Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt: Kritische Studie zur Wahl- und Parteienrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.] 9783428434220, 9783428034222

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Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt: Kritische Studie zur Wahl- und Parteienrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.]
 9783428434220, 9783428034222

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 271

Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt Kritische Studie zur Wahl- und Parteienrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts

Von

Hanns-Rudolf Lipphardt

Duncker & Humblot · Berlin

HANNS-RUDOLF

LIPPHARDT

D i e G l e i c h h e i t der p o l i t i s c h e n P a r t e i e n vor der ö f f e n t l i c h e n G e w a l t

S c h r i f t e n zum ö f f e n t l i c h e n Recht Band 271

Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt Kritische Studie zur Wahl- und Parteienrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts

Von

Hanne-Rudolf Lipphardt

D U N C K E R &

HUM BLOT

/

B E R L I N

Alle Hechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Lude, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03422 8

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der „Gerechtigkeit", sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die „Freiheit" zum Privilegium wird. ROSA LUXEMBURG

Gewiß lassen sich, wie wir Heutigen mit wenigen Ausnahmen glauben, Staatsrecht und Politik nicht völlig voneinander trennen, lassen sich staatsrechtliche Fragen nur selten lösen, ohne daß die letzte Entscheidung von politischen Werturteilen bestimmt wird. Aber es ist eben das Ziel der Wissenschaft, die Grenze aufzuzeigen, wo objektive Erkenntnisse durch subjektive Urteile abgelöst werden; es ist ihre Pflicht, zu versuchen, diese Grenze möglichst weit hinauszuschieben, und sie hat endlich nach allgemeingültigen Maßstäben zu forschen, nach denen sich die zur Entscheidung rechtlicher Interessenkonflikte erforderlichen Abwägungen wertenden Charakters zu vollziehen haben. HEINRICH TRIEPEL

Die Einleitungszitate sind entnommen aus: R. Luxemburg, Die russische Revolution (1918), zitiert nach der von Ο. K. Flechtheim besorgten Ausgabe (1963), S. 73; H. Triepel, Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 43 (1922), S. 349 (350).

Vorwort Das Prinzip der Chancengleichheit politischer Parteien hat seine heutige Kontur durch das Bundesverfassungsgericht erhalten. Seine verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Grundlegung verdankt es indes entscheidend der Diskussion unter der Weimarer Reichsverfassung. Diesen Grundlagen, die auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tragen, ist der 1. Teil vorliegender Arbeit gewidmet. I m 2. Teil wird die Entwicklung dieser Judikatur, die sich von der ursprünglichen Deutung des Prinzips als Differenzierungsverbot der „formalen Chancengleichheit" mehr und mehr entfernt und schließlich zum Differenzierungsgebot der „abgestuften Chancengleichheit" geführt hat, analysiert. Die einzelnen Stationen sind gekennzeichnet durch die Interpretation des Prinzips formaler Parteiengleichheit als einer Regel, die Ausnahmen zuläßt, die Anerkennung ihrer bloß fakultativen Geltung neben einer auch möglichen Differenzierung und die Vertauschung von Regel und Ausnahme. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf wahlrechtsfremdem Feld. Von dort aus werden die wahlgesetzlichen Splitterparteiklauseln, deren Rechtfertigung und Begrenzung die Judikatur zur Parteiengleichheit insgesamt geprägt und belastet haben, neu und anders beurteilt, als dies in der kaum noch überschaubaren Wahlrechtsliteratur geschehen ist. Parteiengleichheit wird hier als schematische Gruppengleichheit verstanden, die nicht aus dem Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes, sondern aus der — notwendig demokratischen — Parteienfreiheit zu entwickeln ist. Die heutige Regel der „abgestuften Chancengleichheit" hingegen macht als „Anwendungsfall" des Art. 3 Abs. 1 GG das nach wie vor behauptete Sonderprinzip einer spezifischen Parteiengleichheit entbehrlich. Die Studie ist aus der 1969 abgeschlossenen Freiburger juristischen Dissertation des Verfassers hervorgegangen. Sie wurde für die Veröffentlichung überarbeitet und auf den Stand von 1973 gebracht. Vereinzelt sind auch spätere Publikationen berücksichtigt. Allen, die zum Gelingen der Arbeit und ihrer Veröffentlichung beigetragen haben, sei an dieser Stelle gedankt. Der Verfasser weiß sich dabei vor allem Herrn Professor Dr. Konrad Hesse verpflichtet, dem er wissenschaftlich und persönlich viel zu danken hat. H.-R. Lipphardt

Inhaltsverzeichnis Einführung I. Sprachgebrauch und Problematik des Begriffs „Chancengleichheit" II. Die literarische Anerkennung des Prinzips der gleichen Chance

15 15 23

Erster Teil Die Ausgangslage des BVerfG I. Herkunft des Prinzips der gleichen Chance II. Bedeutungsschichten des Prinzips der gleichen Chance 1. Die Offenheit des politischen Gemeinwesens a) Parität b) Toleranz c) Neutralität d) Relativität 2. Gewaltenteilung und Konkurrenzkampf um die politische Führung 3. Freiheit durch Gleichheit a) Der gebotene gruppenrechtliche Ansatz: Die Parteienfreiheit .. b) Die überforderte individualrechtliche Parallele: Das allgemeine gleiche Wahlrecht 4. Prinzipauflösende Tendenzen a) Die Prämie auf den legalen Machtbesitz b) Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG)

31 31 38 39 40 54 60 64 77 82 89 95 110 110 113

III. Grundlage, Rechtsnatur und Reichweite des Prinzips der gleichen Chance 118 IV. Carl Schmitts Definition des Prinzips und der Streit um die Änderung der Geschäftsordnung des Preußischen Landtags vom 12. April 1932 1. Schmitts Interpretation 2. Die Kritik Otto Kirchheimers 3. Der Landtagsbeschluß vom 12. April 1932 V. Gründe für das Fehlen einer tragfähigen Parteienlehre

127 127 129 132 145

VI. Die Wiederaufnahme der Diskussion um das Prinzip der gleichen Chance im Jahre 1950 und die führende Rolle des BVerfG 148 1. Forsthoff 148 2. Leibholz 152 3. v. Mangoldt 157 4. BayVerfGH 159 5. BVerfG 160

Inhaltsverzeichnis

10

Zweiter Teil Die Rechtsprechung des BVerfG A. Systematischer

163

Überblick

163

I. Gliederung der Entscheidungen nach inhaltlichen Gesichtspunkten .. 163 II. Gliederung der Entscheidungen nach formellen Gesichtspunkten

169

B. Bundes- und Landtagswahlrecht

181

I. Vorbemerkung

181

II. Die grundlegenden Wahlrechtsentscheidungen des 2. Senats 1. BVerfGE 1, 208 2. BVerfGE 4, 31 und 4, 375 3. BVerfGE 6, 84 und 6, 99 4. BVerfGE 34, 81 5. Zusammenfassung

184 184 192 193 195 196

III. Die Wahlrechtsentscheidungen des 1. Senats 1. BVerfGE 3, 19 2. BVerfGE 3, 383 3. BVerfGE 5, 77 C. Die Aufspaltung des Parteiwirkens einen grundreditlichen Teilbereich

in einen organschaftlichen — BVerfGE 4, 27

197 197 199 210 und

213

I. Die Differenzen zwischen 1. und 2. Senat in den Wahlrechtsfällen .. 214 II. Die Entscheidungen zur staatlichen Parteien- und Wahlkampffinanzierung 219 1. Organschaftlicher oder grundrechtlicher Bereich? 219 2. Kompetenzfragen 222 III. Die Entscheidungen zur Vergabe von Sendezeiten 1. Verfassungsbeschwerde trotz Organstatus der Parteien? 2. Organklage in den Sendezeitfällen? D. Steuerbegünstigung

von Parteispenden

I. Der Parteispendenbeschluß des 1. Senats — BVerfGE 6, 273 II. Das Parteispendenurteil des 2. Senats — BVerfGE 8, 51 1. Begriff und Bereich der „Wahlvorbereitung" 2. Der angewandte Maßstab imbedingter Gleichheit und seine Konsequenzen 3. Die Situationsgebundenheit der Entscheidung 4. Wettbewerbslage, Wettbewerbsverschärfung, Wettbewerbsverzerrung 5. Steuerverzicht als Parteisubvention a) Die Problematik einer rein steuerrechtlichen Argumentation .. b) Subventionsgedanke und mittelbare staatliche Parteienfinanzierung

227 227 234 244 244 255 264 268 279 284 287 287 291

Inhaltsverzeichnis 6. Der „sinnvariierende" Begriff des „Staatspolitischen" a) Sprachgebraudi und wechselnde Bedeutung b) Verfahrensrechtliche Konsequenzen 7. Faktische Chancengleichheit? 8. Publizität, Vertrauensschutz und Folgenbeseitigung

297 297 307 313 353

III. Die Erneuerung der Steuerbegünstigung von Parteispenden durch das PartG — BVerfGE 24, 300 357 E. Sendezeiten in Hörfunk und Fernsehen

364

I. Die ersten Beschlüsse 366 1. Der Besdiluß vom 3.9.1957 — BVerfGE 7, 99 (NDR-Fall) 366 2. Der Besdiluß vom 6.11.1957 (2 BvR 10/57) 380 3. Die Orientierung an der Parteibedeutung und ihre Wirkung auf Literatur und Rechtsprechung 383 4. Der Besdiluß vom 23. 8.1961 — BVerfGE 13, 204 392 5. Der Besdiluß vom 12.9.1961 (2 BvQ 6/61) 393 II. Der Beschluß vom 30.5.1962 — BVerfGE 14, 121 (WDR-Fall) 1. Der verfassungsrechtliche Sendezeitanspruch 2. Der „innere Bezug" zur Stimmabgabe und die „Erst-recht"-Argumentation des BVerfG 3. Die Analogie zur Wahlrechtsgleichheit 4. Der verfassungsrechtliche Standort und die Regel/Ausnahme-Konzeption der Chancengleichheit 5. Die Staffelung der Sendezeit und ihre Grenzen a) Zulässigkeit und Infragestellung der absolut gleichen Sendezeit b) Das „parteipolitische Kräfteverhältnis" und die Kriterien der „Bedeutung" einer Partei c) Die Zahl der Kandidaturen als Kriterium der Parteibedeutung d) Die „Würdigung der konkreten Gesamtsituation" e) Das Kriterium der „Angemessenheit" f) Chancengleichheit als Differenzierungsgebot g) Die Interdependenz der Zeitquoten III. Die folgenden Beschlüsse 1. Der Beschluß vom 4.7.1962 — BVerfGE 14,192 2. Der Beschluß vom 17.11.1972 — BVerfGE 34,160 F. Unmittelbare staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung I. Die Entscheidungen im Organstreit — BVerfGE 20, 119 und 20, 134 .. 1. Organklage oder Verfassungsbeschwerde? 2. Zuständigkeit des 2. Senats? 3. Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses? 4. Die möglichen Klageanträge 5. Die Spruchformeln 6. Die verletzte Chancengleichheit 7. Die Einschränkung des Geltungsbereichs der Chancengleichheit ..

396 398 400 404 406 408 409 415 427 431 438 440 447 449 449 453 457 465 465 474 474 479 497 500 517

12

Inhaltsverzeichnis

II. Die Normenkontrollentscheidung — BVerfGE 20,56 1. Die dualistische Konzeption der Leibholz'schen Parteienstaatsdoktrin 2. Die Einheit des politischen Gemeinwesens und der öffentliche Status der politischen Parteien 3. Die Parteienfinanzierung im Lichte der dualistischen Theorie .. 4. Die Rechtfertigung einer staatlichen Parteienförderung aus dem öffentlichen Status der Parteien und die Unzulässigkeit von Geldsubventionen ;

523 530 551 574 617

III. Das PartG-Urteil — BVerfGE 24, 300 624 1. Das richterliche Modell der staatlichen Wahlkampffinanzierung, die Regelung des PartG und das Problem der Parteiengleichheit.. 624 2. Abstufung und Zensus bei der Wahlkampfkostenerstattung 633 G. Der Parteibegriff des PartG als Problem der Parteiengleichheit insbesondere BVerfGE 6, 367 — 11, 266 — 24, 260 Ergebnis und Ausblick I. Zusammenfassung

— 647 689 689

II. Die Gleichheitsklausel des PartG

694

Literaturverzeichnis

703

Sachregister

731

Abkürzungen* AfP

Archiv für Presserecht. Zeitschrift für Fragen des Presse-, Urheber- und Werberechts (auch ArchPR: bis 1970 als Beilage zu ZV + ZV, seit Folge 82/1970 als Viertel Jahresschrift mit mehrjährig durchlaufender Paginierung)

AKW

Archiv für Kommunalwissenschaften

ArchSWSP

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

AusPoluZG

Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage (B) zur Wochenzeitung ,Das Parlament*

BK

Bonner Kommentar

BldintPol

Blätter für deutsche und internationale Politik

Bull.

Bulletin

CPJI Pubi.

Publications de la Cour permanente de Justice internationale (1922 ff.)

DNG

Die Neue Gesellschaft

fff-press

Unabhängiger Pressedienst für Film

FZ

Frankfurter Zeitung

GeschWiU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

GOBT

Geschäftsordnung des Bundestages

GORT

Geschäftsordnung des Reichstages

GR

Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte (1954 ff.)

HaH

Handelshochschule Berlin

HansRGZ

Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift

HbFW

Handbuch der Finanzwissenschaften

Herv.

Hervorhebung

HwRW

Handwörterbuch der Rechtswissenschaften

* Siehe im übrigen H. Kirchner, 2. Aufl. (1968).

Funk, Fernsehen und

Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache,

14

Abkürzungen

HwStW

= Handwörterbuch der Staatswissenschaften

HwSW

= Handwörterbuch der Sozialwissenschaften

HZ

= Historisdie Zeitschrift

JöR

= Jahrbuch des öffentlichen Redits

KlZs.

= Klammerzusatz

L/S

= Lammers / Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des Staatsgeriditshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, 6 Bde. (1929 ff.)

LS SH

= Landessatzung Schleswig-Holstein

Ls.

= Leitsatz

NuSt

= Nation und Staat

ÖZÖR

= österreichische Zeitsdirift für öffentliches Redit

PolSt

= Politische Studien

RStW

= Wandersieb (1949 ff.)

RuF

= Rundfunk und Fernsehen

SB

= Sitzungsberichte

StB

= Stenographische Berichte

StdZ

= Stimmen der Zeit

StIGHE

= Entscheidungen des Ständigen Internationalen Geriditshofs, Ausgabe in deutscher Ubersetzung, hrsg. v. Institut f. internationales Redit in Kiel (1929 ff.)

StL

= Staatslexikon, Redit Wirtschaft Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl. (1957 ff.)

StV

= Staatsvertrag

VfuVfW

= Jahrbuch »Verfassung und Verfassungswirklidikeit 1

WürttRpfZ

= Württembergische Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung

ZevE

= Zeitschrift für evangelische Ethik

ZfP

= Zeitschrift für Politik

ZSR

= Zeitschrift für Schweizerisches Redit

ZV 4- ZV

= Zeitungsverlag + Zeitschriftenverlag

(Hrsg.), Redit

Staat

Wirtschaft,

4 Bde.

Einführung Das Prinzip der gleichen Wettbewerbschancen politischer Parteien — als Verfassungsgrundsatz in der Diskussion um Art. 21 GG zuerst von Forsthoff und Leibholz hervorgehoben 1 — hat vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 2 seine heute aus dem Verfassungsleben nicht mehr fortzudenkende Bedeutung als Schlüsselprinzip des demokratischen Mehrparteienstaates erlangt. I m Schrifttum, das dieser Rechtsprechung im großen und ganzen folgt, ist der Grundsatz der „Chancengleichheit", ungeachtet seiner unterschiedlichen Auslegung und Rechtfertigung, einhellig anerkannt. L Sprachgebrauch und Problematik des Begriffs „Chancengleichheit" Der Ausdruck „Chancengleichheit" ist heute allgemein gebräuchlich. Wenngleich diese Kurzformel schon zur Weimarer Zeit aufkam 3 , dürfte der gegenwärtige Sprachgebrauch auf Hans Schneider 4 zurückgehen, der 1952 das „Prinzip der Chancengleichheit" auf die umstrittene Änderung der Geschäftsordnung des Preußischen Landtags vom 12. April 19326 bezog. 1 Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnimg der Parteien, DRZ 1950, S. 313 (315); unverändert abgedruckt in: Forsthoff ! Loewenstein / Matz, Die politischen Parteien im Verfassungsrecht (1950), S. 5 (12 ff.) ; ders., Anmerkung zu den Wahlrechtsentscheidungen des OVG Lüneburg v. 19. 6. u. 4.7.1950 (OVGE 2, S. 157 ff., 187 ff.), AöR 76 (1950/51), S. 369 (372 ff.). — Leibholz, Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien — Ausführung und Anwendung der Art. 21 und 38 Abs. 1 S. 2 GG, Verh. 38. DJT (1950), S. C 2 (28). Die in diesem Referat — es wurde am 15.9.1950 gehalten — gewählten Formulierungen hat Leibholz kurz darauf wiederholt und ergänzt in: Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, RStW I I I (1951), S. 99 (121). — Beide Autoren verzichten auf einen Quellennachweis und fordern übereinstimmend die Verankerung des Prinzips der gleichen Chance im Rahmen des Parteiengesetzes. In Leibholz' früheren Publikationen zum Thema Parteienstaat, insbesondere in seinem Aufsatz vom April 1950 (Volk und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, DVB1. 1950, S. 194), findet sich der Gedanke einer spezifischen, verfassungsrechtlich geschützten Chancengleichheit der Parteien noch nicht. 2 Vgl. die Nachweise in BVerfGE 24, 300 (340f.); 20, 56 (116); 14, 121 (132 f.); 8, 51 (63 f.). 9 Kirchheimer / Leites, Bemerkungen zu Carl Schmitts ,Legalität und Legitimität 4 , ArchSWSP 68 (1933), S. 457 (476). Aus späterer Zeit vgl. A. Steininger, Das Blocksystem (1949), S. 26. 4 H. Schneider, Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, Festgabe für R. Smend (1952), S. 303 (314). 5 Dazu unten 1. Teil/IV 3.

16

Einführung

a) I n der Rechtsprechung des BVerfG taucht die Kurzformel erstmals im SRP-Urteil e auf, während die für das Prinzip grundlegende Entscheidung vom 5.4.1952 7 sie ebensowenig verwendet wie Leibholz oder Forsthoff, auf den sich das Gericht ausdrücklich beruft 8 . Forsthoff spricht von der „Gleichheit der Wettbewerbschancen" oder vom „Prinzip der gleichen Wettbewerbschancen" 9. Hinzu gesellt sich in seiner Urteilsanmerkung noch der Ausdruck „Gleichheit der Parteien" 10 bzw. „unter den Parteien" 11 . Seitdem hat die handlichere „Chancengleichheit" die inhaltsgleiche „Gleichheit der Wettbewerbschancen" mehr und mehr verdrängt. b) Indes bleibt der Begriff nicht auf den Parteienwettbewerb beschränkt, sondern wird auch auf Bürgervereine (Rathausparteien), lose Wählergruppen und einzelne Wahlbewerber erstreckt 12. Diese Deutung der Chancengleichheit deckt sich mit der Argumentation aus dem Prinzip des gleichen Wahlrechts des einzelnen Wählers, der Gleichheit des Stimmgewichts nach Zähl- und Erfolgswert, die schließlich auf den Gesamtbereich der politischen Meinungs- und Willensbildung ausgedehnt wird, in dem das GG „alle Staatsbürger grundsätzlich absolut gleich bewertet" 18 . I m Schrifttum wird demgemäß audi in bezug auf den einzelnen Wähler von Chancengleichheit gesprochen14. Von Wahlrecht, Wähler(gruppen) und Parteien abstrahierend spricht Ridder von einem allgemeinen Verfassungsprinzip der „politischen Chancengleichheit", das er nicht nur im Rahmen der Art. 21 und 38 GG gelten lassen will, sondern auf den gesamten Bereich des „Politischöffentlichen" bezieht, insbesondere also auf den Geltungsbereich der • BVerfGE 2,1 (13) u. Ls. 2. 7 BVerfGE 1, 208. 8 Ebd., S. 242, 255. 9 Forsthoff, Die pol. Parteien im Verfassungsrecht (1950), S. 12,13,14. 10 Forsthoff, AöR 76 (1950/51), S. 369 (372, 376). 11 Ebd., S. 374. — Zur Terminologie des Gerichts vgl. Jülich, Chancengleichheit der Parteien (1967), S. 63 f. » Vgl. BVerfGE 7, 63 (70); 11, 266 (276); 11, 351 (364); 12, 10 (25f., 301); 13,1 (10 f.); 18, 151 (154); 21, 196 (199 f.). 18 BVerfGE 8, 51 (69); weitere Nachweise bei Leibholz / Rinck, GG (1966), Rdn. 3 ff. zu Art. 38 GG. 14 Giese, GG, 3. Aufl. (1953), Erl. 2 zu Art. 38 GG; v. Mangoldt / Klein, GG, 2. Aufl., Bd. 2 (1964), Erl. I I I 2 f zu Art. 38 GG (S. 882); P. F. Müller, Das Wahlsystem (1959), S. 21 Anm. 30; Laschitza, Der Grundsatz der gleichen Wahl im deutschen Staatsrecht (1954), S. 111; MaunzlDürig, GG, Rdn. 48 zu Art. 38 GG: gleiche Erfolgschance im Mehrheitswahlrecht, gleicher Erfolgswert im Verhältniswahlrecht; in gleichem Sinne der Bericht der Wahlrechtskommission: Grundlagen eines deutschen Wahlrechts (1955), S. 44; Seifert — BWG, 2. Aufl., 1965, S. 46 — spricht demgegenüber wieder einheitlich von einem gleichen, bei Mehrheits- und Verhältniswahl nur „graduell verschiedenen Erfolgschancenwert" der einzelnen Wählerstimme.

I. Sprachgebraudi und Problematik des Begriffs „Chancengleichheit"

17

Art. 5, 8, 9, 21 GG 1 5 . Nach v. d. Heydte bedeutet „demokratische Gleichheit im politischen Raum . . . nicht Identität von Führung und Geführten". Sie erschöpfe sich vielmehr in einer „Gleichheit der Chancen", d. h. „sie ist die Gleichheit aller Staatsbürger in der Möglichkeit, in den politischen Kampf einzutreten" 16 . — Dem wird man prinzipiell zustimmen können. Unhaltbar ist dagegen die zwecks Verhüllung eines Widerspruchs — nämlich der außerhalb des Wahl- und Parlamentsrechts ungerechtfertigten Verschiedenbehandlung von Parteien einer-, Heimatbünden, Kirchen, Gewerkschaften usw. andererseits — vom BVerfG aufgestellte These, der „Satz von der Chancengleichheit, wie er sich im Bereich der politischen Willensbildung für die Parteien entwickelt hat", habe dort, wo es sich „um ein Tätigwerden gesellschaftlicher Mächte und Institutionen handelt" — das Gericht zählt die Parteien hier offensichtlich nicht dazu —, „keine Geltung" 17 . Ähnlich heißt es in einer Entscheidimg zu Art. 29 GG 1 8 , es sei nicht zu erkennen, wie es bei der Volksabstimmung zur Neugliederung des Bundesgebiets „einen Anspruch auf Chancengleichheit der Heimatbünde (sc. mit den politischen Parteien) sollte geben können", da sie doch, anders als die Parteien, „freie gesellschaftliche Gebilde" seien. Selbst dort, wo das Gericht die Parteien unzweifelhaft zum Bereich der Gesellschaft zählt wie im Parteifinanzierungsurteil, werden die Parteien von (sonstigen) gesellschaftlichen Zusammenschlüssen geschieden: Weil diese, anders als die Parteien, keine „verfassungsrechtliche Funktion" hätten, weil sie nicht wie die Parteien „politische ,Kreationsorgane'" seien, dürften sie im Gegensatz zu diesen „vom Staat in weitem U m f a n g . . . subventioniert" werden 19 . c) Von Chancengleichheit spricht das BVerfG audi im SüdweststaatUrteil, nämlich bei der Prüfimg der Frage, ob der Gesetzgeber einen Abstimmungsmodus gewählt habe, der nicht beiden Meinungen „gleiche Chancen", genauer: „eine echte Chance" einräumt und damit gegen den Gleichheitssatz verstößt 20 . Von einer solchen „wirklichen Chancengleichheit" — ihr Gegenteil wird als „Ungleichheit der politischen Chancen" definiert — spricht 15

Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1960), S. 18, 19, 23; ders., Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (1963), S. 18; ders. (zus. m. Heinitz), Staatsgeheimnis und Pressefreiheit (1963), S. 32, 33; ders., Grundgesetz, Notstand und politisches Straf redit (1965), S. 25. 1β v. d. Heydte, Fiktion und Wirklichkeit der westdeutschen Demokratie, PolSt. Heft 48 (April 1954), S. 6 (14). 17 BVerfGE 8, 51 (67 f.). 18 BVerfGE 13, 54 (83 f., 89 f.). 19 BVerfGE 20, 56 (1061). 29 BVerfGE 1, 14 (53, 55). 2 Lipphardt

18

Einführung

das Gericht ferner im KPD-Urteil 2 1 , nämlich bei der Erörterimg der Frage einer Wiederzulassung der KPD für den Fall gesamtdeutscher Wahlen, wenn es anerkennt, die KPD könne sich nach einem Verbot im Stadium der Vorbereitung gesamtdeutscher Wahlen gegenüber anderen — bestehenden — Parteien in der BRD „praktisch politisch . . . in einer ungünstigeren Position befinden", deren Ausmaß jetzt nodi nicht abzusehen sei, die aber gegebenenfalls „durch geeignete Maßnahmen . . . verringert werden" könne und die schließlich kompensiert werde durch die Tatsache, daß die nichtkommunistischen Parteien der DDR infolge des dort bestehenden Blocksystems „ebenfalls keine wirkliche Chancengleichheit mit der herrschenden SED besitzen"22. — Als ob sich ausgleichende (begünstigende oder belastende) Kompensationen mit dem Formalprinzip politischer Chancengleichheit in Einklang bringen ließen. Bei Lichte besehen dient dieser auch in anderer Hinsicht aufschlußreiche Kunstgriff dem Zweck, die letztlich unaufhebbare Antinomie zwischen Parteiverbot und Chancengleichheit zu verwischen. Der Kompensationsgedanke entspringt zudem einer vordemokratischen, privilegienstaatlichen Gedankenwelt. Obwohl das Demokratiegebot der Verfassung seine Heranziehung bei der Auslegung des Rechtsprinzips politischer Chancengleichheit strikt untersagt, wird er zur Rechtfertigung unerlaubter Differenzierung im Bereich der politischen Meinungs- und Willensbildung immer wieder — mit einer erstaunlichen Variationsfähigkeit — aufgeboten. d) Die expansive Formel der Chancengleichheit hat sich auch außerhalb des spezifisch politischen Bereichs eingebürgert. Rechts- und Umgangssprache haben sie auf Konkurrenzverhältnisse aller Art ausgedehnt. Man spricht heute vom „Grundrecht der Chancengleichheit" im Bereich des Prozeßrechts (prozessuale Waffengleichheit) 23, im Ausbildungs- und Prüfungswesen 24 und im wirtschaftlichen Wettbewerb 25 . . I n diesem umfassenden Sinne einer undifferenzierten politisdi-sozialen Chancengleichheit, wobei dann zumeist offen bleibt, ob diese nur rechtlich oder auch tatsächlich — im Sinne „realer" Chancengleichheit — aufzufassen ist, versteht etwa Stammer „das Prinzip der gleichen Chance"2·. Nach Hermens 27 gehören zum Wesen der Demokratie nur zwei spezifische Formen der Gleichheit: „die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichheit der Chance". Damit sei „der Bereich der sinnvollen » BVerfGE 5, 85. " a.a.O., S. 132 f., 126. " BVerfGE 9, 124 (125, 130, 137); 16, 214 (216); 22, 83 (88 f.). 14 BVerwG DÖV 1963, 475; 1965, 771; BVerwGE 23, 347 (350); 31, 190 (191 f.); 41, 34 (35 ff.); 42, 346 (352). » BVerfGE 13, 230 (235); 18, 1 (6); 21, 12 (21); BVerwGE 17, 306 (311 f.); 21, 58 (60 f.); 41, 271 (275 f.); 30,191 (197 f.); BVerwG DÖV 1973, 317.

I. Sprachgebrauch und Problematik des Begriffs „Chancengleichheit"

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Gleichheit erschöpft". Die „Gleichheit der Chance" wird dabei abgehoben von der natürlichen bzw. „echte(n) Ungleichheit der Verfassung" und der für unvermeidlich angesehenen „Ungleichheit der Einkommensverteilung", für die sie den „Hintergrund" bilde. Diese „bürgerliche" Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes ist ein Problem des Sozialstaates und hat mit demokratisch-politischer Gleichheit im Grunde nichts zu tun. Dürig 28 hat sie auf die anfechtbare Formel gebracht: „»Wirtschaftliche Gleichheit1 im Sinne des Art. 3 Abs. 1 ist Gleichheit der rechtlichen Chance". Auch nach Fürstenberg 29 sollen „auf wirtschaftlichem Gebiet . . . Vertrags- und Gewerbefreiheit die Gleichheit der Chancen garantieren". Die Verwirklichung dieser gesellschaftlichen „égalité des conditions" lasse sich aber nicht durch einen Akt der Gesetzgebimg verwirklichen, sondern setze einen gesellschaftlichen Emanzipationsprozeß größten Ausmaßes voraus, der zum Abbau hierarchischer Gliederungen in allen Sozialbereichen führe. Ähnlich sieht audi E. υ. Hippel 8 0 im Begriff der „qualitativen Gleichheit", die mit dem „Rechtswert" ( = Gerechtigkeit) identisch sei, die Berechtigung der „demokratischen Forderung der gleichen Chance", nach der „jeder Mensch . . . als grundsätzlich berufen anzusehen ist, Aufgaben wahrzunehmen, deren positive Erfüllung sein Charakter, seine Fähigkeiten und Neigungen ermöglichen". Scholler 31 setzt das Prinzip der Chancengleichheit ganz allgemein mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) in Beziehung und leitet daraus ein neues Verständnis des Art. 3 I GG ab. An die Stelle der Willkürinterpretation tritt das Gebot sozialer Chancengleichheit im Sinne einer „égalité des conditions", die nicht nur „égalité en droit", sondern auch „égalité en fait" bedeute 82 . Die Gleichheit der Parteien ist dabei als „Chancengleichheit auf der Ebene des politischen Kampfes" 88 nur ein Teilaspekt der allgemeinen Chancengleichheit, aus deren substantiellen (materiellem) und funktionellem Gehalt keine unterschiedlichen Maßstäbe abgeleitet werden 34 . 29 Stammer, Politische Soziologie, in: Gehlen / Schelsky (Hrsg.), Soziologie (1955), S. 283. 27 Hermens, Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht? (1949), S. 12 f. 28 Dürig, Art. »Gleichheit4, StL, β. Aufl., Bd. 3 (1959), Sp. 983 (988). 29 F. Fürstenberg, Art. »Gleichheit4, RGG, 3. Aufl., Bd. 2 (1958), Sp. 1612 (1613). 89 Ε. ν . Hippel, Vom Wesen der Demokratie (1947), S. 53. 81 Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit (1969). 82 Ebd., S. 13 ff. 88 Ebd., S. 53. 84 Vgl. etwa ebd., S. 14 f., 27. — I m Sinne „tatsächlicher" Gleichheit versteht auch Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrecht-

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Einführung è) Diese fortschreitende Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Chancengleichheit trägt zwar zur Klärung des Sinngehalts der politischen Chancengleichheit insofern bei, als sie die allen ihren Spielarten gemeinsamen Kriterien der Wettbewerbs-, Waffen- und Ranggleichheit belegt. Trotzdem wird man die Konstruktion eines „schlechthin allgemeinen Grundsatz(es) verfassungsrechtlicher Chancengleichheit", wie sie etwa das BVerwG in Erwägung gezogen hat 3 6 , mit Nachdruck zurückweisen müssen, da sie die formaldemokratische Substanz der politischen Chancengleichheit, die sie vom Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes in Struktur und Funktion grundlegend unterscheidet, verkennt und unterwandert. Die Gedankenführung des BVerwG ist schon in methodischer Hinsicht anfechtbar: Es geht aus von der Frage, ob „Art. 3 GG schlechthin einen Anspruch auf Chancengleichheit" begründet, und beantwortet sie — unter Berufung auf die erwähnte Feststellung des BVerfG im Parteispendenurteil 3·, die unkritisch übernommen wird — zwar zunächst einmal (ebenso generell und abstrakt) negativ, um anschließend „aus der Natur der Sache" konkreter Lebensbereiche — etwa dem Prüfungswesen — dann doch wieder die verfassungsrechtliche Gewährleistung eben dieser Chancengleichheit zu folgern. Aus den Besonderheiten der in Betracht kommenden Sachbereiche dürfe allerdings kein „Schluß auf das Bestehen eines allgemeinen Rechtssatzes, der die Chancengleichheit zum Gegenstand hat", gezogen werden. Immerhin sei „dem traditionellen Gleichheitssatz heute eine Tendenz eigen . . . , sich auch auf die Gleichheit von Chancen auszudehnen". Diese Entwicklung sei jedoch nicht soweit vorangeschritten, daß die Gerichte daraus allgemeine Schlüsse ziehen dürften. Vorläufig müßte vielmehr daran festgehalten werden, daß der Sinn des Art. 3 GG vorwiegend „auf anderem Gebiet liegt, nämlich im Schutz gegen willkürliche Regelungen"37. Später 38 wird dieser teils globale, teils kasuistilichen Gleichheitssatzes (1971), S. 209 ff. den Ausdruck „Chancengleichheit", wenn er, ausgehend vom Parteispendenurteil (BVerfGE 8, 51), die Frage untersucht, ob der Gleichheitssatz audi „die Funktion hat, Chancengleichheit zu gewährleisten". Immerhin wird von dieser — in den Bereichen des Parteien« und Verfahrensrechts — als „engerer Begriff" die „rechtliche Chancengleichheit" abgehoben (S. 214, 217 ff.), wenngleich (audi) sie als Anwendungsfall des „verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes" zureichend begründeten Differenzierungen — etwa bei der Sendezeitverteilung im Rundfunk (S. 160 f., 212, 218) — zugänglich bleibt. Damit wird freilich die Besonderheit der Chancengleichheit der Parteien einerseits wieder aufgehoben, andererseits diese selbst in einen weiteren „tatsächlichen" (z. B. BVerfGE 8, 51) und einen engeren „rechtlichen" (z.B. BVerfGE 14, 121) Begriff zerlegt, mithin doppelt in Frage gestellt. « BVerwGE 17, 306 (311 f.); 21, 58 (60 f.); 23, 194 (199); 23, 347 (350). 86 BVerfGE 8, 51 (69). 87 BVerwGE 17, 311 f. 88 BVerwGE 21, 58 (60 f.).

I. Sprachgebraudi und Problematik des Begriffs „Chancengleichheit"

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sehe Ansatz weitergeführt, wenn das Gericht bemerkt, auch für bestimmte „Bereiche der Wirtschaft" biete Art. 3 „gegen willkürliche Regelungen" in der Regel nur dann Schutz, wenn auch die Chancengleichheit gesichert sei. „In derartigen Fällen verdichtet sich der Schutz gegen Willkür zu einer Beachtung der Chancengleichheit89." Hier wird neben das aktuelle Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes ein selbständiges, jedoch einstweilen nur bedingt wirksames, ebenso abstraktes wie elastisches „Gebot der Chancengleichheit" gestellt; eine weitere Generalklausel, die nach Art des § 242 BGB auf bestimmte Fallgruppen hin konkretisiert wird — alles in allem ein Schulfall unverbindlicher Abstraktion, die am Ende wieder an ihrem Ausgangspunkt anlangt: dem allgemeinen Willkür verbot des Art. 3 GG. Diese Rechtsprechung des BVerwG ist zwar vom Schrifttum mit Interesse vermerkt, erstaunlicherweise aber nicht beanstandet worden 40 . f) Daß demgegenüber die politische Chancengleichheit als rein formales Verfahrensprinzip in Wahrheit nichts mit dem auf inhaltliche, materiale Gleichheit abzielenden Willkürverbot des Art. 3 GG zu tun hat, auch nicht in dem geläufigen Sinn einer verfassungsrechtlichen Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes — diese, der herrschenden Lehre widersprechende These soll in dieser Arbeit verfochten werden. Die Chancengleichheit des politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses, die politische Gleichheit der Bürger und ihrer Zusammenschlüsse, verhält sich zur sozialen Chancengleichheit in Beruf und Wirtschaft, Bildung und Besitz, also zur materialen Gleichheit des suum cuique, wie das Prozeßrecht zum materiellen Redit, wie die „politische" zur „sozialen" Demokratie (Max Adler), die „Formaldemokratie" zur „Wertdemokratie" (Otto Kirchheimer), die beide zusammen erst das Ganze des von Verfassungs wegen aufgegebenen freiheitlichdemokratischen Gemeinwesens konstituieren. Das setzt jedoch voraus, daß sie nicht miteinander vermischt und identifiziert, sondern in ihrer (relativ) eigenständigen Funktion und Struktur erkannt und belassen werden. Streng formale Chancengleichheit im politischen Meinungsund Willensbildungsprozeß ist die unverzichtbare verfahrensmäßige Vorbedingung und zugleich der wichtigste Garant einer freiheitlichen und sozial gerechten Ordnung des Gemeinwesens, der Schaffung 89

Ebd., S. 60. Vgl. Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Bd. 2 (1967), Nr. 73 (S. 80f.); H. C. Becker, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Grundgesetz, JöR NF 15 (1966), S. 263 (292); Jülich (Anm. 11), S. 87 Anm. 53; E. Langen, Anmerkung (zu BVerwGE 17, 306), NJW 1964, 20751; R. Scholz, Anmerkimg (zu BVerwGE 30, 191), NJW 1969, 10441; Podlech (Anm. 34), S. 209. 220. 49

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sozialer Chancengleichheit. Beide stehen in einer Mittel-Zweck-Relation, wobei umgekehrt die Notwendigkeit eines Minimums an „sozialer Homogenität" (Heller) als unerläßliche Voraussetzung des Funktionierens „politischer Demokratie" nicht geleugnet werden soll, hier aber auf sich beruhen kann 41 . Gegenüber M. Adler muß hier freilich betont werden, daß es sich bei diesem Doppelsinn des Demokratiebegriffs nicht um die Relation Gut — Böse handelt, die zur Forderung nach Überwindung der politischen zugunsten der sozialen Demokratie führt, sondern um ein notwendiges Aufeinander-Angewiesen-Sein. Ein entsprechender Einwand ist gegenüber Dombois 42 zu erheben, der ebenfalls, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, „formale" und „materielle" Demokratie als unvereinbare Größen gegenüberstellt. Bemerkenswert ist dagegen Dombois' Definition des „Prinzips der Gleichheit", auf dem die Demokratie beruhe: I n der „formalen Demokratie" sei „die Gleichheit der Bürger eine solche der gleichen Chance, eine formale Gleichheit der Freiheit der Betätigung und des Willens". Sie finde „ihren Ausdruck im freien Wettbewerb der Interessen und Bestrebungen und in der Repräsentation im Willen" 4 8 . I n der „materiellen Demokratie" sei „die Gleichheit der Bürger eine inhaltlich materielle" bzw. „substantielle"44. Nach Düng45 dient in der Demokratie dem „Zweck" der Realisierung proportionaler Gerechtigkeit das „Mittel der politischen Gleichheit". Dürig fordert daher, daß das formaldemokratische „Funktionierensprinzip" der politischen Gleichheit nicht zum Inhalt des materialen Gerechtigkeitsprinzips gemacht werden dürfe 48 . — Dem wird man zustimmen müssen. Daß die Ansichten darüber, was material, proportional, sozial gerecht ist, naturgemäß auseinandergehen, steht dem nicht entgegen. Das gleiche gilt aber — und darauf 41 Vgl. hierzu etwa Hugo Preuß, Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken (1925), in: ders., Staat, Redit und Freiheit (1926), S. 481 ff.; Max Adler, Politische oder soziale Demokratie (1926), S. 32 ff., 49 ff.; ders., Die Staatsauffassung des Marxismus (1922), S. 116 ff., insbes. S. 126; Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, 1in: Probleme der Demokratie II, Schriftenreihe »Politische Wissenschaft , Heft 5 (1928), S. 35 ff.; ders., Staatslehre (1934), S. 136 ff., 181, 247; ders., Europa und der Fascismus, 2. Aufl. (1931), S. 11, 100; O. Kirchheimer, Weimar — und was dann? Analyse einer Verfassung (1930), in: ders., Politik und Verfassung (1964), S. 9 (15 ff.); ders., Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, ZfP 17 (1928), S. 593 (595). 48 Dombois, Strukturelle Staatslehre (1952), S. 82 f. 48 Ebd., S. 82. 44 Ebd., S. 83 f. 45 Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, S. 259 (262 f.). « Ebd.. S. 262.

II. Literarische Anerkennung des Prinzips der gleichen Chance

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kommt es hier vor allem an — auch in umgekehrter Richtung, wenn anders nicht das zur Sicherung politischer Freiheit praktisch als unentbehrlich erkannte und verfassungsrechtlich gebotene „demokratische Formalprinzip" ausgehöhlt und damit funktionsunfähig werden soll 47 . Damit ist vorläufig das Feld abgesteckt, auf dem allein der Gleichheitsanspruch der politischen Parteien zur Geltung kommt. — Von einer höheren Warte aus kann hier auch von der Relation Form — Inhalt, Legalität — Legitimität gesprochen werden 48 . I I . Die literarische Anerkennung des Prinzips der gleichen Chance Aus der unübersehbaren Fülle vielfach verstreuter Äußerungen kann hier nur ein mehr repräsentativer als vollständiger Überblick geboten werden. Eine eingehendere dogmatische Begründung und Deutung haben lediglich Hesse und von der Heydte versucht. Die einschlägigen Dissertationen beschränken sich im wesentlichen auf eine mehr oder weniger unkritische Bestandsaufnahme. Insbesondere wird die Rechtsprechung des BVerfG, wenn überhaupt, so doch jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Tief- und Hintergründigkeit des Prinzips tritt dabei nicht ins Blickfeld. a) Allgemein und zu Einzelfragen einer von Verfassungs wegen als geboten erachteten, spezifisch parteibezogenen (Chancen-)Gleichheit grundlegend: Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, W D S t R L 17 (1959), S. 11 (20, 21, 22, 36ff.); ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 6. Aufl. (1973), S. 64 f., 721, 75, 123, 175, 274; ders., Art. »Parteien, politische1, in: EvStL (1966), Sp. 1484 (1488, 1491); v. d. Heydte, Freiheit der Parteien, in: GR I I (1954), S. 457 (4701, 480, 481, 4891 m. Anm. 94); ders., in: v. d. Heydte /Sacherl, Soziologie der deutschen Parteien (1955), S. 97 ff.; ders., Art. ,Politische Parteien 4, in: StL 6 (1961), Sp. 369 (373, 3741); Forsthoff, a.a.O. (s. oben Anm. 1); Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. (1972), S. 241 ff.; Fuß, Freiheit und Gleichheit des Parteiwirkens, JZ 1959, S. 392 ff.; Jülich, Chancengleichheit der Parteien (1967), S. 69 ff., 119 f l , 133 ff. ; Hegels, Die Chancengleichheit der politischen Parteien im deutschen und ausländischen Redit (1967), S. 8 f i , 94 ff., 104 ff.; Bericht der Parteienrechtskommission: Rechtliche Ordnimg des Parteiwesens, 2. Aufl. (1958), S. 118, 120, 124, 126, 147, 173, 1801, 182, 1941, 198, 210, 217, 254, 2561; Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrecht47 Vgl. audi Dürig, Art. »Gleichheit1, in: StL, 6. Aufl., Bd. 3 (1959), Sp. 983 (984); ders., Art.,Staatsformen 4, in: HwSW, Bd. 9 (1956), Sp. 742 (747). 48 Vgl. hierzu etwa Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur (1931), S. 45 ff., insbes. S. 46; C. Schmitt, Legalität und Legitimität (1932); O. Kirchheimer, Legalität und Legitimität, Die Gesellschaft 9 (1932), Bd. 2, S. 8 f l , jetzt auch in: ders., Politische Herrschaft — Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat (1967), S. 7 ff.

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liehen Gleichheitssatzes (1971), S. 217 ff.; Friesenhahn, Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien in der BRD, ZSR NF 87/1 (1968), S. 245 (265 ff.); Günday, Parteiwesen in der BRD und in der Türkei, jur. Diss. Heidelberg (1972), S. 53 ff. b) Aus der Kommentar-Literatur: Maunz! Dürig, GG (1958 ff.), Rdn. 34, 38 zu Art. 20; 6, 15, 58, 83, 84 zu Art. 21; 23, 24, 34, 50, 53 zu Art. 38 GG; v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. I (1957), Erl. I I 9 zu Art. 3 GG (S.197 f.); IV 2 zu Art. 21 GG; Bd. I I (1964), Erl. I I I 2 c, f zu Art. 38 GG; Leibholz / Rinck, GG, 4. Aufl. (1971), Rdn. 4 - 8 , 13-15 zu Art. 38; 6, 7, 14 zu Art. 21 GG; Hamann ! Lenz GG, 3. Aufl. (1970), Erl. Β 1 b, 2 b zu Art. 21; Β 5 b, c, d zu Art. 38 GG; Giese / Sekunde, GG, 8. Aufl. (1970), Erl. I I 2 zu Art. 38 GG; 3 zu Art. 28 GG; Henke, BK Rdn. 30 zu Art. 21 GG (Zweitbearbeitung 1965); Badura, BK, Rdn. 4, 7-13, Anh. zu Art. 38 GG (Zweitb. 1965); Gubelt, in: v. Münch (Hrsg.), GG-Kom., Bd. 1 (1974), Rdn. 48, 52, 60, 61 zu Art. 3 GG. c) I m Zusammenhang mit der Frage der Sendezeitbemessung: Zu BVerfGE 14, 121: W. Weber, Sendezeiten für Wahlpropaganda der politischen Parteien im Rundfunk, DÖV 1962, S. 241 ff.; Arndt, Schriftsatz v. 16.4.1962; Scheuner, Schriftsatz v. 24.4.1962; — ferner: Quaritsch, Anmerkung (zu verschiedenen SendezeitentScheidungen), JIR 8 (1959), S. 339 (344 ff.); ders., Die politischen Parteien und die Programmfreiheit des Rundfunks, RuF 5 (1957), S. 375 (386ff.); G. B. Krause-Ablaß, Die Neutralitätspflicht der Rundfunkanstalten, RuF 10 (1962), S. 113 (119 ff.). Im übrigen s. unten vor E I . d) Zum Komplex der staatlichen Parteienfinanzierung: Eschenburg, Probleme der modernen Parteifinanzierung (1961), S. 29 f., 34 ff., 411; Dübber, Parteifinanzierung in Deutschland (1962), S. 821; Plate, Parteifinanzierung und Grundgesetz (1966), S. 33ff., 67fl, 111 ff.; Weinmann, Die Finanzierimg politischer Parteien in steuerrechtlicher Betrachtung (1966), S. 25 ff., 521, 541, 59 ff., 74 ff., 79 ff., 1351; Eb. Liermann, Modelle der Parteienfinanzierung und ihre Verfassungsmäßigkeit (1967), S. 48 ff., 55 f., 114 ff., 131 ff., 145, 148, 150; Hug, Die verfassungsrechtliche Problematik der Parteienfinanzierung (1970), S. 109 ff., 127 f l , 136, 143 f l , 161 f l , 170 ff., 177; Ingo v. Münch, Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz bei der Gewährung von Subventionen, AöR 85 (1960), S. 270 (275 ff., 295); Kewenig, Die Problematik der unmittelbaren staatlichen Parteifinanzierung, DÖV 1964, S. 829 (836 ff.) ; Ridder, Grundgesetzwidrige Wettbewerbsbeschränkungen im politischen Prozeß durch staatliche Direktfinanzierung der politischen Parteien?, Festschrift für Franz Böhm (1965), S. 21 (34 ff.); Häberle, Unmittelbare staatliche Parteifinanzierung unter dem Grundgesetz, JuS 1967, S. 64 (72 f.) ; Zwirner, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteifinanzierung, AÖR 93 (1968), S. 81 (821 Anm. 6); Meyer-Arndt, Verfassungsrechtliche Fragen der mittelbaren Staatsfinanzierung politischer Parteien, DÖV 1958, S. 885 (886); Eb. Menzel, Staatliche Parteifinanzierung und moderner Parteienstaat, DÖV 1966, S. 585 (598, 606); Mußgnug, Die staatliche Finanzierung von Wahlkämpfen, NJW 1966, S. 1686 (1690 f.); Löf fier, Dürfen die im Landtag von Baden-Württemberg vertretenen Parteien aus öffentlichen Haushaltsmitteln finanziert werden? Rechtsgutachten (1961), S. 16 ff.,

II. Literarische Anerkennung des Prinzips der gleichen C h a n c e 2 5 22 f.; H. Klein, Verfassungswidrigkeit der staatlichen Parteienfinanzierung, Die Dritte Gewalt 17 (1966), Nr. 15, S. 1 (m. Anm.), 4, 13 ff.; Möller, Parteifinanzierung durch Haushaltsmittel auch auf kommunaler Ebene?, SKV 1963, S. 85 (86, 87). Aus den verschiedenen Verfahren vor dem BVerfG sind folgende Gutachten, Plädoyers und Schriftsätze hervorzuheben: zu BVerfGE 8, 51 (Spendenfall): Arndt, Plädoyer (1958) (zitiert nach der Drudefassung der vom Nomos-Verlag angekündigten, jedoch nicht publizierten Schrift: Kein Staatsgeld für die Parteien), Rdn. 13 („Verletzung der Chancengleichheit aller Parteien"), 14 („Förderung soziologischer Unterschiede unzulässig") (S. 38ff.); zu BVerfGE 20, 56; 20, 119; 20, 134: Friesenhahn, Gutachtliche Stellungnahme zu den beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren, die die Gewährung von Zuschüssen aus dem Bundeshaushaltsplan an die politischen Parteien zum Gegenstand haben (1966) (zitiert: Gutachten), S. 119-154, 74 f., 98; ders., Plädoyer, in: Friesenhahn / Jahn, Zur staatlichen Finanzierung der politischen Parteien, AusPoluZG Β 45/66 ν. 9.11.1966, S. 3 (10 f., 15, 19 f.) ; Wildenmann, Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln (1968), S. 46, 59 f., 66 f., 68 f.; Schriftsatz des Bundesinnenministeriums vom 31.7.1963 im Verfahren 2 BvE 1/62 (BVerfGE 20, 119: GP-Klage), auszugsweise, in den hier interessierenden Teilen jedoch vollständig abgedruckt in: Sänger / Liepelt, Wahlhandbuch 1965, Kennziffer 2.16 (Staatl. Finanzierung), S. 59 (60 ff.) (dort irrtümlich als Schriftsatz im Verfahren 2 BvE 2/64 [BP-Klage] bezeichnet); Zweigert, Rechtsgutachten über einzelne Bestimmungen des PartG (1968), S. 16 ff., 20 ff., 25 ff., 45 ff., 52 f. e) Der Mutterboden der Chancengleichheit ist bekanntlich das Wahlrecht. Hier finden sich denn auch, insbesondere zur Frage der Zulässigkeit wahlgesetzlicher Splitterparteiklauseln, im Kommunalwahlrecht zur Zulässigkeit der Benachteiligung von Bürgervereinen (Rathausparteien), die meisten literarischen Äußerungen zur Chancengleichheit der Parteien. Dennoch gibt es gerade hier immer noch Autoren (und Gerichte), die — anknüpfend an die Diskussion der Weimarer Zeit — die anstehenden Probleme ausschließlich mit Hilfe des Prinzips der Wählergleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1, 28 Abs. 1 S. 2 GG) und des sie (angeblich) „überlagernden" allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) glauben lösen zu können, ohne dabei, jedenfalls nicht explizit, auf den Maßstab einer spezifisch parteibezogenen Chancengleichheit angewiesen zu sein. Am konsequentesten wird dieser Weg von G. Leibholz beschritten. In seinen Arbeiten zum Wahlrecht 49 sucht man vergebens nach einem den subjektiven Gleichheitsanspruch der Parteien kennzeichnenden Terminus. Kein Wunder, daß Leibholz auch sonst die Chancengleich49 Vgl. Leibholz, Gleichheit und Allgemeinheit der Verhältniswahl (1929); ders., Sperrklauseln und Unterschriftsquoren nach dem Bonner Grundgesetz (1954), in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. (1967), S. 1 ff. bzw. S. 41 ff.; ders., Bundesverfassungsgericht und Kommunalwahlrecht, PVS 1 (1960), S. 73 (77 ff.).

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heit der Parteien nur am Rande erwähnt 60 . Auf dieser Linie bewegen sich etwa die beiden Wahlrechtsentscheidungen BVerfGE 4, 31 (39 ff.) (Sperrklausel) und BVerfGE 4, 375 (380, 382 ff.) (Unterschriftsquorum), die von einem Gleichheitsanspruch der Parteien, hält man sich an den Wortlaut, nichts wissen. Schon die für die Chancengleichheit grundlegende Entscheidung BVerfGE 1, 208 stützt sich in den tragenden Gründen allein auf den „Grundsatz der Gleichheit der Wahl" (S. 241 ff.), neben dem der „Gesichtspunkt der freien Wettbewerbschancen der politischen Parteien", der zu demselben Ergebnis führe „wie der zuerst behandelte Ausgangspunkt vom Stimmrecht des einzelnen Wählers" (S. 255), bloße Zutat bleibt, auf die man auch hätte verzichten können. Das Verhältnis der Chancengleichheit zur Wahlrechtsgleichheit ist denn auch ein wunder Punkt in der Wahlrechtsliteratur, der niemals eindeutig geklärt wurde 51 . Der entscheidende Impuls des seit 1950 zu beobachtenden Prozesses der Umorientierung ging — darin liegt sein bleibendes Verdienst — von Forsthoff aus, der die parteibezogene Chancengleichheit zwar noch mit der Wählergleichheit verschränkte 58 und damit die Frage nach dem adäquaten Maßstab in der Schwebe ließ, dessenungeachtet aber mit dem entscheidenden Stichwort den Blick für den hier als Folge des Bedeutungswandels der Wahl im Parteienstaat aufgebrochenen Zwiespalt geschärft hat. Zur Chancengleichheit der Parteien im Wahlrecht haben sich ferner geäußert: Die Wahlrechtskommission in ihrem Bericht: Grundlagen eines deutschen Wahlrechts (1955), S. 31, 33 ff., 42, 44, 48, 59 f., 125, 126; der Beirat für Fragen der Wahlrechtsreform (Wahlrechtsbeirat): Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts (1968), S. 39 ff.; Seifert, Das Bundeswahlgesetz, Kommentar, 2. Aufl. (1965), S. 40, 45, 48 ff., 51 f., 53; Rinck, Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Bonner Grundgesetz, DVB1 1958, S. 221 (224ff.); ders., Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gleichheitssatz, JöR NF 10 (1961), S. 269 (299 ff.); Röhl, Die Bekämpfung der Splitterparteien in Gesetzgebung und Rechtsprechung, DVB1 1954, S. 557 (563), 589 (589, 591, 592, 593); Henrichs, Zur Verfassungsmäßigkeit der Sperrklauseln in Wahlgesetzen, NJW 1956, S. 1703 (1705); Christoph Peter, Wahlabsprachen politischer Parteien und ihre rechtlichen Grenzen (1964), S. 611, 75, 87, 94, 1031, 108, 109 f l , 134 ff., 160, 162; Naß, Wahlorgane und Wahlverfahren bei Bundes- und Landtagswahlen (1959), S. 47, 55, 56, 58, 97, 148, 192; Apelt, Die Gleichheit vor dem M Leibholz, Strukturprobleme (Anm. 49), S. 140 m. Anm. 6; ders., Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. (1959), S. 6; s. auch oben Anm. 1. 51 Wie Leibholz beispielsweise auch Füßlein, Die Fortentwicklung des Bundeswahlrechts in den Bundeswahlgesetzen von 1949, 1953 und 1956, DÖV 1957, S. 601 (6041); Wernicke, BK, Erl. I I 1 d zu Art. 21 GG (Erstbearbeitung 1954), und die gesamte Wahlrechtsliteratur bis 1950. » Forsthoff, Parteien (Anm. 9), S. 13; ders., AöR 76 (1950/51), S. 374, 376.

II. Literarische Anerkennung des Prinzips der gleichen C h a n c e 2 7 Gesetz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, JZ 1951, S. 353 (356 f.); v. Mangoldt, Die Wahltaktik der schleswig-holsteinschen Landesregierung und das Lüneburger Oberverwaltungsgericht, DÖV 1950, S. 569 (571 ff.); ders., GG (1953), Erl. 3 zu Art. 38 GG; F. Müller, Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des BVerfG (1968), S. 17 f.; Hegels, Chancengleichheit der Parteien, ZRP 1969, 105 ff.; Friesenhahn, Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, ZSR NF 87/1 (1968), 245 (249 ff.); Kalte/letter, Zur Chancengleichheit der Parteien in der Bundesrepublik, VfuVfw. 1968, 214 ff.; Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl (1967), S. 28 ff., 37 ff.; Ko ja, Wahlrecht und Gleichheitssatz — Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in der deutschen Bundesrepublik und in Österreich. Zur Frage der Zulässigkeit einer verschiedenen rechtlichen Behandlung von Wahlparteien, ÖVerwArch 2 (1963), S. 153 ff.; 3 (1964), S. 1 (3 ff.); Feneberg / Simader, BWG, 6. Aufl. (1969), S. 16 (Erl. 2 d zu § 1 BWG), 23 (Erl. 5 zu § 6 BWG); Unkelbach, Grundlagen der Wahlsystematik (1956), S. 59, 83, 97 f., 137, 172, 182; Westerath, Die Wahlverfahren und ihre Vereinbarkeit mit den demokratischen Anforderungen an das Wahlrecht (1955), S. 17 f., 44 f. — Zum Kommunalwahlrecht vgl. insbesondere: W. Grundmann, Die Rathausparteien (1960), S. 59, 61 f., 70, 71 f., 78, 82, 102; Lintz, Die politischen Parteien im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung (1973), S. 154 ff.; Röttgen, Parteibegriff und Gemeindewahlrecht, DVB1 1958, S. 593 (594, 596f.); ders., Sicherung der gemeindlichen Selbstverwaltung (1960), S. 17 ff.; O. Jacob, Kommunalrecht in Bewegung, NJW 1960, S. 1929 (19301, 1932); A. Arndt, Anmerkung (zu BVerfGE 12, 10), JZ 1961, S. 881; Rinck, Parteienstaat und Selbstverwaltung, JZ 1961, S. 73 (75 f., 77); Rubehn, Parteienprivileg auch für die nichtpolitischen Wählergruppen, DÖV 1960, S. 667 ff.; Rietdorf, Parteien und Bürgervereinigungen in der Gemeinde, in: Bürgerverantwortimg in der Gemeinde (1952), S. 163 (171 ff.) ; Scheuner, Gemeindeverfassung und kommunale Aufgabenstellung in der Gegenwart, ArchKW 1 (1962), S. 149 (165 f.). — Aus der kaum nodi überschaubaren wahlrechtlichen Dissertationsliteratur seien hervorgehoben: Mahrenholz, Wahlgleichheit im parlamentarischen Parteienstaat der Bundesrepublik (1957), S. 15 f l , 17 ff., 28, 30, 39, 40, 41 f l , 461 (m. Anm. 108), 491, 69, 83 ff., 90, 93, 100, 1071; Unland, Die Verfassungsmäßigkeit der Bekämpfung politischer Splitterparteien durch Minderheitsklauseln in Wahlgesetzen (1955), S. 72 f l , 79 f., 87, 88 f l ; Franz Simon, Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl unter Berücksichtigung außerdeutscher Wahlrechte (1959), S. 341, 371, 42, 49 f l , 65 ff., 79, 86 ff., 102 ff., 123, 128, 139, 160 f l ; Oskar Schröder, Splitterparteien (1955), S. 31 ff., 34 f l , 371, 42, 46, 59, 61, 62 ff., 68; Führling, Die Bekämpfung der Parteienzersplitterung durch Beschränkungsbestimmungen im deutschen Wahlrecht der Gegenwart (1954), S. 351, 461, 54; Wülbers, Wahlgesetze und Gleichheitsgrundsatz — Eine Untersuchung neuerer deutscher Wahlgesetze unter besonderer Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes (1950), S. 13 (m. Anm. 54), 21, 23, 25, 43, 57 ff., 60; Mau, Gemeindewahlrecht und Wahlrechtsgleichheit (1962), S. 101, 18 f l , 145, 1481, 150, 1551, 157 f l ; hasdhitza, Der Grundsatz der gleichen Wahl im deutschen Staatsrecht (1954), S. 81, 102, 114ff.; Bläst, Die Gleichheit des parlamentarischen Wahlrechts des Bundes und der Länder (1956), S. 106, 112 ff.; v. Wächter, Die Beschränkung der Wettbewerbsmöglichkeiten kleiner Gruppen im Rahmen der geltenden westdeutschen staatlichen Wahlsysteme (1956), S. 5, 12 ff., 138 ff., 171 ff., 199 f l , 245 f l , 293 f l , 313 f l , 317 f l , 324 f l , 334 f l , 343 f l , 364 ff. — Weitere Nachweise unten Β I.

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Einführung

f) Verstreute bzw. beiläufige, dennoch wichtige Bemerkungen zur Chancengleichheit finden sich bei: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. (1967), S. 530 ff., 571, 251, 372, 562; Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, W D S t R L 16 (1958), S. 9 (16, 26 f.); ders., Die politischen Grundlagen des Bonner Grundgesetzes, RStW I I (1950), S. 164; Schule, Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts (1964), S. 79 f., 118, 127; J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen (1956), S. 237 Anm. 14; Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat (1966), S. 152 ff., insb. S. 156 f.; Röttgen, Fondsverwaltung in der Bundesrepublik (1965), S. 37 f.; ders., Subventionen als Mittel der Verwaltung, DVB1. 1950, S. 485 (490); Ziebill, Politische Parteien und Selbstverwaltung (1964), S. 45, 47 f.; Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz und Drittwirkung, Festschrift für Jahrreiß (1964), S. 339 (344, 349); Ipsen, Gleichheit, GR I I (1954), S. 111 (127 Anm. 50; vgl. audi S. 120, 136, 153, 154, 162, 170ff., 179f., 183, 185, 188, 191 ff.); Harnischfeger, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten (1966), S. 62ff., 70ff.; Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR 77 (1951/52), S. 167 (193 f., 195); Hans Peters, Art. »Demokratie4, StL, 6. Aufl., Bd. 2 (1958), Sp. 560 (564, 565, 567, 568, 569, 574, 585, 586, 587, 591); ders., Art. ,Wahlen4, StL, 6. Aufl., Bd. 8 (1963), Sp. 398 (399, 400f.); ders., Die Opposition in der parlamentarischen Demokratie, ÖZÖR NF 10 (1959/60), S. 424; ders., Entwicklungstendenzen der Demokratie in Deutschland seit 1949, Festgabe für Z. Giacometti (1953), S. 229 (235, 241); Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. (1967), S. 140 m. Anm. 6; ders., Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. (1959), S. 6 (s. ferner oben Anm. 1); W. Seuffert, Zu den Grundlagen des Begriffs der politischen Partei, Festgabe für Carlo Schmidt (1962), S. 199 (203, 204, 207 f.); Lohmar, Innerparteiliche Demokratie (1963), S. 127 f., 132; Ridder, KPD-Verbot (1966), S. 43 (s. audi oben Anm. 15); Heinemann, Die Rechtsordnung des politischen Kampfes, NJW 1962, S. 889 (889 f., 891); ders., Das Zwei-Klassen-Wahlrecht (Leserbrief), DUZ XII/3 (1957), S. 15; Scheuner, Die institutionellen Garantien des Grundgesetzes, RStW IV (1953), S. 88 (103 f.); ders., Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und das Verfassungsrecht der Bundesrepublik, DVB1. 1952, S. 645 (647); Walter Menzel, Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, DVBl. 1959, S. 346 (352); Seifert, Zur Rechtsstellung der politischen Parteien, DÖV 1956, S. 1 (7, 2 Anm. 6); Willms, Zur Problematik eines Parteiengesetzes, JZ 1958, S. 265 (267); Raack, Die Parteien in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik (1963), S. 10; W. O. Schmitt, Der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, DÖV 1965, S. 433 (439 f.); Abendroth, Das Grundgesetz (1966), S. 83 f., 87; ders., Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie in der Bundesrepublik (1965), S. 91, 93, 108 f. m. Anm. 149; Rincfc, Der verfassungsrechtliche Status der politischen Parteien, Festschrift für Leibholz (1966), Bd. 2, S. 305 (319 ff.); Rüchenhoff, Gleichheit und Ungleichheit im Verfassungsrecht, JR 1959, S. 281; Henrichs, Parteibegriff und Parteienregistrierung, DVBl. 1958, S. 227 (230); Loewenstein, Verfassungslehre (1959), S. 274, 284 f., 362 ff.; Gre we, Die Parteien im deutschen Verfassungsrecht — Ihre Bedingungen und Aufgaben, Das Parlament 3 (1953), Nr. 35 v. 2.9.1953, S. 3; Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie (1954), S. 135; Breithaupt, Das Parteiengesetz vom 24. Juli 1967, JZ 1967, S. 561 (561 f., 563 f.); Wulf, Zur Frage der Differenzierung bei der Zuteilung von Plakatflächen an

. iterarische Anerkennung des Prinzips der gleichen C h a n c e 2 9 politische Parteien, SKV 1965, S. 219 (2191); W. Rudolph, Die Mitgliedschaft von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes in nicht verbotenen verfassungsfeindlichen Parteien und Vereinigungen, DVBL 1967, S. 647 bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1954 auf 6,3 °/o der in Nordrhein-Westfalen abgegebenen Stimmen bei der Bundestagswahl 1957. (Soweit nichts anderes vermerkt, sind die wahlstatistischen Angaben der Zusammenstellung der Wahlergebnisse in Bund und Ländern entnommen, die in der Loseblattsammlung „Recht und Organisation der Parlamente", hrsg. im Auftrage der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft, Bd. 2, Leitzahl 54 abgedruckt ist.) — Wäre daher etwa der WDR berechtigt gewesen, der FDP für die nordrheinwestfälische Landtagswahl von 1958 weniger als 11,5 °/o der für die Wahlpropaganda der Parteien vorgesehenen Gesamtsendezeit zur Verfügung zu stellen? — Vom Standpunkt des BVerfG aus wohl kaum. 210 BVerfGE 14,138 (sub C III). 211 Der Stimmanteil betrug für die CDU 50,5 °/o, für die SPD 39,2 °/o, für die FDP 7,1 °/o. Der Rest von 3,2 °/o verteilte sich auf Splitterparteien. 212 Von den 200 Landtagssitzen erhielten 1958 die CDU 104 (52 °/o), die SPD 81 (40,5 %>), die FDP 15 (7,5 °/o) Sitze. 215 BVerfGE 14,139. 218a Das wird rückschauend offen zugegeben in BVerfGE 24, 300 (345); vgl. unten nach Anm. F/546. 214 Vgl. Bulletin 1961 (Nr. 55), S. 530 (vgl. auch S. 543).

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„erhebliche Kräfteverschiebung" seit der letzten Landtagswahl gewesen sein? — Ebensowenig wird der Verteilungsschlüssel des WDR daraufhin untersucht, ob er Alter, Kontinuität, Mitgliederzahl und Organisationsnetz der FDP in Bund und Land berücksichtigt und wie sich auf ihn die derzeitige parlamentarische Vertretung und Regierungsbeteiligung der FDP „in Bund und Ländern" 216 hätte auswirken müssen. Ja, es werden nicht einmal die einschlägigen Daten dieser Faktoren ermittelt. Mit anderen Worten: Jede, aber auch jede Sendezeitbemessung, die sich innerhalb des Spielraums zwischen dem letzten Wahlergebnis bzw. der gegenwärtigen Sitzverteilung im neu zu wählenden Parlament und der schematischen Gleichbehandlung aller Parteien bewegt, was für eine am Mandatsproporz orientierte Betrachtungsweise zwangsläufig zu einer mit der Annäherung an die Parität steigenden „Begünstigung" der kleinen Parteien „auf Kosten" der großen führen muß, ist entweder „offensichtlich" oder „noch mit dem Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen vereinbar" 216 . Sie „hält sich . . . (sc. stets) in dem verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen, weil sie . . . der unterschiedlichen Bedeutung der in Betracht kommenden Parteien angemessen Rechnimg trägt" 2 1 7 . An welchen „Faktoren" sie im konkreten Fall jeweils orientiert ist, ja, ob von einer solchen Orientierung überhaupt die Rede sein kann, ist eine vom Gericht nicht zu untersuchende und daher auch nicht zu beurteilende Frage des exekutiven Ermessens. Von einem „Berücksichtigen-Müssen" anderer Faktoren als demjenigen des letzten Wahlergebnisses kann folglich keine Rede sein. Demgegenüber war es für das Ergebnis der Entscheidung nicht mehr von Belang, daß das Gericht den umstrittenen Verteilungsschlüssel des WDR einer wenig überzeugenden Deutung unterzog: Der WDR hatte den Parlamentsparteien CDU, SPD und FDP im Hörfunk zusätzlich zu den abgestuften Kurzpropaganda-Sendungen der Parteien 218 noch je eine zusammenhängende 25-Minuten-Sendung zur Verfügung gestellt, in der sie sich jeweils den Fragen ihrer beiden Konkurrentinnen stellen sollten. Das Gericht qualifiziert auch diese Fragesendungen stillschwei115

BVerfGE 24, 355. BVerfGE 14,139. 217 Ebd., S. 140. 218 Die für diese Kurzsendungen in Hörfunk und Fernsehen zur Verfügung gestellte Sendezeit betrug für die Parlamentsparteien insgesamt je 145 Minuten. Davon erhielten die CDU 13 Sendungen zu je 5 Minuten = 65 Minuten (45%), die SPD 11 Sendungen zu je 5 Minuten = 55 Minuten (38°/o), die FDP 5 Sendungen zu je 5 Minuten = 25 Minuten (17 °/o). Vgl. den Wortlaut des Verteilungsplanes (BVerfGE 14, 122 f.) und die inhaltliche Zusammenfassung der Regelung (S. 139). 216

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gend als „Wahlpropaganda" und kommt daher im Hörfunk auf einen für die FDP nodi viel günstigeren Schlüssel21·. Dabei konnte bei den 3 Fragesendungen doch nur sehr bedingt von einer „Wahlpropaganda" der befragten Partei die Rede sein. Die heiklen Fragen der Gegner dürften eher eine gegenteilige Wirkung bezweckt haben, mit der Folge, daß solche Sendungen unter Umständen sogar zu Propagandaerfolgen der Fragesteller und ihrer Parteien führen konnten. Bei den vergleichbaren Diskussionssendungen des Deutschen Fernsehens zur Bundestagswahl 1961 hatte es das Gericht demgegenüber zwar ausdrücklich dahingestellt sein lassen, ob solche Sendungen „überhaupt als Wahlpropaganda qualifiziert werden können", aber bereits „gewichtige Bedenken" gegen eine solche Einstufung angemeldet. Wenn es dann doch ihre Propagandafunktion unterstellt hat, so geschah dies lediglich deshalb, weil es von der Prämisse ausging, diese Unterstellung wirke sich zugunsten der beschwerdeführenden Partei aus 220 . Bei der Bewertung der so gefundenen unterschiedlichen Verteilungsschlüssel für Hörfunk und Fernsehen 221 wurde das Gericht zudem noch ein Opfer seiner Proporzüberlegungen: Beim Hörfunk wurden nämlich nach Ansicht des Gerichts „mehr als die Hälfte der Gesamtsendezeit zu gleichen Teilen an die im Parlament vertretenen Parteien vergeben und lediglich der Rest in Annäherung an das letzte Wahlergebnis proportional verteilt" 222 . Das ist indes ein Irrtum. Der Sockel mit insgesamt 75 Minuten beträgt zwar „mehr als die Hälfte" der den Parlamentsparteien zugedachten 145 Minuten für Kurzpropaganda-Sendungen, nicht aber, wie das Gericht annimmt, mehr als die Hälfte der ihnen zur Verfügung stehenden „Gesamtsendezeit" von 220 Minuten 2 2 8 . Selbst wenn man daher mit dem Gericht die Fragesendungen als „Wahlpropaganda" einstufen und sie darüber hinaus den „Wahlsendungen" als gleichwertige Sendungen hinzuaddieren wollte, käme man lediglich zu dem Ergebnis, daß nach dem Verteilungsplan etwa ein Drittel der Gesamtsendezeit zu gleichen Teilen vergeben worden ist, wobei dann freilich noch zu klären wäre, ob die „Gesamtsendezeit" aus 220 oder 245 Minuten besteht. «· Ebd., S. 139: „CDU 41 °/e, SPD 36 °/o und FDP 23 °/o." *» BVerfGE 13, 204 (205); siehe E I 4. m Bemerkenswerterweise untersucht und bewertet das Gericht die Sendezeiten in Hörfunk und Fernsehen völlig isoliert — im Gegensatz zu den Frage- und Kurzpropaganda-Sendungen im Hörfunk —, obwohl man doch auch hier an eine zusammenfassende, übermäßige Abstufungen eines Sendeprogramms kompensierende Gesamtschau und -wertung denken könnte. « BVerfGE 14,139. *** Dabei bleibt der Umstand, daß ja noch 25 Minuten für weitere Parteien reserviert waren (ebd., S. 122 f.), völlig außer Betracht, obwohl doch auch sie unter den Begriff der „Gesamtsendezeit" fallen.

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I n diesem Irrtum befangen, kommt das Gericht zu einer höchst aufschlußreichen unterschiedlichen Bewertung der unbeschadet der Abstufung zahl- und zeitgleichen Kurzpropaganda in Hörfunk und Fernsehen: im Hörfunk sei sie („der Rest") „in Annäherung an das letzte Wahlergebnis proportional verteilt worden". I n Verbindung mit den Fragesendungen sei diese Verteilung mit dem Grundsatz der Chancengleichheit „offensichtlich vereinbar" 224 . Die gleiche Regelung für die 5-Minuten^Sendungen des Fernsehens wird demgegenüber anders beurteilt, wenn das Gericht meint, auch hier sei die Gesamtsendezeit „nicht nur nach dem Maßstab des letzten Wahlergebnisses proportional verteilt worden" 224 , also dem Wahlergebnis offenbar gerade nicht „angenähert". Doch auch diese Verteilung sei „noch" so bemessen, daß sie der FDP einerseits „überhaupt eine wirksame Wahlpropaganda ermöglicht" 224 , andererseits aber auch „ihrer Bedeutung als einer im Parlament vertretenen Partei" gerecht werde 225 . Von beiden Aspekten ist aber in Wahrheit nur der letzte für die Entscheidung relevant geworden. Der Bedeutung der FDP als einer im Parlament vertretenen Partei entspreche auch „noch" eine Sendezeit von 17°/o (25 Minuten) der den Parlamentsparteien insgesamt eingeräumten Zeit (145 Minuten), was bezogen auf die Gesamtsendezeit im Fernsehen (170 Minuten) einem Anteil von 14,7% entspricht. Das sei nämlich „mehr als das Doppelte an Sendezeit", die „ihr bei rein proportionaler Verteilung zustehen würde", womit das Gericht offensichtlich auf die Landtagsvertretung der FDP (7,5 °/o) bzw. auf das Wahlergebnis von 1958 (7,1 °/o) Bezug nimmt. Wenn das Gericht damit den „Maßstab des letzten Wahlergebnisses", die „rein proportionale Verteilung", zum Angelpunkt seiner Ermessenskontrolle macht, wird man daraus wohl auch den Schluß ziehen dürfen, daß es — jedenfalls im Ergebnis — auch eine „rein proportionale Verteilung" „noch" als zulässig angesehen hätte und folgerichtig auch hätte ansehen müssen. Zulässig soll andererseits aber nicht nur eine Verdoppelung, sondern auch eine Verdreifachung der Sendezeit sein, wie dies beim Hörfunk der Fall war. Ja, sogar ein Verteilungsschlüssel — das Gericht hält ihn irrigerweise für gegeben —, bei dem „mehr als die Hälfte der Sendezeit zu gleichen Teilen . . . vergeben und lediglich der Rest in Annäherung an das letzte Wahlergebnis proportional verteilt" wird (Paritätssockel + Proporzzuschlag), soll nach den Worten des Gerichts mit dem Grundsatz der Chancengleichheit immer noch „offensichtlich vereinbar" sein 22 ·. Schließlich entspricht nach Meinung des Gerichts 224 225 226

Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Ebd.. S. 139.

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auch und vor allem eine ausnahmslos paritätische Verteilung der Gesamtsendezeit dem Grundsatz der Chancengleichheit227. Alle diese Verteilungsschlüssel hätten demnach in gleicher Weise der Bedeutung der FDP „als einer im Parlament vertretenen Partei" entsprochen. Die gleichmäßige Vergabe der für die Fragesendungen vorgesehenen Sendezeit (75 Minuten) an die drei im Landtag vertretenen Parteien — sie bilden nach Auffassung des Gerichts den für alle gleichen Propaganda-Sockel der Wahlwerbung im Rundfunk — wird im WDRBeschluß als „am Prinzip der formalen Gleichberechtigung der politischen Parteien im Wahlwettbewerb orientiert" bezeichnet228. Mit dieser isolierten Betrachtungsweise widerspricht das Gericht indes seiner eigenen Prämisse, wonach diese Sendungen mit den 5-MinutenSendungen eine Einheit bildeten und daher mit diesen „zusammengesehen und gewertet werden" müßten 229 . Zudem ist diese Feststellung auch isoliert unzutreffend, da die mandatslosen Parteien — wie schon bei der Bundestagswahl 1961 im Deutschen Fernsehen — von den Fragesendungen völlig ausgeschlossen waren 2 3 0 . Deutlicher konnte das Gericht kaum zum Ausdruck bringen, daß es vom Boden der Differenzierungsbefugnis aus keinerlei Orientierung mehr gibt, von verbindlichen Maßstäben ganz zu schweigen, daß folglich das Ermessen des Rundfunks nicht nur „weit" statt „eng", sondern darüber hinaus auch noch ungebunden ist, weil das Gericht keine verbindlichen Ermessensgrenzen anzugeben vermochte, an denen sich der jeweils gewählte Verteilungsschlüssel hätte messen lassen 231 . Hierher gehört audi das Schwanken zwischen dem letzten Wahlergebnis und der gegenwärtigen Parlamentsvertretung einer Partei als Leitindizien 227

Ebd., S. 134,140. Ebd., S. 140. 229 BVerfGE 13, 204 (206). 280 Aus diesem Grunde ist audi die Sockel-These irrig. Vgl. den Verteilungsplan (BVerfGE 14, 122 f.) sowie die sogleich zu erörternde Entscheidung BVerfGE 14, 192, wonach ζ. B. der GP für die Wahlpropaganda zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1962 vom WDR lediglich 5 Minuten im Hörfunk und 5 Minuten im Fernsehen eingeräumt wurden. 281 Es handelt sich hier um den Fall eines „freien" ( = ungebundenen) Ermessens, wie es etwa dem inzwischen vom BVerfG für nichtig erklärten Sammlungsgesetz von 1934 zugrunde lag (BVerfGE 20, 150 [157]). Dieses Gesetz und seine Würdigung durch das BVerfG sind übrigens ein Beweis dafür, daß Verwaltungsermessen nicht schon per se „gebundenes" Ermessen ist. Fehlt es, wie im vorliegenden Fall, an verbindlichen Direktiven, so ist das Ermessen der Behörde „ungebunden", gleichgültig, ob sie von ihm einen engherzigen oder großzügigen Gebrauch macht. Eine Norm, die der Verwaltung ein solch freies Ermessen einräumt, ist naturgemäß auch keiner „verfassungskonformen" bzw. bindungskonformen Auslegung zugänglich (BVerfGE 20, 160 f.), weil Richtung und Inhalt der Ermessensentscheidung auch nicht andeutungsweise umrissen sind. 218

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für ihre Gegenwartsbedeutung. In den früheren Sendezeitbeschlüssen war darüber hinaus als einer der möglichen (alleinigen) Anknüpfungspunkte die „bisherige Vertretung der Parteien in den Parlamenten" genannt worden 282 . An dieser unscharfen Direktive scheint auch der WDR-Beschluß nodi festzuhalten 288 . Auch dies zeigt, wie problematisch im Grunde die Bezugsgröße der „Bedeutung (sc. der FDP) als einer im Parlament vertretenen Partei" ist. Das Gericht hätte genausogut von der Bedeutung der FDP als einer „in den Parlamenten" bisher vertretenen Partei 2 8 4 , als einer „im Parlament in Bund oder Ländern" vertretenen 286 oder schließlich als einer bei der (bzw. den) letzten Parlamentswahl(en) erfolgreichen, d.h. als einer an den Ergebnissen dieser Wahl(en) teilhabenden Partei sprechen können. Die Abstraktionshöhe ist stets die gleiche und gestattet, die genannten Formeln beliebig auszutauschen. Das Gericht hat dies selbst demonstriert, indem es „das vorhergehende Wahlergebnis" 286 und „die bisherige Vertretung der Parteien in den Parlamenten" 286 als Synonyma versteht 287 . Diese abstrakten Formeln werden auch bei ihrer Anwendung nicht konkreter: Es geht eben nicht darum, ob, wo und in welcher Stärke etwa die GP im Zeitpunkt des Sendezeitbeschlusses BVerfGE 13, 204 „in den Parlamenten" vertreten war, oder darum, ob und wie stark im vorliegenden Fall die FDP im Frühjahr 1962 im nordrhein-westfälischen Landtag vertreten war. Auch jede andere der genannten Formeln hätte zum gleichen Ergebnis geführt. Einzig relevant scheint danach zu sein, ob es sich um eine „alte" oder „neue" Partei handelt. Einer alten Partei ist dann eine Sendezeit einzuräumen, die ihrer — frei einschätzbaren — „Bedeutung" „entspricht" 288 , einer neuen eine solche, die „angemessen" wenigstens in dem Sinne ist, daß sie ihr „überhaupt (sc. noch) eine wirksame Wahlpropaganda (sc. im Kundfunk) ermöglicht" 289 . Vgl. BVerfGE 7, 108; 13, 205; Beschluß v. 6.11.1957 (2 BvR 10/57), S. 3 (Herv. v. Verf.). 888 Von hier aus wird nämlich deutlich, was das Gericht in BVerfGE 14, 137 mit den „Ergebnissen der letzten" bzw. „vorhergehenden Parlamentswahlen" meint, und daß es als zu berücksichtigenden Faktor nicht nur die Beteiligung der Parteien „an der Regierung in Bund oder Ländern", sondern auch „ihre Vertretung im Parlament... in Bund oder (sc. und) Ländern" verstanden wissen will. Vgl. auch BVerfGE 24, 355; 34,164. 884 So lautete die entsprechende Formel für die GP in BVerfGE 13, 204 (206): „ . . . weil dieser Partei... insgesamt eine ihrer Bedeutung und bisherigen Vertretung in den Parlamenten angemessene Redezeit gewährt worden ist." — Diese Formulierung ist allerdings mißverständlich, denn die „bisherige Vertretung" soll ja gerade kein selbständig neben die „Bedeutung" der Partei tretender Faktor sein, sondern lediglich eines ihrer Merkmale bilden (vgl. BVerfGE 13, 205). Irrig insoweit auch BVerfGE 34, 164. 888 BVerfGE 14, 137. 888 BVerfGE 7,108; 13, 205. 237 BVerfGE 14,137. 888 Ebd.. S. 140.

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Selbst das „Wahlergebnis" 240 bzw. die „Vertretimg im Parlament" 241 sind danach keine konkret faßbaren Faktoren der Parteibedeutung, die ihr die für einen Rechtsbegriff und seine Handhabung erforderlichen Konturen vermitteln könnten, sondern ebenso elastisch und unscharf wie alle anderen „Indizien", da das Ausmaß ihrer Berücksichtigung und die Einschätzung ihres jeweiligen Wirkungsgrades wie bei den übrigen „Faktoren" mehr oder weniger vollständig zur Disposition der öffentlichen Gewalt gestellt wird. c) Die Zahl der Kandidaturen als Kriterium der Parteibedeutung Bei dieser Unsicherheit aller vom Gericht vorgeschlagenen Bedeutungsfaktoren drängt sich die Frage auf, warum es nicht die „Zahl der aufgestellten Kandidaten" 242 als geeignetes Indiz für die Bedeutung der wahlwerbenden Parteien gelten lassen will 2 4 8 . Erscheint doch gerade dieser Anknüpfungspunkt als sachgerecht, weil er zu einer Abstufung der Sendezeit führt, die den freien Wahlwettbewerb der Parteien am wenigsten beeinträchtigt. Das Gericht führt aus, die Zahl der Kandidaten lasse deshalb keinen Rückschluß auf die gegenwärtige Bedeutung ihrer Parteien zu, weil „im System der personalisierten Verhältniswahl" jede Partei genötigt sei, in allen Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, wenn sie nicht von vornherein bei der „letztlich entscheidenden" Stimmenverrechnung auf Landesebene „auf Stimmen aus einem Wahlkreise" verzichten wolle 2 4 4 . Diese Überlegung ist aber so sehr auf gewisse Besonderheiten des nordrhein-westfälischen Landtagswahlrechts abgestellt, daß man sich davor hüten muß, sie zu verallgemeinern. Im Lande Nordrhein-Westfalen wird wie im Bund nach einem „System der personalisierten Verhältniswahl" 245 gewählt, d.h. einer Mischung zwischen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen und Verhältnis184 BVerfGE 7, 108; 14, 139. Allerdings bleibt auch bei dieser Deutung noch zweifelhaft, wann eine Partei als „alt" bzw. als „neu" zu gelten hat. Ist etwa eine Partei, die zwar an der letzten Wahl teilgenommen, aber keine Mandate errungen hat, schon deshalb eine „neue" Partei? Ist eine Partei, die erstmals an der Wahl des jeweils in Rede stehenden Parlaments teilnimmt, sich aber früher bereits mit Erfolg an Wahlen zu anderen Vertretungskörperschaften beteiligt hat, schon deshalb eine „alte" Partei? 844 BVerfGE 14,137,139. 841 Ebd., S. 137,140. 848 Ebd., S. 137. 848 Ebd., S. 138. Zu diesem Bedeutungskriterium vgl. Jülich (Anm. 1), S. 122, 124,129; Hegels (Anm. 49), S. 132 ff. 844 BVerfGE 14,138. 245 Ebd.. S. 137.

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ausgleich über Listen 246 . I m Gegensatz zum BWG kennt aber das L W G NW, das das Schwergewicht auf die Mehrheitswahl legt 2 4 7 , keine Zweitstimme. Der Wähler hat nur eine einzige Stimme (§ 26), die für einen Wahlkreiskandidaten abgegeben wird und über diesen — sofern es sich um einen Parteikandidaten handelt — „mittelbar" der Landesreserveliste seiner Partei zugute kommt 248 . Eine kleine Partei ist also — zwar nicht rechtlich, aber doch faktisch — genötigt, in allen 150 Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, weil sie andernfalls nicht in der Lage ist, die Stimmen aller ihrer Anhänger im Lande zu sammeln und sich damit von vornherein der Aussicht begibt, das für eine Zuteilung von Sitzen vorgeschriebene Quorum von 5°/o der Gesamtstimmenzahl (§ 33) zu erreichen 24·. Allein diesen Befund hat das Gericht im WDR-Beschluß vor Augen, wenn es ausführt, „die Zahl der von den einzelnen Parteien aufgestellten Bewerber läßt daher keinen Rückschluß auf ihre gegenwärtige Bedeutimg zu" 2 6 0 . Diese These läßt sich wegen ihrer knappen Basis nicht verallgemeinern. Sie steht und fällt mit der erwähnten Eigentümlichkeit des L W G NW, auf die sie bezogen ist. Bei den Landtagswahlen der übrigen Länder wie auch bei der Bundestagswahl kann dagegen die Zahl der aufgestellten Kandidaten sehr wohl ein „geeigneter Anhalt für die Bedeutung der im Wahlkampf konkurrierenden Parteien" 260 sein. Denn eine völlig unbedeutende Partei wird kaum in der Lage sein, in allen oder auch nur in einer ansehnlichen Zahl von Wahlkreisen Bewerber aufzustellen. Bei der Zulassung zur Wahlpropaganda im Rundfunk verlangt denn auch die Praxis vielfach eine gewisse Mindestzahl von Kandidaturen 261 . 246

Der Landtagswahl 1962 lag das LWG NW i.d.F. v. 27. 2.1962 (GVB1. S. 97) zugrunde. Von ihm ging auch der WDR-Beschluß aus. Seitdem ist es mehrfach geändert worden. Die hier in Betracht kommenden §§ 19, 20 (Unterschriftsklausel) und 32, 33 (Sitzverteilung) gelten nahezu unverändert auch heute noch. Vergleichbare Regelungen enthielten auch schon die früheren Fassungen; so das LWG v. 26.3.1954 (GVB1. S. 88), das wegen seiner Unterschriftsklausel zu dem Verfahren BVerfGE 3, 383 geführt hatte. 247 Von (regelmäßig) 200 Abgeordneten werden 150 direkt gewählt (§§ 13, 14, 32, 33 LWG 1962). 248 Vgl. hierzu BVerfGE 3, 383 (395). 249 Vgl. BVerfGE 3, 387; 14,138. 250 BVerfGE 14,138. 251 So machten etwa das Deutsche Fernsehen und das ZDF 1965 die Zulassung kleiner Parteien zu einer einmaligen Kurzpropaganda-Sendung von 5 oder 21/* Minuten davon abhängig, daß sie „in mindestens zwei Dritteln aller Wahlkreise eigene Kandidaten aufgestellt haben": vgl. Nr. 4 des Protokolls über die Sendungen der politischen Parteien anläßlich der Bundestagswahl 1965 vom 8.2.1965, abgedruckt in Sänger / Liepelt, Wahlhandbuch 1965, Kennziff. 2.35 (Sendezeiten), S. 8. Dieselbe Regelung galt bereits für die Bundestagswahl 1961: vgl. BVerfGE 13, 204 (205). Eine ähnliche

II. Der Beschluß vom 30. Mai 1962

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Ist die Zahl der Kandidaten aber ein geeignetes Kriterium, um nach der Bedeutung der wahlwerbenden Parteien bei der Zulassung zur Rundfunkwerbung zu differenzieren 252 , so kann für die Abstufung der Sendezeiten nach eben dieser Bedeutung nichts anderes gelten. Von hier aus wird man aber auch die These des Gerichts, das Landtagswahlrecht von Nordrhein-Westfalen lasse keinen Rückschluß von der Zahl der Kandidaten auf die gegenwärtige Bedeutung der wahlwerbenden Parteien zu, in Frage stellen müssen. Denn auch in Nordrhein-Westfalen ist es gerade für eine kleine Partei eine „bedeutende" Leistung, in allen 150 Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen und damit im ganzen Land das Wagnis eines kostspieligen, zeitraubenden und zermürbenden Wahlkampfes mit übermächtigen Gegnern auf sich zu nehmen und durchzustehen. Auch hier muß es daher möglich sein — jedenfalls von der grundsätzlichen Prämisse des Gerichts aus, daß es Faktoren gebe, die einen Rückschluß auf die jeweilige Bedeutung einer Partei einwandfrei zulassen —, von der Zahl der Bewerber auf die Bedeutung ihrer Partei zu schließen. Das gilt insbesondere für diejenigen Parteien, die der Unterschriftsklausel des L W G N W (§ 19 II) unterliegen: Diese müssen nämlich für jeden Kreiswahlvorschlag mindestens 100 einwandfreie Unterschriften beibringen, also wenn sie in allen 150 Wahlkreisen Kandidaten aufstellen wollen, mindestens 15 000 258 . Schon für eine große Partei wäre eine solche Forderung eine nicht geringe Zumutung, und es ist keineswegs sicher, ob sie eine soldi Regelung enthält der bisher nicht geänderte Beschluß des Rundfunk- und Verwaltungsrates des SWF vom 17.1.1959 über die Regelung der Sendezeiten für politische Parteien: Danach (Nr. 2 b u. 3) wird bei Landtagswahlen kleinen Parteien nur dann eine — freilich kürzere — Sendezeit gewährt, wenn für sie „in der Mehrzahl der Wahlkreise . . . Wahlvorschläge zugelassen sind": vgl. BVerwGE 35, 344 (346). Vgl. auch § 3 Nr. 6 HessRfG, wonach lediglich den Parteien, die in allen Wahlkreisen Wahlvorschläge eingereicht haben, Sendezeit zu gewähren ist. Schließlich sei noch auf § 8 I 4 PartGEntwurf 1959 hingewiesen, der die Zulassung zu Rundfunksendungen nur für Parteien vorsah, „deren Wahlvorschläge nach Art oder Zahl in einem angemessenen Verhältnis zum Sendegebiet stehen" (BT-Drs. III/1509, S. 3, 18). 252 Das BVerfG hat die vom Deutschen Fernsehen praktizierte Regelung nicht beanstandet (vgl. BVerfGE 13, 205), obwohl diese Maßnahme mit § 31 I BVerfGG kaum zu vereinbaren ist; denn das Gericht hatte in BVerfGE 7, 99 (Ziff. I I I der Entscheidungsformel, Leitsatz 4 und S. 108, 109) allgemein ausgesprochen, daß die Verweigerung von Sendezeiten gegenüber Parteien, deren Landeslisten zugelassen sind, das Grundgesetz verletze, und obendrein noch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieser Ausspruch „nach § 31 BVerfGG alle Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts gegenüber allen in Betracht kommenden politischen Parteien" binde (S. 109). Kritisch zum „Wahlkreiskandidaten-Quorum" des Fernsehens: Jülich (Anm. 1), S. 122; Hegels (Anm. 49), S. 133. 258 Vgl. hierzu BVerfGE 3, 383 (387); das BVerfG hat in jener Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der Unterschriftsklausel bestätigt.

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ansehnliche Zahl von Unterschriften zusammenbrächte. Um wieviel mehr trifft dies für eine kleine Partei zu. Gelingt es ihr, die geforderten Unterschriften auch nur für eine ansehnliche Zahl von Wahlkreisen nachzuweisen, so ist dies bereits eine beachtliche Leistung, die selbstverständlich auch einen Rückschluß auf ihr gegenwärtiges politisches Gewicht zuläßt. Je größer die Zahl der Kandidaten ist, die sie trotz Unterschriftsklausel aufzustellen vermag, desto größer ist ihre gegenwärtige Bedeutung. I m WDR-Beschluß spielte dieses Argument allerdings keine Rolle, da die FDP als eine im Landtag vertretene Partei der Unterschriftsklausel nicht unterworfen war. Doch selbst wenn man daher die These des Gerichts für diesen Fall noch gelten lassen wollte, müßte dies ihren Aussagewert bis zur Belanglosigkeit mindern. Ja, sie wird zum Argument gegen die Grundauffassung des Gerichts, die jeweilige Bedeutung einer Partei lasse sich anhand objektiv faßbarer Faktoren bestimmen. Denn wenn schon die Kandidatenzahl keinen Aufschluß über die gegenwärtige Bedeutung einer wahlwerbenden Partei zu geben vermag, dann trifft dies erst recht für alle anderen vom Gericht genannten Kriterien zu. Sieht man aber einmal von dem problematischen Bedeutungsmaßstab ab, so zeigt sich, wie sinnvoll, ja „sachgerecht" die Anknüpfung des Verteilungsschlüssels an die jeweilige Bewerberzahl im Grunde ist. Die Rundfunkwerbung soll es den Parteien in erster Linie ermöglichen, der Wählerschaft ihre politischen Ziele bekanntzugeben, ihre (Spitzen-) Kandidaten vorzustellen und zu aktuellen politischen Fragen Stellung zu nehmen 254 . Ob und wie die Parteien diese Gelegenheit nutzen, ist rechtlich irrelevant. Jede Partei, die eine gleiche Anzahl von Kandidaten aufgestellt hat, benötigt also von der Sache her die gleiche Sendezeit 2 5 5 . Denn der Wert von Parteiprogrammen und die Qualität der Kandidaten lassen sich nicht nach einem objektiven Maßstab abschätzen und in Prozentwerte einfangen. Richten soll über sie allein der Wähler mit seinem Stimmzettel. Jede Abstufung durch die Exekutive oder Legislative ist eine Vorentscheidung, die dem Votum des Wählers vorgreift. Gleiches gilt aber auch für eine geringere Anzahl von Bewerbern, da die Sendezeit naturgemäß zu kurz ist, um alle Kandidaten einer Partei zu Wort kommen zu lassen. Die Wahlsendungen werden daher regelmäßig von den „Spitzenkandidaten" einer Partei bestritten. Diese erlauben jedoch weder nach ihrer Zahl noch nach ihrer Güte einen „objektiven" Rückschluß auf die Bedeutung ihrer Parteien. Die einzig 854 255

Vgl. BVerwG JIR 8, S. 338. So zutreffend Krause-Ablaß, RuF 1962, S. 120.

II. Der Beschluß vom 30. Mai 1962

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zulässige Differenzierung ist hier nicht die Abstufung von Sendezeiten, sondern — soweit dies funktechnisch möglich ist — die Aussparung von Sende(teil)bereichen, in denen die betreffende Partei keine Landesliste bzw. keine Wahlkreiskandidaten autgestellt hat, bei der Übertragung ihrer Wahlsendungen. Diese Differenzierung ist mit dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht nur vereinbar, sondern durch ihn ebenso zwingend geboten, wie der vom Gericht zu Recht geforderte Ausschluß derjenigen Parteien, die an der Wahl nicht teilnehmen. Wer nur einen regionalen Wahlkampf führen will, dessen Wahlsendungen dürfen nur dort ausgestrahlt werden, wo dies der Fall ist. Das liegt ebenso in der Konsequenz des partiellen Verzichts, wie der völlige Ausschluß von der Wahlwerbung im Rundfunk in der inneren Logik des vollen Verzichts begründet ist 2 5 6 . Bei einer solchen Bereichsdifferenzierung handelt es sich nicht um eine „Einschränkung" des Grundsatzes der Chancengleichheit, sondern um seine Erfüllung 257 . d) Die „Würdigung

der konkreten

Gesamtsituation"

Das Gericht hat die in der konturlosen Elastizität des Bedeutungsmaßstabes liegende Gefahr der Rechtfertigung einer jeglichen Abstufung durch den Hinweis zu bannen gesucht, der Grundsatz der Chancengleichheit ziehe dem Ermessen des Gesetzgebers wie der Exekutive „enge Schranken" 258 . Dieses Auskunftsmittel ist indes viel zu abstrakt, um die sichernden Schranken mit hinreichender Klarheit bestimmen zu 2M

Vgl. oben zu und nach Anm. 38. Richtig daher Nr. 5 des SWF-Beschlusses vom 17.1.1959 (Anm. 251): „Werden bei Wahlen von einer Partei nur in einem der vertragschließenden Länder Kandidaten aufgestellt, Landeslisten oder Wahlvorschläge zugelas-44 sen, so wird die Sendezeit nur für den Sendebereich dieses Landes gewährt. Falsch dagegen die Sendezeitregelung im Deutschen Fernsehen, das bei Bundstagswahlen die Wahlsendungen der CDU auch in Bayern, die der CSU auch im übrigen Bundesgebiet ausstrahlt. Allerdings hängt dies von der Beantwortung der Vorfrage ab, ob sich für eine verfassungsrechtliche Betrachtimg die CSU als Landesverband der CDU darstellt oder ob sie selbständige Partei ist. Diese Rechtsfrage kann nur ein für allemal und nicht von Fall zu Fall so oder so entschieden werden. Sie ist für die 5°/oKlausel des Wahlrechts nicht anders zu beantworten als für die Sendezeitverteilung oder das Parlamentsrecht. Gerade dieses Beispiel zeigt aber, daß es keineswegs gleichgültig ist, ob man die Wahlsendungen einer Landes- oder Regionalpartei (z.B. BP oder SSW) auch in anderen Ländern bzw. Regionen des Wahlgebiets ausstrahlt, da sie dort anderen Parteien, nämlich nahestehenden „Schwesterparteien", zugute kommen (sollen). Ist die CSU dagegen von Rechts wegen als Landesverband der CDU zu behandeln, so stellt sich die Frage des richtigen Proporzes,44 der vor allem durch gleiche Sockelzeiten verfälscht wird. Zum „Sonderfall CDU/CSU vgl. auch Hegels (Anm. 49), S. 129. Im übrigen verwechseln Jülich (Anm. 1), S. 124 und Hegels (Anm. 49), S. 133 ff. Bereichsdifferenzierung und Abstufung. 258 Siehe oben Anm. 177. 257

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können* 69 . Nicht anders verhält es sich mit dem Postulat, im Bereich der formalen Chancengleichheit dürfe das Ausmaß der Differenzierung „den grundsätzlich freien Wettbewerb aller an der Wahl beteiligten politischen Parteien nicht ernsthaft in Frage stellen" 269 . Auch dieser Appell vermag die Chancengleichheit nicht gegen ihre Aufweichung abzusichern, weil er die Ursache ihrer Zersetzung, die Differenzierungsbefugnis, „grundsätzlich" bereits in sich trägt. Das Gericht will denn auch die Grenzziehung der Prüfung des konkreten Einzelfalles vorbehalten wissen. Die Grenzen könnten „nur unter Würdigung der jeweiligen konkreten Gesamtsituation ermittelt werden" 269 . Mit dieser Formel von der Situationsbedingtheit der Ermessensgrenzen 260 wird deren Relativität (Elastizität und Variabilität) zugegeben: Die Grenzen des (angeblich) „engen" Ermessensspielraums liegen nicht ein für allemal fest, sie sind nicht konstant, sondern fließend und lassen sich nur „von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände" bestimmen 201 . Der Ermessensspielraum des Rundfunks ist variabel. Das BVerfG geht jedoch nodi einen Schritt weiter: Nicht nur die vom Rundfunk im Rahmen des ihm zugebilligten Ermessens gewählte Staffelung der Sendezeiten, sondern audi die von ihm im Einzelfall angenommenen Grenzen dieses Ermessens sind nach der Situationsregel der gerichtlichen Nachprüfung entzogen. Denn die zum entscheidenden Maßstab erhobene „Würdigung der jeweiligen konkreten Gesamtsituation" ist den Gerichten, mithin auch dem BVerfG, nach den Regeln der Ermessenslehre versagt, da sie sonst unzulässigerweise ihr eigenes an die Stelle des Ermessens setzen würden, das der entscheidenden Behörde eingeräumt ist 2 6 2 . Dies gilt selbst dann, wenn man die Sendezeitverteilung nicht als Ermessensfrage betrachtet, sondern die Merkmale der „Parteibedeutung" und der ihr entsprechenden „Angemessenheit" der jeweiligen Sendezeitbemessung als „unbestimmte Rechtsbegriffe" deutet, die dem Rundfunk einen Beurteilungsspiel259 S. 138: „Wo im übrigen die dem — engen — Ermessen . . . gezogenen Grenzen liegen,..., läßt sich abstrakt nicht eindeutig bestimmen." 260 Hier klingt die problematische These des Gerichts von der Situationsgebundenheit allen Redits wieder an. Vgl. oben Anm. D/134, 135. Bemerkenswerterweise verwenden C. Schmitt und Leibholz den Ausdruck wiederholt zur Kennzeichnung einer „soziologischen Situation", namentlich der konkreten „politisch-soziologischen Situation" der Gegenwart: vgl. etwa Leibholz, W D S t R L 7 (1932), S. 179; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. (1967), S. 120; ders., Das Wesen der Repräsentation, 3. Aufl. (1966), S. 240; ders., AöR 61 (1932), S. 25; C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 441; ders., Positionen und Begriffe (1940), S. 124. 2W BVerfG, Beschluß v. 6.11.1957 (2 BvR 10/57), S. 3. 262 So lautet die in der Rechtsprechung ständig wiederkehrende Formel; vgl. etwa BVerwGE 19, 149 (153).

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räum lassen 268 . Mit der Würdigimg der „Gesamtsituation" ist dem Gericht aber zugleich auch die Grenzkontrolle entzogen, denn die Grenzen des Rundfunkermessens können ja nach Ansicht des BVerfG „nur" unter Würdigung eben dieser Gesamtsituation „ermittelt" werden. Daß diese Deutung der Situationsklausel keineswegs eine Unterstellung ist, wird sofort deutlich, wenn man ihrem Ursprung nachgeht. Denn der Begriff der „Gesamtsituation" ist keine Schöpfung des BVerfG. Die „Würdigung der Gesamtsituation" geht vielmehr nachweislich 264 auf Jesch zurück, der diesen Begriff in einer Abhandlung zum Thema „unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen" 265 verwendet, um damit den in der Literatur umstrittenen gerichtsfreien „Beurteilungsspielraum" der Verwaltungsbehörden bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe rechtstheoretisch zu untermauern und einzugrenzen; und zwar in enger Anlehnung an die als Parallelproblem beurteilte Frage 266 , in welchem Umfang die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch gerichtliche Tatsacheninstanzen revisibel sei. 248 So interpretiert jedenfalls der 7. Senat des BVerwG im Sendezeitbeschluß BVerwG JIR 8, S. 338 f. das (offenbar als „bindend" betrachtete) obiter dictum des BVerfG in BVerfGE 7, 99 (108), wenn er ausführt: „Die auf der Gleichheit der Wettbewerbschancen beruhende Angemessenheit der Sendezeiten" unterliege „als unbestimmter Rechtsbegriff der richterlichen Nachprüfung" und ziehe der Entscheidung des Rundfunks eine „untere" und „obere Grenze". Ob damit allerdings schon die Lehre vom „Beurteilungsspielraum" anerkannt wurde, wie Quaritsch meint (JIR 8, S. 346), erscheint fraglich, nachdem sich gerade der 7. Senat in ständiger Rechtsprechung von dieser Lehre distanziert hat. Vgl. insbesondere BVerwGE 8, 272 (275), wo er „Beurteilungsspielraum" und „cognitives Ermessen" gleichsetzt und erklärt, in „verfahrensrechtlicher Hinsicht" sei der „Beurteilungsspielraum" jedenfalls nach den für die Ermessensprüfung geltenden Vorschriften zu behandeln; kritisch hierzu Bachof, VerfR, Bd. 1, Tl. 2 B, Nr. 109; die Rechsprechung der einzelnen Senate des BVerwG zur Frage des Beurteilungsspielraums ist nachgewiesen bei Eyermann / Fröhler, VwGO, 5. Aufl. (1971), Rdn. 9 zu § 114; zuletzt etwa BVerwGE 39, 197 (203 ff.). Andere Senate des BVerwG hatten sich dagegen schon vor dem Sendezeitbeschluß des 7. Senats der Lehre vom Beurteilungsspielraum angeschlossen: vgl. BVerwGE 6, 177 (179, 182); 5, 153 (162 f.). Jedenfalls wird man sagen dürfen, daß auch nach Meinung des 7. Senats der Rundfunk nicht nur eine einzige Möglichkeit der Entscheidung hatte. Ob man den mit dem Ausdruck „untere" und „obere Grenze" angedeuteten Spielraum Ermessen oder Beurteilungsspielraum nennt, ist für den 7. Senat gleichgültig, da er in jedem Falle eines Spielraums Ermessensregeln anwenden will. Damit bestätigt er im Grunde die von Ehmke konstatierte „Einheitlichkeit des Ermessensproblems": Ehmke, »Ermessen' und unbestimmter Rechtsbegriff 4 im Verwaltungsrecht (1960), S. 32. I m übrigen s. ο. E I 3 (nach Anm. 87). 264 Vermittelt durch Quaritsch, der diesen Begriff unter Berufung auf Jesch als erster auf die Sendezeitfälle angewandt hat (JIR 8, S. 347 mit Anm. 56). 245 Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), S. 163 ff. 244 Nach Ehmke (Anm. 263), S. 32 handelt es sich hierbei freilich um „unrichtige Analogien". 2

Lipphardt

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Jesch schreibt: „Das Problem des unbestimmten Rechtsbegriffs ist ein Problem der nicht-mitteilbaren Imponderabilien, der schriftlich nicht niederlegbaren intuitiven Erfassung der Gesamtsituation2·7." Soweit unbestimmte Rechtsbegriffe nicht „in beschreibende Tatsachenund Erfahrungsbegriffe" aufgelöst werden könnten 268 , scheide im Falle der Rechtsanwendung durch den Tatrichter die Revision, im Falle der Rechtsanwendung durch die Verwaltungsbehörde auch die Nachprüfung durch gerichtliche Tatsacheninstanzen aus 2 · 9 . Der verbleibende „Restbestand an tatsächlichen Feststellungen" 270 unterliege keiner (revisions-)gerichtlichen Kontrolle. Im Falle der Verwaltungsbehörden stelle er den gerichtsfreien, weil praktisch unüberprüfbaren „Beurteilungsspielraum" dar, so wie er im Falle des Tatrichters als „Tatfrage" irrevisibel sei. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums sollen jedoch nach Jesch von Fall zu Fall nur „durch das Gericht" gezogen werden dürfen. Allein der Richter habe zu entscheiden, in welchem Umfang die maßgeblichen Tatsachen zu erforschen seien, er allein dürfe im konkreten Fall darüber befinden, ob und inwieweit eine rechtliche Beurteilung der Behörde, nämlich ihre „Wertung", ihr „summarisches Urteil" über die tatsächliche „Gesamtsituation" ungeprüft als tatsächliche Feststellung der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden könne und müsse271. Diese kontrollierende Tätigkeit des Richters will Jesch also gerade nicht als „intuitive Erfassung der Gesamtsituation" verstanden wissen, denn die Rechtskontrolle soll ja gerade nur insoweit zulässig sein, als der Richter seine eigenen Erwägungen schriftlich niederlegen kann, da er die „nicht-mitteilbaren Imponderabilien" der behördlichen Entscheidung nicht durch solche der eigenen ersetzen darf. Auch Jeschs Formel von der „intuitiven Erfassung der Gesamtsituation" ist nicht ohne Vorbild. Jesch hat sie dem Art. 33 I 2 des Montanvertrages 272 entnommen 278 , der dem Europäischen Gerichtshof die Nachprüfung von Entscheidungen der Hohen Behörde insoweit entzieht, als diese auf die „Würdigung der aus den wirtschaftlichen Tatsachen oder Umständen sich ergebenden Gesamtlage" gestützt sind274» 2 7 6 . 267

347.

268

Jesch (Anm. 265), S. 203; zustimmend („treffend") Quaritsch, JIR 8, S.

Jesch (Anm. 265), S. 202. Ebd., S. 165, 232. 270 Ebd., S. 230. 271 Ebd., S. 232. 272 BGBl. 1952 II, S. 447. 278 Jesch (Anm. 265), S. 196 f. 274 Der Ausdrude „Würdigung der . . . Gesamtlage" lautet im französischen Vertragstext „l'appréciation de la situation", ist also identisch mit der „Wür288

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Diese Herkunft des Satzes von der „Würdigung der Gesamtsituation" belegt zugleich seine enge Verwandtschaft mit dem Begriff der irrevisiblen „Tatfrage". Die „Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalles", auf die letztlich alles ankommt, ist danach allein Sache der Tatsacheninstanz. Der auf die Rechtskontrolle beschränkten Revisionsinstanz ist sie entzogen 276 . Das Fehlen jeglichen Kontrollmaßstabes wird im WDR-Beschluß des BVerfG durch die Fluchtformel von der „Würdigung der Gesamtsituation" verdeckt und bestätigt 277 . Sie weist ausschließlich auf die digung der Gesamtsituation", wie sie Jesch und ihm folgend das BVerfG verstehen. 27ß Steindorff, der der Nichtigkeitsklage nach Art. 33 des Montanvertrages eine Monographie gewidmet hat, auf die sich auch Jesch mehrfach beruft, spricht in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise von einer „Gesamtwürdigung aller tatsächlichen Umstände" — vgl. Steindorff, Die Nichtigkeitsklage im Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952), S. 131, 136 f., 154 — und setzt sie, wie Jesch, in Beziehimg sowohl mit den vom Revisionsgericht nicht überprüfbaren „Tatfragen" (S. 131, 104 f. mit Anm. 335 u. S. 66) als auch mit dem gerichtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum der Verwaltung bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe (S. 105 - 111, insbes. Anm. 342 u. 342 b auf S. 108 f.). Den Begriff der „Gesamtwürdigung" bildet Steindorff der bekannten Formel des BGH von der revisionsgerichtlich nicht überprüfbaren „Würdigung aller Umstände des einzelnen Falles" durch den Tatrichter nach (S. 105 Anm. 335 u. S. 109 Anm. 342 b). 276 Vgl. etwa BGHZ 4, 186 (188): „Würdigung aller Umstände des einzelnen Falles." BGHZ 10, 14 (17): Die Aufgabe des Tatrichters, „nach freiem, pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob nach der Gesamtlage der Umstände die Sorgfaltsverletzung als besonders schwer erscheint". BGH NJW 1952, S. 430 (431 r. Sp.): Die Grenzziehung zwischen Vorbereitungs- und Ausführungshandlung (§ 43 StGB) müsse „im wesentlichen dem Ermessen des Tatrichters bei Beurteilung des Einzelfalles überlassen werden". „Richterlicher Nachprüfung" unterliege es lediglich insoweit, als es um die Beantwortung der Frage gehe, „ob er dabei nicht die Grenze nach der einen oder anderen Seite hin überschritten hat". BVerwGE 3, 193 (197): Eine Frage, die „nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beantworten" sei, sei als „Tatfrage" dem Revisionsgericht entzogen. BVerwGE 16, 116 (130): Es sei Aufgabe des Tatrichters, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Uberzeugung zu entscheiden, was im konkreten Falle Rechtens ist". 277 Auch bei den Revisionsgerichten wird die fließende Unterscheidung von Tat- und Rechtsfrage gelegentlich als Vorwand benutzt, um die eigene Ratlosigkeit zu verbergen. Jesch (Anm. 265) spricht in diesem Zusammenhang von „dem magischen Spiel um Rechts- und Tatfrage" (ebd., S. 202 Anm. 153). Nicht von ungefähr hat man auch bei der staatlichen Parteienfinanzierung unter Berufung auf BVerfGE 14, 121 geglaubt, aufgrund einer (mehr „intuitiven" als rationalen) „Würdigung der Gesamtsituation" unterschiedliche Portionen für die einzelnen Parteien durch bloße Bestandsaufnahme, d.h. wert- und „wettbewerbsneutral" bestimmen zu können: vgl. Plate, Parteifinanzierung und Grundgesetz (1966), S. 67, 68, 74, 76; Friesenhahn, Gut2

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II. Teil, E. Die Sendezeitjudikatur des BVerfG

behördliche Feststellung und Deutung einer komplexen Tatsachensituation hin und hat nichts zu tun mit dem vom BVerfG bei Fragen der Verfassungsinterpretation wiederholt gewählten Topos der „Gesamtansicht" bzw. der „Zusammenschau" mehrerer Verfassungsartikel 2 7 8 , einem Topos, der seine Wurzeln in dem Kernsatz von der „Einheit der Verfassung" hat 2 7 9 . Auf der Ebene dieser Gesamtinterpretation liegt auch das Auslegungsmittel der „Gesamtbetrachtung" der rechtlichen Regelung eines Lebensbereiches und ihrer — aufs Ganze dieses Bereiches gesehen — typischen Auswirkungen, ihrer allgemeinen Gestaltungstendenz, da es hier ausnahmslos um die Handhabung normativer Maßstäbe geht, nicht um die normative Kraft soziologischer Befunde 280 . Schließlich hat auch die von Forsthoff geprägte Formel von der „sachrichtigen Entscheidung" im Bereich der Staatswillensbildung, die vielfach keine „echte" politische Entscheidung mehr sei, sondern „nur noch die zu ermittelnde Resultante einer komplexen Tatsachensituation" 281 , mit der vom BVerfG gemeinten „Würdigung der Gesamtsituation" nichts gemein. Die Verwandtschaft ist nur eine scheinbare. Denn die Annahme, daß der jeweils aus der konkreten Gesamtsituation ermittelte Verteilungsschlüssel eine „Resultante" in diesem Sinne sei, die sich aus der Vielzahl der Faktoren, die das politische Kräfteverhältnis der Parteien permanent konstituieren, sozusagen von selbst — „zwingend" — ergäbe, wäre eine Selbsttäuschung. Infolge der Konturlosigkeit und Variabilität der vom Gericht herangezogenen faktischen „Maßstäbe" ist jede Staffelung der Sendezeiten innerhalb eines denkbar weit gespannten Ermessensrahmens mit dem Grundsatz der Chancengleichheit vereinbar. Sie wird damit — gewollt oder ungewollt — letzten Endes zur rechtsfreien Dezision, die vorwiegend an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten (Weg des geringsten Widerstandes) bzw. an den parteipolitischen Machtpositionen orientiert ist (Recht des Stärkeren). achten (zum Streitfall BVerfGE 20, 56), S. 147, 149 ff.; Kidder, DFU-Gutachten, S. 8 (in der publizierten Fassung, Böhm-Festschrift [1965], S. 21 [38] fehlt dieser Passus). 278 Vgl. etwa BVerfGE 2, 403; 4,16. 278 Vgl. BVerfGE 1, 14 (32): Gesamtinhalt der Verfassung; BVerfGE 5, 85 (112), wo das Gericht den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aus einer „Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung in die moderne Verfassungsgeschichte" auslegt; ferner BVerfGE 3, 225 (231 f.); 19, 206 (220). 280 Vgl. etwa das Umsatzsteuerurteil BVerfGE 21, 12 (31): „Gesamtbetrachtung" des geltenden Umsatzsteuersystems und seiner typischen Auswirkung auf die allgemeine Wettbewerbslage; S. 26: „Gesamtbetrachtung der Verfassungsmäßigkeit des geltenden Umsatzsteuersystems." 281 Forsthoff, Strukturwandlungen der modernen Demokratie (1964), S. 16.

II. Der Beschluß vom 30. Mai 1962

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Die Entscheidung über den Verteilungsschlüssel und die zeitliche Plazierung der einzelnen Parteien wird denn auch nicht allein oder auch nur überwiegend von einer „neutralen" Rundfunkinstanz gefällt, sondern regelmäßig von den in den Rundfunkgremien vertretenen Parlamentsparteien im Wege einer internen „Vereinbarung" ausgehandelt, an deren Abschluß die mandatslosen Parteien nicht beteiligt sind, deren Inhalt ihnen regelmäßig vorenthalten wird und die ihnen in ungünstiger zeitlicher Plazierung lediglich dasjenige Minimum an Sendezeit einräumt, das Parlamentsparteien und Rundfunkanstalten mit Rücksicht auf die Rechtsprechung gerade noch als „angemessen" betrachten. Der Rundfunk ist dann praktisch zwar nur noch ausführendes Organ, rechtlich ist er jedoch nicht nur für den ordnungsgemäßen Vollzug, sondern auch für den Inhalt der „Vereinbarung" allein verantwortlich 282 . Daraus folgt paradoxerweise, daß sein Ermessensspielraum nicht „eng", sondern „weit", ja grenzenlos ist 2 8 8 . Wie schwierig, ja unmöglich es ist, eine differenzierende Sendezeitbemessung anhand rechtlicher Maßstäbe nachzuprüfen, dafür legt der WDR-Beschluß ein beredtes Zeugnis ab. Das Gericht war nicht in der Lage, die dem Verteilungsschlüssel des WDR zugrunde liegende Motivation aufzuklären. Es hat sich daher auf die Behauptung beschränkt, der differenzierende Verteilungsschlüssel trage der „unterschiedlichen Bedeutung der in Betracht kommenden Parteien angemessen Rechnung", und daraus den Schluß gezogen, die Entscheidung des WDR halte sich „in dem verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen" 284 . M i t der Wahl der faktischen Gewichtsverteilung zwischen den politischen Parteien zum maßgebenden Bezugspunkt eines differenzierenden Verteilungsschlüssels war die normative Kraft der Chancengleichheit der ws Die Entscheidung über die Zuteilung von Sendezeit an Regierung und Parteien ist stets „hoheitlich", erfordert mithin die Ausstattimg des Rundfunks mit „öffentlich-rechtlichen Befugnissen": so Mallmann, in: Zehner (Hrsg.), Der Fernsehstreit, Bd. 1, S. 251, 264; vgl. auch BVerfGE 7, S. 104; 14, S. 130; LVG Hbg. JIR 8, S. 328 f.; a.A. („privatrechtlicher Vertrag") Spanner, in: Zehner, a.a.O., S. 373 f., 396 f., 400. 288 Auch der WDR ging bei der Sendezeitbemessung davon aus, daß ihm ein „weiter Ermessensspielraum" zur Verfügung stand (BVerfGE 14, 128). Nach der Lehre von den Ermessensfehlern hätte allein schon dieser Umstand zur Aufhebung der gesamten Sendezeitbemessung führen müssen, da sie auf dieser — nach Meinung des BVerfG falschen — Voraussetzung beruhte. Vgl. § 114 VwGO 1. Alternative (Ermessensüberschreitung); hierzu Forsthoff, Verwaltungsrecht, 9. Aufl. (1966), S. 93: „Irrtum über das Vorliegen oder die Grenzen einer Ermessensbetätigung oder deren bewußte Überschreitung." — Die irrige Annahme eines weiten Ermessensspielraums bei in Wahrheit eng begrenztem Ermessen ist das Gegenstück zum Nichtgebrauch des eingeräumten Ermessens, der herkömmlich ebenfalls als Ermessensüberschreitung angesehen wird: vgl. etwa BVerwGE 19, 149 (152); 14, 313 (317 f.); 15, 196 (199); 17, 267 (279). 284 BVerfGE 14.140.

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II. Teil, E. Die Sendezeitjudikatur des BVerfG

normativen Kraft des Faktischen geopfert worden. Jede beliebige Abstufung mußte danach als „noch" bzw. als „offensichtlich" „angemessen" erscheinen. e) Das Kriterium

der „ Angemessenheit"

Der erst zum Schluß der Entscheidung284 eingeführte Begriff der „Angemessenheit" der Sendezeit ist nichts anderes als die in Sendeminuten ausgedrückte „Bedeutung" der jeweils bedachten Partei: Der Begriff „angemessen" hat daher keinen eigenen Rechtswert, sondern folgt der Parteibedeutung wie ein Schatten, der mit seinem Gegenstand zunimmt, wechselt und dahinschwindet285. Einzig dort scheint er eine selbständige Bedeutung zu entfalten, wo es um das nicht mehr weiter reduzierbare und daher für jede Partei absolut gleiche Minimum an Sendezeit geht, das ihr „überhaupt (sc. noch) eine wirksame Wahlpropaganda (sc. über den Rundfunk) ermöglicht"28®, wobei das Gericht allerdings die Frage unbeantwortet läßt, wieviel Sendeminuten zur Verfügung gestellt werden müssen, damit überhaupt noch von einer „wirksamen Wahlpropaganda" im Rundfunk gesprochen werden kann. Dieses Minimum an Sendezeit ist für alle Parteien gleich, weil das Kriterium der „Wirksamkeit" von der unterschiedlichen Bedeutung der Parteien, insbesondere von den vorhergehenden Wahlergebnissen, wie auch vom Umfang der ausgeworfenen Gesamtsendezeit unabhängig und daher konstant ist. Ob eine einmalige 5-Minuten-Sendung noch eine „wirksame Wahlpropa285 Vgl. BVerfGE 14, 139 f.: Eine Sendezeit für die FDP, die „ihrer Bedeutung . . . entspricht" ; ferner etwa BayVGH DVBl. 1972, 337 (338). 288 BVerfGE 14, 139. Im ersten Sinne wird der Begriff „angemessen" verwendet in BVerfGE 14, 140; ferner in BVerfGE 13, 204 (206): „eine ihrer Bedeutung und bisherigen Vertretung in den Parlamenten angemessene Redezeit"; im zweiten Sinne dagegen BVerfGE 7, 99 (108); beide Bedeutungen kennt der Besdiluß v. 6.11.1957 (2 BvR 10/57), S. 3 (s. o. nach Anm. 75). Vgl. audi die Kontroverse zwischen dem BayVGH und dem VG München zum Begriff der „angemessenen Sendezeiten" in § 3 I I Nr. 2 S. 2 BayRfG 1948. Entgegen der Auffassung des Bayer. Rundfunks sah das VG München in dem Wort »angemessen4 „nicht die Sicherung eines zwischen den Parteien nach einem früheren Stichtag zu bemessenden Proporzes, sondern die Forderung nach zureichender Sendezeit, die allen zugelassenen ( = nicht verbotenen) Parteien zustehen soll". Eine einmalige Sendezeit von 5 Minuten biete „keine ausreichende Möglichkeit zur Unterrichtung der Hörer über das Wesen und die Ziele einer neuen Partei". Es sei aber gerade der Zweck der genannten Vorschrift, „eine ausreichende Information der Hörer sicherzustellen. Sie w i l l allen . . . Parteien die Möglichkeit sichern, sich in ausreichendem Maße durch eigene Sprecher an die Hörer im Lande zu wenden". Die Deutung des Wortes »angemessen4 im Sinne proportionaler Staffelung sei „irrig", ja „gleichbedeutend mit Willkür" und „mit dem verfassungsrechtlichen Grundrecht der Parteien auf Chancengleichheit nicht vereinbar". Nur im Sinne der Parität sei es verfassungskonform: VG München (Anm. 68), S. 11; a. A. BayVGH JIR 8, S. 337. Vgl. auch die im Streit um die „angemessenen" Sendezeiten des Art. 4 I I Nr. 2 BayRfG 1959 ergangenen Entscheidungen des VG München, des BayVGH und des BayVerfGH (Anm. 69).

II. Der Beschluß vom 30. Mai 1962

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ganda" ermöglicht, ist eine Rechtsfrage, die für die CDU nicht anders beantwortet werden kann als für die GP und für die es keinen Unterschied macht, ob die zur Verfügung gestellte Gesamtsendezeit 50 oder 500 Minuten betrögt 287 . Relevant wird die Frage des gleichen Minimums jedoch erst, wenn über die Bedeutung einer Partei nicht einmal das letzte Wahlergebnis Auskunft geben kann, weil es sich um eine „neue" Partei handelt oder ihr Stimmenanteil so geringfügig war, daß ein entsprechender Sendezeitanteil keine „wirksame Wahlpropaganda" im Rundfunk mehr ermöglichen würde. I n allen übrigen Fällen wird der so verstandene Begriff der Angemessenheit überlagert durch die „Bedeutung" einer Partei. Das vom BVerfG als unabdingbar angesehene Sendezeitminimum, das ausnahmslos allen wahlwerbenden Parteien zur Verfügung gestellt werden muß, stellt sich daher als eine 3. Ermessensschranke dar, die allerdings erst dann wirksam wird, wenn die vom Gericht genannten Faktoren der Parteibedeutung, insbesondere also das letzte Wahlergebnis, nicht mehr in der Lage sind, einer Partei jenes unabdingbare Sendezeitminimum zu gewährleisten. Darüber hinaus hat diese Grenze noch einen weiteren, von einer etwaigen Zeitabstufung unabhängigen Sinn: Folgt man nämlich dem BVerfG darin, daß der Rundfunk einerseits verpflichtet ist, den Parteien überhaupt Sendezeiten für Wahlpropaganda zur Verfügung zu stellen, andererseits aber auch befugt ist, allen Parteien eine formal gleiche Sendezeit zu gewähren, so muß es zulässig sein, allen Parteien lediglich diejenige Zeit einzuräumen, die ihnen „überhaupt" noch eine „wirksame Wahlpropaganda" im Rundfunk ermöglicht, eben die „angemessene (Mindest-)Redezeit" 288 , die für alle Parteien notwendig die gleiche ist, sozusagen den allen gemeinsamen unabdingbaren Mindest-Propaganda-Sockel. Zugleich sichert diese Ermessensschranke den Parteien insgesamt ein Minimum an Gesamtsendezeit, die der Rundfunk ihrer Wahlwerbung unter allen Umständen einräumen muß. Hier offenbart sich eine weitere Einsicht: Die angemessene Mindestredezeit ist, wie es scheint, die einzige Konstante im Rahmen der weithin undurchsichtigen „Würdigung der jeweiligen konkreten Gesamtsituation". Ob sie allerdings auch ein „bedeutender Faktor" ist, hängt ganz davon ab, welche Zeitspanne man für eine wirksame Propaganda als unerläßlich, will sagen als (noch) „angemessen" betrachtet 289 . 287 Dies wird freilich in Frage gestellt durch den Beschluß vom 6.11.1957 (2 BvR 10/57), S. 3: „Was in concreto als angemessene Redezeit anzusehen ist, kann nicht generell, sondern lediglich von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände bestimmt werden." 288 BVerfGE 7,108; KlZs. v. Verf. 288 Die Rundfunkanstalten halten auch nodi eine einmalige Sendezeit von 2V2 (ZDF) oder 5 Minuten (DF, BayR, WDR) für „angemessen". Die Ver-

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II. Teil, E. Die Sendezeitjudikatur des BVerfG f) Chancengleichheit

als Differenzierungsgebot

Es stellt sich weiter die Frage, welche Folgerungen sich für die konkrete Ausgestaltung einer Abstufung der Sendezeiten aus der zu ihrer Rechtfertigung vom Gericht angeführten These ergeben, der Rundfunk sei gemäß Art. 5 GG verpflichtet, „seinen Hörerkreis objektiv über die Gewichtsverteilung zwischen den bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen" zu informieren 200 , und dürfe daher „die jeweilige Bedeutung der politischen Parteien bis zu einem gewissen Grade bei der Bemessung der Sendezeiten zur Wahlpropaganda in Rechnung . . . stellen" 291 . Es fällt auf, daß das Gericht trotz der Annahme eines weitergehenden Verfassungsauftrags zur abgestuften Information, den es als eine Konsequenz der durch Art. 5 GG gebotenen Neutralität 292 und Objektivität 298 des Rundfunks betrachtet, nicht von einer Pflicht, sondern lediglich von einer Befugnis 294 zur Differenzierung bei der Sendezeitverteilung spricht, ja diese Konsequenz nodi weiter durch den einschränkenden Zusatz relativiert, jene Befugnis decke eine der tatsächlichen Gewichtsverteilung entsprechende Abstufung nur „bis zu einem gewissen Grade" 295 . I n beiden Relativierungen kommt die gleichzeitige Orientierung des Gerichts am Prinzip der „formalen Chancengleichheit"296 bzw. der „formalen Gleichberechtigung" 297 im Sinne eines grundsätzlichen Abstufungsverbots 298 waltungsgerichte (VG Hamburg, VG München, BVerwG) haben dieser Auffassung widersprochen (zustimmend lediglich der BayVGH). Das BVerfG hat sich zu dieser Frage noch nicht ausdrücklich geäußert, geschweige denn eindeutig festgelegt. Immerhin hat es indirekt bereits angedeutet, daß es eine einmalige Sendezeit von 5 Minuten nodi nicht als Ermessensüberschreitung ansehen würde. Diese Engherzigkeit gegenüber der Rundfunkpropaganda der kleinen Parteien zeigt, wie wichtig es zu sein scheint, die Frage der „angemessenen" Mindestredezeit nicht von den kleinen, sondern von den großen Parteien her zu beurteilen. Die Frage, ob die Anstalten audi für SPD oder CDU eine einmalige 2V2- oder 5-Minuten-Sendung als „angemessene" Mindestredezeit ansehen würden oder dürften, wird man jedenfalls getrost mit ,nein' beantworten können. 290 BVerfGE 14,136. 291 Ebd., S. 137; hierzu Podlech (Anm. B/11), S. 260 f., der eine Differenzierung wegen „technisdie(r) Unmöglichkeit der Gleichbehandlung" für zulässig hält. 292 BVerfGE 14,134. 293 Ebd., S. 136. 294 Ebd., S. 136 f.: Die „Funktion" des Rundfunks „rechtfertigt" (S. 137) als wichtiger Grund die Abstufung der Sendezeiten nach der jeweiligen Bedeutung der Parteien. 295 Ebd., S. 137. 29β Ebd., S. 138. 297 Ebd., S. 140,132. 298 Ebd., S. 134: „Zuteilung absolut gleicher Sendezeiten"; S. 140: Die Sendezeitverteilung sei, soweit sie nicht differenziere (nämlich bei den

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zum Ausdrude. Der Maßstab der faktischen „Gewichtsverteilung" und der Rechtsgrundsatz der „formalen Chancengleichheit" schließen sich indes gegenseitig aus. Es gibt hier keinen „ausgewogenen" Mittelweg, sondern nur beliebige, rational letztlich nicht begründbare Abweichungen. Dessenungeachtet läßt sich vom Topos der faktischen Gewichtsverteilung aus auch ein anderes Verständnis des Prinzips der gleichen Wettbewerbschancen entwickeln: nämlich Chancengleichheit, verstanden als ein an dieser Gewichtsverteilung zu orientierendes Differenzierungsgebot. I m WDR-Beschluß finden sich mehrfach — wenn auch nur fragmentarisch und nicht zu Ende gedacht — Ansätze für ein solches Verständnis, das unvermittelt neben das „grundsätzliche" Differenzierungsverbot der (jedenfalls bisher) formal verstandenen Chancengleichheit gestellt wird. Diese Deutung knüpft an den von der Verfassung vorausgesetzten und gewährleisteten „freien Wettbewerb aller an der Wahl beteiligten Parteien" 299 an, bei dem die einzelnen Parteien „nach ihren Kräften" „in einem unterschiedlichen Maße" 8 0 0 entsprechend ihrer „jeweiligen Bedeutung", nämlich ihres jeweiligen Anteils am politischen Gesamtgewicht aller Parteien, zum Zuge kommen. Um diesen freien Wettbewerb nicht zu beeinträchtigen, wird die Forderung nach einer wettbewerbskonformen und das heißt anteilig „abgestuften" Sendezeitverteilung in den Rang eines unabdingbaren Verfassungsgebotes erhoben 801 . Die Begründung der notwendig differenzierenden proportionalen Behandlung aus der unterschiedlichen de-facto-Bedeutung der Parteien8®2 öder aus der Unterscheidung von „vorhandenen" ( = natürlichen) Wahlchancen, die nur aus zwingenden Gründen beschränkt werden dürfen, und „zusätzlichen" ( = künstlichen) Chancen, die den Parteien vom Staat entsprechend der „gegebenen" Gewichtsverteilung, ihrem „Chancenverhältnis", also „abgestuft" zugeteilt werden müssen808, oder schließlich aus der Unterscheidung Fragesendungen), „an dem Prinzip der formalen Gleichberechtigung der poli tisdien Parteien im WahlWettbewerb orientiert". 288 Ebd., S. 138. 888 Ebd., S. 134. 881 Vgl. das Vorbringen der nordrhein-westf. Landesregierung, ebd., S. 129: „Die öffentliche Gewalt müsse sich grundsätzlich jeder Einwirkung auf das vorhandene Kräfteverhältnis der Parteien enthalten. Fördere sie die politischen Parteien, so müsse sie ihre Förderungsmaßnahmen so einrichten, daß die vorhandene Gewichtsverteilung im parteipolitischen Kräfteverhältnis möglichst wenig gestört werde." I n gleichem Sinne Friesenhahn, Gutachten zur Parteienfinanzierung (1966), S. 115,139 f., 142 ff. 802 So Hesse, W D S t R L 17, S. 37 f.; Plate, Parteifinanzierung und GG, S. 68ff.; W. Weber, DÖV 1962, S. 244f.; § 5 I 2 PartG-Entw. 1965 (SPD): „ist nach der Bedeutung der Parteien abzustufen" (BT-Drs. IV, 3112). 808 So Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. (1972), S. 247 f.; vgl. auch Friesenhahn, Gutachten zur Parteifinanzierung, S. 123, 138 und die

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II. Teil, E. Die Sendezeitjudikatur des BVerfG

der Bereiche des Wahlrechts (Wahlverfahren, Wahlakt) und des politischen Lebens (Wahlwerbung), in dem die Unterschiede in Größe und Bedeutung der politischen Kräfte Berücksichtigung in der Rechtsordnung verlangen3®4, läßt den Wettbewerbsgedanken zu kurz kommen oder verkennt seine Unteilbarkeit. Darin liegt zugleich ihre Schwädie, da die rechtliche Relevanz der unterschiedlichen de-facto-Bedeutung 305 oder die Zulässigkeit der Unterscheidung von „belastenden" und „fördernden" Maßnahmen (Eingriff und Leistimg) bzw. von Wahlrecht und Wahlwerbung nachdrücklich bezweifelt werden muß 306 . Jede Abweichung von diesem Gebot der abgestuften Sendezeit, insbesondere also eine absolute Gleichbehandlung bedeutet danach eine verfassungswidrige Wettbewerbsverzerrung, weil ein hoheitlicher Ausgleich unterschiedlicher faktischer Chancen gegen das Prinzip der Wettbewerbsneutralität aller Staatsgewalt gegenüber den politischen Parteien verstößt, das aus dem Grundsatz der Chancengleichheit folgt und für den Rundfunk zusätzlich noch in Art. 5 GG verankert ist. Die Kernfrage lautet daher alternativ: Wird die Neutralität des Staates bei Förderungsmaßnahmen der öffentlichen Hand gegenüber den Parteien durch Parität oder durch Proportionalität der Zuwendung gewährleistet? — Diese entscheidende Frage stellt sich bei der staatlichen Parteienfinanzierung nodi unausweichlicher. Sie trifft offenbar die Achillesferse der formalen Chancengleichheit. Ihre Beantwortung zeitigt, gleichviel wie sie im Ergebnis ausfällt, Wirkungen von erheblicher dogmatischer und praktischer Bedeutung, die zudem weit über das Spezialproblem der Parteienparität hinausgreifen und überall dort relevant werden, wo es um die Neutralität des Staates geht, sei es gegenüber konkurrierenden Gruppen und Unternehmen (z. B. der „Presse"), sei es gegenüber Gebilden, die in einem Gegenspieler- oder Partnerschaftsverhältnis stehen (z.B. Berufsverbände oder Religionsgesellschaften). Durch diese Frage wird zugleich der demokratische Gedanke in seiner Bedeutung als Fundament nicht nur der individuellen politischen Gleichheit des Staatsbürgers, sondern auch der Gruppenparität im allgemeinen wie der Parteiengleichheit im besonderen auf seine härteste und ernsthafteste Probe gestellt. Die Infragestellung der Verknüpfung des Proporzgedankens mit der Wettbewerbsidee wird von der engen Verbindung der Art. 5 und 21 GG, von Parteiengleichheit und öffentlicher Meinungsfreiheit auszugehen haben. Die politischen Parteien sind Träger und Verkörperung politischer Ideen und Stellungnahme der nordrh.-westf. Landesregierung vom 30.4.1962, S. β (Zitat nach Jülich [Anm. 1], S. 104 Anm. 61). 304 So Scheuner, Schriftsatz v. 24.4.1962, S. 16, 19, 22 ff.; Arndt, Schriftsatz v. 16. 4.1962, S. 6, 9 f., 15, 29 ff. 305 Dazu oben E I 3 (nach Anm. 91). 3W Kritisch hierzu auch Hegels (Anm. 49), S. 123 ff., 127 und Jülich (Anm. 1), S. 105, 123, 124 ff.

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Programme. Ihre zahlenmäßige und sonstige „Größe" sagt über die Qualität der Einsätze nichts aus. I m Meinungskampf zählen de jure nur die Argumente, auf die Parteien bezogen also nur die Parteieigenschaft, nicht das politische Gewicht, mit dem sie ihr Programm durchzusetzen suchen. Das Recht macht im Ideenwettstreit keine Quantitäts- oder Qualitätsunterschiede. Meinung ist vor der Verfassung gleich Meinung, Partei gleich Partei. Die von Art. 5, 21 GG geforderte „Spontaneität und Chancengleichheit der Einsätze" 307 als Voraussetzung der Freiheit und Offenheit des politischen Lebensprozesses, der „chancengleiche faire Meinungsmarkt" 808 , sind nur dann gewährleistet, wenn die Einsätze seitens der öffentlichen Gewalt schematisch gleich behandelt werden. Der Meinungs- und Parteienwettbewerb ist nur dann unverfälscht, die öffentliche Gewalt nur dann wertund wettbewerbsneutral, wenn „um die Meinungsmehrheit mit gleicher Chance gerungen wird" 8 0 8 . Das setzt für die Rundfunkpropaganda der Parteien vor und nach der Wahl strikt paritätische Zeitquoten voraus. Das Gericht ist dieser Kernfrage ausgewichen. Es geht davon aus, daß zwar eine (übermäßige) Differenzierung „den . . . freien Wettbewerb aller . . . Parteien . . . ernsthaft in Frage stellen" könne, nicht dagegen eine der „formalen Chancengleichheit" entsprechende „Zuteilung absolut gleicher Sendezeiten" 809 . Der WDR-Beschluß enthält aber auch, wie gezeigt wurde, gegenläufige Gedankengänge. So hat es das Gericht für den Fall eines auf privatwirtschaftlicher Basis betriebenen Rundfunks hypothetisch als mit der Chancengleichheit vereinbar bezeichnet, wenn die Parteien bei der Rundfunkwerbung „nach ihren finanziellen und sonstigen Möglichkeiten in einem unterschiedlichen Maße" zum Zuge kämen. Die Differenzierung nach ihrer Bedeutung ergebe sich hier sozusagen von selbst, weil sie ausschließlich dem „freien Spiel der Kräfte" überlassen bleibe 810 . Voraussetzung bleibe allerdings auch hier, daß der Rundfunk die — im voraus unbestimmte — Sendezeit zu „gleichen Bedingungen" vergibt, was nicht etwa heißt, daß die Sendezeiten der einzelnen Parteien absolut gleich oder nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel vergeben werden dürften oder müßten, sondern lediglich, daß ohne Ansehen der Partei für gleichen Preis gleiche Zeit einzuräumen ist 811 . 807

S. 23. 808

Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften (1960),

Arndt, in: Löffler u. a., Die öffentliche Meinung (1962), S. 19. BVerfGE 14,138, 134. 310 Ebd., S. 134. 811 Dies wäre freilich noch kein spezifisch verfassungsrechtliches Problem. Vielmehr handelte es sich hierbei in erster Linie um das allgemeine zivilrechtliche Problem des „Kontrahierungszwangs bei Monopolbetrieben" und der in diesem Rahmen erforderlichen Orientierung der allgemeinen Geschäftsbedingungen an Art. 3 I GG. Erst wenn auf dieser Ebene unter Beachtung des Willkürverbots zulässige Differenzierungen eingeführt würden, könnte, soweit es die Sendezeiten der politischen Parteien betrifft, der Grundsatz der formalen Chancengleichheit relevant werden; z.B. bei der Fest808

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II. Teil, E. Die Sendezeitjudikatur des BVerfG

An anderer Stelle spricht das Gericht — eine Folgerung aus der verfassungsmäßig gebotenen Neutralität und Objektivität des Rundfunks (Art. 5 GG) — davon, daß die Nichtberücksichtigung einer inzwischen (seit der letzten Wahl) eingetretenen parteipolitischen „Kräfteverschiebung" gegen den Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen verstoße, weil die Orientierung an einer früheren Kräftekonstellation zu einer Verfestigung des „status quo" führe und damit auf eine (unzulässige) „Vorgabe im Wahlwettbewerb" hinauslaufe 812 . Hier wird deutlich die Orientierung des Verteilungsschlüssels an der gegenwärtigen parteipolitischen Gewichtsverteilung zur unabdingbaren Voraussetzung eines „freien" unverfälschten Wettbewerbs gemacht. Eine „Einstufung der Parteien nach dem letzten Wahlergebnis allein" 8 1 2 — das ist der Sinn dieser Überlegung — müßte „den grundsätzlich freien Wettbewerb aller an der Wahl beteiligten politischen Parteien . . . ernsthaft in Frage stellen" 818 . Gleiches muß dann aber auch für jede „Besserstellung" der kleinen Parteien gelten, die ja nur „auf Kosten" der großen möglich ist. Da sie nämlich nicht an der gegenwärtigen Gewichtsverteilung orientiert ist, muß sie von hier aus konsequenterweise ebenfalls als unzulässige „Vorgabe im Wahlwettbewerb" erscheinen, die die Freiheit und Unverfälschtheit dieses Wettbewerbs ernsthaft in Frage stellt. Erst recht gilt dies von einer völligen Gleichstellung der Parteien. I m Vergleich zu einer die faktischen Unterschiede der Parteien kompensierenden (ausgleichenden) Differenzierung oder gar zu einer diese Unterschiede ignorierenden schematischen Gleichbehandlung der Parteien fällt die Startvorgabe, die eine am letzten Wahlergebnis orientierte Differenzierung gegenüber einer solchen gewährt, die eine inzwischen stattgefundene Kräfteverschiebung berücksichtigt, so gut wie nicht mehr ins Gewicht. Eine solche Differenzierung ist nämlich, weil sie an eine nur legung unterschiedlicher Maximalsendezeiten je nach der Größe oder Bedeutung einer Partei. Die hier vertretene Ansicht einer Grundrechtsbindung nur der „öffentlichen Gewalt" wird damit nicht widerlegt, da auf privatwirtschaftlicher Basis arbeitende Monopolbetriebe im Bereich der Daseinsvorsorge in aller Regel von der öffentlichen Hand betrieben werden und schon deshalb der Neutralitäts- und Paritätsbindung aller staatlichen Gewalt unterliegen. I m übrigen bedürfte es wohl besonderer rundfunkgesetzlicher Auflagen, die sich freilich im Rahmen des Art. 5 I I GG halten müßten, um auch von einem privatwirtschaftlich betriebenen Rundfunk die Beachtung des Neutralitätsprinzips und damit die Gleichbehandlung politischer Parteien fordern zu können. Auf die Presse ließen sich diese Überlegungen allerdings nicht übertragen, und es besteht Veranlassung, vor einer vorschnellen Annahme einer regionalen oder überregionalen „Monopolpresse" zu warnen, die, was die Parteien betrifft, selbst dann nicht zur Neutralität verpflichtet wäre oder werden könnte. Im einzelnen siehe oben nach Anm. 1/420. 812 BVerfGE 14,137. 318 Ebd.. S. 138.

II. Der Beschluß vom 30. Mai 1962

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wenige Jahre zurückliegende Kräftekonstellation anknüpft, auch bei einer zwischenzeitlich „erheblichen Kräfteverschiebung" stets nur das letzte Glied einer in aller Regel kontinuierlich verlaufenden Entwicklung und bedarf daher keiner umstürzenden Änderung, um sie der Gegenwartslage anzupassen. Wenn also schon eine solche retrospektive Differenzierung den Wahlwettbewerb der Parteien durch unzulässige Startvorgaben verfälscht, um wieviel mehr gilt dies für die Abwandlung des „reinen Proporzes", wie sie der WDR vorgenommen hatte, um wieviel mehr für eine paritätische Verteilung, wie sie die FDP erstrebt und wie sie das BVerfG immerhin als zulässig, ja als Regelfall angesehen hatte. Kann nämlich bereits ein am letzten Wahlergebnis orientierter Verteilungsschlüssel, der eine zwischenzeitlich stattgefundene Kräfteverschiebung nicht berücksichtigt, zu einer so „erheblich längeren Sendezeit" und zu einer so sehr „ins Gewicht fallenden größeren Anzahl von Sendeterminen" 814 führen, daß die damit verbundene „zusätzliche Werbewirkung" den freien Wahlwettbewerb durch die Gewährung unzulässiger Startvorgaben ernsthaft in Frage stellt, obwohl doch eine solche Zeitbemessung von einer der Gegenwart angepaßten Proportionierung in aller Regel nur geringfügig abweichen würde, so muß diese Gefahr der Wettbewerbsverfälschung bei einer die Unterschiede bewußt ausgleichenden Differenzierung oder gar einer an alle Parteien zu gleichen Teilen vergebenen Sendezeit ins Unermeßliche wachsen. Das Gericht hätte daher — legt man diese Sicht zugrunde — sowohl die von der FDP geforderte als auch die vom WDR geplante Regelung beanstanden müssen, denn beide laufen auf eine Beteiligung der FDP an den Wahlsendungen hinaus, die in keinem Verhältnis zu ihrer früheren oder (1962) gegenwärtigen „Bedeutung" steht, die sie „auf Kosten" von SPD und CDU begünstigt und ihr damit eine „Vorgabe im Wahlwettbewerb" verschafft, die einen „freien Wettbewerb" aller wahlwerbenden Parteien ernsthaft in Frage stellt. Sie wäre mit dem Grundsatz der Chancengleichheit noch weniger zu vereinbaren als eine Differenzierung, die sich ausschließlich am „reinen Proporz" des letzten Wahlergebnisses orientiert hätte. Als das Gericht später in den Urteilen zur Parteifinanzierung und zum PartG auf den WDR-Beschluß zurückgriff, um die (von ihm empfohlene) Abstufung der Wahlkampfkostenerstattung bzw. der sie vorwegnehmenden Abschlagszahlungen (§§ 18, 20 PartG) an den für die Sendezeitvergabe entwickelten Maßstäben zu messen, ist von der Zulässigkeit einer strikt paritätischen Behandlung und dem Verbot der ausschließlichen Orientierung der Abstufung am (letzten) Wahlergebnis 814

Ebd.. S. 137.

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keine Rede mehr. Vielmehr würde es, wie das Gericht ausführt, dem „Sinn" der Wahlkampfkostenerstattung widersprechen, „wenn alle Parteien . . . ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung . . . in den Stand gesetzt würden, den gleichen Aufwand zu treiben". Denn dadurch würde „die vom Staat vorgefundene tatsächliche Wettbewerbslage verfälscht" 315 . Für die „Bedeutung" einer Partei, „das heißt, für den Anteil, den sie an der politischen Willensbildung des Volkes hat", liefere das Wahlergebnis „immer nodi den genauesten Maßstab" 316 . Die Bedenken des WDR-Bes