Die formale Seite der Äußerungsfreiheit: Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte [1 ed.] 9783428495184, 9783428095186

Der Autor überwindet zunächst im Rahmen einer Analyse des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG unter Berücksichtigung der Ratio der Nor

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Die formale Seite der Äußerungsfreiheit: Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte [1 ed.]
 9783428495184, 9783428095186

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CHRISTOPH FIEDLER

Die formale Seite der Äußerungsfreiheit Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 773

Die formale Seite der Äußerungsfreiheit Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte

Von

Christoph Fiedler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fiedler, Christoph: Die formale Seite der Äußerungsfreiheit - Zensurverbot und Äußerungsgrundrechte / von Christoph Fiedler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 773) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-428-09518-9

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09518-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation angenommen. Herrn Prof. Dr. Jost Pietzcker danke ich sehr herzlich für vielfaltige Anregungen, Hinweise und Kritik, die offene und lehrreiche Atmosphäre an seinem Lehrstuhl sowie den Freiraum, den er mir gelassen hat. Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Matthias Herdegen für die Übernahme und prompte Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlich danke ich allen Kollegen und Freunden in Bonn, Köln, Düsseldorf und Berlin, die mir durch Gespräche, kritische Durchsicht mancher Passage oder in sonstiger Weise geholfen haben. Schließlich gebührt meinen Eltern Dank. Die Universität Bonn hat die Drucklegung der Arbeit mit einem Zuschuß gefördert.

Köln, im Frühjahr 1998

Christoph Fiedler

Inhaltsübersicht 1. T e i l Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

38

1. Abschnitt: Maßstab und Verfahren als Struktur jeder Kontrolle

38

2. Abschnitt: Zensurdefinitionen

41

3. Abschnitt: Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Maßstabsverbot?

73

2. T e i l Die Gründe des Zensurverbotes, seine Reichweite und die formale Äußerungsfreiheit

86

1. Kapitel

Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Auslegungskriterium

90

1. Abschnitt: Wortlaut und Begriffsgeschichte

91

2. Abschnitt: Bundesverfassungsgericht und Literatur zum Schutzzweck des Zensurverbotes

95

3. Abschnitt: „Lähmungsrisiken" - Konkretisierung der durch Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG abgewehrten Gefahren

100

2. Kapitel

Kontrolltechnik Zensur und Aspekte ihres „absoluten" Verbotes im Gefüge des Art. 5 Abs. 1,2 GG

141

1. Abschnitt: Zensur und ihr Sonderfall Erlaubnisvorbehalt

141

2. Abschnitt: Das Zensurverbot und die Äußerungsgrundrechte

187

Inhaltsübersicht

8

3. Kapitel

Kontrolle zwischen klassischer Zensur und Restauflagenbeschlagnahme

255

1. Abschnitt: Grundrechtsschutz gegen nicht zensurelle Verfahren?

260

2. Abschnitt: Formale Äußerungsfreiheit als Vorrang der Repression vor der Prävention

291

3. Abschnitt: Konkretisierung des Vorrangs der Repression vor der Prävention ...

352

4. Abschnitt: Grundrechtsdogmatische Einordnung

382

3. T e i l Differenzierung des Schutzes gegen Zensur und andere Inhaltskontrollverfahren

405

1. Kapitel

Konstellationen zensureller Verfahren

406

1. Abschnitt: Formal begrenzte Freiheitsbeschneidungen

406

2. Abschnitt: Leistung und Zensur

416

3. Abschnitt: Zensur als Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit?

434

2. Kapitel

Verschiedene Verfahren auf ausgewählten Äußerungswegen

471

1. Abschnitt: Grundrechtsgebundener Offener Kanal

471

2. Abschnitt: Rede unter Anwesenden, besonders öffentlich

475

3. Abschnitt: Öffentliche Filmvorführung

490

4. T e i l Zensurverbot und Grundrechtsverzicht

497

Zusammenfassung

505

Literaturverzeichnis

534

Sachregister

552

Inhaltsverzeichnis Einleitung

29

1. T e i l Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

38

1. Abschnitt Maßstab und Verfahren als Struktur jeder Kontrolle

38

2. Abschnitt Zensurdefinitionen A.

Begriffe

41 43

I. „Formelle", „materielle" und „faktische" Zensurbegriffe 1. „Formell" und „materiell" a) Mögliche Deutungen der Form

44 44 44

aa) Verfahren

44

bb) Nicht jedes Verfahren

45

cc) Nur bestimmte Regelungen

45

dd) Nur der Erlaubnisvorbehalt

45

b) Elemente „materieller" Zensurbegriffe

45

aa) Kontrollmaßstab

46

bb) Maßstab und Eingriffszeitpunkt

50

cc) Maßstab und nicht geregelte Kontrollqualifikation

50

dd) Kein Erlaubnisvorbehalt

50

c) Abgrenzung 2. Einordnung des „Faktischen"

50 51

nsverzeichnis

10 3. Formell-materiell

53

II. Vor-, Präventiv-, Nachzensur und Repression B.

Die verschiedenen Deutungen der Zensur I. Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle (Formelle Zensurbegriffe)

53 55 55

1. „Der" formelle Zensurbegriff

55

2. „Planmäßige" oder „systematische" Kommunikationskontrolle

56

3. Eingriffe in die „Publikationsphase"

57

4. Eingriffe vor Verbreitungsbeginn

58

a) Durch alle oder bestimmte Staatsorgane

58

b) Zweck, Wirkung oder Rechtsgrundlage der Maßnahme

59

aa) Organ oder Zweck

59

bb) Zweck oder Wirkung

61

5. „Allgemeine" Verbote

62

6. „Ausstrahlungswirkungen" des Zensurverbotes

63

II. Zensur als Maßstab der Inhaltskontrolle (materielle Zensurbegriffe)

63

III. Zensur als bestimmter Maßstab in bestimmtem Verfahren (formellmaterielles Verständnis)

66

1. Formell-materieller Zensurbegriff

69

2. Formeller Zensurbegriff mit unbeschränkbarem Verbot in materiell bestimmtem Anwendungsbereich

70

3. Formeller Zensurbegriff mit materiell beschränkbarem Verbot

70

IV. Exkurs: Formverbote durch Inhaltskontrolle und formale Äußerungselemente als Erklärungszeichen

70

3. Abschnitt Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Maßstabsverbot? A. B.

73

Schutz nur gegen Kontrollmaßstäbe? (Materielles Verständnis des Zensurverbotes)

74

Zensurverbot als Teil der Inhaltsschrankendogmatik?

79

Wesentliche Ergebnisse des 1. Teils

83

nsverzeichnis

11

2. Τ e i 1 Die Gründe des Zensurverbotes, seine Reichweite und die formale Äußerungsfreiheit

86

1. Kapitel

Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Auslegungskriterium

90

1. Abschnitt Wortlaut und Begriffsgeschichte

91

2. Abschnitt Bundesverfassungsgericht und Literatur zum Schutzzweck des Zensurverbotes

95

3. Abschnitt „Lähmungsrisiken" - Konkretisierung der durch Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG abgewehrten Gefahren A.

Erste Abgrenzung und positive Aspekte der Zensur I. Gleiche Effekte zensurunverdächtiger Kontrolle II. Variationsbreite möglicher Wirkungen von Zensur

B.

100 100 100 102

III. Positive Effekte einer Vorabkontrolle

103

1. Effektiver Rechtsgüterschutz

103

2. Entlastung des Äußernden durch Rechtssicherheit

106

Mögliche Lähmungsrisiken

110

I. Risiken der Be- und Verhinderung inhaltlich rechtmäßiger Äußerungen

110

1. Risiko fehlerhafter Entscheidungen: Eigenheiten der Äußerungsfreiheit und ihrer Schranken

111

a) Konkretisierungsbedürftigkeit der Inhaltsschranken und korrespondierender Entscheidungsspielraum

111

b) Anforderungen an die Rechtsanwendung

114

aa) Rohsachverhalt als Aussage

114

bb) Sachverhalt als Aussage

114

nsverzeichnis cc) Normabhängige Feststellung des relevanten Äußerungsinhaltes

116

dd) Normkonkretisierung

118

ee) Vermittlung zwischen festgestellter Äußerung und Normaussage

118

c) Zeitaufwendigkeit der Entscheidungen im Grenzbereich der Inhaltsschranken 2. Risiken des Entscheidungstyps Verwaltung a) Typische Aus- und Einrichtung

120 120

aa) Entscheidung in eigener Sache

120

bb) Weitergehende Aufgabe der Verwaltung

121

b) Risiko des Einflusses politischer Aspekte

124

c) Mittel-und unmittelbare Öffentlichkeitsabhängigkeit

125

3. Risiken restriktiv fehlerhafter Interpretation a) Entscheidungstyp Verwaltung: Kontrolle als Aufgabe und Befangenheit

125 125

aa) Kontrollaufgabe

125

bb) Befangenheit

126

b) Verantwortlichkeit der Kontrolle und Entlastung des Bürgers

127

4. Zusammenwirken der Faktoren

129

5. Möglichkeit bewußter Verhinderung zulässiger Äußerungen

130

II. Verzögerung als Be-und Verhinderung

130

III. Exekutiver Inhaltsmaßstab, geistige Vor- und Nachwirkungen

133

IV. Stattfinden einer Vorabkontrolle

135

V. Unerkennbarkeit der Kontroll Wirkungen

C.

119

136

VI. Gewandelte tatsächliche Möglichkeiten der Kontrolle

139

Ergebnis

140

nsverzeichnis

13

2. Kapitel

Kontrolltechnik Zensur und Aspekte ihres „absoluten" Verbotes im Gefüge des Art. 5 Abs. 1,2 GG

141

1. Abschnitt Zensur und ihr Sonderfall Erlaubnisvorbehalt A.

Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt als Beispiel für Zensur I. Erlaubnisvorbehalt: Verfahrensregelung mit Varianten II. Zensur durch Regelungen ohne Erlaubnisvorbehalt III. Zensur und nicht (vollständig) geregelte Verfahrensgestalt

B.

Die Gestalt der klassischen Zensur und ihr Verbot

141 141 142 145 150 154

I. Das Zensurverfahren

154

1. Kontrollintensität

155

a) Anwendungsbereich und Kontrolldichte

155

b) Sichere Möglichkeit der Gesamtverbreitungsverhinderung

156

2. Kontrollgegenstand konkrete Äußerung

157

3. Kontrollfolge: Verhinderung konkreter Verbreitung

159

II. Zurechenbarkeit der Kontrolle III. Bindung der Kontrolle an das Zensurverbot 1. Zensur innerhalb arbeitsteiliger Grundrechtswahrnehmung und hierarchischer Staatsverwaltung 2. Gerichte als Zensoren? - Tanz der Teufel I C. Anwendungsbereich und Dichte zensureller Kontrolle I. Konsequenzen der Relativität historischer Zensur

160 162 162 163 165 166

1. Lücken imperativer Zensur

166

2. Nicht geregelte Zensurvarianten

169

II. Generalität des Erlaubnisvorbehalts als Zensurbedingung?

171

1. Personale Differenzierung

171

2. Anderweitige Differenzierungen

173

3. Beliebiger Anwendungsbereich

176

D. Bundesverfassungsgericht und nicht geregelte Zensur - Tanz der Teufel II

177

nsverzeichnis

14 Ergebnisse des 1. Abschnitts

185

2. Abschnitt Das Zensurverbot und die Äußerungsgrundrechte A.

Schrankenschranke, Grundrecht oder formale Komponente der Äußerungsfreiheiten? I. Inhaltsabhängiger Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG

188 188

1. Inhaltliche Prüfung der inhaltlich ungeschützten Äußerungen?

192

2. Kontrolle zum Zweck der Ausgrenzung ungeschützter Äußerungen

193

a) Maßstabsgleichgültigkeit des Zensurverbotes

193

b) Inhaltsunabhängige Schutzkomponente der Äußerungsgrundrechte

194

c) Textort

195

aa) Zensurverbot nur Argument bb) Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2 i. V. m. S. 3 GG cc) Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Grundrecht? II. Uneinschränkbarkeit und Eingriffsschrankencharakter des Zensurverbotes

195 196 196 196

1. Formal kennzeichenbare Kommunikationsbereiche

197

2. Zulässigkeit der Zensur mit bestimmten Inhaltsschranken?

198

3. Formal begrenzte und inhaltsabhängige Zensurzulässigkeit

200

a) Unterscheidung der verschiedenen „Einschränkungen"

200

b) Inhaltstypenspezifische Zensurzulässigkeit?

201

4. Weitere Argumente für die Absolutheit des Zensurverbotes III. Zusammenfassung B.

187

Zensur, Pressefreiheit, Zensurverbot

204 205 207

I. Pressefreiheit und Zensurverbot in der historischen Entwicklung und in Art. 5 Abs. 1,2GG

208

1. Formale Pressefreiheit i. e. S

208

2. Erweiterung der formalen Freiheit

213

nsverzeichnis

15

3. Erhalt der formalen Freiheit und zusätzliche materielle Freiheitskomponente 220 4. Zensurverbot und Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG

236

II. Formeller und materieller Schutz zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und den Äußerungsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG C.

Das Verhältnis von formaler und materieller Seite der Freiheit

D. Zusammenfassung

246 248 251

3. Kapitel

Kontrolle zwischen klassischer Zensur und Restauflagenbeschlagnahme

255

1. Abschnitt Grundrechtsschutz gegen nicht zensurelle Verfahren?

260

A.

Ablehnende Konzepte verschiedener Intensität

260

B.

Grundrechtsrelevanz der Verbreitungskontrollverfahren

262

I. Prinzipielle Relevanz des Verbreitungskontrollverfahrens 1. Konkrete Verbreitungsunterbindung nach Gefahrenabwehrrecht

262 263

a) Gesamtverbreitungsunterbindung

265

b) Teil Verbreitungsunterbindung

266

2. Konkrete Verbreitungsunterbindung nach Straf- oder sonstigem Recht

270

a) Sichernde Auflageneinziehung und -beschlagnahme

272

aa) Einziehung

272

bb) Beschlagnahme

274

b) Verbreitungsunterbindung als Strafe 3. Ergebnis II. Grundrechtswidrigkeit mancher nicht zensureller Verfahren 1. Fehlschlüsse zugunsten der Zulässigkeit jeglicher Nichtzensur a) Von der Verfassungsmäßigkeit der Inhaltsschranke auf die Verfassungsmäßigkeit ihrer Umsetzung

275 276 277 277 277

nsverzeichnis

16

b) Vom absoluten Verbot der Zensur auf die Zulässigkeit jeder Nichtzensur

C.

278

2. Möglichkeiten vergleichbarer Lähmungsrisiken

280

3. Verfassungstext Pressefreiheit

283

4. Enges Zensurverbot und weitergehende Präventionsbeschränkung....

285

a) Parteienwahlwerbespots im grundrechtsgebundenen Rundfunk...

285

b) Pressebezogene Beschränkung exekutiver Präventionsermächtigungen

288

c) Verschiedene Äußerungsmöglichkeiten

289

Ergebnis

290

2. Abschnitt Formale Äußerungsfreiheit als Vorrang der Repression vor der Prävention A.

Ausdehnung des Zensurverbotes auf jede systematische Kontrolle? I. Zulässige systematische Kommunikationskontrolle II. Unsystematische Zensur? III. „Systematische Gefahrenerforschung" und „konkrete Gefahrenabwehr"

B.

Ausdehnung des Zensurverbotes auf jede „Gefahrenabwehr"? I. Unzulässige „Gefahrenabwehr" nur bis zum Verbreitungsbeginn

291 291 293 294 295 296

1. Verbot beliebiger Gesamtverbreitungsverbote

296

2. Verbot nicht aller Gesamtverbreitungsverbote

298

II. „Gefahrenabwehr" auch während der Verbreitung

C.

291

299

III. „Gefahrenabwehr" und Freiheitsgarantie

300

Formaler Grundrechtsschutz durch Abwägung?

302

D. Regelabwesenheit bestimmter Verfahren der Verbreitungsunterbindung? I. Verfahrensfaktoren und Lähmungsrisiken

303 303

1. Äußerungsfreiheit und ihre Inhaltsschranken

303

2. Kontrollorganisation und Entscheidungsverfahren

304

3. Verbreitungskontrolltechnische Faktoren

304

nsverzeichnis a) Anknüpfung, Häufigkeit, Wahrscheinlichkeit der Inhaltskontrolle

304

b) Zeit und Art der Kenntnisnahme

305

c) Verbreitungszugriff.

305

II. Freiheit von bestimmten Verfahrenstypen E.

Präventionsnachrang als Regel I. Gefährdetes Gut

306 308 308

1. Würde, formale Äußerungsfreiheit, Verantwortung und Risiko

309

2. Demokratieneutralität der formalen Äußerungsfreiheit

315

a) Formale Äußerungsfreiheit und Staatsform

315

b) Demokratiegehalte in Art. 5 GG?

319

aa) Materielle Äußerungsfreiheit

322

bb) Formale Äußerungsfreiheit

324

(1) Rede von der Privilegierung der Presse (a) „Institut freie Presse"

325 325

(aa) Privilegierung gegenüber nicht gewerblicher Äußerung?

328

(bb) Privilegierung gegenüber anderen Äußerungswegen oder anderem Gewerbe?

328

(cc) Unhistorische Objektivierung

329

(b) Besonderer Schutz der Presse (2) Notwendiger Maßstab inhaltsunabhängigen Schutzes (3) Privilegierung eines Äußerungsweges und Staats- sowie Politikbezug des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG II. Gefahr fehlerhafter Entscheidungen und Maßstabsbildung III. Besondere Verletzbarkeit und besondere Gefährdung

330 331 331 332 334

1. Stattfinden einer Inhaltskontrolle

334

2. Handlungszielkonflikt

336

IV. Die Abhängigkeit der inhaltlichen von der formalen Freiheit 1. Generalklauselartige Inhaltsschranken a) Änderung des Gesetzes ohne Gesetzesänderung aa) Gesellschaftliche Norm 2 Fiedler

17

338 338 339 339

18

nsverzeichnis bb) Rechtsnorm

340

b) Das Postulat gesetzlicher Bestimmung der Freiheit

342

c) Die Spannung zwischen formaler und inhaltlicher Freiheit

344

2. „Zeichenenge" Inhaltsschranken

346

V. Unerkennbarkeit und Unbehebbarkeit des Ausmaßes sicher eintretenden Schadens 348 VI. Vorrang der Repression vor der Prävention und die Schutzgüter der Inhaltsschranken

349

3. Abschnitt Konkretisierung des Vorrangs der Repression vor der Prävention

352

A.

Verfahrenstypen

353

B.

Mindestanforderungen an jede Verbreitungsunterbindung

354

I. Ahndungsakzessorische Verbreitungsverhinderung

354

1. Regel: Verbreitungsverhinderung als Annex zur Endentscheidung des freiheitswahrenden ahndungsbezogenen Verfahrens 2. Ausnahme: Vorgreifende Verbreitungsverhinderung

354 355

a) Maßstabsverengung

356

b) Akzessorietät zum freiheitswahrenden Hauptsacheverfahren

357

c) Relative und absolute Vorläufigkeit d) Ausgleich der durch rechtswidrige Vorabprävention verursachten Schäden

357 358

e) Rechtsschutzgebot

359

f) Verfassungsgebot zu weitergehender Prävention angesichts bewehrter Inhaltsschranken?

359

3. Weitergehende Prävention zur Durchsetzung nicht bewehrter oder nicht bewehrbarer Inhaltsschranken?

365

a) Nicht bewehrte Inhaltsschranken

365

b) Nicht bewehrbare Inhaltsschranken

368

c) Verkennung des Art. 5 Abs. 1, 2 GG

369

d) Ergebnis

370

nsverzeichnis

19

4. Die formale Äußerungsfreiheit und die Gegenüberstellungen von

C.

Präventiv- und Repressiv- bzw. Polizei- und Justizsystem

370

II. Prävention als Annex zu bloßer Feststellung der Rechtswidrigkeit?

372

III. Zusammenfassung

375

IV. Zivilgesetzliche Ansprüche und ihre Durchsetzung

376

Verbreitungsverhinderung im Rahmen großflächiger Kontrollverfahren

D. Zwischenlagen

378 382

4. Abschnitt Grundrechtsdogmatische Einordnung I. Grundrechtsschutz gegen Verfahren

382 383

1. Erscheinungsformen grundrechtlicher Verfahrensabwehr

385

a) Eingriffe im Verfahren und Verfahren als Eingriff

385

b) Eingriffsbestimmende Verfahren

386

2. Techniken der Regelung abwehrrechtlicher Verbote

390

3. Ergebnis für die formale Äußerungsfreiheit

391

II. Freiheit von Zensur und weiteren Verfahren

392

1. Die freiheitsverkürzende Intervention

392

a) Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und andere Zensur

392

aa) Verbreitungsverhinderung am Verfahrensende

393

(1) Eingriff in den inhaltsabhängigen Schutzbereich

393

(2) Inhaltsunabhängige Behinderung der Verbreitung

393

bb) Verzögerung und andere spürbare Behinderungen

393

cc) Bloße Verfahrenseinleitung und Inhaltsprüfung

395

b) Andere Verfahren der Verbreitungsunterbindung

395

c) Eingriffsbegriff als Hindernis?

397

2. Eingriffsschema und effektive Garantie

399

3. Verhältnis zwischen Verfahrens- und Inhaltsfreiheit

402

4. Textbasis der formalen Freiheit jenseits der Zensurabwehr

402

nsverzeichnis

20

3. T e i l Differenzierungen des Schutzes gegen Zensur und andere Inhaltskontrollverfahren

405

1. Kapitel

Konstellationen zensureller Verfahren

406

1. Abschnitt Formal begrenzte Freiheitsbeschneidungen

406

A.

Anordnungen nach Art. 18 S. 2 GG

406

B.

Zensur der von Strafgefangenen versandten Post

407

1. Zensurcharakter des Verfahrens

408

2. Zulässigkeit

409

a) Art. 10 GG und Zensur

409

b) Strafgefangenenverhältnis 410 3. Beschränkung der Zensurmaßstäbe auf die Zensur erlaubenden Kontrollzwecke 411 4. Keine Vollendung empfangsbedürftiger Äußerungsdelikte durch Inhaltskontrolle 413 C.

Erlaubnisvorbehalte für verschiedene Äußerungstypen

414

2. Abschnitt Leistung und Zensur I. Äußerungskontrolle als Leistungsmodalität II. Gegenthese: Differenzierung 1. Leistungsabhängigkeit der Abwehrrechtsgeltung

416 416 421 422

a) Organisationsentscheidung

422

b) Straßenrechtliche Widmung

422

aa) Entkoppelung der Eröffnung und des Schutzes des eröffneten Gemeingebrauchs

422

bb) Die verfügbaren Abwehrrechte

423

nsverzeichnis cc) Fazit und Folgen für widmungsakzessorisch gemeingebräuchliche Kommunikation 2. Weitere Fälle leistungsakzessorischer Verhaltens- und Äußerungsfreiheit

21

425 425

a) Die Unterscheidbarkeit von Freiraumeröffnung und Freiheitsverkürzung 425 aa) Getrennte Entscheidungen

425

bb) Eine Entscheidung

426

b) Die sachliche Grenze zwischen Freiraumeröffnung und Freiheitsverkürzung 3. Allgemeinere Einwände

427 429

a) „Natürlichkeit" abwehrrechtlichen Schutzes

429

b) Zumutbarkeit der Grundrechtsbeachtung

430

c) Unplausibilität nur objektiv-rechtlicher Gehalte

431

aa) Anwendungsvorrang des subjektiven Abwehrrechts

432

bb) Sachliche Mängel

432

cc) Fazit

433

III. Ergebnis

434

3. Abschnitt Zensur als Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit? A.

Wahlwerbespotkontrolle durch Rundfunkanstalten

435

1. Zensurcharakter des Verfahrens

437

2. Äußerungsgrundrecht der Partei im Verhältnis zur Anstalt

438

a) Kontrollbefugnis als Grundrecht der Rundfunkanstalt?

438

b) Keine Zulässigkeit gleichmäßiger Zensur

440

aa) Der mißverstandene Gleichheitssatz

442

bb) Äußerungsfreiheit auf eröffneten Äußerungswegen

444

cc) Zumutbarkeit der Grundrechtsbeachtung

445

c) Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers? B.

434

Offene Kanäle und Bürgerfunk

446 448

22

nsverzeichnis I. Einordnung 1. Verschiedene Ausgestaltungen in den Landesrundfunkgesetzen

448 450

a) Einrichtung der Landesmedienanstalt

450

b) Privater Träger in den Flächenstaaten

451

c) Bürgerfunk in Nordrhein-Westfalen

452

2. Unbegrenzte Ausgestaltungsmacht des Gesetzgebers?

453

3. Grundrechtliche Vorprüfungspflicht?

454

II. Offener Kanal als Einrichtung der Landesmedienanstalten

456

1. Bloß „innere" Rundfimkfreiheit?

457

2. Nutzer als Äußerungsberechtigter

457

3. Verteilung formaler und materieller Äußerungsfreiheit auf verschiedene Subjekte 458 III. Zwischenschaltung privater Kanalträgerschaft 1. Träger der Äußerungsfreiheit

459

a) Kein Rundfunk der Landesanstalt

459

b) Nutzer oder Trägergemeinschaft?

459

aa) Eigene Beiträge der Nutzer

459

bb) Anteil der Träger an der Freiheit?

461

2. Äußerungsfreiheitsneutrales Kontrollrecht der Träger?

462

a) Grundrechtsbindung der Sendeabwicklung

462

b) Grundrechtsungebundene Sendeabwicklung und ausgestaltende Kontrollverbote

463

c) Grundrechtseingriff durch staatliche Einschaltung der privaten Träger

464

d) Grundrechtseingriff durch positive Kontrollregelungen

466

IV. Bürgerfunk im Zwei-Säulen-Modell Nordrhein-Westfalens

466

1. Äußerungsrecht der Bürgerfunkgruppen?

467

2. Äußerungsrecht der Veranstalter?

468

V. Nicht zensurelle Kontrolle C.

459

Fazit zum Rundfunk

470 470

Inhaltsverzeichnis

23

2. Kapitel

Verschiedene Verfahren auf ausgewählten Äußerungswegen

471

1. Abschnitt Grundrechtsgebundener Offener Kanal A.

Abwehr konkreter Verbreitungshinderung I. Zensur

472 472

II. Sonstige konkrete Gesamtverbreitungsunterbindung

473

1. Großflächige Verfahren

473

2. Geringere Kontrolldichte

473

3. Konkrete Verbreitungsverhinderung ohne genaue Inhaltskenntnis

474

III. Teilverbreitungsunterbindung B.

471

Verfahren umfangreicherer Verbreitungshinderung

474 475

2. Abschnitt Rede unter Anwesenden, besonders öffentlich

475

A.

Freiheit von Zensur

475

B.

Freiheit von anderer Verbreitungsunterbindung

476

I. Zonen unterschiedlichen Schutzes II. Besonderheiten des Mediums

476 477

1. Von den Worten unabhängige Maßnahmen

479

2. Unmittelbar redeverursachte Gewaltgefahr

480

3. Verhinderung bloßen Kommunikationsunrechts

481

a) Anforderungen an jedes Äußerungsverbot

482

aa) Rechtsprechung

482

bb) Ahndungsakzessorische Prävention

485

cc) Selbständige Prävention

486

(1) Keine erweiterten Maßstäbe

486

(a) Äußerungsverbote

486

(b) Veranstaltungsverbote

487

24

nsverzeichnis (2) Wahrscheinlichkeitsprognose

488

(3) Verengte Maßstäbe

489

b) Intensivierte Prävention durch Anzeigepflicht

489

aa) Keine Zensurbefugnis

489

bb) Unzulässige Kontrolle unterhalb der Zensur

489

cc) Routinemäßige Eigenermittlungen mit Blick auf die Gefahr bloß inhaltlich rechtswidriger Rede?

490

3. Abschnitt Öffentliche Filmvorführung

490

A.

Abwehr der unmittelbaren Gefahr inhaltsvermittelter Gewalt

491

B.

Der Jugendvorbehalt als Ausschnitt der privaten und öffentlich-rechtlichen Prävention

491

I. Abgrenzung: Private Kontrolle der Filmwirtschaft II. Öffentlich-rechtliche Verfahren 1. Abgrenzung: Anhänge zum Jugendvorbehalt - Strafbarkeitsprüfung und Mitteilung

492 492 492

2. Abgrenzung: Erwachsenenprüfung - Strafbarkeitsprüfung und Mitteilung 493 3. Abgrenzung: Indizierung

494

4. Der Jugendvorbehalt des § 6 Abs. 1 JÖSchG

494

a) Materielle Rechtfertigungsversuche

494

b) Formale Begründungen

495

c) Singuläres Phänomen

496

4. T e i l Zensurverbot und Grundrechtsverzicht

497

A.

Abgrenzung: Verpflichtung gegenüber anderen Grundrechtsträgern

497

B.

Verfugung gegenüber dem Staat

497

I. Abgrenzung: Freiwillig-beratende und zwangsweise-beratende Kontrolle 498

nsverzeichnis II. Freiwillig-verbindliche Kontrolle

25 498

1. Verfügung

500

2. Verfügbarkeit

501

Zusammenfassung

505

Literaturverzeichnis

534

Sachregister

552

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen richten sich nach Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage 1993. Folgende Abkürzungen seien gesondert genannt:

BerlPrG

Berliner Pressegesetz vom 15.6.1965 (GVB1. S. 744), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16.3.1988 (GVB1. S. 473)

BOKrafit

Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr vom 21.6.1975 (BGBl. I S. 573) i. d. F. d. Ä. vom 30.6.1989 (BGBl. I S. 1273)

BremLMG

Bremisches Landesmediengesetz vom 22.6.1993 (GBl. S. 203)

Btx-StV

Staatsvertrag über Bildschirmtext (Bildschirmtext-Staatsvertrag), Art. 4 des Rundfunkstaatsvertrages vom 31.8. 1991 (etwa GV.NW S. 408) Staatsvertrag über Bildschirmtext (Bildschirmtext-Staatsvertrag) vom 18.3.1983 (etwa GV.NW S. 227)

Bürgerfunksatzung

Satzung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen über die Nutzung Offener Kanäle im lokalen Rundfunk vom 7.7.1993 (GV.NW S. 486), geändert durch Satzung vom 17.10.1995 (GV.NW S. 1020)

FSK

Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft

FuR

Film und Recht

GÜV

HessPrG

Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24.5.1961 (BGBl. I S. 607), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.9.1994 (BGBl. I S. 2325) Hessisches Gesetz über Freiheit und Recht der Presse vom 23.6.1949 (GVB1. S. 75) i. d. F. d. Bek. vom 20.11.1958 (GVB1. S. 183), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.9. 1994 (GVB1. S. 424)

Abkürzungsverzeichnis

27

IuKDG

Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen fur Informations· und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz) v. 22.7.1997 (BGBl. I S. 1870

LRGNW

Rundfunkgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen i. d. F. d. Bek. vom 24.8.1995 (GV.NW S. 994)

LRGRP

Rundfunkgesetz des Landes Rheinland-Pfalz vom 28.7. 1992 (GVB1. S. 247), nach dem Stand der Änderung vom 14.6.1994 (GVB1. S. 273)

LRG SL

Rundfunkgesetz für das Saarland (Landesrundfunkgesetz) i. d. F. d. Bek. vom 5.8.1996 (Abi. S. 913)

MD-StV

Staatsvertrag über Mediendienste (Mediendienste-Staatsvertrag) vom 20.1./12.2.1997 (etwa GV.NW 1997, S. 158)

MP

Media Perspektiven

NdsLRG

Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz vom 9.11.1993 (GVB1. S. 523)

NStE OKBE-Satzung OKBR-Satzung

Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Satzung über den Zugang zum Offenen Kanal Berlin vom 1.3.1995 (Abi. S. 932) Satzung der Bremischen Landesmedienanstalt für den Offenen Kanal Bremen/Bremerhaven vom 28.05.1991 (Abi. S. 441)

OKNW-Satzung

Satzung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen für die Nutzung Offener Kanäle in Kabelanlagen vom 30.5.1989 (GV.NW S. 247), nach dem Stand der Änderung vom 14.6.1994 (GV.NW S. 273)

OKSH-Satzung

Satzung der Unabhängigen Landesanstalt für das Rundfunkwesen zur Gestaltung, Durchführung und Finanzierung des Offenen Kanals in Schleswig-Holstein vom 19.11.1992 (Amtsbl./AAz 1992, S. 321)

OKSL-Satzung

Satzung der Landesanstalt für Rundfunkwesen für den Offenen Kanal im Saarland vom 29.11.1988 (Abi. S. 40) i. d. F. d. Ä. vom 22.1.1992 (Abi. S. 268)

OKRP-Satzung

Satzung der rheinland-pfälzischen Landeszentrale für private Rundfunkveranstalter für Offene Kanäle vom 2.5. 1994 (StAnz. S. 476)

28

Abkürzungsverzeichnis

PrGNW

Pressegesetz fur das Land Nordrhein-Westfalen vom 24.5.1966 (GV.NW S. 340), zuletzt geändert durch Gesetz vom 7.2.1995 (GV.NW S. 88)

PrPrG

Preußisches Gesetz über die Presse vom 12.5.1851 (GS S. 273) - Preußisches Preßgesetz vom 17.3.1848 (GS S. 69)

PrVerf

Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 (GS S. 17)

RhPfPrG

Rheinland-Pfälzisches Landesgesetz über die Presse vom 14.6.1965 (GVB1. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 7.2.1983 (GVB1. S. 17)

RPrG

Das Reichsgesetz über die Presse vom 7.5.1874 (RGBl. S. 65)

RuF

Rundfunk und Fernsehen

RStV

Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.8.1991 (etwa GV.NW S. 408), zuletzt geändert durch den Md-StV vom 20.1./12.2.1997 (etwa GV.NW 1997, S. 158)

RStV BE-BRA

Staatsvertrag über die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg im Bereich des Rundfunks (Rundfunkstaatsvertrag Berlin-Brandenburg) vom 29.2.1992 (GVB1. BE S. 151; GVB1.BRA S. 142).

UFITA

Archiv für Urheber-, Film-, [ab 1954: Funk-] und Theaterrecht

U. S.

United States Supreme Court Reports

WDRG

Gesetz über den "'Westdeutschen Rundfunk Köln" i. d. F. d. Bek. vom 31.3.1993 (GV.NW S. 158)

ZDF-StV

ZDF-Staatsvertrag vom 31.8.1991 (etwa GV.NW S. 408, 417), geändert durch Vertrag gem. Bek. vom 24.6.1994 (GV.NW S. 433)

Einleitung Art. 5 Abs. 1 GG schützt in seinen beiden ersten Sätzen Verhaltensweisen, mit denen Menschen sich anderen mitteilen und über die Welt informieren können. Schon dem Wortlaut nach handelt es sich um Rechte (Satz 1 : Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit) und Gewährleistungen (Satz 2: Pressefreiheit, Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film). Neben diesen unschwer als Sollensanordnungen erkennbaren Bestimmungen mutet der sich anschließende Satz 3 mit seinen knappen Worten „Eine Zensur findet nicht statt" auf den ersten Blick fast wie eine regelungsfreie Erzählung an, und tatsächlich wird zuweilen die Möglichkeit eines bloß feststellenden Charakters des Satzes erwogen 1 . Weist man die Vorstellung zurück, das Grundgesetz habe sich an dieser Stelle auf eine Zukunftsprognose beschränken wollen, könnte die damit Normcharakter erlangende Aussage sich noch in dem Verbot erschöpfen, Inhaltskontrolle gleich welcher Art Zensur zu nennen. Besteht jedoch im Ergebnis Einigkeit, daß es sich auch nicht nur um eine Sprachregelung, sondern um das Verbot der mit „Zensur" gemeinten Kommunikationskontrolle handelt, ja kann der „kategorische Indikativ" (Ridder) sogar als Hinweis auf einen besonders absoluten Anspruch der Norm gedeutet werden, stellt sich die Frage, ob die Tragweite des Satzes vom Zensurverbot im Gefüge der Verfassung einen Vergleich mit seiner sprachlichen Auffälligkeit aushält. Jede Beschäftigung mit „Zensur" muß sich zunächst eine einfache, gleichwohl aber bedeutsame Erkenntnis vergegenwärtigen. Zensur und ihr Verbot handeln von Kommunikationskontrolle. Darunter können in einem weiten Sinn alle Maßnahmen zur Behinderung oder Förderung bestimmter Kommunikation verstanden werden, ohne daß es darauf ankommt, wer die Einflußnahme versucht, ob sie bei dem sich Äußernden oder auf Seiten des Empfängers ansetzt und wie sie im einzelnen gestaltet ist. Die mannigfaltigen Möglichkeiten, auf die Kommunikation anderer kontrollierend einzuwirken, werden genutzt und sind nach den jeweiligen rechtlichen und außerrechtlichen Maßstäben häufig nicht nur unbedenklich, sondern selbstverständlich, unentbehrlich und positiv, wenn Eltern die Lektüre oder Videos ihrer Kinder „zensieren", wenn in Wirtschaftsunternehmen das Management die unternehmensinterne und vor allem die nach außen gerichtete Kommunikation bestimmt, wenn gleiches in Behörden und sonstigen staatlichen Organisationen 1

Karl Brinkmann, in: Grundrechts-Kommentar, Art. 5, Anm. I 3 b).

30

Einleitung

geschieht, wenn der Volontär nicht auf der Veröffentlichung seiner Versuche bestehen kann, wenn Leserbriefe nur in einer Auswahl veröffentlicht werden, wenn üble Nachrede und Aufrufe zu Straftaten bestraft werden. Nur wird die in jeder Gesellschaft notwendige und mit Variationen praktizierte Kommunikationskontrolle häufig nicht oder nur ungern Kontrolle genannt, so als ob eine Befürwortung der Einflußnahme auf andere im Bereich der Kommunikation durchweg abzulehnen sei. Daß richtigerweise die positive Sicht nicht nur diverse Formen gesellschaftlicher Kontrolle erfaßt, sondern fraglos auch für eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen gilt, mögen nur etwa die erwähnten strafbewehrten Äußerungsverbote zeigen. Deutlich wird damit, daß Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG wie jede andere Ächtung von Zensur nur einen Ausschnitt der Kontrolle von Kommunikation verbieten kann und will. Angesichts der Brisanz, die „Zensur" im Umfeld des verfassungsrechtlichen Verbotes transportiert, scheint es schon zu Abgrenzungszwecken angezeigt, den Versuch einer Eingrenzung des als Zensur Untersagten mit einem Blick auf den heutigen außerrechtlichen Gebrauch des Wortes beginnen zu lassen. Dabei können unter Vernachlässigung weiterer Differenzierungen mindestens zwei Bedeutungsebenen unterschieden werden. Die erste findet sich häufig im Feuilleton der Zeitungen und prägt das Leitbild der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion. Zensur ist hier die zumeist, aber nicht nur staatliche inhaltsbezogene Kontrolle von Druckschriften, Bildern, Filmen, Vorträgen oder sonstigen Geisteswerken. Dieser weite Zensurbegriff kennt literarische u. a. Unterbegriffe, ist aber ansonsten nicht auf bestimmte Äußerungsgattungen beschränkt und kann sich auch auf nicht als künstlerisch bewertete Schriften etc. erstrecken. Gleichgültig bleibt, ob die Äußerungen erst noch veröffentlicht werden sollen oder schon veröffentlicht sind, ob die Verbreitung ζ. B. eines Bildes insgesamt oder nur ein bestimmter Weg seiner Verbreitung behindert werden, ob die Maßnahmen sich gegen das Werk oder die beteiligten Personen richten. Zensur kann hier praktisch jede Beeinträchtigung der Erstveröffentlichung oder Verbreitung bereits veröffentlichter Geisteswerke sein. Gemeinsam sind diesen Behinderungen i. d. R. wirkliche oder behauptete Gründe in sittlich-moralischen, religiösen oder politischen Maßstäben. Vor allem aber sind die Maßnahmen dadurch geeint, daß derjenige, der sie Zensur nennt, die verwendeten Maßstäbe nicht teilt oder doch wenigstens für bedenklich hält. Die allgemeine Ablehnung, die fast jeder erfolgreich als „Zensur" gekennzeichneten Kommunikationsbehinderung zuteil wird, dürfte eines der hervorragendsten Kennzeichen des „kulturellen" oder „feuilletonistischen" Zensurbegriffs sein und zugleich häufiges Ziel seiner Verwendung. Wegen der fast schon in Tabunähe anzusiedelnden Ächtung des Begriffes ist es für Befürworter der umstrittenen Kontrolle häufig sinnvoller, sich gegen die Bezeichnung zu verteidigen als die Berechtigung der Maßnahmen darzulegen. Der Eindeutigkeit des durch den Zensurbegriff und -vorwurf notwendig hervorgerufenen negativen Geschmackes entspricht allerdings keine ebenso ein-

Einleitung deutige Abgrenzung zu nicht zensureller Kontrolle. Daß auf sie regelmäßig verzichtet wird, mag zum einen mit dem erwähnten Phänomen zusammenhängen, daß Kommunikationskontrolle an und für sich und pauschal als negativ gilt, zum anderen aber auch darin Gründe finden, daß der Zensur Behauptende Kriterien offenlegen müßte, über die er nicht verfügt bzw. die den mit der Entschiedenheit seines Urteils nicht korrespondierenden diffusen Charakter seiner Zensurvorstellung aufzeigen würden. Festhalten läßt sich, daß Zensur hier weitgehend fast jede Kommunikationskontrolle sein kann, die derjenige, der sie so nennt, negativ bewertet wissen will, wobei die Ablehnung häufig an den Maßstäben und vermeintlichen oder wirklichen Zielen der Kontrolle festgemacht wird. Eine Gemeinsamkeit mit dem Verbot des Grundgesetzes hat dieses uferlose gesellschaftliche Zensurverständnis höchstens insofern, als seine negative Bewertung jeder Zensur mit der apodiktischen Formulierung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG in Einklang zu stehen scheint. Schon engeren Bezug auf Verfassungsrecht nimmt der zweite bisweilen anzutreffende massenmediale Gebrauch, der angesichts stattfindender Kommunikationskontrolle, etwa staatlich veranlaßter Sperrung von Kommunikationsforen im Internet, die Zensurfrage ohne jegliche Prüfung in vertrauender Gewißheit mit dem Hinweis beantwortet, eine Zensur finde nicht statt oder gebe es nicht. Ungeachtet im Einzelfall zutreffender Ergebnisse läßt sich die systematisch fragwürdige Nähe solcher Aussagen zu Palmströms berühmtem Schluß von einem Sollen auf ein Sein2 kaum übersehen. Wendet man sich vor diesem Hintergrund der Frage nach Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Zensurverbotes zu, kann hier von einer geringeren emotionalen Belastung des Zensurbegriffes ausgegangen werden. Dennoch mögen Bestimmungsversuche vor Augen haben, daß die Qualifikation einer Maßnahme als Zensur das nach weit überwiegender Ansicht durch keine Abwägung mehr aufzuhaltende Verdikt ihrer Verfassungswidrigkeit bedeutet. Und es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, daß manch Beobachter mit „Zensur" den tatsächlich nicht erhobenen Vorwurf verbunden sieht, das so eingestufte Vorgehen sei nicht nur in einem für den modernen Rechtsstaat ganz alltäglichen Sinne verfassungswidrig, sondern müsse weitergehend zu mißbilligende Absichten verfolgen. Sowohl die der vermuteten Schärfe seiner Konsequenz geschuldete juristische Belastung des Zensurbegriffs als auch eine eventuelle Scheu vor ihm wären freilich kaum mehr als kurios, wenn eine nähere Untersuchung der Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG von vornherein sicher sein müßte, im Ergebnis nicht mehr als eine Linie absteigender Relevanz nachzeichnen zu können. Da-

2 Christian Morgenstern, Palmström, Die unmögliche Tatsache, Gesammelte Werke in einem Band, Piper, 19. Aufl. 1993, S. 262 f.

32

Einleitung

nach würde es sich bei dem Zensurverbot um eine Vorschrift handeln, die so oder ähnlich im Laufe des 19. Jahrhunderts Eingang in deutsche Verfassungstexte fand, von dort bis in das Grundgesetz hinein tradiert wurde und nun weder die ihr Sinn gebende Situation vorfindet noch etwas über die neuen Sachverhalte zu sagen hat. Ein solches Urteil mag versucht sein, sich in der geringen Zahl höchstrichterlicher Entscheidungen bestätigt zu fühlen, die eine Mißachtung des Zensurverbotes wenigstens ernsthaft in Erwägung gezogen haben 3 . Doch begegnet sowohl die Einschätzung, mit einer klassischen Aussage des Zensurverbotes gebe es keine Probleme, als auch die Vermutung, eine wo auch immer darüber hinausgehende Tragweite der Bestimmung für die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG liege fern, erheblichen Zweifeln. Ihnen in beiden Richtungen nachzugehen und sie wenigstens ansatzweise zu klären, ist Motiv und Ziel der Untersuchung. Nicht einmal geklärt scheint die den „Zensurbegriff des Grundgesetzes" in ihren Mittelpunkt stellende Diskussion4 um eine klassische Aussage des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG. Hier kann besonders leicht der Eindruck entstehen, es herrschten eine eindeutige Begrifflichkeit und damit eine klare Norm ebenso wie die Gewißheit, Anwendungsfälle existierten nicht. Die genauere Nachfrage, was unter Zensur zu verstehen sei, fördert jedoch eine erhebliche Begriffsverwirrung schon bei der bloßen Kennzeichnung möglicher Zensurauffassungen zutage, sie muß weitergehend erhebliche Meinungsdifferenzen und sogar nicht selten in sich widersprüchliche Zensurdefinitionen konstatieren. Und ob die bisher einzige Feststellung einer Zensur durch das Bundesverfassungsgericht in der Gestalt der strafgerichtlichen Einziehung eines Horrorfilms im Rahmen ernes gesetzlich nicht geforderten Kennzeich-

3 BayVerfGH 5, 13 (18 f.) - (1952: Pflicht zur Vorlage von Plakaten und Flugblättern 24 Stunden vor Verbreitungsbeginn); BSGE 20, 169 (178 f.) - Südkurier (1964: Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für die Veröffentlichung von Stellenanzeigen); BVerwGE 23, 194 (197) - Pamir (1966: Vom Filminhalt abhängige Steuerbefreiung mit Auswirkung auf die Vorführungsmöglichkeiten); BVerfGE 33, 52 (71 ff.) mit Sondervotum der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon (78 ff.) - Filmeinfuhrkontrolle (1972: Pflicht zur Vorlage importierter Filme, die bei verfassungsfeindlichen Inhalten eingefordert werden); BVerfGE 47, 198 (236 f.) - (1978: Überprüfung von Parteienwahlwerbespots durch Rundfunkanstalten auf Strafrechts verstoße); BVerfGE 87, 209 (230 ff.) - Tanz der Teufel (1992: Einziehung eines Kinofilms); noch knappere Behandlungen des Zensurverbotes in: BVerfGE 27, 88 (102) - (1969: Beschlagnahme aus der DDR eingeführter Druckschriften); BVerfGE 73, 118 (166) - (1986: Kontrollbefugnisse eines Landesrundfunkausschusses über Rundfunkveranstalter); BVerfGE 83, 130 (153) - J. Mutzenbacher (1990: Indizierung eines Buches). 4 Programmatisch schon der Titel der Untersuchung von Bernd Rieder. „Die Zensurbegriffe des Art. 118 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung und des Art. 5 Abs. 1 S. 3 des Bonner Grundgesetzes" (1970).

Einleitung nungsverfahrens nach dem Jugendschutzgesetz5 noch auf dem Boden eines überkommenen Zensurbegriffs steht, scheint ebenfalls fraglich. Aber nicht nur die Zensur, auch ihr Verbot birgt Zweifel. Handelt es sich wirklich um die so scharfkantige und unbedingte Norm, die der trotz aller häufig berechtigten Kritik gerade im grundrechtlichen Bereich kaum zu bremsenden Abwägungseuphorie trotzt? Wenn sich etwa herausstellte, daß das Erfordernis und die Möglichkeit einer auch inhaltsbezogenen Genehmigung für politische Außenwerbung an Taxis gemäß § 26 Abs. 4 S. 2, § 43 Abs. 1 BOKrafit 6 alle Zensurmerkmale erfüllte und dem Grunde nach die Geltung des Art. 5 Abs. 1 GG im Verhältnis zwischen Unternehmer und zuständiger Behörde anzunehmen wäre, müßte dann nicht schon die offensichtliche Bedeutungslosigkeit dieses Äußerungsweges für die öffentliche Meinungsbildung in einer freiheitlichen Demokratie oder doch die geringe Zahl der Genehmigungen den Zensurvorwurf entkräften? 7 Und ist ein Offener Kanal, organisiert als staatliche, Bürgern Sendetechnik und Zeit überlassende Einrichtung, nicht vielleicht sogar verpflichtet, alle Sendungen nötigenfalls auch mit dem Mittel der Zensur von rechtswidrigen Inhalten freizuhalten? Die Vorabkontrolle von Parteienwahlwerbespots durch Rundfunkanstalten jedenfalls wird häufig im Zusammenhang einer Programmverantwortung der Anstalt gesehen, ist gleichwohl aber selbst nicht unproblematisch. Schon bei dieser Behandlung des Zensurbegriffs entsteht der Eindruck eines bemerkenswerten Verhältnisses des Zensurverbotes zu den Äußerungsgrundrechten des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2 GG. Zum einen soll es ein „besonderes Instrument der Grundrechtssicherung" 8 sein, der Kategorie „nur begrenzungsreduzierender Annexbestimmungen zu Freiheitsrechten" 9 angehören und ein Problem der „Abgrenzung zu den [grundrechtlich geschützten] Kommunikationsfreiheiten selbst" mit sich bringen können 10 , es scheint also eine gewisse Distanz zu den Freiheitsrechten aufzuweisen, andererseits soll es sich aber auch um Konkretisierungen des Wesensgehaltes eben der Äußerungsrechte handeln 11 . Daß alle gemeinsam von einer „Schranken-Schranke" sprechen, vereinfacht die Sache nicht. Folge ist eine Situation, in der sich Erörterungen des 5

BVerfGE 87, 209. Verordnung über den Betrieb von Krafitfahrunternehmen im Personenverkehr i. d. F. d. Ä. v. 30.6.1989 (BGBl. I S. 1273) auf der Grundlage des § 57 Abs. 1 Nr. 2 b PBefG. 7 Einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG verneint VG Berlin, NVwZ 1995, 822 ff. 6

8

Herbert Bethge, in: Sachs, Art. 5 Rn. 131.

9

M Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 593 (unter b) mit S. 592 (unter a).

10 11

M Breitbach, U. F. H Rühl, NJW 1988, 8(11). So etwa Edzard Schmidt-Jortzig, in: HbStR VI, § 141, Rn. 44; Helmuth Schulze-

Fielitz, in: Dreier, Bd. 1, Art. 5 I, II Rn. 138. 3 Fiedler

Einleitung

34

Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG einerseits wegen der Drohung der absoluten Verfassungswidrigkeit jeglicher Zensur leicht auf technisch-begriffliche Fragen beschränken, die kaum Raum für eine Einbeziehung eventueller Schutzzwecke bzw. einer ratio der Norm lassen. Zugleich führt das merkwürdig distanzierte Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2 GG das Zensurverbot in eine Isolierung, die eine denkbare ratio des Satzes 3 auch von den Äußerungsgrundrechten fernhält. Sollten so oder ähnlich Rechtsgedanken des Verbotes der Zensur zwischen technischer Zensurbegriffserörterung und von der Thematik des Zensurverbotes freigehaltenen Äußerungsgrundrechten hindurchfallen, könnte dies schon Auswirkungen auf die Aussagen des klassischen Zensurverbotes haben, würde aber vor allem auf die Denkbarkeit weiterer Gehalte hinweisen. Angesprochen ist damit das Feld zwischen der fraglosen Zensur im Wege des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt etwa für Tageszeitungen und einer der strafgerichtlichen Verurteilung folgenden Beschlagnahme der unverkäuflichen, ohnehin zur Einstampfung vorgesehenen Restauflage. Die Kontrolle importierter Filme nach dem Überwachungsgesetz 12, die zwar kernen Film ausließ, aber eine unkontrollierte Anfangsverbreitung zumindest rechtlich zuließ, oder Verhinderungen der Gesamtverbreitung eines Geisteswerkes außerhalb eines Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt, etwa durch Beschlagnahmen vor Verbreitungsbeginn, seien hier erwähnt. Offenbar ließe sich, wenn dem Zensurverbot zu entnehmende Aussagen eine Rolle in solchen Fällen spielen könnten, nach einer Ausdehnung des Zmswrverständnisses fragen, aber auch eine Berücksichtigung solcher Wertungen bei Grundrechtswirkungen suchen, die mehr als nur eine enger verstandene Zensur mißbilligen. In diesem Bereich entstehen neue Konstellationen durch die vermehrte Nutzung bisher nicht oder doch nur in geringerem Maße zugänglicher Äußerungswege. So darf es als nach wie vor ungeklärt gelten, ob eine Regelung grundrechtskonform möglich wäre, nach der eine Verwaltungsbehörde Buchhandel und sonstige Schriftenverteilung auf die Einhaltung von Inhaltsschranken überwachen und angenommene Verstöße gegen die allgemeinen Gesetze oder die verfassungsgemäße Ordnung mit Verbreitungsverboten unterbinden dürfte. Denn ungeachtet der Inexistenz derartiger bereichsspezifischer Normen und der Frage eines einfachgesetzlichen Ausschlusses der Gefahrenabwehrgeneralklauseln durch Pressegesetze oder Strafprozeßordnung sind solche Fälle kaum praktisch geworden. Eine solche exekutive Inhaltskontrolle ermöglichte hingegen § 13 Abs. 2 S. 2 des Bildschirmtext-Staatsvertrages (Btx-StV) 13 und sieht

12

BVerfGE 33, 52. Art. 4 des Rundfunkstaatsvertrages v. 31.8.1991 (etwa GV.NW S. 408), eine ähnliche Befugnis enthielt schon Art. 12 Abs. 3 des Btx-StV v. 18.3.1983 (etwa GV.NW S. 227). 13

Einleitung nunmehr der Mediendienste-Staatsvertrag der Länder (MD-StV) 1 4 für der Allgemeinheit zugängliche Datennetze vor. § 18 MD-StV beauftragt Aufsichtsbehörden, die Vereinbarkeit von Text-, Ton- und Bilddarbietungen mit den allgemeinen, jugend- und ehrenschützenden Gesetzen sowie mit der verfassungsmäßigen Ordnung zu überwachen, und ermächtigt sie insbesondere, Verstößen mit der Untersagung und Anordnung der Sperrung der jeweiligen Äußerung zu begegnen. Hier wäre es schon von Interesse, Genaueres darüber zu erfahren, ob die Äußerungsgrundrechte in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG oder dieser allein Aussagen über behördliche Verbreitungsuntersagungen enthalten. Die Fragen nach dem Begriff der Zensur, nach ihrem Verbot, dessen Anwendungsbereich, seiner Einschränkbarkeit und seinem Verhältnis zu den Freiheitsrechten sowie möglichen über ein enges Zensurverbot hinausgehenden Wirkungen weisen auf eine grundsätzliche Problematik des Verständnisses der Kommunikationsfreiheiten hin. Letztlich geht es um die Frage, ob nicht die Gefahr einer zu einseitigen Betonung der Äußerungsgrundrechte als Garantien (nur) der Freiheit von bestimmten Inhaltsschranken besteht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die heute zuweilen eher als historische Zufälligkeit erscheinende Freiheit des Sich-Äußerns von bestimmter Kontrolle schlechthin eine nicht schon mit der Ächtung der Karlsbader Beschlüsse gesicherte existenznotwendige Komponente der Äußerungsgrundrechte bedeutet, daß hingegen die auch in der verfassungsrechtlichen Literatur so stark fokussierte Seite um letztlich geschützte Inhalte zwar ebenso bedeutsam für effektive Freiheit ist, aber in ihrem Ergebnis in sehr viel stärkerem Maße von Glaubensfragen abhängt und sich so als die letztlich eher historisch kontingente Seite der Freiheit erweist. Besonders ungünstig wäre es, wenn sich herausstellen sollte, daß die inhaltliche Freiheit auf inhaltsunabhängige Grundrechtsgehalte aufbaut, die aber eine um Inhalte kreisende Grundrechtsauslegung aus den Augen zu verlieren droht oder vielleicht auch schon teilweise verloren hat und die deshalb bei möglichen Veränderungen alter Medien ebenso wie bei der Herausbildung neuer Verbreitungswege unbeachtet bleiben. Nur zwei denkbare, möglicherweise miteinander in Verbindung tretende Entwicklungslinien seien genannt. Zum einen ist es die Entwicklung zum „Präventionsstaat" 15 , die im Verein mit nicht seltenen Klagen über zügellose, vor allem demokratie- und jugendgefährdende Kommunikation sowie über anhaltenden Werteverfall den Präventionsverzicht für merkwürdig antiquiert halten mag, der mit möglichen inhalts-

14

Vom 20.1/12.2.1997 (etwa GV.NW 1997 S. 158). Vgl. etwa Dieter Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. 15

36

Einleitung

unabhängigen Grundrechtswirkungen, ja schon mit dem Zensurverbot verbunden ist. Zum zweiten kann eine in erster Linie rundfunkgeprägte Gefahr der Entindividualisierung technisch neuer und vor allem derjenigen Verbreitungswege nicht ganz von der Hand gewiesen werden 16 , auf denen Rechtfertigungen einer Sonderbehandlung des Rundfunks eigentlich keinen Platz haben dürften. Während die Druckerpresse als das erste auch massenwirksame Medium nach wie vor weder auf solche Einsätze beschränkt noch von unüberwindbaren Zugangsbarrieren umstellt ist, sind die im Zuge technischer Entwicklung zuletzt zu voller Blüte gelangten Medien Film und vor allem der Rundfunk in seiner klassischen Form der öffentlich-rechtlichen oder privaten Programmveranstaltung sehr viel investitionsabhängiger und geradezu natürlicherweise auf massenhafte Verbreitung ausgerichtet wie angewiesen. Wird dann der Rundfunk in erheblichem Maße mit inhaltlichen Zielvorstellungen (Ausgewogenheit) im Rahmen eines entindividualisierten „Kommunikationsprozesses" in Verbindung gebracht und deshalb beachtlichen Sonderbindungen bzw. einer Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzes unterworfen, mag das für sich genommen kein besonderes oder doch nur ein (medial) begrenztes Problem sein, entwickelt aber unabhängig von der Berechtigung solcher Überlegungen eine andere Qualität, wenn sich die Vorstellungen von verminderter Freiheit verselbständigen und auf solche Verbreitungswege übertragen, auf denen ansonsten nichts dem Recht eines jeden entgegensteht, „seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten". Zum Gang der Untersuchung: Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, daß Art. 5 Abs. 1, 2 GG mißversteht, wer meint, diese Norm kümmere sich primär um den Schutz von Äußemngsinhalten, während das Verfahren des Streites um die Inhaltsfrage weitgehend grundrechtsneutral sei und frei gewählt werden könne, solange es sich nicht um ein inhaltsbezogenes Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in der Art der historischen Pressezensur handelt. Vielmehr schützen alle Äußerungsgrundrechte zwei strukturell ganz verschiedene Komponenten der Äußerungsfreiheit, eine formale (inhaltsunabhängige), von der auch in Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG die Rede ist, und eine materielle (inhaltliche), die darüber entscheidet, welche Inhalte auch in zulässigen Verfahren der Inhaltskontrolle nicht behindert oder sanktioniert werden dürfen. Alleingelassen bleibt jede der beiden Seiten hinter dem zurück, was im Typus des freiheitlichen Staates westlicher, d. h. in erster Linie westeuropäischer und nordamerikanischer Prägung zu verlangen und auch für ein künftiges Europa zu hoffen ist. Für das Verhältnis der beiden Seiten wird jedoch zu zeigen sein, daß - entgegen verbreiteter Vorstellung 16

Vgl. dazu Martin Bullinger, JZ 1996, 385 (386 f.); mit der Sorge der Erstreckung solcher Tendenzen auch auf die Pressefreiheit ders., in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 38.

Einleitung die inhaltliche nicht nur historisch von der formalen Seite der Freiheit abhängig ist, diese sich als kaum zu unterschätzende Bedingung jener erweist. Soweit dies erkannt wird, ist dem dann drohenden Mißverständnis zu wehren, je weiter der Schutz der formalen Äußerungsfreiheit gehe, desto geringer seien die Chancen der Durchsetzung notwendiger Inhaltsschranken: Selbst eine sehr weit verstandene formale Freiheit ist vorläufige Freiheit und hindert mit der hier untersuchten Komponente weder empfindliche Sanktionen für die unter Beachtung des formalen Schutzes festgestellte Übertretung inhaltlicher Äußerungsschranken noch die mit der formalen Freiheit konforme Unterbindung von Äußerungen. Zunächst ist jedoch im 1. Teil auf mögliche Zensurdefinitionen einzugehen und können auch schon bei einer isolierten, vom Gesamtgefüge der Äußerungsgrundrechte unabhängigen Betrachtung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG erste grundlegende Aussagen zum Gehalt des Zensurverbotes gewonnen werden. Der 2. Teil untersucht Sinn und Zweck des Verbotes der Zensur (1. Kapitel) und erlaubt auf dieser Grundlage - immer noch ohne genauer auf das Verhältnis von Zensurverbot und Äußerungsgrundrechten eingehen zu müssen - , sowohl den Begriff der Zensur zu präzisieren als auch einige Grundsätze ihres Verbotes zu klären (2. Kapitel, 1. Abschnitt). Angesichts der Frage, ob aufgrund ihres Inhaltes nicht gegen Zensur geschützte Äußerungen existieren, werden die Sätze 1 u. 2 des Art. 5 Abs. 1 GG involviert (2. Kapitel, 2. Abschnitt, Α.). Anhand der Entwicklung der historisch ersten grundrechtlichen Äußerungsfreiheit, der Pressefreiheit, läßt sich das Gefüge der Äußerungsgrundrechte dahingehend strukturieren, daß das Zensurverbot nicht nur eine besondere Sicherung der auch ohne es denkbaren Äußerungsfreiheiten darstellt, sondern daß die formale Freiheit von Zensur Existenzminimum jeder Äußerungsfreiheit ist (2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.). Im 3. Kapitel kann dann gefragt werden, ob und inwieweit die gegen inhaltsbezogene Verfahren konkreter Verbreitungskontrolle gerichtete Komponente der Äußerungsgrundrechte auch andere Verfahren als dasjenige der Zensur abzuwehren vermag. Handelt der 2. Teil vom „allgemeinen Teil" der formalen Äußerungsfreiheit, folgen im 3. Teil Fragen nach der Zulässigkeit klassischer Zensur und sonstiger konkreter Verbreitungskontrolle in besonderen Konstellationen. Das 1. Kapitel nimmt sich bestimmter Situationen der Verwendung von Zensurverfahren an, setzt also nicht voraus, daß Art. 5 GG über das Verbot der klassischen Zensur hinausgeht, das 2. Kapitel behandelt anhand ausgewählter Äußerungswege, u. a. dem unter Anwesenden gesprochenen Wort und der öffentlichen Filmvorführung, diverse Verfahren konkreter Verbreitungskontrolle. Die Freiwilligkeit der Kontrolle ist der Unterschied zu allem bis dahin Erörterten, der es angezeigt sein läßt, die Verfügung über die Grundrechtsposition der zensurfreien Äußerung in einem eigenen, dem abschließenden 4. Teil zu behandeln.

1. T e i l

Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle 1. Abschnitt

Maßstab und Verfahren als Struktur jeder Kontrolle Mit der Zensur mißbilligt das Grundgesetz einen Ausschnitt der möglichen Kontrolle von Äußerungen. Kontrolle muß kontrollkonformes und zu mißbilligendes Verhalten unterscheiden; außerdem wird sie eine getroffene Entscheidung wenigstens intern festhalten oder bekanntgeben sowie fakultativ weitergehende Sanktionen vorsehen. Damit läßt sich jede Kontrolle anhand zweier Merkmale beschreiben. Zum einen benötigt Kontrolle einen Maßstab, um billigenswertes von zu mißbilligendem, im Falle einer Rechtskontrolle rechtmäßiges von rechtswidrigem Verhalten zu unterscheiden. Solche Maßstäbe können weit gefaßt sein, sich etwa auf die Angabe eines Zweckes beschränken und im übrigen dem Ermessen überlassen bleiben oder jede Gefahr für die öffentliche Sicherheit erfassen. Sie mögen aber auch stärker konkretisiert sein und beispielsweise ehrenrührige, nicht als wahr erwiesene Behauptungen mißbilligen oder gar mit genauen Vorgaben hinsichtlich Größe, Zahl und Aufstellungsort der anläßlich eines Wahlkampfes genehmigten Werbetafeln ganz detaillierte Regelungen treffen. Die Maßstäbe staatlicher Äußerungskontrolle werden sich typischerweise in abstrakt-generellen gesetzlichen Regelungen jedenfalls insoweit finden, als Grundrechtseingriffe ermöglicht werden sollen. Zum zweiten muß Kontrolle den Maßstab auf Einzelfälle anwenden, und das heißt nichts anderes als in bestimmter Weise verfahren. Dabei wird Verfahren im Sinne von „Vorgehen" weit verstanden und beschreibt dann, wer welche Äußerungen wie zur Kenntnis nimmt, unter welchen weiteren Bedingungen die Vereinbarkeit mit dem Maßstab überprüft und festgestellt wird, welche Folgen die Annahme einer Maßstabswidrigkeit haben soll und wie solche Folgen durchgesetzt werden 1 . Möglichkeiten sind hier etwa ein Verbot mit Erlaubnis1

Verfahren in diesem Sinne schließt also sowohl die entscheidende Organisation mit ihrer äußeren Abgrenzung und inneren Ordnung als auch das dann verbleibende Verfahren i. e. S. ein (vgl. Robert Alexy, S. 430 f.; enger Klaus Stern,, Staatsrecht III/l, § 69 V 4. a, S. 959 f.); es beschränkt sich des weiteren nicht auf nur einzelne Aspekte des Vor-

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

39

vorbehält für die Veranstaltung von Rundfunk oder das Aufstellen von Informationstischen, aber auch die Einleitung und Durchführung von Strafverfahren. Bei der Äußerungskontrolle sind zwei Maßstabstypen auseinanderzuhalten. Sind Qualifikationen des geistig vermittelten Inhaltes wie „ehrenrührig", „Dienstgeheimnis" oder Jugendgefährdend" Kriterien des Maßstabs, wird auch der Inhalt der Äußerung Kontrollgegenstand. Erkennbar ist eine solche Inhaltskontrolle daran, daß sie die Kenntnis der Erklärungszeichen der Äußerung voraussetzt und das erfassen muß, was potentielle Empfänger für ein Verständnis benötigen. Allerdings entspricht es nur einem, insbesondere aus der historischen Zensur bekannten Modell, wenn die Überprüfung mit den Druckfahnen oder gar der fertigen Schrift sehr präzise Inhaltskenntnisse erlangen kann. Inhaltskontrolle sind auch solche Maßnahmen, die sich ohne oder doch ohne so weitgehende und sichere Kenntnis vom geplanten Äußerungsinhalt lediglich auf Anhaltspunkte für die Erfüllung bestimmter inhaltlicher Maßstäbe stützen. Sie fragen eher nach der Wahrscheinlichkeit bestimmter Qualifikationen des en detail unbekannten - Inhaltes zu erwartender Äußerungen. Andere Maßstäbe beschränken sich ausschließlich auf inhaltsunabhängige Kriterien. So, wenn ein Erlaubnisvorbehalt 2 das Verteilen von Handzetteln nur im Hinblick auf die damit verbundenen Verschmutzungsgefahren erfaßt und über die Genehmigung ohne Rücksicht auf Inhalte entschieden wird. Oder wenn Äußerungen in Fußgängerzonen unter Verwendung von Tischen verboten und Erlaubnisse im Einzelfall nach inhaltsunabhängigen Kriterien erteilt oder verweigert werden, nicht hingegen, wenn der primär inhaltsunabhängigen Gründen dienende Erlaubnisvorbehalt auch inhaltliche Versagungsmaßstäbe kennt. Hier ist nach wohl unbestrittener Ansicht ein erster Typ nicht zensureller und damit vor Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG unbedenklicher Kontrolle auszugrenzen. Zensur hat zur notwendigen Bedingung Inhaltskontrolle 3 . Schon aus diesem Grund ist ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für die Verteilung von Informationsbroschüren keine Zensur, wenn es nur inhaltsunabhängigen Gefahren für

gehens unter Ausschluß interner Vorgänge und der „eigentlichen" Entscheidungsfindung (so für das Verfahren der Verwaltung etwa Jürgen Held, S. 19 ff. m. N.), sondern erstreckt sich auf den gesamten Prozeß der Behandlung konkreter Äußerungsprojekte von seiner Einleitung bis zu seinem Abschluß und klammert auch Organisation und Verfahren der Umsetzung einer positiven Kontrollentscheidung nicht aus. 2 „Erlaubnisvorbehalt" gilt im folgenden als Synonym für „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt", ein Gebrauch im Sinne einer denkbaren engeren Bedeutung als Bestandteil des „Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt" wird gekennzeichnet oder geht aus dem Zusammenhang hervor. 3 Siehe nur Rudolf Wendt, in: v. Münch/Kunig, Bd. 1, Art. 5 Rn. 63; v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 102.

40

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs wehrt 4 . Zensur bedeutet deshalb nicht zwingend die Verwendung eines bestimmten Inhaltsmaßstabes. Gesagt ist lediglich, daß keine Zensur ist, was sich nicht um den Inhalt, sondern allein um andere Aspekte der kontrollierten Äußerungen kümmert. Freilich bleibt zu beachten, daß es sich bei vordergründig inhaltsunabhängigen Maßnahmen um dissimulierte Inhaltskontrolle handeln kann, die gegebenenfalls als solche zu behandeln wäre 5 . Und darüber hinaus muß generell die naheliegende Annahme mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden, Äußerungen ließen sich immer glatt und gleichmäßig in geistigen Inhalt im Sinne der Erklärungszeichen und bloße „Form" im Sinne der übrigen Merkmale aufspalten. Denn ungeachtet der Frage, ob nicht letztlich jedes wahrnehmbare Äußerungsmerkmal den Inhalt mitbestimmt, können jedenfalls in dem einen Zusammenhang typische Formelemente wie Zeit, Ort oder Medium in anderen Fällen durchaus zentrale Äußerungsinhalte transportieren 6. Ist Zensur ein Ausschnitt der Kommunikationskontrolle, und zwar derjenigen, die den Inhalt von Äußerungen bemißt, und läßt sich außerdem jede Kontrolle nach Maßstab und Verfahren beschreiben, bleiben für die Zensur im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG drei prinzipielle Möglichkeiten. Sie kann durch einen bestimmten Inhaltsmaßstab gekennzeichnet sein, also etwa jede Kontrolle mit dem Maßstab „nonkonformistische Inhalte" erfassen, ohne daß es auf sonstige Umstände des Vorgehens ankommt. Sie mag in einem bestimmten Verfahren zu finden sein, etwa jedem Äußerungsverbot vor Verbreitungsbeginn oder jedem Erlaubnisvorbehalt mit jeweils ganz beliebigen Inhaltsmaßstäben. Oder Zensur könnte nur dann vorliegen, wenn ein bestimmtes Verfahren und ein bestimmter Maßstab zusammentreffen, wenn also beispielsweise der Erlaubnisvorbehalt der Durchsetzung des Maßstabs „nonkonformistische Inhalte" dient, nicht hingegen, wenn nur strafrechtswidrige Inhalte keine Genehmigung erhalten dürfen oder wenn „nonkonformistische Inhalte" ohne das Mittel des Erlaubnisvorbehaltes kontrolliert werden.

4 Dennoch kann es die Meinungsäußerungsfreiheit unverhältnismäßig einschränken. Vgl. BVerfG (Kammerentscheidung), NVwZ 1992, 53 (53 f.). 5 Werden etwa vermehrt einem -beliebigen - Inhaltsmaßstab widersprechende Handzettel verteilt und soll dem begegnet werden, wäre ein trotz dieses Zieles nur auf Verschmutzungsgefahren abstellendes Verbot aller Handzettel zumindest auch als Inhaltsverbot anzusehen. 6 Näher dazu noch S. 72 ff.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

41

2. Abschnitt

Zensurdeflnitionen Man findet heute vor allem drei Begriffspaare vor, die unter bestimmten Aspekten zensureile von nicht zensureller Kontrolle im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG unterscheiden sollen. Formelle (formale) und materielle (materiale) Zensur, Vor- und Nachzensur sowie Präventivzensur und Repression scheinen jeweils entgegengesetzte Begriffe, unter denen verschiedene Auffassungen sich anordnen. Schon die Frage nach der Aussagekraft der Begriffspaare wird vor allem 7 dadurch behindert, daß ein einheitliches und eindeutiges Verständnis ihres Inhaltes nicht nachweisbar ist. Die Unklarheiten betreffen sowohl das Verhältnis der Kennzeichnungen zueinander als auch die mit den jeweiligen Attributen gemeinten Kontrollgestaltungen. So werden Vor- und Präventivzensur als Synonyme der Nachzensur entgegengesetzt, ohne daß das Verhältnis dieser Grenze zu derjenigen deutlich wird, die der gleichfalls, aber offenbar nicht synonym verwendete formelle Zensurbegriff zieht 8 . Vorzensur soll teilweise „alle einschränkenden Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes" erfassen 9, nach anderer Sicht hingegen mit einem inhaltsbezogenen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gleichzusetzen sein 1 0 . Deutlich wird der geringe Grad terminologischer Übereinstimmung besonders bei näherer Betrachtung der mit den Attributen „formell" und „materiell" versehenen Kontrolle. Erst im Anschluß an Johanne Noltenius, die 1958 ihren Definitions versuch ausdrücklich als „materiellen Zensurbegriff 4 bezeichnete und dem „formellen Zensurbegriff' gegenüberstellte 11 , wurde es üblich, Zensurdefinitionen anhand des Kriteriums formell/materiell zu unterscheiden 12 . Noltenius und die ihr zu-

7 Hinzu kommt, daß, wer etwa Vor- und Nachzensur unterscheidet, als „Zensur i. S. d. Grundgesetzes" aber nur die wie auch immer definierte Vorzensur anerkennt, damit verschiedene Zensurbegriffe verwendet, die auseinanderzuhalten sind. Der Satz „Zensur i. S. d. Grundgesetzes ist nur die Vorzensur, nicht die Nachzensur" ist vereinbar mit dem Satz „Zensur ist Vor- und Nachzensur, nur jene ist Zensur i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG", beide haben aber unterschiedliche Subjekte. 8 Z. B. BVerfGE 33, 52 (72). 9 Etwa BVerfGE 33, 52 (72). 10

Walter Schmidt, Rn. 92.

11

Die freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, S. 106 ff., 118 ff. 12 Oskar Katholnigg, UFITA 38 (1962), 25 (32, 35); ders., NJW 1963, 892 (892 f.); ders., NJW 1966, 1574 (1575); Hermann Weber, NJW 1966, 412 (413); Sieghart Ott, JuS 1968, 459 (464 f.); Siegfried Dörffeldt, UFITA 49 (1967), 90 (118 ff.); Ulrich Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1 (11, Fn. 32, S. 79); Werner Wohland, S. 136; ders.,

DVB1. 1969, 486 (490); HessVGH, UFITA 57 (1970), 345, 355 f.; Ingo von Münch, in:

42

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

stimmenden Autoren mögen von einem formellen Zensurbegriff ausgegangen sein und ihren materiellen Zensurbegriff ebenso einheitlich verstanden haben.13 Diese Funktion schlagwortartiger Benennung ist aber jedenfalls zwischenzeitlich mit der Einbeziehung weiter differenzierter Zensurdefinitionen verlorengegangen: „Formell" soll nicht (mehr) nur der Begriff sein, der in der Zensur das generelle Verbot von Meinungsäußerungen bis zur Erteilung einer Äußerungserlaubnis sieht, sondern ζ. B. auch die Definition der Zensur als den Inhalt ggf. beeinflussende planmäßige Überwachung von Art. 5 Abs. 1 GG geschützter Kommunikation 14 oder jede „systematische Kontrolle im Kommunikationsbereich" 15 . „Materielle" Zensurbegriffe existieren sowohl ohne als auch mit dem Element einer besonderen Absicht der kontrollierenden Instanz.16 Trotz zunehmender Unschärfe könnten die Attribute noch Meinungsgruppen kennzeichnen. Doch besteht auch insoweit keine Einigkeit. So sollen ausschließlich die Absicht der kontrollierenden Instanz aufnehmende Definitionen „materiell" sein 1 7 , lassen andererseits „materielle" Zensurbegriffe eine solche Absicht nicht erkennen 18 , wird ferner die Einordnung eines Zensurbegriffes als „formell" bezweifelt 19 und legen andere Stellungnahmen nahe, allein die Gleichsetzung von Zensur und generellem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt könne als „formeller" Zensurbegriff bezeichnet werden. 20 Selbst Noltenius1 Zensurbeschreibung soll „noch formal" sein 21 , und schließlich halten Verfechter des auf den Erlaubnisvorbehalt beschränkten formellen Zensurverständnisses daneben auch eine „faktische Zensur" für möglich 22 bzw. erwägenswert 23,

v. Münch, 1974, Art. 5 Rn. 43; vgl. noch Günter Erbel, JuS 1969, 120 (121). Ulrich Karpen, in: Achterberg/Püttner, BesVRI, S. 815 (845, Rn. 491). Wenn schon früher vereinzelt von dem „formalen Gesichtspunkt" {Kurt Zimmereimer, 1934, S. 10) eines Zensurbegriffes oder „materieller Besonderheit der Zensur" {ders., S. 7, 88) die Rede war, blieb sie dem Bereich der Argumentation verhaftet und entfaltete keine begriffsbildende Wirkung. 13 So wohl jedenfalls Bernd Rieder, S. 148. Vgl. im übrigen die Nachweise in Fn. 12. 14 Martin Löfjler, Presserecht § 1 LPG Rn. 144; ders., NJW 1969, 2225 (2226). 15 16

So Wolfgang Hoffmann-Riem, in AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 77. Vgl. M. Löffler, NJW 1969, 2225 (2226); Oskar Katholnigg, NJW 1963, 892

(893). 17

18 19

M. Löffler, NJW 1969, 2225 (2226). Vgl. Peter Bär, S. 80-89. P. Bär, S. 78 Fn. 28, zweifelt an dem formellen Charakter des Zensurbegriffs von

M. Löffler

(s. Fn. 17).

20

Z. B. Hans D. Jarass, S. 209 mit Fn. 15: hinter der Definition der Zensur als Abhängigmachen der Veröffentlichungsgenehmigung von dem Inhalt der Kommunikation verberge sich „der formelle Zensurbegriff'. 21 22

Michael Breitbach, Ulli F. H. Rühl, NJW 1988, 8 (10). B. Rieder, S. 178 f.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

43

die sie jedoch begrifflich entweder der „formellen" Zensur zuordnen 24 oder aber Noltenius' materiellem Zensurbegriff gleichsetzen 25 . Derartige Unklarheiten legen es nahe, die Bedingungen der genannten Kennzeichnungen möglicher Zensurbeschreibungen näher zu beleuchten. Dies gilt um so mehr, als für das grundgesetzliche Zensurverbot potentiell relevante Klassifizierungen ein gewisses Maß an begrifflicher Sorgfalt in besonderer Weise verlangen dürften. Denn während die Aussagen der Verfassung gerade im grundrechtlichen Bereich häufig von komplexen und abwägungsfreundlichen Tatbeständen abhängen und so das Verständnis einzelner Begriffe angesichts vielfaltiger Kompensationsmöglichkeiten auf dem weiten Weg zur Norm weniger ausschlaggebend sein mag, ist die Frage des Zensurbegriffs nach Text und herrschendem Verständnis recht unmittelbar mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit des so bezeichneten Vorgehens verbunden. Das versteht sich von selbst, wenn das Verbot der Zensur absolut gesetzt wird, und gilt wohl mit nur geringen Abstrichen auch bei weniger apodiktischer Deutung. Im folgenden sollen die genannten Zensurattribute näher betrachtet werden (unten A.); der Versuch einer systematischen Übersicht über vertretene Zensurdefinitionen schließt sich an (unten B.).

A. Begriffe Wenn zunächst die Bedingungen der Kennzeichnung „formeller" und „materieller" Zensur untersucht werden, geschieht dies aus mehreren Gründen. Zum einen handelt es sich um die Begriffe, unter denen ein Großteil der seit 1949 vorgeschlagenen Neubewertungen des Zensurverbotes stattgefunden hat, sei es im Wege der Einführung eines „materiellen" (Johanne Noltenius) oder der Erweiterung eines „formellen" (Martin Löffler, Wolfgang Hoffmann-Riem) Verständnisses. Auch scheinen die Bezeichnungen „Vor-" oder „Nachzensur" bzw. - ihren Synonymcharakter unterstellt - „Präventivzensur" oder „Repressivmaßnahme" trotz der Möglichkeit verschiedener Bedeutungen durch Variation des in Bezug genommenen Geschehens26 weniger erläuterungsbedürftig zu sein. Schließlich liegt die Frage nahe, ob und gegebenenfalls inwieweit die

23 I. v. Münch, in: v. Münch, Art. 5 Rn. 43; ebenso R. Wendt, in v.Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 65. 24

25

B. Rieder, S. 179.

I. v. Münch, in: v. Münch, Art. 5 Rn. 43; R. Wendt, in v.Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 65. 26 Etwa: Verbreitung i. S. des Eintritts der Strafbarkeit, Veröffentlichung i. S. von Verbreitungsbeginn, Publikationsphase, Gesamtverbreitung etc.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Attribute formell/materiell zu der oben 27 eingeführten Unterscheidung von Verfahren und Maßstab der Inhaltskontrolle parallel liegen.

I. „Formelle", „materielle" und „faktische" Zensurbegriffe 1. „Formell"

und „materiell"

a) Unstreitig rein formell heißt die Definition der Zensur als generelles Verbot der Äußerung bis zur Erteilung einer Erlaubnis, die aufgrund der Überprüfung des Inhaltes der geplanten Äußerung ergehen kann 2 8 . Es wird mit dem vorläufigen Verbot, der Inhaltsprüfung und der Verweigerung oder Erteilung der Erlaubnis das Verfahren der Kontrolle einschließlich der am Verfahrensende alternativ möglichen Rechtsfolgen beschrieben. Damit ist Zensur ein bestimmtes Verfahren der Inhaltskontrolle, das beliebige Maßstäbe verwendet. aa) Mit einem weiten Verständnis der Form ist dieser Zensurbegriff deshalb formell, weil es ihm allein auf ein bestimmtes Kontrollverfahren ankommt, der jeweilige Inhaltsmaßstab ebenso wie der Inhalt der kontrollierten Äußerungen hingegen unerheblich ist und nicht einmal bekannt sein muß. Es gibt dann weitere Zensurdefinitionen formeller Natur. Wird vertreten, Zensur sei jede planmäßige Überprüfung von Betätigungen der Grundfreiheiten des Art. 5 GG durch eine fremde Instanz, von der die Behinderung der Betätigungen abhängt 29 , so mögen Kriterien wie „Planmäßigkeit" und „Behinderung" schwieriger zu bestimmen sein, kennzeichnen dennoch aber ein bestimmtes Verfahren oder Mittel, das beliebige Maßstäbe verwendet. Formal bliebe ein solches Verständnis ferner unabhängig davon, ob „Behinderung" nur den explizit die Verbreitung untersagenden Befehl oder auch sonstige verbreitungshindernde Einwirkungen wie etwa die Versagung steuerlicher Vergünstigungen erfassen soll. Gleichgültig wäre schließlich, ob das systematische Verfahren schon explizit darauf zielt, Inhalte zu kontrollieren, oder aber in einem etwa der Kulturförderung oder der Verwaltung knapper Ressourcen dienenden Kontext die Verbreitung anhand inhaltlicher Kriterien beeinflußt. Noch weitergehend verzichtet die Gleichstellung der Zensur mit planmäßiger oder systematischer Kontrolle im Kommunikationsbereich 30 ihrem Wort27

S. 38 f. Johanne Noltenius, S. 32, 106. Offen bleiben können hier Feinheiten der Beschreibung wie die Frage, ob Vorlagepflicht oder Zwangsmittel Teil dieses formellen Zensurbegriffs sind; dazu näher unten, S. 142 ff. 29 M Löffler, NJW 1969, 2225 (2226). 30 W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 77; vgl. auch M Löffler, NJW 1969, 2225 (2225, unter 3.). 28

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

45

laut nach sogar darauf, die möglichen Folgen positiver Kontrolle zu benennen; dessenungeachtet bestimmte sie selbst bei einer solchen Deutung ein eben durch die Planmäßigkeit gekennzeichnetes Verfahren zur Zensur. Schließlich wäre auch die Beschreibung der Zensur als jede Maßnahme vor Verbreitungsbeginn durch eine Eigenschaft des Verfahrens und nicht des Maßstabs gekennzeichnet. Ein solches Verständnis des Formellen würde Form und Verfahren im Sinne des Vorgehens bei der Durchsetzung beliebiger Inhaltsmaßstäbe gleichsetzen, entsprechend wäre materiell jede Definition, die Kontrolle aufgrund bestimmter inhaltlicher Maßstäbe für Zensur hält. bb) Ein weniger weites Verständnis des Formellen könnte noch „systematisch" oder „planmäßig" als formale Kennzeichen akzeptieren, würde aber eine Gleichsetzung von Zensur und jedem Verbot vor Verbreitungsbeginn schon als materiell bezeichnen.31 Materiell müßte daneben auch jede Definition sein, die den Maßstab der Inhaltskontrolle für relevant erachtet. cc) Enger noch wäre eine Reservierung des Prädikats „formell" für Zensurdefinitionen, die bestimmte Regelungen verlangen. Formell sind dann neben dem Verständnis der Zensur als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auch Beschreibungen wie „Vorlagepflicht vor Verbreitungsbeginn", „Vorlagepflicht mit Verbotsbefugnis" oder „die Zulässigkeit der Verbreitung explizit regelnde, besonders Erlaubnis oder Verbot enthaltende Kontrolle". Das Kontrollspezifikum „systematisch" wäre hingegen, da im Rahmen diverser oder auch ohne Verfahrensregelungen denkbar, ebenso wie dasjenige des Eingreifens vor Verbreitungsbeginn nicht mehr formgeprägt. dd) Schließlich kann die Bezeichnung „formell" auf die Definition der Zensur als die eine Regelung „generelles Verbot mit inhaltsbezogenem Erlaubnisvorbehalt" beschränkt werden 32 . Formell meint dann ein definitives Verfahren und nicht eine Eigenschaft verschiedener Verfahren der Inhaltskontrolle; nun kann von „dem" formellen Zensurbegriff gesprochen werden 33 . Materiell müssen dann alle maßstabsgeprägten und diejenigen Definitionen sein, die auch andere Verfahren als den Erlaubnisvorbehalt für Zensur halten. b) Da weder ein weites noch ein engeres Verständnis dessen, was im Bereich zensureller Maßnahmen die Form staatlichen Einschreitens ausmachen soll, zwingend ist, die Begriffsbildung aber eine sinnvolle Abgrenzung zu „materiel31 So wohl die Begrifflichkeit bei Hoffmann-Riem, AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 79; vgl. ferner M Breitbach, U. F. H Rühl, NJW 1988, 8(10). 32 In diesem Sinne etwa: Oskar Katholnigg, UFITA 38 (1962), 25 (32); HessVGH UFITA 57 (1970), 345 (355 ff.). 33

Ζ. B. Hans D. Jarass, S. 209 mit Fn. 15; M. Bullinger, in: Löffler, Presserecht,

§ 1 LPG Rn. 129.

46

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

len" Begriffen ermöglichen sollte, bietet es sich an, zunächst die Eigenheiten derartiger Definitionsversuche näher zu betrachten. aa) Für Noltenius ist „materielle" Zensur jede „Beeinflussung der öffentlichen Meinung dergestalt, daß ein möglicher Beitrag zum Prozeß der Meinungsbildung der Öffentlichkeit durch eine intervenierende Instanz entzogen oder verändert zugänglich gemacht wird". 3 4 „Materiell" will dabei im Sinne von „eigentlich" oder „wesentlich" zum Ausdruck bringen, daß Zensur als verfassungsrechtlich zu mißbilligende Unterdrückung von Meinungsäußerungen nicht auf die eine Form Erlaubnisvorbehalt beschränkt sei, sondern in einer Vielzahl von Gestalten auftreten könne. Da aber Art. 5 Abs. 1, 2 GG Äußerungsinhaltsschranken und Möglichkeiten ihrer Sanktionierung im Einzelfall vorsieht und erlaubt, muß sich auch noch der weiteste Zensurbegriff gegen nicht zensurelle Inhaltskontrolle abgrenzen. Hier liegt es nahe, das über diese Beschränkung entscheidende Definitionselement im „Entzug" zu sehen. „Entzogen" wäre ein möglicherweise meinungsbildender Beitrag der Öffentlichkeit dann, wenn seine Verbreitung vollständig verhindert w i r d 3 5 ; hingegen könnten Maßnahmen nach Verbreitungsbeginn den Öffentlichkeitszugang nur noch quantitativ begrenzen und wären jedenfalls keine Zensur. Materiell hieße die Zensurdefinition, weil sie vollständige Verbreitungsverhinderung in beliebiger Form erfassen würde und nicht nur in derjenigen des Erlaubnisvorbehaltes oder anderer bestimmter Verfahren 36 . Doch ist Zensur auch nachträgliche Intervention und damit die Verhinderung bloßer Weiterverbreitung bereits veröffentlichter Meinungen 37 , so daß jegliches Einschreiten gegen jedwede Meinungsäußerung erfaßt zu sein scheint 38 , ζ. B. auch die Beschlagnahme der Restauflage eines bereits über einige Zeit verkauften, gegen Strafgesetze verstoßenden Buches. Tatsächlich fin34

S. 107 f. Es wird deutlich, daß die zweite Alternative, „oder verändert zugänglich gemacht" als Spezialfall des Entzuges gesehen werden kann: In der Veränderung liegt immer auch der Entzug der ursprünglich geplanten Fassung des Beitrages zum Meinungsbildungsprozeß. 36 Das entspricht einer Begrifflichkeit, die die Definition der Zensur als jede vor Verbreitungsbeginn wirkende Maßnahme nicht als formell gelten lassen will, oben, S. 45, a)bb) mit Fn. 31. 35

37

38

J. Noltenius, S. 109.

In diese Richtung geht wohl das Verständnis von M. Breitbach, U. F. H. Rühl, NJW 1988, 8 (10), wenn sie, a.a.O., unter III. 1. b) aa), den Zensurbegriff von Johanne Noltenius ,,[s]ehr nahe" der Linie einer „kulturwissenschaftlichen" Zensur sehen, die, a.a.O., unter III 1. b), praktisch alle möglichen Einschränkungen vor und nach der Verbreitung zu erfassen scheint. Dabei übersehen sie allerdings, daß jedes Zensurverständnis auf der Ebene des Verfassungsverbotes die Abgrenzung zu zulässiger Inhaltskontrolle leisten muß und auch Noltenius, wie im Text sogleich zu zeigen sein wird, eine solche Differenzierung vornimmt.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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det sich die entscheidende Abgrenzung zwischen zulässigen und zensureilen Eingriffen nicht im Verfahren, sondern im Maßstab der Inhaltskontrolle, indem Zensur definitionsgemäß das Vorgehen gegen einen „möglichen Beitrag zum Prozeß der Meinungsbildung" voraussetzt, von den allgemeinen Gesetzen des Art. 5 Abs. 2 GG (auch) aus inhaltlichen Gründen verbotene Äußerungen aber keine Beiträge in diesem Sinne sind: Noltenius sieht in den allgemeinen Gesetzen im Sinne d. Art. 5 Abs. 2 GG „aus der Natur der Sache" gesetzte Grenzen, die „von vornherein" den „Umfang des Rechts aus seiner Funktion" bestimmen 39 , so daß nur die danach nicht untersagten Meinungsäußerungen zum Prozeß öffentlicher Meinungsbildung zählen 40 und so ein mögliches Objekt von Zensur abgeben. Ist die fragliche Meinungsäußerung hingegen mit Inhaltsschranken im Sinne d. Art. 5 Abs. 2 GG unvereinbar 41 , grenzt die Behinderung sie zulässigerweise aus dem Bereich der Meinungsfreiheit aus. Folglich entscheidet sich die Zensurfrage danach, ob die betroffene Äußerung bestimmten inhaltlichen Anforderungen entspricht 42 ; nur wenn sie ohne hinreichende Rechtfertigung eingeschränkt wird, liegt unabhängig vom Verfahren der Einschränkung Zensur vor. 43 „Materiell" könnte diese Definition also deshalb genannt werden, weil sie Zensur unabhängig von der Art und Weise des Vorgehens einschließlich des Wirkungszeitpunktes immer dann annimmt, wenn Äußerungen wegen eines bestimmten Inhaltes, das heißt aufgrund eines bestimmten Maßstabs der Inhalts-

39

J. Noltenius, S. 141, auch S. 142. S. 141. 41 Allgemein sind dabei Gesetze, die der Meinungsfreiheit gleichrangige Rechtsgüter schützen und diese mit Art. 5 Abs. 1 GG in Einklang bringen (S. 141 f.). Neben den Strafgesetzen (S. 141 f.) zählt dazu die polizeiliche Generalklausel, soweit Meinungsäußerungen die Schwelle der Gefahrdung hinreichend wertiger Rechtsgüter überschreiten (S. 145). 42 Dabei ist Zensur auf zwei „Ebenen" denkbar: Entweder wird ein Art. 5 Abs. 2 GG entsprechendes Gesetz im Einzelfall falsch angewendet (z.B. Verbot aufgrund der polizeilichen Generalklausel, obwohl deren Voraussetzungen tatsächlich nicht vorliegen), oder bereits die den Maßstab festlegenden Bestimmungen verkennen das nach Art. 5 Abs. 2 GG zulässige Maß der Beschränkung, sind also keine allgemeinen Gesetze, so daß jede Anwendung der Bestimmung Zensur ist. Diese Maßgeblichkeit inhaltlicher Kriterien übersehen M. Breitbach, U. F. H Rühl, NJW 1988, 8, 10, wenn sie im Rahmen des Zensurbegriffes von Noltenius Motive und Absichten der Einschränkung für unerheblich halten (a.a.O., unter III. 1. b) aa) und damit die Irrelevanz inhaltlicher Maßstäbe meinen sollten, vgl. noch unten, Fn. 49. 43 Es kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß neben der Gleichsetzung von Zensur und inhaltlich ungerechtfertigter Verbreitungshinderung auch andere Verfahren als der Erlaubnisvorbehalt trotz gerechtfertigter Maßstäbe verfassungswidrig sein sollen und gegebenenfalls Zensur genannt würden, doch käme dies schon deshalb kaum zum Ausdruck, weil solche Maßnahmen nicht „zum Schutz eines Kodex bestimmter öffentlicher Ansichten [erfolgen], die [nur] den Anspruch auf normative Geltung erheben" 40

(J. Noltenius, S. 107).

48

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

kontrolle beschränkt werden. Im Anschluß daran ließen sich „materiell" alle Definitionen nennen, die Zensur annehmen, wenn Äußerungen anhand bestimmter Maßstäbe, das heißt wegen eines bestimmten Inhaltes beschränkt werden. Formell wären dementsprechend alle den Inhaltsmaßstab ausblendenden Definitionen 44 . Nicht ersichtlich ist bei diesem Verständnis „materieller" Zensur eine besondere Zensurabsicht. Demgegenüber meint Martin Löffler, die Vertreter des materiellen Zensurbegriffes stellten „auf die Motive und Absichten ab, die von der Zensurbehörde verfolgt werden". 45 Absicht verlangt einen Träger und ein Ziel. Verstanden als innerer Zustand eines Menschen, kann im Rahmen der Zensur nur der tatsächliche Wille des jeweils handelnden Amtswalters relevant sein. Von dessen konkretem Wollen unabhängig, mag mit Absicht aber auch ein entpersonalisierter gesetzes- oder maßnahmenimmanenter Zweck gemeint sein. Zwecke spielen für materielle Zensurbegriffe der soeben besprochenen Art insoweit eine Rolle, als die Zensurfrage nicht beantwortet werden kann, ohne daß zunächst die Rechtsgüter bestimmt werden, deren Schutz die Einschränkung dienen soll. Wenn Johanne Noltenius davon ausgeht, daß Zensurmaßnahmen stets tendenzbedingt waren und den Schutz eines bestimmten Kodex verbindlicher öffentlicher Ansichten bezweckten 46 , so dient dies dazu, den Bereich zensureller Maßnahmen über das generelle Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hinaus auszudehnen, da eine solche Tendenz eben auch außerhalb dieser Rechtstechnik, von dieser Form unabhängig, verwirklicht werden könne. Den weiteren Schritt, eine solche Tendenz als tatsächliche Absicht des Handelnden in den Zensurbegriff aufzunehmen, macht sie nicht. So wird der jeweilige Eingriffszweck „objektiv" durch Untersuchung der betroffenen Meinung, ihrer möglichen Wirkungen und der in Betracht kommenden Eingriffsnorm festgestellt; ist danach kein hinreichend wertiges Rechtsgut auffindbar, liegt Zensur vor und verfolgt die Einschränkung zwangsläufig unzulässige Ziele 4 7 . Ob und inwieweit der handelnde Amtswalter solche Ziele verfolgt, bleibt belanglos. Damit wird gerade auch das in der - vorgetäuschten - Absicht zulässiger Gefahrenabwehr, tatsächlich aber anhand der Maßstäbe des Art. 5 Abs. 2 GG nicht rechtfertigungsfahige Verbot einer Äußerungsmöglichkeit erfaßt. Demnach ist eine Zensurabsicht im Sinne eines tatsächlichen Willens mit der Folge, daß schon der nicht erbrachte Beweis seines Vorliegens und damit prak-

44

Oben, S. 44, a), aa). M. Löffler, NJW 1969, 2225 (2226); ders., Presserecht, § 1 LPG Rn. 145, S.103; ebenso M. Breitbach, U. F. H. Kühl, NJW 1988, 8(10). 45

46 47

J. Noltenius, S. 106 f. Vgl. J. Noltenius, S. 109, 138, 142, 144 ff.

49

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

tisch die bloße Berufung der Behörde auf lautere Zwecke den Zensurvorwurf entfallen ließe, nicht notwendiges Element „materieller" Zensurbegriffe. Ob eine bestimmte Absicht oder Motivation im Sinne eines von objektiven verfassungsrechtlichen Maßstäben der Inhaltskontrolle unterscheidbaren tatsächlichen Willens des Handelnden überhaupt verlangt wird, scheint fraglich. Wenn etwa davon ausgegangen wird, der Zensurbegriff Horst v. Hartliebs verlange, daß der Behörde „konformistische Ziele" nachgewiesen würden 48 , bleibt unklar, ob damit - nicht anders als im Rahmen des Zensurverständnisses von Noltenius - nur die objektive Überschreitung verfassungskonformer Inhaltsschranken oder davon - wie auch immer - abweichende Motive gemeint sein sollen. H. v. Hartlieb jedenfalls will eine durch den Inhaltsmaßstab gezogene Grenze zwischen Zensur und sonstiger zulässiger Kontrolle ziehen, deren Einhaltung schlicht anhand des Verbotes eines bestimmten Inhaltes ohne Rückgriff auf weitergehende Absichten o. ä. bestimmt werden kann und also strukturell 49

dem Verständnis „materieller" Zensur bei Noltenius entspricht . Würde allerdings ein tatsächlicher Wille verlangt, fragt sich, welche Ziele des Handelnden die spezifische Zensurabsicht ausmachen können. Verstößt etwa ein Druckwerk inhaltlich gegen Strafgesetze, kann die Absicht des zuständigen Amtswalters, diesen gesetzwidrigen Inhalt durch die Anordnung einer ansonsten rechtmäßigen Beschlagnahme zu „unterdrücken", keine die Verfassungswidrigkeit der Maßnahme begründende „Zensurabsicht" sein. Zwar muß ihm die strafrechtlich relevante Meinung nicht persönlich mißfallen, doch wird dies eher die Regel als eine Ausnahme sein. Das Beispiel verdeutlicht, daß eine auf Zensur gerichtete Absicht immer ein (ansonsten) rechtswidriges Ziel verfolgen muß. Nur wenn der Amtswalter nicht in der Absicht handelt, verfassungsgemäße Grundrechtsschranken in rechtmäßiger Weise durchzusetzen, sondern mit der Einschränkung anderweitige Ziele verfolgt, kann er die Absicht haben, zu zensieren. So würde das Erfordernis einer Zensurabsicht die Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs und damit nach dem zulässigen Maßstab ins Subjektive verlagern. Durfte die Äußerung verhindert werden und 48

Michael Breitbach, Ulli F. H Kühl, NJW 1988, 8(10); vgl. Horst v. Hartlieb, in:

Selbstkontrolle, S. 16 f.; ders. Grundgesetz, Filmzensur und Selbstkontrolle, S. 36 f. 49 Wenn demgegenüber M. Breitbaçh, U. F. H. Rühl, NJW 1988, 8 (10) meinen, „materiell im engeren", auf die Motive und Absichten der Behörde abstellenden Sinne sei nur v. Hartliebs, nicht aber Noltenius' Zensurdefinition, kann das zwei Ursachen haben. Entweder sehen sie „Motive und Absichten" als Fall des Kriteriums „bestimmter objektiver Inhaltsmaßstab" an, erkennen aber nicht, wie ihre Ansiedelung des Verständnisses von Noltenius nahe der „kulturwissenschaftlichen" Zensur (vgl. oben, Fn. 38) sowie seine zögernde Einordnung als „noch formal" (a.a.O., unter III. 1. b) aa) zeigen, daß auch Noltenius mittels eines Inhaltsmaßstabes nicht zensureile Einschränkungen ausgrenzt (vgl. schon soeben Fn. 42). Oder aber sie halten „Motive und Absichten" für ein Kriterium, das von demjenigen eines bestimmten „zensurellen Inhaltsmaßstabs" zu unterscheiden ist, und verkennen dann, daß v. Hartlieb diesen Weg nicht geht. 4 Fiedler

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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hatte der Amtswalter keine überschießende Absicht, liegt keine Zensur vor; war die Verhinderung rechtswidrig, kann je nach der Intention, die auf rechtmäßige Beschränkung gerichtet war oder im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit weitere Ziele verfolgte, Zensur zu verneinen oder zu bejahen sein. Selbst eine an sich zu rechtfertigende Beschränkung könnte bei Unkenntnis über die Rechtfertigungsmöglichkeit durch überschießende Innentendenz Zensur sein. In jedem Fall muß gefragt werden, ob der Amtswalter subjektiv einem bestimmten Maßstab folgte. Das legt nahe, eine besondere Zensurabsicht einbeziehende und damit auf subjektive Inhaltsmaßstäbe rekurrierende Definitionen ebenfalls als (subjektiv) „materiell" im Sinne der Maßstabsabhängigkeit der Zensur zu bezeichnen. bb) Der Begriff des Materiellen erweitert sich um eine nicht maßstabsabhängige Gestalt der Kontrolle, wenn die Gleichsetzung der Zensur mit allen Maßnahmen vor Verbreitungsbeginn als nicht formal gilt 5 0 . cc) Noch umfangreicher fällt der Bereich der materiellen Zensurbeschreibungen aus, wenn er neben den maßstabsabhängigen Definitionen die nicht in bestimmten Regelungen vorgesehenen Verfahren umfassen soll 5 1 . dd) Die Rede von dem formellen Zensurbegriff als Name für das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt schließlich 52 hält jede abweichende Definition, gleich ob sie auf den Maßstab der Inhaltskontrolle oder sonstige Eigenschaften ihres Vorgehens abstellt, für materiell 53 . c) Welche Abgrenzung scheint sinnvoll? Bezeichnet man allein die Gleichsetzung von Zensur und Verbot mit Erlaubnisvorbehalt als „formell", fallen zwangsläufig alle abweichenden Definitionen in das Sammelbecken des „Materiellen". Richtig ist dabei wohl, daß der materielle Zensurbegriff beansprucht, gerade über den Erlaubnisvorbehalt hinauszuschreiten und außerhalb dieser Form das weitergehende Wesen der Zensur zu erfassen. Ein solches umfassenderes Wesen glauben aber alle über den Erlaubnisvorbehalt hinausgehenden Zensurdefinitionen erkannt zu haben, und zwar unabhängig davon, ob sie einen bestimmten Maßstab oder ein weiterreichendes Verfahren der Inhaltskontrolle für maßgeblich halten. Wenn somit eine solch weite Sicht des „Materiellen" auch auf die weiter gefaßten verfahrensbestimmten Zensurumschreibungen übertragen werden könnte, würden sich dann doch in den Ansätzen der Begriffsbildung wesentlich verschiedene Definitionen materiell nennen und fände sich ein demgegenüber relativ einheitlicher Ansatz recht willkürlich in beide Gruppen aufgeteilt. Die Unterscheidung zwischen der Maßgeblichkeit des In50 51 52 53

Oben, S. 45, a) bb) und S. 46 vor und mit Fn. 36. Oben, S. 45, a) cc). Oben, S. 45, a) dd). So ζ. Β. B. Rieder, S. 39 f.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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haltes kontrollierter Äußerungen und derjenigen inhaltsunabängiger Qualifikationen der Kontrolle ist auffälliger und grundlegender als die Unterscheidung zwischen verschiedenen Konkretisierungen des inhaltsunabhängigen Verfahrens einer Kontrolle. Für eine Begrenzung des „Materiellen" auf Zensurbegriffe, die durch bestimmte Inhaltsmaßstäbe geprägt sind, spricht außerdem, daß wohl schon Noltenius das dem Erlaubnisvorbehalt entgegenzusetzende „Materielle" der Zensur - jedenfalls im Ergebnis ihrer Abgrenzung - weniger in bestimmten weitergehenden, vom Verbotsmaßstab unabhängigen Formen der Einschränkung sah als eben in der Behinderung von Äußerungen wegen ihres Inhaltes. „Formell" wird demnach jede Definition genannt, die unter Verzicht auf den Maßstab der Kontrolle ein qualifiziertes Verfahren der Kontrolle verlangt, die für die Entscheidung über das Vorliegen von Zensur also weder den Inhalt kontrollierter Äußerungen noch den Ausgang des Kontrollverfahrens überhaupt kennen muß (oben, S. 44, a, aa). „Materiell" sollen den Maßstab der Kontrolle berücksichtigende Umschreibungen sein, einschließlich eventueller Varianten, die eine - einen solchen Maßstab in den subjektiven Bereich des Handelnden verlagernde - Zensurabsicht voraussetzen. Damit liegt die Unterscheidung formell/materiell parallel zu derjenigen zwischen Verfahren und Maßstab der Inhaltskontrolle, quer hingegen zu den im Hinblick auf einen bestimmten Zeitpunkt differenzierenden Kategorien der Vor- bzw. Präventiv- und Nachzensur bzw. Repression.

2. Einordnung des „ Faktischen " Veranlaßt hat die Diskussion „faktischer" Zensur das Pamir-Urteil 54 , in dem sich das Bundesverwaltungsgericht mit einer Regelung des Vergnügungssteuerrechtes befaßt, die mit Prädikaten der Filmbewertungsstelle in Wiesbaden versehenen Filmen Steuererleichterungen gewährt 55 . Das Gericht nahm einen Verstoß gegen das Zensurverbot wegen des Versuches seiner Umgehung für den Fall an, daß die Vorführung eines Kulturfilms „faktisch [...] erheblich erschwert wird, wenn er nicht ein Prädikat erhält und deshalb steuerrechtlich be-

54

BVerwGE 23, 194 (199). § 2 Abs. 2 Nr. 9 i. V. m. § 10 des hessischen Vergnügungssteuergesetzes i. d. F. v. 11.7.1961 (GVB1. S. 106), aufgehoben d. G. v. 25.9.1987 (GVB1. S. 174); entsprechende bewertungsabhängige Vergünstigungen werden ζ. B. in Nordrhein-Westfalen gemäß §§ 2 Nr. 4, 10 Abs. 2, 3 des Vergnügungssteuergesetz i. d. F. d. Ä. v. 14.6.1988 (GV. NW S. 216) gewährt. 55

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

vorzugt w i r d " 5 6 . Während B. Rieder eine solche Verbreitungsbeeinflussung durch Versagung bzw. Gewährung finanzieller Vorteile in Abhängigkeit von inhaltlichen Kriterien ab einer bestimmten Intensität ohne Konzessionen an einen materiellen Zensurbegriff als „faktische", aber dennoch formelle Zensur bezeichnet 57 , klingt darin für Ingo v. Münch und Rudolf Wendt der von ihnen mit dem „faktischen" identifizierte 58 „materielle" Zensurbegriff von Johanne Noltenius a n 5 9 . Der Klang kann insoweit vernommen werden, als Noltenius 1 Zensurverständnis keine Erweiterung benötigt, um einen nicht in der Form des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt vollzogenen, sondern mit der Verweigerung finanzieller Vorteile bewirkten „Entzug" als Zensurakt zu erkennen. 60 Zensur würde danach nur ausscheiden, wenn entweder die Verweigerung der Steuerermäßigung keine hinreichende Wirkung auf die Verbreitungsmöglichkeit hätte, oder der inhaltliche Maßstab der Befreiungsversagung erne zulässige Schranke im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG darstellte. M i t dem hier vorgeschlagenen, jedes maßstabsunabhängige Kontrollmerkmal einschließenden Formverständnis ist zu fragen, ob maßgebliche Zensureigenschaft eine Verfahrensqualifikation oder der inhaltliche Prüfungsmaßstab sein soll. Das Bundesverwaltungsgericht knüpft sein Zensurverdikt nicht an die Bewertung der bei der Prädikatvergabe angelegten inhaltlichen Maßstäbe; es untersucht nicht einmal, ob zulässige Inhaltsschranken angewandt werden oder der Kontrolle ein verfassungswidriger Maßstab zugrundeliegt, dessen Durchsetzung verfahrensunabhängig Zensur sein könnte 6 1 . Vielmehr fragt das Ge-

56 BVerwGE 23, 194, (199), unter Zurückverweisung an das Berufungsgericht, das eine hinreichende Erschwerung nicht feststellen konnte (HessVGH, UFITA 57 [1970], 345 [356 ff.]). 57 S. 178. 58 / v. Münch, in: v. Münch, Art. 5 Rn. 43; R. Wendt, in v. Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 65; vgl. auch schon K. Zimmereimer, S. 152. 59 / v. Münch und R. Wendt, jeweils a.a.O. (Fn. 58). Ebenso dezidiert Sieghart Ott, JuS 1968, 459 (464); ähnlich Christoph Wagner, Die Landesmedienanstalten, S. 85 mit

Fn. 299; vorsichtiger//. Weber, JuS 1966, 412 (413) und OskarKatholnigg, NJW 1966,

1574 (1575); für eine Einordnung als „materiell" wohl auch H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Bd. I, Art. 5 I, II Rn. 140. 60 Gleichgesetzt werden kann die materielle Zensur im Sinne Johanne Noltenius' mit dieser „faktischen" Zensur schon deshalb nicht, weil „Entzug" von Meinungsäußerungen in jedem Verfahren stattfinden kann und damit auch das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt erfaßt, was nach / v. Münch und R. Wendt, jeweils a.a.O. (Fn. 58), nie „faktische" Zensur, sondern immer „zusatzlose" formelle Zensur ist. 61 S. oben, S. 46 f. Ob die Maßstäbe der Prädikatsvergabe Zensurmaßstäbe im Sinne eines materiellen Zensurverständnisses sein könnten, ist eine andere Frage, die zwar vielleicht im Hintergrund mitschwingt, aber weder vom Bundesverwaltungsgericht noch von / v. Münch oder R. Wendt, jeweils a.a.O. (Fn. 58), für maßgeblich gehalten wird. Deshalb unzutreffend Ch. Wagner, S. 85 mit Fn. 299, wenn nach seiner Einschätzung

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

53

rieht, ob ein bestimmtes, Inhalte prüfendes Verfahren, das nicht als Verbreitungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt organisiert ist, sondern als „finanzielle Verbreitungserleichterung nach inhaltlicher Genehmigung" oder „finanzielle Verbreitungserschwerung mit inhaltsbezogenem Ausnahmevorbehalt" bezeichnet werden könnte, gegen das Zensurverbot verstößt. Auch Filmförderung soll nicht wegen oder bei Verwendung bestimmter Inhaltsmaßstäbe Zensur und mit anderen Maßstäben keine Zensur sein, sondern ohne Rücksicht auf die verwendeten Maßstäbe nur dann gegen Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG verstoßen, wenn sie verbotsähnliche Verbreitungshinderungen für ihren Maßstäben nicht entsprechende Filme zur Folge hat. Es wird ein bestimmtes Verfahren der Anwendung oder Umsetzung beliebiger Inhaltsmaßstäbe für maßgeblich gehalten und also ein formaler Zensurbegriff vertreten. „Faktisch" kann höchstens veranschaulichen, daß das inhaltsunabhängige Verfahren der Inhaltsschrankendurchsetzung kein explizites Verbreitungsverbot benötigt. Notwendig ist die Kategorie der „faktischen" oder gleichbedeutend auch „Wirkungs"-Zensur nur für die nicht zweckmäßige Beschränkung des „Formellen" auf den Erlaubnisvorbehalt oder auf sonstige geregelte bzw. mit expliziten Verboten arbeitende Vorgehensweisen 62.

3. Formell-materiell Formell-materiell wäre eine Sicht, der weder ein bestimmtes Verfahren noch ein bestimmter Maßstab der Inhaltskontrolle für die Identifikation von Zensur genügt. So etwa, wenn das Verfahren Erlaubnisvorbehalt in Kombination mit dem Inhaltsmaßstab „schwerwiegende Verletzung von Strafgesetzen" nicht, wohl aber in Verbindung mit anderen Inhaltsmaßstäben Zensur sein sollte.

II. Vor-, Präventiv-, Nachzensur und Repression „Vorher" und „nachher" können als zeitlicher Bezug für das Stattfinden oder für bestimmte Wirkungen möglicher Inhaltskontrolle im Ablauf einer Äußerung verschiedene Zeitpunkte bezeichnen bzw. unterschiedliche Stadien ihres

das Gericht auf eine „Tendenz" der Maßnahme abstellt und damit eine inhaltsbezogene subjektive oder objektive Neigung der Filmbewertung gemeint sein sollte. 62 Es zeigt sich wiederum die relativ geringe Aussagekraft einer zu früh gezogenen Grenze des Formellen, wenn I. v. Münch, in: v. Münch, Art. 5 Rn. 43; R. Wendt, in v. Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 65; Ch. Wagner, S. 85, sowohl die vom Inhaltsmaßstab unabhängige Inhaltskontrolle der Filmbewertung mit Steuerbefreiung als auch eine nur aufgrund der Verwendung eines bestimmten Maßstabs zensureile Kontrolle unter den Begriff materieller Zensur fassen müßten.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Geschehens einschließen: den Beginn der Verbreitung (Veröffentlichung), die häufig Zeit beanspruchende Verbreitung im Sinne von Gesamtverbreitung, eine geringere Anfangsverbreitung (Publikationsphase) oder den nicht notwendig mit dem Verbreitungsbeginn übereinstimmenden Eintritt der Strafbarkeit etc. Materielle Zensur als Kontrolle mit spezifischen Inhaltsmaßstäben ist vor oder nach solchem Geschehen möglich; gleiches gilt für formelle im Sinne maßstabsunabhängig bestimmter Zensur, wie schon das Beispiel der „systematischen Kontrolle im Kommunikationsbereich" zeigt. „Nachzensur" oder „repressive Maßnahmen" können jeweils 63 oder gemeinsam mit einer „Nachzensur i. w. S." als Oberbegriff jede nach dem einschlägigen Zeitpunkt liegende Kontrolle erfassen; möglich ist aber auch ein Konzept, bei dem Nachzensur nur einen Bereich zwischen Vorzensur und Repression bezeichnet. So etwa, wenn Nachzensur die nach Beginn der „Betätigung" ansetzende Kontrolle zwecks Verhinderung ihrer Fortsetzung ist, repressiv hingegen erst eine solche Maßnahme sein soll, die ohne Hinderung der konkreten Verbreitung wirkt, also ζ. B. eine Bestrafung nach Verbreitungsende. Die Zweiteilung mit Vorzensur auf der einen und einer repressive Maßnahmen einschließenden Nachzensur auf der anderen Seite findet sich etwa im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Filmeinfuhrkontrolle 64 , der Dreischritt mit Vorzensur, Nachzensur und repressiven Maßnahmen in Teilen der Literatur 65 . Unabhängig von dem Verhältnis zwischen Nachzensur und Repression liegt allerdings eine Abgrenzung dahingehend nahe, daß Vorzensur sich auf Maßnahmen vor Verbreitungsôegz/w bezieht, insoweit aber alle Maßnahmen erfaßt, insbesondere nicht nur das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt meint und auch keine Rücksicht auf sonstige Eigenheiten des bis dahin eingreifenden Verfahrens nimmt.

63 „Nachzensur" ist Unterdrückung der Schrift nach ihrem Erscheinen ebenso wie eventuelle Bestrafung ihres Herstellers etwa für Franz Schneider, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 899 (903); M Bullinger, in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 122, 146. 64 BVerfGE 33, 52 (72 ff.) 65

S. 50.

M Breitbach, U. F. H. Rühl, NJW 1988, 8 (11, unter 2.); Olaf ν . Kruedener,

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

55

B. Die verschiedenen Deutungen der Zensur I. Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle (Formelle Zensurbegriffe) 7. „ Der " formelle Zensurbegriff Als herrschend gilt ein Verständnis der von Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG verbotenen Zensur, das in der Tradition der zu Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV überwiegend vertretenen Sichtweise jedenfalls alle inhaltsbezogenen Verbote mit Erlaubnisvorbehalt erfaßt und in seinen Definitionen um die klassische Formulierung Kurt Häntzschels kreist, Zensur sei „die Abhängigmachung [...] der Verbreitung eines Geisteswerkes von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhaltes" 66 . Ob diese 67 und ähnliche 68 Beschreibungen sich tatsächlich in der Wiedergabe des Erlaubnisvorbehaltes mit anderen Worten erschöpfen 69, soll zunächst dahingestellt bleiben. Ausdrücklich oder konkludent ist jeweils nur der inhaltsbezogene Erlaubnisvorbehalt gemeint 70 . Daß die Zensureigenschaft des Verfahrens unabhängig vom oder mit jedem Maßstab der Inhaltskontrolle anzunehmen ist und also eine formelle und keine formell-materielle Sicht vorliegt, wird ausdrücklich erklärt 71 oder ergibt sich aus der Verwerfung inhaltlich motivierter Verbreitungsverhinderungen ohne Rücksicht auf die Zulässigkeit des verwendeten Inhaltsmaßstabes72 und muß auch bei denen ange-

66

HbDStR II, S. 665; ähnlich ders., a. a. Ο., S. 667: „die Abhängigmachung irgendeiner Art geistiger Kundgebung von behördlicher Prüfung und Erlaubnis". 67 Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 5 Rn. 14, dort allerdings mit „oder" statt „und" falsch zitiert. Fast wörtlich, nur u. U. als Unterfall eines alle Einschränkungen vor der Verbreitung und damit prinzipiell weitergehenden Zensurbegriffs auch BVerfGE 33, 52 (72); E 47, 198 (236); E 73, 118 ( 166). 68

Vgl. nur Martin Bullinger,

HbStR V I § 142 Rn. 25; Hans D. Jarass, in: Ja-

rass/Pieroth, 2. Aufl., Art. 5 Rn. 52; Maunz/Zippelius, S. 184, § 24 II 2. e); etwas deutlicher variierend BVerfGE 83, 130, (155); ähnlich BVerfGE 87, 209, (230); daran anschließend H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 52. 69 Jedenfalls die „Abhängigmachung [...] von vorheriger behördlicher Prüfung und Erlaubnis" setzt dem „Erlaubnisvorbehalt" ausdrücklich gleich Kurt Häntzschel, HbDStR II, S. 667; ähnlich Gerhard Anschütz, Reichsverfassung, 14. Aufl. 1933, Art. 118 Anm. 6, S. 557; BVerfGE 33, 52 (72); E 47, 198 (236); v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 102. Unmittelbar wird Zensur mit dem inhaltsbezogenen „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" identifiziert von Alfred Stumpff S. 4, bzw. mit „Erlaubnisvorbehalten" von Friedrich Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 118 Anm. 4. 70 S. das Zitat von Häntzschel bei Fn. 66 und die Nachweise oben in Fn. 3; explizit ferner ζ. B. O. v. Kruedener, S. 46; A. Stumpff, S. 4. 71 K. Häntzschel, HbDStR II, S. 667 f.; M. Breitbach, U. F. H. Rühl, NJW 1988, 8

(9, 14). 72 BVerfGE 87, 209 (230 ff.); Philip Kunig, Jura 1995, 589 (594); R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 66.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

nommen werden, die der Zensurdefinition mittels inhaltsbezogenen Erlaubnisvorbehaltes keine maßstabsspezifischen Einschränkungen hinzufügen. Immer um Vorzensur handelt es sich, wenn nur das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für die Gesamtverbreitung eines als identisch bewerteten „Geisteswerkes" Zensur sein soll, also ein Erlaubnisvorbehalt erst für die Nachmittagsverteilung der Morgenzeitung nicht erfaßte Nachzensur wäre. Was dann noch zur Weiterverbreitung der einheitlichen „Äußerung im zensurtechnischen Sinne" zählt und wo eine zensurfähige neue Äußerung beginnt, wäre im Einzelfall zu diskutieren 73 .

2. „ Planmäßige " oder „ systematische " Kommunikationskontrolle Die Auffassung der Zensur als „planmäßige Überwachung von Geistesprodukten" 74 oder „systematische Kontrolle im Kommunikationsbereich" 75 bedeutet eine ihrerseits formelle Erweiterung der klassischen Definition in zweierlei Hinsicht: Neben dem Erlaubnisvorbehalt wird jede andere „systematisch" zu nennende, vor Verbreitungsbeginn wirkende Kontrolle erfaßt; eine solche ist etwa anzunehmen, wenn eine das Veröffentlichungsrecht unberührt lassende Pflicht zur Vorlage von Plakaten 24 Stunden vor der Veröffentlichung dazu genutzt wird, die Äußerungsprojekte zu prüfen und erforderlichenfalls vor der Verbreitung zu untersagen 76. Außerdem ist Zensur die systematische, erst nach Verbreitungsbeginn eingreifende Kontrolle, beispielsweise die umfassende Überprüfung ausgestrahlter Fernsehprogramme 77 oder von Buchneuerscheinungen auf rechtswidrige Inhalte 78 .

73

Bei Tageszeitungen etwa wird die einzelne Ausgabe das Geisteswerk ausmachen. Ob bei Theateraufführungen jede einzelne Aufführung (so O. v. Kruedener, S. 57), jede Spielzeit einer Inszenierung, erst jede (Neu-)Inszenierung oder aber vielleicht alle Aufführungen Othellos seit der Uraufführung (so B. Rieder, S. 98, 99) als eine Äußerung im zensurtechnischen Sinne zu gelten haben, ist vielleicht weniger offensichtlich, entscheidet aber darüber, ob ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für andere als Uraufführungen oder Premieren verbotene Zensur oder i. S. der dargestellten Ansicht vom Zensurverbot nicht erfaßte Nachzensur bedeutet. 74 M. Löffler, Presserecht I, 2. Aufl. 1969, S. 137 f. (6. Kap. Rn. 4), 3. Aufl. 1983, § 1 LPG Rn. 148, 143 f.; ders., NJW 1969, 2225 (2225 f.). 75 W. Hoffmann-Riem, AK-GG, 1. Aufl. 1984 u. 2. Aufl. 1989, jeweils Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 77; ders., AöR 1984, 304 (360); wohl enger Franz Rhode, S. 187, 178, 158 f., 150 f., 154: planmäßige Kontrolle nur soweit sie als solche normativ eingerichtet ist. 76 Vgl. M Löffler, Presserecht I, § 1 LPG Rn. 152. 77 Vgl. W. Hoffmann-Riem, AöR 109 (1984), 304 (360). 78 S. M. Löffler, Presserecht I, § 1 LPG Rn. 148.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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Wohl als erster hat Martin Löffler die „Planmäßigkeit" für das Wesen zensureller Inhaltskontrolle gehalten79 und daraus die beschriebene, vom Inhaltsmaßstab unabhängige und deshalb formelle Ausdehnung der Zensur gefolgert. Nicht ganz eindeutig ist, ob und welche Möglichkeiten der Einwirkung auf die kontrollierte Betätigung einer planmäßigen Überwachung zur Verfügung stehen müssen80 ; fraglich bleiben auch Existenz und eventuelle Ausformung einer Grenze zwischen „planmäßiger Überwachung" und - nicht planmäßiger - „Abwehr inhaltsbedingter Gefahren im Einzelfall". Eine solche zieht demgegenüber Wolfgang Hoffmann-Riem zwischen „systematischer Kommunikationskontrolle" und „Abwehr konkreter Gefahren" 81 .

3. Eingriffe

in die „ Publikationsphase "

Den mit Verbreitungsbeginn endenden Anwendungsbereich des klassisch verstandenen Zensurverbotes will Helmut Ridder auf bestimmte Einschränkungen einer bereits begonnenen Verbreitung erstrecken, wenn - unter ausdrücklicher Verwerfung des Kriteriums der Planmäßigkeit - der Eingriff in die Publikationsphase von Geisteswerken Zensur ausmachen soll 8 2 . Dabei wird ,,[d]ie Ausdehnung der Publikationsphase" wesentlich durch die Adressatengruppe mitbestimmt, im Beispiel einer Tageszeitung das gesamte Publikum 83 . Spätestens diese - anderenfalls sinnlose - zielgruppenspezifische Erstreckung der Publikationsphase erhellt, daß der Schutz über den Zeitpunkt der Veröffentlichung im Sinne von Verbreitungsbeginn hinaus in gewissem Umfang auf einen (Teil-)Zeitraww der Verbreitung ausgedehnt werden soll. Erst die sich daran anschließende Phase „der Selbstentfaltung des Werkes" und seiner „multiplizierenden Distribution" wird nicht mehr vom Zensurverbot geschützt 84 .

79

Nachweise Fn. 74. Einerseits muß sie „in der Lage und gewillt [...sein], die kontrollierte Betätigung [...] zu beeinflussen bzw. zu behindern", M Löffler, Presserecht I, § 1 LPG Rn. 144, andererseits ist im Beispiel der dienstlichen Durchsicht sämtlicher Zeitungen durch einen Beamten auf Pressedelikte hin, a.a.O., Rn. 148, nicht deutlich, ob Verbreitungsbehinderungsabsicht und -fahigkeit Zensurbedingung sein sollen. 81 AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 75, 77. 82 H Ridder, AfP 1969, 882 (883, unter III [1], [2], Ablehnung der Planmäßigkeit als Zensurkriterium auf S. 882). 83 A. a. O., S. 883, unter III. (2). 84 A. a. O., S. 883, unter III. (1). Das Argument der aufgrund ihrer Adressatenabhängigkeit nicht rückwärts in Richtung Herstellung gerichteten, damit niemals vor Verbreitungsbeginn endenden und also nur über diesen in die Verbreitung hinein „ausdehnbaren" Publikationsphase scheint schlagend gegenüber der abweichenden Lesart von Karl-Heinz Ladeur, der, NJW 1986, 2748 (2749), unter Verwendung des von Helmut Ridder gerade nicht benutzten Begriffs der „Vor-Publikationsphase" davon auszugehen scheint, Ridder wolle nur den Prozeß bis zum Beginn der Verbreitung auch gegen an80

58

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Neben der Erfassung bestimmter, bezogen auf den Verbreitungsbeginn als Nachzensur zu qualifizierender Einschränkungen, dürfte das klassische Zensurverbot dadurch erweitert sein, daß bis zum Abschluß der Publikationsphase Eingriffe in wie außerhalb von Erlaubnisvorbehalten untersagt sind. Da der Schutz auch keine spezifisch ausgreifende Überwachung verlangt, geht er insofern weiter als derjenige gegen „planmäßige" Kontrolle; enger als dieser erweist er sich hingegen, indem nach der Publikationsphase auch systematische Inhaltskontrolle nicht erfaßt wird.

4. Eingriffe

vor Verbreitungsbeginn

Während die beiden soeben beschriebenen Deutungen das Zensurverbot in unterschiedlichem Umfang auch auf Maßnahmen jenseits des Verbreitungsbeginns erstrecken und also Teile einer hinter dieser Grenze beginnenden Nachzensur einschließen, finden sich ferner Stellungnahmen, die neben dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (nur) weitere „einschränkende Maßnahmen vor [...] der Verbreitung" 85 im Sinne anderer Verhinderungen der Gesamtverbreitung für Zensur halten. Bei ihrer Durchsicht fallt auf, daß diese Formen der Vorzensur zuweilen recht unvermittelt neben einer zunächst abschließend scheinenden Beschreibung der Zensur als Erlaubnisvorbehalt stehen. Außerdem sind die Qualifikationen der neben dem Erlaubnisvorbehalt anerkannten Formen der Vorzensur häufig in hohem Maße offen und unscharf, soweit sie bestimmte für zulässig erachtete Verbreitungsverhinderungen vor Verbreitungsbeginn ausgrenzen sollen. Das legt - vorausgesetzt, es handelt sich überhaupt um ein im Umfeld des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG anzusiedelndes Problem - nahe, hier Fallkonstellationen zu vermuten, deren Struktur mit einer griffigen Formel nur schwer beizukommen ist. a) Zuweilen soll jedes nicht-gerichtliche Verbot der Verbreitung vor ihrem Beginn Zensur sein, ohne daß es auf die Einordnung der handelnden Stelle als Strafverfolgungsorgan, Polizei- bzw. sonstige Behörde oder die Zugehörigkeit der herangezogenen Ermächtigungsgrundlage zu einer bestimmten Materie wie dem Recht der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung ankommt 8 6 . Auch dere Formen der Behinderung als den Erlaubnisvorbehalt geschützt wissen. Wie hier M. Löffler, NJW 1969, 2235 (2235 f.), nach dem das Zensurverbot im Verständnis von Ridder mit dem Schutz der Publikationsphase die Kontrolle von Publikationen verbietet, „bevor sie in der angezielten Gruppe eine breite Veröffentlichung gefunden haben, die eine kritische Auseinandersetzung ermöglicht". Unklar M. Breitbach, U. F. H. Rühl, NJW 1988, 8 (12 bei und mit Fn. 45). 85 BVerfGE 33, 52 (72). 86 Ekkehart Stein, Staatsrecht, § 37 V, S. 305, unter ausdrücklichem Einschluß staatsanwaltschaftlicher, wohl („hoheitliche Überprüfung") selbst strafgerichtlicher Beschlagnahmen. Wörtlich genommen, für die Pressefreiheit auch Roman Schnur,

59

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

diese Qualifikation ist von dem Maßstab der Inhaltskontrolle unabhängig und deshalb im hier vorgeschlagenen Sinn „formell" zu nennen. Da jede Gesamtverbreitungsverhinderung der jeweiligen Staatsorgane erfaßt wird, treten Schwierigkeiten der Bestimmung zulässiger Eingriffe kaum auf. Gleiches gilt, 87

wenn etwa nur Gerichte und Staatsanwaltschaft nicht zensieren können . b) Möglich sind auch Differenzierungen nach dem Zweck der Verbreitungsverhinderung bzw. dem für sie im übrigen maßgeblichen Recht, die grob mit den Stichworten Strafverfolgung und Gefahrenabwehr gekennzeichnet werden können, da sie entweder diese für Zensur halten und damit mindestens konkludent jene für zulässig erachten oder aber die Strafverfolgung aus der zensurellen Verbreitungsverhinderung ausklammern, so daß im wesentlichen gefahrenabwehrende Eingriffe als mögliche Zensur verbleiben. Schwierigkeiten bei der Umgrenzung der jeweiligen Aussagen ergeben sich, weil strafverfolgende wie gefahrenwehrende Äußerungsverbote vor Verbreitungsbeginn möglich sind und zudem ihre Einordnung von dem Verständnis der Begriffe „Gefahrenabwehr" bzw. „Strafverfolgung" abhängt. aa) Vorzensur kann dann etwa jede Verhinderung der Abgabe einer Meinungsäußerung außer derjenigen sein, die, auf Strafprozeßrecht gestützt, eine bereits mit der Abfassung oder Herstellung in Verbreitungsabsicht begangene Straftat verfolgen soll 8 8 . Ob eine Maßnahme der Strafverfolgung vorliegt, müßte sich für das Handeln auch mit anderen Aufgaben betrauter Stellen wie beispielsweise der Polizei im organisatorischen Sinne nach dem Charakter der konkreten Verbreitungsverhinderung bestimmen, während in der Strafprozeßordnung und dem Strafgesetzbuch geregelte Maßnahmen „formeller" Strafverfolgungsorgane wie der Staatsanwaltschaft wohl immer als Strafverfolgung zu gelten hätten, ohne daß es auf eine nähere Untersuchung eines eventuell rein vorbeugenden Charakters ankäme 89 . Bezogen auf die Abgrenzung zwischen VVDStRL 22 (1965), S. 142, unter 1. und Fn. 109, wenn das Zensurverbot „die vorgängige Kontrolle von Presseerzeugnissen" auf ihre Vereinbarkeit mit bestehenden Schranken untersage und diese Kontrolle nicht an ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder andere Verfahren gebunden wird. 87 Roman Herzog hält einerseits, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 298, „die vorherige staatliche Überprüfung einer beabsichtigten Meinungsäußerung" und damit auch, a. a. O., Rn. 291, 300, die Verhinderung bevorstehender Ehrverletzungen durch „Exekutivbehörden" für unzulässige Vorzensur, meint aber andererseits, a. a. O., Rn. 299, Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG verbiete „m. a. W." die Rechtsfigur des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt. Offen bleibt unter Zugrundelegung des weitgreifenden Verständnisses die Einordnung der Staatsanwaltschaft angesichts ihrer häufigen Verortung bei Verwaltung und Rechtsprechung (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, vor § 141 GVG Rn. 5-7). 88 Peter Lerche, in: Staatslexikon II, Sp. 2625 (2629).; Ernst Heinitz, Staatsgeheimnis und Pressefreiheit, S. 17. 89 Sei es, weil davon ausgegangen wird, daß das einschlägige Straf- bzw. Strafverfahrensrecht Staatsanwaltschaft und Gerichten keine Maßnahmen der Gefahrenabwehr

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

nicht zensureller, strafverfolgender und zensureller, gefahrenwehrender Verbreitungsverhinderung würde eine teils inhaltliche, teils organisatorische Anknüpfung der Gefahrenabwehr stattfinden: Handeln doppelfunktionaler Organisationen wäre nach seinem Inhalt, nach Merkmalen wie Ziel und Widmung der konkreten Maßnahme zu qualifizieren, Maßnahmen einer zur Wahrnehmung von Strafverfolgungsmaßnahmen geschaffenen Organisation wären wegen dieser Organisation ohne weiteres keine Gefahrenabwehr, sondern Strafverfolgung. Mit der Strafverfolgungsmaßnahmen als Nichtzensur ausgrenzenden Unterscheidung stimmt die Gleichsetzung des Zensurverbotes mit einem Verbot der Gefahrenabwehr 90 überein, wenn Maßnahmen der Strafverfolgung nach demselben inhaltlich-organisatorischen Muster qualifiziert und nicht zur Gefahrenabwehr gerechnet werden. Es macht keinen großen Unterschied, ob die strafprozessuale Untersagung vor Verbreitungsbeginn eine von Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nicht erfaßte Spielart der Vorzensur ist 91 oder ob die Unterscheidung zwischen vorher und nachher den vom Verbreitungsbeginn unabhängigen Eintritt der Strafbarkeit zum Bezugspunkt wählt und so die strafprozessuale Beschlagnahme noch nicht veröffentlichter Schriften wegen des Verdachtes bereits eingetretener Straftaten Nachzensur vor Verbreitungsbeginn heißt 92 . Möglich sind verschiedene Ergebnisse allein im Bereich der nicht strafprozessualen Verbreitungsverhinderung. Diese könnte im Falle des Strafbarkeitseintritts als absoluter Grenze zur Nachzensur zulässig sein, wäre hingegen bei Ausscheidung nur strafprozessualer Verbreitungsverhinderung aus dem Verbot der strafrechtsunabhängig bis zum Verbreitungsbeginn reichenden Vorzensur untersagt. Ebenso richtet sich Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG in der Deutung als Verbot der Gefahrenabwehr entweder selbständig gegen jede Abwehr von Verbreitungsgefahren vor Verbreitungsbeginn ohne Rücksicht auf den Eintritt der Strafbarkeit und hält somit nicht

zuweist, sei es, daß Handeln dieser Organe im Rahmen des Strafverfahrens per definitionem nicht Gefahrenabwehr sein kann. 90 M. Breiibach, U. F. H. Rühl, KJ 88, 206 ff., wenn das Zensurverbot die Prävention im Kommunikationssektor verbietet (a.a.O., S. 207, 208) und die Verbreitungsverhinderungen vor der Veröffentlichung ermöglichenden Beschlagnahmeregelungen der §§ 111 m, n, b StPO i. V. m. § 74 d StGB unberührt läßt (vgl. a.a.O., S. 213); vgl. auch dieselben, NJW 1988, 8 (12 f.); M. Breitbach, D. Deiseroth, ü. Rühl, in: Ridder, Ver-

sammlungsrecht, § 15 Rn. 171. Ähnlich R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 291, 300, nur dann, wenn „Exekutivbehörden" eher materiell zu verstehen und damit auch strafprozessuale Maßnahmen der Polizei im organisatorischen Sinne nicht erfaßt sein sollen. 91 So wohl Peter Lerche, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. II., Sp. 2629. 92

So Ernst Heinitz, Staatsgeheimnis und Pressefreiheit, S. 17; vgl. ferner Hans Lütt-

ger, Felix Kaul, GA 1961, 74 (81); begrifflich auch M Bullinger, in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 146, 151.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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strafprozessuale Verbreitungsverbote vor Veröffentlichung strafrechtsunabhängig für Zensur, oder aber er normiert ein strafrechtsakzessorisches Verbot nur der Abwehr drohender Strafrechtsverletzungen, so daß Verbreitungsverhinderungen nach Beginn der Strafbarkeit - auch als nicht strafprozessuale Gefahrenabwehr - nie mit dem Zensurverbot kollidieren. bb) Ist der Gefahrenabwehrcharakter einer Verbreitungsverhinderung hingegen nicht schon notwendig damit ausgeschlossen, daß sie im Rahmen des Strafverfahrens geregelt und StrafVerfolgungsorganen zur Wahrnehmung aufgegeben ist, bleibt staatsanwaltschaftliche Gefahrenabwehr denkbares Objekt eines Vorzensurverbotes. So etwa, wenn ein rein inhaltliches Verständnis der Gefahrenabwehr alle Maßnahmen einschließt, die ohne den Charakter einer Sanktion für vorwerfbares Verhalten ausschließlich drohenden Störungen vorbeugen wollen, und solche Eingriffe Strafverfolgungsorganen obliegen sollten. Nahe liegt die Frage, ob Zensurkennzeichnungen der unter aa) und bb) behandelten Art nicht letztlich auf den verwendeten Inhaltsmaßstab abstellen und so eher der Familie der materiellen Zensurbeschreibungen zuzurechnen sind. Die Doppelbedeutung der Strafrechtsnormen als Bestimmung der Strafbarkeit und in der öffentlichen Sicherheit enthaltenes Schutzgut der Gefahrenabwehr führt dazu, daß Fälle eines möglichen strafrechtlichen Einschreitens vor Verbreitungsbeginn - i n erster Linie einziehungssichernde Beschlagnahmen nach §§ 74 d StGB i. V. m. §§ 111 b , m , η StPO- unter dem Gesichtspunkt drohender weiterer strafbarer Handlungen regelmäßig auch von Befugnisnormen der Gefahrenabwehr erfaßt werden 93 . In diesem Bereich kann die Entscheidung über die Zuordnung eines Äußerungsverbotes nicht auf Unterschieden der Maßstäbe beruhen. Tatsächlich folgt die Klassifikation Merkmalen, denen der konkrete Inhaltsmaßstab nicht bekannt sein muß, wie der organisatorischen Trennung oder einer Widmung der doppelzuständigen Behörde. Diese Kriterien sind ausschlaggebend aber auch dann, wenn im Ergebnis nur eine polizeirechtliche oder eine strafrechtliche Ermächtigung als Grundlage der Verbreitungsverhinderung in Betracht kommt. Immer beantwortet sich die Zensurfrage ohne Rücksicht auf den Inhalt der betroffenen Äußerung und den verwendeten Maßstab. Nicht gesagt ist damit, daß nicht Maßstäbe der zur Zensur fähigen Gefahrenabwehr und der zensurfreien Strafverfolgung jeweils typische Eigenheiten aufweisen mögen.

93

Unerheblich ist hier, ob und inwieweit einfache Gesetze, seien es Landespressegesetze oder die Strafprozeßordnung, die Ermächtigungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausschließen.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle 5. „ Allgemeine " Verbote

Friedrich Giese fragte unter dem Lichtspielgesetz v. 12.05.1920 94 , das die Zensur von Filmen unter weitgehendem95 Ausschluß der Ortspolizei regelte, ob den örtlichen Behörden nicht zensurelle Befugnisse zur Bekämpfung inhaltlicher Gefahren von Filmaufführungen verblieben 96 . Da er eine Beschränkung des Gesetzes auf die Regelung zensureller Maßnahmen annahm 97 , kam es auf die Unterscheidung andersartiger Eingriffe an, die letztlich in der Reichweite des im Einzelfall ausgesprochenen Aufführungsverbotes zu finden sei. Danach sollten „allgemeine, zeitlich unbegrenzte Verbote [...] auf eine Zensurübung hinauskommen" 98 und mit dem - im Fall der Genehmigungsversagung ebenso allgemein wirkenden - Erlaubnisvorbehalt als Zensur abschließend vom Lichtspielgesetz behandelt sein, während „Aufführungsverbote" für eine oder mehrere bestimmte Vorführungen oder einen bestimmten Zeitraum keine Zensur bedeuteten und so weiterhin vor Ort zur Verfugung standen 99 . Da Giese allerdings die „Allgemeinheit" letztlich doch nicht als hinreichendes Zensurmerkmal genügen ließ, indem mit dem Maßstab „Verhütung von Straftaten" auch unbegrenzte Verbote zulässig sein sollten 100 , vertrat er im Ergebnis kein formelles, sondern ein formell-materielles Zensurverständnis. Wohl ohne Rücksicht auf den Kontrollmaßstab und damit formell unterschied hingegen Friedrich Schack für das Theater zwischen zensureilen „allgemeinen" und zulässigen begrenzten „Aufführungsverboten" 101 .

94

RGBl. I, 953. Ausgenommen von der Frage nach der Verdrängung der polizeilichen Generalklausel durch die reichsrechtliche Regelung blieben lediglich „Bildstreifen über Tagesereignisse" und solche, „die lediglich Landschaften darstellen", da ihre Zulassung gemäß § 6 des Lichtspielgesetzes ohnehin der Ortspolizei oblag. Gleiches galt für eine subsidiäre Kompetenz zur Zensur der „Reklame". 96 UFITA 5 (1932), 8 (24 ff.). 97 Ob und inwieweit das Lichtspielgesetz v. 12.05.1920 die nicht zensurelle Abwehr von Inhaltsgefahren ausschloß, war umstritten. Weitere Nachweise für die von F. Giese, UFITA 5 (1932) 8, (14 ff, 23 f.), vertretene Sicht einer bloßen Zensurregelung ebenso wie für die verschiedenen Gegenansichten bei demselben, UFITA 5 (1932), 8 (14 Fn. 31). 98 UFITA 5 (1932), 8 (24). 99 UFITA 5 (1932), 8 (25 f.). Giese scheint sich selbst seiner Gleichsetzung von allgemeinem Verbot und Zensur nicht ganz sicher, wenn er, a. a. O., S. 25 Fn. 68, die Frage für „noch wenig geklärt" hält. 100 UFITA 5 (1932), 8 (25 Fn. 69 a. E.). 101 UFITA 8 (1935), 58 (70 ff., 75, 80 f.) 95

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle 6. „ Ausstrahlungswirkungen

63

" des Zensurverbotes

Nicht mehr um Zensurdefmitionen, wohl aber um formale Aussagen handelt es sich, wenn Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG vereinzelt „Ausstrahlungswirkungen" entnommen werden, die nicht zensureller Inhaltskontrolle Grenzen setzen. So sah das Sondervotum zur Filmeinfuhrkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 102 seine Bedenken gegen das Verbot der Einfuhr verfassungsfeindlicher Filme dadurch verstärkt, daß das Verfahren zur Durchsetzung des Verbotes mit seiner Pflicht zur Vorlage der Filme innerhalb von einer Woche nach Einfuhr „einer Vorzensur jedenfalls nahekommende Wirkungen" 103 habe. Ebenfalls über ein Verbot der als zensurell erkannten Kontrolle hinaus wirkt Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG, wenn er den Sofortvollzug administrativer Inhaltsverbote in aller Regel für solche Äußerungen verhindern soll, die in elektronischen Medien über einen Zeitraum hinweg abrufbar angeboten werden. 104 M. Bullinger läßt zwar nicht unmittelbar das Zensurverbot, wohl aber die Pressefreiheit auf zensurähnliche Maßnahmen ausstrahlen 105 und erreicht so ebenfalls formale Aussagen nicht nur zur Zensur. Alle formal bestimmten Zensurauffassungen halten verschiedene Eigenschaften möglicher Durchsetzung beliebiger Inhaltsmaßstäbe für zensurwesentlich: Verbreitungsverhinderung im Wege des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt, Planmäßigkeit der Kontrolle, vollständige oder in bestimmter Weise organisierte vollständige Verbreitungsverhinderung, die unbegrenzte Dauer des Äußerungsverbotes. Soweit Zensur nicht mit dem Erlaubnisvorbehalt gleichgesetzt wird, gilt dieser doch immer als ein Zensurfall und dürfte damit Träger auch aller über ihn hinausgreifenden Zensurqualifikationen sein sollen. Jedenfalls besteht Konsens über das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt als zensurelles Minimum und lautet die Frage, ob weitere Eingriffe, sei es vor oder nach Verbreitungsbeginn, erfaßt werden.

II. Zensur als Maßstab der Inhaltskontrolle (materielle Zensurbegriffe) Vor den erst seit Ende der 60er Jahre entwickelten formellen Versuchen, den Zensurbegriff über den Erlaubnisvorbehalt hinaus auszudehnen106, gab es zu

102

BVerfGE 33, 52 (78 ff, Richterin v. Brünneck u. Richter Simon). BVerfGE 33, 52, 78 (90). 104 Κ. H. Ladeur, NJW 1986, 2748 ff.; Christoph Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2Rn. 751. 105 In: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 160. 106 Oben, S. 56 ff., I. 2. bis 4. Soweit ersichtlich, schlug vorher nur Friedrich Schack für den Bereich des Theaters eine maßstabsunabhängige Erweiterung des Zensurverbo103

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG ebenso wie schon zu Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV Interpretationen, die Zensur nicht nur in einem maßstabsunabhängigen Vorgehen, sondern gerade auch in bestimmten Maßstäben für die Bewertung des Inhaltes kontrollierter Äußerungen sahen. Zwei Grundtypen materieller Ansätze lassen sich unterscheiden. Der eine beschreibt Zensur als einen vollständigen Inhaltsmaßstab, der aus sich heraus die Zensurfrage in jedem konkreten Fall zu beantworten vermag. So, wenn Zensur jede Äußerungshinderung sein soll, die nicht der Meinungs107 freiheit gleichrangige Rechtsgüter schützt oder die den Maßstab der politischen, sittlichen oder religiösen Vorstellungen herrschender Gruppen anlegt, soweit es sich nicht um verfassungsrechtliches Allgemeingut handelt 108 . Wird eine Äußerung wegen ihres Inhaltes untersagt, kann ohne weiteres überprüft werden, ob mit dem verbotenen Maßstab der Zensur vorgegangen wurde. Anders ist die Lage, wenn der zensurelle Maßstab durch eine bestimmte Relation zu anderweitigen Inhaltsverboten gekennzeichnet ist. So sieht K. Rothenbücher Zensur im Sinne d. Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV in allen polizeilichen inhaltsbezogenen Äußerungsverboten, wenn sie nicht unmittelbar drohende strafbare Handlungen, insbesondere eine unmittelbar drohende strafbare Äußerung verhindern 109 . Ergeht nun ein konkretes Verbot, genügt es nicht, dieses unter Zuhilfenahme der Zensurdefinition der „nicht hinreichenden Gefahr strafbarer Inhalte" 110 und der im Verbotszeitpunkt bekannten Inhaltsmerkmale der fraglites auf „allgemeine", d. h. unbegrenzte Aufführungsverbote vor; vgl. soeben S. 62 m. N. inFn. 101. 107 J. Noltenius, S. 107, 141 f., vgl. dazu oben, S. 46 f. (I., 1., b), aa)). 108 Η. v. Hartlieb, in: Selbstkontrolle, S. 16 f.; ders. Grundgesetz, Filmzensur und Selbstkontrolle, S. 36 f.; ähnlich Helmut Reisnecker, S. 240 f., S. 241 Fn. 1. 109 Die Verhinderung unmittelbar drohender Handlungen erfaßt außerdem den Fall, daß die nicht strafbare Äußerung voraussichtlich Dritte unmittelbar zu Straftaten bewegen wird und die Voraussetzungen des polizeilichen Notstands ein Vorgehen gegen den sich Äußernden rechtfertigen; VVDStRL 4 (1928), 5 (24 f.). Ob tatsächlich nur die Gefahr unmittelbarer Verletzung von Strafgesetzen nicht zensureller Maßstab sein soll, bleibt zweifelhaft, da als Beispiel für die Notstandsvariante auch Störungen der öffentlichen Ordnung erwähnt werden (a.a.O., S. 25) und Rothenbücher zunächst, FG für F. Fleiner, 1927, S. 211 (228), auch Verstöße gegen nicht strafbewehrte Rechtssätze hatte genügen lassen. 110 Diese Zensur als das Verbot mit dem Maßstab einer zu geringen Wahrscheinlichkeit der Verletzung anderer Inhaltsverbote darf nicht mit der Zensur als der Gefahrenabwehr zuzuordnende Verbreitungsverhinderung verwechselt werden (oben, S. 59 ff, I. 4. b). Während es der Zensur als Gefahrenabwehr auf den Maßstab der Kontrolle inklusive der Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit bestimmter Inhalte nicht ankommt, die Zuordnung ohne Kenntnis des konkret bewerteten Erklärungszeichenmaterials und seiner Bewertung erfolgt, hängt Zensur als Verbot unterhalb der hinreichenden Gefahr bestimmter Inhalte von dem konkreten Maßstab sowie seiner Anwendung auf die tatsächlich bekannten Inhaltselemente ab. Hier liegt ein materielles Verständnis vor, weil der gefahrenabwehrende Eingriff (nur) im Falle der Verwendung eines Maßstabes (hin-

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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chen Äußerung zu beurteilen, sondern müssen darüber hinaus die aktuell geltenden strafbewehrten Äußerungsverbote bekannt sein. Droht etwa unmittelbar eine heftige Religionskritik und ist diese nicht strafbar, handelt es sich um Zensur, existiert ein entsprechendes Strafgesetz, erweist sich das Verbot als zulässig. Der Zensurmaßstab „keine unmittelbare Gefahr strafrechtswidriger Inhalte" enthält eine dynamische Verweisung auf die jeweiligen (nicht) strafbaren Inhalte. Die Relativität des als Zensur verbotenen Inhaltskontrollmaßstabs und seine Abhängigkeit von der Reichweite der Inhaltsschranken sagt noch nichts darüber aus, inwieweit die Inhaltsschranken zensurverbotsunabhängigen grundrechtlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Verlangt das Grundrecht nur ein im übrigen inhaltlich beliebiges Gesetz 111 , stehen die letztlich als Zensur verbotenen Maßstäbe tatsächlich weitgehend im gesetzgeberischen Ermessen. Es kann aber auch über zensurunabhängige Anforderungen an inhaltseinschränkende Gesetze eine verfassungsrechliche Steuerung stattfinden 112 , die reichende Wahrscheinlichkeit der Verletzung bestimmter Inhaltsmaßstäbe) zulässig, mit anderen Maßstäben aber Zensur ist, dort eine formale Begrifflichkeit, weil jede Gefahrenabwehr mit gleich welchem Maßstab Zensur bedeutet. 111 So verstand die zu Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV zumindest anfangs wohl vorherrschende Meinung die „allgemeinen Gesetze" als Schranke nur der Verwaltung, nicht der Gesetzgebung, vgl. Friedrich Kitzinger,

Reichspreßgesetz, 1920, S. 203; G. Anschütz,

Reichsverfassung, einschließlich der 2. Bearbeitung von 1926, letzte Drucklegung in der 9. Aufl. 1929, Art. 118 Anm. 2; ähnlich, jedoch dem Attribut schon nicht mehr jede Bedeutung absprechend Richard Thoma, in: FG PrOVG, 1925, S. 183 (213 f.). 112 Von der Bemerkung Thomas abgesehen (soeben Fn. 111), postulierten eine Bindung des Gesetzgebers durch die Klausel der „allgemeinen Gesetze" in Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV zuerst Κ Häntzschel, AöR 49 (1926), 228 (232, 233); ders., Reichspreßgesetz, 1927, S. 22, und ihm folgend Karl Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (18 ff.), in Form des Verbotes von Sonderrecht gegen Meinungsäußerungen. Im Verhältnis dazu ließ Rudolf Smend, VVDStRL 4 (1928), 44 (51 f.), die von ihm angestrebte Anerkennung der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers für Art. 118 WRV - auch nach seiner eigenen Einschätzung (vgl. VVDStRL 4 (1928), 52) - weniger streng ausfallen, wenn „allgemein" alle der Meinungsfreiheit vorrangige Rechtsgüter schützenden Gesetze sein sollten (ebenso Anschütz, Reichsverfassung, Art. 118, 14. Aufl., S. 554 f., Fn. 4). Wohl bereits auf der Staatsrechtslehrertagung von 1927 (vgl. VVDStRL 4 (1928), 75) und ab der 3. Bearbeitung seines Verfassungskommentars (zuerst 10. Aufl. 1929, Art. 118 Anm. 2 f.) Schloß Anschütz sich der Auffassung Häntzschels und Rothenbüchers an. Wenn er, VVDStRL 4 (1928), 75, das Konzept Rothenbüchers „nicht ganz neu" nannte, könnte darin - wenn nicht der Aufsatz von Häntzschel gemeint sein sollte - ein Hinweis auf seine eigene, den Gesetzgeber bindende Interpretation der „allgemeinen Strafgesetze" i. S. des Art. 28 der Preußischen Verfassung gesehen werden (vgl. G. Anschütz, Verfassungs-Urkunde, 1912, S. 512). Die Auslegung wollte er allerdings auf den nicht nur strafbewehrte, sondern alle Schranken erfassenden Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV zumindest bis zur Staatsrechtslehrertagung von 1927 nicht erstrecken und nutzte sie im Kommentar der Reichsverfassung, Art. 118, vor Anm. 1, lediglich als Beleg für das „früher im Reiche und in Preußen geltende Recht". Schon deshalb verwundert es entgegen der Einschätzung von Ch. Starck, in: FS für W. Weber, 189 (206 Fn. 79), nicht, 5 Fiedler

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

einer entsprechenden vollständigen Definition materieller Zensur gleich kommt. So ist das Zensurverbot des Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV in der Interpretation Rothenbüchers als Schutz gegen „Äußerungsverbote ohne unmittelbare Strafbarkeitsgefahr" nur für nicht-meinende Äußerungen erforderlich. Denn Meinungen im Sinne d. Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV gelangen zu einem ähnlichen Schutz schon dadurch, daß sie nur von „allgemeinen" Gesetzen eingeschränkt werden können. Und da der soeben beschriebene Zensurmaßstab nicht „allgemein", sondern unzulässiges Sonderrecht wäre 1 1 3 , komplettieren hier die zensurunabhängigen Anforderungen an Inhaltsverbote den materiellen Zensurmaßstab nicht nur, sondern konkurrieren mit ihm; Zensur wird - im Geltungsbereich der Klausel des Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV - zu einem Sonderfall unzulässigen Sonderrechts 114 . Im Anschluß an Rothenbücher erkannten manche Autoren in Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV das Verbot, die Verbreitung von Geistesprodukten vor oder nach der ersten Äußerung mit unzulässigen, eben zensureilen Inhaltsmaßstäben zu untersagen, ohne daß allerdings immer gleichermaßen klar wurde, inwieweit dieses Zensurverständnis gesetzliche Inhaltsschranken ungeprüft übernehmen sollte und wie das Verhältnis von Art. 118 Abs. 2 S. 1 zu Abs. 1 S. 1 WRV zu verstehen sei 1 1 5 . Im Gegensatz dazu erheben die materiellen Interpretationen des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG den Anspruch, die jeweils als Zensur geächteten Maßstäbe der Verfassung zu entnehmen beziehungsweise nur verfassungsrechtlich sanktionierte Maßstäbe als nicht zensureil anzuerkennen 116 .

III. Zensur als bestimmter Maßstab in bestimmtem Verfahren (formell-materielles Verständnis) Verfahren und Maßstab der Inhaltskontrolle werden kombiniert, wenn etwa der Erlaubnisvorbehalt wohl mit allen sonstigen, nicht aber mit dem Maßstab

wenn Anschütz in den Anmerkungen zu Art. 118 WRV auch noch nach seinem Meinungsumschwung Aspekte der Entstehungsgeschichte erwähnt, die für die von ihm selbst zuvor vertretene Bedeutungslosigkeit der Klausel sprechen. 113 VVDStRL 4 (1928), 6 (25). 114 Konsequent hält Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6 (25), das Zensurverbot als gesonderte Normierung des Verbotes bestimmter sonderrechtlicher Maßnahmen im Bereich der bereits über Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV geschützten Meinungen für nicht erforderlich. Eigenständige Bedeutung verbleibt ihm allerdings angesichts Rothenbüchers engem, auf „Stellungnahmen grundsätzlicher Art" beschränkten Meinungsverständnis (VVDStRL 4 (1928), 6 [16]), für alle sonstigen Äußerungen „irgendwie geistigen oder künstlerischen Inhalts" (a. a. O., S. 25). 115 Vgl. Paul Dienstag, Zensurrecht, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, VII. Band, S. 664; ferner Zimmereimer, S. 84 ff., 88 ff. 116 S. oben, S. 64 bei und mit Fn. 107, 108.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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„evidente und schwere Verletzung von Strafgesetzen" 117 Zensur bedeutet. Formell-materiell wird eine solche Abgrenzung genannt, weil ein Verfahren (Erlaubnisvorbehalt) mit einem Maßstab (nicht evidente und schwere Strafrechtswidrigkeit) der Inhaltskontrolle zusammentreffen müssen, damit Zensur vorliegt. Gegenüber formellen Zensurverbotsinterpretationen handelt es sich strukturell immer um eine Erweiterung der Möglichkeiten von Inhaltskontrolle; mit wenigstens einem Maßstab ist etwa der ansonsten untersagte Erlaubnisvorbehalt zulässig. Der Maßstab als conditio sine qua non läßt jedes formell-materielle Verständnis notwendigerweise an einer Eigenschaft materieller Definitionen teilhaben: Die Feststellung, ob eine Maßnahme dem Zensurverbot unterfällt, verlangt eine Untersuchung und Bewertung der verwendeten Inhaltsmaßstäbe. Formell-materiell sind Aussagen nur, wenn das Verfahrenselement die Anwendung eines ansonsten durchsetzbaren Maßstabs Zensur werden läßt; gilt das Verbot des Verfahrens lediglich für ohnehin unzulässige Maßstäbe, reduziert sich Zensur auf eine Zusatzbezeichnung für ein spezielles Vorgehen der in jedem Verfahren verbotenen Inhaltskontrolle und wird als Verbot des Verfahrens ebenso überflüssig, wie Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV für Rothenbücher im Bereich der gegen zensurelle Kontrolle schon über Abs. 1 S. 1 der Vorschrift geschützten Meinungsäußerungen in formeller und materieller Hinsicht leerläuft 1 1 8 . Wenn also Zensur im Sinne eines Verfahrens der Inhaltskontrolle, etwa des Erlaubnisvorbehaltes, mit allen oder beliebigen verfassungsrechtlich zulässigen Inhaltsschranken keine oder erlaubte Zensur sein soll, gibt es keine Kontrolle mehr, deren Zulässigkeit über das Verfahren bestimmt würde; fraglich bleibt dann nur noch, ob die Durchsetzung ohnehin unzulässiger Maßstäbe außerdem Zensur zu nennen ist. Trotz der irreführenden, ζ. B. den Erlaubnisvorbehalt mitführenden Beschreibung erweist sich das Verfahren für die Möglichkeiten der Inhaltskontrolle als irrelevant und kann neben besagter Benennungsfunktion, wenn nicht der zulässige Maßstab vollständig außerhalb des

117 Leichte Vereinfachung des Maßstabs, mit dem die inhaltliche Vorabkontrolle von Rundfunkwahlwerbung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (E 47, 198, 233 ff.) zulässig ist. Das Gericht verlangt „evident[e]" und „nicht leicht wieg[ende]" (a.a.O., S. 233; ebenso E 69, 257 [269]) bzw. evidente und „im konkreten Fall [...] ins Gewicht fallende" (a.a.O., S. 234), schließlich auch „evidente und ins Gewicht fallende" (a.a.O., 238; ebenso E 67, 149 [152]) Verletzungen. Ob sich „nicht leicht" bzw. „ins Gewicht fallend" zu „leicht" wie „schwer" zu „leicht" verhalten, zwischen „schwer" und „leicht" eine Zwischenstufe aufmachen oder gar, bei einem nicht auf alle Strafrechtsverletzungen bezogenen, eher allgemein gehaltenen Bezugsrahmen, dem jede, zumal „evidente" Strafrechtswidrigkeit „nicht leicht" wiegt, überflüssig sind, kann hier dahinstehen. 118 S. oben, S. 66 vor und mit Fn. 114.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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Zensurverbotes bestimmt wird, nur noch die materielle Komponente Bedeutung erlangen. So befand das Bundessozialgericht zum Erlaubnisvorbehalt des § 37 Abs. 2 S. 3 AVAVG, der die Veröffentlichung von Stellenanzeigen für das Ausland von einer Genehmigung abhängig machte, unter Zensur verstehe man, „daß geistige Kundgebungen irgendwelcher Art von der vorherigen behördlichen Prüfung oder Erlaubnis aus politischen, ideologischen, kulturellen oder weltanschaulichen Gründen abhängig gemacht werden, nicht dagegen eine zulässige Überwachung der Presse gemäß den allgemeinen Gesetzen" 119 . Obwohl der Erlaubnisvorbehalt 120 ausdrücklich nur auf der Seite unzulässiger Zensur auftaucht, findet er sich doch notwendigerweise auch in der „zulässigen Überwachung", die, wenn die zensurverbotsunabhängigen Anforderungen der allgemeinen Gesetze eingehalten sind, eben dieses Kontrollverfahren mitumfaßt. Auch wenn das Gericht nur über ein einzelnes, seiner Ansicht nach zulässiges gesetzliches Äußerungsverbot 121 urteilen mußte, ist nach dieser Definition nur schwer vorstellbar, daß irgendein den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 GG genügender Inhaltsmaßstab nicht mit einem Erlaubnisvorbehalt zulässigerweise durchgesetzt werden könnte. Zensur sind ausschließlich die Erlaubnisvorbehalte, die, wie § 37 Abs. 3 S. 3 A V A V G nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, mit nicht allgemeinen, verfassungswidrigen Inhaltsverboten gekoppelt sind. In dieser Lesart ist das Zensurverbot des Bundessozialgerichtes, wenn es neben den allgemeinen Gesetzen überhaupt eigenständig Inhaltsmaßstäbe ächten soll, rein materiell, ansonsten, von der Benennungsfunktion abgesehen, be-

119

BSGE 20, 169 (178); ebenso, vom Bundessozialgericht zitiert, v. Mangoldt/ Klein, Art. 5, Anm. VIII 2., S. 247, die sich allerdings, a. a. O., auch und widersprüchlich auf Häntzschel und die formelle Deutung des Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV berufen. Neuerdings meint M. Bullinger, der Erlaubnisvorbehalt für Stellenanzeigen im Ausland sei keine Inhaltskontrolle über die Anzeigen gewesen, da die Bundesanstalt prüfen sollte, „ob für die Veröffentlichung einer Stellenanzeige als solcher nach Ermessen eine Ausnahme vom staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopol gewährt werden konnte" (in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 134). Freilich las die Bundesanstalt die Stellenangebote und versagte etwa ihre Zustimmung zur Suche von Schneiderinnen, einer Friseuse und einem Schreiner, weil es sich um Mangelberufe handelte (BVerfGE 21, 271 [274]). Das ist natürlich ebenso eine Kontrolle des Inhaltes der Anzeigen, wie wenn ein Ministerium prüft, ob für die Veröffentlichung einer Anzeige über staatliche Vorgänge nach Ermessen eine Ausnahme von einem staatlichen Verlautbarungsmonopol gewährt werden kann. Und das Erfordernis eines Inhaltsmaßstabes mit bestimmter politischer oder weltanschaulicher Tendenz, also ein materielles Zensurverbotsverständnis ist auch M. Bullinger fremd (a. a. O., Rn. 130); wie hier M Löffler, Presserecht I, § 1 LPG Rn. 145, 156. 120 „Abhängigmachen von behördlicher Prüfung oder Erlaubnis" wird dem Erlaubnisvorbehalt gleichgesetzt. 121 Das Bundesverfassungsgericht (E 21, 271 [280 ff.]) erklärte das materielle Werbeverbot für unvereinbar mit Art. 5 Abs. 2 GG und mußte so zur Zensurfrage keine Stellung beziehen.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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deutungslos. Hat das zensurelle Verfahren der Inhaltskontrolle in einer aus Verfahren und Maßstab kombinierten Zensurdefinition nur die Funktion der Benennung der wegen ihres Inhaltsmaßstabs ohnehin unzulässigen Kontrolle, sollte besser nicht oder nur von einem scheinbar formell-materiellen Verständnis gesprochen werden. Das gilt für alle Aussagen, nach denen der Erlaubnisvorbehalt oder das sonst für zensurell erachtete Verfahren („die Vorzensur") keine verbotene Zensur sind, sobald sie mit den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG arbeiten, bzw. nach denen diese Verfahren nur dann Zensur im Sinne des Grundgesetzes bedeuten, wenn sie nicht über die Schrankennorm gerechtfertigte Maßstäbe durchsetzen. Jedenfalls muß der Unterschied zu der Möglichkeit eines „echten" formell-materiellen Zensurverständnisses bewußt bleiben. Wichtig ist zu sehen, daß die Zensurbegrifflichkeit nur einen von drei konstruktiven Wegen weist, weitgehend gleiche formell-materielle oder auch rein materielle Aussagen der Gesamtnorm des Zensurverbotes zu bilden. Praktisch identische Ergebnisse können durch entsprechende Bestimmungen des Begriffes „Zensur" in Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG, des Anwendungsbereiches des Verbotes oder schließlich durch Möglichkeiten einer Einschränkung des Verbotes (Art. 5 Abs. 2 GG) erreicht werden:

7. Formell-materieller

Zensurbegriff

Für einen formell-materiellen

Zensurbegriff ist Zensur im Sinne d. Verbotes 122 des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nur mit bestimmten Inhaltsmaßstäben oder - gleichbedeutend - ein bestimmter Inhaltsmaßstab nur im Verfahren des Erlaubnisvorbehaltes. Immer bleiben die zensurfähigen Inhaltsschranken außerhalb des Erlaubnisvorbehaltes durchsetzbar, während weitere Maßstäbe auch im zensureilen Verfahren keine Zensur bedeuten. Sind hingegen, wie für das Bundessozialgericht 123 , lediglich ohnehin und also auch in sonstigen Verfahren unzulässige Maßstäbe zensurfähig, läuft dies auf ein rein materielles Verständnis der Zulässigkeit von Inhaltskontrolle hinaus und sollte die nur scheinbar an formelle Traditionen (Häntzschel u. a.) anknüpfende Verfahrenskomponente als überflüssig gestrichen werden.

122 123

Oder dieses und weitere Verfahrensgestaltungen. Oben, Fn. 119.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle 2. Formeller Zensurbegriff mit unbeschränkbarem Verbot in materiell bestimmtem Anwendungsbereich

Es kann auch ein formeller Zensurbegriff mit einem unbeschränkbaren Verbot in einem inhaltsabhängigen Anwendungsbereich konstruiert werden: Zensur und ihr Verbot erfassen formell jeden Erlaubnis vorbehält, doch findet das unbeschränkte Verbot - vergleichbar mit und eventuell parallel zu engen Tatbestandsfassungen grundrechtlicher Schutzbereiche- „von vornherein" auf bestimmte Äußerungsinhalte keine Anwendung. Soweit der Anwendungsausschluß an inhaltlichen Kriterien orientiert ist und die Anwendbarkeit des zensurellen Verfahrens auf die jeweiligen Äußerungen bedeutet, können entsprechend materielle Ergebnisse erzielt werden.

3. Formeller Zensurbegriff

mit materiell beschränkbarem Verbot

Die materielle Komponente erscheint bei einer formellen, jeden inhaltsbezogenen Erlaubnisvorbehalt Zensur im Sinne d. Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nennenden Begrifflichkeit erst in der beschränkten Reichweite des Verbotes, das Zensur nur mit bestimmten, nicht mit allen Inhaltsmaßstäben bzw. nicht gegenüber allen Äußerungsinhalten untersagt. So kann etwa ein Erlaubnisvorbehalt mit dem Maßstab „Strafbarkeit" gleichermaßen zulässig sein, wenn die entsprechende Kontrolle keine Zensur ist (1.), wenn strafbare Äußerungen den Schutz des Zensurverbotes nicht in Anspruch nehmen können (2.) oder wenn Strafgesetze das Zensurverbot einzuschränken vermögen (3.). Vorschnell wäre es allerdings, von der - jedenfalls hinsichtlich der Varianten 1. und 3. - recht sicher vermuteten Möglichkeit der Konstruktion gleicher Ergebnisse auf die Gleichgültigkeit der Anschauungen in dem Sinne zu schließen, daß sie in ihrer Ausgestaltung und Anwendung gleiche Ergebnisse bedingen. Sie zeigen nur, daß ein „materieller Einschlag" nicht notwendig an der Definition des Zensurbegriffes hängt, durchaus auch mit einer zunächst formellen Begriffsbildung verbunden sein kann und erst die auf Sachverhalte anwendungsfähige „Gesamtnorm" des ZensurVerbotes endgültig Auskunft gibt.

IV. Exkurs: Formverbote durch Inhaltskontrolle und formale Äußerungselemente als Erklärungszeichen Wenn nur Inhaltskontrolle Zensur sein kann, muß der Inhalt von sonstigen Äußerungskomponenten abgegrenzt werden. Dabei wird „Inhalt" für das Recht zum Homonym. Denn bei der Frage, ob der Inhalt und nicht nur die Form einer Äußerung kontrolliert wird bzw. Maßstab eines Kontrollverfahrens ist, kommt

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es nicht darauf an, welche Elemente der Äußerung bei der Prüfung der Zulässigkeit von Äußerungsschranken im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 GG als Inhalt bezeichnet werden. Um Inhaltskontrolle handelt es sich immer schon dann, wenn die Erklärungszeichen zur Kenntnis genommen, das heißt die Buchstaben gelesen, die Bilder betrachtet werden und ihre mögliche kommunikative Wirkung Bedeutung für die Kontrolle erlangt (kontrollverfahrensbezogener Inhaltsbegriff). In diesem Sinne ist die Durchsicht einer Schrift auf beleidigende Formulierungen Inhaltskontrolle. Entsprechend eng meint Form hier nur ohne Kenntnis der konkreten Erklärungszeichen nennbare Umstände. Das sind sonstige Äußerungsmerkmale wie Medium und weitere Verbreitungsstruktur einschließlich der Informationsträgergestalt, aber auch Empfanger und Urheber sowie Äußerungszeit, die für sich genommen typischerweise keinen sinnvollen gedanklichen Inhalt erkennen lassen. Demgegenüber kann das Verbot bestimmter Erklärungszeichen und also eines Inhaltes im kontrollverfahrensbezogenen Sinn davon sprechen, auch ohne Verwendung der - im Wege der Inhaltskontrolle festgestellten - konkret gewählten Zeichen (Worte) bliebe die Äußerung des gedanklichen Inhaltes möglich, womit das Verbot dieser Zeichenkombination nur noch die Form betrifft (verbotsbezogener Inhaltsbegriff). So sieht das Bundesverfassungsgericht im Verbot nur der wörtlichen und nicht der sinngemäßen Bezeichnung eines Magazins als „rechtsradikales Hetzblatt" das Verbot nur einer Form einer nicht verbotenen, auch anders formulierbaren Meinung. 124 Tatsächlich aber beeinflußt jede Änderung der Erklärungszeichen auch den Inhalt der Äußerung, verstanden als dasjenige, was der Erklärende dem Empfänger zu verstehen anbietet, was von diesem geistig aufgenommen werden und was das Recht an Inhaltsschranken messen kann. Anders ausgedrückt: Geistige Inhalte sind nur über Erklärungszeichen mitteilbar, und verschiedene Zeichen erklären Unterschiedliches 125 . Die Frage wäre dann richtig dahingehend zu stellen, ob der

124 E 42, 143 (149 f.); vgl. E 61, 1 (6). Zustimmend zu der Unterscheidung und zu geringeren Anforderungen an die Beschränkung der Form W. Schmidt, NJW 1980, 2066 (2067); ähnlich v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 134; vgl. ferner Georg Nolte, S. 69 ff. In der Sache ebenso schon K. Häntzschel, AöR 49 (1926), 228 (233), wenn allgemeine Gesetze i. S. d. Art. 118 Abs. 1 WRV nicht der „Unterdrückung des gedanklichen Inhaltes der Äußerung" dienen dürfen und „die allgemeinen Strafgesetze" auch da, „wo das Recht der freien Meinungsäußerung scheinbar in erster Linie durch sie beschränkt wird", kein unzulässiges Sonderrecht bedeuten, weil sie nur die beleidigende, aufreizende etc. „Form" betreffen, „in der eine Meinungsäußerung beliebigen Inhaltes erfolgt". Weniger deutlich zwischen Inhalt und Form unterscheidend ders., HbDStR II, S. 661 Fn. 24 a. E. 125 Die Gleichsetzung von Erklärungszeichen und Außerungsinhalt heißt, daß Zeichen all die benennbaren und in dem jeweiligen rechtlichen Verfahren zu benennenden, letztlich benannten Umstände sind, die das Verfahren bei der Feststellung des Aussage-

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Unterschied des Inhaltes zwischen Zeichenkombinationen so gering ist, daß auch die Unterbindung der Auswahlfreiheit nicht schwer wiegt oder wenigstens weitaus weniger schwer als der Nachteil für das konkurrierende Rechtsgut im Falle der Äußerung des untersagten Inhaltes. Den so geringen inhaltlichen Unterschied in die andere Qualität des „Formalen" umschlagen zu lassen, entspricht der Verwendung dieses Begriffes im Sinne von „weniger wichtig", „nicht entscheidend". Daß das Bundesverfassungsgericht tatsächlich nicht verschiedene Formen eines identischen geistigen Inhaltes, sondern verschiedene Inhalte unterschiedlicher geistiger Wirkung als gleichwertig ansieht, ergibt sich auch schon daraus, daß nur eine der beiden „Formen" die - ohne Zweifel geistige - beleidigende Wirkung hat. Werden dennoch inhalts- und formbezogene Beschränkungen unterschieden 126 , handelt es sich dessenungeachtet für die Frage nach der Qualifikation des Kontrollverfahrens immer um inhaltliche Maßstäbe. Kann so der Begriff des Äußerungsinhaltes bei der Frage nach dem Gegenstand eines Verbotes enger sein als bei derjenigen nach dem Gegenstand eines Kontrollverfahrens, sind doch andererseits praktisch alle typischerweise inhalts- und inhaltskontrollfernen Äußerungsmerkmale wie Zeit, Ort, Medium, Person etc. nicht daran gehindert, Erklärungszeichen und also inhaltsrelevant zu werden. Bereits im Beispiel der schriftlichen Äußerung, die in der Regel eine relativ einleuchtende Trennung zwischen den Buchstaben als Erklärungszeichen und dem Rest der Schrift als Form zuläßt, kann ein außerhalb der primären Zeichen liegender Umstand wie die Person des Autors oder ein ausgesuchter Veröffentlichungszeitpunkt die entscheidende geistige Botschaft ausmachen. Jenseits des Mediums Druckschrift verschwimmt die dort noch relativ scharfe Trennung zwischen den inhaltsbestimmenden notwendigen Erklärungszeichen und ihrer regelmäßig weniger inhaltsbedeutsamen Form immer sichtbarer. Bedingungen der Äußerung beeinflussen nicht mehr nur die Bedeutung der primären Erklärungszeichen, sondern werden Teil der ohne sie nicht oder nicht richtig verständlichen Erklärung; sie können selbst notwendige Erklärungszeichen sein. Schon das gesprochene Wort hängt in seiner Bedeutung von inhaltes berücksichtigt. Erklärungszeichen sind also spezifische Elemente des im allgemeinen mehr enthaltenden „Sachverhaltes als Aussage" (zum Begriff K. Larenz, S. 278 ff.) und somit letztlich die Worte, die zur Bestimmung des Äußerungsinhaltes, d. h. der mit „Inhalt" überschriebenen weiteren Worte, benutzt werden. Zeichen sind so nicht nur die Worte „Möchten Sie noch etwas?", sondern auch die Beschreibung dessen, was in ihrem Umfeld geschehen ist, wie etwa das, was der so Angesprochene zuvor erhalten hat (Kuchen, Antibiotika, ein Getränk mit ihm unbekanntem Schlafmittelzusatz). 126 Was im Hinblick auf die Darstellung unterschiedlicher Gewichte und damit verbundener Rechtfertigungsmöglichkeiten sinnvoll sein kann, vgl. Pieroth/Schlink Rn. 600.

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Klang, Intonation und wahrnehmbarer Gestik des Sprechenden, aber u. U. auch von Ort und Zeit der Äußerung ab. Bewegte Bilder und Ton kombinierende Medien sind unter Verzicht auf das eine oder andere häufig unverständlich. Das Recht akzeptiert diese Sachgegebenheiten in der Ausgestaltung der Verfahren, die es zur Ermittlung der Inhalte solcher Äußerung vorsieht. Zu erwähnen sind insbesondere der tatsächliche Nachvollzug des jeweils medienspezifischen Empfangs (Anschauen des Videos) und die Berücksichtigung der jewei.. J27 ligen Begebenheiten der Äußerung . Die letztlich in vielen Fällen jedenfalls vor der Durchführung einer Bewertung der Äußerung bestehende Unmöglichkeit, Äußerungselemente den Erklärungszeichen und also dem Inhalt oder der Form zuzuweisen und so auch sicher vor Verfahrensbeginn den Charakter als Inhalts- oder Formkontrolle zu erkennen, hindert den Sinn einer Unterscheidung von Form und Inhalt im verfahrensrechtlichen Kontext nicht, verlangt aber angemessene Berücksichtigung. 3. Abschnitt

Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG als Maßstabsverbot? Angesichts der oben 128 genannten Möglichkeiten, dem Zensurverbot auf verschiedenen Wegen in jeweils variablem Grad äußerungsinhalts- oder maßstabsabhängigen Gehalt beizumessen, kommt die Frage nach der Berechtigung eines materiellen Zensurverständnisses nicht umhin, ihren Gegenstand genauer zu bestimmen. Hier sollen die materiellen Zensur begriffe sowie die ihnen gleichkommenden, dem Verfahren letztlich indifferent begegnenden und so nur scheinbar formell-materiellen Definitionen untersucht werden, also alle das Zensurverbot als „Gesamtnorm" letztendlich materiell begreifenden Deutungsversuche 129 . Währenddessen bleiben Konstruktionen eingeschränkter bzw. eingeschränkt anwendbarer Verbote einer formellen Zensur sowie echte formellmaterielle Zensurbeschreibungen außer Betracht. Damit wird der Unterschiedlichkeit der Strukturen Rechnung getragen, hinter der zudem die möglicherweise auch aussagerelevante Differenz zwischen Regel und Ausnahme vermutet werden darf; dessenungeachtet bleibt die Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten auch an anderem Ort möglich.

127 PrOVG 76, 435 (442): Die erlebte Aufführung eines Theaterstückes ist selbst bei unverändertem Text etwas anderes als seine Lektüre; jede Inszenierung, möglicherweise jede Aufführung im Hinblick auf wechselnde Schauspieler, Gestik, Mimik etc. neu zu bewerten. 128 S. 69 f. 129 Vgl. oben, S. 63 f., S. 67 ff.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Die so begrenzte Frage bedarf noch in weiterer Hinsicht der Präzisierung. Materielle Deutungen werden leicht in einem Sinne verstanden, der mit der Zensur als Inhaltsmaßstab den Erlaubnisvorbehalt wieder erlaubt, solange dieser nur zulässige, nicht zensurelle Inhaltsschranken als Versagungsgrund vorsieht 1 3 0 . Tatsächlich aber verstehen die Vertreter materieller Sichtweisen die inhaltsabhängige Zensur überwiegend als Ergänzung des weiterhin maßstabsunabhängigen, also formell belassenen Verbotes des Erlaubnis Vorbehaltes: Nur zusätzlich und außerhalb dieses immer Zensur bedeutenden Verfahrens soll Inhaltskontrolle mit bestimmten Maßstäben Zensur sein 1 3 1 . Damit entspannt sich der Streit. Statt der Alternative zwischen der Ächtung des Erlaubnisvorbehaltes und seiner Wiederzulassung im Wege einer materiellen Zensurdefinition steht nur noch in Frage, ob das Zensurverbot auch Grenzen für Inhaltsverbote zieht (dazu unten B.).

A. Schutz nur gegen Kontrollmaßstäbe? (Materielles Verständnis des Zensurverbotes) Ist der Erlaubnisvorbehalt nicht nur innerhalb des formellen, sondern sogar bis in das materielle Lager hinein zensurelles Minimum, würde sich die Diskussion eines Verbote mit Erlaubnisvorbehalt zulassenden materiellen Zensurverständnisses praktisch erübrigen, wenn nicht eine solche Auffassung zwar unausgearbeitete, aber doch deutliche Grundlage einiger, auch neuerer Gerichtsentscheidungen wäre 1 3 2 . Hier geht es nicht um die Frage, inwieweit die in 130 Β. Rieder, S. 163, s. a. S. 160, 171, führt gegen Noltenius' materielles Verständnis an, mit ihm sei „eine formelle Zensur jederzeit möglich" (S. 163). Auch Horst v. Hartlieb meint, Handbuch, S. 5 (1. Kap. Rn. 17), der materielle Zensurbegriff ersetze das „strikte Verbot der Vorzensur" durch ihre abwägungsabhängige Zulässigkeit. 131 Deutlich Klaus Wagner, in: Selbstkontrolle, S. 43 f.; Noltenius, S. 106 f., zu ihr noch Β. Rieder, S. 45, aber auch S. 163, 160, 171 (vgl. soeben, Fn. 130); O. Katholnigg, NJW 1963, 892. Die gleiche Einschätzung findet sich bei /. v. Münch, in: v. Münch, Art. 5 Rn. 43, und R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, Art. 5 Rn. 65, wenn sie es für streitig halten, „ob neben der [formellen] Zensur" eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung i. S. des Zensurbegriffes von Noltenius unter das Zensurverbot falle. Für die Weimarer Zeit: Κ Rothenbücher, FG für F. Fleiner, 211 (225 ff.); ders. VVDStRL 4 (1928), 6 (24); Paul Dienstag, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VII, S. 663 (664); a. Α. für Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG wohl H. v. Hartlieb, in: Selbstkontrolle, S. 10 (16 f.). 132 BSGE 20, 169 (178), dazu bereits oben, S. 68 f.; BayVGH, BayVBl. 1983, 54 (55): Das Zensurverbot sei auf inhaltliche Auflagen für Kundgebungen anwendbar, aber nicht verletzt, wenn Äußerungen zu rechtlich verbotenen Themen untersagt würden; VGH Mannheim, NVwZ 1990, 93 (94): Da die Meinungsäußerungsfreiheit Wertungen unabhängig von ihrer „ethischen Qualität" schütze und ein Verstoß gegen eine der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG nicht ersichtlich sei, verstoße die Verweigerung eines Saales für eine religiöse Veranstaltung wegen der Möglichkeit politischer Äußerungen bestimmten Inhaltes gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 und das Zensurverbot. Siehe noch VG Düsseldorf, KJ 88, 216 f., das im Falle des zulässigen Inhaltsmaßstabs allerdings eher

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den Entscheidungen beurteilten Maßnahmen mit Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG vereinbar sind, insbesondere, ob und wie das Zensurverbot Vorträge etc. erfaßt. Von Interesse ist allein die in allen Begründungen wiederkehrende Aussage, die jeweilige Verfügung sei deshalb keine Vorzensur, weil sie zulässige Inhaltsschranken durchsetze, sich gegen inhaltlich rechtswidrige Äußerungen rieh133

te , bzw. verstoße gegen das Vorzensurverbot, weil sie erlaubte Inhalte erfasse und also unzulässige Inhaltsschranken verwende 1 3 4 . Ein solches rein materielles, jeden formellen Schutz verdrängendes Zensurverständnis entkleidet auch einen Erlaubnisvorbehalt für Druckschriften mit den geltenden Äußerungsschranken seines Zensurcharakters. Der Erlaubnisvorbehalt mit beliebigen, gültigen oder rechtswidrigen Inhaltsschranken als Versagungsgrund ist aber gerade der Kern dessen, was Zensur genannt, als solche bekämpft, aufgehoben und schließlich Gegenstand der (verfassungskräftigen) Zensurverbote wurde. Daß die Rechtmäßigkeit - wie auch alle anderen Qualifikationen - der verwendeten Inhaltsmaßstäbe für den Zensurcharakter des Erlaubnisvorbehaltes keine Rolle spielte und spielt, wird weithin und zu Recht wie selbstverständlich angenommen, j a häufig selbstredend vorausgesetzt und nicht einmal erwähnt 1 3 5 . Läßt man sich auf die Frage nach der rechtlichen Qualifikation zensureller Maßstäbe ein, kann zunächst kein Zweifel bestehen, daß in den Jahrhunderten der praktizierten Vorzensur sowohl das Verbot, ohne Genehmigung zu drukvon zulässiger Zensur und so von einer materiellen Einschränkung ihres Verbotes auszugehen scheint, wenn es die Auffassung vertritt, inhaltlich rechtmäßige Äußerungen „dürf[t]en nicht Gegenstand einer Vorzensur sein" (S. 217), bzw. meint, eine Vorzensur finde bei politischen Informationsveranstaltungen „grundsätzlich" nicht statt, doch sei eine andere Beurteilung möglich, wenn mit Bußgeld oder Strafe bedrohte Äußerungen erwartet werden könnten (S. 216). Hingegen im Sinne eines materiellen Verständnisses schon der Zensur wohl auch Rutger von der Horst, ZUM 93, 508 (510), wenn die inhaltliche Kontrolle von Rundfunkwahlwerbespots vor der Ausstrahlung keine Zensur sein soll, weil eine Überprüfung lediglich hinsichtlich der Vereinbarkeit mit allgemeinen, von Art. 5 Abs. 2 GG gedeckten Strafgesetzen stattfinde. Das Bundesverfassungsgericht (E 47, 198 [236 ff.]) gibt eine weniger eindeutige und von von der Horst für seinen unmittelbaren Schluß von der Verfassungsmäßigkeit des Prüfungsmaßstabs auf diejenige der Vorabkontrolle nicht zitierte Begründung für den nicht zensurellen Charakter der Überprüfung auf „evidente und schwerwiegende" Strafrechtswidrigkeit, dazu näher unten, S. 285 ff. Ebenfalls gut als Rechtfertigung einer Inhaltskontrollmaßnahme vor Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG mit der Rechtmäßigkeit des Inhaltsmaßstabs kann es verstanden werden, wenn das an einen Privatfernsehsender gerichtete Verbot, „Wrestling"Sendungen vor 21 Uhr auszustrahlen, nach Ansicht des VG Frankfurt a. M., NJW 1996, 275, deshalb „keine unzulässige Zensur" sein soll, weil „[i]n diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist, daß die Rundfunkfreiheit ihre Schranke in den Jugendschutzgesetzen findet". Jedenfalls die nur zusätzliche, a. a. O., S. 275, auf die Möglichkeit späterer Ausstrahlung verweisende Argumentation entkräftet eine solche Deutung nicht. 133 BSGE 20, 169, 178; BayVGH, BayVBl. 1983, 54, 55, sowie VG Düsseldorf, KJ 88, 216 f. mit besagtem (Fn. 132) Vorbehalt. 134 VGH Mannheim, NVwZ 1990, 93 (94). 135 Siehe die Nachweise oben in Fn. 71 u. 72.

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ken, als auch die variierenden Versagungsgründe unabhängig von ihrer Fassung in mehr oder weniger allgemein gehaltenen Regeln und von deren Schriftform dem Recht entsprachen. Das gilt für die Anfänge des Druckerlaubniserfordernisses, etwa für den 1487 mit seiner ersten kirchenweiten Einführung durch die Bulle „Contra Impressores Librorum Reprobatorum" verbundenen Maßstab, der eine Genehmigung allem verweigerte, „was orthodoxem Glauben zuwider, gottlos oder ärgnisgebend" 136 war, nicht anders als für die in deutschen Landen vor 1848 letzte Phase der Pressezensur, die ζ. B. mit der Preußischen Zensurinstruktion vom 31.01.1843 zu den Themen Religion, Moral, Sitten und Staat, letzteres unter gesonderter Behandlung der Aspekte Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung, vergleichsweise detaillierte Maßstäbe kannte 137 . Ebenso waren die Versagungsgründe der im Berliner Raum mit Polizeiverordnung vom 10.07.1851 wieder eingeführten Erlaubnisvorbehalte für öffentliche 138

Theateraufführungen dem § 10 I I 17 ALR zu Recht entnommene Inhaltsverbote 1 3 9 . Nie stand ferner in Frage, daß die durch Art. 118 Abs. 2 S. 2 WRV zugelassene und mit dem Lichtspielgesetz v. 12.05.1920 eingeführte Filmzensur rechtmäßigen Verbotsgründen zur Geltung verhalf, also nur rechtswidrige Filminhalte von der Leinwand verbannte. Galt der Kampf der Zensur unabhängig von den verhinderten Inhalten und der Genauigkeit ihrer Maßstäbe, die von der ebenso vorgäbe- wie begründungsfreien und keiner Überprüfung unterworfenen Entscheidung bis zu der schriftlich zu erläuternden und gerichtsfôrmig 136

Zitiert nach: Joan Hemels, S. 17. GS 1843, S. 27. Kursorischer Überblick über die preußischen Regelungen zur Umsetzung der Karlsbader und späteren pressebezogenen Bundesbeschlüsse etwa bei Ludwig v. Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, Erster Band, Zweite Abtheilung, 3. Aufl. 1870, S. 143 Fn. 1. Soweit Presseinhaltskontrolle während des 1. Weltkrieges im Wege des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt erfolgte, ist ebenfalls von der Rechtmäßigkeit nicht nur der Einführung des Verfahrens, sondern auch des mit dem Schutzgut des „Burgfriedens" nennbaren Inhaltsmaßstabs auszugehen, vgl. D. Breuer, S. 210 ff. 138 ABl. der Regierung in Potsdam und der Stadt Berlin 1851, S. 219; abgedr. bei H. H. Houben, S. 111 f.; das Zensurverbot des Art. 27 Abs. 2 der Preußischen Verfassung galt nach ganz überwiegender Ansicht nur für die Presse (PrOVGE 24, 311, 314; E 29, 429, 431 f.; aus der Literatur nur: O. Opet, S. 151 f.; v. Rönne/Zorn, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, Bd. 2, 5. Aufl. 1906, S. 252; G. Anschütz, Verfassungs-Urkunde, S. 502 f.; Adolf Arndt, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, 7. Aufl. 1911, S. 141). 139 Und zwar selbst dann, wenn die Wiedereinführung der Zensur, also des Erlaubnisvorbehaltes selbst, rechtswidrig gewesen sein sollte (vgl. soeben Fn. 138). Zu der Belanglosigkeit der Rechtmäßigkeit der durchgesetzten Maßstäbe für den Zensurcharakter des Erlaubnisvorbehaltes im Theaterbereich noch O. Opet, S. 137 ff. Er führt viele verschiedene sich ergänzende und überschneidende Erlaubnisversagungsgründe der Theaterzensur an, von denen er einige billigt und andere nicht, hält, S. 148, mit den zu billigenden Maßstäben auch die „Theaterzensur i. e. S.", d. h. in seiner Begrifflichkeit die Vorabkontrolle, für „begründet", läßt aber ganz zweifelsfrei, daß diese Kontrolle mit gleich welchen Maßstäben „Theaterzensur i. e. S." bleibt. 137

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anfechtbaren Verfügung reichten, stets den rechtswidrigen Äußerungsinhalten, überrascht dies wenig, darf aber nicht dazu verleiten, nun die Rechtskonformität des Maßstabs zur Zensurbedingung zu erheben. Gerade die „Verrechtlichung" 1 4 0 der Zensur im Sinne zunehmender Fixierung von Versagungsgründen und verbesserter Überprüfungsmöglichkeiten der Erstentscheidung bedingt notwendig die Rechtmäßigkeit der von ihr angelegten abstrakt-generellen Maßstäbe und zeigt die Irrelevanz der Einhaltung dieser Maßstäbe für den Zensurcharakter der Kontrolle: Die Verweigerung der Druckerlaubnis ist rechtmäßig oder rechtswidrig, immer aber Zensur. Aus der Perspektive des Kampfes gegen die Zensur ergibt sich nichts anderes. Selbst wenn auf dieser Seite ein engeres Verständnis der überhaupt zulässigen oder doch legitimen abstrakt-generellen Inhaltsverbote herrschte, ja weitergehend angenommen wird, daß vielleicht sogar ein Teil der mit den Erlaubnisvorbehalten durchgesetzten Maßstäbe als diesem Verfahren typisch oder von ihm abhängig angesehen und seine Beseitigung mit der Abschaffung des Verfahrens angestrebt wurde 1 4 1 , ging es doch nie um eine Reduktion der Versagungsgründe der Druckerlaubnisverweigerung auf ihre auch schon bis dahin legitime Basis 1 4 2 . Eine mögliche Beseitigung zensurtypischer, für illegitim er140

Vgl. Ulrich Eisenhardt, in: Zensur im 18. und 19. Jahrhundert, S. 1 (34 f.). Dazu noch näher unten, S. 79 ff. (B.). 142 Selbstverständlich diente die Zensur immer auch der Verhinderung solcher Äußerungen, die ohne Zensur nicht nur wegen deren Umgehung, sondern auch wegen ihres Inhaltes zu Straftaten geführt hätten, vgl. nur K. Jaup, Das Staats-Lexikon, 11. Band, 2. Aufl. 1848, S. 11. Daß die auch strafbewehrten Maßstäbe nicht ausdrücklich als solche benannt werden, liegt vor allem daran, daß sie in einem Zensursystem weniger Bedeutung erlangen: Krasse Verstöße werden dem Zensor kaum vorgelegt, der, wenn doch einmal Strafbares eingereicht wird, den Eintritt der Strafbarkeit und damit die Entwicklung der Strafnorm hindert, während die Verbreitung unzensierter Schriften ohnehin bestraft wird. Rechtstechnisch ist die Sicht nicht ausgeschlossen, daß die für den Fall ihrer Äußerung strafbedrohten Inhalte in der Zensur nicht an der - bei funktionierender Zensur denknotwendig nie verletzbaren - Strafnorm, sondern einem inhaltlich gleichlautenden wc/tfstrafrechtlichen Verbot gemessen werden. So dient die Zensur jedenfalls auch dem Schutz vor der Verletzung von Strafrechtsnormen durch Äußerungen, enthält aber zwingend nur mit den Strafnormen gleiche Inhaltsverbote oder -maßstäbe, nicht die Strafnorm selbst zum Maßstab. Die inhaltsunabhängige Strafbarkeit jeder staatlicherseits nicht gebilligten drucktechnisch vermittelten Äußerung bewehrt mittelbar beliebige Zensurmaßstäbe. Angesichts dessen ist es nicht einmal ausgeschlossen, daß die „allgemeinen", (auch) für nicht zensierte, gesprochene und handgeschriebene Sprache geltenden Strafgesetze nicht alles abdeckten, was im Druck verbreitet ohne Zensur für strafwürdig erachtet worden wäre, so aber verhindert werden konnte. Vgl. Adolph Dietrich Weber, Ueber Injurien und Schmähschriften, Zweite Abtheilung, 2. Aufl. 1798, S. 167: „Man kann freilich der Gesetze über Verbrechen und Strafen entbehren, wenn man es durch Policei-Anstalten dahin bringen kann, daß die Existenz des Verbrechens [genauer: der strafwürdigen Äußerungen, was auch Weber im folgenden deutlich macht] dadurch unmöglich wird". Jedenfalls zeigt die Einigkeit der Diskussion über die im Falle einer Abschaffung der Zensur statt dessen erforderliche Gesetzgebung zur Schaffung und Durchsetzung strafrechtlicher Schranken (vgl. Wilhelm v. Humboldt, Über 141

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

achteter Maßstäbe wurde höchstens als Nebenprodukt einer Zensurfreiheit mitverfolgt, und dementsprechend blieb Zensur mit legitimen Versagungsgründen Zensur. Spiegelbildlich war Freiheit von Zensur die Möglichkeit, ohne inhaltliche Genehmigung bzw. Kontrolle - und damit gleich welchen Maßstabs Druckerpressen nutzen und die so hergestellten Werke verbreiten zu können 143 . Daß rechtswidrige Inhalte später dem Recht gemäß zu behandeln waren, stand ebenso außer Frage, wie Einigkeit über die Notwendigkeit herrschte, ein angemessenes Strafrecht zur Abarbeitung der bis dahin in der Zensur behandelten bzw. durch sie vermiedenen Inhalte zu schaffen, während konkrete Konzepte und Überlegungen zu weiteren Inhaltsüberlegungen kaum Beachtung fanden. Ebenso muß jede geschichtsferne Projektion eines heutigen, freiheitlicher gedachten Verständnisses zulässiger Äußerungsinhalte auf Zensurmaßstäbe etwa des 19. Jahrhunderts scheitern, soweit sie den Erlaubnisvorbehalt nur mit jetzt untragbar scheinenden Versagungsgründen Zensur sein lassen will. Ein solches Vorgehen ist vorstellbar und könnte versucht sein, sich nicht weit entfernt von der diffusen gedanklichen Verbindung zwischen Zensur und nicht zu rechtfertigenden Inhaltsverboten 144 einzuordnen, käme aber nicht daran vorbei, daß auch schon die historische Zensur im Bereich ihres außer Streit stehenden Maßstabs den Schutz mit heutigen Inhaltsschranken vergleichbarer Verbote verfolgte und auch bei einer Reduktion auf diesen - aus welcher Sicht auch immer - legitimen Bodensatz Zensur geblieben wäre. Zensur war und ist also - mindestens - entweder ein Verfahren oder ein Verfahren und zusätzlich ein Maßstab der Inhaltskontrolle, keinesfalls aber nur ein Maßstab der Inhaltskontrolle. Der Zensurbegriff des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG erfaßt dann also wenigstens das Verfahren „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" ohne Rücksicht darauf, welcher Natur die mit seiner Hilfe durchgesetzten Inhaltsmaßstäbe sind; zulässige oder unzulässige, strafbewehrte wie bloße Verwaltungsverbote, auf Art. 5 Abs. 2

Pressfreiheit, S. 338, 340 ff; K. Jaup, Das Staats-Lexikon, 11. Bd., 2. Aufl., S. 3), daß in diesem die Prävention als Regel kennenden Kontext Maßstäbe gelten, also Inhalte verhindert werden, die für den Fall, daß ihre präventive Verhinderung rechtlich nicht mehr sichergestellt ist, strafbewehrt werden sollen. Vgl. auch das Gesetz über die Aufhebung der Zensur in Württemberg v. 18.5.1808, bei Jaup, a.a.O., S. 18 f., bes. § 13. Vermutlich weil die Strafnormen als Zensurmaßstäbe in der Regel nicht ausdrücklich erwähnt werden, meint O. v. Kruedener, S. 135 Fn. 503, irrig, dem Schutz vor Strafrechtsverletzungen habe, abgesehen von strafbaren Beleidigungen, der Zensurmaßstab „offenbar" nur in Bayern gedient. Zutreffend hingegen K. Zimmereimer, S. 136 f.: Zensur greift weiter als Strafgesetze; was diese berührt, muß notwendig die Zensur berühren. Vgl. ferner noch O. Opet, S. 138, und R. Thoma, Festgabe PrOVG, 1925, S. 183, 211, für den selbstverständlicher Maßstab einer (wiedereingeführten) Präventivzensur das „ohnehin Verbotene" ist. 143 Wie sich die Abwesenheit von Zensur zur Press- oder Pressefreiheit verhielt und -hält, kann hier zunächst offenbleiben; dazu unten, S. 207 ff. (2. Teil, 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.). 144 Siehe Einleitung, S. 30 f.

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GG gestützte oder verfassungsimmanente Schranken oder Schutzbereichsbegrenzungen machen keinen Unterschied. Für die Gesamtnorm des Zensurverbotes bedeutet dies zweierlei: Zum einen läßt sich das Zensurverbot weder über eine entsprechende Zensurbegrifflichkeit noch über Anwendungsbereichsbeschränkungen oder Einschränkungen 145 auf das bloße Verbot des Erlaubnisvorbehaltes mit ohnehin schon nach Art. 5 Abs. 1, 2 GG verfassungswidrigen Inhaltsschranken reduzieren; rein materielle Ergebnisse auch der Gesamtnorm scheiden aus. Begrifflich ist der mit allgemeinen Gesetzen entnommenen Inhaltsschranken arbeitende Erlaubnisvorbehalt Zensur. Und wäre Zensur nur verboten, wenn sie ohnehin schon wegen der verwendeten Inhaltsmaßstäbe verfassungswidrig ist, würde Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG vollkommen leerlaufen, was genügt, um eine solche Auslegung abzulehnen. Zum zweiten ergibt sich daraus eine Aussage zu einer möglichen Konstruktion formell-materieller Ergebnisse unter Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG: Mit der Maßstabsgleichgültigkeit der Identifikation von Erlaubnisvorbehalt und Zensur scheint es unvereinbar, schon in die Zensurbegrifflichkeit überhaupt Inhaltsmaßstäbe einzubeziehen, so daß der Erlaubnisvorbehalt mit jedem Maßstab Zensur ist und auch formell-materielle Ergebnisse jedenfalls auf diesem Weg 146 nicht erzielt werden können. Zu klären bleibt hingegen, ob materielle Elemente die Anwendbarkeit oder die Reichweite des ZensurVerbotes einzuschränken 147

vermögen

.

B. Zensurverbot als Teil der Inhaltsschrankendogmatik? Zensur i. S. d. grundgesetzlichen Verbotes ist wenigstens der maßstabsunabhängige Erlaubnisvorbehalt, noch offen ist hingegen die Frage nach der Einschränkbarkeit sowie des Anwendungsbereiches seines Verbotes. Unabhängig von dieser formalen Reichweite sieht sich ein zusätzliches materielles Verständnis des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG zwei gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Der eine, systematischer Natur, hält die schon von Rothenbücher für seine Deutung konstatierte 148 Konkurrenz eines materiellen Zensurverbotes mit ebenfalls materielle Vorgaben enthaltenden Schrankenregelungen, sei es des Art. 5 Abs. 2 GG oder des Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV, für unauflösbar. Wenn diese Schrankenklauseln über die inhaltlichen Grenzen der Inhaltskontrolle ent-

145 146 147 148

Vgl. zu den Konstruktionsweisen oben, S. 69 f. S. oben, S. 69, (1.). S. oben, S. 70, (2. u. 3.), Klärung unten, S. 188 ff. Vgl. oben, S. 66 bei und mit Fn. 114.

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

scheiden, ist eine materielle Zensurkomponente überflüssig und kann dem Zensurverbot nur eine formale Aussage bleiben 149 . Der zweite Einwand geht dahin, Zensur erschöpfe sich in der Kennzeichnung einer Reglementierungsform, der verschiedene materielle „Verbotsgehalte" eingefügt werden können, die ohne Rücksicht auf mögliche assoziative Verknüpfungen keine Merkmale der Zensur seien und so auch nicht von ihrem Verbot erfaßt würden 1 5 0 . Zum einen ist denkbar, daß sich zensurspezifische Inhaltsmaßstäbe151 überhaupt nicht nachweisen lassen, daß also Maßstäbe, die zunächst nur im Wege des historischen Erlaubnisvorbehaltes durchgesetzt wurden, nicht hinreichend deutlich zutage treten. Würden freilich solche Maßstäbe spezifiziert und wollte man in ihnen grundrechtswidrige Inhaltsschranken erkennen, müßte eine solche Aussage mit der bereits vorhandenen Inhaltsschrankendogmatik und das heißt dem zuerst genannten Einwand in Einklang gebracht werden. Daß im Verfahren der Pressezensur auch Kontrollmaßstäbe verwendet wurden, die nach Abschaffung des Erlaubnisvorbehaltes weder Verbreitungsverhinderungen strafprozessualer noch sonstiger Provenienz rechtfertigen konnten, scheint nicht ausgeschlossen. Sehr viel unklarer ist allerdings, ob ihr Nachweis mit hinreichender Deutlichkeit gelingen könnte. Es müßten vor und nach Abschaffung des Erlaubnisvorbehaltes verwendete Inhaltskontrollmaßstäbe formuliert und verglichen werden. Ließen sich auf diesem Wege Anhaltspunkte für die Bestimmung unzulässiger Inhaltsbeschränkungen finden, wäre immer ihr Verhältnis zu der vorhandenen Inhaltsschrankendogmatik des Art. 5 Abs. 2 GG zu klären. Zunächst müßten aus dem Zensurverbotskontext entnommene Aussagen über inhaltliche Aspekte der Äußerungsfreiheiten die schon ohnehin in Art. 5 Abs. 1, 2 GG enthaltenen Vorgaben zum selben Thema nicht überflüssig machen. Zwar ist eine weitere Inhaltsschrankentheorie entbehrlich, die auf gleicher Ebene wie Sonderrechts-, Abwägungs- und die Kombinationslehren abstrakt weitreichende und konkret wenig anschauliche Ansprüche erhebt. Könnte hingegen eine Untersuchung nur schon in wenigen Bereichen zu konkreteren

149

150

Helmut Ridder, in: Staatslexikon, Sp. 954; B. Rieder, S. 162.

B. Rieder, S. 81, unter Berufung auf F. Schneider, Pressefreiheit, S. 103, dessen Aussage sich allerdings auf das historische Verständnis vor 1848 bezieht und spätere Zensurverbote der Weimarer Reichsverfassung oder des Deutschen Grundgesetzes wohl nicht mit einbeziehen will. 151 Zensurspezifisch nicht i. S. einer conditio sine qua non der Zensur, sondern zunächst nur ausschließlich im Zensurminimum Erlaubnisvorbehalt verwendete oder verwirklichte Maßstäbe, die evtl. außerhalb und neben dem Erlaubnisvorbehalt Zensur bedeuten. Immer könnte es sich nur um einen Teil der in der Zensur verwendeten und nie um die Maßstäbe handeln, die auch ohne Zensur rechtmäßig durchsetzbar sind.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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Anhaltspunkten über grundrechtswidrige Inhaltsverbote führen, wäre dies zu begrüßen. Allerdings spricht einiges dafür, die Textbasis jeglicher grundrechtlichen Vorgabe für Inhaltsschranken Art. 5 Abs. 1, S. 1, 2, Abs. 2 GG zuzuordnen, also auch eventuelle im Umfeld der Abschaffung der Zensur ermittelte Anteile nicht im Text des Zensurverbotes verankert zu sehen. Denn Zensur ist nun einmal Zensur ohne Rücksicht auf die verwendeten Maßstäbe, und zudem würde so Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nicht mit der doppelten Zielrichtung sowohl einer Aussage über Verfahren als auch Maßstäbe der Inhaltskontrolle belastet. Ob genauere Untersuchungen der in der Zensur durchgesetzten Maßstäbe partiell sinnvolle Ergänzungen der Inhaltsschrankendogmatik ergeben können, soll hier offen bleiben. Schon die dafür erforderliche detaillierte Untersuchung der ohnehin diskutierten Gehalte des Art. 5 Abs. 2 GG ist ein Thema für sich. Dennoch können einige Anhaltspunkte festgehalten werden, die aus dem Zensurkontext eventuell ableitbare Aussagen über Inhaltsschranken wohl zu beachten hätten. Zunächst darf nicht übersehen werden, daß die Zensur und der Kampf gegen sie einen wichtigen Anteil an der Genese der Klausel der allgemeinen Gesetze hatte 1 5 2 . Die Beschränkung nur durch „allgemeine Gesetze" war das Gegenteil der Zensur; Inhaltsschranken und Zensurverbot berühren sich - mindestens geschichtlich - in diesem Punkte ohnehin. Nicht nur der mit den „allgemeinen Gesetzen" verbundene Maßstab war selbstverständlich ein anderer, engerer und freiheitlicherer als derjenige der Zensoren, sondern auch seine Durchsetzung wurde durchgängig mit gerichtlicher Ahndung des geschehenen Preßvergehens in eins gesetzt; eine Zensur mit dem Maßstab der „allgemeinen Gesetze" wäre auf eine contradictio in adiecto hinausgelaufen. Das Gesetz des 19. Jahrhunderts enthielt auch als Inhaltsschranke zunächst die Verbindung mit einer gesteigerten Rationalität und Gerechtigkeit, die sich nicht schon in der Form abstrakt-genereller Regelung erschöpfte 153 , obwohl diese schon für sich genommen gegenüber der Zensorenmacht ein Stück Freiheit bedeuten mußte. Die „Allgemeinheit" der Gesetze kennzeichnete darüber hinaus die Abkehr von „Sonderrecht" für die Presse und ihr Streben nach

152

Vgl. auch Ch. Starck, in: FS für W. Weber, S. 189 ff. Wenn eine in Voraussetzungen, Interessen und Ansichten relativ homogene oder sich doch wenigstens angesichts gemeinsamer Ziele bzw. Gegner relativ homogen darstellende Gruppe, wie sie in den Pressefreiheit wie Beteiligung an Staatsentscheidungen anstrebenden bürgerlichen Kreisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen wird, die Grenzen ihrer Äußerungsfreiheit Gesetzen überantworten will, die ein von ihr maßgeblich bestimmter parlamentarischer Gesetzgeber ziehen soll, macht schon diese Konnexität für sich genommen einen Teil der Vorstellung von dem freiheitlichen Charakter solcher Gesetze einsichtig. 153

6 Fiedler

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

Gleichbehandlung besonders mit dem gesprochenen Wort. Daß es dabei nicht nur um eine formale Gleichheit ging, die mit verschärften Schranken für gesprochene Sprache ebenso wie mit einer Freiheit für die Presse hätte eingelöst werden können, zeigt schon die Tatsache, daß nur die Beseitigung der Zensur, nicht hingegen die Einführung eines Erlaubnisvorbehaltes für andere Äußerungen gefordert wurde. Auch hinsichtlich der hier interessierenden inhaltlichen Freiheit liegt es nahe, daß der historische Stand der Beschränkung nicht gedruckter Sprache, die vergleichsweise frei war, als Maßstab der angestrebten „allgemeinen" Schranke für die Presse einen materiell erheblichen Sprung auf ein jedenfalls seinerzeit den Beteiligten vermutlich durchaus auch anschauliches Freiheitsniveau ermöglichen sollte. Ansatzpunkte für die heutigen Schrankenvorbehalte werden sich hier über bereits Bekanntes hinaus allerdings wohl eher nicht ergeben. Nach wie vor sind es jedenfalls großenteils Gesetze, die die Inhaltsschranken der Äußerungsfreiheit bestimmen, und werden Sonderinhaltsschranken für bestimmte Äußerungswege abgelehnt. Und der Aspekt der Gleichbehandlung der Äußerungswege verliert ohne die konkret sichtbaren, nur einigen zustehenden und für alle angestrebten Freiräume seine inhaltsschrankenbegrenzende Wirkung, da er nur verlangt, daß beliebige Schranken alle treffen. Auch die oben angeführten materiellen Zensurbegriffe scheinen kaum geeignet, als Ergänzung der verfassungsrechtlichen Inhaltsgrenzenbestimmung Dienste zu leisten. Wenn Noltenius die Abgrenzung zwischen allgemeinen Gesetzen und Zensur darin sieht, daß jene der Meinungsfreiheit gleichrangige Rechtsgüter schützen und sie mit Art. 5 Abs. 1 GG in Einklang bringen 154 , läuft das auf nichts anderes als eine (abstrakte oder konkrete) Güterabwägung hinaus, wie sie die Diskussion um Art. 5 Abs. 2 GG kennt. Ähnliches gilt für den materiellen Zensurbegriff von Hartliebs, für den Zensur „die Prüfung und das Verbot von Geisteserzeugnissen wegen ihres Widerspruchs zu politischen, sittlichen und religiösen Vorstellungen herrschender Gruppen" ist, „soweit diese Vorstellungen nicht verfassungsmäßiges Allgemeingut sind". 155 Denn nicht durch verfassungsmäßige Wertvorstellungen zu rechtfertigen und als Zensur zu werten sind all die Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit, die über das zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter gebotene Maß hinaus gehen 1 5 6 , so daß letztendlich der Maßstab in der UnVerhältnismäßigkeit gefunden wird. Angesichts der offenbaren Schwierigkeiten, dem Verbot der „Zensur" Aussagen über die Grundrechtskonformität von Inhaltsvsrboten zu entnehmen, die über die Erkenntnisse der vorhandenen Inhaltsschrankendogmatik hinausgehen, 154 155 156

Vgl. oben, S. 46 ff. (1. Teil, 2. Abschnitt, Α., I., 1., b), aa)). In: Selbstkontrolle, S. 16 f. Η v. Hartlieb, in: Selbstkontrolle, S. 16.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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erscheint es immerhin bemerkenswert, wenn Rechtsprechung das Wort „Zensur" immer wieder - ohne ausdrückliche Zuordnung zum oder Abkoppelung vom Zensurverbot - genau in diesem Sinne verwendet, sc. um das inhaltlich unzulässige Äußerungsverbot zu kennzeichnen. So unterscheidet etwa der Bundesgerichtshof im Bereich der Sittenwidrigkeit im Sinne d. § 1 UWG zwischen der „nur geschmacklosen" Werbung, die als solche keiner (rechtswidrigen) „Zensur" unterliege, und der den Bereich des schlechten Geschmackes überschreitenden, rechtswidrigen und untersagungsfähigen Werbung. 157 Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hält für Zensur das aus inhaltlichen Gründen unzulässige Anhalten eines Gefangenenbriefes, nicht hingegen die den Inhaltsmaßstab des Strafvollzugsgesetzes wahrende Unterbindung der Weiterleitung 158 . Leicht entsteht der Eindruck, „Zensur" werde mit der Hoffnung verwendet, es handele sich um den „unstreitigen Begriff, der im Streit über die treffende Abgrenzung zwischen dem rechtmäßigem Verbot der verbotswürdigen Äußerung und dem rechtswidrigen Verbot der schützenswerten Äußerung Einigkeit erzielen könne. Er ist hier funktional der „feuilletonistischen" Verwendung des Zensurbegriffes 159 nahe, die die für schlecht gehaltene Inhaltskontrolle so nennt, ohne mit dem Begriff weitere Aussagen zu verbinden, die die negative Bewertung des so Benannten begründen könnten.

Wesentliche Ergebnisse des 1. Teils Als Zensur kann ein näher bestimmtes Verfahren der Inhaltskontrolle zur Durchsetzung beliebiger Maßstäbe gelten, etwa der Erlaubnisvorbehalt, jede systematische Überwachung oder jede Maßnahme vor Verbreitungsbeginn auf nicht-strafprozessualer Grundlage. Neben solchen allein das Verfahren bemühenden und deshalb formalen Zensurbegriffen sind materielle Deutungen möglich, die das Wesen der Zensur in der beliebigen Durchsetzung eines bestimmten Inhaltsmaßstabes sehen. Formell-materiell wäre ein Verständnis, das ein bestimmtes Verfahren nur dann für Zensur hält, wenn es bestimmte Inhaltsmaßstäbe durchsetzt. „Faktisch" bezeichnet demgegenüber keine eigene Zensurkategorie, sondern sinnvollerweise nur eine regelungsfreie Modalität, in der materielle wie formale Zensur vorkommen kann. Hinsichtlich der weiteren Untertei157

S. etwa BGH, NJW 95, 2492 (2493). NJW 94, 244 und 1149 (1150); beide Beschlüsse verwenden „Zensur" als Bezeichnung für das inhaltlich ungerechtfertigte im Unterschied zum inhaltlich zulässigen Anhalten; insoweit zum ersten Beschluß nicht ganz klar M. Bullinger, in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 297 a. E.; vgl. ferner zur Verwendung von Zensur außerhalb des Zensurverbotes BVerfGE 42, 143, 154 (158), Sondervotum der Richterin Rupp v. Brünneck („Zensur"); BVerfGE 73, 118 (183) und E 90, 60 (89) („Selbstzensur"). 159 S. 30 f. (Einleitung). 158

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1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

lungen in Vor- und Nachzensur sowie Prävention und Repression wird nur festgehalten, daß „Vorzensur" als Begriff für jede Maßnahme vor Verbreitungsbeginn und nicht nur für den Erlaubnisvorbehalt zur Verfügung stehen sollte 1 6 0 . Der anschließende Blick über die vertretenen Zensurdefinitionen zeigt auf der formalen Seite neben der Identifikation von Zensur und Erlaubnisvorbehalt verschiedene Versuche, das verbotene Verfahren auszudehnen, und zwar zum einen auch auf bestimmte Maßnahmen nach Verbreitungsbeginn 161 , zum anderen auf weitere Formen der Vorzensur 162 . Schließlich soll das Zensurverbot vereinzelt auch auf nicht zensurelle Verfahren ausstrahlen können 163 . Von einem materiellen Zensurverständnis, das Zensur allein an den verwendeten Inhaltsmaßstäben erkennt und also jedes Verfahren mit anderen Maßstäben unberührt läßt, ist ein formell-materielles Verständnis zu unterscheiden, das nur eine Kumulation aus ansonsten zulässigem Verfahren (Erlaubnisvorbehalt) und ansonsten zulässigen Maßstäben (rechtswidrig, aber nicht evident strafrechtswidrig) als Zensur erkennt. Davon zu trennen ist ein nur scheinbar formell-materielles, in Wahrheit rein materielles Verständnis, wie es in der Südkurierentscheidung des Bundessozialgerichts zum Ausdruck kommt: Soll der Erlaubnisvorbehalt nur dann Zensur sein, wenn er ohnehin, unabhängig vom Zensurverbot verfassungswidrige Inhaltsverbote durchzusetzen versucht, spielt das Verfahrenselement keinerlei effektive Rolle mehr. Wichtig ist zu sehen, daß formell-materielle wie rein materielle Ergebnisse des Zensurverbotes über den Zensur begriff, aber auch über einen entsprechenden Anwendungsbereich oder die entsprechend weitgehende Einschränkbarkeit seines Verbotes konstruiert werden können 1 6 4 . Ein rein materielles, also den Erlaubnisvorbehalt zur Durchsetzung jeder verfassungsgemäßen Schranke billigendes Verständnis liegt zwar mancher Rechtsprechung zugrunde, ist aber mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die Legitimität wie die Rechtmäßigkeit und der sonstige Charakter der verwendeten Inhaltsverbote waren und sind nach wie vor schlechthin irrelevant dafür, daß jeder inhaltsbezogene Erlaubnis vorbehält die Voraussetzungen des Zensur begriffs erfüllt. Damit läßt sich das grundgesetzliche Zensurverbot mit keiner der denkbaren Konstruktionen auf das bloße Verbot einer bestimmten Durchsetzung ohnehin verbotener Maßstäbe reduzieren, rein materielle Gehalte der Norm scheiden aus. Außerdem ist es mit der Maßstabsgleichgültigkeit der

160 161 162 163 164

Bis hier S. 38 - 54. S. 56 - 58 (1. Abschnitt Β I. 2., 3.). S. 56 -61(1. Abschnitt Β I. 2., 3., 4.). S. 63(1. Abschnitt Β I. 6.). Bis hier S. 63 - 70.

1. Teil: Zensur als Verfahren der Inhaltskontrolle

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Identifikation von Zensur und inhaltsbezogenem Erlaubnisvorbehalt unvereinbar, Inhaltsmaßstäbe überhaupt bei der Zensurbegrifflichkeit zu berücksichtigen, so daß jedenfalls auf diesem Wege auch formell-materielle Ergebnisse nicht erzielt werden können. Es wird dann noch zu klären sein, ob materielle Elemente das Verbot der Zensur einzuschränken vermögen 165 . Offen bleibt hingegen, inwieweit das Zensurverbot neben und unabhängig von seiner formalen Aussage Anhaltspunkte für grundrechtswidrige Inhaltsschranken vermitteln könnte 1 6 6 .

165 166

Bis hier S. 73 - 79. S. 79 - 83.

2. T e i l

Die Gründe des Zensurverbotes, seine Reichweite und die formale Äußerungsfreiheit Hat sich Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG bis hierher als formal erwiesen, indem er unter Zensur mindestens den inhaltsprüfenden Erlaubnisvorbehalt mit beliebigen Verbotsmaßstäben versteht, bleibt die Tragweite der Norm in zwei Richtungen zu klären. Ein Fragenkomplex, der im 2. Kapitel dieses Teils behandelt wird 1 , beschäftigt sich mit den Konturen eher klassischer Gehalte des Zensurverbotes. Zunächst geben die unterschiedlichen, sich sachlich gleichwohl weitgehend identisch verstehenden Definitionen im Umfeld der Gleichsetzung von Zensur und Erlaubnisvorbehalt 2 Anlaß nachzufragen, welche Variationsbreite das mit dem klassischen Zensurverständnis erfaßte Kontrollverfahren aufweist und inwieweit gegebenenfalls das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt dieses Verfahren zutreffend beschreibt. Außerdem bleibt zu klären, ob und inwieweit das Verbot des als zensurell erkannten Verfahrens Einschränkungen verträgt, wobei an dieser Stelle jedenfalls auch die oben3 erwähnten „echten", der Verfahrenskomponente Bedeutung lassenden, formell-materiellen Deutungen zur Sprache kommen müssen. Schließlich verlangt das Verhältnis zwischen Freiheitsrechten und Zensurverbot nach Aufklärung. In einer zweiten Richtung muß Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG daraufhin befragt werden, ob er über das Verbot klassischer Zensur hinaus eine Aussage auch für andere Verfahren der Inhaltskontrolle enthält, eine Erörterung, die ähnlich im Gewand der Frage nach einer entsprechenden Erweiterung des Zensurverständnisses möglich ist und das 3. Kapitel dieses Teils 4 beschäftigen wird. Denkbare Antworten dürften neben der Möglichkeit, daß sich derartige Verfahren als grundrechtlich irrelevant erweisen, vor allem eine der folgenden Strukturen aufweisen: (1) Weitere Verfahren sind ebenso wie Zensur oder als einer ihrer Unterfälle verboten; eine Lösung dieses Types stellen die erwähnten weiter-

1 2 3 4

Unten, S. 141 ff. Vgl. oben, S. 55 f. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 1.). S. 67 f. (1. Teil, 2. Abschnitt, B., III.) u. S. 73 (1. Teil, 3 Abschnitt). Unten, S. 255 ff.

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit greifenden formellen Zensurbegriffe dar 5 . (2) Andere Verfahren der Inhaltskontrolle werden der Zensur für ähnlich, aber doch nicht völlig gleichwertig gehalten und dementsprechend einer etwas abweichenden Rechtsfolge unterworfen. In diese Richtung dürfte es gehen, wenn Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG „Ausstrahlungswirkungen" entnommen werden, die nicht zensurelle Inhaltskontrolle beeinflussen können und so etwa den Sofortvollzug administrativer Inhaltsverbote in bestimmten Äußerungssituationen begrenzen sollen 6 . (3) In einer Kombination beider Möglichkeiten gäbe es weitere, wie oder als Zensur verbotene sowie solche Verfahren, die einer anderen Rechtsfolge unterliegen. In einem ersten am äußeren Erscheinungsbild orientierten Vergleich lassen sich zunächst Verfahren feststellen, die dem Erlaubnisvorbehalt in bestimmten Punkten ähneln. Innerhalb dieser ersten Gruppe fallen zuerst solche Kontrollen auf, die ebenfalls vor Verbreitungsbeginn stattfinden, die Gesamtverbreitung erfassen und auch mit einem gewissen Zwang verbunden zu sein scheinen. Dies gilt für die Verweigerung einer an Inhaltsbewertungen geknüpften Steuerbefreiung, wenn diese sich als notwendige Bedingung der Filmaufführung erweist. Aber auch die Untersagung oder Sperrung von Äußerungen in Datennetzen vor der ersten Empfangsmöglichkeit erfüllt diese Kriterien, sei es, daß der den Zugangsknoten zum Netz bildende Rechner alle bestimmte Schlüsselwörter oder -sätze enthaltenden Äußerungen blockiert, oder sei es, daß eine - u. U. zusätzliche - unmittelbar menschliche Sichtung über die Weiterleitung der Daten entscheidet7. Ebenso zählt hierher die Inhaltskontrolle in sogenannten „ Offenen Kanälen " des lokalen Rundfunks und Kabelfernsehens. Die Mediengesetze einiger Länder verbinden die Zulassung Privater als Rundfunkveranstalter mit der Verpflichtung, Sendezeit für Beiträge Privater ohne Veranstalterstatus zur Verfügung zu stellen, in der selbst und unentgeltlich erstellte, wer-

5

Oben, S. 56 ff. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 2. - 5.). Oben, S. 63 f. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 6.). 7 Jeder Rechner, über den Daten laufen, kann mit geeigneten Programmen ihm beliebig vorgegebene Inhalte erkennen und blockieren, ζ. B. alle Dokumente, die die Worte „breast", „democracy" oder in kommerziellen Online-Diensten verwendete Sätze wie „What's your name?" oder „What's your phone number?" enthalten. Die relative Stelle des Rechners im Netz(verbund) bestimmt die Reichweite der Kontrolle. Während von einem Anbieter betriebene und zentral verwaltete Netze (wie etwa die kommerziellen Netzwerke von CompuServe oder America Online) weltweit und bei entsprechender Einrichtung wohl auch begrenzt auf Teilbereiche kontrolliert werden können, sind einzelne Rechner in einem dezentralen Netz, ζ. B. dem sog. Internet, auf eine lückenlose Kontrolle derjenigen Rechner beschränkt, denen sie als ausschließlicher Netzzugang dienen. Eine Vielzahl von Teilnehmern wird aber ζ. B. erreicht, wenn die Nutzer eines anderen Netzes über dessen zentralen Betreiber Zugang etwa zum Internet erhalten und der Betreiber die Schnittstelle überwacht. So filterte America Online in seiner Eigenschaft als Internet-Provider für alle seine weltweit seinerzeit (1995) ca. 3, 5 Millionen Kunden aus den Internetzugängen alle Datensätze mit dem Wort „breast", womit allerdings auch medizinische u. a. nicht unsittliche Informationen unerreichbar wurden. 6

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

befreie und nicht gesponserte, im übrigen aber beliebige Sendungen privater Gruppen bzw. Einzelpersonen - in der Reihenfolge des Eingangs - ausgestrahlt werden. Teilweise machen die Gesetze den Rundfunkveranstalter für die Einhaltung rechtlicher Inhaltsschranken in den Beiträgen verantwortlich und verpflichten ihn ausdrücklich, rechtswidrige Beiträge zurückzuweisen 8. Technisch identisch gestaltet sich die Kontrolle der Wahlwerbespots politischer Parteien durch die Rundfunkanstalten auf „evidente und ins Gewicht fallende" Verlet9 " zung strafbewehrter Inhaltsgrenzen . Ahnlich wirkt eine Pflicht zur Vorlage von Plakaten, Druckschriften oder sonstigen Äußerungsentwürfen 24 Stunden vor Beginn der Verbreitung 10 , wenn und soweit die Pflicht mit vor Verbreitungsbeginn ergehenden Verboten gekoppelt wird. Andere Konstellationen erfassen ebenfalls die Gesamtverbreitung, doch scheinen Einleitung oder Ergebnis der Kontrolle weniger oder gar nicht zwangsweise bzw. verbindlich. So untersagt das Jugendschutzgesetz11 öffentliche Filmvorführungen ohne inhaltliche Genehmigung der obersten Landesbehörde nur vor Kindern und Jugendlichen, doch legen Filmverleiher auch von vornherein ausschließlich für die erlaubnisfreie Erwachsenenvorführung bestimmte Filme mit dem Ziel der Kennzeichnung als „Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren" vor. Denn die Behörde erteilt das Kennzeichen nur, wenn sie den Film für strafrechtskonform hält, so daß das erfolgreiche Verfahren eine strafrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung bedeutet, die zwar keinen regelnden Charakter hat und selbst als bloß tatsächliche Erklärung Wortlaut und 12

Systematik des Gesetzes nur schwer zu entsprechen vermag , jedenfalls aber 8

Im einzelnen dazu unten, S. 448 ff. (3. Teil, 1. Kapitel, 3. Abschnitt, B.). Vgl. BVerfGE 47, 198 (233 ff., 238); E 67, 149 (152); E 69, 257 (269). 10 Eine solche Vorlagepflicht für das Verteilen von Flugblättern und das Anschlagen von Plakaten enthielt zuletzt die bayerische Plakatverordnung v. 7.11.1951 (GVB1. S. 214), vereinbar mit dem Zensurverbot des Art. 111 Abs. 2 BV nach BayVerfGH 5, 13 (18 f.). Eine strafgerichtliche Verurteilung wegen der Verbreitung von Plakaten unter Verstoß gegen diese Vorlagepflicht (§ 2 Plakatverordnung i. d. F. der Verordnung v. 14.8.1952, BayGVBl. S. 246) hielt das Bundesverfassungsgericht, E 23, 265 (269 ff.), für unvereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG, da die Plakatverordnung nicht zu den von der Blankettstrafnorm (§ 366 Nr. 10 StGB) erfaßten Vorschriften zähle. 11 § 6 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (Jugendschutzgesetz - JÖSchG) v. 25.2.1985 (BGBl. I S. 425), zuletzt geändert durch Gesetz v. 28.10.1994 (BGBl. IS. 3186). 12 § 6 JÖSchG sieht in Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 S. 1 Nr. 5 die Kennzeichnung der für Minderjährige ungeeigneten Filme vor und verpflichtet die Behörde in Abs. 3 S. 2 außerdem, im Falle des Verdachtes eines Verstoßes derart gekennzeichneter Filme gegen ausgewählte Strafnormen (§§ 130 Abs. 2, 131, 184 StGB) die Staatsanwaltschaft zu informieren. Damit scheint dem Gesetz eher die Idee wechselseitiger Unabhängigkeit von Strafverfolgung und der auf die Verweigerung der Jugendfreigabe beschränkten Kennzeichnung zugrunde zu liegen. Die Obersten Landesjugendbehörden lehnen es jedoch im Hinblick auf mögliche Mißverständnisse in der Öffentlichkeit als unzumutbar ab, Filme, die sie in irgendeiner Hinsicht für strafrechtlich relevant halten, überhaupt zu 9

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit von den Strafverfolgungsorganen weitgehend beachtet wird und so Filmverleihern und Kinobetreibern eine recht hohe Verfolgungssicherheit verschafft 13 . Leitet nun die oberste Landesbehörde einen Film während des Kennzeichnungsverfahrens an die Strafverfolgungsbehörden weiter, die seine Einziehung erwirken 14 , endet die - gesetzlich betrachtet - freiwillige Vorprüfung in einer imperativen Hinderung der Gesamtverbreitung. Ähnliche Wirkungen konnte die vom Bundesverfassungsgericht 197215 für verfassungsgemäß gehaltene Filmeinfuhrkontrolle gemäß § 5 des Überwachungsgesetzes16 haben. Zu Verbreitungszwecken in das Bundesgebiet eingeführte Filme waren innerhalb von einer Woche nach Einfuhr dem Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft vorzulegen, das Verstöße gegen ein vom strafrechtlichen Staatsschutz unabhängiges Verbot der Einfuhr verfassungsfeindlicher Propagandamittel festzustellen und in positiven Fällen die eingeführten Kopien herauszuverlangen hatte und noch hat 1 7 . Da das Verbot die Zollabfertigung nicht hindert 18 und bis zur Entscheidung der Behörde keine über die mit der Vorlage einer Kopie verbundenen kennzeichnen, und verweigern so auch die Kennzeichnung der Aufrechterhaltung des vorläufigen Jugendaufführungsverbotes, die nach dem Gesetz keine Aussage über die Vereinbarkeit mit weiteren Inhaltsschranken enthält (vgl. BVerfGE 87, 209 [232]; Η v. Hartlieb, Handbuch, Kap. 10 Rn. 19, S. 32). 13 Die subjektiven Tatbestände dürften praktisch ausgeschlossen sein, und auch objektive Einziehungsverfahren gegen gekennzeichnete Filme scheinen die Ausnahme zu sein, vgl. Η ν. Hartlieb, Handbuch, Kap. 10 Rn. 19 (S. 32), Kap. 20 Rn. 1 (S. 70), und die ebd. angeführte strafgerichtliche Rechtsprechung; ferner BVerfGE 87, 209 (231). Die gesetzlich für Jugendaufführungen erforderliche staatliche Genehmigung, einschließlich der tatsächlichen Vorprüfung der Strafbarkeit sonstiger Filme im Rahmen des Antrags auf „Verweigerung" der Jugendfreigabe, ist rechtlich von den privatrechtlich begründeten Verpflichtungen der Filmverbreiter zu unterscheiden, nur von der sog. Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) bzw. der Juristenkommission der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) geprüfte Filme zu verbreiten. Jene prüft alle Filme anhand eines gegenüber den gesetzlichen Inhaltsschranken schärferen Maßstabs, diese begutachtet nach den FSK-Grundsätzen nicht genehmigungsfähige Filme im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit Strafrecht. Eine Überschneidung zwischen staatlicher und privater Inhaltsprüfung ergibt sich dadurch, daß die FSK in Zusammenarbeit mit einem ständigen Vertreter der obersten Landesbehörde als Mandatar oder Gutachter für die Länder die Inhaltsprüfung nach § 6 Jugendschutzgesetz vornimmt; vgl. zum Ganzen einschließlich der einschlägigen Ländervereinbarung H. v. Hartlieb, Handbuch, 16.-20. Kap., S. 56 ff. 14 So im Falle BVerfGE 87, 209. 15 E 33, 52. 16 Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote v. 24.6.1961 (BGBl. I S. 607) - GUV. 17 Nur die Vorlagepflicht (§ 5 II GÜV) wurde durch Gesetz v. 27.2.1974 (BGBl. I S. 437) aufgehoben, nicht aber das Einfuhrverbot sowie die Feststellungs- und Einforderungspflicht des Bundesamtes (§ 5 I, IV GÜV). Zur Aufhebung der Vorlagepflicht und den verbleibenden Kenntnisnahmemöglichkeiten vgl. Walter Wagner, Anm. 4., 6. zu § 5 GÜV, in: Das Deutsche Bundesrecht, III Η 51, S. 20 f., 21 ff. (Feb. 1975). 18 § 5 Abs. 1 S. 2 GÜV.

90

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Einschränkungen hinausgehenden Verbreitungshinderungen vorgesehen waren, lag der Verbreitungsbeginn rechtlich allein in der Hand der Importeure. Nur wenn die Behördenentscheidung abgewartet wurde, konnte die Kontrolle vor Verbreitungsbeginn greifen. Als freiwillig kann die Kontrolle hinsichtlich des Anteils an der Gesamtverbreitung erscheinen, der im Falle eines früheren Beginns der Verbreitung der Überwachung hätte entzogen werden können. In einer zweiten Gruppe lassen sich Verfahren sammeln, die dem Erlaubnisvorbehalt weniger ähneln, insbesondere erst nach Verbreitungsbeginn eingreifen und so eine mehr oder minder große Anfangsverbreitung nicht berühren (Nachzensur). Hierher zählen wiederum die Filmeinfuhrkontrolle, wenn tatsächlich vor der Behördenentscheidung mit der Verbreitung begonnen wird, aber auch eine systematische Datennetzkontrolle, soweit angebotene Äußerungen nicht mit der ersten Zugänglichkeit bzw. Übertragung blockiert, sondern lediglich eingesehen und in der Folge unterbunden werden. Ähnlich wirkt eine Pflicht zur Vorlage von Plakaten oder Flugblättern vor oder mit Verbreitungsbeginn in Verbindung mit erst nach diesem Zeitpunkt erlassenen Verboten. Schließlich scheinen auch solche Maßnahmen dem Erlaubnisvorbehalt wenig ähnlich zu sein, die zwar u. U. sogar die Gesamtverbreitung hindern (Nachzensur und sonstige Vorzensur), die für sich genommen aber wenig oder keinen Aufschluß über den Weg geben, auf dem die tätig werdende Instanz vom Inhalt der Äußerungen Kenntnis genommen hat. Genannt sein mögen etwa Versammlungsauflagen, die Äußerungen bestimmten Inhalts untersagen, Verfügungen, die aufgrund der Prognose rechtswidriger Inhalte die Verteilung eines Flugblattes verhindern, oder Anordnungen, die wiederum Angebote im Datennetz untersagen, aber auch die Beschlagnahme der Auflage einer Schrift zur Einziehungssicherung.

1. Kapitel

Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 G G als Auslegungskriterium Überlegungen, wie strikt Art. 5 Abs. 1 S. 3 des Grundgesetzes von 1949 heute den inhaltsprüfenden Erlaubnisvorbehalt verbietet und ob er auch andere Verfahren betrifft, werden versucht sein, über die Beschreibung dessen hinauszugehen, was vor der Bürgerlichen Revolution von 18481 in den Staaten des 1

Mit Bundesbeschluß vom 3.3.1848 wurde den Mitgliedsstaaten freigestellt, „die Censur aufzuheben und Preßfreiheit einzuführen" (Protokolle der Deutschen Bundesversammlung 1848, S. 201, § 119, abgedr. auch bei E. R. Huber, Dokumente I, S. 329); Umsetzungen etwa in Preußen durch Gesetz v. 17.3.1848 (GS 1848, S. 69), in Bayern durch Königliche Proklamation v. 6.3.1848 (RBI. S. 105) usw.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

91

Deutschen Bundes großflächig unter dem Namen „Censur" stattfand, und die Gründe (ratio) der Ächtung dieses Verfahrens sowie der grundgesetzlichen Norm einbeziehen.

1. Abschnitt

Wortlaut und Begriffsgeschichte Nun könnte allerdings jenseits der schillernden allgemeingesellschaftlichen Nutzung des Wortes 2 ein eindeutiger und von allgemeinem Konsens getragener juristischer Gebrauch der Begriffe „Zensur" oder „Zensurverbot" im äußerungsrechtlichen Kontext die Heranziehung weiterer Auslegungshilfen von vornherein verbieten, mindestens aber die Berechtigung eines solchen Vorgehens fraglich erscheinen lassen. Wendet man sich zunächst dem Wortsinn zu, signalisieren die Aufspaltungen in „Vor-" und „Nachzensur" sowie „materielle" und „formelle" Zensur ebenso wie die darüber hinausgehenden Unsicherheiten in der Begriffsbildung 3 eher Mehrdeutigkeit. Zudem existieren jedenfalls nicht schon wegen sprachlicher Überdehnung unvertretbar scheinende Erweiterungen des Begriffs 4 und darf auch die in der Gerichtspraxis feststellbare unspezifizierte Kennzeichnung inhaltlich unzulässiger Kontrollmaßnahmen als Zensur 5 nicht übersehen werden. Eine Eindeutigkeit des juristischen Sprachgebrauches kann danach nicht festgestellt werden. Auch eine Berufung auf das Verständnis der Wortwurzeln „censor" und „censura" stellt sie nicht her. Selbst wenn von der Zweifelhafitigkeit eines solchen Rückgriffs auf die Zeit der römischen Republik abgesehen wird und auch die Fragwürdigkeit der Verortung einer solchen Argumentation in einer Wortsinndeutung unbeachtet bleibt, können die von B. Rieder derart gefundenen Anhaltspunkte für eine Zensurtätigkeit im formellen Sinn und für den Begriff der Vorzensur 6 nicht nachvollzogen werden. Bestand die erste Aufgabe der Zensoren darin, alle fünf Jahre die Volkszählung (census) abzuhalten und dabei anhand der angegebenen Vermögen die Listen der Senatoren, Ritter und Bürger aufzustellen, hatte diese Bewertung wesentliche Folgen für Steuerlast, Kriegsdienst und politische Rechte, blieb aber doch wohl in der Bedeutung von „zählen", „schätzen", „dafürhalten" und ohne Hinweis auf be2

S. oben (Einleitung), S. 30 f. Einen Ertrag dieser Begrifflichkeit für die Auslegung des Verfassungssatzes verneint im Ergebnis auch B. Rieder, S. 54. 3 Vgl. oben, S. 41 ff. (1. Teil, 2. Abschnitt). 4 Oben, S. 56 ff. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 2. - 5.). 5 Vgl. BVerfG (Kammerentscheidung), NJW 1994, 244 und 1149; dazu schon oben, S. 82 f. (1. Teil, 3. Abschnitt, B.). 6

B. Rieder, S. 53, 54, 95 f., 100.

92

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

stimmte Verfahren der Äußerungsinhaltskontrolle. Nahmen die Zensoren darüber hinaus die Macht in Anspruch, unsittlichen und unmoralischen Lebenswandel mit der Eintragung einer nota censoria in die Bürgerlisten zu strafen und den Betroffenen aus dem Senat oder der Ritterschaft auszuschließen bzw. aus einer ländlichen in eine städtische Tribus zu versetzen oder ganz aus den Tribus auszustoßen, mögen in den Tatbestand relevanter Sittenverletzungen auch Äußerungen miteingeflossen sein. Immer handelte es sich dann aber um nachträgliche Ahndungen und liegt der Erlaubnisvorbehalt fern. Vergabe öffentlicher Aufträge und Verpachtung der Staatseinkünfte und -ländereien als weitere Aufgaben der censura blieben schließlich ohne jeden Zusammenhang mit einer Äußerungsinhaltskontrolle. Wenn nicht der Wortsinn, so könnten doch geschichtliche Aspekte bei der Bestimmung des Zensurbegriffes ein ausschlaggebendes Gewicht erlangt haben. Tatsächlich wird die Bedeutung eines historischen Verständnisses unter besonderer Hervorhebung der im Vormärz praktizierten Pressezensur des öfteren betont 7 . Doch kann sich diese Geschichte überwiegend nicht zum alleinentscheidenden Auslegungsargument aufschwingen. Teilweise ist sie nicht einmal ausschlaggebend, sondern dient als Hintergrund für die Entwicklung des zensurrelevanten Kriteriums, das im „rechtspolitischen Zweck der Zensur, der zugleich ihr Wesen ausmacht", gefunden wird 8 . Häufig scheint der geschichtliche Verweis die Übereinstimmung heutiger Auslegung mit einer früheren Deutung zu signalisieren, ohne jedoch der Tradition den Charakter eines Argumentes mit Ausschließlichkeitscharakter zusprechen zu wollen; Aussagen, die eine Untersuchung der ratio des Zensurverbotes von vornherein ausschließen oder gar explizit mit dem historischen Argument für unzulässig halten, finden sich nicht 9 . Wenn Bezugnahmen auf die historische Genehmigungspflichtigkeit ein Argument gegen davon abweichende Zensurdeutungen sein sollen, handelt es sich nur um die Abgrenzung von materiellen, Zensur (zusätzlich) als Inhaltsmaßstab begreifenden Definitionen 10 , nicht aber um Auseinandersetzungen mit ausgedehnten formalen Interpretationen. Zudem tragen selbst bei der Ablehnung der materiellen Zensurbegriffe nicht der historische, sondern andere Einwände die Hauptlast, besonders der bereits oben 11 erwähnte systematische Aspekt. Soweit für die Auslegung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG relativ unmittelbar

7

B. Rieder, S. 56, 81 f.; v. Mangoldt/Klein/Starck,

Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 102;

Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 743; U. Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1 (78). 8

9

B. Rieder, S. 83.

Vgl. Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 743; U. Scheuner, VVDStRL 22(1965), 1,78. 10 Vgl. U. Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1, 78 f. 11 S. 79 f. (1. Teil, 3. Abschnitt, B.).

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

93

Deutungen des letzten Jahrhunderts maßgeblich sein sollen 12 , müßte eine gewisse Ergebniskonsistenz erwartet werden. Damit scheint es nur schwer vereinbar, wenn einerseits das grundgesetzliche Zensurverbot mit der Untersagung (nur) des Erlaubnisvorbehalts - über Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV - eine im 19. Jahrhundert entwickelte Aussage in das Grundgesetz übernehmen soll 1 3 , andererseits aber die Zensur dieser Zeit mit dem von G. H. v. Berg 1818 sogenannten „Präventivsystem" gleichgesetzt w i r d 1 4 , das mit polizeilichen Präventivmaßregeln außerhalb des Erlaubnisvorbehaltes mehr als nur das Genehmigungserfordernis erfaßt 15 . Aber selbst von solchen Irritationen über die Deutung des Zensurverständnisses in der Zeit vor 1848 abgesehen, ist es möglich, unter der Prämisse eines maßgeblichen Einflusses des geschichtlichen Verständnisses im Zensurverbot des Grundgesetzes nicht nur den Erlaubnisvorbehalt geregelt zu sehen. So geht etwa M. Löffler von der Übernahme einer in der Geschichte der Zensur entwickelten Bedeutung aus 16 , gelangt aber unter Einbeziehung der von der Kirche bis zum Buchdruck für ausreichend erachteten und später neben der censura praevia weiterverfolgten censura repressiva 17 gerade aus dieser Sicht zu einem umfassenderen, planmäßige Kontrolle auch nach Verbreitungsbeginn erfassenden Zensurverständnis 18. Ähnliches wie bei dem Blick auf das 19. Jahrhundert ergibt sich für die Berufung auf die Weimarer Reichsverfassung als den jüngsten Vorgänger des Grundgesetzes. Angesichts des mit Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG übereinstimmenden Wortlautes von Art. 118 Abs. 2 S. 1 HS. 1 W R V 1 9 und unter Annahme einer „Rückkehr" des Allgemeinen Redaktionsausschusses zu der Weimarer Formulierung zieht das Bundesverfassungsgericht die damals herrschende Deutung 20

als Verbot der „Vorzensur" heran , mißt diesem entstehungsgeschichtlichen Argument aber - im Einklang mit der Mehrzahl seiner sonstigen Stellungnahmen zur Aussagekraft der Entstehungsgeschichte21 - lediglich den Rang einer 12

So wohl v. Mangoldt/Klein/Starck,

13

v. Mangoldt/Klein/Starck, v. Mangoldt/Klein/Starck,

14

15

Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 102.

Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 102. Art. 5 Abs. 1, 2 Fn. 368 zu Rn. 102.

Vgl. G. Η. v. Berg, Gutachten, S. 298 ff., 328 ff. Presserecht, § 1 LPG Rn. 140; NJW 1969, 2225. 17 Die kirchliche Bücherzensur begann im Rahmen der Inquisition mit der censura repressiva, die seit 1564 mit dem Index librorum prohibitorum verknüpft wurde und nach der Erfindung des Buchdrucks in ihrer Bedeutung hinter der gegen Ende des 15. Jahrhunderts eingeführten censura praevia zurückblieb, aber in reformierten Zeiten unabhängig von der kirchlichen Zensurgewalt über die Verfasser gegen Schriften von Nichtkatholiken eingesetzt wurde. 18 Presserecht I, § 1 LPG Rn. 140 ff; NJW 1969, 2225 (2226 f.). 19 Art. 118 Abs. 2 S. 1 WRV: „Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden." 20 E 33, 52 (73). 21 Vgl. BVerfGE 1, 117 (127); E 4, 358 (364 f.); E 6, 389 (431); E 62, 1 (45). 16

94

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Bestätigung der zuvor 2 2 mit anderen Mitteln gefundenen, Maßnahmen nach Verbreitungsbeginn ausschließenden Interpretation bei. 23 Läßt selbst ein solches Verständnis die Möglichkeit weiterer Auslegungsversuche unberührt, sind doch Zweifel schon an der Einschätzung anzumelden, der pouvoir constituant habe mit dem Anschluß an die Weimarer Verfassung den Willen zu einer unverbrüchlichen Fixierung der damals herrschenden Meinung zum Ausdruck gebracht. Der Hinweis des Gerichtes, eine Äußerung des Abg. Dr. Bergsträßer 24 , die Vorzensur stelle nur einen Teil der Zensur dar, sowie seine Bemerkung 25

„Die Nachzensur wollen wir doch auch nicht" , seien „nicht weiter verfolgt worden" 2 6 , scheint ein in sich plausibles Argument abzugeben, solange er mit der Vorstellung verbunden wird, Bergsträßer habe in einer schlicht „Zensur" verbietenden Vorschlagslage auf eine besondere Verankerung des Grundrechtsschutzes gegen „Nachzensur" dringen wollen. Doch standen in dieser Sitzung erstmals die kritische Würdigung R. Thomas 27 und der daran angelehnte Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses v. 16.11.48 28 zur Debatte, die das bis dahin als ein solches der „Zensur" vorgesehene Verbot 29 in eine ausdrückliche Untersagung (nur) der „Vorzensur" umgestalten wollten 3 0 . A u f diesen expliziten Ausschluß der Nachzensur zielte die Bemerkung Bergsträßers und hatte zur Folge, daß aus „Vorzensur" noch in derselben Sitzung des Grundsatzausschusses wieder „Zensur" wurde 3 1 . Die vom Allgemeinen Redaktionsausschuß akzeptierte 32 , bis zu seiner letzten Fassung33 und auch im Plenum

22

E 33, 52 (72). E 33, 52 (73). 24 In der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates v. 24.11.48. 25 JbÖffRN. F., Bd. 1 (1951), S. 83. 26 BVerfGE 33, 52 (73). 27 Drs. 244. 28 Drs. 282, auch JÖR 1 (1951), S. 81. 29 Art. 7 III Ch.E. und Art. 8 III der Fassung des Grundsatzausschusses v. 29.9.48 (JÖR 1 [1951], S. 80). 30 Art. 7 Abs. 1 S. 2 des Vorschlags von R. Thoma: „Eine Vorzensur der Presse, des Theaters und der öffentlichen Vorträge findet nicht statt." (JÖR 1 [1951], 81); Art. 8 Abs. 1 S. 2 der Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses v. 16.11.48: „Eine Vorzensur der Presse, des Theaters, des Rundfunks und der öffentlichen Vorträge findet nicht statt." (JÖR 1 [1951], S. 81). 31 Art. 6 Abs. 3 S. 2 der Fassung des Grundsatzausschusses v. 24.11.48: „Eine Zensur von Presse und Rundfunk findet nicht statt." (JÖR 1 [1951], S. 84). 32 Art. 6 Abs. 3 S. 2 der Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses v. 13.12.48: „Eine Zensur der Presse, des Theaters, des Rundfunks und der öffentlichen Vorträge findet nicht statt." (JÖR 1 [1951], S. 85). 33 Die letzte Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses v. 2.5.49 war die erste Formulierung der endgültigen Art. 5 Abs. 1 u. 2 GG (JÖR 1 [1951], S. 88). 23

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

95

nicht mehr in Frage gestellte 34 Rückkehr war also eine solche zur sprachlichen Offenheit, ein Hinweis auf den Willen des Verfassungsgebers höchstens insoweit, als eine Entscheidung über den Ausschluß oder die Aufnahme einer Nachzensur offenbar nicht, jedenfalls aber nicht ausdrücklich und unwiederbringlich getroffen werden sollte. So wird der Geschichte der Entwürfe - entgegen dem Bundesverfassungsgericht - kein Argument für die Festlegung des Zensurverbotes auf die Vorzensur bzw. den Genehmigungsvorbehalt, ebensowenig aber - entgegen M . Löffler 3 5 - ein Hinweis auf die Einbeziehung weiterer Maßnahmen entnommen werden können 3 6 . Weder Wortlaut noch historische Argumente erzwingen eme Auslegung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG, die die Gründe des Verbotes nicht berücksichtigt. Ein Eingehen nicht nur auf den Zensur begriff im Sinne der Beschreibung einer Kontrolle, sondern auch auf das Zensurverbot, d. h. die ratio der Ächtung der Kontrolle, ist vonnöten.

2. Abschnitt

Bundesverfassungsgericht und Literatur zum Schutzzweck des Zensurverbotes Schutzzweck oder ratio des ZensurVerbotes sind nicht schon mit dem Zweck der Zensur zutreffend beschrieben 37 . B. Rieder folgert die Identifikation von Zensur und Genehmigungspflichtigkeit aus dem rechtspolitischen Zweck der Zensur, der in einer möglichst effektiven Vorbeugung gegen die Gefahren der Meinungsäußerung und damit in der Verhinderung der Veröffentlichung unerwünschter Meinungen zu finden sei 3 8 . Soll diesem zugleich Wesen und Funktion der Zensur ausmachenden39 Zweck nur die auch „allgemeines Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" genannte Genehmigungspflichtigkeit Rechnung tragen 40 ,

34

JÖR 1 (1951), S. 29. Presserecht I, § 1 LPG Rn. 147, unter Überbewertung der Initiative Bergsträßers. 36 Im Ergebnis ebenso B. Rieder, S. 140, 164 f.; M. Breitbach, U. F. H. Rühl, NJW 1988,8 (11). 37 Wird der Normzweck als Auslegungsmittel akzeptiert, dürfte der Satz verallgemeinerungsfahig sein. Der Zweck des Verbotes eines Verhaltens erschöpft sich nicht schon in der Negierung der Zwecke des verbotenen Verhaltens. Der rechtspolitische oder sonstige Zweck (der Zensur) ist etwas anderes als die Gründe, die es verbieten, den Zweck (der Zensur) oder das Mittel zu diesem Zweck (die Zensur) zu verfolgen. 38 B. Rieder, S. 84 f., 95 u. passim. 35

39 40

Β. Rieder, S. 84 f., 83. Β. Rieder, S. 95.

96

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

wird eine Begründung für einen Zensurbegriff gewonnen 41 , die lediglich die Sicht und die Ziele der - historisch bestimmten - Kontrolle berücksichtigt und bei der Umsetzung der so gewonnenen Definition in ein sie spiegelndes Verbot nach wie vor nicht einmal versucht, Aufschluß über - eventuell weiterreichende - Gründe und Zwecke des Zensurverbotes zu geben. Soweit Aussagen zum Schutzzweck oder der ratio des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG vorliegen, führen sie die „Lähmung des Geisteslebens" als unerwünschte und mit dem Verbot zu verhindernde Wirkung von Zensur an 4 2 . Positiv gewendet tritt damit hinter Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG das (lähmungs)freie Geistesleben hervor, ohne daß allerdings durch den Hinweis auf die „typischen Gefahren einer solchen Präventivkontrolle" 43 besonders erhellt wird, welche Erscheinungen die nicht gewollte „Lähmung" ausmachen sollen. Als mögliche Merkmale eines solchen Zustandes finden sich bei W. Hoffmann-Riem die kontrollbedingte

41 Letztlich ist nicht durchgängig klar, ob, wie im Text angenommen, Rieder meint, der Zensurzweck möglichst effektiver Vorbeugung bestehe in der wirksamen Verhinderung der Verbreitung unerwünschter Äußerungen und dieses Ziel sei nur durch den Erlaubnisvorbehalt erreichbar, der deshalb die Zensur ausmache (in diese Richtung S. 95,

181), so daß der Zweck als vom Ergebnis „ Genehmigungspflichtigkeit " getrenntes Auslegungsmittel erkennbar bleibt (so das Verständnis wohl auch bei B. Pieroth AfP 1972,

240), oder ob für Rieder Zweck, Funktion und Wesen der Zensur in der ,,wirksame[n] Vorbeugungsmaßregel" liegen, „die sich in einem formellen Verfahren herauskristallisierte" (S. 85), also schon der Zweck nicht möglicherweise auch anders realisierbare lückenlose Kontrolle erfaßt, sondern von vornherein nur die „effektive Vorbeugungsmaßregel" in der Gestalt der Genehmigungspflichtigkeit meint (in diese Richtung S. 85, 184). In diesem Fall würde von vornherein nicht mit einem außerhalb der Genehmigungspflichtigkeit liegenden und von ihr getrennt gedachten Zweck argumentiert, sondern der Zweck der Genehmigungspflichtigkeit in der Genehmigungspflichtigkeit gesehen. Den Zweck eines Gegenstandes mit dem Gegenstand zu beschreiben, ergibt aber kein anerkanntes Argument für die Unterscheidung des Gegenstandes von anderen Gegenständen, das über die schlichte Beschreibung des Gegenstandes hinausgeht. Wenn also der Zweck einer Äußerungen lückenlos erfassenden Genehmigungspflicht in der Einführung lückenloser Genehmigungspflichtigkeit bestehen soll, kann daraus kein Argument für die Gleichsetzung von Zensur und Genehmigungspflicht folgen, das über die Aussage hinausgeht, die als Genehmigungspflichtigkeit (historisch) eingeführte Zensur habe die Genehmigungspflichtigkeit zum Zweck gehabt. 42

BVerfGE 33, 52 (72): „Schon die Existenz eines derartigen Kontroll- und Genehmigungsverfahrens lähmt das Geistesleben. Das Zensurverbot soll die typischen Gefahren einer solchen Präventivkontrolle bannen."; W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG, 1. Aufl. 1984, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 77, 75 (ebenso 2. Aufl. 1989); ders., HbVerfR, S. 191 (221, Rn. 44 f.); Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 136, Rn. 743; ähnlich R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 300, 299 (1982); vgl. ferner noch H. Ridder AfP 1969, 882. Nur als Hinweis auf das historische Motiv der ersten Zensurverbote und nicht als Aussage über einen potentiell auslegungsrelevanten Schutzzweck der grundgesetzlichen Norm erwähnt hingegen Gerd Heinrich Kemper, 1964, S. 75, die „Erfahrung, daß bereits die Existenz eines derartigen Kontroll- und Genehmigungsverfahrens das Geistesleben lähmt [..]". 43 BVerfGE 33, 52 (72), vgl. Fn. 42.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

97

Einschüchterung kommunikationsbereiter Bürger 44 , eine Verengung des Kommunikationsspektrums 45 und die Gefahr der Meinungslenkung 46 . Unabhängig von der Frage nach der Plausibilität dieser Konkretisierung und nach der Möglichkeit von Konkretisierungen überhaupt scheint eine gewisse Übereinstimmung zu bestehen, daß das Zensurverbot bestimmte mit dem klassischen Zensurverfahren verbundene Gefahren bekämpfen soll und daß in dem Begriff der „Lähmung" ein Anhaltspunkt für die Art und den näheren Inhalt der relevanten Gefahren gesehen werden kann. Ganz unterschiedlich sind hingegen die aus der Annahme eines solchen Schutzzwecks gezogenen Konsequenzen. Teilweise wird mit seiner Hilfe, da nicht nur der Erlaubnisvorbehalt, sondern auch andere systematische Inhaltskontrolle lähmende Kommunikationsbehinderungen verursache, die Ausdehnung des Zensurverbotes zu einem Verbot jeder systematischen bzw. planmäßigen Kontrolle begründet 47 . Zuweilen soll aber auch Kontrolle, die den Schutzzweck beeinträchtigt, zwar keinen Zensurcharakter annehmen, wohl aber von Ausstrahlungswirkungen des Zensurverbotes beeinflußt werden können 48 . Demgegenüber verwendet das Bundesverfassungsgericht den Schutzzweck lediglich innerhalb einer Argumentation gegen die Ausdehnung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG auf weitere Verfahren als die Genehmigungspflicht. Eine solche Wendung würde allerdings die Relevanz der Frage nach einer näheren Untersuchung und Konkretisierung der mit dem Zensurverbot begegneten Gefahren zensureller Kontrolle erheblich beschränken und soll deshalb zunächst erörtert werden. Da schon die Existenz einer Vorzensur im Sinne des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt das Geistesleben lähme, müsse - so das Gericht 49 - das Zensurverbot ausnahmslos gelten; ein derart „kategorisches Verbot" könne aber „mit dem Verbot jeder Zensur" nur die Vor- und nicht die Nachzensur, d. h. erst nach Veröffentlichung einsetzende Kontroll- und Repressivmaßnahmen, erfassen wollen, weil anderenfalls die allgemeinen Regeln über die Äußerungsfreiheiten und ihre Schranken aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2 GG gegenstandslos würden 50 . Dazu ist zunächst lediglich klarstellend anzumerken, daß mit den „leer44

AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 75, 78, 77. AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 75. 46 AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 75. 47 Vgl. oben, S. 56 f. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 2.). 48 Vgl. Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 751 f.; BVerfGE 33, 52, 78 ff. - Sondervotum, (88 f., 90); vgl. schon oben, S. 63 f. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., I., 6.). 49 BVerfGE 33, 52, vgl. oben, S. 89 f. 50 BVerfGE 33, 52 (72); Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 743; M. Bullinger, in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG Rn. 122, vgl. auch Rn. 127; ähnlich R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 298; H. v. Hartlieb, Handbuch, S. 5 (2. Kap. Rn. 17). 45

7 Fiedler

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

laufenden" Regeln und Schranken nur die (auch) öffentlich-rechtlichen Inhaltsschranken und ihre staatliche Durchsetzung, nicht (auch) privatrechtliche inhaltsregelnde Normen und deren zivilgerichtliche Sanktionierung 51 oder inhaltsunabhängige Grenzen gemeint sein können. Die Behauptung, ein Nachzensurverbot ließe die Inhaltsschranken im Hinblick auf staatlicherseits initiierte Kontrollverfahren leerlaufen, beruht allein auf der Prämisse, das Zensurverbot müsse als ausnahmslose, absolute Anordnung entweder jede Kontrolle nach Verbreitungsbeginn verbieten oder unanwendbar sein. Diese Voraussetzung erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als Übertragung einer für die Vorzensur in Gestalt des Erlaubnisvorbehaltes entwickelten Wertung auf später einsetzende Kontrolle, die diese nicht trifft und deshalb auch nicht Bedingung ihres Verbotes sein kann. Die Absolutheit des Verbotes der Vorzensur wird damit begründet, daß „schon die Existenz eines derartigen Kontroll- und Genehmigungsverfahrens das Geistesleben lähme" und angesichts der Gefahren dieser Präventivkontrolle ihr Verbot keine Ausnahme vertrage 52 . Die mit den spezifischen Gefahren des Erlaubnisvorbehaltes begründete Absolutheit seines Verbotes kann aber nicht unbesehen jeder Geltung eines Verbotes zugrunde gelegt werden, das sich mit der Vielzahl der nach Verbreitungsbeginn möglichen, sich vom Erlaubnisvorbehalt unterscheidenden und Gefahren der fraglichen Art in sehr unterschiedlicher Weise produzierenden Verfahren befassen soll. Das Postulat der Absolutheit haftet an den Gefahren der Präventivkontrolle „Erlaubnisvorbehalt"; es kann nicht unbesehen von dieser Konstellation abstrahiert und auf jede potentielle Geltung des Zensurverbotes für andere Verfahren übertragen werden. Da statt dessen Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG Vorzensur oder Erlaubnisvorbehalte ausnahmslos und Kontrolle nach Verbreitungsbeginn nur mit bestimmten Parametern, etwa als systematische, untersagen könnte, läßt auch die Einbeziehung von „Nachzensur" die Inhaltsschranken nicht leerlaufen 53 .

51

Nur gegenüber einstweiligen vor Veröffentlichung wirkenden Verfügungen, nicht aber hier allein interessierenden späteren zivilgerichtlichen Unterlassungs-, Widerrufsund Verurteilungen zum Ersatz materieller bzw. immaterieller Schäden wird die Möglichkeit einer Einflußnahme des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG im Wege der sogenannten Drittwirkung erwogen; vgl. R. Schnur, VVDStRL 22 (1965), 101 (142 f.); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 78 Fn. 3, Rn. 300. 52 BVerfGE 33, 52 (72). 53 Eine in der Struktur dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ähnliche Argumentation findet sich bei W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 79, wenn er meint, das Zensurverbot, sollte es auch Verbreitungsbeschränkungen zur Abwehr konkreter Inhaltsgefahren untersagen, müsse dann auf das Verbot solcher Maßnahmen vor Verbreitungsbeginn, d. h. die Vorzensur, beschränkt bleiben und könne keine Nachzensur verbieten, weil ansonsten Art. 5 Abs. 2 GG leerliefe. Letzteres unterstellt, wird wiederum die nicht zwingende Übertragung einer für die Kontrolle vor Verbreitungsbeginn angestellten Erwägung - hier das Verbot der Abwehr konkreter Gefahren - auf alle Kontrolle nach der Veröffentlichung für eine sachgegebene Notwendigkeit gehalten. Richtigerweise bliebe eine Auslegung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG möglich,

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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Dieses Ergebnis gilt unabhängig davon, ob Nachzensur alle erst nach Veröffentlichung einsetzenden Kontroll- und Repressivmaßnahmen einschließlich strafverfolgungsakzessorischer Weiterverbreitungshinderung und Strafe erfaßt 54 oder, enger verstanden, noch Platz für die dritte Gruppe der Repressivmaßnahmen läßt, die sich von der konkret verbreitungshindernden Nachzensur durch bloße Ahndung unterscheiden könnten 55 . Umfaßt Nachzensur alle Maßnahmen nach Verbreitungsbeginn, untersagte Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG nur Ausschnitte der Nachzensur; je enger hingegen der Begriff und je deckungsgleicher folglich mit ggf. verbotenen Verfahren, desto „ausnahmsloser" wäre ein Nachzensurverbot. Ferner hängt die Möglichkeit eines bestimmte Verfahren der Inhaltskontrolle nach Verbreitungsbeginn erfassenden Zensurverbotes auch nicht davon ab, ob „Gegenstandslosigkeit" die völlige Sanktionslosigkeit der Inhaltsschranken meint oder schon dann gegeben sein soll, wenn keine oder doch nur strafrechtsakzessorische konkret verbreitungsbeschränkende Maßnahmen und darüber hinaus Repression im Sinne von Strafe, Bußgeld, Verweis etc. möglich sind 5 6 . Denn selbst wenn man annehmen wollte, die Inhaltsschranken liefen leer, wenn sie, wie etwa im Bereich öffentlicher Reden oder im Rundfunk

die Vorzensur auch in der Gestalt konkreter Gefahrenabwehr, als Nachzensur hingegen nur systematische Kontrolle verböte. 54 So BVerfGE 33, 52 (72, 73), auf S. 73: „Strafen sind der klassische Fall repressiver Maßnahmen"; ebenso Drews/Wacke/Vogel/Martens, S. 271. Nachzensur als straf-, zivil- und ggf. disziplinarische Verantwortlichkeit, allerdings ohne Einordnung schlichter Weiterverbreitungsverbote, auch bei v. Mangoldt/Klein/Starck,, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn.

102.

55

M; Breitbach, U. F. H Rühl, NJW 1988, 8 (11) mit der Unterscheidung einer Nachzensur, die „nach dem Beginn der Betätigung mit dem Ziel ansetzt, die weitere Betätigung zu behindern oder zu verhindern" (Nachzensur) und „repressiven Maßnahmen", „die sich auf die Kommunikationsfreiheit insgesamt auswirken, ohne im Einzelfall die Verbreitung zu be- oder verhindern". Fraglich ist die sich „auf die Kommunikationsfreiheit insgesamt" auswirkende Kategorie, da auch die Strafe den Einzelfall trifft und den nächsten Fall bzw. die Fortsetzung der sanktionierten Äußerung verhindern kann. Der zweite Schnitt zwischen „Nachzensur" und „Ahndung" muß also immer einen „natürlichen" Äußerungs- oder Verbreitungsbegriff zugrunde legen, der, ähnlich dem strafprozessualen Tatbegriff, auf reale Strukturen zurückgreifen und etwa bei der Tageszeitung leichter, im Fall des Theaterstückes oder des schlecht verkauften, noch in hoher Zahl gelagerten Buches schwerer zu konkretisieren sein wird. 56 So offenbar W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 79, mit der hier abgelehnten Bezeichnung einer inhaltsunabhängig definierten Zensur, sc. jeder beschränkenden Maßnahme bzw. jeder beschränkenden Maßnahme vor Verbreitungsbeginn, als materiell (vgl. oben, S. 50 f. [1. Teil, 2. Abschnitt, Α., I., 1., b), bb) u. 1. c)]). Seine Aussage, das Zensurverbot könne „als Verbot jeglicher beschränkender Maßnahmen, also auch solcher zur Abwehr konkreter Gefahren" nur die Vorzensur, nicht aber die Nachzensur erfassen, weil sonst „Art. 5 Abs. 2 leer" „liefe", sagt allerdings nichts darüber aus, ob er zur konkreten Gefahrenabwehr auch die strafprozessualen Verbreitungsbeschränkungsmöglichkeiten zählt und erklärt vor allem nicht, warum Art. 5 Abs. 2 leerlaufen soll, wenn Übertretungen von Inhaltsschranken mit Bestrafung etc. geahndet werden.

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

schon aus verbreitungsartbedingten Gründen, jenseits der Vorzensur keine verbreitungshindernde Nachzensur zur Verfügung haben und vollständig auf repressive Maßnahmen verwiesen sind, beschränkt sich zwar das Ausmaß eines denkbaren Nachzensurverbotes. Es bleibt aber nach wie vor unbenommen, unter den möglichen Kontrollen in bestimmter Weise qualifizierte Verfahren für unzulässige Zensur zu halten. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, die ratio des Zensurverbotes verlange seine absolute Geltung und schließe deshalb jede Erstreckung auf Maßnahmen nach Verbreitungsbeginn kategorisch aus, ist also abzulehnen.

3. Abschnitt

„Lähmungsrisiken" - Konkretisierung der durch Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG abgewehrten Gefahren Jede heutige Interpretation des grundgesetzlichen Zensurverbotes sieht sich mit einer doppelten historisch bedingten Schwierigkeit konfrontiert. Angesichts der schon relativ lang zurückliegenden regelmäßigen Praxis von Verfahren der zweifelsfrei verbotenen klassischen Art fehlt für die Ermittlung der Bedeutung und für die Einschätzung typischer Auswirkungen dieser Kontrolle die eigene Anschauung und müssen in die seinerzeitigen Diskussionen eingebundene Quellen genutzt werden. Außerdem haben sich im Laufe der Zeit mit technischen, gesellschaftlichen und auch rechtlichen Veränderungen der Kommunikationsmöglichkeiten in vielen Teilen veränderte Strukturen des einschlägigen Freiheitsbereiches ergeben, die in ihrer Beziehung zu staatlichen Inhaltskontrollverfahren abweichende Eigenheiten aufweisen mögen, ohne daß deren Belang für eine Interpretation des Zensurverbotes von vornherein kategorisch ausgeschlossen werden könnte. Historische Erfahrungen, heutige Kommunikationssituation und ihr rechtliches Umfeld werden dabei notwendig und nicht immer vollständig voneinander trennbar ineinandergreifen.

A. Erste Abgrenzung und positive Aspekte der Zensur I. Gleiche Effekte zensurunverdächtiger Kontrolle Lähmung im Sinne unerträglich scheinender Behinderung von Äußerungsmöglichkeiten, von Äußerungen schlechthin oder von Äußerungen bestimmten Inhalts kann durch nicht zensurverdächtige Kontrollverfahren ebenfalls erreicht werden. So gibt es Berichte, die in einigen Phasen der englischen Geschichte die Situation der zensurfreien Presse wegen der harten und nicht ausreichend vorhersehbaren Strafen für schlechter und unbeweglicher hielten als diejenige der zensierten Presse zur gleichen Zeit unter einer milden Zensur in einigen

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

101

deutschen Staaten 57 . Wenn solche Berichte auch im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Vergleiches einzelner Phänomene verschiedener Gesellschaften mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten sind, vor allem wenn sie aus der Feder F. v. Gentz' stammen, der damit für die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung der Zensur im gesamten Deutschen Bund kämpfte, ist doch unzweifelhaft, daß die Genehmigungspflicht weder ein Monopol auf die Unterdrückung freien Geistesaustausches hat noch zwingend das Versiegen jeder Geistestätigkeit und deren Veröffentlichung zur Folge haben muß. Mit einer allein an die einzelne Äußerung anknüpfenden repressiven Praxis hinreichend schwerer, insbesondere die wirtschaftliche oder gar die persönliche Existenz bedrohender Sanktionen für die Überschreitung inhaltlicher Schranken können Publikationen und sonstige öffentliche, ja sogar private Äußerungen in gleichem und sogar noch einschneidenderem Maße von Inhalten respektive Personen frei gehalten bzw. auf bestimmte Inhalte und Urheber beschränkt werden 58 . Auch kann nicht zensurelle Kontrolle explizit mit unerwünschten Inhalten in Verbindung gebrachte Personen von Äußerungsmöglichkeiten fernhalten, indem mittels Berufszulassungsregelungen, Publikationsverboten etc. personale Inhaltssteuerung geübt wird. Verwandt damit sind organisations-, ζ. Β. presseorganbezogene Maßnahmen. Geht all diese Kontrolle noch von der prinzipiellen Möglichkeit und Legitimität einer nicht dem Kontrolleur zuzurechnenden und insoweit freien Äußerung aus, kann kumulativ oder alternativ der Kontrolleur die Äußerungsmöglichkeiten in Form offener oder mehr oder weniger verdeckter Beteiligung an den einschlägigen Organisationen an sich ziehen 59 . Deutlich wird damit, daß das Zensurverbot -ungeachtet der Frage nach der Berechtigung gewisser Schlüsse a maiore ad minus - Gefahren spezifischer Inhaltskontrollverfahren abwehren will, die einen Bezug zu relativ konkreten Äußerungen aufweisen, 57 Vgl. F. v. Gentz, Preßfreyheit in England, in: Jahrbücher der Literatur, Bd. I, 1818, S. 210 (215, 218 ff.); G. H. v. Berg, Gutachten, S. 305; relativ andere Sicht bei

Habermas, S. 78. 58

Hinreichend scharfe Strafe läßt es für die Unterdrückung der Person auch gleichgültig werden, ob Strafanlaß „nur" ungenehmigte Veröffentlichungen, d. h. Zensurpflichtverletzungen oder (auch) Verstöße gegen Inhaltsverbote sind (vgl. für Beispiele aus dem ausgehenden 18. Jhd. etwa J. Habermas, S. 94 m. N.). Als wirksames Kontrollmittel gegen Personen erweisen sich ferner Strafprozesse, die nicht an Äußerungen, sondern anderes Verhalten, ζ. B. geheimdienstlich ermittelten und behaupteten Drogenbesitz anknüpfen; zu solchen Hintergründen russischer Strafprozesse gegen Autoren vgl. Die Welt v. 31.1.1996. (S. 8). "Lähmung" durch „Bestrafung" steht ferner sogar nicht über Staatsgewalt verfügenden Gruppen zur Verfügung, wenn sie mit Willen und hinreichenden Mitteln zur Gewalt die Urheber nicht genehmer Veröffentlichungen verfolgen, wie etwa das Beispiel Algeriens auch schon Anfang der 90er Jahre zeigte. 59 Verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten äußerungs- und personenbezogener Kontrolle von Presse und Rundfunk mit unterschiedlichen Intensitätsgraden zeigt Peter N. Takirambudde, African Journal of International and Comparative Law 1995, 18 ff, in einem Überblick über die seinerzeitige Situation der Medienfreiheiten in den Staaten Afrikas.

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

und daß es dabei jedenfalls nicht Gefahren der Repression im Sinne reiner Strafe für eine vergangene Äußerung meint. Ein Zustand der Bewegungslosigkeit des Geisteslebens, der als Folge von Kommunikationskontrolle „Lähmung" genannt würde, könnte auch ohne staatlichen Zwang entstehen. Ungeachtet der Unwahrscheinlichkeit eines derartigen Befundes - und der zu vermutenden Unmöglichkeit, ihn gegebenenfalls mit hinreichendem Konsens zu diagnostizieren - handelte es sich allerdings um kein Grundrechtsproblem 60 , sondern um grundrechtlich geschützte Apathie.

II. Variationsbreite möglicher Wirkungen von Zensur Ebenso wie zensurgleiche oder -nahe Beeinträchtigungen auch nicht zensureller Kontrolle folgen können, variieren die realen Lähmungswirkungen einer Zensur in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation. So kann der Erlaubnisvorbehalt in einer Konstellation praktisch jede geistige Auseinandersetzung unterbinden, in einer anderen hingegen, in der er auf widerstandswillige und widerstandsfähige Akteure sowie ein entsprechendes Publikum trifft und gleichzeitig durch schwache oder Freiheit zulassende Institutionen realisiert werden soll, das Geistesleben mit seiner Provokation vielleicht sogar beleben. Jedenfalls beleuchtet dieser Hintergrund, daß Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG bereits Gefahren oder Risiken der Lähmung des Geisteslebens verhindern will, wenn „Lähmung" das realisierte Risiko nicht oder nur beschränkt stattfindender Kommunikation meint 6 1 . Hingegen wendete sich das Zensurverbot unmittelbar gegen die Lähmung, wenn diese schon die Gefahren eines realen Erliegens von Kommunikation beschreibt 62 . Da sprachlich „Lähmung" eher einen Zustand realer Passivität und Bewegungslosigkeit kennzeichnet, scheint passender die Wortwahl, nach der das Zensurverbot Lähmungsrisiken und -gefahren zu verhindern sucht. Die Formulierung darf in ihrer „das Geistesleben" ansprechenden Komponente ebenfalls nicht ganz wörtlich genommen werden. Denn diese scheint die gesamte geistige Öffentlichkeit und - soweit von öffentlichen Quellen abhängig - Privatheit als Angriffsobjekt von Zensur vorauszusetzen, obwohl - wie die unstreitige Möglichkeit einer Zensur nur einzelner Äußerungswege, etwa der Presse, zeigt - jedenfalls die Abdeckung ganzer Medien genügt. So wird

60

Vgl. aber auch Ph Kunig, Jura 1995, 589 (595). Vgl. BVerfGE 33, 52 (72): „Das Zensurverbot soll die typischen Gefahren einer solchen Präventivkontrolle bannen." 62 Vgl. BVerfGE 33, 52 (72): „Schon die Existenz eines derartigen Kontroll- und Genehmigungsverfahrens lähmt das Geistesleben." Diese Aussage kann aber auch als Wiedergabe einer regelmäßigen historischen Erfahrung verstanden werden. 61

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

103

besser von Gefahren oder Risiken der Lähmung des Äußerungsverhaltens oder Lähmungsgefahren gesprochen.

III. Positive Effekte einer Vorabkontrolle „Risiken" oder „Gefahren" bezeichnen für hinreichend wahrscheinlich gehaltene negative Folgen des Erlaubnisvorbehaltes, die sein Verbot rechtfertigen sollen. Positive Folgen äußerungsinhaltsbezogener Erlaubnisvorbehalte finden hingegen praktisch keine Erwähnung. Dafür mag in der gefestigten Ablehnung aller erfolgreich mit dem Begriff „Zensur" verknüpften Maßnahmen ein Grund zu finden sein. Dabei kontrastiert die Selbstverständlichkeit der Ächtung des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt für Äußerungen auffallend mit der Selbstverständlichkeit der Zulässigkeit dieser Kontrolle in anderen ebenfalls grundrechtlich geschützten Lebensbereichen. Ob im Bau-, Berufs-, Außenwirtschafts- oder Straßenverkehrsrecht, bei der Sondernutzung öffentlicher Straßen und der Errichtung von Anlagen: Dort und überall, wo Verhalten rechtliche Grenzen überschreiten kann, leistet der Erlaubnisvorbehalt, weitgehend dem Ermessen des Gesetzgebers anheimgestellt 63 , wertvolle Dienste. Daß seine ihn in all diesen Fällen rechtfertigenden positiven Aspekte gerade gegenüber Äußerungen nicht feststellbar sein sollten, ist unwahrscheinlich.

1. Effektiver

Rechtsgüterschutz

Nahe liegt die Annahme, der Erlaubnisvorbehalt werde als „Verwendung der Form des Verbotes zu einer Überwachungsmaßregel gegen mögliche Gefährdung" 64 einen effektiven Schutz der in den Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit aktualisierten Rechtsgüter ermöglichen. Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 GG legen im Verein mit den in Ausfüllung der Schrankenermächtigungen erlassenen Gesetzen für den Bereich der Kommunikation eine prinzipielle Zweiteilung aller im Regelungsbereich möglichen Verhaltensweisen a n 6 5 . Jede Äußerung ist entweder von einem beschränkenden Gesetz erfaßt und somit auch

63

64

Vgl. Jürgen Held, S. 163 f. m. w. N.

Otto Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 240. Genauer: Neben einer im Bereich des Art. 5 Abs. 2 Alt. 3 GG angenommenen, umfänglich und in ihrer Bewehrung (Unterlassungsklage) beschränkten unmittelbaren Drittwirkung (vgl. M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 506 f., 403) bestimmen die schrankenziehenden Gesetze in dem Spielraum zwischen grundrechtswidriger Beschränkung und möglicher verfassungsrechtlicher Eingriffspflicht (Schutzpflicht) die rechtswidrigen Äußerungen. 65

104

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

von der Verfassung der Rechtswidrigkeit ausgesetzt, oder sie unterfällt keiner bestehenden Beschränkung und genießt Verfassungsschutz 66. Ungeachtet möglicher Schwierigkeiten der Zuordnung entscheidet im Rahmen dieser Dichotomie allein die Zugehörigkeit zu einem der beiden Bereiche über die Zulässigkeit der Meinungsäußerung. Aus der Gesamtheit der Schranken, die Äußerungen entweder im Hinblick auf inhaltsunabhängige Gefahren oder deshalb verbieten, weil ihr Inhalt 67 im Interesse der Integrität anderer Rechtsgüter zu mißbilligen ist, interessieren nur letztere als potentieller Genehmigungsmaßstab. Dabei verbieten freilich auch die inhaltsbezogenen Schranken keinen Meinungsinhalt, denn nicht das Entwickeln oder Haben einer Meinung gefährdet oder verletzt die durch die Schranken geschützten Rechtsgüter in einem rechtlich relevanten Sinn. Gedanken, Gefühle und nicht für die Ent-Äußerung bestimmte Aufzeichnungen 68 sind frei. Selbst der bloße Empfang von und die Verfügung über Verkörperungen geistiger Inhalte sind dem Einzelnen als Einzelnem unabhängig davon freigestellt, ob den seiner Wahrnehmung (notwendig) vorausgehenden Äußerungsakt der Vorwurf der Rechtswidrigkeit trifft 6 9 . Nur die Mitteilung oder die darauf gerichtete Tätigkeit vermag die notwendig auf andere bezogene geistige Wirkung zu entfalten bzw. deren Möglichkeit zu begründen, die bei inhaltlichen Schranken die Verletzung oder Gefährdung des maßgeblichen Rechtsgutes darstellt. Entsteht diese Gefahr erst durch die Äußerung bestimmter Inhalte bzw. darauf abzielendes Verhalten, muß genau dort auch die den Schutz des Rechtsgutes bezweckende Schranke notwendig ansetzen. Ziel der Inhaltsschranken ist es also, die Äußerung und Verbreitung bestimmter Meinungsinhalte und damit ihre geistig vermittelte Wirkung auf andere zu verhindern. Jede

66

Jenseits eines im Menschenwürdekern des Ehrenschutzes denkbaren, verfassungsunmittelbaren Äußerungsverbotes sind gesetzlose staatliche Eingriffe Grundrechtsverletzungen, ohne daß es darauf ankommt, ob der von einem solchen ungesetzlichen und damit zugleich grundrechts- und also materiell verfassungswidrigen Verbot Betroffene im Falle nicht hinreichenden einfachgerichtlichen Rechtsschutzes verfassungsprozessual in den Genuß einer begründeten bzw. zulässigen Verfassungsbeschwerde gelangt (vgl. dazu Arno Scherzberg, S. 25 f.; Klaus Schiaich, Rn. 214, 275). 67 Im Sinne aller Erklärungszeichen einschließlich der bloßen Form(ulierung)en auch anders mitteilbarer „Aussagekerne" der bei der Wahrnehmung zu berücksichtigenden Umstände, vgl. oben, S. 70 ff. (1. Teil, 2. Abschnitt, Β., IV.). 68 Allerdings können nicht zur Kenntnisnahme durch andere bestimmte, tatsächlich wahrnehmbare Gedankenmanifestationen im Rahmen der Entscheidung über sonstige Eingriffe herangezogen werden; vgl. zur Verwertung tagebuchartiger Aufzeichnungen in Strafverfahren BVerfGE 80, 367 (376 ff.). 69 Auch schon die Verschaffung und der Besitz von Schriften bestimmten Inhaltes sind in § 184 Abs. 5 StGB i. d. F. d. 27. StrÄndG v. 23.7.1993 (BGBl. I S. 1346) nicht wegen des als Äußerung ohnehin strafbaren Inhaltes (§ 184 Abs. 3 StGB), sondern deshalb unter Strafe gestellt, weil ihre Herstellung nicht die Fiktion, sondern reale schwere Straftaten (sexuellen Mißbrauch von Kindern) voraussetzt.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

105

verfassungsgemäße Äußerungs- und Verbreitungsbeschränkung setzt voraus, daß das bei freier Verbreitung der Meinung gefährdete Rechtsgut im konkreten Fall Vorrang vor der in Frage stehenden Meinungsäußerung genießt.70 Damit bedeutet innerhalb der Dichotomie jede und insbesondere auch die erstmalige Äußerung solcher Inhalte die nicht schutzwürdige Beeinträchtigung eines höherwertigen Rechtsgutes, die zu verhindern Aufgabe der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ist. Effektiven Rechtsgüterschutz gerade hinsichtlich erstmaliger Schrankenverletzung leistet aber die Abhängigkeit der Verbreitung von inhaltlicher Kontrolle. So verfolgt Zensur mit der Durchsetzung verfassungsgemäßer Schranken legitime Zwecke und erweist sich in hohem Maße als geeignet. An der Notwendigkeit im Sinne der Abwesenheit milderer, gleich geeigneter Mittel dürfte kaum ein Zweifel bestehen, da alle weniger gravierenden Maßnahmen mit der jedenfalls rechtstechnischen Möglichkeit einer gewissen Anfangsverbreitung zunächst mehr Schrankenübertretungen zulassen. Soweit die Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder Angemessenheit des Mittels allgemein oder doch im Rahmen der Äußerungsfreiheiten nicht zum Zuge kommen soll 7 1 , endet die Grundrechtsprüfung hier. Selbst eine weitere, in die Wechselwirkungslehre oder anderweitig eingekleidete Prüfungsstufe, die des Mittels nachteilige Folgen für die beschränkte Freiheit mit seinen Vorteilen für die geschützten Schrankengüter in ein Verhältnis setzt, müßte - unter Außerachtlassung des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG - nicht ohne weiteres durchweg zuungunsten der vorbeugenden Verbreitungskontrolle ausfallen. Soweit etwa die Unangemessenheit mit einer notwendigen Verzögerung des Äußerungszeitpunktes begründet werden sollte, hinge vieles von der konkreten Ausgestaltung der Kontrolle und den Eigenarten des betroffenen Mediums ab. So fällt die Einplanung weniger Tage zwischen Manuskriptfertigstellung bzw. Veröffentlichungsentscheidung und Beginn der Drucklegung für die überwiegende Mehrzahl der Bücher in der Regel nicht ins Gewicht. Da die nicht von Schranken erfaßten Äußerungen in einem derartigen Verfahren freizugeben sind bzw. nicht verboten werden dürfen, verkürzt sich der Eingriff insgesamt zunächst auf eine eventuelle Zeitverzögerung. Moderne Datenübertragung ließe es nicht einmal ausgeschlossen scheinen, den Inhalt von Tageszeitungen zu kontrollieren, ohne Redaktionsschluß und Druck ungebührlich zu verzögern. Festzuhalten bleibt immerhin, daß verbreitungskontrollierende Inhaltskontrolle auch und gerade in der Gestalt der Zensur ein geeignetes und er70

Vorrang ist hier nicht höhere Wertigkeit als Ergebnis einer abstrakten oder kumulativen konkreten Abwägung, auch nicht eine Absage an die Sonderrechtslehre, sondern nur der Begriff dafür, daß die Äußerung aufgrund ihres Inhaltes letztendlich ohne Rücksicht auf die Methode der Ermittlung dieses Ergebnisses zurückzutreten hat. 71 Zu Art. 5 Abs. 2 etwa Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 149 f.; ähnlich ders., HbStR V, § 121, Rn. 44, § 122, Rn. 21; H. H. Klein, Der Staat 10 (1971), S. 145 (153 f., m. N.).

106

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

forderliches Mittel zur Durchsetzung der Schranken sein kann und nicht zwingend in jedem Fall an einem unspezifizierten Verhältnismäßigkeitserfordernis scheitern müßte. Wenn nun dennoch eine solche Wertung nicht der geltenden Verfassung entspricht, da Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG, strukturell entweder auf einer noch der Eignungsprüfung vorgelagerten Ebene „für sich gesehener" Mittelverbote oder als ausdrückliche Verfassungsentscheidung über die Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne 72 , dieses Kontrollverfahren untersagt, kann der Grund für diese Wertung jedenfalls nicht darin liegen, daß der Erlaubnisvorbehalt rechtswidrige Äußerungen effektiv bekämpft.

2. Entlastung des Äußernden durch Rechtssicherheit Als Korrelat der Kontrolle und um dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens auszuweichen, würde ein inhaltsbezogener Erlaubnisvorbehalt immer in einem gewissen Umfang von der Verantwortlichkeit für den Inhalt genehmigter Äußerungen befreien. Wenn auch die Geschichte der Zensur die Frage nach der Verantwortung für staatlich genehmigtes Bürgerhandeln häufig im Sinne der Irrelevanz der Erlaubnis beantwortet hat 7 3 , besteht heute Einigkeit, daß der Staat mit Genehmigungen „ein gewisses, aber gewiß nicht jedes Risiko des Bürgerhandelns" 74 übernimmt. Für welche Folgen genau, im Hinblick auf welches Recht der Bürger entlastet würde und ob nicht teilweise doch nur eine begrenzte Mitverantwortung des Staates entstünde, dürfte von der Ausgestaltung der Kontrolle und dabei auch, aber nicht nur von dem ihr zugrunde7 gelegten Genehmigungsmaßstab abhängen75 ; jedenfalls wird die primär der Kontrolle

72

So H Schulze-Fielitz, in: Dreier, Bd. 1, Art. 5 I, II Rn. 138. Autor, Drucker oder Händler wurden sogar ohne Rücksicht auf die Billigung der Schriften durch den reichsgesetzlich geforderten und die Vereinbarkeit mit Reichsrecht prüfenden Zensor bestraft, wenn sich später ein Verstoß gegen Reichsgesetze herausstellte. Zensurgutachten hinderten - ebenso wie weitergehende gegen unbefugten Nachdruck schützende privilegia impressorium - Bestrafung der Beteiligten und Konfiszierung der Schriften nicht, Ulrich Eisenhardt, S. 15, 61 f; vgl. ferner Art. 10 des bei Rüdiger Busch, S. 85 f. abgedruckten frankfurtischen Zensurverordnungsentwurfs v. 17.10.1812. Noch geringer war der Schutz gegen bloße (polizeiliche) Verbote zensierter Schriften (vgl. etwa Götz Wricke, S. 128). Auch die in den „Karlsbader Beschlüssen" vom 20. September 1819 allen Staaten des Deutschen Bundes zur Verpflichtung gemachte Zensur nahm Verfasser, Herausgeber und Verleger in § 7 Abs. 2 nur die persönliche Verantwortung, mit § 6 aber ausdrücklich nicht das Risiko von nachträglichen Verboten durch die Bundesversammlung ab (Protokolle der deutschen Bundesversammlung, Band 7, Frankfurt 1819, S. 281 ff.; auch bei E. R. Huber, Dokumente I, S. 102 ff.). 73

74

75

Jost Pietzcker, JZ 1985, 209 (210).

Vgl. bereits O. Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 244, der die „gleichen polizeilichen Gesichtspunkte, welche das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zur Geltung gebracht hat", für durch eben dieses „erschöpft" und ihre Geltendmachung in nachträglichen Einzelbe-

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dienende Genehmigung die Verbreitung zensierter Inhalte in bestimmtem Umfang gegen - weitere - staatliche Maßnahmen schützen. Unabhängig von der genauen rechtlichen Relevanz der Freigabe und selbst dann, wenn sie sich in einer bloß konkludenten Äußerung über die inhaltliche Rechtmäßigkeit erschöpfen sollte 76 , erlangt der Äußernde eine durchaus, besonders in kostenintensiven Medien, wünschenswerte Sicherheit vor rechtlichen Maßnahmen. Rechtssicherheit, ein wesentliches formelles Element und Gebot des Rechtsstaatsprinzipes, ermöglicht Rechtsfrieden. Das damit angestrebte Gefühl sicheren und verläßlichen Rechtes hängt zum einen davon ab, daß das - bekannte Gesetz allgemeine Regeln in einer auf den konkreten Fall übertragbaren Weise bestimmt und so der Einzelne das Handeln des Staates, vor allem möglicherweise beeinträchtigende Reaktionen auf erwogene Verhaltensalternativen, voraussehen und sein Tun entsprechend ausrichten kann. Diese Planungssicherheit 77 verlangt einen Erkenntnisakt des Einzelnen, den jedenfalls in erster Linie nur die Gesetze selbst durch Klarheit und Bestimmtheit gewährleisten können, während die - ggf. notwendige - Einschaltung einer weiteren interpretierenden staatlichen Instanz Maß und Qualität der Sicherheit des Einzelnen in seiner Fähigkeit zur Disposition schrumpfen lassen. Daß mit dieser Komponente rechtsstaatlicher Rechtssicherheit tatsächlich primär die Erkennbarkeit der Gesetzesaussage für den Bürger selbst gemeint ist, scheint, auch wenn es nicht immer ausdrücklich so festgestellt wird, doch überwiegend anerkannt 78 . Mißachtet der Bürger bewußt eine klare Normaussage oder mißlingt ihm dennoch ihre Deutung und kommt es zum Streit, erschöpft sich eine gerichtliche Entscheidung im wesentlichen darin, mit ihrer Rechtskraft und Vollstreck-

fehlen ohne vorangehende Aufhebung der Genehmigung für ausgeschlossen hält. Zu den unterschiedlichen Reichweiten des Schutzes verschiedener Genehmigungen und dem jeweils dem Bürger verbleibenden Verantwortungsteil J. Pietzcker, JZ 1985, 209 (210 ff). Äußerungsbezogen war besonders umstritten, in welchem Umfang die Filmzensur nach dem Lichtspielgesetz den Betroffenen das Risiko strafrechtlicher Haftung und polizeilicher Verbote abnahm; vgl. zu beidem K. Zimmereimer, S. 135 ff., S. 119 ff. 76 Vgl. den strafrechtlichen Schutz, den die Verweigerung der Jugendfreigabe durch die oberste Jugendschutzbehörde hinsichtlich der Vorführung vor Erwachsenen entfaltet, obwohl insoweit nicht einmal die Freigabe erklärt wird; dazu schon oben, S. 88 f. Keine Relevanz für die Strafbarkeit hat hingegen die Kontrolle der Parteienwahlwerbespots durch Rundfunksender auf „evidente und ins Gewicht fallende" Strafrechtswidrigkeit nach BVerfGE 47, 198 (235 f.); E 69, 257 (269). 77 Wird mit der Erkennbarkeit der Regeln überhaupt Orientierung möglich, kommt es ferner unter dem Aspekt der mit dem Vertrauen eingebrachten zeitlichen Komponente auf ihre Beständigkeit an. Die damit angesprochenen und ebenfalls zur Planungsrechtssicherheit zählenden Punkte der Dauerhaftigkeit und Rückwirkung gesetzlicher Regelungen interessieren hier jedoch nicht. 78 Deutlich Ernst Benda, HbVerfR, S. 719 (725, Rn. 14); BVerfGE 21, 73 (79); E 31, 255 (264); E 37, 132 (142); E 45, 400 (420); E 47, 239 (247); E 78, 205 (212); E 84, 133 (149); E 87, 234 (262).

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

barkeit den ohnehin nicht zweifelhaften und ausreichende Planungsrechtssicherheit vermittelnden Gesetzesbefehl durchzusetzen. Anders ist die Situation unter dem (notwendigerweise) offenen Gesetz, dessen Unentschiedenheit durch die nachträgliche gerichtliche Entscheidung erstmalig für den Einzelfall konkretisiert wird. Eine Planungsrechtssicherheit für den Bürger gibt es nicht und kann auch durch die spätere gerichtliche Entscheidung nicht mehr hergestellt werden, die höchstens pro futuro für ähnliche Fälle Anhaltspunkte vermittelt. Ähnlich funktioniert unter Rechtssicherheitsgesichtspunkten die staatliche Vorabkontrolle. Denn Rechtssicherheit als Möglichkeit des Einzelnen, sein Handeln und die Einschätzung staatlicher Reaktionen darauf an abstrakt-generellen Regelungen einzuschätzen, ist auch dann nicht gegeben, wenn der Staat über die Gesetzlichkeit des Handelns vor seinem Beginn entscheidet. Ganz zwangsläufig macht eine solche Prüfung jede Planungssicherheit unmöglich, die als Sicherheit des planenden Bürgers verstanden wird: Die Einzelprüfung bedeutet in jedem Fall eine verbindliche staatliche Entscheidung, die die staatliche Reaktion nicht voraussehbarer und kalkulierbarer macht, sondern durch Einbau in den Handlungsprozeß - in Gestalt der Nichtgenehmigung bzw. des Verbotes - nur vorverlegt und, da das frühe Handlungsstadium über das bloße Verbot hinausgehende Sanktionen wie etwa Strafe regelmäßig überflüssig macht, in ihrer Wirkung entschärft. So ermöglicht die Planungssicherheit durch kalkulierbare Gesetze Schutz gegen Sanktionen schlechthin, diejenige durch Vorabkontrolle nur gegen zu der Kontrolle und ihren Verboten hinzukommende weitere Sanktionen. Es handelt sich somit aus der Sicht des Rechtsstaatsprinzips um eine eingeschränkte Sicherheit, da sie aufgrund staatlicher „Mitplanung" die Planungssicherheit nicht mehr als eine solche des ggf. von seinem Beistand beratenen Bürgers gewährleistet. Rechtssicherheit des Rechtsstaates ist die unmittelbar durch das Gesetz dem Bürger vermittelte Planungssicherheit und nicht oder nur hilfsweise die erst durch staatliche Entscheidung im Einzelfall gewährte Sicherheit, mag die Entscheidung auch gesetzesgebunden sein. Doch auch eine solche Rechtssicherheit zweiter Ordnung, die die staatliche Einschätzung geplanten Handelns nicht voraussehbarer gestaltet, sondern nur die Folgen der unsicheren Bewertung durch Verlagerung in die Genehmigung entschärft, kann dem Bürger erstrebenswertes Ziel sein. Je geringer einerseits die Gesetzespräzision und das Interesse an genehmigungsfreiem Handeln, je höher auf der anderen Seite die wirtschaftliche oder sonstige Investition in das möglicherweise schrankenberührende Verhalten, desto wichtiger kann es werden, das Risiko rechtlicher Sanktionen möglichst weitgehend auszuschließen. Im Hinblick auf denkbare Bindungswirkungen rechtswidriger Genehmigungen mögen dann Einzelerlaubnisse selbst einer deutlichen gesetzesunmittelbaren Rechtssicherheit vorzuziehen sein. In Abhängigkeit von den Lebensbereichen und ihrer rechtlichen Ausgestaltung wird den Faktoren Unbestimmtheit des Gesetzes,

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verminderte Rechtssicherheit im Genehmigungsfall und erforderlicher Handlungsaufwand unterschiedliche Bedeutung zukommen. So ist denkbar, daß die - unvermeidliche - Komplexität der Regelungen in Verbindung mit dem Ausmaß des ζ. B. wirtschaftlichen Risikos und mit anderen Eigenheiten unter rechtsstaatlichen Aspekten in einer Situation der durch Normgestaltung für den Bürger nicht mehr zu gewährleistenden Planungssicherheit als Kompensation für die Unzumutbarkeit des Handelns „ins Blaue hinein" sogar einen Anspruch auf verbindliche staatliche Vorabentscheidung verlangen könnte, wie er für den Bau aufwendiger Anlagen zumindest zu diskutieren wäre. Jedenfalls wurde schon des öfteren vermutet, Zensur könne ungenehmigten, aber strafbedrohten Äußerungen vorzuziehen sein, und es sind derartige Forderungen aus der Geschichte bekannt 79 . Allerdings muß die einzige Alternative zu einer Situation hoher Risiken nachträglicher Maßnahmen nicht immer die Vorverlegung der Kontrolle sein, sondern kann auch, und zwar schon unabhängig von parallel laufenden verfassungsrechtlichen Vorgaben, in angemessener Gestaltung der später einsetzenden Kontrolle, sei es ihrer abstrakt-generellen Maßstäbe, ihres Erkenntnisverfahrens oder ihrer Sanktionen, zu finden sein. Nicht als Verfassungsforderung, immerhin aber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Vorabkontrolle findet sich der Rechtssicherhèitsaspekt vereinzelt auch im heutigen Äußerungsrecht. So soll die Vermittlung einer Sicherheit vor nachträglichen, schwereren Sanktionen für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der privatrechtlichen, jede Vorführung erfassenden Filmselbstkontrolle 80 sprechen, wenn die mit der „Genehmigung" erreichte Rechtssicherheit neben der sachgerechten Organisation und dem rechtsstaatlichen Verfahrensstandard zu den Kriterien zählt, die im Zusammenspiel mit politischer Neutralität die verfassungsrechliche Hinnehmbarkeit der Kontrolle begründen sollen 81 . Die risikomindernde und insoweit handlungsstützende Rechtssicherheit darf als weiterer positiver Aspekt von Zensur gelten.

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Vgl. G. Η. v. Berg, Gutachten, S. 305. Zur Abgrenzung schon oben, S. 89, Fn. 13. 81 Ch. Degenhart, in: BK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 Rn. 742. Die Aussage ist natürlich nur notwendig, wenn, wie Degenhart, a.a.O. Rn. 741, im Anschluß an R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rn. 207 f. (ähnlich v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 107 u. H. D. Jarass, S. 102) annimmt, die Unanwendbarkeit des Zensurverbotes für die Erwachsenenkontrolle aus dem Aspekt der Freiwilligkeit der Selbstkontrolle heraus zumindest zu bezweifeln ist und nicht bereits auf diesem Wege die Zulässigkeit der Kontrolle festgestellt wird (in diesem Sinn etwa H. v. Hartlieb, Handbuch, S. 60, 17. Kap. Rn. 10). Ferner müßte selbst im Fall der Unfreiwilligkeit Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG gegenüber einer privatrechtlichen und auch nur mit privatrechtlichen Mitteln „erzwungenen" Kontrolle Geltung beanspruchen. Insoweit wäre neben dem staatlichen Einfluß auf die Zusammensetzung der Kontrollgremien (vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 107) vielleicht von Belang, inwieweit die Filmwirtschaft ihre privatrechtliche Selbstkontrolle als kleineres Übel vor der drohenden Alternative staatli80

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit B. Mögliche Lähmungsrisiken

Die Überlegungen fuhren zu zwei miteinander in Verbindung stehenden Ansätzen. Wenn der Erlaubnisvorbehalt, obwohl er Rechtssicherheit und ein effektives, auch in grundrechtlich geschützten Bereichen häufig zulässiges Mittel der Gefahrenabwehr bedeutet, in Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG so ausdrücklich und strikt verboten ist, müssen dem besondere Einschätzungen und Wertungen der Verfassung zugrunde liegen. Diese können nur in besonderen Nachteilen bzw. besonders bewerteten Nachteilen des Verfahrens gerade im Zusammenhang des Verhaltens „Äußerung" und der Kontrolle seines Inhaltes zu finden sein. Die maßgeblichen Nachteile „Lähmungsgefahren" sind keinesfalls in dem Effekt der Zensur zu sehen, als inhaltlich rechtswidrig erkannte Äußerungen mit Verbotssicherheit schon an der Erstverbreitung zu hindern. Genau das ist verfassungsgemäßes Ziel der Inhaltsschranken. Und nicht aus Inhaltsgründen untersagte Äußerungen muß die Kontrolle passieren lassen. Wenn aber die effektive Verhinderung rechtswidriger Äußerungen nicht das befürchtete Lähmungsrisiko bedeutet, bleiben als abzuwehrende Gefahren nur andere mit den Möglichkeiten der Kontrolle zusammenhängende Wirkungen. Das können mögliche Effekte für das Sich-Äußern an sich oder für rechtmäßige Äußerungen sein. Sie müssen im Zusammenhang mit dem Leitbild der klassischen Kontrolle als juristisch unausweichlicher inhaltlicher Vorabkontrolle durch Verwaltungsbehörden stehen.

I. Risiken der Be- und Verhinderung inhaltlich rechtmäßiger Äußerungen Inhaltlich rechtmäßige Äußerungen sind unmittelbar getroffen, wenn sie durch Fehlinterpretation des rechtmäßigen Kontrollmaßstabes zunächst oder endgültig verhindert werden. Ein solcher Effekt und die Gefahr seines Eintritts könnten als Lähmungserscheinung bzw. -risiko angesehen werden.

eher Initiativen organisiert hat oder in ihr die notwendige und dezentraler Rechtsberatung vorzuziehende Absicherung wirtschaftlichen Handelns erblickt, was freilich nur schwer auszumachen sein wird. Vgl. allgemein zu „staatlich inspirierten horizontalen Absprachen" Winfried

Brohm, DÖV 1992, 1025 ff.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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1. Risiko fehlerhafter Entscheidungen: Eigenheiten der Außerungsfreiheit und ihrer Schranken Neutrale Risiken der Fehlinterpretation von Inhaltsschranken in einem zensureilen Genehmigungsverfahren ergeben sich zunächst aus den Strukturen dieser Normen und ihrer Anwendung sowie den zeitlichen Bedingungen der Entscheidung und des geprüften Verhaltens. a) Die notwendig gesetzlichen 82 Inhaltsgrenzen mögen den jeweils einschlägigen Bestimmtheitsanforderungen genügen 83 , bleiben aber dennoch zu einem großen Teil unvermeidlich ausfüllungsbedürftige Generalklauseln, die besonders im Grenzbereich einen relativ weiten Entscheidungsspielraum bedeuten. Schon der erste Versuch eines groben Überblickes über einschlägige Gesetze zeigt an entscheidungsleitender Stelle vielfach bedeutungsstarke, gleichzeitig in ihrer Fähigkeit, konkrete Äußerungsinhalte ein- und auszuschließen, entscheidungsschwache Wertungsbegriffe: „Beleidigung" 8 4 , Verunglimpfung 85 , „geeignet [..], in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen" 86 , „gegen die guten Sitten verstoßende]" 8 7 , „geeignet [..], als Propagandamittel gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen den Gedanken der Völkerver82

Soweit der Schutz der Ehre aus Art. 5 Abs. 2 Alt. 3 GG in seinem Menschenwürdekern unmittelbar drittwirkend gedeutet wird, dürfte die Entbehrlichkeit eines Gesetzes auf das Störungsverbot unter Einschluß damit verknüpfter Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche beschränkt sein (vgl. M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 506 f., 403), so daß schon für die (regelnde) Konkretisierung des Verbotes im Einzelfall, sei es in oder außerhalb eines Genehmigungsverfahrens, eine eigene Gesetzesgrundlage zu verlangen wäre. Jedenfalls sind wenigstens zur Zeit diesen Kern schützende Gesetze vorhanden und kann deshalb auch im Bereich des Ehrenschutzes von gesetzlichen Inhaltsschranken gesprochen werden. Anderenfalls stellten sich die im Text besprochenen Auslegungsschwierigkeiten bei der Interpretation des unmittelbar verfassungsgesetzlichen Ehrenschutzes. 83 Zuletzt BVerfGE 93, 266 (291 f.) zu § 185 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG. Offen bleiben kann, ob und inwieweit lediglich bußgeld- oder gar, von der verwaltungsrechtlichen Durchsetzbarkeit abgesehen, unbewehrte Inhaltsgrenzen geringere Anforderungen erfüllen müssen, insbesondere, wann textliche Übereinstimmungen mit Straftatbeständen oder Verweise auf Normen des StGB, wie beispielsweise in § 3 des Staatsvertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland v. 31.8.1991 -RStV - (etwa GV.NW S. 408), zuletzt geändert durch den Md-StV v. 20.1./12.2.1997 (etwa GV.NW 1997, S. 158), selbständige Normierungen unterhalb der Strafrechtswidrigkeit sein wollen und so evtl. auch das von ihnen geforderte Bestimmtheitsniveau absenken können. § 3 RStV (etwa GV.NW 1991, S. 408, geändert durch Vertrag v. 24.6.94, GV.NW 1994, S. 433) erhält ζ. B. eine Bußgeldbewehrung in § 32 RStV; auf Strafrecht nimmt etwa § 14 LRG NW Bezug, allerdings ohne Bußgeldbewehrung seiner an Straftatbestände anknüpfenden Regelung, vgl. § 67 Abs. 1 Nr. 2, 3 LRG NW. 84 § 185 StGB, auch i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB; § 103 StGB („beleidigt"). 85 §§90 u. 90 a Abs. 1 Nr. 2 („verunglimpft"). 86 §§ 186, 187, 187a StGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB. 87 §§ 826 BGB, 1 UWG.

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit 88

ständigung zu wirken" , „geeignet [..], das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen" 89 , „geeignet [..], Kinder oder Jugendliche sittlich zu gefährden" 90 , ,,unsittlich[e]" 91 , „offensichtlich geeignet, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden" 92 . Diese und andere Gesetzesformulierungen verwenden Begriffe, die zur Voraussetzung des Tatbestandes der Straf- oder sonstigen Rechtswidrigkeit 93 Wertungen erheben, 88

§ 5 Abs. 1 S. 1 GÜV. Zu ergänzen um die nach BVerfGE 33, 52 (65 ff., 69) Verfassungskonformität gewährleistenden Auslegungshinweise, die, ihrerseits ausgelegt, wohl eine tendentielle Ausrichtung des Inhaltes auf die Bekämpfung der Schutzgüter und zusätzlich deren Gefährdung verlangen (vgl. E, 33, 52 [65] sowie [52, LS 2]); andere Worte aber oder nur weitere Veranschaulichungen desselben a. a. O., S. 69. 89 § 6 Abs. 2 S. 1 JÖSchG. 90 § 1 Abs. 1 S. 1 GjS. 91 § 1 Abs. 1 S. 2 GjS. 92 §6 Nr. 3 GjS. 93 Vorhandene und mögliche Unterschiede zwischen den Inhaltsschranken in Privatrechtsgesetzen, Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitsbestimmungen sowie eventuellen unbewehrten öffentlich-rechtlichen Schranken sollten hinsichtlich ihrer hier interessierenden Rolle als potentieller Maßstab eines Erlaubnisvorbehaltes nicht überschätzt werden. Zum einen dürften bis zu der für die Prävention i. d. R. allein beachtlichen Rechtswidrigkeit, d. h. unter Außerachtlassung der Schuldfrage, ζ. B. strafrechtliche und zivilrechtliche Beurteilung ehrenrühriger Äußerungen (§§ 823 f., 826 BGB einer- und §§ 185 f f StGB andererseits) in weiten Bereichen parallel laufen, obwohl über § 823 Abs. 2 BGB eine weitgehende Verweisung nur in einer Richtung angeordnet ist. Ferner kann öffentlich-rechtliche Kontrolle im Wege der Verweisung auch an Inhaltsschranken anknüpfen, die der Privatrechtsgesetzgeber gezogen hat. So sind mit den „Vorschriften der allgemeinen Gesetze und [den] gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre" gerade die §§ 823 f., 826, 12 BGB auch verbindliche Programmgrundsätze für private Rundfunkveranstalter (§§ 23 Abs. 1 RfStV, § 12 Abs. 1 S 2 LRG NW) bzw. Anforderungen an Beiträge für offene Kanäle (§ 25 Abs. 5 S. 2 Var. 2 i. V. m. § 12 Abs. 1 S. 2 LRG NW), deren Verletzung zu Aufsichtsmaßnahmen der Landesmedienanstalten bis hin zur Möglichkeit des Zulassungsentzuges fuhren kann (§ 10 LRG NW) bzw. die Sendung des Beitrages hindert, worüber die Landesmedienanstalt, in NRW mittels Verwaltungsakt, entscheidet (§ 24 oder 25 Abs. 5 S. 2 LRG, vgl. VG Gelsenkirchen, AfP 1995, 433). Generelle verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Übernahme zivilgesetzlicher Inhaltsschranken dürften kaum bestehen. Es soll zwar nicht ausgeschlossen werden, daß die hier angenommene Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers im allgemeinen und auch gegenüber Art. 5 Abs. 1 GG insoweit modifiziert sein mag, als sie im Verhältnis zu öffentlich-rechtlichen Gesetzen generalklauselartigere und großzügigere Grenzziehungen gestattet (vgl. dazu die Hinweise bei J. Pietzcker, FS für G. Dürig, 345 [351 ff.]), doch wird man, wenigstens im Bereich der hier diskutierten gesetzlichen Äußerungsinhaltsschranken, und vermutlich nicht einmal abgesehen von § 1 UWG (trotz der Weite der von ihm behandelten Sachverhalte) wohl zu dem Urteil gelangen, daß der zivilgesetzliche Bestimmtheitsstandard nicht erheblich hinter den öffentlich-rechtlichen Formulierungen zurückbleibt. Und soweit Konkretisierungen durch Rechtsprechung Bestimmtheitsbedenken kompensieren können (so BVerfGE 93, 266 [292]), sind, wovon noch zu handeln sein wird, exekutivisch durchgesetzte Schranken gegenüber den dem Richter anvertrauten zivilgesetzlichen wie auch den strafrechtlichen Grenzen in einem erheblichen Nachteil. - Von der Möglichkeit ist die Frage nach der Notwendigkeit der Durchsetzung privatgesetzlicher oder Privatinteressen schützender

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die Urteile über Kategorien zu mißbilligender geistiger Wirkungen einer ansonsten ungeahnten Vielzahl beliebiger Äußerungsinhalte wiedergeben, ohne das dieser Mißbilligung auszusetzende Verhalten näher zu beschreiben. Auch die unterhalb des Gesetzestextes auf etwas verminderter Abstraktionsebene angesiedelte Auslegung hilft meistens nur wenig weiter 94 . Und selbst wo, wie in der praktisch relevanten Inhaltsschrankengruppe der ehrenrührigen unwahren Behauptungen, Tatsachen leichter faßbare Realitäten versprechen, fangen die Schwierigkeiten schon bei den nach einhelliger Ansicht fließenden Übergängen zwischen Tatsachenbehauptung und Wertung (Meinungsäußerung) an. Spätestens aber die „Interessenklauseln" des einfachen - ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Vorgaben so belassenen - Rechts verlangen die nur sehr beschränkt rationalisierbare und im vorhinein sprachlich kaum fixierbare Entscheidung, welche der sich gegenüberstehenden Interessen an der Äußerung

Strafrechtsschranken in einem Präventivsystem zu unterscheiden, ob also etwa der Stellung des Strafantrags im Rahmen einer Zensur Relevanz zukommen soll; für die Weimarer Filmzensur etwa bestand keine Einigkeit, ob (strafrechtliche) Beleidigungen Privater überhaupt Zensurgrund sein konnten; dagegen K. Zimmereimer, S. 137. O. Opet, S. 141 f., wollte zensurelle Theateraufführungsverbote wegen der Verletzung von Antragsdelikten nur mit Zustimmung des Betroffenen zulassen. 94 Wenn beispielsweise Beleidigung als „der rechtswidrige Angriff auf die Ehre eines anderen durch vorsätzliche Kundgebung der Mißachtung oder Nichtachtung" auftritt (Herbert Tröndle, § 185 Rn. 1 m. N.), ist für die Beschreibung der Äußerungen, die eine solche Ehrverletzung bedeuten, gegenüber der Qualifikation als beleidigend wenig gewonnen. Wenn „[sittenwidrig (bzw. wettbewerbswidrig)" i. S. d. § 1 UWG Wettbewerbsverhalten ist, „das dem Anstandsgefühl der beteiligten Verkehrskreise widerspricht oder von der Allgemeinheit mißbilligt und für untragbar gehalten wird" (BGH, NJW 1995, 2486 [2487] m. w. N., st. Rspr.), und diese Beschreibung ihrerseits insbesondere keine „bloße Geschmackszensur" rechtfertigt, sondern statt dessen auf die „Wertvorstellungen der beteiligten Verkehrskreise" aufgrund einer „umfassenden Abwägung" auch der beteiligten Interessen unter Berücksichtigung des Schutzzweckes des Gesetzes und evtl. verfassungsrechtlicher Bewertungen abgestellt werden muß (BGH, NJW 1995, 2486 [2487]), sind Anhaltspunkte für zulässige Argumente gegeben und finden sich offenbar „Anstandsgefühl", „Mißbilligung", „untragbar" und „Wertvorstellung" auf der Seite des Rechtswidrigkeitsurteils, „Geschmack" und damit wohl auch „geschmacklos" hingegen auf der Seite rechtmäßiger Werbung. Welche Inhalte allerdings damit den Wertvorstellungen und welche nur dem Geschmack widersprechen, bleibt offen. Für viele generalklauselartige äußerungsinhaltsbeschränkende Gesetze scheint - in einem etwas übertragenen Sinne - auch nach der ersten Konkretisierung auf einfachgesetzlicher Ebene noch zu gelten, was R. Smend - jedenfalls in seiner Auslegung des Art. 118 Abs. 1 WRV - für eine Eigenschaft des Attributes „allgemein" hält, soweit es verfassungsrechtliche Geltungsvoraussetzung meinungsfreiheitsbeschränkender Gesetze sein soll: ein „Fall jenes Typus juristischer Begriffsbestimmungen [...], die den Tatbestand einer Rechtsfolge lediglich dahin bezeichnen, daß es ein die Rechtsfolge rechtfertigender Tatbestand sein müsse" (VVDStRL 4 (1928), 44 [52], im Anschluß an Martin Wolff, in: FG für W. Kahl, IV, S. 5 Fn. 1, zum Begriff des wohlerworbenen Rechtes). Die eingehende Beschäftigung mit der gerichtlichen Praxis ergibt anschaulichere Fallgruppen und ein größere Sicherheit ermöglichendes Judiz. Nur aus dem Gesetz ist sie kaum zu entnehmen. 8 Fiedler

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

und ihrer Untersagung als (auch) rechtlich geschützte anzuerkennen sind, und vor allem, welcher der für rechtlich relevant erklärten Aspekte die Rechtmäßigoder -Widrigkeit der konkreten Äußerung bestimmen soll. Nicht zufällig sind Beschreibungen des Norminhaltes in diesen Bereichen in hohem Maße darauf verwiesen, Beispielsfalle aufzuzählen 95 . b) Mit den genannten Spielräumen des wertenden Urteils über die Möglichkeit bestimmter geistiger Äußerungswirkungen sehr eng verbunden sind Schwierigkeit und Komplexität ihrer Anwendung auf konkrete Äußerungen. Dabei zeigen sich die Probleme einigermaßen „rationaler" Ausfüllung der generalklauselartigen Wertungsbegriffe, insbesondere ein erheblicher Ermittlungs-, Bewertungs- und Begründungsaufwand, schon und auch in den Vorgaben des materiellen Rechts. Selbst ihre Anwendung auf schriftliche Äußerungen, die - im Vergleich der Äußerungsmöglichkeiten und im Umfang der Schriftlichkeit ihrer geistigen Aussage - relativ gut vor Veröffentlichung prognostiziert, im nachhinein reproduziert und, was für juristische Entscheidungen u. a. mit Blick auf ihre Begründung Bedeutung hat, sprachlich beschrieben werden können, ist nicht bloße Subsumtion natürlich vorgefundener geistiger Inhalte unter Rechtssätze, sondern läßt sich angemessen nur als mehrstufige sprachliche Überformung eines Geschehnisses erfassen. aa) Sobald kommunikatives Verhalten auf eine mögliche Kollision mit Inhaltsschranken befragt und damit zum Rechtsfall wird, muß notwendigerweise - nicht zwingend bewußt, nicht immer schriftlich - im ersten Schritt das Geschehen benannt und so unter Verwendung eines groben, aber bereits viel Wahrnehmbares ungenannt lassenden Filters der „Rohsachverhalt als sprachlich beschreibbare Erzählung gebildet werden 96 . Die nachfolgende Vermittlung zwischen dem - gedachten, in einer Stoffsammlung oder Akten vorhandenen - Text des Rohsachverhaltes und dem Text des Gesetzes vollzieht sich in der wertenden Bildung des Sachverhaltes als Aussage über und im Wechselspiel mit der wertenden Zuordnung dieses Sachverhaltes zu der ebenfalls wertend konkretisierten Tatbestandsaussage der Norm. bb) Dabei scheint schon die Bildung des Sachverhaltes als Aussage 97 in spezifischer Weise durch die Inhaltsnorm gesteuert, deren Anwendung er Grundlage sein soll. Denn da praktisch keine Äußerung alle Menschen in dem Sinne 95

Vgl. etwa Theodor Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 185 Rn 2 ff.; Baum-

bach/Hefermehl, § 3 UWG, „Irreführung", Rn. 12 - 108c, 121* ff., 124 ff., 185 ff., 261 ff., 271 f., 273 ff., 340 ff., 355 ff., 359, 360 ff., 367 ff., 414 ff., 428 ff. 96 In etwa die „Stoffsammlung" der gerichtlichen Entscheidung, nur zunächst ohne Rücksicht auf die verfahrensrechtlichen Filter, die die in den Akten auffindbare Stoffmasse mitbestimmen. Zum Begriff des Rohsachverhaltes K. Larenz, S. 279 ff., 283 f. 97 Zum Begriff K. Larenz, S. 278 ff.

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gleich verstehen, daß sie dieselben Worte oder dasselbe Verhalten verwenden würden, um die Frage nach dem Inhalt der Äußerung zu beantworten, und häufig eine Vielzahl jenseits des Textes oder der sonstigen Erklärungszeichen der Äußerung (nicht: des Sachverhaltes als Aussage) liegender Umstände bekannt sein müssen, um die Äußerung verstehen zu können, jedenfalls aber die Kenntnis solcher Umstände den Inhalt beeinflußt, muß das Recht entscheiden, wessen Inhaltsbeschreibung es schließlich als Grundlage seiner abstrakt-generellen Regelung anerkennen w i l l 9 8 . Da außerdem, nicht anders als bei der empfangsbedürftigen Willenserklärung, unumstritten weder das subjektiv vom Äußernden „Gemeinte" (Willenshorizont), noch die abgegebenen Erklärungszeichen (Erklärungshorizont) und auch nicht das subjektiv von einem Betroffenen Verstandene (Verstehenshorizont), sondern -zwischen Erklärung und tatsächlichem Verstehen - das für einen vernünftigen Dritten Verstehbare (objektiver Empfängerhorizont) maßgeblich die Deutung des rechtlich relevanten Inhaltes bestimmt 99 , muß normativ festgelegt werden, welche Elemente des Sachverhaltes als Aussage mit in die Auslegungsgrundlage hineingenommen und damit als relevant für die Deutung des verständigen Empfängers herangezogen werden. Zu diesen Aspekten zählen praktisch alle Begleitumstände der Äußerung, soweit sie eben ein verständiger Dritter berücksichtigt hätte, ζ. B. Anschauung

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Die bloß wörtliche, schriftliche Wiederholung der fraglichen Äußerung gilt mindestens jenseits evidenter und deshalb in der Regel rechtlich relevanter Inhalte nicht als Erklärung oder Verstehen der Äußerung. Es muß ein Sprachspiel stattfinden, das das Sprachspiel der Äußerung in eines des Verstehens der Äußerung einbindet: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" {Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 43, zitiert nach Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M., 10. Aufl. 1995, S. 225), das heißt, Worte verweisen auf weitere Worte mit der Hoffnung, Konsens zu erzielen. Es handelt sich um das juristische Anwendungsproblem, nur eben auf einer von der letztendlichen Normaussage noch relativ weit entfernten Stufe (vgl. G. Roellecke, FS für G. Müller, S. 323 [330 ff., 336 f.]). 99 Für das Strafrecht vgl. nur H. Tröndle, § 185 Rn. 8; Hans-Joachim Rudolphi, in: SK-StGB § 185 Rn. 7 - 10; Gerhard Herdegen, in: L K § 185 Rn. 17 - 24; OLG Düs-

seldorf, NJW 1989, 3030, sowie NJW 1992, 1335 u. NJW 1992, 1336; BGHSt 19, 235 (237); RGSt 41, 41 (51); zu §§ 823 ff. etwa Damm/Kuner, Rn. 111 - 114 m. N., und für §§ 3, 1 UWG etwa Baumbach/Hefermehl, Einl. UWG Rn. 85 ff., § 3 UWG Rn. 2. Zu verschiedenen Präzisierungen der immer den Kontext und einen objektiven Empfangerhorziont nutzenden Auslegungsmaßstäbe in der Rechtsprechung der Straf- und Zivilgerichte einschließlich ihrer eventuell prozeßrechtlich bedingten Eigenheiten vgl. G. Nolte, S. 55 ff. Ebenfalls unter Heranziehung des gesamten Kontextes und vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehens ermittelt und würdigt das Bundesverwaltungsgericht den Gehalt disziplinarisch geahndeter Äußerungen, BVerwG, NVwZ 1996, 68 (69 ff.). Nicht einmal potentiell zensurfahig, gleichwohl aber Bestätigung des Grundsatzes ist der objektivierte Empfangerhorziont, der über den Inhalt staatlich zu verantwortender Äußerungen entscheidet und so bestimmt, was an den Inhaltsschranken für staatliche Äußerungen zu messen ist, vgl. VGH Mannheim, NVwZ 89, 878 (880); VGH München, NVwZ 95, 793 (796 ff.).

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und Gebräuche der Beteiligten, sprachlicher und gesellschaftlicher Kontext etc. 100 cc) Steht die Erzählung, die die fragliche Äußerung enthalten soll, muß auf einer dritten oder - unter Vernachlässigung des Rohsachverhaltes - zweiten sprachlichen Ebene in einer Wertung der rechtlich relevante Inhalt der Äußerung unter Zuhilfenahme der fur relevant erklärten Umstände aus der Sicht des hypostasierten verständigen Empfängers bestimmt, und d. h. mit Worten beschrieben und festgestellt werden. Dazu zäljlt in der beispielhaft gewählten Gruppe des Verdachts ehrenrühriger unwahrer Aussagen die sich als Rechtsanwendung darstellende Entscheidung 101 , ob Tatsachen behauptet oder nur Werturteile geäußert werden. Dabei spielt hier der Gesamtzusammenhang und mit ihm die Ausdehnung des Kreises der für den objektiven Dritten wahrnehmbaren Umstände eine besondere Rolle. Ζ. B. lassen dem Dritten bekannte ergänzende Äußerungen aus der prima facie Wertung, ein „Kostenaufwand sei unvertretbar hoch", die Behauptung eines bestimmten Prozentsatzes werden 102 . Oder sie konkretisieren eine Rede von „illegalen Geschäften" zunächst auf ein bestimmtes Geschäft und entnehmen ihr die - wahre oder unwahre - Behauptung konkret rechtswidrigen Verhaltens 103 , während „illegal" in anderem Kontext die - bloß falsche oder richtige - subjektive Wertung eines Verhaltens ist 1 0 4 . Die rechtliche Problematik und tatsächliche Schwierigkeit dieser oft streitentscheidenden Feststellung läßt sich besonders deutlich durch den des öfteren im Begründungsgang als Kriterium der Auslegung verwendeten Satz illustrieren, entscheidend sei, ob dem Beweis zugängliche Fakten behauptet werden 105 . Wird gefragt, ob „illegal" meine, ein Verhalten habe „tatsächlich" unter Verstoß gegen Recht stattgefunden, oder ob der Äußernde nur seine Rechtsansicht über das Verhalten wiedergebe, hilft der Hinweis darauf, nur die Qualifikation als Tatsachenbehauptung habe zur Folge, daß über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens Beweis erhoben werden könne, bei der Frage nach dem meinenden oder behauptenden Charakter der Äußerung nicht weiter. Es verbleiben nur der Kontext der Äußerung und damit der Verweis auf redliches Bemühen um plausible Wertung 1 0 6 . Sprachphilosophisch und kognitionswis-

100

Vgl. die Nachweise in Fn. 99. Problematisch kann nur sein, wie und wo genau die Grenze zwischen Rechtsund Tatfrage liegt; vgl. G. Herdegen, in LK § 185 Rn. 9 m. N. 102 Vgl. OLG Koblenz, NJW 1996, 325 f.: im Unterschied zu der auch über Kontextverweise nicht als Tatsachenbehauptung deutbaren Äußerung „unzureichendes Informationsverhalten". 103 BGH, NJW 1993, 930 (931) - Illegaler Fellhandel. 104 BGH, NJW 1982, 2246 (2246 f.) - Illegale Kassenarztpraxen. 101

105

106

So ζ. Β. H Tröndle § 186 Rn. 2.

Vgl. LG Berlin, AfP 1993, 675 ff. - „IM Brandenburg" (Fernsehfilm); KG, AfP 1994, 926; LG Hamburg, AfP 1993, 678 ff., sog. „offene" Verdachtsberichterstattung -

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

117

senschaftlich kann Mehrdeutigkeit das unumgängliche Schicksal jeder Äußerung sein. Für das Recht impliziert die praktische Erfahrung tatsächlicher Mehrdeutigkeit jedenfalls der großen Mehrheit der von den Beteiligten problematisierten (nicht-trivialen) Äußerungen auch fast immer die Möglichkeit der Uneindeutigkeit des juristisch für maßgeblich erklärbaren Inhaltes und fuhrt zu letztlich aus der Dezision nur schwerlich vollständig herauslösbaren Gerechtigkeitsdefiziten bei der Feststellung des Inhaltes. Dieser Differenz kann nur durch Verfahren und Begründung einigermaßen plausibel begegnet werden, wie sie besonders die veröffentlichte Praxis der zivilgerichtlichen Spruchkörper anschaulich machen kann, die aufgrund entsprechender Geschäftsverteilungspläne sachlich mit dem Recht der Äußerungsschranken besonders beschäftigt und vertraut sind 1 0 7 . Dabei fragt sich vor allem immer wieder: Was versteht der hypostasierte Empfänger? Inwieweit zieht er nur selber Schlüsse aus Zweifeln des Sich-Äußernden oder nimmt wahr, dieser behaupte konkludent den naheliegenden Schluß? Bezeichnet ζ. B. eine Illustrierte die Formulierung eines Regierungschefs, er sei im Sommer „über einige Umstände" der Verbindung einer Behörde zu einem V-Mann informiert worden, als „Flucht nach vorn mit angezogener Handbremse", da kaum vorstellbar sei, daß der Innenminister bereits im Frühjahr desselben Jahres über die Sache verhandelt habe, ohne daß der Regierungschef davon gewußt habe, kann vor der rechtskräftigen Entscheidung kaum beurteilt werden, ob damit aus der maßgeblichen Sicht des hypostasierten Lesers dem Regierungschef unterstellt wird, er sage die Unwahrheit, so daß die Äußerung als ehrenrührige Tatsachenbehauptung rechtswidrig ist, oder ob nicht nur Zweifel in Form einer Frage in den Raum gestellt werden, die mit der Entrüstung verbunden sind, daß etwas so Wichtiges dem Ministerpräsidenten nicht mitgeteilt wurde, und also eine geschützte Meinungsäußerung vorliegt 1 0 8 .

„López"; zu den Schwierigkeiten und dem wertenden Charakter der Abgrenzung auch G. Herdegen, in: LK § 185 Rn 2 - 8; H.-l Rudolphi, in: SK-StGB § 185 Rn. 4 - 6. 107 Vgl. nur etwa das AfP mit mehreren Entscheidungen in fast jedem Heft oder die bei J. Soehring, NJW 1994, 16 ff.; NJW 1997, 360 ff., nachgewiesene und häufig ihrerseits weiterverweisende Rechtsprechung. 108 Zu der Problematik verdeckter Behauptungen vgl. grds. BGH, AfP 1994, 295; BGH, AfP 1994, 290. Während das deutsche Recht unter dem Stichwort Schmähkritik auch bloße Werturteile für rechswidrig hält und also die Qualifikation als Tatsachenbehauptung prinzipiell „nur" stärkeren Schutz gewährt, sind nach amerikanischer Doktrin „statements of opinion" praktisch unangreifbar und die Einstufung als „statement of fact" notwendige Bedingung jeglichen Anspruchs, was vielleicht zu einer etwas großzügigeren Bemessung des konkludent Behaupteten fuhren mag. Jedenfalls stellen sich die Abgrenzungs- und Auslegungsprobleme ebenso und werden in prinzipiell ähnlicher Weise, d. h. unter Heranziehung der Äußerungsumstände und des Maßstab gebenden „reasonable reader" etc. für die Bestimmung des maßgeblichen Inhalts gelöst. Besonders aufschlußreich sind die divergierenden und dennoch jeweils nicht unplausiblen Deutungen eines Zeitungsartikels in Milkovich v. Lorain Journal Co110 S. Ct. 2695,

118

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Steht der behauptende oder wertende Charakter der Äußerung fest, bleibt die häufig nicht weniger schwierige Frage nach dem rechtlich relevanten Inhalt der Wertung oder Tatsachenmitteilung 109 . dd) Von der Seite der Norm her nähert sich das Recht, wie oben erwähnt 110 , mit ersten Konkretisierungen der generalklauselartigen Wertungsbegriffe. ee) Weitere rechtliche Bewertung durch Bildung fall(gruppen)näherer Obersätze und rechtliche Bestimmung des Äußerungsinhaltes sind bisweilen relativ deutlich voneinander unterscheidbar, häufig aber untrennbar ineinander verwoben. Beispiele finden sich in einer Vielzahl von Entscheidungen. Illustrativ scheint die in Rechtsprechung und Literatur streitig beurteilte Anzeigenserie des Bekleidungsunternehmens „Benetton", die überwiegend im redaktionellen Teil von Presse und Rundfunk vorveröffentlichte, eher negative Emotionen und Assoziationen vermittelnde Photographien verwendete, die jeweils versehen mit dem Schriftzug „United Colours of Benetton" von Themen wie Flüchtlingselend (Menschen im Fluchtcontainer, Boat-People), Umweltzerstörung (Ölverschmutzte Ente), Aids (Sterbender, HIV-positive) u. ä. handelten. Die Mehrzahl, wenn nicht alle Anzeigenmotive waren Gegenstand von Gerichtsentscheidungen und kontroversen Erörterungen im Schrifttum. Dabei verweben die Stellungnahmen, die jeweils behandelten Anzeigen seien oder seien nicht sittenwidriger Wettbewerb im Sinne d. § 1 UWG, notwendigerweise die Bildung der jeweils die Sittenwidrigkeit konkretisierenden Fallgruppe und die Deutung dessen, was der durchschnittliche Verbraucher als der hier rechtlich relevante objektive Empfanger in den Anzeigen erblickt 1 1 1 .

2707 - 2708 (1990), und 2708, 2710 - 2715 (Brennan, J., dissenting, joined by Marshall J.); diese mit weiteren Beispielen für die verschiedene Einstufung derselben Worte in unterschiedlichen Zusammenhängen. 109 Siehe schon RGSt 18, 142 (143 f.) (1880): Für die Frage, ob ein Zeitungsartikel einen Polizeibeamten in die Nennung von „ehemaligen Sozialdemokraten" einbezieht, so als einen solchen bezeichnet und damit eine ehrenrührige Tatsache im Sinne des Tatbestands der üblen Nachrede (§ 186 StGB) behauptet, kann es darauf ankommen, wie das maßgebliche Verständnis ein Komma in einer Aufzählung deutet. Daß in der sozialdemokratischen Vergangenheit eines Polizeibeamten in Zeiten des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" v. 21.10.1878 (RGBl. S. 351) eine Tatsache gesehen wurde, die mindestens „denselben [..] in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist", scheint hingegen nicht verwunderlich. 110 S. 111 ff. (a)). 111 „Menschen im Fluchtcontainer": sittenwidrig nach OLG Frankfurt, GRUR 1993, 130 f., da mit dem Leitbild des Leistungswettbewerbs nicht vereinbare Aufmerksamkeitswerbung, a. A. Ch. Löffler, AfP 1993, 536 (541); „Kinderarbeit": sittenwidrig nach BGH, NJW 1995, 2490 (2491), a. A. Ch. Löffler, AfP 1993, 536 (541); „Ölverschmutzte Ente": nach LG Frankfurt a. M. (vgl. BGH, NJW 1995, 2488) als auf Schockwirkung zielende Aufmerksamkeitswerbung sittenwidrig; in der Sprungrevision, BGH, NJW 1995, 2488, bestätigt, da zwar Stellungnahmen zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen zulässig seien, selbst wenn sie die Bekanntheit des Unternehmens steigerten, dies

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

119

Entscheidungsspielräume i. V. m. den zum Teil dazu korrelierenden Anforderungen der Inhaltsschrankenanwendung fuhren zu rechtspraktischer Unerkennbarkeit der Rechtmäßigkeit einer Vielzahl möglicher Äußerungsinhalte im Moment ihrer Veröffentlichung. Diese vorübergehende Unerkennbarkeit des Rechts, bestimmte Inhalte zu äußern, folgt zwangsläufig aus den skizzierten Anforderungen an seine Anwendung: Findung und Auswahl des Sachverhaltes in Gestalt der Erklärungszeichen i. w. S. einschließlich aller maßgeblichen Auslegungsumstände; die den Anforderungen der jeweiligen Verfahrensordnung genügende Feststellung, daß alle relevanten Umstände mit hinreichender Sicherheit tatsächlich anzunehmen sind; die normativ mitgesteuerte Bestimmung des Inhaltes; seine Bewertung einschließlich der Konkretisierung der Gesetzesbegriffe und der Anwendung der Interessenklauseln. So ist die Entscheidung, ob konkrete Äußerungsprojekte die Schranken überschreiten würden, in der Regel und besonders in den Grenzbereichen relativ komplex und schwierig. Dies gilt selbst dann, wenn - was nicht ohne weiteres angenommen werden kann - unterstellt wird, daß auch unter einer exekutivischen Vorabkontrolle trotz der dann nicht mehr vorhandenen Situation eines in der überwältigenden Zahl der Fälle gerichtliche Entscheidung verlangenden Repressivsystems die für die Erfüllung der Bestimmtheitsanforderungen konstitutiv gehaltenen Rechtsprechungsregeln 112 vorhanden und sichtbar sind. Die rechtspraktische Nicht-Bestimmbarkeit der Rechtswidrigkeit im Äußerungszeitpunkt bedeutet, daß eine Kontrollbehörde, dem Ausmaß dieser Unsicherheit entsprechend, Fehlentscheidungen treffen wird und immer dann, wenn sie das Urteil der Widerrechtlichkeit zu Unrecht fällt, eine freie Äußerung ver- bzw. behindert. c) Die nur wenig determinierte Entscheidung ist nicht nur relativ komplex, sondern verlangt Zeit, die tendentiell nicht zur Verfügung steht. Äußerung ist von ihrem Ziel und ihrem Sinn her zeit(punkt)gebunden; Verzögerung der Entscheidung bedeutet mindestens Veränderung der Äußerung, so daß Zeit zur Prüfung des hypothetischen, rechtlich relevanten Aussageinhaltes knapp ist. Und mit dem Risiko der Zeitaufwand fordernden Entscheidung in unangemes-

aber nicht für Äußerungen gelte, die zum Thema „nichts Wesentliches" beitrügen, sondern einer kommerziellen Zwecken dienenden Solidarisierung zwischen Verbraucher und Unternehmen dienten (BGH, a.a.O., S. 2490), a. A. Ch. Löffler, AfP 1993, 536 (541); „HIV-Positive": als Verstoß gegen die Menschenwürde sittenwidrig nach BGH, NJW 1995, 2492; vgl. zur Benetton-Kampagne noch Olaf Sosnitza, GRUR 1993, 540 ff.; Frauke Hennig-Bodewig, GRUR 1993, 950 f f ; Torsten Sevecke, AfP 1994, 196 ff.; K. J. Grigoleit, J. Kersten, DVB1. 1996, 596; W. Hoffmann-Riem, Z U M 1996,

S. 1 ff; die Untrennbarkeit der Bildung des rechtlichen M^stabs und des rechtlich wahrgenommenen Inhaltes tritt ferner deutlich zutage, wenn fiktive Erzählungen dem Umfang nach streitigen Bezug auf existierende Personen nehmen, s. etwa LG Berlin, AfP 1993, 678 ff. - IM Brandenburg; BVerfGE 30, 173 (198 f.) - Mephisto, und dazu das Sondervotum des Richters Stein, E 30, 173, 200 (203 ff.) 112 Vgl. oben, S. l l l , F n . 83.

120

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

sen kurzer Zeit steigt das Risiko der Fehlinterpretation. Daß die skizzierten Anwendungsanforderungen in kurzer Zeit angemessen befriedigt werden können, scheint praktisch ausgeschlossen. Besonders die maßgeblichen Auslegungssachverhalte sind entweder, da ja die Äußerung noch nicht erfolgt ist, sich also nicht kontextualisieren konnte, hypothetisch anzunehmen oder, da nicht jede Äußerung vorsorglich mit allem in einem Rechtsstreit zu ihrer Rechtfertigung erforderlichen, zu ermittelnden und ggf. zu beweisenden Material umgeben werden kann, nicht vorhanden. Zugleich sind gerade Äußerungen in sogenannten aktuellen Diskussionen, sei es über die Unbedenklichkeit der mit unhaltbaren Methoden für schadstoffhaltig erklärten Produkte oder sei es über die mit unhaltbaren Angaben behauptete Schadstofffreiheit, häufig sowohl besonders verzögerungsempfindlich als auch eher nicht im unproblematischen Bereich der eindeutig rechtswidrigen oder unbedenklichen Inhalte angesiedelt. Die Situations-, insbesondere Zeitabhängigkeit (Zeitgebundenheit) der Äußerung auf der einen und das Erfordernis von Zeit für die richtige Freigabeentscheidung auf der anderen Seite führen in einen für die Vorabkontrolle unlösbaren Konflikt: Die angemessene Entscheidung verlangt Zeit und damit häufig nur schwer kalkulierbare Verzögerungen, die die Äußerung bis zur Wirkungslosigkeit beeinträchtigen können, und die schnelle Entscheidung kann den rechtlichen Inhaltsmaßstäben und ihrer Anwendung nicht gerecht werden. So oder so laufen rechtmäßige Äußerungen die Gefahr der Be- oder Verhinderung.

2. Risiken des Entscheidungstyps

Verwaltung

Spielraum, Komplexität der Entscheidung und Zeitknappheit als Risiken der Fehlinterpretation könnten um verwaltungsspezifische Entscheidungsbedingungen ergänzt werden. a) Eine vor allem in der Abgrenzung zur rechtsprechenden Gewalt aktualisierte typische und typisierte Ausrichtung an real formulierbaren und formulierten Zielen findet sich in handlungs- und entscheidungsleitenden Strukturen der Verwaltung wieder. Sie könnten sich als Faktor eines relativ gesteigerten Risikos fehlerhafter Maßstabsanwendung erweisen. aa) Einschlägig ist zunächst die Erkenntnis, daß auch gesetzesakzessorische Verwaltung in eigener Sache als an dem jeweiligen Rechtsverhältnis Beteiligte bzw. Organ des beteiligten Verwaltungsträgers entscheidet; sie ist im Unterschied zur Rechtsprechung, die als unbeteiligte Dritte in einer fremden Angelegenheit urteilt, nicht neutral. 113 Korrespondierend kann gesagt werden, derselbe Rechtssatz sei für die ihn anwendende Verwaltung Verhaltens- und für

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

121

die Rechtsprechung Beurteilungsnorm. 114 Die Behörde beurteilt die Rechtmäßigkeit ihres Verbreitungsverbotes. Unabhängig davon, ob es gelingt, die Sache der Verwaltung und ihre möglichen Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse einer exekutivischen Inhaltskontrolle näher zu fassen, dürfte eine Anwendung gerade generalklauselartiger Normen „in eigener Sache" gemessen am Maßstab objektiven Rechts vergleichsweise weniger zuverlässig und genau sein als die Entscheidung eines neutralen Unbeteiligten in fremder Angelegenheit. Eigenes Verhalten ist regelmäßig schwieriger zu beurteilen als fremdes Verhalten. Dabei impliziert „Eigenbeteiligung" Eigeninteresse, das häufig wichtiges Element des Willens zu realer Gestaltung und insoweit nicht zu mißbilligendes Übel, sondern notwendige, positive Voraussetzung für die sachgerechte Aufgabenerfüllung durch die vollziehende Gewalt sein kann. bb) Mit dem Funktionsmerkmal „Eigenbeteiligung" überschneidet sich ein weiterer Aspekt. Der Verwaltung ist nicht ausschließlich, ja nicht einmal primär die Aufgabe der Wahrung des Rechts anvertraut 115 , was nicht dahingehend

113

Ernst Friesenhahn, in: FS für R. Thoma, 1950, S. 21 (25 f f ) ; Karl August Bet-

termann, GS für W. Jellinek, 1955, S. 361 (368 f., 364); ders., in: Staatslexikon, Sp. 2777 ff.; ders., HbStR III, S. 790 f. Rn. 31 f.; Dieter Lorenz, S. 174; W. Hoffmann-

Riem, VVDStRL 40 (1982), S. 187 (231); J. Pietzcker,

VVDStRL 41 (1983), S. 193

(212 f.); ferner R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 92 Rn. 29, und Norbert Achterberg, in:

BK Art. 92 Rn. 136, die ebenfalls in dem genannten Kriterium der „Entscheidung in eigener Sache" die wesentliche Unterscheidung der beiden Tätigkeitsbereiche sehen und Bettermann nur dort nicht folgen, wo er weitergehend aus den unterschiedlichen Modi der Behandlung von Rechtsfragen eine Antwort auf die Frage finden will, welche Sachgebiete von Verfassungs wegen in welchem Modus zu entscheiden sind (sachlicher Richtervorbehalt), vgl. R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 92 Rn. 29, 28; N. Achterberg, in: BK Art. 92 Rn. 135 f.; ebenso Wolfgang Heyde, HbVerfR, S. 1586 Rn. 15; ferner Wolff/Bachof Verwaltungsrecht I, § 2 II a) 2. (S. 8) u. § 2 III (S. 12), wenn sie ein Merkmal der Verwaltung darin erkennen, daß der Verwaltende „selbst handelnd beteiligt ist" und nicht als Unbeteiligter nur (ver)urteilt; auch K. Stern, Staatsrecht II, S. 896, sieht in dem Kriterium einen wichtigen Ansatz für eine Abgrenzung; seine Kritik, es reiche alleine für diesen Zweck nicht aus, da es beiden Gewalten „letztlich um Rechtsverwirklichung im weitesten Sinne" gehe (a.a.O.), läßt die Feststellung des Strukturtyps ebenso unberührt wie sein weiterer Hinweis (a.a.O.), die Unterscheidung könne im Hinblick auf das durch beide Staatsorgane anzustrebende Gemeinwohl die Tätigkeitsbereiche nur ungenau charakterisieren. Zur Geltung des ebenfalls eine Parallelität von Eigeninteresse und Rechtsanwendung implizierenden Grundsatzes „nemo iudex in propria causa" gegenüber der Exekutive vgl. Helmut Goerlich, Verfahrensgarantien, S. 377 f. 114

Vgl. K. A. Bettermann, GS für W. Jellinek, S. 361 (362 ff.); R. Herzog, in:

Maunz/Dürig, Art. 92 Rn. 28; N. Achterberg, in: BK, Art. 92 Rn. 135. 115 K. Hesse, Rn. 551, 548; ebenso implizit all diejenigen, die wie Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 19 I b 3, S. 83, das der richterlichen Tätigkeit wesenseigene Unbeteiligtsein bei einem Amtsträger dann annehmen, wenn ihm „kein anderes Interesse anvertraut ist als das Interesse an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung durch die Feststellung dessen, was rechtens ist", und die schon damit ein solch alleiniges Interesse

122

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

mißverstanden werden darf, der Verwaltung sei das Recht „nur" Mittel zu einem (weitergehenden) Zweck, der Rechtsprechung dagegen Selbstzweck 116 . Es an der Wahrung des Rechts der Verwaltung nicht zuerkennen (K. Stern, Staatsrecht II, S. 897). Praktisch wird jeweils bei der Beschreibung der Rechtsprechung ein zusätzliches (nicht: weitergehendes!) Interesse der Verwaltung neben der Rechtswahrung anerkannt, das sinnvoll in der Gestaltung des jeweils über die sachliche Zuständigkeit anvertrauten Realitätsausschnittes gesehen werden kann und nur im Rahmen der Kennzeichnung von Verwaltung nicht ausgesprochen wird. Anders läßt sich die Unterscheidung einer Rechtsanwendung durch neutrale Dritte und einer solchen durch Beteiligte in eigener Sache auch kaum erklären. Sobald dasselbe Recht sowohl neutral als auch im Sinne einer bestimmten Sache konkretisiert werden kann, muß der Beteiligte irgendwelche sich nicht - zumindest nicht vollständig - in der Wahrung des Rechts erschöpfenden Interessen verfolgen, die dem Neutralen typischerweise - so - nicht eigen sind. Über die Klarstellung hinaus rechtfertigt sich die Nennung des neben der Rechtswahrung bestehenden Interesses als eigener Aspekt daraus, daß sie die verwaltende Rechtsanwendung weiter konkretisiert und daß ein solches Interesse in einem Fall, in dem dem Beteiligten auch die Wahrung des Entscheidungsmaßstabs, d. h. des Rechts anvertraut ist, nicht auf den ersten Blick einleuchtet. Letzteres mag vielleicht auch die zuletzt genannten, bei der Verwaltungstypisierung relativ zur Rechtsprechungskennzeichnung nicht ganz konsequenten Formulierungen erklären. 116 Die Aussage über Mittel und Zweck findet sich - allerdings ohne das auf mindere Bedeutung des Rechts für die Verwaltung weisende „nur" und unter gleichzeitigem Zugeständnis der eingeschränkten Tauglichkeit - bei Robert Nebinger, Verwaltungsrecht, S. 25 mit Fn. 1. Wenn er, a.a.O., im Gemeinwohl den von der Verwaltung mittels des Rechts zu fordernden Zweck sieht, dürfte konsequent Rechtsprechung als solche nicht dem Gemeinwohl dienen. Zutreffend ist insoweit die offenbar auf Nebinger bezogene Kritik von Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 19 I a 3, S. 82 f., bei „rechtsimmanenter" Betrachtung von Mittel und Zweck sei das Recht in beiden Fällen Selbstzweck, bei „rechtstranszendenter" Betrachtung hingegen dienten beide Gewalten mittels des gerade dazu bestimmten Rechts dem Gemeinwohl. Nicht ausgeschlossen wird dadurch allerdings die ebenfalls „rechtsübergreifende"? Betrachtung, die Verwaltung fördere das Gemeinwohl durch Ausrichtung auf sachaufgabenbezogene Sozialgestaltung und diesbezügliche Vollziehung des Rechts, während die Rechtsprechung ihren Gemeinwohlbeitrag durch Konzentration auf die Wahrung des Rechts erbringe. Dieses Zusammentreffen der „Zwischenziele" oder „Mittel" Sachaufgabe und Rechtskonkretisierung auf der Seite der Verwaltung und die Konzentration auf das eine „Zwischenziel" oder „Mittel" Rechtswahrung auf der Seite des Richters sind im übrigen sogar Voraussetzung für die Kennzeichnung der Rechtsprechung durch Wolff/Bachof als Institution, der „kein anderes Interesse anvertraut ist, als das Interesse an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung durch die Feststellung dessen, was rechtens ist" (Verwaltungsrecht I, § 19 I a 3., S. 83, vgl. Fn. 115). Weitere Kritik der Zweck-Mittel-Formel deutet ihre Bezugselemente unterschiedlich: Κ. A. Bettermann, GS für W. Jellinek, S. 368; ders., in: Staatslexikon, Sp. 2777, versteht unter Recht in diesem Zusammenhang nur das objektive Recht i. S. d. allgemeinen Rechtsnormen, das auch der Rechtsprechung nur als Mittel zum Zweck der Findung der richtigen Entscheidung im Einzelfall diene; dennoch seien die Zwecke der Entscheidung für beide Gewalten nicht gleich (a.a.O., S. 368 f.), da die Verwaltung das Recht als Imperativ für ihr eigenes Verhalten, die Rechtsprechung hingegen als Beurteilungsgrundlage für fremdes Verhalten zu verwenden habe. Es werden somit weitere Elemente der Entscheidung dem Zweck zugeordnet. Ernst Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 4 f., wendet sich gegen eine einseitige Betonung von Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit als leitender Prinzipien der Verwaltung (S. 5 mit Fn. 1), die auch an der Verwirklichung des Staatszwecks Recht einen „ständig wachsenden Anteil"

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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handelt sich um die Kehrseite der „Eigenbeteiligung" insoweit, als in eigener Sache entscheidende Stellen angesichts des Zusammenhangs zwischen richtiger Rechtsanwendung und Neutralität regelmäßig zumindest nicht primär mit der Aufgabe der Rechtswahrung betraut werden. Positiv wird beschrieben, daß die Wahrung des Rechts ein Ziel ist, das Behörden auch, aber nicht ausschließlich, sondern im Zusammenhang mit und neben den ihnen jeweils gestellten Sachaufgaben verfolgen 117 . Zielkonflikte sind praktisch unvermeidbar und geeignet, die Konkretisierung des Rechts im Einzelfall umso eher zu beeinflussen, je unbestimmter sich das Recht erweist, d. h. je mehr Rechtsansichten möglich sind. Hinzu kommt, daß die Ressourcen zur Bestimmung des Rechts in sachlicher und personeller Hinsicht im Vergleich zur Rechtsprechung geringer sind. Zur Verfugung stehende Zeit und notwendige Ausrichtung an der sachlichen Aufgabe lassen den Anspruch des Bemühens um Rechtserkenntnis unvermeidlich und richtigerweise anders ausfallen. Die Umsetzung von Recht durch konkrete Gestaltung einer Vielzahl einzelner, realer Sachverhalte kann sich nie in der bloßen Bestimmung des Rechts erschöpfen. Dem entsprechen auch die realen Amtswaltertypen des Richters auf der einen und des in der Verwaltung Beschäftigten auf der anderen Seite. Zweifel werden in die Rechtsmittelbelehrung geschoben und sollen ggf. von den Gerichten geklärt werden. Nur relativierend zu Bereichen, in denen Verwaltung in großem Umfange Ermessensentscheidungen trifft, läßt sich dem entgegenhalten, gesetzesgebundene Exekutive habe ausschließlich die Anwendung des Rechts zur Aufgabe. Auch hier liegt die Sachaufgabe ζ. B. in der Steuerverwaltung oder Kommunikationskontrolle. Jeder Bereich hat mehr zum Inhalt, als das selbstverständliche Bemühen um Einhaltung des Rechts. Und die aus der Verfolgung weiterer Ziele entstandenen, anders strukturierten und in der Summe geringeren Ressourcen zur Rechtsermittlung bestehen typisierend ebenso in der vollständig gesetzesakzessorischen Verwaltung. Die verstärkte Ausrichtung an der aktiven Gestaltung von Wirklichkeit zeigt sich ferner in den mannigfaltigen Möglichkeiten sogenannten informellen Handelns, die auch der gesetzesakzessorischen Verwaltung zur Ver-

habe (S. 4), und hält es vor diesem Hintergrund fur nicht mehr zulässig, die Verwaltung durch die Funktion des Rechts „als Mittel zum Zweck oder bloße Schranke" von der Justiz zu unterscheiden (S. 5). Damit meint er allerdings nicht, daß Justiz und Verwaltung das Recht in gleicher Funktion anwenden. Vielmehr sieht er einen maßgeblichen Funktionsunterschied gerade darin, daß Rechtsprechung die Rechtssache ohne eigenes Interesse an außerhalb der Streitsache liegender Sozialgestaltung behandele, während der Verwaltung Rechtsanwendung innerhalb ihrer Aufgabe zur Lenkung der sozialen Abläufe als Ganzes obliege (S. 6). Gegen die Zweck-Mittel-Formel ferner R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 92 Rn. 29 mit Fn. 1. 117 Siehe Fn. 115, insbesondere dazu, daß dies auch all diejenigen voraussetzen, die, zum Teil in das Merkmal „unbeteiligt" eingebettet, die Rechtsprechung im Unterschied zur Verwaltung dadurch gekennzeichnet sehen, daß ihr ausschließlich und als einzige Aufgabe die Wahrung des Rechts anvertraut ist.

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

fiigung stehen 118 und gerade im unsicheren Bereich nicht einfach zu bestimmenden Rechts einsetzbar sind und eingesetzt werden. Nur vor der genannten unterschiedlichen Ausrichtung erklärt sich schließlich die geschichtliche Entwicklung der organisatorischen als Teil der funktionellen Ausgliederung der Verwaltungsgerichte aus der Exekutive, die letztlich in realen Defiziten objektiver Rechtsauslegung durch die Recht vollziehende Gewalt mit ihre Gründe fand. Die Entscheidung in eigener Sache in Verbindung mit der Verfolgung weiterer Sachaufgaben neben dem Ziel der Einhaltung des Rechts sowie strukturell geringere Ressourcen können als weiterer, zum einen selbständiger, aber vor allem im Zusammenspiel mit der Unbestimmtheit im Grenzbereich des Unzulässigen die Möglichkeit von Fehlentscheidungen in beide Richtungen erhöhender Faktor angesehen werden. b) Ein weiteres Element, das Möglichkeiten objektiv unzutreffender verwaltender Schrankenanwendung erschließt, könnte in nicht auszuschließenden Entscheidungsimpulsen aus der politischen Ebene zu sehen sein. Solche sind nicht in der Form konkreter Anweisungen oder auch nur als Erwartungen rechtswidrigen Handelns zu denken, sondern als Entscheidungkriterien i. w. S., die aufgrund personeller, organisatorischer und kommunikativer Wechselbeziehungen zwischen „dem Bereich der Regierung" und der Verwaltung in die Bestimmung real unbestimmter Rechtsbegriffe einfließen können, obwohl sie bei reiner Rechtsanwendung nicht oder doch nur mit einem anderen Gewicht zur Entscheidung herangezogen werden könnten. Zwar ginge es wohl zu weit, den Unterschied zwischen (materieller) Regierung und Verwaltung nur graduell zu beschreiben 119 , doch sind auch bei Anerkennung einer wesentlichen Verschiedenheit „vielfältige Übergänge und gegenseitige Einflüsse" 120 der beiden funktional aufeinander angewiesenen Bereiche auszumachen. So ist Verwaltung neben ihrer eigenständigen Funktion, die bis zu Entscheidungen regierungsähnlicher Tragweite 121 reichen kann, eben auch Instrument der Regierung, deren Gestaltungsaufträge und sonstige Vorgaben sie loyal umzusetzen hat 1 2 2 . Dieser über den verfassungsrechtlichen Ausdruck in Organisations- und Weisungsrechten sowie dem Beamtenernennungs-

118

Vgl. nur Meinhard Schröder, HbStR III, § 67, S. 512, Rn. 26.

119

In diese Richtung jedoch K. Stern, Staatsrecht II, § 39 III 3., S. 696: Regierung „eher graduell als prinzipiell abschichtbar", vgl. aber auch § 39 II 3., S. 687; s. ferner auch BVerwGE 4, 24 (28). 120

K. Hesse, Rn. 536; vgl. U. Scheuner, FS für Smend, 1952, 253 (277 f.);

M Schröder, HbStR III, § 67, S. 514 f., Rn. 30. 121 M. Schröder, HbStR III, § 67, S. 515, Rn. 30. 122 Vgl. M.Schröder, ZBR 1981, S. 109 (110); ders., HbStR III, § 67, S. 515, Rn. 31.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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recht 123 hinausgehende Befund läßt Raum dafür, daß bei der Konkretisierung von Inhaltsschranken im Rahmen unsicherer Abwägungen mehr oder weniger bewußt politische, nach dem Rechtsnormprogramm jedenfalls so nicht verwertbare Kriterien einfließen können. c) Die nicht geringe Öffentlichkeitsabhängigkeit von Regierungen und auch der Verwaltung selbst kann sich als Fehlinterpretationsrisiko erweisen. So ist, besonders im Bereich der - aus welchen Gründen auch immer - ohne gerichtliche Überprüfung bleibenden Äußerungen, nicht ausgeschlossen, daß mit bestimmten Äußerungsinhalten nicht einverstandene gesellschaftliche oder staatliche Interessenvertreter eine stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen bei den Kontrollentscheidungen fordern und so unabhängig davon, ob die Forderung mit der Berufung auf eine von ihnen entsprechend eingeschätzte Rechtslage untermauert wird, tatsächlich eine Tendenz zur Unterbindung zulässiger Äußerungen entstehen kann.

3. Risiken restriktiv

fehlerhafter

Interpretation

Die bisher betrachteten Risiken können Entscheidungen gegen rechtmäßige Äußerungen mitbestimmen und sind insoweit aus der Sicht der Äußerungsfreiheit Lähmungsrisiken; sie können aber auch rechtswidrige Äußerungen unerkannt passieren lassen. Darüber hinaus lassen sich Strukturelemente erkennen, die auf die Möglichkeit verweisen, Exekutive könne im Bereich möglicher Fehlentscheidungen eher zu einer Unterbindung inhaltlich objektiv zulässiger als der Freigabe unzulässiger Äußerungen neigen. a) Zwei Aspekte stehen mit Verwaltung als Entscheidungstyp in Zusammenhang. aa) Das Funktionsmerkmal „Entscheidung in eigener Sache" könnte über die aufgezeigte „neutrale" Einflußnahme auf die Rechtskonkretisierung hinaus in Verbindung mit der Aufgabe „Kommunikationskontrolle" zu deren Betonung und der Möglichkeit unzutreffender Einschätzung unscharfer Grenzbereiche in Richtung auf die Unterbindung freier Äußerungen fuhren. Eine Organisation, deren Aufgabe es ist, sicherzustellen, daß in ihrem Zuständigkeitsbereich Äußerungen Inhaltsschranken nicht verletzen, hat rechtswidrige Äußerungen in ihrem Namen bzw. demjenigen ihres Rechtsträgers zu untersagen oder nicht zu erlauben. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muß sie ein bestimmtes Selbstverständnis entwickeln, in dem sie rollentypisch zum potentiellen Gegner des Äußerungwilligen wird. Denn dieser behauptet mit der Veröffentlichungsabsicht die Rechtmäßigkeit seines Handelns, die die Kontrolle notwendiger-

123

Vgl. M. Schröder, HbStR III, § 67, S. 515, Rn. 31.

126

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

weise gerade in Frage stellen muß. Das bedingt eine andere Sicht der Sache als sie jemand einnimmt, der im Streitfall als Neutraler überprüft, was rechtens ist. Mögen derartige Unterschiede subtil sein, so sind doch ebenso subtil die Entscheidungen im Grenzbereich zwischen zulässigen und unzulässigen Äußerungen. Beispiele dafür, daß an inhaltlichen Maßstäben orientierte exekutivische Verbreitungskontrolle leicht überschießende Außentendenzen entwickeln kann, sind nicht nur aus vordemokratischen Zeiten bekannt, sondern lassen sich auch in diesem Jahrhundert für europäische Staaten mit grundrechtlicher und demokratischer Tradition nachweisen. So wird für die französische Pressezensur im 1. Weltkrieg, der nur militärische Artikel unterlagen, festgestellt, die Zensoren hätten dazu geneigt, ihre Rolle auch auf die Kontrolle ausschließlich politischer Artikel auszudehnen 124 . Und der Chef der britischen Pressezensur im 2. Weltkrieg, Konteradmiral Thomson, befand: „Once you have a censorship, there is 125 always someone who wants to stop everything." bb) Unabhängig davon, ob die bisher benannten Aspekte auf die Möglichkeit richtungsneutraler Fehlinterpretationen 126 oder restriktiv wirkender Fehler 1 2 7 deuten, beanspruchen sie grundsätzlich ohne Rücksicht auf den konkreten Inhalt der überprüften Äußerungsentwürfe und insbesondere auch dann Geltung, wenn diese keinen Bezug zu auch für die kontrollierende Organisation interessanten Themen enthalten. Ebenso wie der Adressat einer negativen Äußerung typischerweise eher als ein Dritter dazu neigen wird, einen rechtswidrigen Angriff auf seine Ehre durch vorsätzliche Kundgabe der Mißachtung oder Nichtachtung und damit eine Beleidigung anzunehmen, liegt es nahe, daß eine Behörde, soweit sie, ihr Verwaltungsträger oder überhaupt ihre Interessen kritisiert und angegriffen wird, nicht immer unbefangen über die Zulässigkeit einer Äußerung entscheiden wird. Es ist häufig nicht nur unrealistisch, in solchen Fällen, in denen die Behörde über die Beteiligung als Kontrollinstanz hinaus 128 in der Regel ein weiteres eigenes Interesse an der Zurückweisung des Inhaltes der Äußerung unabhängig von deren schrankenbezogenen Zulässigkeit hat, von der Partei „Exekutive" zu verlangen, sie solle diese Parteirolle außer acht lassen. Darüber hinausgehend wäre es sogar bedenklich, da Vollziehung insgesamt, die im Prozeß öffentlicher Meinungsbildung steht und deren Urteil ausgesetzt ist, das legitime Interesse hat und haben muß, im Sinne ihrer Ziele und unter Betonung ihrer Sichtweise an die Öffentlichkeit zu treten. Soll die Behörde eine im Schrankengrenzbereich angesiedelte, ihren Ansichten und Wünschen entgegenlaufende Äußerung erlauben oder nicht unterbinden, handelt es

124

125

Claude-Albert Colliard, S. 562.

1 2 6 Zitiert 127 128

nach Ridder, in: Staatslexikon, Sp. 954. Oben, S. 111 ff. (unter 1. u. 2.). Soeben unter 3. a) aa). Soeben unter aa).

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

127

sich um einen Musterfall des Interessenkonfliktes, der in vergleichbaren Situationen zu einer Ausschließung des Betreffenden von der Beteiligung kraft Gesetzes, also einer unwiderleglichen Befangenheitsvermutung fuhrt (vgl. § 22 Nr. 1 StPO, § 24 StPO, § 20 VwVfG, § 42 ZPO). b) Soweit eine rechtliche Inhaltsschranken überprüfende Instanz Äußerungen nicht beanstandet, wird darin gerne zugleich das positive Urteil gesehen, die Äußerungen seien nach Einschätzung der Behörde - im Rahmen ihrer Prüfungs- bzw. Entscheidungskompetenz - rechtmäßig und zulässig. Inhaltskontrolle übernimmt wenigstens faktisch, und d. h. mindestens in den Augen beliebiger Beobachter, eine Mitverantwortung dafür, daß kontrollierte und veröffentlichte Äußerungen auch „tatsächlich" rechtmäßig sind. Das kann nicht nur die Abhängigkeit von mehr oder weniger öffentlicher, rechtliche Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen häufig übergehender, gleichwohl auf die Vollziehung wirkender Meinung bedeuten 129 , sondern auch davon zu trennende, spezifisch restriktive Risiken bergen. Kontrollierte und nicht beanstandete Äußerungen können vorbehaltlich einer unterschiedlich weit gehenden Entlastung des Sich-Äußernden (gerichtlich) angreifbar bleiben, sei es durch staatliche (Strafverfolgung mindestens in einem objektiven Verfahren oder durch Drittbetroffene, denen die Befugnis eingeräumt ist, die Gestattung anzufechten, die Unterbindung gegenüber der Kontrollinstanz einzuklagen oder, weil die Erlaubnis Rechte Dritter nicht berührt, unmittelbar vom Urheber der Äußerung Unterlassung oder Schadensersatz zu verlangen. Soweit dies geschieht und die von der Behörde zur Veröffentlichung freigegebene, im Grenzbereich der Schranken angesiedelte Äußerung im Gerichtsverfahren erstmalig als rechtswidrig „erkannt" wird, setzt sich die Kontrolle dem Vorwurf der Mitverantwortlichkeit aus, der je nach den sonstigen Bedingungen, die das Ausmaß der Wirksamkeit dieses Vorwurfes mitbestimmen, im Rahmen der Schrankenkonkretisierung erforderliche Wertungen maßgeblich in Richtung der Unterbindung von Äußerungen beeinflussen kann. In einer anderen Situation könnte die gerichtliche Aufhebung untersagender Kontrollentscheidungen in Verbindung mit einer entsprechenden Öffentlichkeit bzw. sonstigen Kommunikatoren - wenn es sie gibt - zu dem Vorwurf der ungerechtfertigten Unterdrückung freier Äußerungen führen, der die Schrankenauslegung in Richtung einer bei reiner Gesetzesanwendung nicht gerechtfertigten Freigabe drängt. Eine solche Möglichkeit ist unter dem Gesichtspunkt der äußerungsfreiheitsbeeinträchtigenden Risiken eines Erlaubnisvorbehaltes eine dieses Risiko nicht verwirklichende Alternative, ohne dadurch die Möglichkeit entgegengesetzter Wirkung auszuschließen.

129

Oben, S. 125 (2., c).

128

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Des weiteren wird die restriktive Schrankenhandhabung dadurch begünstigt, daß einen unter Schranken fallenden Inhalt passieren zu lassen zugleich auch heißt, die an der Verbreitung Beteiligten nicht mehr oder nur noch unter erschwerten Bedingungen zur Verantwortung ziehen zu können. Die Genehmigung oder die trotz Kontrolle unterbliebene Untersagung, kurz: die mögliche, unterlassene Prävention ist nicht nur für den Bürger mehr oder minder effektives Schutzschild 130 , sondern erschwert oder verhindert aus der Sicht der Kontrollbehörde auch - in einem dem Schutzmaß nicht zwingend bis ins Detail entsprechenden Umfang - späteres Vorgehen. Soweit die Gestattung den Äußerungswilligen und sein Produkt nicht schon aufgrund ausdrücklicher Regelung oder ungeschriebenen Rechts vollständig von rechtlicher Haftung bzw. vollständig oder teilweise von weiteren Unterbindungsmaßnahmen freistellt, wird es schwierig, im Bußgeld- oder Strafverfahren einen Tatbestandsirrtum zu verneinen bzw. einen Verbotsirrtum für vermeidbar zu halten 1 3 1 , dem eine gerade der Aufdeckung solcher Irrtümer dienende Behörde erlegen ist. Strukturell einer „Jetzt oder Nie u -Mentalität verwandte Stimmung kann entstehen und restriktiv wirkende Tendenzen mit negativen Folgen für freie Äußerungen schaffen. Nicht fern liegt, daß in nicht eindeutigen Fällen die Möglichkeit einer verwaltungsgerichtlich anfechtbaren Erlaubnisverweigerung im Verhältnis zu der eventuellen Sanktionierung einer Straftat als das geringere Übel angesehen werden könnte und objektiv rechtswidrige Untersagungen begünstigt. Verstärkt wird die restriktive Maßgabe, wenn eventuell Rechtswidriges passieren zu lassen nicht nur Entlastung des Bürgers, sondern sogar strafrechtliche Verantwortung des Kontrolleurs bedeuten sollte 1 3 2 .

130

Oben, S. 106 ff. (A III. 2.). Vgl. insbesondere die „konkludente Strafrechtsunbedenklichkeitsbescheinigung", die zwar nicht das Gesetz, wohl aber die beteiligten Kreise der Kennzeichnung von Filmen als „nicht freigegeben unter 18 Jahren" durch FSK und oberste Landesbehörde nach § 6 JÖSchG entnehmen. Die Erklärung wird von den Strafverfolgungsorganen weitgehend akzeptiert und fuhrt wenigstens dazu, daß Strafgerichte den subjektiven Tatbestand bzw. einen vermeidbaren Verbotsirrtum nur noch bei besonderen Umständen annehmen; eine Einschätzung, die das Bundesverfassungsgericht, E 87, 209 (231) teilt, wenn es dafürhält, die Kennzeichnung vermindere das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung „wesentlich" (vgl. im übrigen oben, S. 89 Fn. 13 m. N.). 132 Der historische Zensor war für strafrechtsverletzende Äußerungen, die er passieren ließ, häufig selbst strafrechtlich verantwortlich. Vgl. etwa A. D. Weber, Über Injurien und Schmähschriften, Dritte Abtheilung, 2. Auflage 1811, S. 126 - 128: „Die Herausgeber und Redacteurs [...] stehen unstreitig, was den Inhalt [...] anbetrifft, [...] in einer strengeren Verantwortlichkeit, als Drucker und Verleger. [...] Nach eben diesen Verhältnissen ist auch die Verantwortlichkeit der Censoren, welche beleidigenden Schriften den Abdruck gestatten, ingleichen der Uebersetzer, die solche in andere Sprachen übertragen, zu bestimmen. Erstere können sich wohl am allerwenigsten damit entschuldigen, daß sie das Unrechtmäßige des Inhalts übersehen hätten, da sie öffentlich zur genauen und sorgfältigen Lesung der Manuscripte bestellt sind. Ihre Strafbarkeit ist aber desto größer, da mit ihrer Vergehung zugleich eine Uebertretung der Amtspflicht 131

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

129

Eine Einbeziehung eventueller Entschädigungs- bzw. Schadensersatzforderungen des Äußerungswilligen oder in ihren Rechten betroffener Dritter gegen die Kontrollinstanz ändert die Einschätzung kaum. Einen relevanten Schadensposten kann der Äußerungwillige nur dann geltend machen, wenn er sein Geisteswerk wegen der Kontrolle nicht mehr verwerten kann. Eine Kontrolle wird aber im Regelfall und darf im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht das Produkt, sondern nur die in ihm enthaltenen unzulässigen Äußerungen unterbinden, so daß ein Schaden höchstens in einem schwer nachzuweisenden, gegenüber dem hypothetischen Verkauf des nicht zensierten Werkes schlechteren Absatz liegen könnte. So würden sich Schadensersatzforderungen Dritter, soweit Kontrollpflichten auch ihrem Schutz zu dienen bestimmt sind, ein Verschulden der Behörde vorliegt und Schäden in den Schutzzweck der Pflicht fallen, vielleicht sogar als eher restriktiv wirkender Verantwortlichkeitsfaktor erweisen.

4. Zusammenwirken der Faktoren Unbestimmte Rechtsbegriffe „par exellence", deren Aussage in den interessanten Fällen rechtspraktisch auch nicht von der kontrollierenden Behörde mit Sicherheit ermittelt werden kann, bedingen einen beachtenswerten Spielraum fur „vertretbare" gestattende oder unterbindende Entscheidungen. In diesem unvermeidlichen Freiraum bewegt sich eine fur freigegebene Äußerungen potentiell verantwortliche, u. U. regreßbedrohte und mit der Kontrolle als eigener Sache befaßte Institution, die relativ nicht in besonderem Maße für die objektive Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ausgelegt, für nicht rechtliche Impulse offen ist, mit ihren relativ geringeren Ressourcen in kurzer Zeit komplexe Wertungen treffen muß und zudem legitimerweise ein außerhalb des Rechtsmaßstabs stehendes politisches Interesse verfolgt, das im Widerspruch zu den

verbunden ist." Soweit die Zensur dem Bürger zumindest die strafrechtliche Verantwortlichkeit abnahm, handelte es sich praktisch nicht selten um eine alternative Haftung, die davon abhing, ob die entscheidenden Passagen tatsächlich zensiert und also dem Zensor zuzurechnen oder ohne sein Placet gedruckt worden waren. Als beispielsweise 1819 der österreichische Gesandte wegen eines von dem österreichischen Kaiser als Beleidigung gewerteten Artikels in einer Frankfurter Zeitung die Bestrafung des Urhebers oder des Zensors verlangte, sollte Ludwig Börne, der verantwortliche Redakteur, durch Vorlage des Zensurblattes seine Unschuld beweisen. Da sowohl Börne als auch der Zensor versicherten, die Blätter nicht mehr zu besitzen, wurde jener zu „vierzehntägiger Einsperrung unter Gaunern, Bettlern und Dieben" verurteilt und sein Verleger angewiesen, ihn als Redakteur zu entlassen. Die Stelle verlor Börne, während die Haftstrafe in der Berufung mangels Beweisen aufgehoben wurde; über den Fortgang der von der Stadt Frankfurt eingelegten Revision sagen die Frankfurter Akten nichts (H H. Houben, S. 58); vgl. zur Strafbarkeit der nicht hinreichend aufmerksamen Zensoren ferner U. Eisenhardt, S. 6 f., 30, 32; Helmut Neumann, S. 48. 9 Fiedler

130

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

kontrollierten Äußerungen stehen kann. Schon die Schwierigkeiten der Schrankenbestimmung als solche bedingen Fehlentscheidungen, die auch zulässige Äußerungen treffen können. Gleiches gilt für die Verfahrenskomponenten „Eigenbeteiligung der Verwaltung", Sachaufgabe und die relativ geringeren Ressourcen zur Rechtsermittlung ebenso wie die erhöhte Möglichkeit nicht-rechtlicher Entscheidungsimpulse. Darüber hinaus führen das Erfordernis, die Rechtmäßigkeit von Äußerungen im Rahmen der Kontrolle in Frage zu stellen, die potentielle Mitverantwortung einschließlich eventueller Regereßbefürchtungen hinsichtlich unzulässiger Äußerungen bei gleichzeitiger Entlastung des Äußerungswilligen sowie inhaltliche Interessengegensätze zu dem Risiko einer spezifisch zulässige Äußerungen hindernden Tendenz.

5. Möglichkeit bewußter Verhinderung zulässiger Äußerungen Jenseits des Risikos - in einem natürlichen Sinn - nicht gewollter Fehlentscheidungen der aufgezeigten Art bedeutet die Kontrolle auch die Möglichkeit, erkennbar oder erkannt zulässige Äußerungen zu unterbinden, d. h. mit billigender Inkaufnahme, direktem Vorsatz oder sogar Absicht im engeren Sinne die Schranken zu mißachten. Zu berücksichtigen ist dabei, daß derartige Entscheidungen, sollten sie geschehen, solange nicht als bewußte erkennbar wären, wie sie in dem juristischen Aufwand erfordernden Grenzbereich angesiedelt sind. Fehlentscheidungen in Zweifelsfallen, die Befangenheit der Behörden indizieren, führen leicht zu einem solchen Vorwurf, der unabhängig davon, wie wenig er zutreffen mag, kaum entkräftet werden kann. Der „böse Schein" ist häufig sogar bei zweifelsfrei rechtmäßigen Maßnahmen unvermeidlich.

II. Verzögerung als Be- und Verhinderung Die Zeitgebundenheit von Äußerungen wurde bereits als Grund dafür erwähnt, daß inhaltliche Vorabkontrolle besonders bei komplexen Maßstabsvorgaben Gefahr läuft, in zu wenig Zeit und deshalb fehlerhaft entscheiden zu müssen oder durch Verzögerungen Äußerungen zu behindern. Über seine Rolle als Faktor des Fehlentscheidungsrisikos hinaus 133 verdient der Zeitaspekt eine nähere Betrachtung. Denn seine Bedeutung für das Geschehen „Äußerung" läßt fast jeder Verzögerung, wie sie rechtsschutz- oder sonst kontrollbedingt eintreten kann, eine besondere Qualität zukommen. Es spricht einiges dafür, daß der Zeitpunkt häufig nicht nur inhaltsneutral austauschbare Randbedingung der Äußerung ist, sondern gemeinsam mit den 133

Oben, S. 119 f. (I., l,c).

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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Erklärungszeichen im engeren Sinne sowie mit dem Äußerungsweg, dem Adressaten und gegebenenfalls sonstigen Umständen zu den wesentlichen Äußerungsmerkmalen zählt. Die Möglichkeit, einen bestimmten Inhalt nur überhaupt irgendwann, letztlich: nach dem Gerichtsprozeß äußern zu können, ist ohne diese Variablen häufig kaum mehr wert als keine Äußerung 134 . Sie kann sogar von noch geringerem Wert sein, da Schweigen trotz Äußerungsmöglichkeit nur im Rechtsverkehr - und dort auch nur grundsätzlich - keinen Erklärungsgehalt hat. Erst die Variablen Adressat, Zeit und Form der Mitteilung davon geschiedener geistiger Inhaltskerne bestimmen die Möglichkeiten der Entgegennahme durch andere und die Chancen geistiger Wirkungen auf sie, ohne die nur ein geringer Teil der Äußerungen, wie etwa das echte Selbstgespräch, Sinn behält. Äußerung ist deshalb überhaupt erst der zu einer bestimmten Zeit und damit in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Art und Weise mit der Hoffnung auf Entgegennahme und geistige Aufnahme in Richtung bestimmter oder unbestimmter Adressaten auf den Weg gebrachte Mitteilungsinhalt. Und in dem nicht geringen Maße, in dem der Zeitpunkt des Empfangs das geistig Aufgenommene und dessen Wertung beeinflußt, kann auch davon gesprochen werden, der Zeitpunkt der Äußerung sei wesentlicher Faktor des Inhaltes der Äußerung selbst dann, wenn er nicht den wesentlichen Teil der geistig beabsichtigten oder jedenfalls verursachten Wirkung ausmacht. Sofern der Äußerungswillige über die tatsächlichen Möglichkeiten verfugt, schützt deshalb Äußerungsfreiheit notwendig die Wahl von Mitteilungszeitpunkt, -träger und -weg sowie die Auswahl der Adressaten und deren Empfang im Sinne der Möglichkeit tatsächlicher Kenntnisnahme gegen staatliche Eingriffe 135 . Unter diesen Elementen verdienen der Zeitpunkt der Äußerung und damit seine Wahl besondere Beachtung. Inhaltsschranken werden notwendig auf einzelne Äußerungen angewendet, was das Risiko mit sich bringt, den Inhalt auch dann aus einer die Äußerung isolierenden Betrachtung gewinnen zu wollen, wenn das Erklärte tatsächlich nur Teil eines rückbezüglichen, komplexeren Prozesses ist und isoliert weder überhaupt erklärbar noch in seinem „wahren" Inhalt verständlich ist. Einem Aspekt der inhaltsmitbestimmenden Einbindung in eine historische Situation sucht die juristische Inhaltsbewertung Rechnung zu tragen, wenn mit der Figur von „Rede und Gegenrede", in der das „Recht zum Gegenschlag" einen prominenten Unterfall bildet 1 3 6 , vorausgegangene und den Sinn der fraglichen Äußerung mit stiftende Kommunikation berücksichtigt wird.

134 Keine Äußerung kann als Schweigen großen Wert haben, nicht aber für den, der sich äußern will. 135 Vgl. zuletzt BVerfGE 93, 266 (289). 136 Vgl. nur BVerfGE 12, 113 (126 ff., 130, 131).

132

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Die Bedeutung des Zeitpunkts einer Äußerung wird nicht immer ebenso offensichtlich erscheinen. Doch ist er, nach dem Kalender gemessen, nur für den kontrollierenden Interpreten vorgegebene und unproblematische, vielleicht sogar ganz beiläufige Umstandsbestimmung, während der Sich-Äußernde in der Kalenderangabe die objektive Benennung der für ihn eigentlich bedeutsamen relativen zeitlichen Einordnung seiner Äußerung in eine Situation sehen wird, die ihrerseits für die mögliche geistige Wirkung als das „Eigentliche" der Mitteilung von größter Relevanz ist. So stellt sich ein ex post aus der Sicht Dritter gegebenes Faktum aus der Sicht des Handelnden als wesentliche Komponente der Freiheitsbetätigung dar. Entsprechend schwer treffen die Freiheit erzwungene und insbesondere nicht vorhersehbare erzwungene Abweichungen vom gewählten Zeitpunkt. Die am Tag nach der Wahl als Prognose nur noch über Makulaturwert verfügende Wahlvorhersage, die dann für den Wahlausgang belanglose Erwiderung des angegriffenen Wahlkandidaten sind lediglich Beispiele eines - nur weniger deutlich - alltäglichen Sachverhaltes. Eine Art Sublimat der Zeitpunktbedeutung läßt sich daran erkennen, daß über vergangene, geschehene, nicht mehr beeinflußbare Dinge häufig leichter und einfacher geschrieben und gesprochen werden darf, als über solche, die noch geändert werden können. Und das gilt sowohl für das Abwarten in die Zukunft hinein als auch für die Historisierung oder doch wenigstens räumliche Entfernung der Aussage aus dem „Hier und Jetzt" 1 3 7 . Die sich damit zeigende besondere Bedeutung der Zeit der Äußerung, die praktisch den Inhalt der Äußerung mitbestimmt, jedenfalls ihre geistige Wirkung wesentlich prägt, läßt schon der zeitweisen Unterbindung und darin liegenden Verschiebung bzw. Verzögerung des Äußerungszeitpunktes, wie sie im Fall der Gestattung erst durch ein Gericht geschieht, die Gefahr einer besonders wiegenden Freiheitsbeeinträchtigung zukommen. Die Zeit ist nur der Punkt, von dem aus sich die Situation ergibt, von der die Äußerung abhängig ist und zu der Stellung zu nehmen zur Freiheit zählt. D. h., die Situationsabhängigkeit führt dazu, daß zeitliche Verschiebungen die Äußerung in eine andere Situation hineinkommen lassen und sie dadurch verändern, aus ihr eine andere Äußerung machen. Diese Gefahr der Quasi-Unterbindung einer Äußerung durch Verzögerung kann im Zusammenspiel mit den bereits beschriebenen Risiken fehlerhafter Entscheidungen und der möglichen Tendenz restriktiv-fehlerhafter Entscheidungen als ein Motiv des Bildes „Lähmung des Geisteslebens" angesehen werden.

137

ches".

Bekannte Beispiele liefern Lessings „Emilia Galotti" oder Sartres „Les Mou-

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

133

III. Exekutiver Inhaltsmaßstab, geistige Vor- und Nachwirkungen Einrichtung und Durchführung der Kontrolle können jenseits der im Laufe konkreter Entscheidungen, sei es im Tenor, in den Akten oder anderweitig sichtbar werdenden Effekte weitere, schwieriger wahrnehmbare „lähmende" Wirkungen auf Äußerungswillige ausüben. Meinungsäußerung beginnt bei der Auswahl bestimmter Geschehnisse aus der Gesamtheit der zugänglichen und schon selektiv wahrgenommenen Sachverhalte, schreitet über deren Untersuchung und Bewertung durch Vorwissen und Gefühl fort zu einem Standpunkt, einer Stellungnahme und mündet in eine im jeweiligen Medium gefundene Gestalt dessen, was schließlich zur Mitteilung an andere bestimmt wird. Bei dieser Meinungsbildung und der anschließenden oder auch mit ihr untrennbar verwobenen Entscheidung, ob etwas, welcher Inhalt, wem, wann und auf welchem Wege mitgeteilt werden soll, werden i. d. R. eine Vielzahl praktisch kaum nachvollziehbarer Faktoren relevant: die Bedingungen des Individuums wie Vorwissen, Gefühlszustand, Wertvorstellungen einschließlich persönlich-ethischer Äußerungsgrenzen sowie tendentiell eher dem Außenbereich zuzurechnende, mehr oder weniger bewußt berücksichtigte Faktoren wie Erwartungshaltung der potentiellen Empfänger und sonstiger für den Äußerungswilligen wichtiger Personen (Chefredakteur, Partei- oder andere Freunde), aber auch im gesellschaftlichen Umfeld geltende, der Person bekannte Äußerungsgrenzen, seien sie nun gesellschaftlich-moralischer oder rechtlicher Natur. Der Ansatzpunkt für die Frage, inwieweit inhaltliche Verbreitungskontrolle diesen Teil des „Geisteslebens" ausmachenden Prozeß „lähmen" kann, dürfte darin zu sehen sein, daß die Berücksichtigung der im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 GG bestehenden rechtlichen Grenzen unter den vielen Bedingungen der Findung der Äußerung anders verläuft, wenn der Äußerungswillige weiß, daß ein Dritter den Inhalt auf seine Vereinbarkeit mit diesen Schranken untersuchen wird. Zunächst erlangen die rechtlichen Bedingungen eine hervorragende Relevanz unter der Vielzahl der Faktoren. Vor allem aber dürfte in dem sicheren Wissen, daß der Dritte die Rechtmäßigkeit des Inhaltes in Frage stellen und mit seinem Urteil das letzte Wort über die geplante Veröffentlichung haben wird, ein gegenüber dem Fehlen einer solchen Instanz neuer Faktor zu sehen sein. Maßgeblich für den Entwurf der eigenen Meinung, jedenfalls aber für das, was davon geäußert werden soll, wird der sich im Laufe der Kontrollpraxis herausstellende Maßstab des mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Dritten, genauer: das, was dem Äußerungswilligen davon bekannt ist, an Stelle der eigenen Bewertung des Äußerungswilligen. So wirkt der Dritte durch seine Verfahrensmöglichkeiten geistig schon auf den Entwurf; die bloße Existenz des Kontrollsystems bewirkt Äußerungsinhalte, die, nicht mehr der Auffassung des Äußerungswilligen von den Grenzen entsprechend, dennoch so scheinen und ohne außenweltmanifestes Inhaltsverbot dennoch zensiert verbreitet werden. Dabei liegt der wesentliche Unterschied zu der „Schere im K o p f , die die Kritik des Chefredakteurs vorwegzunehmen versucht, daß der

134

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Redakteur das von grundrechtlicher Freiheit gedeckte, ja grundrechtliche Freiheit ausmachende Urteil des Vorgesetzten antizipiert, während bei der Selbstzensur aus Abhängigkeit von der Kontrollbehörde unter Verwendung deren unzutreffenden Maßstabs rechtswidrige staatliche Untersagung vor- und nachwirkt. Äußerungswillige werden von der Kontrollinstanz aufgrund der beschriebenen Risiken falsch entwickelte Maßstäbe in ihre Äußerungsplanungen im Wege des Verzichts auf rechtmäßige Äußerungen zunächst insoweit mit einbeziehen, als sie die ihnen aus eigenen oder fremden Erfahrungen bekannten Entscheidungen irrtümlich für richtig halten. Das Risiko einer solchen Übernahme unzutreffender Gesetzesauslegungen liegt umso näher, je generalklauselartiger, aus sich heraus unbestimmter die Norm und damit rechtlich komplexer und anspruchsvoller die diskussionsfahige Behauptung abweichender Ansicht erscheint. Es gibt darüber hinaus aber auch ein unübersehbares und zugleich nicht überschaubares Risiko, daß trotz Zweifeln an dem exekutiven Maßstab und sogar gegen die Überzeugung des Äußerungswilligen von der Rechtmäßigkeit geplanter Äußerungen die Endentscheidung und damit Maßstabsbildungsmacht der Behörde zukommen wird. Da ist zunächst die Zeitabhängigkeit, die beanstandete Äußerungen wegen des damit verbundenen Zeitverlustes in Bedrängnis bringen oder sinnlos machen und so den Bürger dazu drängen kann, den Inhalt seiner Äußerungen gegen seine Überzeugung in dem nach der Ansicht der Behörde rechtmäßigen Bereich anzusiedeln oder die für rechtswidrig gehaltene Entscheidung zu akzeptieren. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Rechtsbehelfslast, die in noch weiterem Ausmaß zeitlich zerstörend wirkt und zusätzlich leicht einen Aufwand fordern kann, der - gemessen an weiteren Äußerungsbzw. sonstigen Vorhaben, und d. h. an zeitlichen, aber auch finanziellen oder sonstigen Ressourcen - in hohem Maße durchsetzungshindernd wirkt und Anpassungsbereitschaft auch wider besseren Rechts fordert. Hinzu kommt ein durch die Problematik der Generalklauseln verschärftes, aber über sie hinausgehendes, in der Struktur von Verwaltungsentscheidungen und ihrer Masse begründetes Phänomen, sc. die in aller Regel erheblich verminderte Öffentlichkeit und Erkennbarkeit exekutivischer Entscheidungsmaßstäbe138. Wenn Äußerungswillige nicht darauf bestehen oder bestehen können, daß ihre freie und dennoch beanstandete Äußerungsplanung nur freie Inhalte zur Verbreitung bringen soll, sei es, weil sie sich der Auffassung der Kontrollinstanz aus welchen Gründen auch immer anschließen, sei es, weil sie Prozeßkosten oder -risiko oder die jedenfalls eintretende Verzögerung nicht hinnehmen 138 Vgl. nur etwa W. Wohland, S. 177 - 184, P. Bär, S. 233 ff., zu den Schwierigkeiten, eine Spruchpraxis der Filmeinfuhrkontrolle oder auch nur die Zahl der kontrollierten und beanstandeten Filme zu ermitteln.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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können oder wollen, bleibt nur, die Streichung zu akzeptieren bzw. - wenn möglich - eine die Beanstandung berücksichtigende Version der erneuten Kontrolle zu unterziehen oder auf die Äußerung des gesamten Geisteswerkes zu verzichten. In all diesen Fällen, in denen die Äußerung unterbleibt oder die geforderte Streichung akzeptiert bzw. eine andere Äußerung gebilligt wird, werden nicht nur freie Meinungen wesentlich beschränkt, sondern verhindert; sie werden darüber hinaus als solche nicht einmal erkannt und aufgrund der Kontrolle dem Bereich unzulässiger Äußerungen auch mit Erinnerungswirkung für Behörde und Äußerungswilligen zugerechnet. Damit kommt der Kontrollinstanz insoweit zumindest die faktische Macht zu, den Maßstab für unzulässige Äußerungen, d. h. die Schranken im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, über den Einzelfall hinaus zu bestimmen. Diese Gefahr der selbst theoretisch nach Entstehung und Ausmaß kaum meßbaren Verselbständigung unzutreffender Verbote zulässiger Äußerungen kann als erheblicher Faktor eines Risikos der Lähmung des Geisteslebens gewertet werden. Das Risiko wirkt nicht nur in Richtung des Unterlassens rechtmäßiger, dem exekutivischen Maßstab widersprechender Äußerungen, sondern auch dahin, selbst diesem entsprechende, nur in seiner Nähe vermutete Mitteilungsentwürfe zu unterlassen. Im Zusammenhang mit der Maßstabsbildungsmacht steht die Befürchtung, die regelmäßige und generelle Kontrolle könnte vermehrt den Blick auf Beeinflussungen der „Gesamtkommunikation" lenken, das heißt verschiedene Tendenzen mit verschiedenen Maßstäben messen. Möglich ist dies nicht nur im Wege vermehrter Beeinträchtigung der einen, sondern auch durch Nichteinschreiten gegen andere Strömungen.

IV. Stattfinden einer Vorabkontrolle Generell und schon vor dem Stadium einigermaßen konkreter Äußerungsprojekte abschreckend könnte das schlichte Stattfinden einer generellen Kontrolle wirken. Zunächst wird, da doch offenbar sehr viele Äußerungen keinen Bezug zu Inhaltsschranken aufweisen, eine solche Überwachung leicht als Ausdruck von Mißtrauen interpretiert, das jedem Bürger allein wegen seiner Äußerungsabsicht begegnet. Und zum anderen werden viele Menschen meinen, sie würden für nicht fähig oder nicht willens gehalten, die Inhaltsschranken einzuhalten. Und den Anspruch darauf dürften die meisten ebenso haben, wie sie glauben werden, diese Beurteilung müsse ihnen überlassen werden.

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit V. Unerkennbarkeit der Kontrollwirkungen

Gedanklich noch vor der für sich genommen nicht notwendig negativen Entlastung des Bürgers und der restriktive Risiken bergenden Mitverantwortung kann Inhaltskontrolle aus kommunikativer Sicht zu diffuser staatlicher Miturheberschaft führen. Soweit der Staat im einzelnen unerkannt Inhalte verändert, wird die Äußerung für den um die Existenz der Kontrolle wissenden und mit ihr rechnenden Empfanger unglaubwürdig, da Zweifel aufkommen, inwieweit die Äußerung dem Autor oder der Kontrolle zuzurechnen ist. Dieser Effekt erstreckt sich ebenso auf von der Kontrolle nicht angetastete, aber als solche nicht erkennbare Werke. Nichts anderes gilt für die in vorweggenommener Kontrolle konzipierten Äußerungen. Weiß der Empfänger hingegen nichts von der Existenz der Kontrolle oder ist sie ihm bei der Wahrnehmung der Äußerung nicht gegenwärtig, wirken die inhaltlichen Veränderungen durch die Kontrolle wie Fälschungen, das heißt, werden dem Autor zugerechnet, von dem sie nicht stammen. Inhaltskontrolle, die ja schrankenverletzende Äußerungen unterbinden will, wird in der Regel bestrebt sein, den mit der Kennzeichnung einer Untersagung verbundenen Hinweis auf die anfängliche Existenz unterbundener Inhalte einschließlich der dadurch provozierten Spekulationslust der Empfänger zu vermeiden. Typischerweise wird deshalb die sogenannte „Zensurlücke" und insbesondere ihre Kennzeichnung unterbunden. Zu kurz griffe allerdings die Idee, das mit der Zensurlücke oder gar öffentlichen Rechtsmittelverfahren verbundene Risiko der Thematisierung zensierter Inhalte bedeute notwendigerweise die Überflüssigkeit der Kontrolle, ja ihre Ziele konterkarierende Effekte. Für die nur kenntliche Streichung gilt das schon deshalb, weil die unterlassene Äußerung im allgemeinen mehr enthält als die Information, eine Äußerung sei unterlassen worden. Und bei der anderweitig bekannt werdenden untersagten Äußerung ist zunächst zu bemerken, daß es sich in aller Regel um quantitative Ausnahmen handelt 1 3 9 , das Bekanntwerdende selten quantitativ, qualitativ und zeitlich der Äußerung entspricht und die bekanntgewordene Untersagung nicht hindert, daß die Zeitung nicht verkauft wurde und eingestellt werden muß und der Film nicht gesehen wird. Zweitens ist die Aufmerksamkeit launisch, der Werbeeffekt als eine mögliche Folge lange bekannt, kein Hindernis für die Unterdrückung der anderen Äußerungen und zudem häufig von beschränkter personaler und zeitlicher Reichweite. Für Filme ergibt sich die Unerkennbarkeit von Schnitten i. d. R. schon aus den Eigengesetzlichkeiten des Mediums, die einen Nachschnitt des Gesamtwerkes zwecks Wahrung des durch Kontrollschnitte eventuell bedrohten Ge-

139

Vgl. soeben Fn. 138.

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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samtzusammenhanges sowie die gegebenenfalls erforderliche erneute Kontrolle zeitlich erlauben. Für Druckschriften zeichnet die Zensurgeschichte ein etwas anderes Bild. Während es Textverarbeitungs- und Drucktechnik heutzutage erlauben dürften, ein Kontrollverfahren so zu gestalten, daß ein durch Zensurlücken erforderlicher Neuumbruch selbst bei Tageszeitungen nicht zu unerträglichen Verzögerungen führen müßte, waren es vor 1848 zumindest ursprünglich auch technische und wirtschaftliche Gründe, die Gedankenstriche oder Punkte an die Stelle gestrichener Textstellen treten ließen. Zeitungsblätter (und auch Bücher) wurden gewöhnlich nicht als Manuskript, sondern gesetzt und fertig umgebrochen den Zensurbehörden vorgelegt 140 , so daß die Beseitigung der durch Streichung von Sätzen oder Abschnitten entstandenen Lücken durch Neuumbruch des Gesamtwerkes kaum oder schwer tragbare Kosten und für Zeitungen und Zeitschriften schwerwiegende Verzögerungen verursacht hätte 141 . Hinzu kam, daß die unkenntliche Streichung einzelner Passagen Aussagen unsinnig werden lassen oder in ihr Gegenteil verkehren konnte, was, wenn nicht durch Zensurstriche, nur durch inhaltliche Veränderungen und damit erneute Zensurvorlage hätte behoben werden können. 142 Gleichzeitig aber verliehen sichtbare Zensurlücken der jeweiligen Zeitung das Prädikat liberaler Gesinnung, erinnerten die Leser entsprechender Geisteshaltung an die von ihnen so empfundene „Bevormundung" und regten an, die weißen Flächen mit eigenen Gedanken und Spekulationen zu füllen. 143 Auch solche den Kontrollzielen eher zuwiderlaufende Effekte dürften verschiedene Staaten des Deutschen Bundes insbesondere in der Zeit nach den - zu diesem Thema schweigenden - Karlsbader Beschlüssen dazu bewegt haben, mit unterschiedlicher Intensität und Regelungsdichte gegen erkennbare Zensurlücken vorzugehen 144 . Selbst nachdem sich die Mitglieds-

140

H. H Houben, S. 56.

141

H. H. Houben, S. 56; Ludwig Börne berichtet in den Aprilheften des Jahres 1819 der von ihm in Frankfurt herausgegebenen Zeitschrift „Die Wage", daß er - als Redakteur der Tageszeitung „Zeitung der freien Stadt Frankfurt" - die Zensurbögen abends um 10 Uhr erhalte. In einer Appellationsschrift gegen die Verhängung einer Geldstrafe wegen der Füllung von Zensurlücken beruft er sich ebenfalls darauf, daß das „zensirte Zeitungsblatt [...] erst abends um 10 Uhr in die Druckerei zurück[kommt]", zitiert nach H H Houben, S. 60. 142 H. H. Houben berichtet als Beispiel, S. 56, daß die Frankfurter Zensur 1819 in dem Satz „Das [französische] Ministerium ist gut, aber schwach" die beiden letzten Worte „aber schwach" strich. 143

144

Vgl. H H. Houben, S. 56 f.

Das die Karlsbader Beschlüsse in Preußen ausfuhrende Zensuredikt vom 18.10.1819 (GS S. 224) enthielt ebenfalls keine ausdrückliche Regelung, doch wurden die Zensoren angewiesen, Lücken füllende Gedankenstriche nicht zu dulden. Die Anweisung wurde durch eine Ministerialverfugung vom 22.02.1823 wiederholt. Die Weimarer Zensur duldete etwa 1819 die Kennzeichnung einer zensurbedingt vollständig leergebliebenen Spalte mit dem Wort „Censur" in großen Lettern. Es handelte sich um

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2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit

Staaten in Art. 28 des (geheimen) Schlußprotokolls der Wiener Ministerkonferenzen vom 12.06.1834 verpflichtet hatten, „Censurlücken nirgends [zu] dulden" 1 4 5 , blieben Zensurgesetzgebung und -praxis im Bund so verschieden, daß der Kampf zwischen Publizisten und Zensurbehörden um die Andeutung der Zensurschnitte vielfach weiterging 146 .

die letzte in Weimar erscheinende Nummer des von August von Kotzebue 1817 dort gegründeten „Literarischen Wochenblatts", bevor es von Brockhaus in Sachsen fortgeführt wurde, der das Blatt nach der Ermordung Kotzebues am 23.3.1819 gekauft hatte. In der leeren Spalte hatte der Verkäufer den Verlagswechsel mit der „strengen" Weimarer Zensur begründen wollen, die ein Gedeihen des Blattes verhindere. Sachsen seinerseits hielt sich bei der Jagd nach den sprechenden Gedankenstrichen zurück, so daß z. B. die Ausgabe der von Brockhaus nunmehr unter dem Titel „Literarisches Conversations-Blatt" fortgeführten Zeitung vom 2. Juni 1826 alle Zensurschnitte mittels Gedankenstrichen nach Ort und Umfang genau nachzeichnen konnte (vgl. zu allem H. H. Houben S. 60 f.) In Frankfurt a. M. wurde schon vor dem provisorischen Preßgesetz des Bundes vom September 1819 durch Polizeiverfügung vom 20. Februar 1819 angeordnet, der Satz müsse nach der Zensur so zusammengerückt werden, daß im Text keine Lücken sichtbar würden; eventueller freier Raum am Ende der Nummer müsse mit schon zensierten „Avertissements" oder Ausschnitten aus anderen Frankfurter Zeitungen gefüllt werden (H. H. Houben, S. 58 f.). 145 Art. 28 Ziff. 3 des geheimen Schlußprotokolls der Wiener Ministerkonferenzen vom 12.06.1834, in: E. R. Huber, Dokumente I, S. 137 (142). 146 In Sachsen konnte Wilhelm Held in dem von ihm herausgegebenen Volksblatt „Die Lokomotive" noch 1843 über einige Zeit hinweg Zensurstriche durch eine Vignette in Form einer Schere kenntlich machen. In Preußen wurde mit der Allerhöchsten Kabinetsorder v. 06.08.1837 (GS S. 141) die bereits zuvor untersagte Andeutung von Zensurlücken mit Strafe belegt. Ein erneutes ausdrückliches Verbot derartiger Gedankenstriche erging am 30.06.1843. Dennoch gelang es Held, dessen „Lokomotive" wegen eines Verbotes in Leipzig nach halbjähriger Tätigkeit in das zu Preußen gehörende Schkeuditz umgezogen war, kleinere Zensurlücken mit den Buchstaben „(Cnsrschr.)" zu füllen, die er nach der Erzählung seines Mitarbeiters Otto von Corvin dem fragenden Zensor als kosakisches Feldgeschrei verkaufen konnte. Als ihn schließlich ein neuer (und zudem offenbar strengerer) Zensor durchschaute, füllte er die wachsenden Lücken mit alten Kinderliedern (zu allem H H. Houben, S. 62). Heinrich Heine verwendete wie von der Zensur herrührende Gedankenstriche als Spottmittel bereits in dem 1827 in Hamburg erschienenen zweiten Teil der „Reisebilder". Das Capitel XII der „Ideen, Das Buch le Grand" besteht aus elf Zeilen Gedankenstrichen, zwischen denen sich wie zufällig stehengeblieben nur die Worte „Die deutschen Censoren Dummköpfe" finden (Faksimile der S. 228 der 1. Aufl. bei H. H. Houben, S. 56; nun etwa Sämtliche Schriften, Hanser, 2. Bd., hrsg. v. Günter Häntzschel, 3. Aufl. 1995, S. 283). Zumindest implizit Stellung nahm Held in der Nr. 14 der „Lokomotive" vom 05.04.1843, wenn er im Anschluß an eine Mitteilung, daß die Berliner Prediger-Synode sich einstimmig f ü r das neue Ehegesetz ausgesprochen habe, einen Gedankenstrich in Klammern setzte, zu dem er in einer Fußnote anmerkte: „Diese Klammern deuten keine Striche des Zensors an, sondern Gedanken, die ich infolge der neueren Zensurmaßregel auszulassen für gut fand, um Zensurstriche zu vermeiden" (zitiert nach H. H. Houben, S. 63 f).

1. Kap.: Die Gründe des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG

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VI. Gewandelte tatsächliche Möglichkeiten der Kontrolle Berichte über die historische Zensur und ihre Untersuchung aus heutiger Sicht sind sich weitgehend einig, daß die Kontrolldichte angesichts tatsächlicher technischer Schwierigkeiten und der unterschiedlichen Zensurpolitik in den verschiedenen Territorien weit hinter der gewünschten Lückenlosigkeit zurückblieb 147 . Selbst wenn die dauernden Klagen über die trotz reichsweiter Zensurpflicht nicht zu unterbindenden unerwünschten Schriften um einen denkbaren Rechtfertigungsanteil gekürzt werden, war es doch immer wieder möglich, Schriften verschiedenster Inhalte unter Verletzung der Zensuranordnungen oder im Gebiet eines Fürsten zu drucken, der als Gegner der jeweils angegriffenen Interessen galt oder auch aus Gründen der Sicherung von Wirtschaftsstandorten großzügigere Zensoren beschäftigte 148 . Aus den gleichen Gründen konnte auch der Handel nur unvollkommen überwacht werden. Mit der Verbesserung der Transport- und Kommunikationsinfrastruktur sowie der Vergrößerung der einheitlich zensierten Räume nahm die Effizienz der Kontrolle zu. Die nach heutigen Vorstellungen immer noch nicht sehr befriedigende Dichte der zwischen 1819 und 1848 im Deutschen Bund realisierten Zensur 149 kann wohl, bei aller Vorsicht und mit dem Wissen um den Prognosecharakter eines solchen Urteils, bereits als Fortschritt angesehen werden 150 . Dennoch sind heutige Kontrollmöglichkeiten unter technischen und infrastrukturellen Aspekten dem damaligen Standard erheblich überlegen. Das gilt schon für die Kontrolle klassischer Printmedien, die in sehr viel geringerem Umfang befürchten muß, Verleger und Autoren zögen in einen ihren Inhalten freundlicheren Staat und könnten von dort aus den gleichen Sprach- und Kulturraum relativ ungestört bedienen. Gewisse gegenläufige Tendenzen mögen zur Zeit in internationalen Datennetzen beobachtbar sein 1 5 1 .

147 Etwa F. Berner, 1876, S. 21 ff., 24, 34, 44; Jürgen Fromme, 1982, S. 49 f.; D. Breuer, 1982, S. 29 f.; U. Eisenhardt, S. 33, 35, 38. 148 Vgl. D. Breuer, S. 37, 140 f.; U. Eisenhardt, S. 33; H H Houben, S. 41 - 43.

149

S. etwa H H. Houben, S. 41 ff., bes. 44 ff., 48, 51; U. Eisenhardt, in: Zensur im 18. und 19. Jahrhundert, S. 1 (29). 150

151

Vgl. D. Breuer, S. 139.

Die Freiheit ist freilich politisch bedingt. Technisch erlaubt das Medium aufgrund seiner Kabelgebundenheit eine Zensur von nie dagewesener Perfektion. Es können die Zugangsrechner zum Einsatz von Filtern verpflichtet werden, die entweder nach bestimmten Vorgaben ohne weitere menschliche Bewertung sieben oder nur von wem auch immer zensierte Netzadressen passieren lassen. Selbst die unmittelbare Verbindung zwischen Endnutzer und Satellitennetz immunisiert den auf wenigstens eine Erdstation angewiesenen Netzbetreiber nicht gegen den Zugriff an dieser Stelle.

140

2. Teil: Grundgesetzliches Zensurverbot und formale Äußerungsfreiheit C. Ergebnis

Die beschriebenen Lähmungsrisiken können als typische Gefahren eines zensureilen Kontrollverfahrens im Sinne des Erlaubnisvorbehaltes angesehen werden. Möglich ist ihre Einteilung in Gruppen, deren erste mit den Eigenheiten des Verhaltens Äußerung, seiner Freiheit und ihrer inhaltlichen Schranken einschließlich deren Anwendung „