig ist, kann der intelligente oder reflektierte Hedonismus sogar versuchen, eine ›Ethik‹ zu be57 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

gründen. Allerdings ist die Position des theoretisch begründeten Hedonismus, also des praktischen (genauer: praxistheoretischen) Nihilismus, logisch nicht unproblematisch. Irgendwelche allgemeinen Prinzipien, Werte oder Normen muss anscheinend auch eine angeblich allein an der subjektiven Lust ausgerichtete ›Ethik‹ behaupten, und sei es auch nur die zum normativen Prinzip erhobene Lust selbst. Und wenn sie eine wahre Theorie sein ›soll‹, muss sie als erstes Wahrheit als unabdingbares Ideal anerkennen. Wer ein Naturrecht für gegeben hält, setzt irgendwelche quasi-ewigen Gebote, mehr oder weniger inhaltlich bestimmte Gesetze, zumindest irgendein unbedingtes Sollen, nämlich die zunächst inhaltslose Forderung, gut oder gerecht zu sein, als existent voraus und kann insofern kein Nihilist sein. Im Gegenteil, er hat als moralbewusster Mensch immer schon ein ihm vorgegebenes absolutes Sein, nämlich das von ihm unabhängige Sein des Sollens, wenn auch nur ein inhaltsloses Sollen als minimales Naturrecht anerkannt. Wer hingegen ein konsequenter Nihilist zu sein versucht, muss die Möglichkeit eines Naturrechts, d. h. ein dem Menschen vorgegebenes Sollen, prinzipiell leugnen. Zumindest muss er die Existenz eines transzendent fundierten Naturrechts dahingestellt sein lassen oder sogar glauben, nicht zu wissen, ob man überhaupt moralisch sein müsse. Zwar folgt aus dem Glauben an Gott nicht automatisch die Annahme eines Naturrechts, wohl aber umgekehrt aus der Verneinung jedes metaphysischen Seins die Negation alles transzendenten Sollens. Offensichtlich haben auch die Versuche, Recht und Moral unter Verzicht auf jedes metaempirische Sollen zu begründen, ihre Probleme. Und dies alles noch ganz abgesehen von der fundamentalen Frage, wie der individuelle Nutzen objektiv zu bestimmen wäre und dann, sozusagen durch ein aufgeklärtes Interesse, als der ›wahre Nutzen‹ zu erkennen 58 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Naturrecht oder Nihilismus?

wäre. Recht und Moral werden jedenfalls, falls kein Sollen eingeschmuggelt wird, zur reinen Interessenkalkulation; ohne ideelle Begründung werden sie zu rein empirischen Erscheinungen, die sich soziologisch und psychologisch, letztlich sogar rein biologisch betrachten lassen. Recht ist nicht mehr, was es bisher sein sollte: der moralisch fundierte und orientierte Versuch, Gerechtigkeit aufgrund einer unbedingten Forderung nach Gerechtigkeit herzustellen. Recht wird zum bloßen Ausdruck von Macht bzw. (in der Demokratie) zur bloßen Vereinbarung einiger Leute, die zurzeit die Macht haben, durch Sanktionen ihre Ordnungsvorstellungen anderen Leuten mehr oder weniger aufzuzwingen. Recht ist rein positives Recht ohne moralisches Fundament, d. h. ohne unbedingte Gerechtigkeitsverpflichtung. Die Kehrseite dieser Rechtsauffassung ist allerdings der anscheinend zunehmende Mangel an Unrechtsbewußtsein. Auch Moral ist nicht mehr, was sie bisher war: eine so oder so im Gewissen erfahrene und eigentlich absolut verpflichtende Norm. Moral ist bestenfalls eine wandelbare, aus irgendwelchen Gründen mehr oder weniger zufällig entstandene Konvention, so oder so zu denken, zu wollen und zu handeln, die, weil völlig relativ, eigentlich zu nichts verpflichtet. Sie ist bestenfalls eine Art Handlungs- oder Gesinnungsgewohnheit. Kurz, Recht und Moral sind nichts als Produkte des menschlichen Geistes, der selbst ein Derivat der Materie ist. Sie sind, wenn man so will, empirische Blasen der alles Sein bestimmenden, u. a. im Menschen kumulierenden, vielleicht sogar kulminierende physikalischen Energie. Sie sind eigentlich nichts, jedenfalls nicht das, was sie gelegentlich noch zu sein vorgeben. Sie lassen sich bestenfalls biologisch, psychologisch oder soziologisch und natürlich – egoistischen Lebenswillen immer vorausgesetzt – pragmatisch bzw. utilitaristisch als relative Regeln begründen, sie sind empirische Epiphänomene. Der Relativierung 59 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

II. Naturrecht und Nihilismus

aller Normen auf der theoretischen Ebene aber entspricht nicht selten die Verachtung aller Normen auf der Ebene der Praxis, wenn auch nicht unbedingt in ein und derselben Person. Theoretische Nihilisten können sich durchaus moralisch verhalten, vor allem moralische Forderungen an andere zu stellen, aber ›amoralische‹ Menschen tendieren auch zu einer mehr oder weniger reflektierten Verachtung aller Gebote als bloßes Menschenwerk. Was also kann oder ›soll‹ aus Recht und Moral im Nihilismus werden? Woher kann das Recht, zu leben oder auch zu sterben, kommen?

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III. Nihilismus und Sinnsetzung Über moralische Praxis

Praktischen Nihilismus hat es immer gegeben und wahrscheinlich war er in den meisten Fällen von einem gewissen theoretischen, zumindest praxistheoretischen Nihilismus begleitet. Es hat vermutlich immer Menschen gegeben, die ›vor nichts Respekt‹ hatten und die an der Existenz einer transzendenten gesetzgebenden Macht gezweifelt und sie abgestritten haben. Aber es ist eigentlich unverkennbar, dass der praktische, vor allem der praxistheoretische Atheismus heute sehr viel verbreiteter ist, vermutlich weil auch der reflektierte theoretische Nihilismus heute verbreiteter ist, und umgekehrt. Und dieser moderne Atheismus scheint sich, trotz aller Gegenbewegungen, mehr und mehr auszubreiten. Andererseits, ungeachtet aller nihilistischen oder doch tendenziell nihilistischen Aspekte des modernen Daseins, ungeachtet der theoretischen, wenn nicht sogar wissenschaftlichen Reduktion alles dessen, was ist, auf einen mysteriösen Urknall und eine daraus resultierende Entwicklung der Energie bzw. Materie – in der alltäglichen Lebenspraxis gibt es immer noch ein weitverbreitetes Sollensbewusstsein. Recht und Moral werden trotz aller gängigen, meist materialistischen und utilitaristischen Theoreme, wie auch trotz aller hedonistischer Praxis immer wieder nicht nur als bloße Funktion individuellen oder kollektiven Interesses, nicht nur als wichtige Bedingungen der Lust- oder Nutzenmaximierung, sondern immer wieder irgendwie auch als berechtigte, ja als ideell oder metamateriell begründete Forderungen verstanden. Und es gibt neben allem beobachtbaren Moralverlust auch ohne äußeren Zwang, nämlich aufgrund 61 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

von innerer Bindung, ein weitgehend reibungsloses Miteinander der Menschen (innerhalb der eigenen und außerhalb der eigenen Gesellschaft). Ja, es gibt sogar ein großes und weltweites Engagement für Gerechtigkeit, vor allem für die vielen Unglücklichen dieser Erde. Auch Menschen, die nicht mehr an Gott glauben, übernehmen immer wieder Verantwortung oder leisten Hilfe und behaupten so im Widerspruch zum eigenen Nihilismus Sinn und Sollen, glauben an eine globale Ethik. Es gibt nicht nur die Widersprüche zwischen Denken und Handeln, zwischen moralischem Denken bzw. Reden und amoralischem Handeln und umgekehrt zwischen amoralischem Denken bzw. Reden und moralischem Handeln, sondern auch die Widersprüche im moralischen Denken selbst (und natürlich auch zwischen dem teils moralischen teils amoralischen Handeln).

Moralische Theorie und moralische Praxis Offensichtlich stellt sich das Problem von Recht und Moral, also das Problem eines richtigen oder guten Lebens, nämlich eines (im Unterschied zum bloßen Leben) normativ ausgerichteten Lebens, auf der Erlebnisebene und dem daraus resultierenden alltäglichen Selbstverständnis der meisten Menschen anders als auf der derzeit üblichen ›philosophischen‹ Reflexionsebene. Auf der lebensweltlichen Ebene des Selbstbewusstseins werden nämlich Recht und Moral immer noch als im Prinzip echte Normen, d. h. als von meinen Interessen unabhängige Instanzen, erfahren und anerkannt und deren Gebote vor allem gegenüber anderen Menschen emphatisch als unbedingte Forderungen erhoben. Zu Recht oder Unrecht glauben die meisten Menschen immer wieder, dass sie irgendwelche Rechte haben; sie glauben, dass ihnen 62 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Moralische Theorie und moralische Praxis

aufgrund irgendwelcher (nicht nur rechtlichen, sondern auch moralischen) Befugnisse dieses oder jenes zusteht, sie also irgendwie zu irgendetwas ›berechtigt‹ sind. Sie meinen nicht nur, dass sie im theoretisch-kognitiven Sinn recht haben können, sondern auch, dass sie im praktisch-moralischen Sinne im Recht sein können, also als diese Person an sich Rechte haben; sie fühlen sich beleidigt und sind erbost, wenn sie meinen, dass ihnen Unrecht geschieht, d. h. sie besitzen, wenn auch nicht selten nur in rudimentärer Form, eine Vorstellung von Gerechtigkeit und damit eine vage Vorstellung von Sollen. Und nicht selten sind Menschen auch über das Unrecht, das anderen geschieht, empört; auch andere Menschen sollen ihr Recht bekommen (jedenfalls solange es mich nichts kostet). Moralisches Denken herrscht noch, wenn auch vielfach degeneriert, im primitivsten Anspruchsdenken, z. B. in der ›moralischen‹ Empörung über die Schlechtigkeit der Welt. Kurz, es existiert – aus welchen Gründen auch immer – ein weitverbreitetes Rechtsempfinden oder Gerechtigkeitsbedürfnis, eine Art ethisches Bewusstsein. Ja es gibt sogar immer wieder – ein ferner, meist unreflektierter Nachklang der Idee eines Naturrechts – die Vorstellung sogenannter Menschenrechte, und diese, z. B. Freiheitsrechte, werden oft mit großer Emphase gefordert. (Oftmals mit mehr intuitiv als reflexiv herangezogenen Letztbegründungen.) Gleichsam im Gegenzug zur Entmythologisierung der überlieferten Normen werden seit dem Beginn der Säkularisierung von Recht und Moral – meist begründungsschwach – neue Normen behauptet. Selbst da, wo Pflichten weitgehend geleugnet werden, wo möglicherweise kaum noch Unrechtsbewusstsein vorhanden ist, werden faktisch und unwillkürlich noch Rechtsansprüche behauptet. Niemand möchte ungerecht behandelt werden, etwa grundlos bestraft werden. Wer aber Rechte zu haben glaubt, setzt unwillkürlich voraus, dass es auch Pflich63 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

ten gibt, nämlich vor allem die Pflicht des anderen bzw. der anderen, ihm sein Recht zu geben oder zu lassen, obwohl es eine absurde Annahme sein dürfte, dass ich allein Rechte hätte, alle anderen aber nur Pflichten. Wenn aber den Rechten Pflichten korrespondieren, dann habe ich selbst außer Rechten auch Pflichten, und dies wird im Grunde in allen Gerechtigkeitsforderungen immer schon anerkannt. Die meisten Menschen glauben immer wieder unwillkürlich, irgendwelche Rechte (Besitzrechte, Handlungsbefugnisse usw.) zu haben und ahnen wohl meist auch, dass sie dann auch Pflichten haben könnten. Die Universalität und Reziprozität des Sollens braucht nicht künstlich erschlossen zu werden, sie ist jedem, der Gerechtigkeit verlangt, prinzipiell evident. Und das Verlangen nach Gerechtigkeit ist, da es letztlich ein moralisches Recht einklagt, im Grunde schon ein moralisches Verlangen, das eo ipso so etwas wie moralische Forderungen erhebt und anerkennt. Damit behaupten wir faktisch, ganz abgesehen von allen Inhalten der jeweiligen Gesetze oder Gebote, eine unmittelbare und allgemeine Pflicht, gut und gerecht zu sein. Was nicht bedeutet, dass dies die primäre oder sogar einzige Erfahrung moralischen Sollens ist. Aber natürlich ist diese Erinnerung an unser unwillkürliches moralisches Empfinden, so borniert oder deformiert es sein mag, keine logische Begründung der Moral, sondern nur der Versuch, ein noch immer unbegriffenes Phänomen festzuhalten. Offenkundig existiert, trotz aller kritischen Reflexionen über den Grund der Existenz von rechtlichen und moralischen Normen, ja trotz deren Relativierung durch die Geschichte, immer noch ein verbreitetes Sollensbewusstsein, das irgendwie zum Menschsein zu gehören scheint. Unser Denken scheint, obwohl wir den Grund der Existenz wie der Geltung des sittlichen Sollens nicht kennen, aus der Kategorie des Sollens nicht herauszukommen. Wir denken immer wieder unwill64 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Moralische Theorie und moralische Praxis

kürlich moralisch und insofern, wenn auch inkonsequent, antinihilistisch – auch da, wo wir radikal relativistisch, nicht nur relativ relativistisch denken. Die Anerkennung unabdingbarer Normen ist eine verborgene Anerkennung eines absoluten Sinns oder Seins. Im Übrigen scheinen selbst radikale Relativismustheorien noch ein gewisses Moralpostulat zu implizieren. Die moderne Tendenz zu einem mehr oder weniger grundsätzlichen Werte- oder Normenrelativismus entspricht der globalen Tendenz zu sogenannten pluralistischen Gesellschaften. Überall stoßen verschiedene Kulturen, insbesondere verschiedene Religionen, aufeinander und scheinen sich gegenseitig zu relativieren. Wer nicht dogmatisch oder fundamentalistisch den totalen Konflikt will, muss daher auf Toleranz und damit auf eine gewisse Relativierung bzw. Selbstrelativierung setzen. Toleranz wird auf diese Weise selbst zu einem übergeordneten Wert, ohne dessen Anerkennung die Menschheit verloren ist – ein Gedanke, bei dem dann die Erhaltung der Menschheit wieder als oberster Wert fungiert (meist aufgrund einer unwillkürlichen Wertsetzung). So oder so wird an die Pflicht zur Toleranz wie an eine moralische Instanz appelliert. Der radikale Relativismus führt zum Selbstwiderspruch (und dieser in der Konsequenz auch zur Frage nach dem Grund des Gültigkeitsanspruchs der Logik). Der offenbare oder verborgene Atheismus der modernen Welt, sei er nun praktischer oder auch theoretischer Atheismus, hat als praxistheoretischer Nihilismus alle Gebote und Gesetze entmachtet. Die Vorstellung eines göttlichen Gesetzgebers scheint heute vielen nur noch absurd vorzukommen. Aber ist das Gebot zur Gerechtigkeit (worin diese immer bestehen mag) eine reine Erfindung des Menschen? Faktisch wird das Gebot, so oder so gut und gerecht zu sein, nicht selten auch von überzeugten Nihilisten anerkannt, 65 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

auch wenn sie dafür keinen letztgültigen Grund angeben können. Offensichtlich muss man sich einerseits über die Konsequenzen einer absoluten Leugnung eines dem Menschen vorgegebenen Sollens im Klaren sein, andererseits aber auch die Inkonsequenzen eines praktischen Nihilismus sehen. Ein Naturrecht scheint heute nicht mehr vertretbar zu sein, es wäre nicht ohne starken Glauben bzw. nicht ohne zweifelhafte metaphysische Voraussetzungen zu begründen; eine allgemein akzeptable transzendente Sollensbegründung ist nicht in Sicht. Aber eine sinnfeste Grundlegung der Ethik ohne Überschreitung der Grenzen der Empirie ist offenbar auch problematisch. Und warum sollte man die Forderung, gut oder gerecht zu sein, noch begründen, wenn man sie nicht längst akzeptiert hätte? Offensichtlich gehört es zum ›Wesen‹ des Menschen, irgendwie – antinihilistisch – ›richtig‹ handeln zu müssen und zu wollen. Offensichtlich hat der Mensch ein unausrottbares Gerechtigkeitsverlangen und in aller Regel auch ein Gefühl, irgendwie moralisch gefordert zu sein. Der praktische und praxistheoretische Nihilismus ist zwar unverkennbar verbreitet und vielleicht theoretisch nicht zu widerlegen, möglicherweise aber nicht nur aus praktischen Erwägungen in Frage zu stellen; er ist nicht konsistent und konsequent, weder als Theorie noch in der Praxis.

Erziehung als Sinntradition Ein eher unauffälliges Beispiel für gelebte Moral ist die überall stattfindende Erziehung. Erziehung ist eine komplexe Tätigkeit, sie hat viele Aspekte. So muß z. B. schon früh der menschliche Umgang mit den animalischen Funktionen gelehrt und gelernt werden; Reinlichkeit ist eines der ersten 66 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Erziehung als Sinntradition

Erziehungsziele, auch menschliches Essen und Trinken will gelernt sein. Fundamental für die Entwicklung des Menschen vom Naturwesen zum Kulturwesen ist jedoch der Erwerb der Sprache. Sie dient der Rezeption und der Akkumulation von Wissen, der Information und der Reflexion, dem Verständnis von Anordnungen und Handlungen, kurz, der Bildung des Menschen in allen möglichen Hinsichten. Mit ihrer Hilfe lernen wir nicht nur Techniken aller Art, sondern z. B. auch Benehmen und Moral. Mit ihrer Hilfe lernen wir, was gut oder schlecht bzw. gut oder böse ist, was wahr oder falsch, was richtig und wichtig bzw. unwichtig oder unwichtiger ist. Die Sprache, der Sinnträger par excellence, macht es möglich, Sinn jeder Art zu lehren und zu lernen. Erziehung ist nicht nur die reproduktive Aufzucht des Nachwuchses, nicht nur die Vermittlung von technischen Fertigkeiten oder sogenannten sozialen Kompetenzen. Sie lehrt mit Hilfe der Sprache denken und verstehen und damit das Ergreifen, Aneignen und Weiterentwickeln von Sinn. Dieses schöpferische Erarbeiten von Sinn ist allerdings nicht ohne Vorgaben möglich, d. h. nicht ohne Sinnangebote oder Sinngeschenke, also nur auf dem Boden einer bereits vorhandenen Sinnbasis, nämlich einer Kultur, die eine Sinnwelt ist. Sinnschöpfung geschieht nicht aus dem Nichts, sie basiert auf unvordenklicher Vorarbeit und immer schon vorausgesetzten und akzeptierten Sinnstrukturen. Erziehung ist daher wesentlich Vermittlung von bekanntem Sinn, genauer gesagt, von vorgegebenem Sinn, sie ist Sinntradition. Und das in jedem Sinne: vom Lehren der Sprache bis zur Einführung in eine Religion. Erziehen ist etwas anderes als das Programmieren von Computern und daher auch nur begrenzt didaktisch technisierbar, sie ist fundamental Zivilisierung oder Kultivierung. Alle Kultur aber ist ein Sinngebilde oder vielmehr ein Komplex von Sinngebilden. Kultur-entwickeln ist immer schon Sinn-entwickeln, auch Kampf ge67 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

gen Unsinn oder Mangel an Sinn, und zwar auf der Basis eines überlieferten Sinns. Erziehung ermöglicht den Fortbestand des überlieferten Sinns und erst auf diese Weise auch dessen Kritik und Modifikation, dessen Bestreitung oder Fortentwicklung. Sie ist sinnbezogen, auch wenn sie – aus irgendeiner anderen, dem Anspruch nach höheren Sinnperspektive – vielleicht nur Schwachsinn oder Unsinn vermittelt. Die Zeiten relativ kontinuierlicher Sinnüberlieferung auf der Basis relativ allgemein anerkannter Sinnstrukturen und damit auch die Zeiten relativ stabil strukturierter Sinnvermittlung durch Erziehung scheinen allerdings fast überall vorbei zu sein; eine allgemeine geistige Unsicherheit scheint sich weltweit auch in Fragen der Erziehung auszubreiten. Die Konjunktur der Pädagogik und Didaktik (vor allem seit der Aufklärung, aber auch bis in die Gegenwart) ist nur eine ihrer kompensatorischen Folgeerscheinungen. Zwar hat es immer wieder große geistige Umbrüche gegeben und damit neben Innovationen auch Sinnverluste aller Art, im Augenblick aber scheint sich – wie im Gegenzug zum technischen Fortschritt – weniger eine geistige Revolution zu entwickeln als vielmehr ein weltweiter Niedergang der Sinnbewahrung, also nicht zuletzt der Geistesbildung. Zwar gibt es nahezu überall immer noch geistige, z. T. sogar gewaltsame Sinnstabilisierungsversuche, aber das Scheitern der großen Sinnsysteme scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Überall brechen Sinnstrukturen weg, alte, religiös und ethnisch entwickelte und über lange Zeit gefestigte Kulturen degenerieren vielfach zu einer Art Folklore. Die neue, allen alten Gesellschaften und Kulturen übergestülpte internationale Pop-, Spaß- und Sportkultur, Jeans- und Coca-Cola-Kultur wird von global agierenden Konzernen, vor allem Medienkonzernen, à la mode produziert bzw. propagiert. Wenn irgendwo etwas Neues aufkommt, aus irgendwelchen Gründen auffällt 68 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Erziehung als Sinntradition

und Gefallen findet, wird es sofort vermarktet. Nicht die »Umwertung aller Werte«, sondern deren achtlose Abwertung scheint die Tendenz der Zeit zu sein; nicht die Ersetzung eines alten Glaubens durch einen neuen, sondern das Absinken in gleichgültige Glaubenslosigkeit. Kurz, das Zeitalter des Nihilismus, nämlich des offenbaren Nihilismus, scheint endgültig angebrochen. Und dies hat auch Folgen für die Möglichkeiten der Erziehung oder, allgemeiner gesprochen, für jede Art von Menschenführung. Was ist der Sinn der Erziehung, wenn nicht die Vermittlung von Sinn? Erziehung ist wesentlich Weitergabe anscheinend objektiv gegebenen Sinns, der dann subjektiv angeeignet werden muß. In einem Zeitalter grassierenden Sinnverlustes wie dem gegenwärtigen muß daher grundsätzlich gefragt werden, wie vernünftige Sinnvermittlung noch möglich ist. Wo findet der moderne Mensch noch nachhaltigen Sinn, richtungsweisende Ziele oder Zwecke, Halt oder Trost? Welchen Sinn, wieviel Sinn kann er, falls er das überhaupt möchte, selbst noch weitergeben? Die Religionen, die größten Sinnstiftungen zu allen Zeiten, scheinen heute – bei aller kollektiven und individuellen Akzeptanz, trotz vielfacher engagierter, nicht selten sogar hysterischer Frömmigkeit – überall an Bedeutung zu verlieren. Auch die Philosophie (als Versuch rationaler Sinnproduktion, zumindest in ihrer expliziten Form, wie immer nur von begrenzter Bedeutung) ist gegenwärtig kaum noch sinnproduktiv; sie ist heute vorrangig analytisch, kritisch, destruktiv. Sie ist sogar selbst nicht selten nihilistisch gestimmt, und zwar mehr noch als der alltägliche Zynismus. Auch Sinnsurrogate wie kollektiver Nationalismus und individueller Hedonismus scheinen sich allmählich als Sinnquellen zu erschöpfen. Wie also und wo könnte ein Erzieher heute noch welchen Sinn finden, der sich zu vermitteln lohnt, Sinn, den die Jugend offensichtlich braucht und sich vielleicht sogar anzueignen 69 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

willens ist? Zu welchem Sinn kann sich ein Erzieher heute noch mit guten Gründen bekennen, d. h. dafür einstehen. Nicht zufällig ist Sinn zu einem modernen Schlüsselwort geworden.

Sinn und Sinnsuche Der Ausdruck Sinn kann vielerlei bedeuten. Zunächst kann er ein Sinnorgan, z. B. den Tastsinn, dann aber auch ein seelisches oder geistiges Vermögen, z. B. Sinn für etwas, meinen, also einerseits die Fähigkeit, etwas sinnlich wahrzunehmen, andererseits auch die Fähigkeit, etwas geistig aufzunehmen und zu verknüpfen, um es dann im Sinn zu haben, darüber hinaus aber auch eine besondere seelische bzw. geistige Sensibilität, Sinn für etwas. Menschen können einen guten oder schlechten Geruchsinn, aber z. B. auch Sinn für Farben und Formen, Musik, Poesie usw. haben. Sinn ist ein subjektives menschliches Vermögen, und zwar offensichtlich auf animalischer Basis; denn auch Tiere haben Sinnesorgane. Allerdings kann Sinn auch den Gegenstand einer Erkenntnis oder des Verstehens, den Sinn einer Sache, den sozusagen objektiven Sinn von etwas, meinen, und auch dies wieder in vielerlei Hinsicht. Man kann z. B. nach der Bedeutung von Wörtern aber auch von Zeichen aller Art, nach dem Zweck einer Handlung aber auch z. B. irgendeines Gerätes und darüber hinaus sogar nach dem Sinn des Lebens bzw. unserer Welt oder gar nach dem Sinn des ganzen Seins fragen. Insofern könnte man zwischen einem semantischen, einem teleologischen und einem existentiellen bzw. metaphysischen Sinn unterscheiden. So oder so wird offensichtlich nach einem verstehbaren Sinn gefragt. Gesucht wird die Bedeutung von etwas, und zwar in der doppelten Bedeutung 70 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinn und Sinnsuche

von Bedeutung: Das, was etwas meint, und das, was Gewicht hat, nämlich das, was der Sache erst ihr richtiges Gewicht oder ihren Wert gibt. Sinn ist insofern anderes und mehr als Sein, aber er gibt dem, was ist, erst seine wahre Wirklichkeit. Der Mensch ist ein sinnbedürftiges, in vielen Hinsichten nach verstehbarem Sinn suchendes oder fragendes Lebewesen. Aber anscheinend ist es vor allem die selbst noch dunkle, vielleicht sogar sinnlose Frage nach dem Sinn des Lebens oder dem Sinn des ganzen Seins, die als beantwortungsbedürftig und als beunruhigend empfunden wird. Gesucht wird über allen erkennbaren semantischen und teleologischen Sinn hinaus irgendein höherer oder tieferer Sinn eines irgendwie gegebenen Ganzen, anscheinend Sinnganzen, der vorausgesetzte Sinn des ganzen Lebens bzw. der ganzen Welt oder sogar des ganzen Seins – wobei möglicherweise der bekannte alltägliche teleologische Sinn nur extrapoliert, d. h. der bedingte Zweck von diesem oder jenem paradoxerweise zum unbedingten Zweck oder Selbstzweck hochstilisiert wird. Jedenfalls wird immer wieder ein alles tragender Sinn, eine Art letzte Bedeutung oder ein letzter Zweck gesucht, eine Art letzte Begründung oder Rechtfertigung, die Halt oder Heil geben soll. Sinn wird als metaphysische Ordnung und existentielle Geborgenheit gesucht. Der letzte totale Sinn soll alles sozusagen ganz oder heil machen, nicht zuletzt das eigene Leben irgendwie ganz oder sinnvoll machen, der metaphysische Sinn soll in allem Elend noch Halt und Trost geben können. Er ist es, der, falls er existiert, alles, was ist, letztlich sinnvoll macht, wirklich sinnvoll macht. Fragt sich nur, worin der Sinn, genauer, der wahre Sinn besteht, um nicht zu sagen, (im Sinne einer Sinnforderung) bestehen soll. Bei dem Versuch einer Beantwortung der Frage nach dem Sinn, vor allem bei der existentiellen Frage nach dem 71 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

Sinn des Lebens, wird eine an sich banale Unterscheidung wichtig: die Unterscheidung zwischen objektiver Sinngegebenheit und subjektiver Sinnsetzung, zwischen einem von mir nur konstatierbaren und einem von mir produzierbaren Sinn, zwischen einem vorfindbaren bzw. gefundenen und einem erfundenen, irgendwie von mir oder auch anderen nur hergestellten Sinn. Jedenfalls kann man zumindest theoretisch zwischen einem an sich vorhandenen und insofern vorgefundenen, vorgegebenen und vielleicht feststellbaren oder auffindbaren Sinn und einem bloß von mir oder von anderen Menschen, Gesellschaften oder Individuen gestifteten oder gesetzten Sinn unterscheiden. Wobei der von irgendwelchen anderen Menschen gestiftete Sinn mir selbst schon wieder als ein objektiv oder intersubjektiv vorhandener und insofern vorgefundener Sinn erscheinen kann – im Unterschied zu dem von mir selbst selbstbewußt und absichtlich, also wissentlich und willentlich gesetzten Sinn, aber auch im Unterschied zu dem von mir unbewußt und unwillkürlich gesetzten Sinn. Zwar müßte man auch noch zwischen einem ›sinnvoll‹ gestifteten Sinn und einem bloß beliebig gesetzten Sinn unterscheiden (womit man allerdings schon wieder einen vorgegebenen Sinn voraussetzen würde). In jedem Fall aber wäre ein von Menschen produzierter Sinn etwas anderes als ein sozusagen vor- oder übermenschlicher Sinn – wenn es ihn denn gibt. Aber natürlich ist es, wenn schon kein objektiver oder sogar absoluter Sinn auffindbar ist, sinnvoll, selber möglichen Sinn zu setzen. Wobei die Charakterisierung einer Sinnsetzung als sinnvoll, wenn sie nicht selber eine sinnlose Sinnsetzung sein soll, als sinnvolle Sinnsetzung zu einem regressus ad infinitum führt oder die Existenz eines vorgegebenen Sinns voraussetzt. Wie dem auch im einzelnen sein mag, die Sinnfrage zielt offenkundig primär auf einen möglicherweise an sich vorgegebenen, nicht von Menschen bewerkstelligten Sinn, auf 72 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinn und Sinnsuche

eine Art Sinnstruktur, ein Sinngefüge oder einen objektiven Sinnzusammenhang, der an sich existiert. Zwar ist nicht auszuschließen, dass alles, was als Sinn erkannt werden kann, auch von Menschen produziert worden ist, sei es von mir selbst, und zwar bewußt oder unbewußt, sei es von anderen Menschen, die mir, durch bewußte oder unbewußte Sinnsetzung, sozusagen vorgearbeitet haben. Aber die heute gängige Überzeugung, dass es keinen Sinn an sich gebe, sondern nur einen von mir für mich oder von anderen für sich oder auch für mich geschaffenen Sinn, entspricht nicht der ursprünglichen Intention des nach Sinn suchenden Menschen. Sie ist das Resultat von Enttäuschungen und kann sogar zu verkrampften, verzweifelten, gleichsam trotzigen Sinnsetzungen führen. Scheinbar objektiver Sinn entpuppt sich nämlich immer wieder als subjektives Produkt, also wird aller Sinn zum bloß subjektiven Sinn erklärt und damit die freie, nämlich von allem objektiven Sinn freie Sinnsetzung als alleinige Wahrheit proklamiert. An sich ist alles sinnfrei oder sinnlos, wir selbst produzieren allen sogenannten Sinn, wir spinnen ihn wie die Spinnen ihre Netze aus uns selbst heraus – in einem Nichts von Sinn, im Nichts der Sinnlosigkeit von allem. Allerdings gibt es immer noch das Bedürfnis nach einem nicht von mir erstellten, sondern mir bereits entgegenkommenden, mich letztlich tragenden Sinn. Es gibt zahllose Sinnvermutungen und Sinnbehauptungen, und alle sind bestimmt von der Intention auf den wahren, diesem oder jenem oder allem zugrunde liegenden Sinn, der nur gefunden werden müßte. Aber Sinnannahmen sind nicht unfehlbar, im Gegenteil, sie sind nicht selten, eher meist, wenn nicht sogar immer, irrig. Der Mensch als ein Sinn suchendes und daher möglicherweise Sinn findendes Lebewesen ist – auch als sinnbereites – ein möglichen Sinn verfehlendes Lebewesen. Vielleicht geht unsere Sinnsuche sogar immer irgendwie in 73 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

die Irre, das Schlaraffenland der Wahrheit ist immer noch unendlich fern. Die Wahrheit bzw. der Wirklichkeitsgehalt der angeblichen Sinnerkenntnisse ist jedenfalls fraglich, denn sie widersprechen sich in einem fort. Daher ist der Kampf um Sinn uralt. Der Streit um die Deutung dessen, was ist, was sein könnte und was sein sollte, sowie darüber hinaus die Frage nach der Möglichkeit bzw. Wirklichkeit eines umfassenden und grundlegenden Sinns von allem und jedem ist in gewisser Weise der Hauptmotor der Geschichte, der Kampf um Sinn das Grundgeschehen der Kultur. Der Kampf um Sinn – das ist der Streit zwischen Deutung und Deutung oder auch zwischen sinnvollen und unsinnigen Annahmen, genauer gesagt, zwischen dem einen und dem anderen vermeintlichem Sinn gegen den einen vermeintlichem Unsinn durch den anderen möglicherweise wirklichen Unsinn, daher auch zwischen mehr oder weniger Sinn und mehr oder weniger Unsinn, zwischen Schwachsinn und Tiefsinn. Geschichte ist nicht nur Kampf ums Überleben, Streit um Macht und Besitz, sondern auch fortwährender Kampf zwischen Wahn-sinnigen (zwischen mehr oder weniger Wahnsinnigen). Woher das dunkle Bedürfnis nach Sinn, nämlich nach dem wahren Sinn? Wie kommt es zu der Frage nach einem letzten Warum und Wozu? Genau genommen schwimmen wir doch geradezu in Sinn. Das Erkennen kann überall und massenweise Sinn in der Welt entdecken, z. B. zweckhafte oder funktionale Strukturen, Bedeutungszusammenhänge aller Art, und auch das menschliche Handeln ist in aller Regel zielgerichtet und insofern sinnvoll. Aber offensichtlich bleibt in aller Sinnfülle, die uns tagtäglich unser Leben ermöglicht, irgendwie ein Ungenügen bestehen. Offensichtlich fehlt, ungeachtet aller möglichen Sinnzusammenhänge, die sich in der Familie und der Arbeit, der Wissenschaft und der Kunst usw. finden lassen, ein übergreifender, ein totaler 74 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnmitteilung und Sinnvermittlung

oder absoluter Sinn. Irgendwie scheint der Mensch, wenn er einen solchen metaphysischen Lebens- und Seinssinn nicht findet oder nicht geschenkt bekommt, anders als die Tiere grundsätzlich unzufrieden, ja unglücklich zu sein, eine Art geistiges Mängelwesen. Als das ›freigesetzte Tier‹ ist er im Grunde ein haltloses Tier, er braucht irgendeine übergeordnete geistige Orientierung, eine Art Sinnrahmen, eine Sinnvorgabe, zumindest eine Sinnhoffnung. Und diese potentielle, wenn auch meist kaschierte, oft allerdings auch schon irgendwie (wenn auch nur durch Sinnillusionen) gestillte Sinnbedürftigkeit kann unter bestimmten Umständen unerträgliche Ausmaße annehmen. Das Leben kann in eine Sinnkrise geraten, partielle Sinndefizite scheinen sich nicht selten zu einer prinzipiellen Bedrohung zu entwickeln. Plötzlich ist da die Angst vor der absoluten Sinnlosigkeit unseres Lebens und der Welt, in der wir leben.

Sinnmitteilung und Sinnvermittlung Sinn ist zwar nur zum geringsten Teil individuell entwickelter Sinn, aber er wird individuell, d. h. subjektiv erfahren. An sich ist Sinn, jedenfalls in der Regel, wenn schon nicht objektiv, so doch intersubjektiv gegeben. Wir leben in einer gemeinsamen Welt, einer Welt, nicht nur von kruden Tatsachen, sondern auch von verstehbaren Sinnzusammenhängen, die uns weitgehend gemeinsam gehören, an denen wir alle irgendwie partizipieren. Wir können eine gemeinsame Sprache sprechen und uns über gemeinsame und natürlich auch über unterschiedliche Handlungsziele verständigen; wir beziehen uns immer wieder auf einen irgendwie bereits vorgegebenen Sinn, über den wir immer wieder reden können und gegen den wir gegebenenfalls auch an75 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

denken können. Und natürlich können wir den Sinn, den wir selbst produziert haben, bzw. unsere subjektive Modifikation des intersubjektiv vorhandenen Sinns auch an andere weitergeben. Sinn ist mitteilbar, Kommunikation ist sogar wesentlich Sinnmitteilung. Sie ist in aller Regel keine bloße Dateninformation, sondern Mitteilung verstehbaren Sinns in einer verstehbaren, also sinnvollen Sprache. Jedes Sprechen behauptet als solches die Möglichkeit von Sinnkommunikation, setzt Sinn und Sinngefüge voraus. Bekanntlich unterliegt alle Kommunikation sowohl natürlichen wie geschichtlichen Beschränkungen, die nur teilweise aufhebbar sind. Überall, im privaten wie im öffentlichen Bereich, begrenzen äußerliche, vor allem soziale Bedingungen das freie Reden; überall begrenzen natürliche Inkompetenz, aber auch erworbene Spezialkenntnisse bzw. deren Mangel andererseits die Verständigung. Kommunikation ist in der Regel asymmetrisch, eigentlich nie absolut ausbalanciert. Sie kann auch deshalb nur in Ausnahmefällen voll gelingen. Und natürlich gibt es auch verschiedene Arten oder Möglichkeiten der Sinnmitteilung, z. B. die dialogische und die monologische Sinnmitteilung. Außerdem kann der mitgeteilte Sinn als subjektiv erarbeiteter oder als objektiv vorgegebener Sinn verstanden werden: Jemand kann mir seine individuelle, mehr oder weniger begründete Meinung oder aber eine mehr oder weniger allgemein vorhandene und akzeptierte Erkenntnis mitteilen, d. h. weitergeben. So ist z. B. die Lehre, gerade wenn sie nicht zur Indoktrination entartet, der Versuch, Sinn weiterzugeben, also von einem höheren Standpunkt aus Sinn mitzuteilen, und zwar einen nicht nur dem Adressaten der Mitteilung sondern auch dem Mitteilenden selbst vorgeordneten Sinn. Insofern beruht eine solche Sinnmitteilung auf einem doppelten Sinngefälle, ein Gefälle einerseits zwischen dem objektiv oder intersubjektiv vorgegebenen Sinn und dem subjektiven Teilhaber 76 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnmitteilung und Sinnvermittlung

dieses Sinns, andererseits zwischen dem, der diesen Sinn mitteilen will, und dem, der diese Sinnmitteilung empfängt, den mitgeteilten Sinn also normalerweise nicht kennt. Man könnte diese spezielle Art von Sinnmitteilung, die sowohl einen vorgegebenen Sinn als auch eine Art Besserwissen voraussetzt, Sinnvermittlung nennen. Auch Erziehung ist, da sie wesentlich auf Kommunikation basiert oder vielmehr selbst wesentlich Kommunikation ist, Sinnmitteilung. Sie ist, da sie weitgehend bereits vorhandene Sinnstrukturen, also sozusagen vor- bzw. übergeordneten Sinn, weitergibt, und zwar vom Standpunkt des Besserwissenden, Sinnvermittlung durch Wissensvermittlung, Orientierungshilfe durch Sinnvermittlung. Und diese Sinnkommunikation der Erziehung ist als solche, grundsätzlich oder natürlicherweise, asymmetrisch. Sie ist, auch wenn sie z. B. als Unterrichtsgespräch organisiert wird, als solche kein Dialog auf gleicher Augenhöhe, jedenfalls nur selten. Erziehung ist keine Mitteilung (von was auch immer) zwischen gleichgerüsteten Gesprächspartnern, sie ist eine sich ›herablassende‹ Kommunikation, Sinnmitteilung, die sich selbst überflüssig machen will und soll. Die Aufgabe der Erziehung resultiert normalerweise aus einer Art von naturgegebenem Kulturgefälle, d. h. zu jeder Erziehung gehört eine gewisse Über- und folglich auch eine gewisse Unterlegenheit, sonst bräuchte der Erzieher seinem ›Zögling‹ nichts ›beizubringen‹. Erziehung (educatio) ist schon dem bloßen Worte nach ein Ziehen oder ›Führen‹, sie ist ein Heraus- oder Höherziehen, und zwar in Absicht auf Verbesserung, sie ist, wenn man so will, eine positive oder meliorative Transformation der menschlichen Existenz. Erziehung ist, wenn sie überhaupt gewollt wird, immer auch Wege weisend, und zwar – der Absicht nach – richtige Wege weisend (sogar als scheinbar bloße ›Unterweisung‹ oder ›Unterricht‹). Der Verzicht auf ›Führung‹, das konsequente 77 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

bloße ›Wachsenlassen‹, das sogar auf die Verhinderung von Schaden verzichten würde, wäre ein Verzicht auf Erziehung (und als solcher, weil möglicherweise sogar ruinös, letztlich unverantwortlich). Und so sehr auch die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung Ziel aller Erziehung sein mag, auch Selbstbestimmung ist nicht von Anfang an in irgendeinem vernünftigen Sinne des Wortes vorhanden, sonst wäre Erziehung ebenfalls überflüssig. Zur Erziehung gehört, zumindest zunächst, wesentlich Fremdbestimmung. Genauer: Erziehung vollzieht sich als Wandel der Dialektik von Fremd- und Selbstbestimmung in Richtung auf Fortschritte der Selbstbestimmung. Und da beim Neugeborenen keine uranfängliche Sinnfülle und natürlich auch keine Fähigkeit zu einer gleichberechtigten diskursiven Sinnsuche und Sinnfindung vorausgesetzt werden kann, ist – zumindest zunächst – autoritative Sinnvermittlung, Sinnsetzung oder Sinngabe, in gewisser Weise Seelsorge, nötig. Erziehung ist nicht nur aber doch wesentlich Sinnvermittlung. Sie ist eigentlich ein Sinngeschenk. Es fragt sich allerdings, und das ist vor allem im Zeitalter des Nihilismus die entscheidende Frage, wie es um das Sinnmonopol oder die Sinnkompetenz der Erzieher eigentlich steht (aber natürlich auch, wie es heute um die Bereitschaft zur Sinnakzeptanz des Heranwachsenden steht). Über welche Art von Sinn (im weitesten Sinne des Wortes) verfügt der Erzieher, woher bezieht er selbst seinen Sinn? Wie gut oder solide sind seine Sinnbehauptungen und vor allem seine Sinnsetzungen für andere, anscheinend Sinnbedürftige? Wie gut sind seine Sinnvermutungen begründet bzw. begründbar, d. h. mit welchem Recht kann er irgendeinen Sinnbesitz vorgeben, irgendein Mehr an Sinn für sich in Anspruch nehmen? Wo der Mensch, wie anscheinend bisher meist, in einigermaßen gesicherten Traditionen lebt, brauchen sich solche Fragen nicht in voller Schärfe zu stellen. Heute könn78 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnbehauptung im Nihilismus

ten sie jedoch vorrangig sein. Der allgemeine Orientierungsverlust macht auch vor der immer neuen Aufgabe der Erziehung (oder allgemeiner: der Menschenführung) nicht halt. Mit welchem Recht tritt der Erzieher noch als Sinnautorität und Sinnspender auf?

Sinnbehauptung im Nihilismus Erziehung als Sinnvermittlung hatte immer ihre Probleme. Wieviel Sinn glaubt ein Erzieher zu erkennen, also besitzen bzw. setzen zu können? Welchen Sinn glaubt er weitergeben und dem zumuten zu können, den er erziehen will oder muß? Außerdem geschah das Erziehen seitens der Eltern und Lehrer, ganz abgesehen von dem Widerstand der oftmals erziehungsresistenten Zöglinge, nicht selten im Kampf mit den ›erzieherischen‹ Einflüssen der Umwelt, also der Gesellschaft, daher auch nicht selten im Kampf mit den Einflüssen des Staates und der Kirche. In der modernen Gesellschaft sind es vor allem die Medien, die das Bewußtsein der Heranwachsenden prägen, die Möglichkeiten der modernen Technik bestimmen das individuelle Bewußtsein nahezu ununterbrochen mit globalen Inhalten. Die Medien sind allerdings, wenn sie nicht primär einer weltanschaulichen Mission oder einer sonstigen Politik verpflichtet sind, weitgehend nur ein Spiegel der Gesellschaft, oft allerdings auch ein Zerrspiegel und in vielen Hinsichten ein Vergrößerungsspiegel. Die moderne Gesellschaft aber scheint, auch wenn sie sich immer wieder hochmoralisch gibt, weitgehend orientierungs- oder bindungslos zu sein. Ein meist unausgesprochener, nicht selten hedonistisch zynischer, im Grunde eher hilfloser Nihilismus scheint der Grundzug der modernen Mentalität zu sein und sich überall, wenn auch immer wie79 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

der moralisch kaschiert, gerade in den Medien, als letzte Wahrheit anzubieten. Der alle und alles durchdringende Nihilismus, die moderne nihilistische Sozialisation, dürfte daher heute das dringendste Problem denkender Menschen sein, und wenn Erziehung als Sinnvermittlung verstanden wird, auch das heute dringendste Problem der Erziehung (wie im Prinzip jeder Menschenführung). Die alten Sinnmonopole und Sinnkompetenzen sind jedenfalls weitgehend fraglich geworden. Nun gibt es wie gezeigt verschiedene Arten von Nihilismus, grob gesprochen aber vor allem zwei, die sich nach dem Grad der Reflexion oder der Selbstbegründung unterscheiden lassen. Da ist zum einen der mehr oder weniger unreflektierte, sozusagen praktische Nihilismus, in dem sich der Mensch soweit wie möglich auf animalische bzw. infantile (oft modebedingte) Vergnügungen reduziert: Flucht vor der Sinnlosigkeit in die Besinnungslosigkeit. Und da ist zum anderen der mehr oder weniger reflektierte, sozusagen theoretische, auch praxistheoretische Nihilismus (der allerdings jederzeit auch zum praktischen Nihilismus werden kann), der vor allem die sogenannten Intellektuellen an allem Sinn zweifeln und verzweifeln läßt. Vor die Aufgabe der Erziehung gestellt, dürften beide Mentalitäten jeweils anders dastehen und verschieden reagieren. Offensichtlich sind, da, soweit überhaupt Erziehung gewollt wird, auch Sinnvermittlung geschieht, beide verschieden gefordert. Der meist sehr primitive (primär) praktische Nihilismus, der als sogenannter Hedonismus seit eh und je allgegenwärtig ist (nicht nur in den sogenannten bildungsfernen Schichten), beruht zwar in der Regel auf Schwachsinn, impliziert aber als solcher immer noch eine Sinnbehauptung. Das einzig Wahre ist die Lust, und diese ist daher zu erstreben (was allerdings in dieser Formulierung schon ein über die momentane Sinnerfahrung hinausweisender Imperativ wäre). 80 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnbehauptung im Nihilismus

Der noch nicht völlig abgestumpfte Hedonist könnte als Pädagoge konsequenterweise, wenn überhaupt, d. h. wenn ihm das Lehren Lust bereiten sollte, nur Hedonismus lehren. Aber auch wer, mehr oder weniger unreflektiert, auf diese Weise jede andere Art von (›höherem‹) Sinn verneint, vermittelt de facto, falls er sich überhaupt um den (anscheinend sinnlos erzeugten) Nachwuchs kümmert, noch Sinn. Er vermittelt nicht nur – verbal oder exemplarisch – einen letztlich auf Lust reduzierten Sinn bzw. den Schwachsinn der eigenen Mentalität als Sinn, er vermittelt auch, schon indem er das Sprechen lehrt, einen ersten, offenkundig sehr substantiellen Sinn. Und er vermittelt, indem er alle anderen Sinnangebote bzw. Sinnansprüche als widersinnig bestreitet, seinen Eigensinn als allgemeinen Grundsinn. Der Hedonismus vermittelt zumindest einen zynischen Sinn. Auch in dieser Art von Nihilismus gibt es also, sozusagen von Natur aus, eine Art von Kulturgefälle, eine relativ primitive Sinnideologie, die sich als die wahre mitzuteilen versucht. Jede Erklärung von irgendetwas ist (rein formal) Weitergabe von Sinn, wenn auch (inhaltlich betrachtet) oft nur von sozusagen sinnlosem Sinn (Unsinn oder Pseudosinn). Auch der praxistheoretische Nihilismus, der z. B. einen totalen Werterelativismus behauptet und als praktischer Nihilismus im weiteren Sinne des Wortes den praktischen Nihilismus im engeren Sinne zu begleiten pflegt (wenn dieser nicht total stumpfsinnig ist), ist noch ein Sinngebilde, das argumentativ weitergegeben werden kann und zu dessen Begründung schon einige, mehr als lustfundierte Voraussetzungen gemacht werden müssen, insofern also auch anderer Sinn anerkannt wird. Allerdings können gelehrter und gelebter Sinn manchmal beträchtlich differieren. Das vergleichsweise neue und zugleich weiterreichende Problem, natürlich nicht nur im Hinblick auf die Erziehung, ist der (primär) theoretische, mehr oder weniger reflektierte 81 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

moderne Nihilismus, der, meist mehr oder weniger verzweifelt, allen Sinn des Seins leugnet und daher auch jeden Sinn des Lebens. Dieser metaphysische oder existentielle Nihilismus ist das latente Problem der heutigen Erziehung – gerade nachdenkliche Eltern und Lehrer wissen heute anscheinend oft nicht mehr, was sie den Kindern auf den Weg geben sollen. Wie kann eine Erziehung mit leeren Händen funktionieren? Hier scheinen dem dezidierten Nihilisten alle Möglichkeiten verbaut zu sein. Kann und soll man etwa Nihilismus lehren? Wenn alles im Grunde nichts ist (vergeblich, wertlos, hoffnungslos, trostlos usw., kurz: sinnlos) – wie kann man dann noch, Sinn mitteilend, kommunizieren, wie kann man dann noch, Sinn vermittelnd, erziehen? Soll sich die Erziehung, falls sie überhaupt noch aus irgendwelchen Gründen zur Aufgabe wird, darauf reduzieren, zu lehren, wie man alles in Frage stellt, sich also auf die Anleitung zum totalen Relativismus oder Skeptizismus reduzieren? (Wozu allerdings erst einmal das Fragwürdige selbst vermittelt werden müßte.) Und soll man im Übrigen alles der zunächst noch hilflosen Selbstbestimmung und der weitgehend orientierungslosen Sinnsuche des jeweiligen neuen Lebens überlassen? (Falls überhaupt noch irgendetwas gewollt oder gesollt wird.) Kurz, kann man Kindern sinnvoll die absolute Sinnlosigkeit beibringen? Kann man überhaupt ohne Selbstwiderspruch Nihilismus lehren? Da auch Selbstbestimmung und Sinnsuche sich erst noch entwickeln müssen, muß der verzweifelte Nihilist, falls er überhaupt noch – im Grunde inkonsequenterweise – in der Lage ist, Verantwortung zu fühlen und zu übernehmen, also zu erziehen oder zu führen, sich irgendwie dem Problem der Sinnvermittlung, wenn auch nur dem Lehren der Sinnfrage bzw. Sinnsuche, stellen. Womit er übrigens, ganz abgesehen von den ersten Hilfestellungen und Weisungen auf dem Weg des Menschen vom Naturwesen zum Kul82 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnbehauptung im Nihilismus

turwesen, bereits einen ersten Sinn setzt oder vielmehr akzeptiert, behauptet oder vielmehr an-nimmt (in der doppelten Bedeutung des Wortes). Erziehung ist, wo sie noch ernsthaft gewollt wird, als Sinnvermittlung im Grunde bewußt oder unbewußt Kampf gegen den Nihilismus, den Nihilismus der Gesellschaft, des Zöglings und manchmal auch gegen den eigenen. Rein formal ist jede Erziehung, auch die Erziehung zum Nihilismus, eine Negation des Nihilismus. Wo finden sich im reflektierten Nihilismus, wenn sie denn noch gesucht werden, Sinnreste, die es wert sind, mitgeteilt oder vermittelt zu werden? Das eigentliche Problem der pädagogischen Sinnvermittlung im Nihilismus ist die Besinnung auf die immer noch möglichen inhaltlichen Sinnbehauptungen, über die in der Regel allerdings keine allgemeinen Aussagen möglich sind. Hier ist ein gewisser (möglichst selbstkritischer) Dogmatismus anscheinend unumgänglich, d. h. zumindest provisorische Sinnbehauptungen sind unvermeidlich. Sinnvermutungen müssen in Form von Sinnbehauptungen gewagt werden. Da Erziehung logischerweise nicht darin bestehen kann, von Anfang an, d. h. bevor irgendeine bereits vermittelte Substanz da ist, nur permanente oder prinzipielle Kritik zu lehren, ist es unvermeidlich, zunächst die eigenen Sinnvermutungen relativ dogmatisch als Wahrheiten zu vermitteln, zugleich allerdings Raum für Fragen zu lassen, also Hilfestellungen für die Entwicklung der jeweils eigenen Sinnsuche zu geben. Und dazu gehört dann auch, mögliche sinnvolle Kritik zu lehren, also eine konkrete, zunächst nur punktuelle und approximative Kritik, die sich dann eventuell zu einer generellen Kritik, z. B. an dubiosen weltanschaulichen Heilsversprechen, entwickeln kann (ohne deshalb willkürliches Herumkritisieren werden zu müssen). Ohne die Voraussetzung, d. h. Vermutung, von Sinn, also ohne Anspruch auf Sinnerkenntnis, ist keine Erziehung oder Menschenführung (Aufklärung, 83 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

Seelsorge, Politik usw.) möglich. Auch ein radikaler Nihilist, der glaubt, dass es keinerlei substantiellen Sinn gebe, und der daher meint, jedem jeden Glauben an irgendeinen Sinn nehmen zu müssen, müßte selbst noch an den Sinn seiner Zerstörungen seiner der Absicht nach radikalen Wahrheitssuche glauben: Wahrheitserkenntnis ist sinnvoll und soll, wenn möglich, sein. In der Tat, Aufklärung, also auch Kritik, ist zweifellos immer wieder nötig. Vielleicht muß man jedoch den meisten Menschen, solange sie damit nicht gemeingefährlich werden, ihren Glauben an irgendeinen Schwachsinn, ihren Aberglauben, lassen (zumal die Wahrheit der eigenen angeblichen Erkenntnis bzw. die Vernünftigkeit des eigenen Glaubens auch immer noch fraglich ist). Missionare des Nihilismus dürften jedenfalls leicht komische Figuren abgeben. Im Übrigen setzt jede Kritik als solche zunächst irgendwelche Maßstäbe, also vorläufig nicht in Frage gestellte (zumindest vermeintliche) Sinnerkenntnisse, voraus. Irgendetwas hält jeder Nihilist noch für sinnvoll. Faktisch gibt es für jeden, der lebt und noch weiterleben will, genug Sinn – auch wenn es manchmal nur Strohhalme sind, nach denen der Sinndurstige wie ein Ertrinkender greift. Sonst würde der Mensch sofort zugrunde gehen. Selbst die Aussage, dass alles letztlich sinnlos sei, macht als solche noch einen (widersprüchlichen) Sinnanspruch; denn auch die Aussage, dass weder Sinn noch Wahrheit möglich seien, behauptet als solche, indem sie einen unvermeidlichen Wahrheitsanspruch macht, noch Sinn, wobei unverkennbar ist, dass ein mit Wahrheitsanspruch propagierter Nihilismus ein Widerspruch in sich ist. Ein (tendenzieller) Nihilist kann daher eigentlich nur ein (tendenziell nihilistischer) Agnostiker sein. Und das müßte ihn in jeder Hinsicht vorsichtig machen, allen Sinn zu verneinen, aber ihm auch Mut machen, möglichen Sinn, d. h. von ihm hier und jetzt für wahrschein84 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Sinnbehauptung im Nihilismus

lich gehaltenen Sinn, festzuhalten und eventuell zu vermitteln. Auch ein (tendenzieller) Nihilist, der (tendenziell) an allem zweifelt und verzweifelt (genauer gesagt: der glaubt, an allem zweifeln und verzweifeln zu müssen) kann sich seiner Sache, die er sozusagen auf nichts gestellt hat, eigentlich gar nicht so sicher sein, um sie propagieren zu können. Allerdings bleibt – über alle individuelle Vermutung und Vermittlung von Sinn bzw. Sinnlosigkeit hinaus – das in der modernen Welt anstehende allgemeine Problem der Konstitution der Gesellschaft als Sinngemeinschaft und damit die Frage nach der Möglichkeit der Weitergabe bzw. des Verfalls von geschichtlich-gesellschaftlicher Kultur, ja der Erhaltung der Menschheit als einer möglichen Vernunftgemeinschaft. Offensichtlich bedarf jede Gesellschaft bzw. Gemeinschaft zu ihrem Bestehen zumindest eines Minimums an gemeinsamem Sinnglauben, und sei dieser auch noch so illusionär. Wie aber ist die Mitteilung eines tragfähigen Sinns in der modernen Gesellschaft und durch die moderne Gesellschaft möglich (über die private Kommunikation im kleinsten Kreis hinaus)? Anders ausgedrückt: Wie ist in einer quasi-, z. T. noch krypto-nihilistischen Gesellschaft nicht nur eine sinnvolle Erziehung sondern auch eine weitergehende allgemeine vernünftige Menschenführung möglich? Denn offensichtlich steht schon die Individualpädagogik vor nahezu unlösbaren Problemen. Jeder private Erziehungsversuch konkurriert mit der unübersehbaren Erziehung durch die Gesellschaft, wir alle sind gegen die permanente, direkte und indirekte Indoktrination seitens der Mitwelt und vor allem durch die Medien nahezu machtlos. Zwar war Erziehung fast immer eine Sisyphos-Arbeit. Dennoch stellt sich (heute mehr denn je) die vermutlich vorerst unbeantwortbare Frage, wieweit der Versuch der Vermittlung verantwortbaren Sinns in der modernen Gesellschaft und damit die Konstruktion und Tradition gemeinsamer Sinnvorstel85 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

III. Nihilismus und Sinnsetzung

lungen noch erfolgreich sein kann. Ganz abgesehen davon, dass immer ungewiss ist, wieviel von einer Mitteilung beim anderen ankommt, scheint die Bereitschaft zu irgendeiner Sinnakzeptanz (Sinn in einem emphatischen Sinn, versteht sich) in der breiten Masse mehr denn je wie nicht vorhanden zu sein, der ehemals offensichtlich große Schatz mitteilbaren Sinns mehr und mehr verloren zu gehen. Erziehung im Zeitalter des Nihilismus hat es daher mit einem doppelten Problem zu tun, dem eigenen Nihilismus und dem Nihilismus der Gesellschaft. Dem Nihilismus der Gesellschaft aber kann sich nur stellen, wer sich zuvor dem eigenen Nihilismus bzw. der Drohung des eigenen Nihilismus gestellt hat. Dann könnten vielleicht durch (der Absicht nach) lebensnahe Beobachtungen und gründliche Überlegungen mögliche metanihilistische Positionen sichtbar werden, zumindest relative und provisorische.

86 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

Der Nihilismus ist ein Massenphänomen geworden. Zwar hat es immer schon den praktischen (mehr oder weniger unreflektierten) Nihilismus des quasi-sinnlosen Dahinlebens gegeben. Zwar hat es auch schon früh den theoretischen (mehr oder weniger reflektierten) Nihilismus des Zweifels und der Verzweiflung an einem letzten Sinn alles Seins gegeben. Und natürlich auch das Wechselspiel beider, vor allem den oberflächlichen theoretischen Nihilismus als Alibi eines im Grunde gedankenlosen praktischen Nihilismus. Inzwischen aber hat der Nihilismus, und zwar der prinzipiell reflektierende Nihilismus, zunehmend eine neue Qualität und Aktualität gewonnen – der allgemeine Sinnverfall ist kaum noch zu übersehen. Der ursprünglich eher diffuse Nihilismus ist zum mehr oder weniger offenkundigen und mehr oder weniger dezidierten Nihilismus geworden, und er ist erkennbar populär geworden. Auch wenn es einen gewissen Nihilismus wohl immer gegeben hat, der globalisierte Nihilismus stellt eine neue (geistige, aber u. a. auch politische) Herausforderung dar. Ausgerechnet in den Zentren der europäischen Kultur, die sich in ihrer bisherigen Geschichte an Versuchen der Sinnstiftung geradezu überboten haben, daher auch immer wieder blutigen Streit um Sinnkonflikte oder vielmehr um widersprüchliche Behauptungen von Sinn angezettelt und ausgetragen haben, entwickelte sich auch der Zweifel an einer fundamentalen Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit. Hier begann, nach mancherlei Versuchen der defensiven wie aggressiven Rationalisierung der Religion, eine Zersetzung des 87 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

überlieferten Glaubens und damit eine ganz neuartige Verweltlichung, ein Transzendenzverlust, der sich nun über den ganzen Globus auszubreiten beginnt und den Menschen überall nur Bindungslosigkeit und Haltlosigkeit, letztlich Hoffnungslosigkeit beschert. Im modernen Nihilismus wächst mit der Entmythisierung der Welt auch die innere Leere des Menschen, die im Grunde für das Ich als solches konstitutiv ist. Sie wird zu einer realen Leere, die auch real erfahren wird und die nun als gefühlte faktische Leere des Lebens das Leben selbst bedroht. Damit wächst auch die Gefahr eines aktiven Negativismus, eines nihilistischen Willens zur Vernichtung seiner selbst oder auch anderer und womöglich der ganzen Welt. Der Nihilismus ist ein Menschheitsproblem geworden, auch wenn das noch nicht allgemein bewusst ist. Der verzweifelte Kampf gegen die Bedrohung des Lebens durch die Angst vor dem Nichts ist an sich ein Grundzug der Geschichte, vor allem der Kultur- oder Geistesgeschichte, und zwar in doppelter Hinsicht. So finden sich überall tendenziell dogmatische Sinnsetzungen aller Art, sogar nachhaltige Sinnstiftungen und natürlich auch Kompensationen bei Sinnverlust. Und zugleich gibt es immer wieder entsprechende Warnungen vor einreißender Glaubenslosigkeit, Bindungslosigkeit, Haltlosigkeit usw. oder sogar den Verdacht auf zutiefst negative Einstellungen, z. B. schlechten Willen oder sogar abgrundtiefe Sündhaftigkeit. Nicht nur die Vertreter der Religionen haben daher immer wieder ihren eigenen Glauben als den einzig festen Halt in der allgemeinen Haltlosigkeit gepredigt, sozusagen als einzige Sinninsel im Strudel der Sinnlosigkeit, auch Politiker (sowohl idealistische Prinzipienpolitiker als auch ehrgeizige Machtpolitiker) haben ihre ambitionierten Strategien immer wieder als Barrieren gegen das inkriminierte geistig-moralische Chaos angepriesen. Offensichtlich ist immer wieder 88 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Nihilismus und Sinnlosigkeit

die Existenz des Nihilismus – auch ante verbum – geahnt worden, und zugleich die Möglichkeit der Überwindung des Nihilismus und das jeweilige Sinnangebot als einzige geistige und politische oder physische Lebenschance behauptet worden. Dabei ist der Nihilismus immer wieder auch als rational unhaltbar verdammt worden. Allerdings scheinen die landläufigen logischen Überwindungen des Nihilismus seitens der selbsternannten Antinihilisten bisher kaum einen Nihilisten überzeugen zu können, der Aufweis eines Selbstwiderspruchs scheint nicht eo ipso zur Selbstüberwindung des Nihilismus zu führen. Dennoch sollte die Aufdeckung der Inkonsequenzen und Inkonsistenzen des Nihilismus nicht einfach beiseitegeschoben werden. Welche Möglichkeiten gibt es, dem Sog der Sinnlosigkeit zu widerstehen?

Nihilismus und Sinnlosigkeit Es hat immer genug Menschen gegeben, die für sich oder auch für andere einen mehr oder weniger plausiblen Sinn gefunden haben bzw. gefunden zu haben glauben, aber natürlich immer auch Menschen, die erkennbar irgendeinen Unsinn geglaubt, irgendeine fromme oder auch verlogene Sinnerzählung für bare Münze genommen haben. Und natürlich hat es auch immer sehr viele Menschen gegeben, die sich um die Sinnfrage so gut wie gar nicht gekümmert haben – und insofern sinnlos dahingelebt haben, sei es, weil sie angeblich, durch Arbeit, Lust oder Leiden ausgelastet, dafür keine Zeit hatten, sei es, weil sie die Sinnfrage für sinnlos hielten oder immer schon mit irgendeinem Schwachsinn zufrieden waren. Aber es hat sicher auch immer viele Menschen gegeben, die an Sinnmangel gelitten haben und darüber sogar verzweifelt waren. Heute scheint sich die gefühlte 89 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

Sinnleere sogar gefährlich auszudehnen: Vielleicht ist alles letztlich ohne Sinn, vielleicht ist aller bisher angeblich entdeckter Sinn nur ein irrtümlicher Sinn, vielleicht nur ein von uns hineingelegter Sinn. Offensichtlich ist es die Erfahrung von Sinnillusionen oder auch die bloße Ahnung möglicher Sinnlosigkeit, die Drohung der Zwecklosigkeit oder Vergeblichkeit von diesem oder jenem (und dann, verallgemeinert: von allem und jedem), die der Frage nach dem metaphysischen Sinn ihre Schärfe gibt: Wozu soll dieses oder jenes, wozu soll das Ganze gut sein? Was soll das Ganze? Unwillkürlich wird in der Frage nach einem höheren oder tieferen, einem letzten oder metaphysischen Sinn eine Art höherer Zweck oder eine irgendwie tiefere Bedeutung, ein irgendwie verstehbarer Grund von allem gesucht. Ein im Ganzen sinnfreies Sein wird als ein sinnloses, eigentlich unsinniges oder sinnwidriges, als ein absurdes Sein empfunden. Sinn soll sein. (Und die Sollensforderung ist selbst schon ein Sinnanspruch.) Woher kommt diese moderne, im Grunde aber vielleicht uralte Angst vor der Sinnlosigkeit? Haben sich die Menschen nicht immer schon vor der Sinnlosigkeit wie vor einer Drohung des Nichts gefürchtet? Wenn nicht, woher dann das moderne Gefühl von Sinnleere? Selbst wenn es sich bei dem Eindruck einer allgegenwärtigen Sinnkrise um eine Täuschung handeln sollte, so müsste auch diese ihre Ursachen haben. Nimmt man nämlich den Ausdruck Sinn im weitesten Sinn des Wortes, dann muss man sagen: Wir leben in einer Welt voller Sinn, genauer gesagt, in vielen Sinnwelten. Wir handeln fast immer irgendwie sinnvoll, zumindest vermeintlich sinnvoll, und wir erfahren überall und immer verstehbaren Sinn. Dennoch scheint in der modernen Welt die Frage nach dem Sinn im Ganzen – wieder einmal? – mit voller Schärfe aufzubrechen, und zwar offenkundiger und großflächiger als je zuvor. Woher also der verbreitete 90 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Nihilismus und Sinnlosigkeit

Sinnlosigkeitsverdacht? Man könnte zweifellos viele individuelle oder auch generelle Gründe nennen, zwei Arten von Gründen scheinen jedoch in Zeiten des Sinnverfalls zu dominieren und den möglicherweise bereits vorhandenen Sinnverlust zu verschärfen. Einerseits ist es der durch allgemeine Erkenntnisfortschritte sichtbar gewordene Mangel an Solidität oder Substanz in dem, was als sinnvoll, Sinn besitzend oder Sinn stiftend, bisher ausgegeben wurde. Andererseits ist es gerade die Masse dessen, was sich als komplettes Sinnpaket, gültigen Sinn versprechend, darbietet, wodurch sich dann die einzelnen Sinnbehauptungen gegenseitig relativieren. Die Quantität der Sinnversprechen. Die Menge dessen, was als sinnvoll gut oder richtig, wahr oder wertvoll behauptet und angeboten wird, ist heute unübersehbar. Fast alle kulturellen Horizonte sind heutzutage aufgebrochen, überall stürzen fremde geistige Welten auf die Menschen ein. Und genau dadurch wird die Sinnsuche, wenn sie erst einmal durch irgendeinen Sinnverlust angefangen hat, kompliziert, um nicht zu sagen, aussichtslos. Wir ersticken in Sinnversprechen aller Art. Es gibt nicht nur eine Religion, sondern viele; es gibt nicht nur eine Philosophie, sondern viele; es gibt nicht nur eine Ideologie, sondern viele. Die moderne Sinnsuche gleicht oftmals einer Irrfahrt, auf der orientierungslose Menschen immer wieder vergeblich glauben, einen sicheren Hafen gefunden zu haben, und nicht selten ist das Ende eine verzweifelte, phantastische oder sogar fanatische Dogmatik. Oder aber die bohrende Frage: Wie oder wo finde ich den wahren Sinn? Und dann nicht selten die verzweifelte Frage: Gibt es überhaupt einen wahren Sinn? Die Qualität der Sinnversprechen. Die Menge dessen, was in der Welt als sinnvoll, gut oder richtig, wahr oder wertvoll behauptet wird, ist heute unübersehbar. Allerdings ist auch unverkennbar, dass vieles von dem, was sich als 91 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

sinnvoll darstellen möchte, in Wirklichkeit sinnlos, ohne solide Substanz ist, keinen wirklichen Halt bietet. Die zahllosen Sinnangebote sind äußerst divergent und auch sozusagen qualitativ verschieden. Arbeit und Vergnügen versprechen andere Arten von sinnvoller Befriedigung als Religion und Kunst, Philosophie und Wissenschaft, oder auch Familie und Politik. Und unter allem vorgeblich Sinnvollen kann sich viel erkennbarer Schwachsinn und Unsinn verbergen. Es gibt kaum etwas, was sich nicht als sinnvoll aufblähen kann; die schönste Nebensache der Welt, jede Spielerei oder Kinderei kann zum Blödsinn werden und Metastasen von Pseudosinn produzieren, wenn sie zur Hauptsache wird. Aber dies kann auch durchschaut werden. Was ist nicht alles zusammengebrochen? Wo gibt es noch tragfähigen Sinn? Offensichtlich gibt es mehr oder weniger wichtige Sinnbereiche, unterschiedliche Sinnstufen, vordergründige und hintergründige Sinnebenen, banalere und bedeutendere Sinnversprechen. Offensichtlich gibt es sogar eine Art Sinnhierarchie. Aber genau dies ist das Problem, dass die Rangordnung dessen, was Sinn, Heil oder Halt verspricht, unbekannt bzw. strittig ist und dass es hinter allem anscheinend keinen letzten, jedenfalls keinen erkennbar letzten Sinn gibt. Zwar ist vieles schnell als belanglos zu durchschauen, aber eben dadurch muss das Misstrauen gegen andere anscheinend gut etablierte Sinnwelten wachsen und die Frage nach einem letzten Sinngrund verzweifelter werden. Überall werden Sinnzusammenhänge, die ewige Ordnungen zu sein schienen, als kulturrelative Sinnsetzungen entlarvt. Vielleicht ist also aller Sinn nur vermeintlicher oder nur von uns selbst gesetzter Sinn. Müssen wir uns alles selber geben? Können wir uns alles selber geben?

92 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Zur Genealogie des Nihilismus

Zur Genealogie des Nihilismus Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen des modernen Nihilismus hängt vor allem von zwei Faktoren ab: vom vorausgesetzten Begriff des Nihilismus und von der Bewertung des Nihilismus. Wenn man den Nihilismus z. B. als individuelle Glaubenslosigkeit definiert, als Halt- und Bindungslosigkeit, und diese auch noch als Sünde betrachtet, so liegt es nahe, die Ursache oder doch die Hauptursache des Nihilismus im jeweiligen Menschen, z. B. in irgendeinem Versagen, zu suchen. Wenn man hingegen Nihilismus primär als ein historisches Phänomen definiert, z. B. als Dekadenzphänomen, liegt es nahe, die Ursache oder doch die Hauptursache des Nihilismus in den jeweiligen sozio-kulturellen Verhältnissen und deren Entwicklungen zu suchen. Kurz, der Akzent kann auf den subjektiven wie auf den objektiven Faktoren liegen. Faktisch dürfte es immer Wechselwirkungen geben und eine saubere Aufschlüsselung der Ursachen, eine Bedingungsanalyse mit detaillierter Schuldzuschreibung unmöglich sein. Es kann nicht genügen, den Nihilismus als einen bloß subjektiven Negativismus, z. B. als eine Art Sündenfall, als Geisteskrankheit oder intellektuellen Suizid zu betrachten. Aber es kann auch nicht genügen, den Nihilismus als ein bloßes Epiphänomen des Wandels der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Folgen für das Individuum zu definieren. Im Übrigen könnten sowohl die Ursachen als auch deren Auswirkungen beim praktischen wie beim theoretischen Nihilismus unterschiedlich sein. Die neuerdings weltweite Ausbreitung des offenkundigen Nihilismus dürfte viele Ursachen haben, und zwar sowohl was den Aspekt des Sichtbarwerdens als auch den Aspekt der Ausbreitung betrifft. An sich scheint Nihilismus ein uraltes Phänomen zu sein. Zumindest der diffuse Nihilismus des oberflächlichen Hedonismus, der letzten Endes 93 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

praktischer Atheismus ist, dürfte uralt sein. Auch der reflektierte theoretische Atheismus scheint, wie seine frühe Verteufelung vermuten lässt, schon sehr früh möglich gewesen zu sein. Aber erst mit dem Zerbrechen religiöser Horizonte, das stellenweise schon sehr früh mit dem Handel zwischen den Völkern beginnt und in der Gegenwart durch die Globalisierung allgemein geworden ist, entwickelte sich mit bestürzender Geschwindigkeit die Tendenz zu einem allgemeinen theoretischen und moralischen Relativismus, der oftmals dem radikalen Nihilismus den Boden bereitet. Außerdem bestärken die Erfolge der modernen Naturwissenschaft und der damit verbundenen Technik ein Denken, das in der Erklärung der Welt und ihrer Phänomene ohne Gott auskommen will. Zugleich gibt es eine Art Globalisierung des Leidbewusstseins durch die Medien und damit eine Verschärfung der Sinnfrage. Letztlich dürfte es jedoch die conditio humana selbst sein, die den heutigen Nihilismus ermöglicht. Die unmittelbare Ursache oder auch Kehrseite des (primär) praktischen Nihilismus scheint Angst und folglich Verzweiflung zu sein, und zwar in vielfachen, aber zusammenhängenden Hinsichten: Angst vor der eigenen Nichtigkeit, nämlich der eigenen inneren Leere, Angst vor dem Nichts an Sinn und damit vor dem Verlust von Halt und Trost, vor allem aber die hoffnungslose Angst vor dem eigenen Nichts, nämlich dem eigenen Nichtsein oder vielmehr Nichtmehrsein, also vor dem Tod. Die Todesangst kann das Wunder, gelebt zu haben, nämlich dass ich als dieser Mensch gelebt habe, völlig vergessen machen. Genauer gesagt ist es jedoch nicht die so bestimmbare, allen Menschen immer drohende Angst, die zum Nihilismus führt, sondern die Flucht vor dieser Angst, um nicht zu sagen, die Angst vor dieser Angst, also die Unfähigkeit, sich seiner eigenen Angst zu stellen und auszusetzen, die Möglichkeit des Nichts an Sinn aus94 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Zur Genealogie des Nihilismus

zuhalten. Diese Angst macht den (primär) praktischen Nihilisten sozusagen blind, er flieht vor der Sinnlosigkeit in die Besinnungslosigkeit; er flieht geradezu in Bewusstlosigkeit, will sein eigenes Elend und das der Welt nicht mehr sehen. Indem er alle anstrengende Reflexion vermeidet, versucht der verzweifelte praktische oder moralische Nihilist, dem Mangel an Sinn dadurch zu entkommen, dass er sich in die ›Fülle des Lebens‹ stürzt; er möchte etwas erleben, er möchte nichts verpassen, er ist immer auf der Flucht vor dem Leerlauf des eigenen Lebens. Er sucht, soweit er nicht einem besinnungslosen Aktivismus verfällt, z. B. der Arbeitssucht, wo eben möglich den Rausch der Lust als unmittelbare Erfüllung. Überall in der Welt suchen Menschen, wenn auch oft nur indirekt, nach irgendeiner Selbsterfahrung oder Selbsterfüllung. Sie wollen ihr Selbstgefühl aufbauen, sich sich selbst beweisen. Es ist ein Kampf gegen die eigene Nichtigkeit, gegen die Bedrohung durch den eigenen Nihilismus, der Nihilismus der blinden Flucht vor dem Nichts. Auch der (primär) theoretische Nihilismus ist an sich alt, vermutlich gehört auch er – ähnlich wie sein größter Gegenspieler, die Religion – zum Menschsein. Zwar gibt es aus den Urzeiten der schriftlichen Überlieferung nur wenige Bekenntnisse zu irgendeiner Form von Atheismus oder Nihilismus, aber allein die ständige Warnung der Hüter der Religion vor der Gottlosigkeit zeugt von der Furcht vor der Gefahr des Atheismus und der Angst vor dem Nihilismus. Diese Furcht vor der Bedrohung des eigenen Glaubens durch radikale Skepsis dürfte nicht immer grundlos gewesen sein. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass erst mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften, die in ihrer Forschung auf die »Hypothese Gott« verzichten, sich eine Art methodischer, oft angeblich nur interimistischer Atheismus ausbreitet, der, obwohl zunächst durch einen allgemeinen Fortschrittsoptimismus verdeckt, inzwischen auch einen be95 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

drohlichen existentiellen Charakter angenommen hat und der nach den politischen Katastrophen, den materiellen Zerstörungen und geistigen Zusammenbrüchen im 20. Jahrhundert zu einem Massenphänomen geworden ist. Vielleicht ist die neue Volkskrankheit Depression (wie auch andere schwer bestimmbare psychosomatische Krankheiten) nicht zuletzt Ausdruck einer mehr denn je gefühlten Bedrohung durch Sinnverlust, eines verstärkt aufkommenden, aber z. T. noch unbewussten oder diffusen Nihilismus, und zwar bei verbliebenem Sinnbedarf. Der theoretische oder argumentative Nihilismus kann auf existentiellem Nihilismus basieren, aber diesen auch erzeugen. Wenn der Nihilismus, nicht zuletzt seinem eigenen Selbstverständnis nach, primär Glaubenslosigkeit ist, dann muss die Hauptursache des modernen Nihilismus in der veränderten Rolle der Religion bzw. in der allgemein veränderten Einstellung zur Religion gesucht werden. Offensichtlich hat sich unter dem Druck der weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesse (vor allem durch die Naturwissenschaften) seit langem eine Konfrontation von Vernunft und Glauben bzw. Wissenschaft und Religion entwickelt, die allmählich zu einer radikalen Reduktion der Religion und dann immer mehr zum Verlust oder Verfall des Glaubens an Gott geführt hat. Zwar gibt es allüberall heftige Rückzugsgefechte der verschiedenen Religionen, zwar hat gerade die Relativierung der Religion (u. a. durch das Bekanntwerden der Vielzahl von Religionen) hier und da zu einer reaktiven Radikalisierung der Religion geführt. Faktisch ist jedoch die Religion für immer weniger Menschen der alles bestimmende Lebensmittelpunkt, sie ist oft nur noch eine offiziell respektierte Randerscheinung oder Fassade der Gesellschaft, eine Art kollektiver Selbstbetrug oder eine kollektive Lebenslüge. Die Globalisierung der Wissenschaft und Technik sowie die daraus resultierende Industrialisierung des ganzen Lebens 96 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Zur Genealogie des Nihilismus

rütteln an den Grundfesten uralter Weltanschauungen und zerstören wie der Kapitalismus durch das Aufbrechen der traditionellen Horizonte allen naiven Glauben. Vor allem die Globalisierung der Informationen bzw. Informationsmöglichkeiten verändert auch den sozio-kulturellen Hintergrund der Religion und damit den Status der Religion im Leben des einzelnen wie der ganzen Gesellschaft. Die allgemeine Globalisierung konnte auch an den Religionen nicht spurlos vorbeigehen. Insofern ist der Nihilismus aufgrund der Relativierung der Religionen auch eine Begleiterscheinung der globalen Modernisierungsprozesse. Hinzu kommt die weltweite Erosion der alten Ethnien. Da der Mensch ein soziales bzw. soziables Lebewesen ist, aber meist nur einen sehr begrenzten Horizont besitzt, haben sich immer wieder aufgrund natürlicher Vorgaben wie ideologischer Annahmen kleinere und größere Gruppen unterschiedlichster Art gebildet, die sich als (relativ feste) Einheiten verstanden. Das hat Anlass zu vielen oftmals extrem feindlichen Formen der Entgegensetzung von Gruppen gegeben, musste aber auch, da jeder Mensch in der Regel verschiedenen Gruppierungen angehört, zu vielfachen sich überschneidenden Querverbindungen führen. Heute scheinen sich – trotz vielfacher, z. T. krampfhafter und gewaltsamer Gegenwehr – die Grenzen aller möglichen Gesellschaftsformen und deren verschiedenen Kulturen mehr denn je aufzulösen; die realen Migrationen wie die medialen Informationen scheinen zu einer neuartigen Weltgesellschaft zu führen, für die es auf dieser Erde kein Außen, keine grundsätzlich anderen Menschen mehr gibt. Damit tritt an die Stelle des Völkerrechts eine Art Menschheitsrecht. Allerdings bewirkt dieser Erosionsprozess auf der Ebene der Ethnien zunächst vor allem Entfremdung: die Einwanderer haben eine natürliche Distanz zur geschichtlichen Kultur ihrer neuen Heimat, die Einheimischen fühlen sich jetzt oftmals 97 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

fremd im eigenen Land (falls ihr Land nicht wesentlich aus Einwanderern besteht). So oder so beginnt sich die Einfügung in die gewohnten Sinnstrukturen zu lockern, es entsteht eine neuartige Haltlosigkeit. Die rasante Werterelativierung produziert auch auf diese Weise eine grassierende Desorientierung und Ratlosigkeit, eine wachsende Neigung zum Nihilismus. Ungeachtet dieser und anderer geschichtlicher Umstände wird man allerdings vermuten dürfen, dass, wie der praktische so auch der theoretische Nihilismus im jeweils konkreten Fall letztlich subjektive, nämlich existentielle Motive hat, z. B. das Scheitern konkreter individueller Ambitionen oder Perspektiven. Auch der theoretische Nihilismus beginnt vermutlich mit der individuellen Angst vor dem Nichts, nämlich der Nichtigkeit von allem und insbesondere der eigenen Existenz. Aber bei ihm entwickelt sich die Angst auch zum Stachel der Reflexion und führt bei manchen Menschen nicht zuletzt zur Reflexion der Angst. Die Angst vor dem Nichts und die Erkenntnis der allgegenwärtigen Nichtigkeit dessen, was sich als Sein gibt, wird so zur Sorge um das Sein, das eigene wahre Sein wie das Sein der ganzen Welt. Anders als im mehr oder weniger unreflektierten praktischen Nihilismus ist im theoretischen Nihilismus der Wahrheitswille stärker als das Lustverlangen, Wahrheitswille aber ist de facto Behauptung von Sinn.

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Nihilisten und Antinihilisten

Nihilisten und Antinihilisten Der heutige populäre Nihilismus ist auf den ersten Blick ein geschichtliches Phänomen, das mit Vorrang in gewissen Gesellschaften, vor allem in den europäischen Ländern, zu Hause zu sein scheint. Aber natürlich ist der Nihilismus, bevor er ein verbreitetes Phänomen sein kann, eine individuelle Option, und zwar auf der Grundlage einer allgemeinmenschlichen Möglichkeit, auf der Basis der conditio humana, nämlich des menschlichen Sinnbedürfnisses, wenn dieses unerfüllt bleibt. Er ist eine letztlich meist sehr persönliche Einstellung oder Haltung, die dann nur sehr abstrakt als eine allgemeine Geistesrichtung bestimmt werden kann. Der heute geschichtlich-gesellschaftlich (objektiv) faßbare Nihilismus basiert nicht zuletzt auf dem individuellen oder persönlichen (subjektiven) Nihilismus vereinzelter, oftmals einsamer und verzweifelter Vordenker. Allerdings kann die moderne Mediengesellschaft heute alle irgendwann und irgendwo geäußerten Gedanken rasend schnell verbreiten, also auch nihilistische aber auch antinihilistische. Der Nihilismus ist im Allgemeinen keine klar artikulierte Weltanschauung oder gar ein System von Aussagesätzen, sondern eine geistige Tendenz, alles für letztlich nichtig zu halten, an allem zu zweifeln, ja sogar zu verzweifeln. Bevor er zu einer Art Weltanschauung wird, ist der Nihilismus zunächst nur eine ziemlich diffuse Überzeugung, fast nur ein Glaube oder nur das Gefühl, dass es mit allem irgendwie nichts ist. Das macht ihn in gewisser Weise ungreifbar, unangreifbar. Zunächst ist der Nihilismus nur eine gewisse Gefühlslage, ein permanenter innerer Prozeß der Negation, in dem alles reflexiv zunichte wird, der sich aber theoretisch verfestigen kann und dann als nihilistische Weltanschauung und weiterhin als aktiver Nihilismus, d. h. theoretischer und praktischer Vernichtungswille, sogar zu Vernichtungshand99 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

lungen tendieren kann. Der Nihilist leidet unter Realitätsverlust, weil er immer wieder irgendeine (aus seiner Sicht nur vorgebliche) Realität anzweifelt, entlarvt oder leugnet und diese Denunziation von Sinn führt zu einer Entwirklichung der Wirklichkeit. Alles ist wie nichts, alles nur »bunter Dreck«. Zugleich aber wird die Wirklichkeit, wie sie erscheint, weil sinnentleert, besonders aufdringlich und anstrengend – dem Nihilisten wird alles zuviel. Das Absurde, das keinen Sinn macht, macht nur Streß. Daher leidet der Nihilist nicht zuletzt an seiner eigenen Einstellung, seiner eigenen unfaßbaren Negativität und Nichtigkeit. Erst wenn sich der Nihilismus zu artikulieren versucht (was als Sinnsuche aus seiner Perspektive eigentlich sinnlos sein müßte), d. h. sobald er theoretisch konkret wird, kann er auch konkret theoretisch bestimmt werden, und zwar aus verschiedenen Blickwinkeln. Um dem Nihilismus zu charakterisieren, muß man ihm also eine gewisse theoretische Konsequenz unterstellen, die er im Grunde nicht hat und nicht haben kann; wo er als eine Art Lehre oder Programm auftritt, verwickelt er sich unweigerlich in Widersprüche, nämlich durch unvermittelte Sinnannahmen bzw. Sinnsetzungen. Aus der Sicht des sogenannten, in aller Regel selbsternannten Antinihilisten erscheint der Nihilist nicht selten als ein schuldhaft böser oder auch schuldlos kranker, nämlich geistig kranker Mensch, ein Mensch, der die Wirklichkeit oder Wahrheit nicht sehen will oder unter einem mentalen Mangel an Sinnbereitschaft leidet, ein Mensch, der eine Art geistigen Selbstmord begeht oder begangen hat, oder ein Mensch, der z. B. durch große Leiderfahrung geistig gestört ist. Vor allem ist der Nihilist glaubenslos oder gottlos. In der Tat, der Nihilismus stellt sich sogar selbst mit gutem Grund vor allem als Atheismus dar (meist mit Pessimismus und Skeptizismus gepaart), weil Gott im Allgemeinen als Sinngrund und Sinngarant verstanden wird, der Nihilist aber an 100 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Nihilisten und Antinihilisten

allem Sinn, vor allem an einem Grundsinn des Seins zweifelt bzw. verzweifelt. Für den Nihilisten ist Gott tot, als Sinnvorgabe nicht mehr existent; Gott ist bzw. war nur eine Erfindung oder Projektion der sinnbedürftigen Menschen. Damit hat der Mensch sein geistiges Fundament, zumindest sein bisheriges geistiges Fundament, verloren. Er stürzt – nicht nur aus der Sicht der Streiter gegen den Nihilismus – ins Bodenlose; er findet anscheinend keinen Halt mehr, nichts, an das er sich klammern oder auch gebunden fühlen könnte. Er ist in gewisser Weise ›entwurzelt‹. Insofern stellt sich der Nihilismus nicht zuletzt als Werte- und Normennihilismus dar oder – in einer milderen, zaghafteren Form – als Werteoder Normenrelativismus. Werte oder Normen erscheinen dem Nihilisten als bloße subjektive Setzungen, denen außer dem jeweiligen Belieben nichts zugrunde liegt. Letztlich scheint in der derart entwerteten Welt aller Sinn, nämlich aller den menschlichen Sinnsetzungen möglicherweise vorgegebener und grundgebender Sinn verloren zu gehen. So wird der Nihilist – nicht nur aus der Sicht des Antinihilisten – orientierungslos. Das Ich findet keinen Richtpunkt mehr, es ist ohne Perspektive; seine Sinnfrage bleibt ohne Antwort, seine Sinnsuche ohne jede Hoffnung, jedenfalls ohne Hoffnung, die über seine endliche Existenz hinausgehen würde. Der Nihilist scheint sich nur noch momentan an irgendwelchen flüchtigen Dogmen oder an irgendeinem Nutzen orientieren zu können. Der Antinihilist hingegen glaubt, festen Boden unter den Füßen zu haben. Man muss sich allerdings fragen, ob sich nicht auch im engagierten Antinihilismus ein gewisser Nihilismus verbergen kann, ob sich die Streiter gegen den Nihilismus über ihr eigenes nihilistisches Potential im Klaren sind, ob mit der bloßen Behauptung, dass alles einen letzten Sinn habe, auch schon der eigene Nihilismus, die eigene womöglich immer schon drohende innere Haltlosigkeit wirklich gegenstandslos 101 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

geworden ist. Es ist z. B. durchaus möglich, dass der lautstarke oder sogar fanatische Kampf gegen Andersdenkende, Andersgläubige wie Ungläubige auch der Ablenkung von eigenen Problemen, ja sogar der Selbstbetäubung dient. Es ist durchaus möglich, dass fanatische Antinihilisten, die als Glaubenskämpfer der Welt ihre vermeintliche Wahrheit aufzuzwingen versuchen und womöglich die Welt lieber zerstören wollen als sie Andersgläubigen bzw. Ungläubigen zu überlassen, nur nicht wissen, dass sie in Wahrheit selbst Nihilisten sind. Und je bedrohlicher der (tendenziell offenkundige) Nihilismus wird, desto fanatischer könnte auch der (tendenziell selbst nihilistische) Antinihilismus werden. Es könnte sein, dass gerade im Herzen des militanten Gläubigen ein heimlicher, nur schlecht überdeckter Zweifel am eigenen Denken und Handeln nagt, ein verzweifeltes Glaubenwollen, Unglauben. Der Nihilismus nistet auch im Herzen des Hasses. Blinder Glaube könnte sogar gefährlicher sein als Glaubenslosigkeit. Wenn das Ich wesentlich Leere ist, die nach Erfüllung verlangt, so ist nicht auszuschließen, dass es sich immer wieder auf irgendwelche Sinnangebote stürzt, an irgendwelche Sinnsurrogate klammert, um der eigenen Leere Herr zu werden, und dann versucht, nicht zuletzt aus Unsicherheit, Ungläubige oder Andersgläubige zu seiner Wahrheit zu bekehren. Vielleicht sind die fanatischen Antinihilisten sogar die größeren oder eigentlichen Nihilisten, vielleicht ist der verkappte Nihilismus des Antinihilisten gefährlicher als der Nihilismus des seiner selbst bewussten Nihilisten, der sich dem Sinnverlust stellt. So oder so – es gibt nicht nur die bekennenden Nihilisten, es gibt nicht nur die wenigen bekannten europäischen Nihilisten, es gibt wie zahllose Allerweltsnihilisten so auch zahlreiche nihilistische Antinihilisten. Vielleicht sind sogar alle Menschen mehr oder weniger Nihilisten, auch die oder sogar gerade

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Facetten des Nihilismus

die, die durch den ›Sprung‹ in irgendeinen Glauben ihre Seele zu retten versuchen.

Facetten des Nihilismus Wie alle menschlichen Grundhaltungen hat auch der Nihilismus verschiedene Facetten, angesichts derer, je nach Gesichtspunkt, verschiedene Arten von Nihilismus unterschieden werden könnten, folglich auch verschiedene Nihilismusprobleme. Es gibt (vom Salonnihilisten einmal ganz abgesehen) z. B. den mehr emotionalen und den eher intellektuellen, den mehr affektiven und den eher nüchternen Nihilisten; es gibt z. B. den eher aggressiven und den mehr depressiven, den engagierten und den sozusagen müden, melancholischen oder phlegmatischen Nihilisten, den fanatischen und den fatalistischen Nihilisten. Wichtiger als diese mit der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur verknüpften Unterschiede dürften jedoch die Aspekte sein, die sich aus dem Grad der möglichen Redlichkeit des Nihilismus ergeben. Es gibt den unbewußten und den seiner selbst bewußten Nihilismus, folglich auch, obwohl die Grenze zwischen bewußt und unbewußt oftmals schwer zu bestimmen ist, den verhehlten Nihilismus und den Nihilismus, der sich zu sich selbst bekennt. Es ist manchmal nicht einfach zu sagen, welcher Nihilismus das größere (praktische oder theoretische) Problem ist. Wahrscheinlich hat jeder Mensch, so wie jeder Fromme im Rahmen der ihn umgreifenden und tragenden Gemeinschaftsreligion immer noch seine eigene religiöse Glaubenswelt hat, auch im Rahmen des heute populären nihilistischen Atheismus noch seinen eigenen bewußten oder unbewußten Nihilismus. Dennoch wird man – rein abstrakt, d. h. noch 103 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

ohne Bezug auf irgendwelche Individuen – verschiedene, relativ allgemeine Arten des Nihilismus unterscheiden müssen: vor allem den moralischen oder praktischen und den argumentativen oder theoretischen, und dann auf der Ebene der reflektierten Theorie (also den rein praktischen, seiner selbst weitgehend unbewußten Nihilismus zunächst beiseite lassend) den praxistheoretischen (moralphilosophischen) Nihilismus und den metaphysischen Nihilismus, den man dann weiter in einen Seinsnihilismus und einen Sinnnihilismus einteilen könnte: also in die Behauptung, dass überhaupt nichts existiert, zumindest nicht dauerhaft oder wirklich existiert (Seinsnihilismus), und die Überzeugung, dass es letztlich keinen umfassenden oder letztgültigen Sinn des Seins gibt (Sinnnihilismus). Dieser zweifache reflektierte, theoretische, metaphysische Nihilismus dürfte das fundamentale Problem sein, und zwar wiederum in unterschiedlicher Weise. Der konsequente Seinsnihilismus ist, in welcher Form auch immer, als Theorie in sich widersprüchlich – was den Nihilisten allerdings kalt lassen kann. Die These Es ist – nur – nichts (oder: Das Nichts ist alles bzw. Alles ist nichts) kann zwar sogar zu einer Mystifikation des Nichts als das wahre Sein führen, ist aber als solche streng genommen widersinnig. Wenn absolut nichts ist, dann existiert auch der Nihilist nicht – also ist der Nihilismus in dieser extremen Form rein logisch nicht zu halten. Und natürlich könnte das absolute Nichts (ganz abgesehen davon, dass es undenkbar ist), wenn es denn paradoxerweise ›existieren‹ sollte, logischerweise kein wahres Sein und keinen wahrhaften Sinn haben; denn im Nichts ist nichts, nur Nichts. Weiterhin könnte man auch fragen, ob das als Phänomen unleugbar existierende Sein, das Universum im umfassendsten Sinn des Wortes, sich nicht irgendwann in Nichts auflösen wird, so wie es – vielleicht – aus dem Nichts entstanden ist. Alles 104 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Facetten des Nihilismus

Sein ist durch und durch nichtig, zufällig und vergänglich; alles Tun ist folglich vergeblich, letztlich sinnlos. Am Ende von allem wartet das Nichts. Aber auch dieser Gedankengang scheitert, wenn er irgendeinen Anspruch auf Stringenz machen will, an sich selbst. Aus nichts kann nicht etwas werden, und es ist kaum weniger schwer vorstellbar, dass das, was ist, d. h. die Gesamtheit dessen, was ist, sich irgendwann in absolutes Nichts auflösen könnte. Wenn uns unser Denken nicht völlig betrügt (was alles Denken sinnlos oder nichtig machen würde), müssen wir Sein und Nichts für grundsätzlich zweierlei halten, und dies tut auch der Nihilist, wenn er das, was ist, verdächtigt, eigentlich nichts, bestenfalls Schein zu sein. Mit anderen Worten, die Existenz des Seins läßt sich nicht wirklich wegdiskutieren, und da es unleugbar irgendetwas gibt, muß es immer schon irgendetwas gegeben haben und wird immer auch irgendetwas sein (jedenfalls nach menschlichem Ermessen); denn Sein und Nichts lassen sich nicht aufeinander zurückführen, allenfalls lässt sich ein (logisch nicht nachvollziehbarer) dialektischer Umschlag behaupten. Mit anderen Worten, das Sein als solches ist in welcher Form auch immer ewig; es ist, wenn man so will, absolut. Es kann nicht total zu Nichts zerfallen, und es muß irgendeine Art von Sein oder Wirklichkeit immer schon gegeben haben. Allerdings ist die Vorstellung, dass irgendetwas immer schon existiert hat und dass irgendetwas immer noch existieren wird, also die Vorstellung eines irgendwie gearteten, irgendwie sich wandelnden und irgendwie sich vielleicht sogar gleichbleibenden Seins, allein für sich genommen, für den, der nach dem Sinn des Ganzen fragt, unbefriedigend. Der logische Selbstwiderspruch des Seinsnihilismus ist noch keine Selbstüberwindung des Nihilismus, bestenfalls eine Aufforderung weiterzudenken. Gibt es nur – immer schon und in alle Ewigkeit – letztlich sinnloses Sein? Aber woher stammt dann z. B., wenn es kein Urgesetz 105 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

gibt, seine Gesetzmäßigkeit? Woher der Anschein von Sinn, der zumindest zuweilen in der Menschenwelt existiert? Das eigentliche Nihilismusproblem ist der Sinnnihilismus, also die Überzeugung, dass alles letztlich keinen Sinn hat, vor allem, dass alles irgendwie vergeblich ist. Mehr oder weniger existentiell motiviert, reflektiert und argumentativ (insofern allerdings schon Sinn behauptend), verlangt der Sinnnihilismus nach einem übergreifenden und grundlegenden, einem letzten oder unbedingten Sinn, der allen vordergründigen Sinn übersteigt, allen bedingten oder relativen Sinn fundieren könnte und so auch alles, was als negativ erfahren wird, ins Positive wenden könnte. Der gesuchte Sinn kann nicht endlos relativ sein, d. h. von einem anderen Sinn abhängig sein, es müsste einen letzten Sinn geben. Das Sein im Ganzen müßte also, wenn es überhaupt einen Sinn haben sollte, seinen Sinn letztlich in sich selbst haben; denn ein Sinn, der von außen in das Sein als Ganzes einwirken würde, wäre undenkbar, da es für das Ganze, dessen Sinn gesucht wird, logischerweise kein Außen geben kann. Und da der Nihilist diesen absoluten Sinn nicht zu finden vermag bzw. den Glauben daran verloren hat, verliert für ihn die ganze Wirklichkeit an Sinn. Der Mensch begreift sich heute immer öfter als ein gottverlassenes Wesen in einer eigentlich belanglosen Ecke eines im Grunde sinnlosen Universums: ein Nichts in einem nichtigen Geschehen, in einem Chaos sinnloser Ereignisse (im Rahmen eines sinnlosen All- und nicht weiter begründbaren Grundseins). Anscheinend ist es nur noch die pure Verzweiflung, die das Denken und Handeln des Nihilisten treibt und in seiner Existenz erhält. Sinn soll sein – eine Sinnforderung, die selbst schon wieder eine Sinnsetzung ist. Der Sinnnihilismus beschränkt sich nicht auf metaphysische Behauptungen. Man könnte ihn, wenn man von ihm ausgeht, grob selbst wieder in einen praktischen und einen 106 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Facetten des Nihilismus

theoretischen Nihilismus einteilen. Der praktische Nihilismus – d. h. nicht die nihilistische Praxis selbst, sondern die theoretische Fassung des praktischen Nihilismus, genauer gesagt also der praxistheoretische Nihilismus, – ist im Grunde ein moralischer (genauer: moralphilosophischer) Nihilismus, zumindest scheint er keine Normen anzuerkennen, bestenfalls, wie auch die nihilistische Praxis, gesetzte Werte in Form einer Lusthierarchie. Der praktische oder vielmehr praxistheoretische Nihilismus stellt sich daher im Allgemeinen als radikaler Relativismus dar, für ihn sind alle Normen von Menschen gemacht, alle Werte nur menschliche Wertsetzungen. Es gibt kein Sollen, das als solches seinstranszendent wäre. Allerdings kann sich auch ein in der Theorie zutiefst moralischer oder vielmehr amoralischer Nihilismus unvermittelt mit moralischen Forderungen verbinden, z. B. mit der Behauptung von Menschen- oder Freiheitsrechten, sowie mit Wahrheitsansprüchen oder moralisch eingefärbten Glücksansprüchen. Der theoretische Nihilismus im engeren Sinne des Wortes, der metaphysische Nihilismus, möchte dagegen vor allem verstehen, er sucht den Sinn des Seins und findet ihn nicht. Der Nihilist begreift nicht, warum und wozu das Leid und das Böse, wozu überhaupt Leben und Tod existieren. Er ist ein Sinnbankrotteur, im Grunde ein enttäuschter Gottsucher. Natürlich können solche groben schematischen Differenzierungen die Komplexität des Nihilismus nur andeuten; zumal es, wie gesagt, nicht nur den offenkundigen, sondern auch den verkannten und verdeckten Nihilismus gibt. Die vielleicht verborgenste, wenn nicht verhohlenste Art des Nihilismus könnte sogar, um es zu wiederholen, der sozusagen programmatische Antinihilismus, der demonstrative oder sogar fanatische Kampf gegen den Nihilismus sein. Dieser könnte reiner Selbstbetrug sein – das Nichts nicht aushalten können verweist auch auf Mangel an Sinnhoffnung. Die Be107 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

kämpfung des Nihilismus bei anderen ist jedenfalls nicht dasselbe wie das Aushalten des eigenen Nihilismus; die Bekämpfung des Nihilismus des anderen könnte im Grunde eine Verdrängungsaktion sein. Wenn der Antinihilismus aber nur die Unfähigkeit ist, sich der Möglichkeit der Sinnlosigkeit von allem auszusetzen, also das Nichts (an Sinn) auszuhalten, so ist er als sich selbst schützende Sinnbehauptung eine Verlogenheit, hinter der sich die eigene Nichtigkeit versteckt; wirklicher Sinn könnte sich nur im Standhalten in der möglichen Sinnlosigkeit zeigen. Insofern wäre das Aushalten der Möglichkeit absoluter Sinnlosigkeit ein erster möglicher Anfang für das Finden von Sinn, ja sogar als eine gewisse Redlichkeit selbst schon eine Sinnsetzung oder Sinnbehauptung.

Relative Überwindungen des Nihilismus Der offenkundige Nihilismus der Moderne wird von denen, die ihn bekämpfen, nicht zuletzt als eine Art Zivilisationskrankheit, als ein Krebsgeschwür, das zu heilen sei, betrachtet. Aus ihrer Sicht müßte es, so wie es eine (angeblich) pränihilistische Zeit gegeben hat, mit etwas Glück auch wieder eine (angestrebte) postnihilistische Zukunft geben. Aber da der Nihilismus in allen seinen Formen auf die meist angstmotivierte Vermutung, dass es mit allem nichts sei, zurückgeht, ist er faktisch jederzeit möglich. Vor allem der unreflektierte praktische oder moralische Nihilismus hat immer existiert und wird immer existieren; die Einstellung, dass es nichts Wichtigeres gebe, als sich möglichst viel Lust zu verschaffen, hat es immer gegeben und wird es immer geben. Der theoretische Nihilismus hingegen, obwohl vermutlich im Ansatz auch immer schon vorhanden, hat offen108 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Relative Überwindungen des Nihilismus

sichtlich mehr noch als der praktische Nihilismus im Laufe der Geschichte weitere Argumente für den Generalverdacht der Sinnlosigkeit und damit eine neue, geschichtlich bedingte Dimension entwickelt. Der globalisierte Nihilismus ist ein Faktum und stellt – in praktischer wie in theoretischer Hinsicht – ein Problem dar. Dabei stellt sich vor allem im Hinblick auf den theoretischen Nihilismus – wieder einmal – die Frage, ob er überwindbar ist. Wie könnte ein (der Absicht nach langfristiger) Sieg über den Nihilismus aussehen? Wo ist eine global überzeugende Sinnstiftung in Sicht, woher könnte eine echte Sinnverheißung überhaupt kommen? Wie ließe sich so etwas wie ein Grundsinn entdecken? Müßte nicht allem zuvor erst einmal die reflektierte Sinnsuche intensiviert werden? Enthält vielleicht der sogenannte Nihilismus selbst schon ein Sinnangebot? Man könnte sich nämlich auch – so selbst schon wieder Sinn behauptend – auf die Seite des Nihilismus stellen und versuchen, diesen als letzte Wahrheit darzustellen. Der sich selbst erkennende und sich zu sich selbst bekennende Nihilismus könnte in der allgemeinen Sinnlosigkeit das einzig Wahre und insofern Sinnvolle sein. Vielleicht hat erst der moderne Nihilismus den Menschen endgültig von allen angst- und wunschbestimmten Verblendungen und damit von allen trügerischen Hoffnungen befreit, so dass der Mensch erst jetzt, nachdem er alle frommen Illusionen von Geborgenheit verloren hat, zu sich selbst gekommen ist und auf diese Weise vielleicht sogar eine neue Solidarität unter den Menschen möglich geworden ist. Vielleicht muss der Atheismus und damit die Möglichkeit der Sinnlosigkeit von allem nun nur noch von möglichst allen Menschen radikal realisiert werden. Kommt es vielleicht allein darauf an, die Bedrohung der Sinnlosigkeit auszuhalten, statt sie zu verdrängen, und sich sozusagen im Dunkel gegenseitig zu stützen? Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass ein solcher 109 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

»heroischer Nihilismus«, wie er gelegentlich propagiert wird, eine allgemeine Weltanschauung und eine allgemeine Willenshaltung werden könnte. Wer hat schon die Kraft, Tag für Tag, Stunde für Stunde, die Sinnlosigkeit des Seins zu ertragen, die Hoffnungslosigkeit des Lebens auszuhalten, dem großen Umsonst ins Gesicht zu sehen? Und, wenn ja – woher könnte ihm diese Kraft kommen? Und wie könnte eine solche Einstellung allgemein werden? Die Zeit des fröhlichen, des frohgemuten Nihilismus (falls es dergleichen je gegeben haben sollte) scheint jedenfalls vorbei zu sein. Der Nihilismus ist auf dem Vormarsch. Dennoch kann es sich der Nihilist – es sei denn inkonsequenterweise – eigentlich nicht zur Aufgabe machen, als Herold der endgültigen Wahrheit, dass es nämlich mit allem nichts sei, alle Welt vom Nihilismus zu überzeugen, mit allen Hoffnung verheißenden Irrtümern und allem tröstlichen Aberglauben aufzuräumen und sozusagen tabula rasa zu machen. Ganz abgesehen davon, dass ein programmatischer Nihilismus als Wahrheitsverkündung ein Widerspruch in sich ist, als Verkündigung einer neuen Heilslehre (aufgrund welcher sinnsetzenden Absicht auch immer) wäre er nur desaströs, vermutlich sogar für den Nihilisten selbst, da er konsequenterweise allen alles erlauben muß, also z. B. auch meine und natürlich auch seine eigene Ermordung. Und warum sollte der Nihilist Vergeblichkeit predigen, wenn auch dies nur vergeblich ist? Vielleicht wäre es ›sinnvoller‹, den Wahn, der ohnehin nicht auszurotten ist und der den Elenden dieser Welt Trost spendet, zu tolerieren – solange er nicht gefährlich wird. Brauchen nicht gerade die Massen einen Glauben, der ihnen Halt gibt? Schließlich ist auch der Kampf gegen wirkliche oder auch nur vermeintliche Vorurteile, gegen gefährliche oder ungefährliche wahnhafte Vorstellungen selbst schon wieder eine Sinnbehauptung, dass nämlich Wahrheit

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Relative Überwindungen des Nihilismus

sein solle. Auch bekennende Nihilisten haben nicht selten Sendungsbewusstsein, machen insofern Sinnansprüche. Die Situation ist unübersichtlich. Der globalisierte Nihilismus könnte, obwohl theoretisch wie praktisch problematisch, ähnlich wie z. B. der Terrorismus der fanatisch ›Frommen‹, möglicherweise sogar in eins damit, zum neuen Dauerproblem der Menschheit werden (wobei es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass der offene Nihilismus allgemein die Oberhand gewinnen wird). Nachdem der Nihilismus begonnen hat, die Welt zu erobern, wird er aller Voraussicht nach nicht wieder verschwinden – außer natürlich, wenn die Welt selbst verschwindet, was vermutlich irgendwann geschehen wird. Denn wenn sich die Menschheit nicht selbst ausrotten oder in die Steinzeit zurückbomben wird (was auch nicht ganz unwahrscheinlich ist), so wird doch, was einigermaßen sicher ist, die Erde irgendwann wieder ein toter und unbewohnbarer Stern sein, der sich irgendwann vielleicht sogar auflösen wird. Denkt man jedoch auf einen überschaubaren Zeitraum in der Welt der Menschen hinaus, so muß zumindest mit einer weiteren Ausbreitung sowohl des offenbaren wie auch des verdeckten Nihilismus gerechnet werden. Der Nihilismus scheint unbezwingbar zu sein, die Menschheit wird mit ihm leben müssen. Dennoch sollte die Vorstellung von einer Überwindung des Nihilismus nicht leichtfertig aufgegeben werden. Vielleicht gibt es immer noch eine nicht ganz unbegründete Hoffnung, den Nihilismus auf breiter Front besiegen zu können. Die Religion hat schließlich immer wieder und bisher immer noch den meisten Menschen und damit ganzen Gesellschaften zumindest einen äußeren Halt gegeben, und religiöse Erneuerungsbewegungen sind nicht selten. Die Angst vor der Leere, der geistige horror vacui, hat die Menschen immer wieder Zuflucht in irgendwelchen Religionen oder doch Quasi-Religionen suchen lassen – davon profitie111 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

ren bis heute die unterschiedlichsten selbsternannten Sinnstifter, die sich im übrigen oftmals ungeniert aus der Erbmasse der großen Religionen bedienen. Wäre es also nicht denkbar, dass die Religion, die uralte Gegenbewegung zum Nihilismus, noch einmal massenhaft die Oberhand gewinnen könnte: sei es in Form einer der großen alten Religionen, sei es in Form einer neuen, eventuell eklektischen Religion, sei es in Form einer neuartigen, eventuell rein privaten individuellen Religiosität? Das ist zwar alles nicht auszuschließen, aber angesichts der modernen weltbeherrschenden, methodisch areligiösen, methodisch sogar atheistischen Wissenschaft eher unwahrscheinlich – es sei denn, es gelänge einer eifernden Religion, alle ›Ungläubigen‹ zu töten und alle Rationalität, insbesondere alle Wissenschaft, global abzuschaffen. Aber religiöse Monomanie ist offensichtlich nicht jedermanns Sache, der Widerstand gegen eine totale Remythisierung unserer Welt wäre vermutlich zu groß. Und irgendwann würden auch nach einem totalen Sieg frommer Sinnprediger neue kritische Rationalisierungsprozesse beginnen. Im Grunde trägt nämlich sogar die radikalste Religion bzw. Religiosität den Keim des Verderbens, nämlich die Möglichkeit der Selbstnegation, in sich. Jede inhaltlich festgelegte Religiosität, also jede aussagenbereite, sich selbst irgendwie dogmatisch definierende Religion, ist im Prinzip interpretierbar, deutbar und umdeutbar, also auch kritisierbar, revidierbar und insofern zerstörbar. So müssen allein aufgrund der konstitutiven Unzufriedenheit des Menschen, seines immer wieder aufbrechenden Mangelbewusstseins, also aufgrund seiner immer wieder aufbrechenden inneren Leere und seiner daraus resultierenden Rastlosigkeit, auch immer wieder Sekten und Ketzereien entstehen und damit neue Relativierungen. Auch die Religion ist keine feste Burg. Selbst bei einem nicht sehr wahrscheinlichen Sieg irgendeiner Re112 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Relative Überwindungen des Nihilismus

ligion oder auch der vereinten Religionen dieser Welt bleibt der Nihilismus im Grunde erhalten, denn er haust sogar im Herzen der Religion. Jede Religion hat bisher den Keim ihres Verderbens in sich getragen, der Zweifel nagt immer auch am eigenen Glauben. Kurz, der Nihilismus ist wahrscheinlich auch durch Religion nicht auszurotten, jedenfalls nicht durch irgendeinen salto mortale. Er war schließlich nie ganz auszurotten – als praktischer ohnehin nicht aber auch nicht als theoretischer oder reflektierter Nihilismus. Und dieser moderne Nihilismus wird vermutlich immer weiter um sich greifen, obwohl der ›vollendete‹ Nihilismus als Normalzustand der Welt auch sehr unwahrscheinlich ist. Denn natürlich wird es auch immer wieder und überall Gegenbewegungen zum Nihilismus geben, Leugnungen und Kritiken des Nihilismus – schon deshalb, weil die meisten Menschen die Möglichkeit des Nichts an Sinn vermutlich gar nicht aushalten können. Der global verbreitete Nihilismus ist wegen seiner möglichen praktischen Folgen zu einer akuten Gefahr geworden. Zwar kann sich jeder Nihilist auf den Standpunkt stellen, die Gefahr eines praktischen Negativismus, die von einem globalen Nihilismus ausgehen könnte, interessiere ihn nicht. Ob die Menschheit jetzt oder irgendwann zugrunde gehe, ob Menschen sich gegenseitig mangels Moral oder auch aufgrund irgendwelcher Sinn- bzw. Wahnvorstellungen umbringen, sei ihm gleichgültig (zumindest solange er nicht selbst betroffen ist). Und da es ohnehin keine echten moralischen Imperative gebe, trage er auch keine Verantwortung für irgendeinen Mitmenschen. Dies wäre im Rahmen eines wenn auch nur halbwegs stringenten Nihilismus, falls dieser argumentativ möglich sein sollte, in der Tat konsequent. Dann bliebe nur noch die Frage, wie der, der so nihilistisch denkt, als Nihilist selbst weiter existieren wollen kann, falls er, wie es allerdings in der Regel zu sein scheint, überhaupt 113 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

weiterleben will. Wer kann schon ohne alle Sinnhoffnung leben? Allerdings ist auch der Selbstmord, der als logische Konsequenz eines sozusagen aktiven Nihilismus angesehen werden kann, ein Paradoxon, zumindest ein existentielles Paradoxon, im Grunde ein Sinnpostulat. Der Selbstmörder, der aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Daseins (im Allgemeinen oder Besonderen) seinem Leben ein Ende setzen möchte, protestiert – allein schon durch diese Absicht – gegen die Sinnlosigkeit. Damit setzt er jedoch einen Sinn inmitten aller Sinnlosigkeit, zumindest versucht er es. Er nimmt zumindest für sich in Anspruch, eine wahrhaft sinnvolle Handlung als Möglichkeit zu erkennen und in Wirklichkeit umsetzen zu können. Sterbenwollen scheint als solches ebenso wie Lebenwollen, wenn auch nicht gleichermaßen, Sinnsetzung zu sein. Auch insofern ist der Nihilismus im Grunde inkonsequent bzw. paradox. Es gibt keinen chemisch reinen Nihilismus. Auch wo pauschaler Zweifel und totale Verzweiflung zu herrschen scheinen, bleiben immer noch Sinnreste, die nicht in Frage gestellt werden: kleine und vielleicht sogar große Freuden, kleine und vielleicht sogar große Aufgaben, unwillkürliche Sinnsetzungen und immer neue Sinnerwartungen, Hoffnungen auf ein sinnerfülltes Leben, und natürlich auch viele Sinnsurrogate und Sinnattrappen, Versuche von Sinnverschiebungen bzw. Verschiebungen von Sinnerwartungen (z. B. auf die nächste Generation), Fluchten und Fluchtversuche aller Art. Vermutlich ist es immer auch irgendeine Hoffnung, nicht nur der biologisch begründete Lebenswille, der den Menschen (fast) immer noch am Leben hält; vermutlich glaubt jeder Mensch immer noch irgendetwas. Vor allem meint er unwillkürlich, irgendetwas erkennen zu können, die letztmögliche Erkenntnis zu besitzen. Gerade Nihilisten sind ihrem eigenen Selbstverständnis nach von ihrer Wahrheit überzeugt, meist sogar von einem regelrechten 114 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Relative Überwindungen des Nihilismus

Wahrheitseifer besessen, sie sind manchmal geradezu Wahrheitsfanatiker. Nihilisten scheinen immer wieder von der Möglichkeit, ja Wirklichkeit und vor allem vom Wert der Wahrheit überzeugt zu sein, auch wenn es nur die paradoxe Wahrheit der Unmöglichkeit von Wahrheit und der absoluten Sinnlosigkeit von allem ist, die sie als ultimative Erkenntnis zu besitzen glauben. Der Sinn der nihilistischen Destruktion alles nur scheinbaren oder vermeintlichen Sinns ist die Erkenntnis der Wahrheit, der Wahrheitswille des Nihilisten impliziert insofern eine letzte Sinnbehauptung. Wahrheit bleibt zumindest als Postulat einer seiner Fixpunkte, wahrscheinlich sogar sein höchster: Wahrheit soll sein. Dieser Wahrheitsanspruch des Nihilismus widerspricht dem Nihilismus; das Festhalten am Wahrheitsanspruch ist – wie das Aushalten der Bedrohung durch das Nichts – ein antioder vielmehr transnihilistischer Akt: Sinnsetzung im Sinnlosen, Sinnsetzung in Sinnloses. Nihilismus scheint nicht ohne Selbstwiderspruch oder Inkonsequenz möglich zu sein – was den Nihilisten, dem angeblich alles gleichgültig ist, möglicherweise nicht interessiert, jedenfalls angeblich nicht (aber das würde ihn als ehrlich denkenden Menschen und Gesprächspartner disqualifizieren). Für den, der sich auf Denken und Sprechen einläßt, ergeben sich jedoch, auch im Ausgang von einer radikal atheistischen Skepsis, immer noch genug grundsätzliche Fragen. Allerdings implizieren Denken und Sprache selbst schon Sinn, sind sogar schon Sinnsetzung. Und ganz abgesehen davon, dass Denken und Sprechen – wie überhaupt Weiterleben – selbst schon Behaupten von Sinn ist, wird auch sonst immer wieder unwillkürlich Sinn postuliert. Normalerweise verlangen Menschen nämlich z. B. nach Gerechtigkeit und fühlen sich sogar selbst moralischen Gesetzen verpflichtet. Auch unser Handeln, das zweckmäßige und vor allem das normbezogene Handeln, beansprucht als sol115 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

ches eine gewisse Sinnhaftigkeit. Selbst radikale Moralrelativisten glauben, wie gesagt, nicht selten an die Existenz von Menschenrechten und proklamieren immer wieder den Wert der Freiheit wie den der Toleranz. Auch Erziehen als eine Form menschlicher Entwicklungshilfe ist nicht ohne Sinnansprüche und Sinnvermittlung möglich. Irgendwie scheint es immer wieder kleinere Sinnversprechen und Sinngeschenke zu geben, irgendwie scheint es überall immer noch genug Sinn zu geben, um leben zu können. Sinnsuche und Sinnsetzung werden weitergehen, solange Menschen existieren; denn das Sinnbedürfnis des Menschen ist unstillbar, und seine Hoffnung, einen vorhandenen vielleicht noch verborgenen Sinn zu finden, wird immer wieder aufbrechen. Hoffnung auf Sinn aber ist selbst schon Sinnvermutung und insofern Sinnsetzung, Sinn setzende Sinnvoraussetzung. Und es ist fast immer noch möglich, dem Leben einen Inhalt zu geben, einen zumindest vorläufigen Sinn. Überall gibt es zumindest individuelle Sinnpostulate, und dieses subjektive Sinnbedürfnis mit seinen subjektiven Sinnannahmen könnte, wenn die Wirklichkeit nicht völlig widersinnig ist, sogar ein Indiz für möglichen objektiven Sinn sein. Wie ist in einem anscheinend sinnlosen Universum ein Sinnbedürfnis überhaupt möglich, und zwar sinnlos, um nicht zu sagen, sinnwidrig? Oder: Wie konnte aus einem Sein, dem anscheinend selbst kein Sinn innewohnt, ein Verständnis von Sinn und damit ein Verlangen nach Sinn entstehen? Ist das Sein nicht nur sinnlos, sondern letztlich sogar widersinnig, weil es u. a. auch sinnloser Ursprung eines sinnlosen Verlangens nach Sinn ist? Wie verträgt sich das Sinnverlangen des Menschen mit der Existenz eines letztlich absolut sinnfreien Seins? Wie immer in einer an sich sinnfreien Wirklichkeit ein Bedürfnis nach Sinn entstehen konnte, in einem sinnfreien Universum wäre ein Sinnbedürfnis, dem nichts entspricht, selbst sinnlos, die Wirklichkeit im 116 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

Relative Überwindungen des Nihilismus

Grunde sinnwidrig, das Sein also in sich widersprüchlich, letztlich absurd. Vielleicht ist daher die Existenz des Sinnbedürfnisses, das sich gegen eine letzte und damit absolute Sinnlosigkeit wehrt, sich sogar selbst für sinnvoll hält, selbst ein Indiz für die mögliche Existenz von Sinn – falls es nicht selbst absurderweise sinnlos bzw. sinnwidrig ist. Ja man muss, da die Wirklichkeit selbst offenkundig durch mehr oder weniger universale Gesetze bestimmt und insofern sinnvoll geordnet ist, noch weiterfragen. Woher stammt die Gesetzmäßigkeit des Seins, die doch die Wirklichkeit determiniert und insofern mehr und anderes als Sein ist? Ist die Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit etwa ein Zufallsprodukt, etwas, das sich wie das Sein selbst zufällig aus dem Nichts ereignet hat? Oder existiert eine Art Urgesetz, also eine über die krude Faktizität hinausgehende und unhintergehbare Sinnhaftigkeit? Sinn scheint jedenfalls irgendeine Ordnung vorauszusetzen, im totalen Chaos kann es keinen Sinn geben, aber das Sein als totales Chaos würde sich ständig selbst zerstören. Insofern scheint die Existenz von Ordnung oder Gesetzmäßigkeit ein, wenn auch schwer deutbarer Hinweis auf die mögliche Existenz von Sinn zu sein, nämlich Sinn des Seins. Vielleicht ist uns das, was ist, letztlich nur unbegreiflich, zwar gut begreiflich in Einzelheiten, aber unbegreiflich im Ganzen. Wenn alle bisherigen Antworten auf die Frage nach einem letzten Sinn von allem nicht befriedigen können, die Frage danach allerdings auch nicht aufgegeben werden kann, dann bleiben nur das Bekenntnis zum Nichtwissen und das Aushalten des Nichtwissens. Vielleicht ist das Sein, aus dem alles entspringt bzw. entsprungen ist, nichts anderes als eine sinnfreie Urenergie. Vielleicht übersteigt es aber die Kraft des Menschen, den letzten Sinn, wenn es ihn denn gibt, zu erkennen. Vielleicht bleibt daher nur die Ratlosigkeit, das Verharren vor dem Dunklen, Unverfügbaren (ohne Flucht 117 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .

IV. Überwindung des Nihilismus?

in ein Mysterium). Eigentlich kann der Nihilist nur Agnostiker sein, aber dann ist er kein radikaler Nihilist. Ist der Nihilismus das Ende aller Weisheit? Ein moderner Mann denkt nicht nihilistisch; er bringt Ordnung in seine Gedanken und schafft sich eine Grundlage für seine Existenz. Diese Grundlage beruht für viele der Heutigen auf Resignation, aber Resignation ist kein Nihilismus; Resignation führt ihre Perspektiven bis an den Rand des Dunkels, aber sie bewahrt Haltung auch vor diesem Dunkel. (Gottfried Benn)

118 https://doi.org/10.5771/9783495820414 .