Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft 9783205127390, 3205992075, 9783205992073

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Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft
 9783205127390, 3205992075, 9783205992073

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Alfred Stohl

Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft

Bühlau Verlag Wien • Köln • Weimar

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-205-99207-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2000 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG., Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Druck: Mauz, A-1050 Wien

Inhalt

Kapitel i

Das „Opus Magnum" und die Auffindung des „Alkahests": Eine „Ein-Leitung" 7 Kapitel 2

Das Kreisschloss 33 Kapitel 3

Morbus Sacer 77 Kapitel 4

Der digitalisierte Monarch 117 Kapitel 5

Das „Zahl-All" 147 Kapitel 6

Das Oktogon am Sehnendach 189 Kapitel 7

Seleniten und Circellen 209 5

Inhalt

Literaturverzeichnis 237 Anhang 1

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums B i l d t e i l v o n ALFRED STOHL u n d BEATRIX PATZAK

241 A n h a n g 2 / Teil 1

Zur architektonischen Form des Närrenturmes V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

257 A n h a n g 2 / Teil 2

Kurze Geschichte der „Irrenhausarchitektur" V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

265 A n h a n g 2 / Teil 3

Gegenwärtiger Bauzustand und architektonische Besonderheiten V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

273 A n h a n g 2 / Teil 4

Kleine Chronologie: Bemerkungen zur Einrichtung, Heizung, Belegung, Organisation, Struktur, Kammersituation, Patientenanzahl, Schließung V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

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Bilddokumentation 291

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Kapitel 1

Das „Opus Magnum" und die Auffindung des „Alkahests": Eine „Ein-Leitung" 1 Seit 215 Jahren steht der Narrenturm, etwas abseits und ein wenig von der Öffentlichkeit vergessen wirkend, auf dem Areal des alten Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Die Fassade des Gebäudes sieht mitgenommen aus und bedürfte wohl einer gründlichen Renovierung. Große Teile des Verputzes stammen noch aus der Zeit von 1784, als der Turm eröffnet wurde. Dennoch zieht das Bauwerk, in dem sich heute das pathologisch-anatomische Bundesmuseum befindet, jährlich eine große Zahl von Besuchern in seinen Bann. Zum einen fasziniert viele Museumsbesucher die ungewöhnliche Form des Gebäudes und seine damit verbundene Geschichte als „Irrenanstalt"; in dieser Funktion diente das Haus bis in die 1860er Jahre, als eine uns heute unmenschlich erscheinende Verwahranstalt für Geisteskranke, einem Gefängnis durchaus nicht unähnlich, in dem manche der „Patienten" an die Wände ihrer Zellen gekettet waren. Michael Viszanik, der 1844 als Primararzt die Leitung des Narrenturmes übernahm, ließ aus den Zellen gut dreißig Zentner Ketten entfernen. In letzter Zeit erst wurden bei Renovierungsarbeiten in die Wände eingemauerte Holzpflöcke entdeckt, an denen man die Ketten verankert hatte. Der Narrenturm beherbergt heute das oben erwähnte pathologisch-anatomische Bundesmuseum mit seinen tausenden Wachs- und Feuchtpräparaten, einer einzigartigen Dokumentation körperlicher Hinfällig- und Krankhaftigkeit, 7

Das „ Opus Magnum " und die Auffindung des ,rAlkahests "

weltweit die wohl größte Sammlung derartiger Exponate, die einer breiten Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich ist. Begibt man sich auf einen Rundgang durch die Sammlungen, so kann man sich den Auswirkungen eines gewissen Schocks nicht entziehen: Fürchterlich ist es anzusehen, was es zu einer Zeit bedeutete krank zu werden, da die Medizin nur über einen Bruchteil der Möglichkeiten verfügte, die sie heute in den Stand versetzt, solche Krankheitsbilder gar nicht erst entstehen zu lassen. Auf persönliche Anordnung des Kaisers Joseph II. begann man im Frühjahr 1783 mit den Bauarbeiten zum Umbau des „Großarmenhauses" 2 in das neue Allgemeine Krankenhaus. Eine Ansicht der Gesamtanlage, datiert mit der Jahreszahl 1784, zeigt auch den Narrenturm - allerdings äußerst mittelmäßig gezeichnet und nicht seiner endgültigen Form entsprechend. Zu erkennen sind nur vier Stockwerke, Zellenringe; tatsächlich wurden aber fünf Etagen gebaut und aus dem Dach des so genannten „Sehnengebäudes", worin die Wohnungen für das Aufsichtspersonal und das Stiegenhaus untergebracht waren, welches den runden Innenhof des Turmes in zwei Teile teilt, ragte auf dem Bild ein mächtiger Tuirn, vergleichbar dem Burgfried einer mittelalterlichen Wehranlage. Diese „Sehne" war zwar von einem achteckigen Türmchen gekrönt, das gar nicht so klein gewesen sein dürfte, leider fehlen aber detaillierte Aufzeichnungen über das wahre Ausmaß desselben; die auf der Ansicht dargestellte Größe wurde bei weitem nicht erreicht. Unterhalb der Gesamtdarstellung liest man: „Prospect des für alle Kranken und Gebährenden gewidmeten Neuen Allgemeinen Spitals in Wien. Saluti et solatio aegrorum, Iosephus II. Aug. anno MDCCLXXXIV". Um „die Kranken zu heilen und zu trösten" befahl also der Kaiser den Umbau des alten Großarmenhauses und den 8

Eine „Ein-Leitung"

Neubau des Narrenturmes. Was den Trost betrifft, beginne ich mich nun langsam den Hypothesen^ bezüglich der Form und Funktion des Narrenturmes zu nähern, die sich im Laufe meiner Recherchen immer deutlicher herauszukristallisieren begannen. Trost sollten alle an Leib und Seele am Geist - Erkrankten erfahren. Was nun speziell den Narrenturm betrifft, kam ich nach Auswertung aller gewonnenen Fakten zum Schluss, dass hier niemand Geringerer als Kaiser Joseph II. ebenfalls Trost suchte, ja dass der Narrenturm sogar erst in zweiter Linie ein „Tollhaus", eine „Irrenanstalt" war - vorrangig aber einen äußerst denk- und merkwürdigen Versuch darstellt, „Alchemie" zu betreiben! Ich habe schlüssige Indizien gefunden, die eindeutig besagen, dass der Narrenturm hinsichtlich seiner architektonischen Gestaltung, der Zahl, Abmessung und Anordnung der kreisförmig angeordneten Zellen, der Anzahl der Stockwerke und des gesamten zylindrischen Baukörpers, ein okkultes, das heißt geheimes, nicht jedem offen erkennbares, Zahlensystem birgt. Dieses Zahlensystem ist einerseits nach magisch-alchemistischen, andererseits astronomischchronologischen4 Prinzipien entworfen und ausgeführt. Der Zweck der ganzen Anlage und des damit verbundenen Zahlensystems diente der so genannten „inneren Alchemie" rosenkreuzerischer Prägung, wobei versucht wurde eine durchgängige Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos, vergleichbar einem Band oder einer Kette, herzustellen. Mikrokosmos bedeutet in diesem Denksystem die Seele, der Geist des Menschen. Der Makrokosmos steht für das Weltall, in dem sich der allwaltende, omnipräsente Geist Gottes findet, zu dem man gelangen möchte, um ihn, ein überaus blasphemisches Unterfangen, anzuzapfen und dienstbar zu machen. Als Initiator dieses Zahlensystems 9

Das „ Opus Magnum " und die Auffindung des irAlkahests "

kann, so meine Schlussfolgerungen, nur der Kaiser selbst in Betracht gezogen werden, wenngleich er wahrscheinlich nicht der Erfinder und Konstrukteur desselben ist. Ich weiß, fürs Erste hört sich dies unglaublich und phantastisch an, aber nach der Lektüre meiner Abhandlung wird die Leserin und der Leser mir beipflichten, dass es sich tatsächlich nur so und nicht anders verhalten kann: Der Narrenturm ist wahrscheinlich Europas einziges erhaltenes Großdenkmal der Alchemie, aus einer Zeit stammend, da die Trennlinie zwischen dem, was wir heute als wissenschaftlich-exaktes Denken kennen, und okkulter-magischer Spekulation, trotz Aufklärung und beginnendem Siegeszug der Naturwissenschaften, noch nicht klar und deutlich gezogen war. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf verwiesen, dass ich, wenn ich von Alchemie spreche, nicht irgendwelche dubiosen Versuche meine, die allesamt darauf abzielten Gold zu machen oder den Stein der Weisen zu finden, der einem die körperliche Unsterblichkeit verhieß. Die Alchemie, um die es hier geht, ist eine völlig andere, einer Art psychologischen Technik vergleichbar. Ein religiös motiviertes, philosophisch-metaphysisch geprägtes Denk- und Glaubensmodell, das sich jedoch nicht nur auf den rein spekulativen, theoretischen Bereich beschränkte, sondern dem man auch praktisch wirksame Bedeutung zumaß: die Geisteskranken zu heilen und Trost zu spenden. Dieses Denkmodell entspricht sogar der nach Joseph II. benannten Richtung der Aufklärung, dem „Josephinismus", einem rational begründeten Versuch der politischen Neuorganisation des Staates unter dem Aspekt der Nützlichkeit, des Nutzens für das Allgemeinwohl. Der Staat wurde als eine Maschine gedacht, mit den Bürgern als Rädchen in einem übergeordneten größeren Ganzen, in dem jeder seinen Platz hatte und somit zum Wohle der Allgemeinheit 10

Eine „Ein-Leitung"

beitrug. Joseph ließ aus diesem Grund die rein kontemplativ ausgerichteten Klöster sperren, da in diesen außer dem abstrakten Gebet nichts Konkretes für das Gemeinwesen geleistet wurde. Was nicht mit einer Bildungseinrichtung zusammenhing oder in irgendeiner Art einen Wirtschaftsfaktor darstellte, wurde einfach zugesperrt und aufgelassen. Dennoch blieb der Josephinismus deutlich einer katholisch orientierten Aufklärung verbunden und wirkte in der österreichischen Beamtenschaft bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Der Narrenturm bietet somit über seinen metaphysischen Aspekt hinaus noch einen nutzbringenden Mehrwert, der dem pragmatisch-utilitaristischen Ansatz des Josephinismus entspricht, nämlich den einer geschlossenen Anstalt, einer medizinisch wohltätigen Institution. Dieser sich solcherart ergebende Mehrwert blieb jedoch nur von peripherer Bedeutung, die sich ebenfalls in der architektonischen Gestaltung niederschlug: Die Zellen, in denen man die „Patienten" ankettete, wenden sich nach außen, sind an der Peripherie des Gebäudes angelegt. Zusammenfassend sei noch einmal zum besseren Verständnis angemerkt, wofür ich den Narrenturm halte und wozu er eigentlich gedient haben könnte: Der Narrenturm birgt in seiner Bausubstanz ein Zahlensystem, das zu einem alchemistischen Denkschema gehört. Dieses Schema zeichnet sich aber auch durch einen, so widersprüchlich dies vorderhand auch klingen mag, rationalen Ansatz aus, der dem Geist der Aufklärung entsprach. Die alchemistischen Prozesse werden nämlich sämtlich durch Zahlen, also in rationalisierter, abstrahierender Form durchgeführt, vergleichbar einer Art magischen Mathematik, die es tatsächlich gegeben hat und die in Europa über 11

Das „ Opus Magnum " und die Auffindung des „Alkahests "

eine lange Tradition verfugte. Das Zahlensystem ist auch religiös motiviert. Gott wird darin durch die Zahl Eins ausgedrückt, der Zahl, aus der sich alle anderen zusammensetzen. An dieser Stelle möchte ich eine Definition von Religion, gegeben vom amerikanischen Philosophen und Mitbegründer des Pragmatismus, William James 5 , zitieren, die besagt, dass: „1. die sichtbare Welt Teil eines mehr geistigen Universums ist, aus dem sie ihre eigentliche Bedeutung gewinnt; 2. dass die Vereinigung mit diesem höheren Universum bzw. eine harmonische Beziehung zu diesem unsere wahre Bestimmung ist; 3. dass das Gebet bzw. die innere Gemeinschaft mit dem Geist des Universums - mag dieser Geist ,Gott' oder , Gesetz' sein - ein Prozess ist, in dem etwas Wirkliches geschieht, durch den spirituelle Energie in die Erscheinungswelt einfließt und dort psychologische oder materielle Wirkungen hervorbringt." (William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, XX. Vorlesung, Schlussfolgerungen, Frankfurt, 1997) Das in Punkt 1 angesprochene geistige Universum, man mag es auch mit dem „Logos" oder „Pneuma" der Griechen vergleichen, durchdringt jede Materie, ja jedes Objekt ist nur eine bestimmte Erscheinungsform, eine Manifestation dieser geistigen Welt. Alles ist in dieses geistige Universum eingebunden, alles mit allem verbunden und verknüpft. Die Alchemisten, insbesondere die Rosenkreuzer 6 , versuchten nun, gemäß Punkt 2 der James'schen Definition, mit dem geistigen Universum in Verbindung zu treten. Die Weisheit und Harmonie dieser Verbindung äußert sich in Zahlen, die symbolhaften Charakter zeigen, die für bestimmte göttliche Eigenschaften stehen oder Objekte, aber auch Personen vertreten.

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Eine „Ein-Leitung"

Dieser Prozess, den James meint, Punkt 3, und der alchemistische Prozess der „Transmutation", des „Opus Magnum", dem großen Werk, ist ein und derselbe. Die Alchemisten versuchen durch den „Alkahest", ein mysteriöses Universallösungsmittel, die Materie aufzulösen, auf die Zahl Eins zu reduzieren, sodass sie völlig umgestaltet und umgewandelt werden kann und als neues Objekt wieder zu Tage tritt - nachdem es den „Schmelzofen" verlassen. Die Alchemie teilt sich in einen „praktischen" Bereich, der den Versuch darstellt die Materie zu transformieren, und einen theoretischen, der Ahnliches mit der Seele versucht. Dies ist die innere Gemeinschaft des Menschen mit Gott, die James meint. Im Falle des Narrenturmes ist das Universallösungsmittel die Zahl, die in spirituelle Energie umgewandelt wird. Psychologisch und materiell sollte somit der Geist Gottes beschworen werden, der die Insassen der Anstalt zu heilen vermochte, der aber auch der unruhigen Seele des Kaisers Frieden geben sollte. Um nun etwas konkreter zu werden und darauf hinzuweisen, was den Leser und die Leserin in dieser Abhandlung hauptsächlich erwartet, sei angemerkt: Zahlen, merkwürdige und eigenartige Chiffren, geheime Zeichen, die einer Decodierung, einer Entschlüsselung bedurften. Nicht dass dies vom Lesen abhalten soll, ganz im Gegenteil, denn die im Buch erläuterten Zahlen beginnen, wie man noch bemerken wird, ganz außerordentlich laut zu sprechen und formen sich zu lebenden Bildern, nachdem sie erst einmal entziffert und in ein angemessenes, weil erklärendes, aufhellendes System gebracht wurden. Der Schlüssel zu einem Geheimnis offenbarte sich, nachdem es über 200 Jahre unentdeckt und vergessen, nun zu neuem Leben erweckt wurde. 13

Das „ Opus Magnum "und die Auffindung des „Alkahests "

„So, es kann ein Schlüssel für ewig daliegen, wohin ihn der Meister gelegt hat, und nie verwendet werden, das Schloss aufzusperren, dafür der Meister ihn geschmiedet hat." In den „Vermischten Bemerkungen", 1946, spricht es Ludwig Wittgenstein treffend aus, ein merkwürdiger Zufall, denn der zitierten Stelle folgt im Werk Wittgensteins eine andere, die sich mit Geisteskrankheit auseinandersetzt. Nun, der Narrenturm ist beides zugleich: Schloss und Schlüssel zu einem Geheimnis, einer Angelegenheit, die nicht jedermann sofort zugänglich sein sollte, damals 1784, als der Turm gebaut wurde. Wer könnte der Meister gewesen sein, der Schlüsselschmied, der Handwerker und Mechaniker der „Rechenmaschine" Narrenturm, denn um so eine handelt es sich, der das große Werk ersann? Joseph II. hat es mit Sicherheit angeregt, einem persönlichen Interesse folgend, einem seelischen Bedürfnis Ausdruck verleihend der eigentliche Konstrukteur dürfte er aber nicht gewesen sein, dazu bedurfte es fundierter Spezialkenntnisse astronomischer, alchemistischer, philosophischer Natur. Wie diese Rechenmaschine zu bedienen ist, wie sie funktioniert - welche Tür das Schloss öffnen soll, ist der Inhalt dieses Buches. Die Zahlen des Narrenturmes, die mich überhaupt auf die Idee brachten, dass sich dahinter mehr verbergen könnte, als auf den ersten, flüchtigen Blick zu erkennen ist, sind: 28, 21, g und 19. Ich hätte mir viel Zeit erspart?, wenn mir das nun im Folgenden zu beschreibende Bild zu einem früheren Zeitpunkt, als ich mich mit dem „Geheimnis" des Narrenturmes befasste, aufgefallen wäre. Ich zögerte monatelang mit der Herausgabe meiner Hypothesen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich einem Hirngespinst nachjagte oder ob ich tatsächlich H

Eine „Ein-Leitungu

auf ein derartiges Zahlensystem gestoßen war. Aber, wie sagt der Alchemist über seine Arbeit: Man geht so lange in die Irre, bis der „flüchtige merkuriale Hase", der entscheidende Gedanke oder das zutreffende Bild, die Ausgangsmaterie anzeigt, einen geradewegs dahin wieder zurückleitet, wo man begonnen hat - nach vielen Irrwegen und Fehlschlägen - , und bestätigt, dass man Recht hat. Welches Bild führte mich wieder auf den rechten Weg meiner Überlegungen, dass es mir zur Gewissheit wurde, der Narrenturm sei mehr als eine, ihrer architektonischen Form nach, ungewöhnlich gebaute Irrenanstalt? Die Fünf steht für die einzelnen Geschoße, die 28 für die Zellen pro Geschoß, eigentlich Segmente eines Kreisringes, die sich gleich bleibend in jeder der fünf Etagen finden. Ich spreche in diesem Zusammenhang lieber von Segmenten als Zellen, denn im Erdgeschoß des Hauses gibt es nur 27 Kammern, ein frei bleibendes Segment dient als Ein- und Ausgang in das Gebäude. 21 Klafter altes Wiener Maß misst der Durchmesser des zylindrischen Baukörpers. Die 19 findet sich ebenfalls häufig im Turm, doch sei noch nicht zu viel verraten, ihr Vorkommen und ihre Wirkungsweise klärt sich im Verlauf dieser Abhandlung. Erwähnenswert wäre auch noch die Zweizahl, die den Narrenturm in zwei Innenhöfe teilt, getrennt durch das so genannte „Sehnengebäude", den Verbindungstrakt, der den Rundbau in zwei Bögen gliedert, betrachtet man die Anlage aus der Vogelperspektive. All diese Zahlen fand ich auf einem Blatt eines alchemistischen Werkes aus dem Jahre 1785, also nur ein Jahr später, nachdem der Narrenturm in Wien eröffnet worden war und den „Betrieb" aufgenommen hatte. Der Titel des in Altona

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Das „ Opus Magnum " und die Auffindung des „Alkahests "

verlegten Buches lautet: „Geheime Figuren der Rosenkreuzer" (vgl. Abbildung 1). Zur Verdeutlichung, worauf ich hinaus will, betrachte man folgendes, der alten Abbildung analoges Schema, das gut untermauert, wie ich die „Zahlen" des Narrenturmes sehe 8 : Beginnen wir unten, links neben dem größeren, von Strahlen umgebenen Kreis, mit dem Salz. Dieser Kreis bekommt die Nummer 1. Hier beginnt die Kette, durch die alles mit allem zusammenhängt, denn das Schema steht für ein festes Band, das vom Himmel herab, von Gott kommend, über den Raum des Kosmos auf die Erde herab gelassen, bis in den Mikrokosmos reicht, hinein in die feinstoffliche Welt des Äthers, des Pneumas - des göttlichen Logos, dessen feinste Teilchen als unteilbar angesehen werden, die eins sind, das Eine, aus dem sich jedes weitere Objekt zusammensetzt. Zählt man ab dem Salz, der Nummer 1, im Uhrzeigersinn weiter, lässt dabei den oberen, ebenfalls mit Strahlen versehenen Großkreis aus (warum, erkläre ich gleich), so landet man schließlich beim Alaun, der Nummer 28. Die zwei mit Strahlenborsten umgebenen Großkreise stehen für die beiden Innenhöfe, von der „Sehne" geteilt, und diese verschafft auch den Zugang zu den kreisrunden Gängen, über die man zu den einzelnen Zellen gelangt. Diese Großkreise stehen für den Ein- und Ausgang in die „Sehne". Nun sagte ich bereits, dass der Durchmesser des Narrenturmes 21 Wiener Klafter beträgt. Zählt man nun alle Kreise, einschließlich der zwei Großkreise, plus die drei mittelgroßen im Inneren der Umkettung und die 16, vier mal vier, waagrecht angeordneten, zusammen, ergibt sich die Zahl 21. Weiters fallt auf, dass die beiden oben und unten situierten Großkreise mit den drei mittleren Zirkeln eine vertikale Linie bilden, also ein Hinweis auf die g Stockwerke des Narrenturmes sind. 16

Eine „Ein-Leitung" S C A L A PHILOSOPHORJJM CA&ALISTICA MASIA ATQUE AREOR. A U R E A DEMY5TERIIS NUMER.IS QUATERNARII > QUINAR.IL A T Q O E SEPTENAR" :

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Abbildung I

Das „Opus Magnum" und die Auffindung des ,,Alkahests"

Ich fasse kurz zusammen: Die 28 Kugeln, von Salz bis Alaun, stehen für die Zellen. Auf dem Bild symbolisieren sie das Auf und Ab der kosmisch-göttlichen Verbindung, beginnend beim Salz, ansteigend zu den Metallen, den Planeten, den Engeln, weiter zu Gott, abwärts über weitere Engel, den Tugenden, Sonne und Mond, hinunter in die metallische Welt bis zum unterirdisch geschürften Alaun, ein Kreislauf also: von Alpha zu Omega und wieder retour. Die fünf Vertikalkreise versinnbildlichen die fünf Stufen des alchemistischen Transmutationsprozesses. Dieser Prozess stellt sich mit Hilfe des universellen „Alkahests" ein, jener magischen Flüssigkeit, die es vermag, jede Substanz, einerlei ob geistig oder materieller Natur, aufzulösen, in ihre elementarsten Bestandteile zu zerlegen. Im Falle des Narrenturmes ist das magische Mittel jedoch nicht eine geheimnisvolle Flüssigkeit oder Tinktur, sondern gleich der alles auflösenden Zahl, nämlich der 1, aus der sich alle übrigen Zahlen zusammensetzen lassen.

Abbildung 2: Grundriss Narrenturm Erdgeschoß

Eine „Ein-Leitung"

Die 21 inneren Kreise stehen für die 21 Klafter. Zu diesen lässt sich eine merkwürdige Parallele feststellen, die ebenso meine Annahmen bestätigt und die uns ein Stück weiter an das Thema bringt. In der Bibel, dem Buch der Weisheit des Königs Salomo, findet sich nämlich in Kapitel 7, Vers 22 bis 23 - „Der sterbliche Mensch als Empfänger der Weisheit, das Wesen der Weisheit" - folgender Spruch, der die 21 Eigenschaften der göttlichen Weisheit aufzählt: „In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heiter, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend (7), unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig (14), menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend (21), die denkenden, reinen und zartesten." Bemerkenswert, nimmt man sich nur die siebente, vierzehnte und einundzwanzigste Eigenschaft her und betrachtet sie genauer. Der Durchmesser durchdringt den Kreis, eine Kugel oder einen Zylinder - die siebente Eigenschaft der Weisheit Gottes ist durchdringend, die vierzehnte wohltätig. Kann es sein, dass der Narrenturm als eine Wohltat für die Kranken gedacht war, um sie vielleicht wieder zu heilen, indem die göttliche Weisheit, das Walten und Wirken Gottes auf eine ganz spezielle Art und Weise beschworen wurde? Dann noch die 21. Eigenschaft, die besagt, dass die göttliche Weisheit, die „heilige Sophia", alle Geister zu durchdringen, ja zu analysieren vermag und dadurch auch zum Heilmittel wird, das wieder Ordnung schafft in den derangierten Geistern der Patienten, der Insassen, der Irren? Natürlich, dies dürfte klar und deutlich ersichtlich sein, habe ich die 7. Eigenschaft und die 14. als auch 21., als Viel19

Das „ Opus Magnum " und die Auffindung des ^ilkahests "

fache der Zahl Sieben ausgewählt, was ja kein Zufall ist, denn die Sieben gilt seit Pythagoras und den Pythagoräern, einer Gruppe von Priestermathematikern, die wie ein Orden im 6. Jahrhundert v. Chr. im griechisch kolonisierten Sizilien zusammenlebten, als eine heilige Zahl, die bis heute ihren besonderen Reiz nicht verloren hat.9 Die Sieben war es auch, die mich auf die Idee brachte, der Turm könnte eine Art Zahlenspiel verkörpern, das auf Basis der Zahl Sieben angelegt ist. Dies konnte kein Zufall sein: Die 28 Segmente waren mir zuerst aufgefallen, wusste ich doch, dass man den Zustand von Geisteskranken oft mit den Phasen des Mondes in Zusammenhang brachte. In England ist heute noch umgangssprachlich von „Lunatics", den Mondsüchtigen, die Rede, wenn man von Geisteskranken spricht. Die Gesamtanzahl der Kreissegmente im Gebäude beträgt 140 (g x 28) - ein weiterer Kommentar erübrigt sich. Ich fand im Archiv des pathologisch-anatomischen Museums Kopien alter Pläne, die übereinstimmend einen Klafterdurchmesser von 21 angaben. Das Auftauchen von Zahlen, die alle ein Vielfaches von der Zahl Sieben sind, häufte sich und bewog mich in diese Richtung weiterzuforschen. Die Wurzel der außerordentlichen Bedeutung der 7 zeigt sich, liest man die Definition des großen antiken Arztes Hippokrates, dessen Lehrgebäude die Medizin bis in das 19. Jahrhundert (!) nicht unwesentlich beeinflusste: „Die Zahl Sieben, aufgrund ihrer okkulten Kräfte, neigt dazu, alle Dinge ins Sein zu bringen; sie teilt Leben aus und ist die Quelle allen Wechsels, denn der Mond selbst ändert seine Phasen alle sieben Tage. So beeinflusst diese Zahl alle sublunaren Dinge." Die Zahl Sieben hängt demnach mit dem Mond zusammen, der seinen Einfluss auf die „sublunaren" Dinge aus-

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Eine „Ein-Leitung"

übt, also in erster Linie auf die Erde strahlt, da man das Wirken der Gezeiten noch nicht wahrgenommen hatte, d. h., dass diese vom Mond abhängig sind. Die Pythagoräer10 erfanden auch die heilige Tetraktys, die Zahl 10, die sich aus der so genannten „Vierheit" ergibt", die ihnen als das göttliche Zahlatom 12 galt, aus dem sich alle anderen Zahlen zusammensetzen lassen. 28 ist das Vierfache von sieben und überdies eine „teraktische" Zahl, bildet man nämlich die Quersumme 2 + 8, ergibt dies 10, eins und null, das Sein und das Nichts, schwarz und weiß die Bildung von Gegensatzpaaren ließe sich beliebig lang wiederholen. Was wollten die Pythagoräer damit zum Ausdruck bringen? Jedes Ding, jeder Gegenstand und jedes Objekt hat einen Namen. Dieser Name besteht für gewöhnlich aus Buchstaben, denen im Griechischen allen auch noch ein Zahlenwert zugeordnet ist. Somit kann jeder Name, überhaupt jedes Wort in Zahlen aufgelöst werden, die sich wiederum aus dem jeweiligen Vielfachen der Eins zusammensetzen. Daher kann eine Zahl, die für eine bestimmte Eigenschaft steht, das Wesen der Dinge beeinflussen bzw. Objekte mit magischen Eigenschaften geradezu aufladen. Da sich jede Zahl in ihre kleinsten Teile, lauter Einser, zerlegen lässt, die alle für das Göttliche stehen, kann man in Kontakt mit Gott treten. Die Zahl ist die Kette und das Bindeglied zum Reich Gottes.15 Führt man nun mit den Zahlen bestimmte magisch-mathematische Operationen durch, kann man gewisse Dinge oder Eigenschaften verändern. Dieser Vorgang wurde mit der alchemistischen „Transmutation" gleichgesetzt. Bleibt einstweilen noch die 19 offen. Wie man aber erkennen kann, ist auch die 19 tetraktisch. Sie findet sich innerhalb der Umfassung der 28, abzüglich der beiden Großkreise - verbleiben 19 Ringe (vgl. Abbildung 1). Was sie

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Das „Opus Magnum'1 und die Auffindung des >rrOkahests"

bedeuten, kann ich aufgrund der Komplexität des Systems erst später näher erläutern, ich sage einstweilen nur so viel, als dass die 19 mit dem Mond zusammenhängen muss, der ja - nach damaliger Ansicht (18. Jahrhundert) - mit Geisteskrankheiten in Verbindung gesehen wurde. Überdies wurde die Anstalt an einem ig. April eröffnet und zu diesem Datum war gerade Neumond - ich habe es nachgerechnet, also der schädliche Einfluss der Mondstrahlen auf die „Irren" ausgeschaltet. Dies an ein Molekülmodell erinnernde Kreisgebilde beseitigte meine Zweifel darüber, ob ich nun wirklich etwas völlig Neues am Narrenturm entdeckt hatte oder ob ich mir das alles nur einbildete. War es denn gegen das Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt noch möglich, dass irgendjemand in der beschriebenen Art und Weise Alchemie betrieb P^ Von Isaac Newton weiß man, dass er alchemistische Versuche unternommen hatte und er die Arbeit am Stein der Weisen, ungeachtet seines Erfolges als exakter Naturwissenschafter, als eine seiner wesentlichsten Forschungsarbeiten ansah. Doch Newton lebte gut 100 Jahre vor der Erbauung des Narrenturmes. In Osterreich regierte Kaiser Joseph II., der als aufgeklärter Monarch galt, der jede Form von übertriebener kirchlicher Frömmigkeit ablehnte und barsch untersagte. Konnte es unter einem solchen Monarchen überhaupt möglich sein, wenngleich auch geheim^, den Narrenturm als eine alchemistische Rechenmaschine, denn man kann mit ihm rechnen, anzulegen? Die Antwort ist schlicht: ja.16 Ich möchte hier kurz die Eingangspassage aus den „Lehrlingen zu Sais" (1800) von Novalis1? zitieren, um zu zeigen, dass solch überkommen geglaubtes, uns heute seltsam anmutendes, ja teilweise unverständliches Denken, 22

Eine „Ein-Leitung"

trotz Josephinismus und keimender, schnell erblühender Aufklärung, noch Vertreter hatte und in der Romantik sogar begeisterte und wortgewaltige Apologeten fand. Selbst Goethes Faust, einerlei ob Teil I oder II, ist voll von solchen magisch-alchemistischen Anspielungen und seine Farbenlehre bezeichnen manche als ein Stück Alchemie. Die literarische Bewegung der Romantik war auch eine Reaktion auf den verhüllten Gott der Aufklärer und Deisten18, den man nicht mehr erkennen kann, der sich nicht mehr zu offenbaren pflegt, der dem Menschen das Feld überlassen hat, ja auch sogar den ewig reinen Luft-Raum Flugmaschinen und Ballons - überantwortete und, durch das menschliche Streben nach Erkenntnis, entweihen ließ. „Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen; Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Inneren und Äußeren der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung mag sich selbst in keine festen Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken." 2)

Das „Opus Magnum" und die Auffindung des „Alkahests"

Interessant ist die Bedeutung des Wortes Chiffre bei Novalis. Dieses Wort wurde im gesamten 18. Jahrhundert als eine Bezeichnung für Zahlzeichen verwendet. Wenn er also von den Figuren einer großen - alles beschreibenden - Chiffrenschrift spricht, meint er damit genau das, was ich vorhin über die Pythagoräer sagte. In all den erwähnten Zeichen sieht er eine Schrift der Wunder, mit der zu schreiben allein die Natur vermag, also Gott, der hinter allen Dingen, als das Ding an sich, steht. Hätte man den Schlüssel zu dieser heiligen Schrift - Novalis verweist ein paar Zeilen nach dem Zitat auf das Sanskrit, als die uralte Urschrift der Menschheit - , dann offenbarten sich die Geheimnisse des Lebens. Doch wird ihm keine Möglichkeit geboten im Buch der Natur zu lesen, zu flüchtig ist die Substanz - schnell wie Merkur, der flüchtige merkuriale Hase. Die Zeichen fügen sich nicht zum Wort oder gar Satz, er ahnt lediglich, wie der Schlüssel zur Entzifferung aussehen müsste. Die Alchemisten aber glaubten einen Weg gefunden zu haben, wie man sich dem „Gedächnis Gottes", dem Weltgeist nähern könnte. Friedrich Schiller dachte 1790 in seinem Aufsatz „Die Sendung Moses" darüber nach, wie dieser Schlüssel aussah. Er schildert „ägyptische" Einweihungsriten - man muss dazu wissen, dass die Alchemie ihren Ursprung in Ägypten hat und all das Geheimwissen des „Hermes Trismegistos"' 9 , des dreimal heiligen Hermes, ein gewaltiges Werk okkulter Wissenschaft, das „Corpus Hermeticum", dort ihren Ausgang fand denen sich die Adepten, die Schüler der Geheimwissenschaft, die Lehrlinge von Sais, unterwerfen mussten, um Zugang zur ultimativen Offenbarung zu erlangen. Schiller erzählt von den Tempeln der alten Ägypter, darin sich heilige Gerätschaften und Statuen befanden, deren Sinn dem Uneingeweihten nicht bewusst werden konnte. Allein einem erlauchten Kreis von Wissenden war der Schlüssel gegeben. 24

Eine „Ein-Leitung"

Mitte des 18. Jahrhunderts wurde durch den schwedischen Wissenschafter und Naturforscher Swedenborg, der nach lebensbedrohender Krankheit zu Visionen neigte, der Spiritismus moderner Prägung ins Leben gerufen. 1766 wurde Immanuel Kants 20 Schrift „Die Träume eines Geistersehers" 21 veröffentlicht, in der er die Theorien über die Geister Swedenborgs zurückweist. In dieser kurzen Schrift findet sich ein Stück, das recht gut zum Zitat aus den „Lehrlingen zu Sais" passt, denn es hat denselben Gegenstand zum Inhalt: „Denn gewiss, seine Flasche [die Swedenborgs 22 , die ,Träume eines Geistersehers' richten sich mit aller Vehemenz gegen die schwärmerisch-spiritistischen Schriften Swedenborgs; Anm. d. Verf.] in der Mondenwelt ist ganz voll und weicht keiner einzigen unter denen, die Ariosto dort mit der hier (auf Erden) verlorenen Vernunft angefüllt gesehen hat, und die ihre Besitzer dereinst werden wieder suchen müssen, so völlig entleert ist das große Werk von einem jeden Tropfen derselben. Nichts destoweniger herrscht darin eine so wundersame Übereinkunft mit demjenigen, was die feinste Ergrübelung der Vernunft über den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, dass der Leser es mir verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in den Spielen der Natur angetroffen haben, als wenn sie etwa im fleckichten Marmor die heilige Familie, oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln, oder sogar, wie der Spötter Liscow auf einer gefrorenen Fensterscheibe die Zahl des Thieres und die dreifache Krone entdecken; lauter Dinge, die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher angefüllt ist." So viel bei Kant zur Chiffrensprache der Natur Novalis'. Was auffallt, wenngleich bei ihm ironisch gemeint, ist, dass 25

Das „Opus Magnum" und die Auffindung des,¡Alkahests"

nach Ariost der auf Erden schwindende Verstand auf dem Monde sozusagen zwischengelagert wird - abgefüllt in Flaschen, die man nach dem leiblichen Tod auf Erden, nachdem die Seele des Menschen auf den Mond gelangte, wieder finden muss. Die Vorstellung, dass die Seelen Verstorbener zum Mond gelangen, ist uralt und kann bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden. Kant glaubte nicht an die Universalsprache der Zahl und somit der Natur, an die Dinge, die sonst niemand sehen kann, dessen Kopf schon vorher damit angefüllt war. Nun könnte ein kritischer Geist mir meine Hypothesen ebenso zum Vorwurf machen, ich sähe im Gebäude des Narrenturmes nur das, was ich darin sehen will, und ich interpretierte all die Zahlen mit einer gewissen Willkür. Dass dem nicht so sein kann, beweisen die nachfolgenden Kapitel, die mit der Einleitung zusammen sieben Abschnitte meiner Abhandlung ergeben, die sich, wie Jakob Böhme 23 sagt, zu Einem vereinen: Es ist vollendet, wenn Sieben Eins sind!

Anmerkungen: 1

Ich verwende die etwas ungewöhnliche Schreibweise aus einem besonderen Grund: Das „Große Werk" des Narrenturmes wird in dieser Abhandlung reproduziert und neu belebt, daher sehe ich das erste Kapitel wirklich als eine Ein-Leitung. Das „Zahlen-System" des Narrenturmes haben andere entworfen, nicht ich, ich habe es lediglich wieder entdeckt, was aber nichts daran ändert, dass ein solches „Zahlensystem", von dem im Buch die Rede sein wird, trotzdem besteht.

2 Es ist eigentlich nicht ganz richtig v o m „Neubau" des Allgemeinen Krankenhauses in Wien zu sprechen, der auf die Initative Kaiser Josephs II. zurückzuführen ist. Vergleicht man alte Ansichten, die das alte Großarmenhaus aus der Vogelschau präsentieren, mit ähnlichen Grundrissen oder Vogelperspektiven des Allgemeinen Krankenhauses, stellt man bald fest, dass sich rein äußerlich überhaupt nichts ver-

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Eine „Ein-Leitung" ändert hatte. Aufgrund der großen Pestepidemien und der Türkenbelagerung 1683 traf man in Wien viele Obdachlose und Kriegsversehrte, die krank und verarmt ihr Leben auf den Straßen fristeten und sich durch Betteln über Wasser hielten. Kaiser Leopold I. wollte diese Personen von den Straßen wegbekommen, und so begann man ab 1694 mit den Bauten, die in ihrer Gesamtheit das Großarmenhaus ausmachten und die man noch heute als neu adaptierten, frisch renovierten Universitätscampus besichtigen kann. 3 Ich halte an dieser Stelle ausdrücklich fest, dass ich nur Hypothesen aufgestellt habe und es lediglich Indizien zur Sache gibt. 4 Näheres in Kapitel 5: das Zahl-All; so viel sei jedoch gesagt, dass ich eine Vielzahl von Zeitzyklen, die seit der Antike, mehr oder weniger, zum Zwecke astronomischer Berechnungen verwendet wurden, nachweisen konnte, die durch die architektonischen Elemente des Turmes vertreten sind. Als Beispiele seien hier nur die metonische Mondperiode oder, als rein astronomischer Wert, die Präzession des Himmelsnordpols, das „platonische Jahr", genannt. 5 William James (1842-1910), Mitbegründer der philosophischen Schule des Pragmatismus und bedeutender Psychologe. James entwickelte einen funktionalistischen, empirisch-experimentellen Ansatz in der Psychologie. 6 Eine Art alchemistischer Geheimbund. 7 Wochenlang rechnete ich fieberhaft herum, auf Zufälle angewiesen, die sich aber später als ein durchaus gewolltes, ausgeklügeltes Zahlenschema erwiesen. Es mag übertrieben klingen, aber ich erwachte manchmal mitten in der Nacht und musste nachrechnen, da mir bestimmte Auffälligkeiten erst dann dämmerten, wenn ich mich im Bett entspannte. 8 Ein Abdruck des Originals findet sich in dem reich illustrierten Bildband von Alexander Roob: „Alchemie und Mystik. Das hermetische Museum", iggö. Dabei ist es unerheblich, was in den Kreisen steht, der Vollständigkeit halber führe ich die Begriffe auch an, was allein von Bedeutung ist, ist die Anzahl und Anordnung der Kreise. 9 Nur zur weiteren Anregung sei angemerkt, dass die mystische Sieben sogar bis in die moderne Philosophie des 20. Jh.s einwirkt. 1921 wurde Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus" veröffentlicht, ein äußerst schwierig zu verstehendes Werk. Diese Abhandlung gliedert sich in von eins bis sieben durchnummerierte Hauptsätze, von denen sich weitere nummerierte Untersätze ableiten. Gegen Ende des Buches schreibt Wittgenstein über das Mystische, das sich nur zeigen

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Das „Opus Magnum" und die Auffindung des ,ydlkahests" kann, nicht aber in irgendeiner Form schriftlich fixierbar ist, was seine endgültige Festlegung im Werk im Satz Nr. 7 findet: Wovon man nicht sprechen kann (das Mystische), darüber muss man schweigen. Einen Satz zuvor, Nr. 6.54, sagt er: Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Der Hinweis auf die Leiter ist in meinem Zusammenhang recht interessant: Im Buch Genesis, Kap. 28/Vers 12, kann man über Jakobs Traum von der Himmelsleiter lesen, die von Gott im Himmel bis auf die Erde reicht und auf der die Engel auf- und absteigen. Diese Leiter wird in Darstellungen zumeist als eine siebensprossige dargestellt! Könnte es nicht sein, dass Wittgenstein sich hier in einer, vielleicht unbewussten, Form auf die Himmelsleiter bezieht, eine sicherlich nicht wahrscheinliche Spekulation, zugegeben, aber dennoch ganz reizvoll. Ich wage es nicht Wittgenstein eine alchemistische Tendenz zu unterstellen, aber sein Name allein würde in diese Richtung weisen: Der „Wittgenstein" beinhaltet doch den Stein der Weisen - Witz, Wissen! 10 Die Pythagoräer, eine nach ihrem Ahnvater Pythagoras benannte sekten- oder logenartige Vereinigung im antiken Sizilien (6. Jh. v. Chr.), die sich eingehend mit Zahlenmagie, aber auch Musik- und Harmonielehre befasste. Interessantes zu einer Neubelebung pythagoreischen Gedankengutes fand ich im Kommentar zu einer Ausgabe über die unter dem Sammelbegriff „Vorsokratiker" subsumierten griechischen Philosphen (Die Vorsokratiker, Hrsg: Jaap Mansfeld, Bd. I, S. 103, Stuttgart 1985). Dort steht ziemlich genau das, was ich in diesem Einleitungskapitel sagen möchte, nämlich dass das gesamte 17. Jh. über, bis weit in das 18. Jh. hineinreichend, man noch in den Wissenschaften die Meinung vertrat, das Wesen der Dinge verhielte sich wie Zahlen. Der Philosoph G. W. Leibniz schrieb in einem Brief, 1696, an den in Peking lebenden Jesuitenmissionar Grimaldi und später Ahnliches an den Jesuiten Bouvet, 1701, worin das von ihm entwickelte binärische Zahlensystem erläutert wird. Anhand dieses Zahlensystems lassen sich alle Zahlen durch die Ziffern Null und Eins ausdrücken. Lange Zeit wusste man nicht so recht, wozu denn so etwas gut sein sollte, bis man im Laufe des 20. Jh.s das binäre System zur Steuerung von Computern - Strom fließt, Strom fließt nicht - einführte. Ohne dies System könnten unsere Heimcomputer nicht das, was sie zu lei-

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Eine „Ein-Leitung" sten im Stande sind! Nach Leibniz veranschaulicht nun die Verwendung von nur zwei Zahlzeichen auf rationale Weise den christlichen Schöpfungsgedanken: „Denn die l oder Gott produziert aus dem Nichts (o) die Zahlen, d.h. auch die Dinge." Die Null steht für das Nichts, die Eins für den Schöpfergott. 11

1 + 2 + 5 + 4 = 10; interessant, dass dies Aufaddieren auch mit der Zahl 28 möglich ist: 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 = 28.

12 Streicht man von 10 willkürlich - die gesamte Zahlenmagie beruht über weite Strecken auf krassester Willkür - die Null, bleibt die Eins. Großartig, was? Es mag uns heute fremd erscheinen, aber es bleibt Tatsache, dass Zahlen derartig verwendet wurden. Im Laufe meiner Recherchen musste ich mich auch daran gewöhnen, Zahlen visuell gelten zu lassen, was ebenfalls auf dem Feld der Zahlenspiele und -magie, über Jahrhunderte hinweg, tradiert wurde. 13 Man kann sich dies gut anhand von „Tarotkarten" vorstellen. Ich verwende dazu die Karten des „großen Arcanums" von Rider und Waite. Die Karte mit der Nummer 1 zeigt den Magier. Seine Arme versinnbildlichen die „Goldene Kette" - er hebt den rechten Arm und weist nach oben - nach den Sternen. Die Linke zeigt nach unten auf die Erde. Vor ihm steht ein Tisch mit Symbolen für die vier Elemente: ein Kelch für das Wasser; ein Schwert für die Luft; ein Stab für das Feuer; eine große Medaille mit einem Pentagramm für die Erde. Der Magier versteht es über die Elemente zu herrschen. Die Zahl 1 der Karte steht für das Einzige, das Eine - was oben, ist auch unten. Uber dem Kopf des Magiers schwebt das aus der Mathematik bekannte Zeichen für die Unendlichkeit. Rosen - Symbol der „Rosenkreuzer" - ranken sich über der Figur. Im Vordergrund des Bildes wuchern ebenfalls Rosen - und Lilien. Die Lilien stehen für den Mond, die Rosen für die Sonne. Der Magier - der wahre Alchemist - weiß um das Geheimnis „alles mit allem" zu verbinden. Die Karte mit der Zahl o zeigt den Narren, der unbekümmert und leichtsinnig die Welt durchwandert - im Hintergrund sieht man das Hochgebirge - hoch fliegen seine Gedanken. Sein Weg führt ihn geradewegs in den Abgrund. Die Sonne strahlt in seinen Rücken - er hat sich vom Licht abgewendet! 14 Eis war möglich. Noch in den 40er Jahren des 19. Jh.s, in der Frühzeit des damals noch jungen Kaisers Franz Joseph, wurde das Hauptmünzamt der Monarchie in Wien zwei Italienern zur Verfügung

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Das „Opus Magnum" und die Auffindung des ,rAlkahests" gestellt, die allen Ernstes behaupteten, sie hätten ein Mittel gefunden, um auf künstlichem Wege Gold herzustellen. Vgl.: Heinrich v. Sbrik, Die Versuche der Golderzeugung am Hofe Kaiser Franz Josephs I., in Anzeiger der Philos.-histor. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 69,1932. 15 Gerard van Swieten (1700-1772), als Leiter der kaiserlichen Bibliothek, verbot sämtliche einschlägigen Werke. „Man hat van Swieten vorgeworfen, er habe seine Abneigung gegen Goldmacher, Sektierer, Schatzgräber, Geisterwissenschafter, Quacksalber und Scharlatane deren Ofen er zerstörte, deren Bücher er verbrannte, und die er aus dem Lande jagte - auch dadurch bestätigt, dass er die einschlägige Literatur aus der Hofbibliothek ausmerzte." - Aus: Leopold Schönbauer, „Das Medizinische Wien", Wien 1944. 16 Man kommt nicht darum herum: Was die Wissenschaften betraf, so zeichnete sich Wien, als Haupt- und Residenzstadt der Monarchie, bis weit über die erste Hälfte des 18. Jh.s durch krasse Rückständigkeit aus. Die Universität war fest in Händen der Jesuiten, die argwöhnisch darauf achteten, dass sämtliche Lehrinhalte dem von ihnen vorgegebenen Bild entsprachen. Erst aufgrund der Neuorganisation des Studienwesens durch van Swieten ab dem Jahre 1755 begann sich die Lage einigermaßen zu bessern. Dennoch: Eine Freiheit der Wissenschaften in unserem heutigen Sinne gab es nicht. Langsam begann van Swieten das Wissen aus der Gewalt der Jesuiten freizubekommen, um es den Händen einer staatlichen Obrigkeit zu übergeben. Trotzdem konnte van Swieten es nicht verhindern, dass die Direktorenposten der theologischen und der philosophischen Fakultät weiterhin mit Jesuiten besetzt wurden. Was nun so genannte „Arcana", okkulte Geheimliteratur, betrifft, so wird man in Wien vielleicht schwerer an solche herangekommen sein als anderswo. Van Swieten übte seit 1745 das Amt eines Direktors der Hofbibliothek aus und alles „Abergläubische", Irrationale war ihm aus tiefster aufklärerischer Uberzeugung zuwider. Was nun die Aufklärung betrifft, so lässt sich ein signifikantes Nord-Süd-Gefälle ausmachen. Ungeachtet dieser Tatsache bestand ein reges Interesse auch im Norden an den „Geheimwissenschaften". In den erhaltenen Ausleihbüchern der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel - Lessing stand ihr eine Zeit lang als Bibliothekar vor - wurden während der ersten Hälfte des 18. Jh.s Bücher hermetischer Natur von 4,9 % der Besucher entliehen, was ungefähr 100 von 2000 sind, also gar nicht so wenige. Erst ab 1750 sinkt der Prozentsatz auf durch-

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Eine „Ein-Leitung" schnittlich 1,9 %. Während man in Hamburg nach der Mitte des 18. Jh.s sich an pietistisch-menschenfreundlichen „moralischen Wochenschriften" erbaute, frönte die Gesellschaft zu Wien - vom armen Bettler bis zum Hochadel - barbarischen Unterhaltungen: Das „Hetztheater" war bei jeder Vorstellung restlos ausverkauft. Im Hetztheater wurden Tierhetzen veranstaltet. Die Besucher konnten, verteilt in Logen und auf Tribünen, einem blutigen Schauspiel zusehen. Wölfe wurden auf Enten gehetzt, Bären auf Hirsche! Der Reinerlös kam wohltätigen Zwecken zu. Ein „Hetzmeister" stachelte die Tiere gegeneinander auf und angeblich soll der Begriff „eine Hetz haben", d. h. Spaß haben, sich vom Hetztheater ableiten.

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Interessant ist auch die architektonische Form des Hetztheaters: Es war rund wie der Narrenturm, gänzlich aus Holz gebaut und bot Platz für ca. 3000 Personen. Erst 1796 (!) schloß das „Theater des Schreckens" seine Pforten - es war abgebrannt. Eigentlich Friedrich von Hardenberg (1772-1801), einer der bedeutendsten Vertreter der Friihromantik in Deutschland. Nach den Deisten gibt es zwar einen Schöpfergott, doch greift dieser nach der Beendigung seines Werkes nicht mehr in den Lauf der Dinge ein. Ursprünglich der ägyptische Gott Thot, Erfinder der Schrift. Als Hermes Trismegistos erst in nachchristlicher Zeit bekannt. In der Gestalt eines Ibis verehrten ihn die Ägypter. Als ibisköpfiges Halbwesen stocherte er mit seinem langen Schnabel im fruchtbaren Schlamm des Nils - suchend nach Buchstaben, wie unsereins in der Suppe. Thot/Hermes galt als Schutzgott der Schreiber und auch als Führer der Seelen in der Unterwelt. Der „große" Kant (1724-1804). In seiner als „vorkritisch" bekannten Schaffensperiode - bis 1781 - setzte Kant sich mit den kosmologischen Theorien Isaac Newtons auseinander und orientierte sich am philosophischen System Leibniz' und Wolfis. 1766: Immanuel Kant: in „Träume eines Geistersehers": zweiter Teil, zweites Hauptstück, wie es zackig heißt. Kant schreibt gänzlich aus dem Geiste der Aufklärung heraus, wenn auch die Träume eines Geistersehers noch nicht ganz zu seinen klassischen kritischen Schriften gerechnet werden. 34 Jahre später veröffentlicht Friedrich von Hardenberg die „Lehrlinge von Sais", man beachte die Rückbesinnung, bzw. die Kehrtwendung um 180°. Kant nennt den Schweden immer „Schwedenberg". Immanuel Swedenborg (1688-1772) forschte auf vielen Gebieten der Naturwissen-

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Das „ Opus Magnum" und die Auffindung des ,rAlkahests" schaft: Kosmologie, Paläontologie, Physik, Anatomie ..., ab 1747 aber, nach langer, lebensbedrohender Krankheit, stellten sich auch bei ihm Visionen ein, die als „Geistersehen" in Deutschland und Osterreich bekannt wurden. Swedenborg entwickelte eine spezielle Methode durch Hyperventilation - mit den „Geistern" in Kontakt zu treten. Gegen seine Schriften richtet sich die Arbeit Kants. Swedenborg regte das Werk vieler bedeutender Philosophen und Schriftsteller an: Schelling, Schopenhauer, Lavater, Goethe. 23 Jakob Böhme (1575-1624), ehemals Schustermeister, später, nach einem mystischen Erlebnis, Philosoph. Böhme war über die Schriften des Paracelsus mit dem „Neuplatonismus" vertraut geworden. Sein Werk ist geprägt durch seine tiefen mystischen Erfahrungen, die ihn zur Überzeugung brachten, dass Gott als ewige Stille der Urgund allen Seins, aller Existenz anzusehen ist. Seine Gedanken beeinflussten in nicht unwesentlichem Ausmaß das Werk Novalis' und Schellings.

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Kapitel 2

Das Kreisschloss Stellen sie sich einen klassischen Tresor vor, an dem sich ein Zahlenschloss befindet - wenn sie die richtige Zahlenkombination wissen, lässt sich die Panzertür öffnen. Betrachtet man den Grundriss des „Narrenturms", so erinnert er - zwar nicht auf den ersten Blick, erst nach längerem Brüten darüber, zumindest mich - an ein solches Zahlenschloss. Ein Schloss ist aber auch ein Gebäude - im Falle des Narrenturmes ein rundes, ein Kreisschloss könnte man sagen. Dieser Begriff stammt von Arno Schmidt (1914 bis 1979), einer ziemlich singulären Erscheinung in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Schmidt verwendet dies Wort in die Mehrzahl gesetzt als Überschrift zu seinem Hörspiel „Die Kreisschlösser", in dem von einem der Pioniere der Mondforschung, Franz de Paula Gruithuisen, erzählt wird, der in den Mondkratern Bauwerke zu erkennen glaubte: kolossale Kunstgebäude, riesige Kuppeln, die von Mondbewohnern, den so genannten „Seleniten", errichtet wurden. Noch heute wird eine kleinere Kraterformation auf der Mondoberfläche - in Erinnerung an den seltsamen Mann - von den Astronomen „the Gruithuisen Domes" genannt.1 Eigentlicher Urheber der „Kreisschlösser" ist jedoch der deutsche Astronom Johann Hieronymus Schröter (1745 bis 1816), der in Lilienthal, nahe Bremen, eine der größten Sternwarten Europas betrieb - als Amateurastronom, denn Schröter ging tagsüber seinen Geschäften als „Amtmann" in Lilienthal nach. Die Früchte seiner Mondbeobachtungen 33

Das Kreisschloss

veröffentlichte Schröter in der „Mappa Selenographica", einem Mondatlas, der die sichtbare Oberfläche des Mondes detailreich wiedergibt. Schröter war fest von der Bewohntheit des Mondes überzeugt und suchte sein ganzes Astronomenleben nach jenen ringförmigen Ansiedlungen auf dem Mond. Man mag heute über die damaligen Ansichten schmunzeln, bedenke aber dabei immer, dass z. B. Isaac Newton fest an die historische Wahrheit der Bibel glaubte er rechnete biblische Daten sogar penibel nach, mit naturwissenschaftlichen Methoden, suchte nach Querverbindungen zur griechischen Mythologie, um seine biblische Chronologie abzusichern: Dabei errechnete er das hypothetische Datum der „Argonautenfahrt" und war darüber hinaus unerschütterlich der Meinung, dass Gott die Erde im Jahr 4002 v. Chr. erschaffen hatte. Oder William Herschel (1738 - 1822), der große Astronom, der 1781 den Planeten Uranus entdeckte. Herschel war zutiefst davon überzeugt, die Oberfläche der Sonne wäre von Sonnenbewohnern bevölkert, und wir von der Erde könnten durch die Sonnenflecken, durch das glühende Photoplasma, auf die eigentliche Sonneno^erfläche schauen, die er sich verfestigt dachte. Was ich damit zeigen möchte, ist, dass man heute nicht davon ausgehen kann - ungeachtet der tatsächlichen wissenschaftlichen Leistungen, die all die Forscher erbrachten - , das Weltbild der Aufklärung und der Vernunft hätte sich, alle Wissensbereiche durchdringend, sogleich vollends durchgesetzt. In Wien praktizierte der berühmte, aus Holland stammende Arzt Anton de Haen (1704-1776), der das Vertrauen der kaiserlichen Familie besaß. Van Swieten hatte ihn aus Leiden in die Residenzstadt gebracht. De Haen revolutionierte die klinische Diagnose, die bis dahin 34

Das Kreisschloss

in Wien kaum praktiziert wurde, führte die Temperaturmessung am Kranken ein und gilt als einer der Väter der „Ersten Wiener Schule der Medizin". Trotz seiner modernen Methoden der naturwissenschaftlichen Diagnose glaubte er, dass viele Krankheiten durch Hexenzauber hervorgerufen würden! Zwei Bücher verfasste er zu diesem Thema: „De magia liber", 1775, und „De miraculis liber", 1776. Zurück zum eingangs erwähnten Kreisschloss: In einem Schloss halten sich zumeist Personen adeligen Standes auf - ich weiß nicht, ob man auch „hochgestellte" Mitglieder des österreichischen Adels im Narrenturm einsperrte, wahrscheinlich ist es nicht. Es gibt aber eine Menge schriftlicher Uberlieferungen, dass Kaiser Joseph II. (1741-1790) den Turm oft besucht hatte. Ein anonymer Reiseschriftsteller hielt in seinen „Reisen durch das südliche Teutschland", 178g, also noch zu Lebzeiten des Kaisers, ausdrücklich fest, dass: „Joseph [...] diesen Ort des Unglücks oft [besuchte], und weil auf diesem erhabenen Terrain, noch mehr auf der Höhe des Turms eine reizende Aussicht ist, ließ er ein kleines, eckiges Türmchen auf die in der Mitte des Turms stehenden Gänge setzen, und kam oft dahin um der schönen Aussicht zu genießen. Man nennt dieses kleine Gebäude deswegen das Belvedere." Jener Anonymus bemerkt übrigens das „erhabene Terrain", von dem weiter unten noch zu sprechen ist, denn der Turm stand ursprünglich auf einem flachen, nicht allzu hohen Erdhügel, der heute nahezu eingeebnet ist, der aber, was das Zahlensystem und die „Wirkungsweise" des Gebäudes betrifft, nicht unbedeutend sein dürfte. Die „in der Mitte des Turmes stehenden Gänge" sind nichts anderes als das 35

Das Kreisschloss

schon erwähnte „Sehnengebäude", auf welchem bis um 1900 das „Belvedere", ein achteckiges Türmchen, stand. Auf alten Photographien erkennt man es noch gut, es dürfte aber um 1900, wann, ist nicht mehr genau feststellbar, entfernt worden sein. Ich werde das Türmchen im Laufe meiner Abhandlung noch oft erwähnen und spreche daher ab jetzt nur mehr vom Oktogon, gemäß seiner achteckigen Form. 1792 schreibt Friedrich Leopold Graf von Stollberg, der anlässlich seines Aufenthaltes in Wien den Narrenturm ebenfalls besucht hatte, an einen Bekannten: „Oben auf dem Thurme ist ein kleiner runder Altan, von welchem man eine freie Aussicht über die Gegenden der Stadt hat. Joseph der Zweete, der seine Anstalten oft besuchte, soll manches Mal auf den Altan gestiegen sein." Oder man liest beim Freiherrn von Eggers nach, „Reise durch Franken, Baiern, Österreich", 1810, und findet erneut einen Hinweis auf die oftmalige Anwesenheit des Kaisers: „Dem Kaiser Joseph hat die Anstalt viel zu danken. Er wandte bedeutende Summen darauf; er that mehr als das, er zeigte Interesse dafür. Dieser Monarch überließ sich nicht selten Äußerungen der Menschlichkeit, die zu den moralischen Phänomenen gehören. So bewies er auch die lebhafteste Teilnahme an dem Zustand der Verrückten. Er besuchte das Haus wöchentlich einmal, zuweilen zweimal, und sah immer im Detail." Eggers wird in der zitierten Passage ziemlich konkret, als ob er aus sicherer Quelle wüsste, dass der Kaiser das Haus wirklich besuchte. Einmal die Woche, manchmal zweimal, deutet darauf hin, dass Eggers sich seiner Sache sicher war. Pflegepersonal aus der Zeit Josephs II. versah im Turme noch immer Dienst. Sicherlich, Beweis mag dies noch keiner sein, man könnte sich gut vorstellen, irgendjemand

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Das Kreisschloss

habe ein Gerücht in die Welt gesetzt, das, von einem Autor zum nächsten tradiert, nun bei mir gelandet ist. Es gelang mir aber ein starkes Indiz dafür zu finden, dass es sich wirklich so verhalten haben könnte. In Kapitel 4 und 5 wird es jedem Leser klar werden, warum Joseph II. den Turm besuchte, denn, so unglaublich das auch einstweilen klingen mag, die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Abschließend möchte ich noch ein letztes Zitat anführen - es stammt vom dänischen Dichter Wilhelm Schack von Staffeldt-Leonet, der den Narrenturm 1796 besichtigte. Staffeldt-Leonet beschreibt überschwänglich, was er gesehen der Besuch muss äußerst anregend gewesen sein, er hat ihn nicht unoriginell verarbeitet. Man mag darüber heute geteilter Meinung sein: So bezeichnete er etwa die Geisteskranken als „arabeske Menschen" und sah im Narrenturm „den Thron der Liebe" des Kaisers: „Jeder, der diese Stiftung Josephs II. (den Narrenturm) besucht, wird wohl nicht unterlassen, in die Laterne, die auf das viereckige Gebäude im Hofe gesetzt ist, zu steigen. Joseph stieg hier in jeder Woche mehrmals hinauf. Diese Rotunda war gleichsam der Thron seiner Liebe, von welcher sie ihre Tochter, die große Stadt unten, mit zärtlichen Blicken umfasste. Die Aussicht ist in der That schön. Auf der einen Seite entfaltet sich eine große Landschaft, in welcher das Gebirge, auf welchem Kobenzl, Galizinberg und die anderen Landsitze liegen, und dessen Abhang durchaus mit Wein bepflanzt ist, herrscht; auf der anderen Seite breitet sich wie ein Modell, in welches man herabschaut, die Stadt aus mit ihren Feueressen, gleich vielen dampfenden Vulkanen. [...] Es tut dem Herzen wohl, daran zu denken, dass Joseph oft hier, in Liebe entflammt, in Entwürfe versunken, gestanden hatte. Die Anstalt erhob sich für den Besucher zum Denkmale des Edlen, zum Tempel 37

Das Kreisschloss

des Verklärten, in welchem das Lallen der Kranken ihm zum Lobgesang erschall. Andere Fürsten verordnen Erziehungs-, Straf-, Versorgungs- und Sanitätsanstalten und ordnen con amore Parks und Landhäuser selbst an. Joseph machte selber die Entwürfe zu solchen öffentlichen Anstalten und wachte mit Liebe über ihre Ausführung. Er war ein großer Gärtner, seine Bäume und Gesträuche waren Menschen. Warum ist die runde Form des Gebäudes gewählt worden? Diese runde Form sollte Symbol der Tollen sein, nach der Redensart tourner la tete. Das Gebäude liegt in einer Vorstadt auf einem hohen Platze. Frische Luft ist für eine solche Anstalt höchst nöthig. Es fehlt hier leider an einem freien Platze zur Auslassung der Lenksamen an die freie Luft." (Aus: Wiener medizinische Wochenschrift, 1886, Nr. 10,11, 12; Hrsg. Dr. Adolf Kronfeld.) Staffeldt-Leonet erwähnt auch jenen „hohen Platz", auf dem der Turm einst stand. Interessant ist seine Behauptung, dass die runde Form des Turmes daher käme, weil sie die „Verrücktheit" symbolisiere, ein Ansatz, den wir getrost ausschließen können. Es stellt sich aber folgende Frage, ungeachtet der schönen Aussicht, an der sich offenbar jeder x-beliebige Besucher erfreute und die man auch wirklich gehabt haben mag: Warum hatte man sich, nur um die herrliche Fernsicht zu genießen, ausgerechnet in die Irrenanstalt zu begeben? Gerade der Kaiser hätte doch genug andere Möglichkeiten gehabt, die Stadt Wien samt Umgebung zu betrachten. Musste er sich dazu ausgerechnet in den Narrenturm begeben, von dem andere Besucher einhellig der Meinung waren, es sei dies ein Ort des Schreckens, in dessen näherer Umgebung die Schreie der „Wahnwitzigen", der „Aberwitzigen", wie die Kranken damals genannt ßS

Das Kreisschloss

wurden, heraushallten. Überdies muss es im Narrenturm selbst und auch in seinem nächsten Umkreis infernalisch gestunken haben, denn im Turm gab es kein Wasser, keinen Brunnen oder eine wie auch immer geartete Wasserleitung. Dorthin begab sich der Kaiser, um „versunken in große Pläne" seinen Gedanken nachzuhängen? Selbst Freiherr von Eggers, der den Narrenturm in seiner architektonischen Vollkommenheit rühmt, kam nicht umhin das Geschrei der Insassen zu erwähnen: „Überhaupt hört man ein wildes, dumpfes Getöse, wenn man dem Hause naht ..." Julius W. Fischer, ein weiterer Wienbesucher, verweist in seiner Schrift „Reisen durch Osterreich", 1803, darauf, dass: „Der ungeheure Staub, der den ganzen Sommer, und auch einen Teil des Winters durch, in der Luft sich befindet, welcher sich meistens von den Kieselsteinen auflöset, und der Lunge sehr schädlich ist. Besonders arg in dieser Hinsicht ist es auf den Wegen die über das Glacis in die Vorstadt führen. Stehende Staubwolken verfinstern, wie ein schmutziger Nebel, die Aussicht so sehr, dass man kaum die ersten Gebäude der Vorstädte zu sehen im Stande ist." Das Glacis war das freie „Schussfeld" vor den Bastionen der Stadtmauer Wiens und wenige hundert Meter breit. Eine ungetrübte Aussicht dürfte demnach nicht jeden Tag möglich gewesen sein. Zu der nicht zu leugnenden Geräuschkulisse des Turmes meinte 1799 Ernst Moritz Arndt, später einer der bekanntesten Vertreter des „Jungen Deutschlands", eines nationalrevolutionär gesinnten Dichterbundes: „Die Gänge und Treppen, und selbst die Zimmer lassen es kaum vermuthen, wo man ist, wenn man nicht durch das wilde Schreyen und Tosen der Umherstehenden und Gehenden und durch das Gewimmer und Gebelle der 39

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Rasenden und Geschlossenen drinnen zu lebhaft daran erinnert würde." Mit den „Geschlossenen" meint Arndt die Angeketteten. So viel zu den Zeugnissen, die eine oftmalige Anwesenheit des Kaisers im Narrenturm wahrscheinlich machen. Wenden wir uns aber zunächst all den architektonischen Besonderheiten und Details zu, die den Turm außer seiner runden Form zu einer Besonderheit machten. Ich erarbeitete sechs Punkte, abgesehen von den Elementen, die sich mit Zahlenspielen oder Zahlenmagie erklären lassen, die einer eingehenden Klärung bedürfen: 1. Angeblich wurde der Turm gemäß folgenden Gesichtspunken und Vorgaben gestaltet: möglichst viele Patienten auf möglichst wenig verschwendetem Baugrund, nach der Art von Maximum-Minimum-Aufgaben, die aus der Mathematik bekannt sind. Es scheint sich damit gänzlich anders verhalten zu haben. Die architektonische Gestaltung erfolgte nach einem kabbalistisch-rosenkreuzerischen Zahlen-Prinzip und nur deshalb sieht der Turm so aus, wie er sich heute noch präsentiert. 2. wird der Frage nachgegangen, warum der Narrenturm auf einer eigens errichteten, künstlichen Anschüttung stand und immer noch steht, die aber heute fast nicht mehr erkennbar ist, da das umliegende Gelände aufgrund anderer baulicher Maßnahmen angeglichen wurde. 5. Warum war der Narrenturm mit einem Blitzableiter ausgestattet, was 1784 durchaus keine Alltäglichkeit darstellte, und der noch dazu ziemlich eigentümlich in seiner Funktionsweise gewesen sein muss? 4. Im ganzen Gebäude gab es kein Wasser. Das etwas später, am 16. August 1784, neu eröffnete Allgemeine 40

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Krankenhaus war großzügig durch eine eigens gebaute Wasserleitung mit Fließwasser versorgt, ja sogar die Klosettanlagen verfügten über eine Wasserspülung. 5. Der Turm war von den Tonröhren eines merkwürdigen Heizsystems, römischen Hypocausten nicht unähnlich, durchzogen, die von vier großen, unterirdisch gelegenen Ofen mit Warmluft durchströmt werden sollten. Dieses Röhrensystem erwies sich als ein einziger Fehlschlag und wurde nach dem ersten Winterbetrieb eingestellt. Fortan beheizte man die Zellen über eiserne Kanonenöfen, die man auf den Gängen aufstellte. 6. Welche Funktion hatte das achteckige Türmchen auf dem Dach des Mitteltraktes wirklich (das Belvedere, Gloriette, der Altan) und wie hat es ausgesehen? Bevor ich nun die einzelnen Punkte genauer durchgehe, möchte ich auf einen weiteren besonderen Umstand aufmerksam machen, nämlich darauf, dass die eigentliche Entstehungsgeschichte des Narrenturmes überhaupt nicht geklärt ist. Kaiser Joseph II. erließ per Hofdekret vom 16. April 1781 die völlige Umgestaltung des Sanitätswesens. Ziel dieses allerhöchsten Befehls war eine Zentralisierung aller in Wien sich befindlichen Krankenanstalten. Die Hofkanzlei schrieb zu diesem Behufe einen Wettbewerb aus, an dem sich alle damaligen Größen der Wiener Medizin beteiligten. Sieger dieser Ausschreibung war Joseph Quarin, kaiserlicher Leibarzt und Sanitätsdirektor des Landes Niederösterreich. Sein Plan sah lediglich einen Umbau des schon bestehenden „Großinvalidenhauses" vor, eine billige Variante und Lösung der vom Kaiser gestellten Aufgabe, der Reform des Gesundheitswesens. Quarin erstellte einen Wirtschaftsplan, merkwürdigerweise finden sich darin aber keine Hinweise

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auf den Narrenturm. Ich schließe daraus, dass der Plan, den Narrenturm zu bauen, erst im Jahre 1783, und zwar nach dem März, als die Umbauarbeiten am Großinvalidenhaus bereits in vollem Gange standen, gefasst wurde. Die „Bauzeit" für das Allgemeine Krankenhaus betrug rund 17 Monate. Die Umbauarbeiten mussten - die Neueröffnung fiel in den August 1784 - ab März 1783 begonnen worden sein. Baumeister Joseph Gerls Plan für den Narrenturm datiert mit 1783. Im September 1782, dies geht aus einem weiteren Hofdekret hervor, waren die Pläne zur Neu- bzw. Umgestaltung des Allgemeinen Krankenhauses noch gar nicht fertig. Der Kaiser erinnert daran, dass derjenige, der den besten Vorschlag lieferte, den Betrieb des Krankenhauses am wirtschaftlichsten zu gestalten, zum Oberdirektor ernannt würde und ein stattliches Jahresgehalt von 4000 Gulden zugesprochen bekäme. Das Planungsstadium war also gegen Ende 1782 noch nicht beendet. Dem folgte ein weiteres Hofdekret vom Februar 1783 (!), erst danach war der beste Vorschlag ermittelt und Joseph Quarin mit der Oberdirektion bedacht worden. Bis dahin findet sich kein Hinweis auf den Narrenturm. Im ersten Kapitel sprach ich von einer Ansicht der gesamten Anlage, einer perspektivischen Darstellung der Höfe und Gebäude des Allgemeinen Krankenhauses. 2 Ich wies darauf hin, dass der dort abgebildete Narrenturm äußerst dürftig gezeichnet ist. Ich bin mir sicher, der Turm wurde erst später in die Zeichnung eingefugt. Zwar datiert das Bild aus dem Jahre 1784, es muss aber schon vor der Fertigstellung des Gebäudes vorgelegen haben. Es entsteht somit durchaus der Eindruck, dass der Narrenturm überstürzt eingeplant und gebaut wurde. Quarin kann demnach nicht der eigentliche Verantwortliche für die Anstalt sein.

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In verschiedenen Abhandlungen ist immer wieder zu lesen, Isidor Canevale, der damals in kaiserlichen Diensten stand, sei der Erbauer und Architekt des Narrenturmes. Dies ist auf eine missverständlich zu deutende Plandarstellung des Josephinums und des Militärspitals zurückzuführen, das erst ein Jahr später, 1785, fertig gestellt wurde, denn darauf ist der Narrenturm als ein Teil dieser Anlage eingezeichnet. Der Narrenturm hatte keinen Architekten im herkömmlichen Sinn.3 Bauausführender war Baumeister Joseph Gerl (1754-1798), ein Praktiker, spezialisiertauf Nutzund Zweckbauten, der mit der Oberbauleitung beim Allgemeinen Krankenhaus betraut war. Gerl gestaltete auch das „Tollhaus" in Prag, 1790. Quarin fungierte dabei wieder als Hauptverantwortlicher. Eigenartig ist dabei, dass es sich um ein völlig „normales" Haus handelt, keines der Gestaltungsprinzipien, die beim Narrenturm angewendet wurden, findet sich dort. Der Narrenturm blieb ein sonderbarer Prototyp, ein Unikat. Ein weiterer Irrtum mancher Autoren4, den ich aus eigener Erfahrung kenne, liegt darin, von einer panoptischen Gestaltung des Hauses zu sprechen oder zumindest Gedanken in diese Richtung anklingen lassen. Panoptisch5 würde bedeuten, eine Person, ein Wärter, könnte von einem zentralen Punkt die gesamte Anlage überblicken und überwachen. Dies ist beim Narrenturm nicht einmal dem Ansatz nach der Fall, es sei denn, die Wärter hätten über die Fähigkeit verfügt durch Mauern zu sehen. Um die Geisteskranken zu kontrollieren musste man, wie bei einem gewöhnlichen Gebäude, Zelle für Zelle abschreiten und durch eine Klappe in der festen Zellentür in den Raum hineinspähen. Was daran besonders neu oder rationeller sein sollte weiß ich nicht. Ich habe auch schon manche sagen hören, man hätte vom Oktogon am Sehnendach aus die beiden Innen43

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höfe gut eingesehen und die Wärter hätten von dort die Kranken überwacht. Tatsache ist, dass man von diesem Türmchen nicht in die Höfe sehen konnte, es sei denn, man hätte sich in halsbrecherischer Weise aus dem Fenster gebeugt, und selbst dann verblieben tote, uneinsehbare Winkel. Doch kommen wir zu den sechs Punkten, die ich oben anführte, und zu dem, was sich daraus ableiten lässt. Zu Punkt Eins 6 : Fest steht: Das Gebäude war von allem Anfang an viel zu klein dimensioniert. Bald nach seiner Eröffnung war der Turm hoffnungslos überfüllt und viele der Zellen doppelt belegt. Freiherr von Eggers schreibt, die Anstalt sollte sämtliche Geisteskranken Mährens, Ungarns und der österreichischen Erblande aufnehmen! Bedenkt man, dass der Turm auf einem damals völlig unverbauten, freien Areal errichtet wurde, wundert man sich - angesichts der zu erwartenden Neuzugänge - über sein beschränktes Fassungsvermögen. Nichts hätte dagegen gesprochen, noch einen weiteren, sechsten Stock auszubauen, die Baukosten wären nicht im besonderen Maße gestiegen, denn Mauerziegel waren ein billiger Baustoff. Es mussten ausgerechnet 28 Zellen, mit Ausnahme des Erdgeschoßes, auf jedes Stockwerk kommen, warum nicht 307? Folgt man der Argumentation, die Rundheit des Hauses hätte möglichst wenig Platz verschwendet, so mag dies von einem rationalen Gesichtspunkt her stimmen, erklärt aber nicht, warum man, um Platz zu sparen, erst eine Anschüttung, einen künstlichen Hügel errichtete, auf dem der Narrenturm stand. Diese flache Erhebung beanspruchte, wegen der lang gezogenen flachen Böschung des Schüttkegels, 44

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doch auch Platz und Raum, der für ein größeres Gebäude ausgereicht hätte. Ich rufe hier noch einmal in Erinnerung, bevor ich zum eigentlichen Kern meiner Hypothesen zurückkomme - der Narrenturm stellt ein manifestes Zahlenspiel, eine Art Zahlenmagie rosenkreuzerisch 8 -kabbalistischer9 Prägung dar: 28 Zellen gab es pro Geschoß, 21 Klafter beträgt der Durchmesser, 5 Etagen. Der ermittelte Durchmesser 10 liegt bei ziemlich exakt 66 Klaftern, der Baukörper, ein Zylinder, ist 8 Klafter hoch. Kurz und gut: Alle abgemessenen Zahlen können mit einem Zahlensystem parallelisiert werden, das die Form und Funktion des Turmes bedingte. Wäre der Narrenturm nicht exakt so gebaut, wie er uns heute bekannt ist, ich sage dies mit aller Bestimmtheit, dann passte das System nicht mehr. Wäre man nur in einem Detail vom „Plane" abgegangen, hätte keine der Zahlen sich mehr in das Zahlensystem gefügt. Ich konnte Ubereinstimmungen zu einer seelenalchemistischen „Geheimlehre" nachvollziehen - alles fügte sich wie ein Puzzle zusammen, wie Teile einer Maschine - , ohne dass ich irgendetwas abgeändert oder manipuliert hätte, um es meinen Hypothesen anzugleichen. Was ist nun an der Zahl 28 so bemerkenswert? Wie im ersten Kapitel beschrieben, ist sie eine der tetraktischen Zahlen (visuell betrachtet: 2 + 8 = 10) der Pythagoräer. Die Pythagoräer befassten sich mit den Zahlen auch nach wissenschaftlichen, mathematischen Gesichtspunkten. Sie teilten die Zahlen in gerade und ungerade, entwickelten den allseits beliebten und bekannten, nach Pythagoras benannten Lehrsatz, ermittelten „vollkommene" Zahlen. Unter einer vollkommenen Zahl versteht man einen Wert, der zerlegt in seine Divisoren, zählt man diese wiederum zusammen, den Ausgangswert ergibt. Bis 1971 fanden

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Mathematiker erst 23 solcher perfekter Zahlen. Für die 28 gilt daher: 1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28. Die 28 ist ein Vielfaches der Zahl 7. Addiert man nun alle Zahlen von 1 bis 7 zusammen, erhält man ebenso wieder 28: 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 = 28. Im arabischen Raum sind mystische Zahlenspiele und Auslegungen numerologischer Art stark verwurzelt. Für den Islam ist die 28 von außerordentlicher Wichtigkeit, denn sie bedeutet die Anzahl der Mondstationen. Der Mond durchläuft auf seiner Bahn die zwölf Zeichen des Tierkreises entlang von 28 besonderen Stationen. Diese Tatsache wurde früher, bis zum Ende des Mittelalters auch in unseren Breiten, astrologisch-medizinisch verwendet. Astrologen versuchten bestimmte Krankheitsdiagnosen und Therapien mit dem Mond, den Mondstationen zu verknüpfen. Krankheitsverläufe sollten anhand der astrologisch gewonnenen Werte vorhergesagt und behandelt werden. Diese Art der Interpretation und Kombination von Mondbahn und Krankheit nennt man „Iatromathematik". In populären Volkskalendern stand sie bis in das 19. Jh. in Gebrauch. Iatros, auf den diese Diagnoseform zurückgeht, war ein mythischer Heilsheros bei den Griechen. Heute noch erinnert man sich seines Namens im Wort „Psych-Iater". Dass die 28 mit dem Mond zusammenhängt ist kein Geheimnis. Noch heute berechnen die Ärzte die Dauer einer Schwangerschaft nach Mondmonaten mit einer Länge von 28 Tagen. Die vier Phasen des Mondes scheinen sich alle 28 Tage zu wiederholen. Als Mondzahl hängt sie mit den 28 Buchstaben des arabischen Alphabets zusammen darum sieht man auf den Flaggen vieler islamischer Staaten den Halbmond. Islamische Geistliche und Philosophen des 46

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Mittelalters sahen darin einen Zusammenhang des Kosmos, repräsentiert durch den die Sterne überstrahlenden Mond, mit dem Wort Gottes.11 Manch einer wird sich nun vielleicht fragen, was denn die altehrwürdige Zahlenmystik des Islams mit dem Narrenturm verbindet? Ich musste sie genauer erwähnen, da aller Wahrscheinlichkeit nach der wahre Urheber des Zahlensystems viel mit dem Orient und dem arabisch-türkischen Kulturkreis zu tun hatte, ja sogar ein gewisses Naheverhältnis zur „Hohen Pforte" in Istanbul unterhielt. Astronomisch-chronologisch trifft man auf die Zahl 28 beim großen Sonnenzirkel. Der Sonnenzyklus ist eine Periode von 28 Jahren, nach der jeder Wochentag, alle Wochentage eines Jahres wieder auf exakt dasselbe Datum fallen. Man versuchte auf diese Weise auch dem „Jahr-2000-Problem" bei den Computern entgegenzuwirken, indem man die Uhren um 28 Jahre zurückdrehte. Ich weiß nicht, warum, aber die 28 Zimmer, Kreissegmente in jedem Stockwerk, sind bis jetzt, soweit ich es ermessen kann, noch niemandem, der sich architekturhistorisch mit dem Gebäude auseinander setzte, besonders aufgefallen. Die Verknüpfung dieser Zahl mit dem Mond müsste doch bemerkt werden, zumal man auch hierzulande, damals, dem Erdtrabanten einen eher schädlichen Einfluss auf die Psyche oder Seele der Geisteskranken nachsagte. Johann Heinrich Landolt besichtigte den Turm 1786 und bemerkte in seinen Reisenotizen: „In der Nacht toben sie am meisten, besonders zur Zeit der Mondsveränderungen." Oder, Michael Wagner, der Ubersetzer der Schriften des großen Pinel, in den Anmerkungen zu seiner Ubersetzung: „Die Ursachen des periodisch zurückkehrenden Wahnsinns sind ebenso dunkel, wie die Ursachen aller übrigen perio47

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dischen Krankheiten. Ich machte die Beobachtung im Wiener Irrenhause, dass in diesem Jahre (1801) während des Solistitiums fast alle Wahnsinnigen unruhiger wurden. Im Monat Julius und zu Anfang des Monats August waren die epileptischen Anfalle häufiger, einige Wahnsinnige wurden reeidiv, und fast alle unruhig. Das Thermometer und Barometer zeigte keine auffallenden Veränderungen, allein die Witterung wechselte beständig ab. - Bey Annäherung der Gewitter bemerkt man bey den Wahnsinnigen auch einige Unruhe." Die zwei Beispiele mögen verdeutlichen, was ich meine. Auch in Wien sah man die Verfassung der Geisteskrankheiten mit dem Mond oder der Sommersonnenwende in einer, wenngleich auch nicht genauer definierten Verbindung. In England peitschte und kettete man die „Lunatics", die Mondsüchtigen, zur Zeit des Vollmondes noch um 1800, rein prophylaktisch, um die Kranken dem Einfluss des Mondes zu entziehen. In Wien lebte zur Zeit der Regierung Josephs II. der Exjesuit, Astronom und Meteorologe Anton Pilgram (1730-1793). Pilgram machte sich vor allem durch seine meteorologischen Untersuchungen einen verdienstvollen Namen. 1778 erschien sein Werk „Untersuchungen über das Wahrscheinliche in der Wetterkunde durch vieljährliche Beobachtungen". Darin vertrat Pilgram die Meinung vom Einfluss gewisser Himmelskörper auf die Lufthülle der Erde. Er maß diesem Einfluss ganz erhebliches Gewicht bei, versuchte jedoch ihn mit Hilfe naturwissenschaftlich korrekter Modelle zu untermauern: die Gravitation, aber auch die Mondstrahlen, die die höheren Luftschichten erwärmten und durch die sich auch Auswirkungen auf das Leben der Erde ableiten ließen, eine zu dieser Zeit anerkannte Tatsache. Franz Anton Mesmer (1734-1815), der 48

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berühmte Magnetiseur, studierte in Wien bei van Swieten, De Haen und Störck Medizin, dissertierte 1766 über den Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper und seine Krankheiten. Seine Arbeit entsprach dem wissenschaftlichen Paradigma seiner Zeit und auch er versuchte anhand der von Newton aufgestellten Theorien zur Gravitation einen Gestirnseinfluss auf den menschlichen Körper nachzuweisen. Kommen wir nun zu der Frage, inwieweit die Zahl 28 in der Kabbala vertreten ist und wie sich dies auf das Konzept der Zahlen im Narrenturm auswirkt. In der Kabbala, einer Sammlung mystischer Schriften, ist von 72 Engeln die Rede und jeder dieser Engel steht für eine Eigenschaft, die das Walten Gottes charakterisiert. In der Mitte des Paradieses steht ein Baum, gepflanzt zum Heil von 72 Völkern, die die Erde besiedeln. Die Früchte des Baumes sind die 72 Namen der göttlichen Eigenschaften. Jedem der „Gottesnamen" werden bestimmte Attribute zugeordnet. Der 28. Genius Gottes heißt: „Gott, der Du die Kranken heilst." Was selbstverständlich kein Zufall ist. Der Narrenturm liegt, wie der Angelpunkt einer Tür, zwischen dem alten Allgemeinen Krankenhaus und dem ehemaligen Militärspital. So gesehen ist eine Eigenschaft Gottes, die man durch die Zahl 28 anruft - die Kranken zu heilen - , genau am richtigen Ort eingesetzt. Es gibt aber noch weitere, „verräterische" Hinweise: Die 28 spielte in der alten, zur Zeit Kaiser Josephs bereits überkommenen Iatromathematik eine nicht unwesentliche Rolle. Die 28 Mondstationen kombinierte man mit den 12 Tierkreiszeichen. Ich stellte mir die Frage, ob denn nicht auch im Narrenturm sich irgendwo eine derartige Kombination von 28 und 12 finden ließe. Nun denn, ich 49

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fand sie an nicht eben unwesentlicher Stelle, wenngleich auch nicht sofort ersichtlich: Als Baumeister Gerl mit der praktischen Planung und dem Bau des Rundbaues beschäftigt war, dürfte ihm folgendes Problem untergekommen sein: Gerl setzt sich hin und beginnt zu zeichnen, zieht mit dem Zirkel einen Kreis und muss sich nun damit abmühen, den Kreis in 28 gleiche Segmente zu teilen, was gar nicht so einfach ist. Ein praxisnaher Mann wie er wäre niemals auf so eine Idee gekommen, er hätte eine Kreisteilung verwendet, die ohne lästige Kommastellen auskäme, denn dividiert man einen Kreis von 360° durch 28, ergibt sich: 12, 857142° für ein Kreissegment. Natürlich gibt es nichts, was Gerl nicht umsetzen könnte, lästig ist ein derart sperriger Winkel aber schon. Wollte man genügend Zellen und somit Raum für die Kranken schaffen, hätte man den Kreis in io° Segmente teilen können, was sich viel leichter konstruieren ließe. Nun, dieser Winkel musste sein und war vom einstweilen noch unbekannten Oberkonstrukteur so vorgesehen worden. Es sei noch der Vollständigkeit halber angemerkt, dass der Zahlenwust hinter dem Komma eine sich bis ins Unendliche wiederholende Periodizität beinhaltet. Was sagt uns diese Zahl aber? Um dies herauszufinden muss man sie in den Bereich vor und nach dem Komma teilen: vor dem Komma steht 12, danach der Rattenschwanz der Periodizität - 857142. Jetzt wird die zuerst versteckte Beziehung der 28 zur 12 etwas klarer und die Zahlen geben langsam ihr Geheimnis preis. 12 steht für die Tierkreiszeichen - ich betone hier noch einmal die rein visuelle Betrachtungsweise der Zahlen, eine Möglichkeit, die ihrem Wesen nach zwar nicht unbedingt logisch-mathematisch gerechtfertigt erscheint, kabbalistisch jedoch einen versteckten Sinn offenbart. Ich SO

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würde dies nicht so sicher behaupten, wäre da nicht der Bereich nach dem Komma, der auf ein ganz besonderes Zahlenspiel hinweist. Es gibt einen einfach nachzuvollziehenden Zahlentrick mit genau dieser Zahlenfolge: 857142, die Zahlen werden nur in eine andere Reihenfolge gebracht, nämlich: 142857. Diese Zahlen entsprechen unserer Periodizität. Was nun sofort auffallen muss, gliedert man in Zweiergruppen: 14, 28, 57, ist die Basis von 7 (bei 14 und 28) - und die 5 - alles Werte, die vom Gebäude her bekannt sind. Ich werte dies als einen Hinweis auf die mikrokosmischen Strukturen, die im Turm auf geheimnisvolle Weise zum Schwingen gebracht werden sollen, ja die sich im Makrokosmos von Sonne, Mond und Sternen wieder finden. Wie äußert sich nun der erwähnte Zahlentrick? 142857 x 2 = 285714

Ich nehme weitere Ergebnisse gleich vorweg: multipliziert man die Zahlenreihe mit den Faktoren von 1 bis 6, ergeben sich immer die gleichen Zahlen, nur in umgestellter Form. Multipliziert man jedoch mit sieben, ist das Ergebnis: 999999 ~ w e r e s nicht glaubt, rechne selbst nach. Dieses einfache Zahlenspiel bringt uns wieder zurück zur Alchemie, deren hauptsächliches Anliegen in der Transmutation, der Umgestaltung der Materie, lag. Der Bereich der Periodizität hinter dem Komma pflanzt sich bis in alle Ewigkeit, bis ins Unendliche weiter fort, bis in die winzigsten Zahlenstrukturen hinein. Lichtjahre hinter dem Komma taucht dann das kleinste Zahlatom, das untere Ende der goldenen Kette auf. In der Winkelteilung des Kreises, die uns Segmente, Teile des Ganzen liefert, versinnbildlicht sich die Verbindung vom Kleinsten zum Größten. 12 Einerseits gemahnen die Zahlen 12 und 28 an die Sterne, andererseits an die immer winziger werdenden Si

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Strukturen des Mikrokosmos. Im Haus ist somit die Voraussetzung für das „Große Werk" geschaffen, alles hängt mit allem zusammen. Ich fasse also noch einmal zusammen: Die 28 steht für den Mond und auch die Sonne. Die 12 für den Zodiakos, den Tierkreis. Der Nachkommabereich zeigt, diese Zahlen haben auch im Mikrokosmos ihren Sinn. 57 ist in diesem System nur die Verdreifachung von 19, die, wie ich im ersten Kapitel bereits kurz ausführte, in das System des Turmes passt.l3 Dringen wir noch weiter in das Geheimnis vor, das mit der 28 und dem Narrenturm zusammenhängt, begeben wir uns in das „kabbalistische Gehege". Ich fand diesen Begriff in einem seltsamen, schwer verständlichen Buch mit dem Titel „Gedächtnis und Erinnern, Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare" der englischen Gelehrten Frances Amelia Yates (1966, deutsche Fassung 1994). In diesem Buch geht es um künstliche Erinnerungs- und Gedächtnissysteme, mit Hilfe derer seit der Antike, bis in das 17. Jh. hinein, versucht wurde, die Gedächtnisleistung des Gehirns zu steigern. Das Grundprinzip, nach dem solche Erinnerungsstützen funktionieren, ist fast immer gleich und mutet heute eher umständlich an: Will man sich an irgendetwas erinnern, so schafft man ein Gedächtnisbild - zumeist stellte man sich besonders absurde Szenen, Personen oder Gegenstände vor, die auf eine sinnvolle, nachvollziehbare Art und Weise mit dem Gegenstand verbunden waren, den man sich zu merken beabsichtigte. Alles Mögliche konnte auf diesem Weg gespeichert und gemerkt werden, ganze Buchinhalte mit abstrakten theologischen Fragen wurden in Bilder, visuell vorstellbare Sachverhalte umgemünzt. Wichtig für die Konzeption des Narrenturmes sind speziell die Kapitel von Yates Buch, in denen sie das Gedächt-

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nissystem Giordano Brunos zu durchleuchten versucht, kein leichtes Unterfangen. Frances Yates selbst wirft an einigen Stellen das Handtuch, weil heute nicht mehr genau nachzuvollziehen ist, was Bruno mit seiner Gedächtnistheorie anstrebte. Giordano Bruno (1548-1600) war zunächst Mitglied des Dominikanerordens, nach einem Zerwürfnis mit der Ordensleitung zog er durch Europa und führte ein unstetes Wanderleben. In seinem Werk, das ihn schließlich, nach siebenjähriger Gefangenschaft in Dunkelhaft (!), auf den Scheiterhaufen brachte - Bruno wurde der Ketzerei bezichtigt - , behandelte er hauptsächlich zwei Punkte: die Weltseele und das Gedächtnis. Was hat es nun mit dem Gedächtnis Bruno'scher Prägung auf sich? Nach all dem, was ich bereits über die Verbindung des Makro- mit dem Mikrokosmos gesagt habe, dürfte dies nicht allzu schwer sein. In zwei Werken entwickelt Bruno sein System: Yates hat die umständlichen Titel abgekürzt in „Das Geheimnis der Schatten" und „Das Geheimnis der Siegel". Um es kurz zu machen: Bruno bedient sich verschiedener Methoden, um in seiner Seele Bilder wachzurufen, vergleichbar den Archetypen C. G. Jungs, und diese künstlich erzeugten Bilder mit den Sternen, Sonne und Mond, den Planeten zu verknüpfen. Über konzentrisch angeordnete drehbare Metallscheiben, auf denen segmentweise Begriffe eingeätzt waren, konnte man unzählige Permutationen von psychisch-seelisch wirksamen Bildern herstellen. Bruno schuf dadurch eine Art von Magie, einer an sich verbotenen Vorgangsweise, die ihm auch zum Verhängnis werden sollte. Er versuchte nichts weniger als über das künstliche Gedächtnis an die Gedanken Gottes heranzukommen. Yates meint dazu: j?

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„Ein derartiges Gedächtnis wäre das Gedächtnis eines göttlichen Menschen, eines Magiers mit göttlichen Kräften, die er dank seiner an das Wirken der kosmischen Kräfte angekoppelten Vorstellungskraft hätte. Und ein derartiger Versuch müsste auf der hermetischen Annahme beruhen, dass der mens 14 des Menschen göttlich ist und von seinem Ursprung her mit den Stern-Regenten der Welt in Beziehung steht und deshalb sowohl zur Spiegelung wie zur Beherrschung des Universums fähig ist." Das Gedächtnis des göttlichen Menschen zielt also auf eine Vereinigung mit den Sternen ab. „Für Bruno war Magie kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um hinter den Erscheinungen zu dem Einen zu gelangen." Für Yates ist die Philosophie Giordano Brunos nichts anderes als Magie. Im zweiten genannten Werk, dem „Geheimnis der Siegel", entdeckte ich schließlich einen Hinweis, der sich am Narrenturm verwirklicht zu haben scheint. Wenn man sich den Grundriss vor Augen führt, erinnert er auch an ein Siegel, das das Geheimnis hermetisch abschließt. In den „Siegeln" versucht Bruno anhand von 30 Zeichen, den Siegeln - aufgeladen mit kabbalistischer Energie und Magie - sein und des Lesers Gedächtnis dahingehend zu organisieren, dass das Gedächtnissystem einen Zugang zu Gott, über die Seele zu den Sternen, schafft. Er entwickelt eine „Denkmaschine", mit der der Mechanismus der Natur angezapft werden soll. Das genau versucht man mit dem Narrenturm auch. Die durcheinander gebrachte Psyche der Geisteskranken soll sich auf eine magische Weise wieder neu ordnen. Ich zitiere wieder aus dem Original : „Wenn der mens des Menschen göttlich ist, dann liegt die göttliche Organisation des Universums in seinem Inneren; und eine Kunst, die die göttliche Organisation im

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Gedächtnis reproduziert, wird die Kräfte des Kosmos anzapfen können, die im Menschen selbst sind." Was hat man sich nun unter den Siegeln, den Gedächtnisbildern genau vorzustellen? Siegel Nr. 14 z. B. heißt Daedalus' 5 ; Nr. 19, die Quadratur des Kreises; Nr. 21, die Töpferscheibe 16 ; Nr. 28, im kabbalistischen Gehege. Der Sinn dieses Zeichens ist folgender: Sämtliche kirchlichen und weltlichen Ränge, vom Papst bis zum Diakon, vom Kaiser bis zum Bauern, werden als weitere Gedächtnisbilder ausgearbeitet. Zu Anfang dieses Kapitels habe ich darauf hingewiesen, dass es viele Berichte gibt, die aussagten, der Kaiser besuchte den Turm. Wenn also Joseph II. in den Turm kam, führte er genau das Bild mit der Nr. 28 aus und begab sich in das kabbalistische Gehege, das im Übrigen nichts anderes ist als die 28 Elemente in Kreisform, die wir aus der Abbildung 1 kennen. Die 28 umzirkelt wie ein Zaun den Ort. Der Kaiser, höchster Repräsentant seines Reiches, sucht die niedersten Glieder seines Staates auf, die „Irren", die Unnützen und Uberlästigen! Dieser merkwürdige Ritus, nichts anderes als ein Ritus muss es gewesen sein, der Joseph in den Turm drängte, sollte Ordnung in die Welt und die Köpfe der Geisteskranken bringen. So, wie eine Beziehung des Mikro- zum Makrokosmos hergestellt wird, so trifft der Monarch, Erster nach Gott, auf die niedersten Vertreter des Gemeinwesens, die - entsprechend dem Nützlichkeitsaspekt - zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Durch dieses Band verbindet man aber die ganze Welt zu einem zusammengehörigen Ganzen. Das Ganze, das Zusammengehörige, wird nach außen hin durch Mauern begrenzt. Weiter oben gab ich den errechneten Wert des Umfanges an: 66 Klafter. In Osterreich kennt man ein einfaches Kartenspiel, das „Schnapsen", welches damals wie heute gerne gespielt wird.

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Dabei kommt es darauf an, dass man die Karte des Gegners sticht und möglichst viele Punkte sammelt. Hat einer der beiden Spieler die Punktezahl 66 erreicht, ist er Sieger. Im Islam aber, genauer in der islamischen Zahlenmystik, steht die Zahl 66 für „Allah", den Namen Gottes! Türkische Kalligraphien zu Beginn des 18. Jh.s spielen mit diesem Umstand auf künstlerische Art und Weise. Im Arabischen kommt dem Buchstaben waw, dem „ w " , der Zahlenwert 6 zu. Auf den türkischen Schönschriftbildern ist dieser Buchstabe immer in doppelter Ausführung anzutreffen, damit er die Zahl 66 ergibt und somit auch für den Namen Allahs steht. In anderen Inschriften wird die 66, als 6 + 6 - rein visuell betrachtet - , die 12, die die Anzahl der Imame der schiitischen Glaubensrichtung des Islams wiedergibt. Der Mensch in der Welt, auf dem Planeten Erde und diese, gemäß den kosmischen Gesetzen, den Naturgesetzen durch das All kreisend, ist eingekreist von Gott. Das sagen uns die 66 Klafter des Umkreises. Wer könnte der einstweilen noch unbekannte Meister des Narrenturmes sein, denn es war zweifelsohne hier ein Meister bei der Arbeit? Joseph Gerl war es mit Sicherheit nicht, Quarin auch nicht, Joseph II. selbst? Obwohl der Kaiser eine gute Ausbüdung genossen hatte und auch den Wissenschaften einiges Interesse entgegenbrachte, war auch er wohl nicht in der Lage das raffinierte System auszutüfteln. Jener Kopf musste über mathematische Kenntnisse verfügen, die Kabbala studiert haben, rosenkreuzerisch denken, astronomisch forschen und sich mit islamischer Zahlenmystik auskennen. So viel sei gesagt, ich nehme an, dass Quarin in den „Plan" eingeweiht gewesen sein muss und sozusagen als „Strohmann" vorgeschoben wurde. Der Kaiser belohnte ihn dafür mit dem Posten des Oberdirektors und einem Freiherrentitel. Doch alles der Reihe nach - wenden

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wir uns nun dem seltsamen Hügel zu auf dem der Narrenturm stand. Zu Punkt Zwei: Im Josephinum, dem heutigen Museum der Geschichte der Medizin, steht ein Modell des Allgemeinen Krankenhauses, das den Bauzustand um die Zeit von 1784 sehr genau wiedergibt. Der Narrenturm befindet sich dort ganz klar ersichtlich auf einem flachen Erdhügel, der offensichtlich künstlich aufgeschüttet wurde, da aus der umgebenden Topographie nichts darauf schließen lässt, der Hügel sei ein Teil des natürlich entstandenen Geländes. Das Modell baute der Maler und Modellbauspezialist Erwin Pendl, der bei dieser Arbeit wahrscheinlich auf Originalpläne zurückgreifen konnte, die heute aber nirgends mehr aufzutreiben sind. Pendl (1875-1945) arbeitete in Wiener Architekturbüros als Fachmann für perspektivische Aquarellansichten. Einer seiner Auftraggeber war auch das Bauatelier der Hofburg, die von Pendl verwendeten Pläne kamen vermutlich von dort. 1897/98 arbeitete der Künstler an einem plastischen Großmodell der gesamten Wiener Innenstadt mit den Prachtbauten der Ringstraße. Bei der Weltausstellung von Paris, igoo, präsentierte er eine 24 Quadratmeter große Darstellung Wiens aus der Vogelschau. Pendl war ein genau vorgehender Künstler und ein Meister seines Faches; wenn er also den Narrenturm auf einem Hügel an der Nordseite des Allgemeinen Krankenhauses darstellte, so kann man ihm getrost vertrauen. Das Modell zeigt die bauliche Situation vor der Beendigung der Bauarbeiten am Josephinum und dem Militärspital, das gegen Osten an den Narrenturm anschließt. Mehrere alte Ansichten - die Pläne Gerls, der Prospekt und das Modell - zeigen den Hügel. Auch bei Michael Wag57

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ner, der Phillipe Pinels „Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie" ins Deutsche übersetzte, liest man davon: „Die Irrenanstalt in Wien wurde auf Befehl des menschenfreundlichen Kaisers Joseph im Jahr 1784 errichtet. Das hiezu bestimmte Gebäude stehet am Ende des allgemeinen Krankenhauses, auf einem ziemlich freyen und erhöhten Platz, und stößt zugleich an das Militärspital an. Seine Gestalt ist rund, und wird nach seiner Form, Höhe und Bestimmung insgemein der Narrenthurm genannt. Es ist fünf Stöcke hoch. In jedem Stockwerke oder jeder Abtheilung sind 28, im Erdgeschoße aber nur 27, im ganzen Thurm 139 Zellen vorhanden." Erhöhter Platz, erhabenes Terrain, hoher Platz - man findet diese Hinweise oft. Da der Narrenturm auf dem Gelände des ehemaligen Kontumazhofes steht - Kontumaz ist in etwa gleichbedeutend mit Quarantäne - , in dem man die Pestkranken notdürftig versorgte, dachte ich zuerst, dass das Miasma, also die schädlichen Ausdünstungen, die sich möglicherweise im Boden gehalten hätten, dadurch eliminiert würde. Ein Bodenaustausch wäre dann erfolgt. Wie und warum sich die Pest übertrug und ausbreiten konnte, war damals noch ein Rätsel. Der in österreichischen Diensten stehende Pestarzt Chenot vertrat die Ansicht, dass die Pest durch den Pestzunder übertragen würde - die kontaminierten Kleidungsstücke Erkrankter. Dass der Pestfloh dafür wahrscheinlicher in Frage kam, daran verschwendete man keinen Gedanken. Da es aber auf dem Baugelände keinen Pestzunder mehr geben konnte, disponierte ich um und kam auf die Idee, es wäre doch immerhin möglich, den Bauschutt, der bei den Umbauarbeiten zum AKH anfiel, dort endzulagern. Etwas zeitverzögert begann man auch mit den Bauarbeiten an Lazarett und Josephinum - der Erdaushub für die



Das Kreisschloss

Keller könnte angeschüttet worden sein. Nun, beide Möglichkeiten kommen in Betracht. Es ist aber dennoch eigenartig, dass nicht versucht wurde Erdaushub und Bauschutt gleichmäßig zu verteilen, sondern ein Hügel aufgehäuft wurde. Falls man eine Aussichtswarte plante, dann gut, je höher, desto besser - warum aber ausgerechnet bei der Irrenanstalt? Im nächsten Punkt klärt sich dann alles: Der Turm sollte sich vom übrigen Gelände abheben, ja mehr noch, er sollte sich ganz generell von der Erde abheben und nur so weit mit dem festen Boden verbunden sein, so weit er den Kontakt zu „höheren Sphären" nicht störte. Zu Punkt Drei: Gleich neben dem Modell des AKH steht im Josephinum ein sehr schön und genau gebautes Modell des Narrenturmes, eine Leihgabe des Technischen Museums. Uber die Herkunft dieses Modells ist nichts bekannt. Es kann durchaus möglich sein, dass es aus der Zeit von 1784 stammt, denn auch schon damals gab es ausgewiesene Modellbauspezialisten. Berühmt waren die Hamburger Modellbauer, die sich auf Schiffe verlegt hatten. Bevor ein Segelschiff vom Stapel gelassen wurde, fertigte man ein detailgetreues Modell an, nach dem im vergrößerten Maßstab das seetüchtige Schiff zusammengesetzt wurde. Solche Modelle waren teuer und kosteten Unsummen. Wodurch fallt das Modell im Josephinum nun besonders auf? Ich glaube, dieses Modell gibt den Originalzustand des Narrenturmes exakt wieder. Merkwürdig ist, dass sich das Oktogon wesentlich von dem unterscheidet, das Pendl auf seinem maßstäblich viel größeren Modell zeigt. Bei Pendl sind die acht Fenster des Oktogons von einer Art Jalousie verschlossen, die es möglicherweise wirklich gab. Beim anderen Modell sind lediglich vier Fenster zu sehen, es sind 59

Das

Kreisschloss

jedoch, aufgrund alter Photographien, acht Fenster erwiesen. Außerdem gibt es auf dem Dach des Rundbaues nirgendwo Kamine - bei beiden Modellen ist das ersichtlich. Nur aus dem Sehnendach ragt ein vierzügiger Schornstein. Bleibt die Frage, wohin die vier großen Ofen, die im Keller des Hauses eingebaut waren - ein richtiger Keller ist es nicht - , ihre Rauchgase abgaben? Allein dies ist alles nicht so wichtig, das eigentlich Verblüffende ist der deutlich am First des Runddaches montierte Blitzableiter! Blitzschutzanlagen galten im 18. Jh. noch als Kuriosität ersten Ranges. Kurz nachdem man vermehrt mit Elektrizität zu experimentieren begann - in der ersten Hälfte des 18. Jh.s kamen Elektrisiermaschinen auf - und man Blitze als eine natürliche Erscheinungsform der Elektrizität erkannte, erfand Benjamin Franklin den ersten Blitzableiter. Franklin hatte schon als Knabe ein besonderes, elektrisches Phänomen an Flugdrachen festgestellt und führte, als Erwachsener verschiedene Versuche mit Seidendrachen aus, die, an einen dünnen Draht geheftet, in die Lüfte stiegen. 1752 baute Franklin den ersten Blitzableiter. Pater Procopius Divisch aus Znaim folgte als Nächster und errichtete 1754 einen weiteren Blitzableiter. Es dauerte trotzdem relativ lange, bis man den Blitzschutz auf eine gänzlich wissenschaftliche Grundlage stellte. Erst 1886 hatte man die Naturerscheinung einigermaßen im Griff. Auf dem Modell ist die Anlage klar zu sehen. Vier längere eiserne Spitzen ragen, im Winkelabstand von je 90° verteilt, auf dem Kreisdach in die Luft. Entlang des Firstes läuft, kreisförmig befestigt, der Draht, wie eine Ringleitung, die in den Innenhof abgeleitet wird. Ich weiß nicht, ob man eine Ringerdung verlegt hat und ob der Blitzableiter physikalisch richtig angelegt war. Merkwürdig ist aber, dass auf dem Sehnengebäude mit dem Oktogon keine solche Anlage 60

Das Kreisschloss

angebracht war. Im Gegenteil: Aus dem Dach des Oktogons erhob sich eine massive Spitze aus Kupfer oder Eisen mit einer Metallkugel darunter. Vielleicht böte sich jetzt eine Erklärung, warum, wie Wagner schrieb, die „Irren" während der Gewitter besonders tobten. Fast fühlt man sich an Mary Shelleys „Frankenstein, oder der natürliche Prometheus" erinnert, wo die „Kreatur" durch die Kraft des Blitzes zum Leben erweckt wird. „Alles steuert der Blitz", meinte Heraklit von Ephesos, genannt der Dunkle (Frg. Nr. B 64). Was steuerte der Blitz im Narrenturm - war er Zeichen der Allmacht Gottes? Könnte es nicht sein, dass der Blitz, schlüge er in das Haus und würde vom Kreis des Blitzableiters aufgefangen, einen strahlenden kreisförmigen Lichtbogen bildete, den Gott sehen sollte? Vereinfacht spiegelt der Blitzableiter mit der Metallspitze des Oktogons im Zentrum folgendes Schema wider: einen Kreis und in der Mitte ein Punkt.17 Dieses Schema findet sich wieder in der Kabbala, und zwar an bedeutender Stelle. Das dritte Sephirot, die dritte Qualität des Kosmos, ist Binah, die größte Intelligenz und mit ihr verbunden der dritte Name Gottes: IEVE. Dieser Name Gottes, IEVE, besteht aus folgenden Buchstaben: Jod, He, Vau, He, denen wiederum die Zahlenwerte: 10 für Jod; g für He; 6 für Vau entsprechen. Löst man diesen Namen Gottes in Zahlen auf, ergibt sich der Wert 26:10 4- g + 6 + g = 26. Der Zahlenwert des Jod, 10, die alte Tetraktys, steht also für die „Ureinheit am Anfang aller Dinge", die für den Kabbalisten zugleich auch den Endzweck bedeutet. Die Ureinheit stellt sich der Kabbaiist als einen Kreis mit einem genau gekennzeichneten Mittelpunkt vor. Der Zahlenwert des He ist die Hälfte der Tetraktys, g. Dazu kommt noch das Vau mit dem Wert 6. Diese drei Buchstaben stehen für die heilige Dreifaltigkeit, zählt man sie zusammen: 61

Das Kreisschloss

lO + g + 6 = 21, landen wir wieder beim Durchmesser des Narrenturmes. Das zweite He ist überzählig. Nicht, dass jemand glaubt, ich würde hier nach reiner Willkür verfahren. Vor mir liegt die Kabbala des Papus, in der streng nach Vorschrift vorgegangen wird (vgl. Abbildung 3). Die innere Dreiheit der Buchstaben Jod, He, Vau besagt, nichts besteht außerhalb ihrer Umgrenzung. Dies wird schematisch wieder als Kreis dargestellt, innerhalb dessen Kreislinie die Buchstaben dreiecksartig angeordnet sind. Wo bleibt dabei aber das zweite He, Zahlenwert ebenfalls g? Das zweite He ist diese Kreislinie und bedeutet den Ubergang von einer Welt in eine andere. Für den Turm bedeutet dies: JEV, Zahlenwert 21, Quersumme 3, begrenzt durch die Außenmauern. Die Trinität, eingekreist durch das den Ubergang bewirkende zweite He, das nichts anderes als die g Stockwerke des Gebäudes ist - wegen des Zahlenwertes g, die von der Erde ansteigend einen Übergang in die Luft bilden. Wenn nun der Blitz den „Feuerring" am Dach entzündet, ist die Transmutation - denn um eine solche handelt es sich beim Ubergang von einem Zustand in einen anderen, höheren, der Geisteszustand der Verrücktheit übergehend in den Göttlichen - vollbracht! Man erinnere sich an die Einleitung, an die Weisheit Salomos: Die 21. Eigenschaft der göttlichen Weisheit vermag alle Geister zu durchdringen. Nach diesem Exkurs in die „elektrodynamische Brachialpsychiatrie" kommen wir endlich zum fehlenden Wasser im Turm. Zu Punkt Vier: Erst im Jahre i8g7 wurde der Narrenturm an eine bestehende Wasserleitung angeschlossen. Im großen Hof der 62

Das Kreisschloss

a H V H : r n m

KABBALISTISCHES ZAHLEN- UND &UCHSTÄBENSCHEMA:

3-H-V: IM INNEREN DES KREISES ~ SUMME - ¿-1, ENTSPRICHT DEN Ii KLAFTERN DES DURCHMESSERS. DAS Zit HE = 5 ~ ENTSPRICHT DEM ETAGEN (5) DES TURMES.

SCHEMATISCHE DARSTELLUNG DES BLITZABLEITERS ALF I5EH RONDDACH. A - RJN6 LEITUNG AUF DEM ZELLEN BLINDER, B = DIE METALLKU = 9

1 = 10 K = 20 x=

P = O = x = u = cp =

30 40

v = 50 60 0 = 70 71 = 80 = 90

x =

l)/= co= 11 =

lOO 200 500 400 5 oo 600 700 800 900

Nach diesem Verfahren wird nun der Name der kleinen Marie Therese - ich verwende diese Form, da sie bei Hof so gerufen wurde - aufgeschlüsselt. Im nächsten Kapitel versuche ich dies mit der korrekten Schreibweise - Maria Theresia - noch einmal. W

Der digitalisierte Monarch

M A R I E 40 1 100 10 5

T 300

H E l 6 R E S E 8 100 5 200 g

All die ermittelten Zahlen werden addiert und somit kommen wir zur 774. An dieser Zahl ist zunächst nichts Auffälliges. Was passiert aber, wenn ich sie dividiere? Nun wird mancher Leser, manche Leserin fragen, warum dividieren? Nun, alle Zahlen sollen ja einen Bezug zum Narrenturm erkennen lassen, so habe ich oft Zahlen auf die Zimmer des Turmes aufgeteilt und so die erstaunlichsten Resultate errechnet. Zuerst fallt auf, wendet man eine einfache Rechenregel an, dass 774 durch 9, in Worten neun, teilbar ist. Jede Zahl ist durch 9 teilbar, wenn ihre Quersumme 9 ergibt 7 + 7 + 4 = 18; 1 + 8 = 9 Im Übrigen wird im Bereich der Zahlenmystik die 9 stets als Zahlsymbol des Menschen 17 angesehen. Ich dividiere also den Namen durch den Menschen. 774 : 9 = 86 Die Zahlen des Ergebnisses, 8 und 6, konnte ich einem Wert zuordnen, der aus der Astronomie stammt, der zur Zeit Josephs II. hochaktuell war und der im Turm noch einmal - an markanter Stelle, in seiner eigentlichen Bedeutung erklärt, vorkommen wird. Einstweilen halten wir nur fest, dass die Quersumme 14 (8 + 6) und in weiterer Folge g (14 = 1 + 4) ergibt. Ich dividierte nun 86 auf gut Glück durch sieben, um sie in irgendeiner Form an die Basiszahl im Turm anzunähern, die ja 7 ist. 86 : 7 = I2,28g7i4 - periodisch. Diese Zahl haben wir schon kennen gelernt, sie unterscheidet sich von der bereits errechneten, die sich daraus ergab, 140

Der digitalisierte Monarch

dass ich 360° durch 28 teilte, nur durch die umgestellten Zahlen hinter dem Komma - auf das betreffende Zahlenspiel und die Funktion, die sich für den Narrenturm ergibt, habe ich bereits hingeweisen. 18 Was aber noch verwunderlicher zu sein scheint, ist, wenn man die 86 durch drei teilt, die Zahl der Dreifaltigkeit: 86 : 3 = 28,66666 - periodisch. Hier tauchen also wieder - visuell - die 28 Zellen und die 66 Klafter auf, die zusammengefasst die 2866 Tage Lebenszeit der kleinen Marie Therese bedeuten! Man mag den periodischen Verlauf der 66 so interpretieren, dass sie am 2866sten Tag ihres Lebens in die Unendlichkeit, in das „ewige Leben" einging. Was wurde mit diesem von Pater Franz erfundenen Wunderwerk bezweckt? Was wollte man mit den „Zahlenbotschaften" erreichen? Ich glaube, wenn auf der Ebene des Mikrokosmos alles in Zahlen ausgedrückt werden kann, wenn die kleinsten pythagoreischen Zahlenatome, die Einser, eine durchgängige Verbindung zu Gott, zum Kosmos und den Sternen bedeuten, dann können das Pneuma, die Seele und auch der allmächtige, universell anwesende Geist Gottes dies wahrnehmen, dann kann man eine Botschaft ins Jenseits senden, die auch ankommt! Es wäre dies die Form eines mathematischen Gebetes und der Versuch einer Kontaktaufnahme zu höheren Sphären. Auch Kaiser Joseph hatte seinen Namen in Zahlen verwandelt - digitalisiert. Die Zahl seines Namens ist 1596. Mit diesem Wert schloss Joseph sich an den Kosmos an, speiste sich in den Lauf der Geschichte ein - seine Zahlen „wesen" noch heute im Narrenturm! 141

Der digitalisierte Monarch Anmerkungen : 1 Johann Christoph Harenberg schrieb 1733 in seinem Werk „Vernünftige und christliche Gedanken über die Vampirs oderblut-saugende Toten" (ein atemberaubender Titel, ich gebe es freimütig zu, der uns aber in dieser Arbeit nicht vom Vampir-Standpunkt interessiert, sondern wegen des nachfolgenden Zitats nicht uninteressant scheint): (über die Erkenntnis und Erkenntnisfahigkeit) „Bey Kindern und den meisten Frauenzimmer ist die Beurtheilungs-Kraft schwach und ungetrübt. Einige Menschen gehen mit solchen Wercken vielfältig um, welche die Einbildungs-Kraft zu einen hohen Grad der Lebhaftigkeit erhebet, und die Deutlichkeit der Gedancken verhindert. Hierher rechnet man die Mahler, die Bildhauer, die Leser unreiner mystischer Bücher, diejenige so ihnen durch Bilder ein Kunst-Gedächtnis gemacht haben, und dergleichen Persohnen, welche nichts denn sinnliche Vorstellungen lieben." Unter „unreinen mystischen" Büchern sind solche rosenkreuzerischer Prägung nicht auszuschließen. Harenberg war Katholik und untersuchte in seiner Arbeit die Trübung der Einbildungskraft durch künstliche und natürliche Gifte. Gewisse Menschen leiden schon von Natur aus an einer solchen: Kinder und selbstverständlich, wenngleich auch nicht alle, die „Frauenzimmer". Der aufgeklärte Mann - herausgetreten aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit" - lehnt unreine Bücher ab, die ihn vergiften könnten, macht sich kein Bild, misstraut dem Schein, verabscheut das künstliche Gedächtnis. Unklare Vorstellungen, verwischte Gedanken, verschleierte Urteilskraft, all das gilt von Anfang an für Tom Rakewell. Seine lasterhafte, ausschweifende Lebensführung, sein unmoralisches, leichtsinniges Leben führt zuletzt in die „selbst verschuldete Unmündigkeit" - er landet im Gefängnis, wo er seinen letzten Rest an Verstand verliert, und sodann im Irrenhaus. 2 Ich will damit aber nicht behaupten, die Melancholie Dürers stünde in einem direkten Zusammenhang mit dem Narrenturm - als eine Art Vorlage oder planmäßiger Entwurf für die Architektur. Vielmehr sehe ich den Stich Dürers als ein Gedächtnisbild - im Sinne eines künstlichen Gedächtnisses - an. Es finden sich darauf, zusammenfassend, alle „Grundideen", die ich für den Narrenturm annehme. Die einzelnen Gegenstände auf dem Bild stehen, so wie ich es in Erinnerung rufen möchte, für die Ideen wie die Zeit, den maschinellen Aspekt, die Zahl, die Depression etc.

142

Der digitalisierte Monarch 3 Über den Blätterkranz der Melancholie ist in Fachkreisen viel gerätselt worden. Die Liste der Pflanzen, aus denen der Kranz gewunden sein soll, ist lang. Ich erweitere das Angebot um ein Compositum aus Lorbeer und Engelwurz - im Grunde kann man aufgrund der Kleinheit des Bildes nicht genau sagen, um welche Pflanze es sich handelt. 4 Ich erinnere an Wittgensteins Leiter, vgl. Anm. 8. 5 Das Gedicht geht noch weiter: „The headstrong Course of Youth thus run, What Comfort from this darling son! His rattling Chains with Terror hear, Behold Death grappling with Despair, See him by thee to Ruin Sold, And curse thy seif, & curse thy Gold." 6 Nicht nur was das 17. Jh. angeht, stößt man auf die Lehre der Rosenkreuzer. Während des 18. und ig. Jh.s etablierte sich die „Bruderschaft" und baute das Weltbild aus. Es ist keineswegs so, dass mit dem Voranschreiten der Aufklärung die Stimmen aus dem Untergrund verstummt wären - dafiir mag der Narrenturm als Beispiel dienen. 7 Mehrfach wurde von Seiten der Freimaurer an ihn herangetreten, Logenmitglied zu werden, was der Kaiser ablehnte. Trotzdem kann man zwar nicht von offener Förderung sprechen, er unterstützte aber die Logen, indem er entgegen den Wünschen kirchlicher Kreise die Freimaurerlogen nicht verbot. 8 So findet z. B. die „chymische Hochzeit" des Christian Rosenkreutz im Jahre 1459 statt. Diese Jahreszahl beinhaltet, bildet man die Quersumme, die bereits bekannte Tetraktys: Quersumme 19, 1 + g = 10. Dabei handelt es sich um keinen Zufall, die Absicht ist auch beim Geburtsjahr Christian Rosenkreutz' erkennbar: 1378, Quersumme ergibt wiederum 19. Rosenkreuzerische Literatur ist, was Zahlen betrifft, immer auf derlei Hinweise und Spielereien zu untersuchen. 9 Man vergeiche dazu den Hinweis in Roland Edighoffers Buch „Die Rosenkreuzer", München 1995, S. 104: „Ursprünglich hatten diese Kreise keine direkte Verbindung mit der Freimaurerei, aber es bestanden gegenseitige Anziehungskräfte: von den Rosenkreuzem erhofften die Freimaurer die Enthüllung von Geheimnissen, die Reichtum, Gesundheit und langes Leben verleihen konnten, während die Rosenkreuzer in den Logen ihre hermetischen Kenntnisse zu erweitern hofften. Aus diesen Gründen ließen sich letztere oft in freimaurerische Logen aufnehmen. Herzog Franz von Lothringen, der 1736 Maria Theresia geheiratet hatte, war ein leidenschaftlicher Alchemist und

143

Der digitalisierte Monarch besaß sein eigenes Laboratorium. Schon 1751 hatte er sich in der Hoffnung, neue chemische Verfahren zu lernen, in eine Loge in Den Haag aufnehmen lassen und er wurde 1742 Mitglied der ersten österreichischen Loge ,Zu den drei Kanonen' in Wien." 10 König Friedrich von Preußen nannte Franz Stephan einen famosen Mann, der Freund und Feind gleichermaßen [...] versorgt hat! 11 In der „Allgemein Deutschen Biographie" liest man darüber: „Nicht dass er für die höheren Zwecke der Wissenschaft viel Sinn und Verständniss gehabt hätte. Aber es freute ihn, von Münzen und Medaillen, von werthvollen Steinen, von mechanischen Apparaten Sammlungen anzulegen. So muss er der Gründer des großartigen Naturaliencabinetes genannt werden, welches das österreichische Kaiserhaus besitzt. [...] Ja man erzählte von ihm, dass er mit Alchemie sich befasse, Goldmacherei treibe, nach dem Steine der Weisen suche und mit Hülfe von Brenngläsern aus kleinen Diamanten einen großen zu machen sich bemühte." 12 Ich verweise nur auf Athanasius Kircher (1602-1680), einen nicht anders als „schräg" zu nennenden Gelehrten des 17. Jh.s. Kircher war der Konstrukteur der „Laterna Magica", dem bekannten optischen Projektionsphänomen. Er versuchte sich aber auch in der Entzifferung ägyptischer Hieroglyphen und entwickelte mit ungeheurem Fleiß ein Dechiffrierungssystem hierzu. Ein dunkles Werk: „Mundus Subterraneus" befasste sich mit Drachen und allen möglichen paranormalen Erscheinungen. Er leitete in Rom sein eigenes Museum, eine phantastische „Kunst und Wunderkammer". Sein Lebenswerk ist riesig und überaus anregend - manch Schreiber von Fantasy oder Sciencefiction könnte sich ein Beispiel an Kircher nehmen! 13 Marie Therese lebte von 20. 3.1762 bis 23. 1.1770. Gemäß den julianischen Tagen hat das Geburtsdatum des Mädchens die Nummer 2364696, ihr Todesdatum die Nummer 2367562. Subtrahiert man den einen Wert vom anderen, verbleiben 2866 Tage, die Lebenszeit des Mädchens. 14 „Gematria" ist die mystische Buchstabendeutung mit Hilfe des Zahlenwertes der Buchstaben; sie findet sich bei vielen Völkern, vornehmlich aber bei den Hebräern. Durch die „Gematria" versucht man in heiligen Schriften und bestimmten Worten mystische Erkenntnisse zu gewinnen. (Frei zitiert nach dem „dtv Lexikon", ig82.) 15 S. 40 ff, Stuttgart, 1985. 16 H E entspricht dem ETA, wird also zusammengefasst. 17 Wie wir bereits sahen, ist die Zahl von Christus 801, peristera, die

144

Der digitalisierte Monarch Taube. 8 + 1 = g, da Christus auch der Menschensohn, der Sohn Gottes genannt wird, ist seine Zahl auch 9. Neun steht aber auch für 3 x 3 , die dreifach genommene Zahl der heiligen Dreifaltigkeit. Man gewöhnt sich bald daran, die Zahlen nach ihrem „wahren" Sinn zu durchforsten, sie rein visuell gelten zu lassen. 18 Ich entdeckte auch, dass diese Zahlenreihe mit dem Eröffnungsdatum des Hauses zusammenhängt, 19. 4.1784!

HS

COMPUTUS

DASZAHU-ALL

Abbildung 9

Kapitel 5

Das „Zahl-All" 1

Die Namenszahl des Kaisers ist 1596, ihre Quersumme 21, was wiederum in Klaftern dem Durchmesser des Narrenturmes entspricht. Der Name Joseph stammt aus dem Hebräischen und ist sehr alt. Schon im ersten Buch der Bibel, im ersten Buch Mose, Genesis, wird die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern erzählt. Joseph, Sohn Jakobs und der Rahel, wurde von seinen elf Brüdern in die ägyptische Sklaverei verkauft. Zunächst lebte er als Sklave bei seinem Herrn, machte aber, weil Gott stets mit ihm war, eine beachtliche Karriere und kam sogar zu höchsten Ehren, als er des Pharaos Traum von den sieben fetten und sieben mageren Jahren deutete. Ein weiterer bekannter biblischer Joseph ist natürlich der Ehemann der heiligen Maria, Joseph2 der Nährvater, ein Zimmermann. Die neutestamentarische Uberlieferung, dass Marias Ehemann Zimmermann war, regte die Freimaurer des 18. Jh. dazu an, manche Logen nach dem hl. Joseph zu benennen. So in Wien, 1771, „Zum Heiligen Joseph". Joseph, der Handwerker, der Zimmerer, verwendete auch Winkelmaß und Zirkel für seine Arbeit. Diese Instrumente sind Symbole der Freimaurer, die sich in Anlehnung an Hiram, den Erbauer des Tempels König Salomos, als Maurer sehen und Gott als dem höchsten und größten Weltenbaumeister ihre Verehrung zollen. In den deutschsprachigen Ländern kam der Name Joseph erst ab dem frühen 18. Jh. zu größerer Verbreitung.

Hl

Das „Zahl-All"

Ich konnte bereits einige Josephs in meiner Arbeit vorstellen: Joseph Franz oder Joseph von Quarin. Namenstag des heiligen Joseph ist der 19. März3. Die 19 ist für den Turm von Belang, weil sie mit dem Namen des Kaisers zusammenhängt - nicht nur über den Namenstag, sondern auch durch die Namenszahl des Kaisers - , und außerdem ist 19 eine Mondzahl. Uberraschend war es festzustellen, dass Doktor Quarin an einem 19. November geboren und an seinem Namenstag, dem 19. März, starb. Nicht unbedeutend ist noch ein dritter biblischer Joseph, Joseph von Arimathäa, der Christus nach der Kreuzigung ins Felsengrab legte und bis heute von dubiosen „Gralsjüngern" mit dem Mythos vom Heiligen Gral verbunden wird. Kaiser Josephs Vorname bedeutete ursprünglich: Gott fugt hinzu, Gott möge vermehren. Vermehren und Hinzufügen sind auch mathematische Operationen, demnach ist der Name Joseph für meine Hypothesen doppelt interessant. Der heilige Joseph als Nährvater, der als Namenspatron des Kaisers gilt, wird im Neuen Testament mehrmals genannt: im Evangelium nach Matthäus (bestehend aus 28 Kapiteln!) und dem Johannesevangelium (bestehend aus 21 Kapiteln!). Alle uns heute überlieferten Evangelien wurden in ihrem Urtext auf Griechisch verfasst. Das letzte der vier Evangelien ist das des Apostels Johannes, der als möglicher Verfasser dafür in Frage kommt. Es wird als „pneumatisch" bezeichnet, wegen seiner Anfangspassage vom Wort, das Fleisch geworden unter den Menschen lebte - der Menschwerdung Gottes. Pneuma ist in diesem Zusammenhang das Wort Gottes, aus dem alles erschaffen wurde. Auch das Johannesevangelium, wie auch alle anderen Schriften des neuen Testaments - 27 an der Zahl4 - , wurde in griechischer Sprache überliefert. Ich erzähle dies deshalb so ausführlich, weil ich glaube, dass der Kaiser seinen Vornamen in seiner griechischen 148

Das „Zahl-All"

Schreibweise, streng nach Vorschrift also, in Zahlen verwandelt hat. Das PH in Josephs Namen ist noch heute ein Hinweis auf die antike Schreibweise. Griechisch schreibt man den Namen Joseph wie folgtS; Icoar|JE NAMENSZAHL DES KAISERS.

8 X 41 - -452/ AS7b

Abbildung 10

gersinn einen Viertelkreis von 90° beschreibt, endet diese Sequenz genau dort, wo sich die eigentliche Nordrichtung im Turm befindet. Der Verlauf des Sehnengebäudes täuscht und weicht von der exakten Nordrichtung etwas ab. Norden 160

Das „Zahl-All"

liegt genau in der Mauer, die Segment 7 von 8 trennt - ich habe es selbst mit einem Kompass nachgemessen. Dieses Faktum förderte nach einiger Rechnerei ein verblüffendes Ergebnis zu Tage: Sieben Segmentteile zu 28g Jahren ergeben iggg Jahre. Der Durchmesser des Turmes beträgt 21 Klafter. Verfünffacht man nun den Durchmesser weist jedem Stock des Turmes 21 Klafter Durchmesser zu, Gesamtsumme 105, und addiert diese Zahl zu den 199g Jahren, landet man bei 2100. Mit dieser Zahl, als Jahreszahl betrachtet, hat es folgende Bewandtnis: Im Jahre 2100 nach Christus wird der Polarstern, das Gestirn, das annähernd die Himmelsrichtung zur Nacht anzeigt, seine größte Nähe zum tatsächlichen Himmelsnordpol erreichen. Der astronomische Himmelsnordpol und der Polarstern liegen nicht exakt beisammen. Aufgrund der Präzessionsbewegung des Himmelsnordpols werden im Laufe der Zeit verschiedene Sterne zum Polarstern, an dem man sich orientieren kann. So weiß man z. B., dass die Wikinger bei ihren Seefahrten einen völlig anderen Stern als Nordstern ansahen als wir heute. Heute ist der die Nordrichtung andeutende Stern „Alpha" im Sternbild des Kleinen Bären. Den Wikingern leuchtete hingegen „32 H Camelopardalis", nach dem sie auf hoher See navigierten. Im Jahr 2100 wird der Stern „Alpha" seine nächste Nähe zum hypothetischen Himmelsnordpol aufweisen, dann wird er ungefähr 28' (!) Bogenminuten von diesem entfernt sein, was ziemlich genau einer „Vollmondbreite" entspricht! Schöner kann sich der Bezug zum Mond, zu den Sternen, zur Nordrichtung, zur Zahl 28 gar nicht im Turm offenbaren! Diese Werte waren zur Zeit des Kaisers Joseph bekannt und flössen in die Struktur des Gebäudes ein. Die Präzessionsbewegung, die für die Wanderung der Polarsterae verantwortlich ist, wird auch das „platonische 161

Das „Zahl-All"

Welt- oder Großjahr" genannt. Diese Periode dauert 25784 Jahre. Der Himmelsnordpol beschreibt während dieser Zeit einen Kreis, da die Erde aufgrund ihrer Schräglage im Raum und ihrer Polabplattung wie ein Kreisel rotiert. Diese Drehbewegung, vgl. Abbildung 11, wird durch die Anziehungskräfte von Sonne und Mond mitbestimmt. Die Präzession der Äquinoktien (des Frühlingspunktes) oder des Himmelsnordpols wurde schon in der Antike von Hipparch (190-125 v. Chr.) entdeckt. Erst Isaac Newton berechnete sie näher - unter Verwendung der von ihm entdeckten Gravitationsgesetze - und versuchte damit ebenfalls den Zeitpunkt der Erschaffung der Welt auszurechnen. Die Dauer der Präzession wurde Piaton zu Ehren als „platonisches Jahr" bezeichnet. In seinem Dialog „Timaios" schildert der Philosoph, wie die Zeit entstand und wie der Mensch dadurch zu seiner Seele kam. Im Übrigen ist Piaton in seinem Dialog der Ansicht, dass es sieben verschiedene Bewegungsarten gibt, deren vollendetste die runde, die Kreisbewegung ist. Worum geht es nun in diesem Buch, das als das Hauptwerk aller Zeittheorie und Kalenderwissenschaft angesehen werden muss, da darin erstmals eine fundamentale Erklärung der Phänomene Zeit und Raum gegeben wird? Timaios, ein Mann aus dem näheren Umfeld Piatons, einer der Schüler des großen Sokrates, hält einen Vortrag: von der Genesis, der Erschaffung der Welt, bis zur Darstellung der Physis des Menschen. Kritias, ein bei diesem Vortrage anwesender weiterer Schüler, besteht darauf, dass Timaios erklärt, wie der Mensch entstanden, wie die Zeit, wie der Mensch zu seiner Seele gekommen, wie die Weltseele überhaupt sich gebildet hat. Der solcherart in der Phantasie geschaffene, fiktive Mensch des Timaios, als eine Idee des Menschen, sollte 162

Das „Zahl-All"

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Abbildung II

vom weisen Sokrates ausgebildet und unterwiesen werden. Kritias, als Historiker, würde diesen erschaffenen und von Sokrates erzogenen Menschen in die Urgeschichte der Stadt Athen stellen, gleichermaßen an den Beginn des geordneten Staatswesens, das ja, nach Meinung der Griechen, den Beginn der Ordnung auf Erden darstellte. Der Kosmos und die „Politeia", das Staatswesen, wurden somit in Verbindung gebracht. Dies erinnerte mich frappant an den wohl /63

Das »Zahl-All"

eingerichteten absolutistischen Staat Kaiser Josephs II. Die ewige Ordnung der Sterne sollte sich im Staatswesen spiegeln, ja die Ordnung des Kosmos mit der Ordnung des Staates verschmelzen, der Makrokosmos sich mit dem Mikrokosmos verbinden. Die göttliche Ordnung, die allumfassende Ordnung eines tätigen Schöpfergottes - in der Form kosmischer, stellarer Rundläufe, wurde auf die Erde projiziert. Dem nach der göttlichen Idee geformten Staat sollte eine nach der Idee des Kosmos gestaltete Welt an die Seite gestellt werden. Joseph II. formte so einen aufgeklärten und absoluten Staat. Dabei ließ er sich von den „Ideen" leiten. Man muss ihn sich vorstellen, wie er - nach Berichten oft mehrmals die Woche - die Stiegen zum Oktogon des Narrenturmes hinaufstieg. Oben im Turmzimmer beobachtete er die Sterne, versuchte, vielleicht auch unter fachkundiger Anleitung, seine Schlüsse aus den Gesetzen des Kosmos zu ziehen. Joseph markierte das obere Ende einer Skala, die den Staat darstellte. Die Kranken im Turm waren ihr unterer Bereich - somit die Marksteine, die Begrenzungen festlegten. Ein Resultat der Vorstellungen und Ideen vom Kosmos des Kaisers war die Architektur des Turmes. Durch die Zahl seines Namens konnte er sich im Zahlenstrom der Zeit verankern, der Narrenturm, sein Werk, kündete dann auf lange Zeit für diejenigen, die es verstanden, von seinen Ideen, seinen Vorstellungen von der Zeit. Doch nicht nur das: Der Narrenturm stand auch als Denkmal für sein zweites Ich, für Namen und Zahl seiner Tochter. Die „Weltschöpfung" des Timaios war mit dem Werden verknüpft, der Entstehung der Zeit, die als Großbewegung des Stellarsystems entstand: das nach Piaton benannte platonische Jahr. Timaios konstruierte eine mythologische Kos164

Das „Zahl-All"

mologie, die sich von jener der Physiker und Astronomen unterschied. Joseph war aber viel zu aufgeklärt, um sich dem Mythos zu verschreiben - sein Turmsystem war den Gesetzen der Himmelsmechanik verpflichtet und versinnbildlichte einen neuen, modernen, zugleich aber auch magischen Zugang zur Natur, zum Menschen und all den damit verbundenen Erscheinungsformen. Dennoch: Zur Zeit des Kaisers war die Wissenschaft noch nicht genau das, was wir heute darunter verstehen: Irrige Annahmen beherrschten das Paradigma, wer, so könnte man heute fragen, wer irrte damals nicht. Josephs Theorie war noch religiös motiviert, irrational und einem magischen Weltbild verhaftet, die Methode jedoch entsprach den wissenschaftlichen Standards seiner Zeit. Bei Piaton war Gott der Demiurg, der Handwerker - ein Wesen, dem Joseph seine volle Bewunderung entgegengebrachte, das nach einem ideellen Plane arbeitete und wirkte, immer diesen Plan im Auge behielt, den es auszufuhren galt. Es gab einen Plan, die Heilung der Geisteskranken war das Ziel, sie waren der neu zu formende, neu zu organisierende Stoff. Piaton postulierte über dem Demiurgen, dem Weltbildner und allmächtigen Schöpfer noch ein gewaltiges Reservoir an Ideen, die Welt der Schatten, der Ideenschatten. Das Ideenreich, das auch Giordano Bruno für sich nutzbar machen wollte. An dieses Reich war das Schaffen Gottes gebunden, mehr vermochte selbst er nicht hervorzubringen, da darin, in jenem gigantischen Weltallslager, einem riesigen Bildspeicher, alles enthalten war und nur Gott allein konnte darauf zuückgreifen. Gott entnahm daraus und wog ab, passte es ins bestehende große Ganze ein. Dies Reich der 16s

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Ideen enthielt die ewigen Normen, denen sich auch ein Gott zu unterwerfen hatte, sofern er nicht willkürlich, sondern gemäß seinen Gestzen über die Welt herrschen wollte. Joseph, sich dessen bewußt, setzte seine Person an die Stelle des Oktogons ein - als Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Somit wurde er tatsächlich zum Ersten nach Gott, der direkt an die Ideen gebunden, die Ideen des göttlichen Gestzes auf die Erde brachte und ihre Umsetzung ermöglichte. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist der Umstand der josephinischen Landesaufnahme, der Vermessung und vollständigen Kartographierung des Reiches um Ordnung ins Chaos zu bringen; eines jeden Ortes geographische Länge und Breite wurde bestimmt, festgelegt und katalogisiert: die himmlische, die kosmische Ordnung auf die Erde herabgeholt19 und ausgebreitet, somit entstand ein den Ideen, den Gesetzen folgender, ja diesen entsprechender Staat. Die Ordnung des Kosmos muss zeitlos gültig sein. Der Kosmos Piatons war kein Werk der Physis, der sich selbst regulierenden Natur, sondern ein Produkt göttlicher Technik. Die Ideen standen außerhalb der Sinnenwelt, der Mensch, Kaiser Joseph II., allein vermochte ihre Schatten, ihre Auswirkungen und Objektivationen zu erkennen. Die Welt muss wie jedes Geschaffene, wie jedes Artefakt einen Anfang haben: der Beginn der Präzession vielleicht, wobei man diese zu jeden Zeitpunkt innerhalb der zyklischen Drehung beginnen lassen kann. Der Schöpfer ist der Architekt des Weltalls. Der Demiurg übernahm das Reich des Sichtbaren, des Geschaffenen, im Zustande einer ohne Maß und Regel vor sich gehenden Bewegung und führte es aus dem chaotischen 166

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Zustand zur Ordnung. Daraus entstand ein beseeltes, vernünftiges Wesen - der Kosmos, der alle ihm von Natur aus verwandten Wesen in sich barg. Der Kosmos schloss alle denkbaren Geschöpfe in sich ein. Alles ist in ihm enthalten. Die Welt sollte ein sieht- und fühlbarer Körper werden. Zuerst bewegte sich ein Punkt, dadurch entstand die Linie und durch die erneute Bewegung kam man zur Fläche, die, sofern nochmals bewegt, den Körper erzeugte. Die Gestalt des Raumes war demnach das Produkt der Bewegung, womit wir beim Turm wären, denn dieser entspricht den angenommenen Bewegungen des Kosmos und dem Zeitraum des Geschichtsverlaufes - zum Heile hin, also dem Heilsgeschehen. Die Kranken werden in diese Ordnung eingebettet und die Zahlen des Turmes begannen sich helfend und schützend auszuwirken, denn die induzierte, in den Turm gebrachte Bewegung breitete sich aus auf den unterentwickelten, beschädigten Geist. Obwohl der Turm stillsteht - er ist eine Immobilie - , wirkten Spuren der starken göttlichen Bewegung in ihm, wie bei einer Maschine, die sich nicht bewegt, deren bewegliche Teile Menschen sind, deren Seelen - wie in einer Werft - ausgebessert und repariert wurden. Der geschaffene Weltkörper Piatons bestand aus vier Elementen: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Dazu die Zeit, die Quinta Essentia, die Bewegerin des Kosmos. Die Bewegung der Turmmaschine lag auch in der verfließenden Zeit. Aus den Bewegungen von Punkt, Linie, Fläche und Körper, nebst den vier Elementen - um den Körper auszufüllen, ergab sich die runde Form des Endresultates bei Piaton: eine in sich abgeschlossene Kugel, die sich um die eigene Achse im Kreise drehte. Die Kreisbewegung galt dem Philosophen unter den 7 platonischen Bewegungsarten als die Vollkommenste, die der Vernunft und der Einsicht am 167

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nächsten stand, denn nach seiner Ansicht vollzog sich das rechte Denken des Menschen in Zyklen oder Kreisläufen. Nach dem Ur- bzw. Vorbilde des göttlichen Wesens, des Weltbaumeisters, entstand die Sinnenwelt - als ein Abbild eben seines Wesens. So entstand mit dem Himmel und den Sternen zugleich die Zeit, als ein bewegtes Abbild der Ewigkeit - in unserem Falle wurde die Ewigkeit endlich und sinnlich wahrnehmbar, erfassbar - durch die Turmarchitektur. Das Ganze füllte Piaton mit vier Arten von Lebewesen: dem himmlischen Geschlecht der Götter - von ihnen stammten die Götter und Dämonen des einfachen Volksglaubens ab. Sie erzeugten, im Auftrage des Demiurgen, die drei anderen Arten: für die Luft die Vögel, die Fische im Wasser und die verschiedensten Lebewesen des Landes. Dazu stellte der Demiurg Unsterbliches zur Verfügung, wenn man will, die Seele, die aus dem riesigen Kontingent der Weltseele stammte: der Sonne. Alle anderen Lebewesen wurden so ins Dasein geführt. Die Mischung der Seelen der Lebewesen entsprach einer weniger reinen Abart der Weltseele, die ihrer ursprünglichen Grundsubstanz aber ähnlich war. Die von den Göttern beseelten Körper bestanden aus den vier Elementen. Das Sehvermögen des Menschen, der Gesichtssinn, wurde dem Menschen gegeben, damit er aus der Betrachtung der Kreisbewegungen am Himmel Nutzen ziehen konnte - für die Gestaltung der Umläufe des Denkens. Das Gehör diente der Wahrnehmung himmlischer Harmonie, nach der die unharmonischen Seelenzustände harmonisiert und ausgeglichen werden sollten. Das Oktogon am Dache der Sehne symbolisierte den platonischen Luftkörper, denn durch die Luft und den Wind entzog man dem Ort das Miasma. Die Seele aber 168

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stieg durch die Luft bis in den Kosmos, ins Weltall, dem Göttlichen zu und fand Frieden, Heilung. Von der Beschaffenheit der Elemente hing auch die Art des Sinneseindruck.es ab. Die Vernunft erhielt ihren Sitz im Kopf. Bei „Timaios" werden auch die Krankheiten des Körpers und der Seele behandelt, wobei er ausdrücklich festhielt, dass man eigentlich als Geisteskranker nichts dafür konnte, so zu sein, wie man ist, ganz im Gegensatz zu späteren Annahmen, denn die Elemente wären nur schlecht gemischt und daher sei ein Ausgleich zu schaffen. Die Gesundheit erhielt man sich am besten, wenn man auf die Harmonie von Leib und Seele achtete. Bei den Tieren verhielt es sich anders, deren Seelen scheiterten. Nach ihrer Bestimmung verfehlten sie das Ziel: Oberste Entwicklung war der Mensch und aus ihm gingen die übrigen Lebewesen hervor. Die Tierseelen gaben sich den niederen Einflüssen 20 hin und entwickelten keine Vernunft. Das oberste Ziel Piatons war die Vernunft. Man gab sich den Einflüssen der niederen Seelenteile hin: der Mut sitzt in der Brust, Begierde im Unterleib, die Leber ist das Organ der Träume und der Prophetie. Zur Strafe für sein ausschweifendes Leben wurde der Mensch in ein Tier verwandelt: Verlust und Gewinn von Vernunft und Unvernunft wechselten ihre Gestalt. War dies der Glaube des Kaisers? Möglicherweise. Wenn Gott das Weltall ist und alles in ihm enthalten ist, dann auch in den Kranken, und er konnte heilen, nachbessern am Werk. Dies erinnert an die Freimaurer - mauern, gestalten und die Rosenkreuzer mit ihrer inneren Alchemie. Selbst die Geisteskranken mit ihren „triebhaften Tierseelen" konnten empor zum Licht der Gotteserkenntnis gelangen. Womit wir bei der Denkmaschine wären, die der Turm in praktischer Auswirkung sein sollte. 169

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Die Denkmaschine sollte helfen, die Gedanken, den verwirrten Geist zu ordnen, damit sich dann - innerhalb der ausgebildeten Mentalstrukturen - die Herrlichkeit Gottes widerspiegelte und im Kopf neu organisiert und dauerhaft festgesetzt würde. Naturerkenntnis, Forschung, Finden von Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten wird zur Gottsuche - mit der Möglichkeit, dass Gott sich offenbarte - in Form der Zahl und den Bewegungen des Kosmos. Nach diesem längeren Exkurs möchte ich die Leser bitten sich vorzustellen, wie sich die 25784 Jahre um das Gebäude der Anstalt schlingen und verteilen. Die Zeit nimmt Gestalt an, bildet sich zu einem mythischen Lebewesen: dem Ouroboros. Der Ouroboros ist die - viele kennen das Symbol gekrönte Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und mit ihrem Körper einen Kreis bildet. Sie galt den Alchemisten als die Königin der Zeit, ja sie steht für die Zeit ganz allgemein. Im Grunde aber ist sie nichts anderes als die Bewegung, die kosmische Schwingung der Präzession. Die Präzession wird in verschiedenen Werten angegeben, die alle um die Zahl 25700 liegen - man sieht dadurch ganz gut, dass die exakten Wissenschaften auch manchmal völlig verschiedene Werte annehmen. 21 Nun stellte ich mir die Frage, was wohl passiert, wenn ich 25785 durch 28 Teile? 920,85714 ... hinter dem Komma der mittlerweile bekannte Rattenschwanz. Das Ergebnis ist mäßig, ich weiß. Dann kam mir aber die Idee, Folgendes auszuprobieren: Wie viele Segmente von ca. 921 Jahren wären notwendig, um aus ihnen das Tempus Historicum zu bilden, denn nachdem ich das Tempus erst einmal im Turm verwendete, schien es mir höchst wahrscheinlich, dies auch mit der Präzession zu versuchen, die für sich allein jedoch 170

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Abbildung 12

einen höchst sperrigen Wext darstellte, der sich nur schwer auf die Turmarchitektur anwenden ließ. Ich dividierte das Tempus durch die Jahre, die auf ein Präzessionssegment kommen:

7980 : 920,85714 ...

Das Ergebnis lautet: 8,66s22, leicht gerundet 23 . Hier offenbarten sich wieder die obig bereits beschriebenen Chiffren 8 und 66. Ich legte nun für den Turm und die Segmente eines Stockes ein Verhältnis fest, das 8,66 und 19,33 ausmachte. 19,33 Segmente verblieben also. Da ich ja die Zahlen als Chiffren, sprechende, symbolgeladene Zahlen, ansehe, begann ich ein171

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fach mit folgender Rechnung: 8 x 66 = 528 - diese Zahl ist die Fläche des Zylindermantels. Dann folgte ich - ich kann es nicht anders ausdrücken - einer Intuition und dachte mir, was geschieht weiter, wenn ich die Ziffern der Zahl 528 umstelle? Ich probierte also alle Permutationen durch: 528, 582, 285, 258, 852 und 82g - addierte: das Ergebnis: 3330. Das Gleiche versuchte ich nun mit den Zahlen 19 und 33:19 x 33 = 627, stellte erneut um: 627, 672, 276, 267, 762 und 726 - addierte: das Ergebnis: 3330! An dieser Stelle, ich sage es frei heraus, wurde mir etwas heiß, ist doch, sofern man nun die beiden 3330 addiert, deren Gesamtsumme 6660, streicht man die Null: 666, die Zahl des Tieres aus der Apokalypse des Johannes! Aus dem Ozean der Zahlen tauchte es langsam auf. „Hier braucht man Kenntnis. Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.", wetterte der Schreiber der Apokalypse, Johannes, in Kapitel 13/Vers 18, das Werk ist übrigens voll von zahlenmagischen Anspielungen. Sofort begann ich nach dem Namen zu forschen, allein ich fand nichts Einschlägiges, bis ich ... - Geduld, ich verrate es gleich. Vielleicht, so überlegte ich, könnte dies der Grund dafür sein, warum es im Turm kein Wasser gab. Damit das Tier - es soll ja aus dem Meer kommen - keine Chance hätte, sich der schwachen Geister der Patienten zu bemächtigen. Außerdem wäre - man vergesse nicht den, trotz Aufklärung und wissenschaftlichem Fortschritt, starken Glauben jener Zeit, Joseph hatte die Bibel gelesen, ja sogar deren historische Bücher richtig studiert - die Bestie ja im Irrenturme gut verwahrt und in den Mauern eingekerkert. Meine Spekulationen verliefen im Sand. Dann jedoch fand ich eine mögliche Lösung des Problems. i-]2

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Welche Zahl kann man ermitteln, löst man den Namen der Kaiserin Maria Theresia 24 gematrisch in Zahlen auf? Ich benützte dazu für den Namen Theresia die richtige griechische Schreibweise: $T|peaia - Theta, Eta, Rho, Epsilon, Sigma, Iota, Alpha - Theresia. Die zuzuordnenden Zahlen im Apokalypsenbingo lauten: Theta = 9; Eta = 8; Rho = 100; Epsilon = g; Sigma = 200; Iota = 10; Alpha = 1. Die Summe: ein „Halbleviathan" beträgt 353. Maria belässt man in ihrer lateinischen Form und löst die Buchstaben in Zahlen auf: M = 40; A = 1; R = 100; I = 10; A — 1. Summe: 152, also fürs Erste unverfänglich und uninteressant, wüßte ich nicht, dass die 152 auch auf eine andere Art und Weise zu errechnen sind. Hiezu bediene man sich wieder der Abbildung 10 zur besseren Illustration: Nach Scaliger, der diesen Wert von Calvisius (vgl. Anm. 18) übernommen hatte, schuf Gott die Welt im Jahre 3949 v. Chr. Was nun den Leviathan anlangt, müssen wir im heilsgeschichtlichen Zahlenbereich bleiben und dürfen nicht den Beginn des Tempus Historicum für die apokalyptische Rechenoperation verwenden. Seit Anbeginn der Welt, da Gott den Schöpfungsakt vollzog, vergingen bis 1784 5733 Jahre. Ganz so wie bei der Rechnung mit dem Polarstern und der Nordrichtung teilte ich diesen Wert in sieben Segmente - mit der Nordrichtung bildete sich ein Halbkreis25, leicht gegen den Verlauf der Sehne geneigt. 5753 - erneut eine „sprechende Zahl", wegen der 57 und der 33 - teilte ich weiter durch sieben: 5733 : 7 = 819. Der Verweis auf die 8 und die 19 ist fast schon überflüssig: Die Zahl 819 wird optisch zerlegt, in 8 und ig und miteinander multipliziert: Ergebnis: 152 (!) zugleich die Namenszahl Mariens. 173

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Ich erinnere nun an die Addition von 10g an die 1995 Jahre, um die Nordrichtung zu ermitteln, so ähnlich geht man nun weiter vor. 152 multipliziert mit dem Radius des Turmes: 10,g Klafter, Resultat: 1596, die Namenszahl des Kaisers „Josephos". Womit bewiesen ist, dass manchmal auf recht einfache Weise spektakuläre Ergebnisse zu erzielen sind. Was sagen uns diese Zahlen? Sie sagen, dass Joseph zum einen seine Mutter abgrundtief verabscheut und gehasst haben muss, zum anderen, dass er sie zugleich abgöttisch liebte und verehrte - einfach gesagt, setzte er eine prächtige Neurose in Zahlenwerte um. Seine Mutter, die ihn ihr Lebtag lang unterdrückte, wurde ihm unerträglich, zum Leviathan, und dennoch verband ihn mit ihr das Band der Liebe, als ihr verzweifelter Sohn. Was nun seine Tochter gleichen Namens angeht, so unterscheidet sie sich durch die Schreibweise von der ihrer Großmutter. Ihr sendet er seine Vaterliebe ins Jenseits nach, der Mutter aber seine Hassliebe. Vielleicht empfand Joseph dies sogar selbst als anmaßend und anstößig gegenüber seinem Glauben und dem Gedächtnis an die beiden Toten. Das Eigenartige ist aber dabei, dass er dadurch, weil die Stätte seines eigenwilligen Gedenkens im Irrenhaus lag, er seinen Frevel sofort wieder sühnte, im selben Moment, da er ihn, durch seine körperliche Anwesenheit im Turme versinnbildlicht, aussprach. Auf Gotteslästerung stand Irrenhaus und der Narrenturm stellte aus diesem Blickwinkel eine gefährliche Versuchung Gottes dar. Ich weiß, was ich soeben schrieb, muss nicht unbedingt so sein und bewegt sich auf dem Boden der Spekulation, außerdem kann man einen Menschen, der lange Zeit vor

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der unseren lebte, nicht mehr therapieren. Im Bereich des Möglichen scheint es mir aber allemal. Die Chiffre 8,66 - die Tage seit der Geburt Josephs Tochter: 8066 waren bis zu Eröffnung vergangen, das Produkt von 8 x 66 fuhrt in den Bereich der Offenbarung was konnte sie noch bedeuten? Ich entdeckte noch eine „Anwendung" derselben, die damals viel besprochen wurde und jedem astronomisch Gebildeten ein Begriff gewesen sein musste. 8,66 war die Sonnenparallaxe, die 1769 beim „Venusdurchgang" bestimmt wurde. Maßgeblich an deren Berechnung beteiligt war ein in Wien lebender und lehrender Jesuit: Maximilian Hell. Im Jahre 1769 ereignete sich ein höchst bemerkenswertes Naturschauspiel, das in rund hundert Jahren nur zweimal stattfindet und dann ziemlich knapp hintereinander: ein „Venusdurchgang". Dabei zieht die Scheibe des Planeten Venus vor der Sonne vorbei. Der englische Astronom Edward Halley regte im 17. Jh., als einer der Ersten, die überhaupt einen „Venusdurchgang" beobachteten, eine Methode an, die ihm geeignet erschien, endlich die exakte Entfernung der Erde zur Sonne zu bestimmen. Bis dato war dies nämlich ein reiner Schätzwert, Genaueres wusste man noch nicht. Mit Hilfe der gemessenen Winkel bei einem Venusdurchgang ist es möglich, durch trigonometrische Verfahren den Abstand zu ermitteln. Dabei wird der Parallaxenwinkel Erde-Sonne durch Beobachtung gemessen. Der damals beobachtete Durchschnittswert lag bei einer Parallaxe von ungefähr 8,66". Erwähnenswert zur ersten vollständigen, wissenschaftlich exakten Beobachtung eines Venusdurchganges ist der Umstand, dass sich 176g, nach dem Ende des „Siebenjährigen Krieges", alle europäischen Nationen daran beteiligten. I7S

Das „Zahl-AW1 Leider war das Phänomen in Europa nur unzureichend zu sehen und so brachen die Forscher in die entlegensten Gegenden auf um Daten zu sammeln. James Cook beobachtete das Schauspiel auf Thahiti, der Österreicher Hell reiste in den hohen Norden Norwegens, nach Wardöhus am Eismeer, und lieferte gute Ergebnisse. Leider stellte sich heraus, dass Pater Hell seine Daten etwas frisiert hatte, was das Endergebnis der Gesamtbeobachtungen aber nicht weiter störte. Nachdem ich bis jetzt alle möglichen Aspekte der Zahlen des Turmes und ihrer Anwendungen verständlich zu machen versuchte, wie der Kaiser seinen Namen ins Gebäude brachte, den seiner Mutter, seines Kindes, astronomische und chronologische Fakten, Zeit und Raum, Gott selbst und den „Heiligen Geist", sei noch auf zwei gewichtige Aspekte hingewiesen. Nach den julianischen Tagen hat der Geburtstag Josephs die Nummer 2357019. 57019 ist wieder sehr auffallig: Zahlen des Mondes, Josephszahlen. Die 23 - vor nicht allzu langer Zeit gab es sogar einen Kinofilm über diese Zahl - gilt manchen als Verschwörungschiffre, was ich aber nicht annehme, sie ist nicht von Belang, außer man bildet daraus die Zahl 5 - aus 2 + 3. Fünf mal 57 gerechnet, ergäbe 285. 57019 kann man, der Zahl 8066 vergleichbar, auch wieder so interpretieren, dass 57 Minuten die Mondparallaxe andeuten, die Null für den Vollmond steht und die 19 den metonischen Mondzyklus darstellt. Die ganze Zahlenfolge kann aber auch noch anders verwendet werden! Wenn ich die 66 Umfangskiafter durch 28 teile, kommen auf jedes Segment: 2,3571428 Klafter. Rein den Ziffern nach stimmt die Folge, was die ersten vier betrifft, überein - was mich auf folgende Idee brachte.

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Ich setzte das julianische Datum des Kaisergeburtstages anstelle der aus dem Umfang ermittelten Zahl: 2,357019 ein Wert, der für eine Rückrechnung des Umfanges genau genug erscheint: 2,557019 x 28 = 65,9965 Klafter, ein akzeptables Resultat. Aus diesem Umfang rechnete ich nun den Radius des Turmes aus: 65,9965 : 5>m59 2 = 21,0073 Klafter. Die Hälfte davon: 10,503676 Klafter, ist der Radius. Ich berechnete die Turmfläche: r^lt : 10,503676 x 3,141592 = 346,60304 Klafter2. Ich weiß, dass dieser Wert einem „Uneingeweihten" rein gar nichts sagen wird, jeder Amateurastronom wird aber darin das „Finsternisjahr"26 erkennen, mit dem man den „Saros" berechnen kann, einen Zyklus für Sonnenfinsternisse, mit dem die Babylonier ihre astronomischen „Weissagungen" voraussagen konnten. 19 dieser Finsternisjahre ergeben die Anzahl der Tage, die einen Saros ausmachen: 346,60504 x 19 = 6585,46 Tage. Die Babylonier, die den nächtlichen Sternenhimmel sehr genau beobachteten, bemerkten, dass sich Finsternisse nach diesem Zeitraum wiederholten. Allerdings nicht unter den gleichen Umständen. Thaies von Milet konnte eine Sonnenfinsternis voraussagen, 585 v. Chr., weil er mit einem Saroszyklus rechnete. Was Adalbert Stifter bei der Beschreibung der Sonnenfinsternis in Wien, 1842, von der Gottesnähe schrieb, die er verspürte, als die Sonne sich durch das dunkle Siegel des Mondes verfinsterte, kommt auch beim Narrenturm zur Geltung. Das Finsternisjahr, die im Schatten Gottes vergehende Zeit, wird durch die Fläche sichtbar, zugleich aber 177

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bleibt sie im Dunkeln, belastet durch das Gebäude, das darauf gebaut ist. Die Finsternis des Wahnsinn hervorrufenden Mondes verdeckt das Licht der göttlichen Sonne. Aber Gott gab allem ein rechtes Maß, wie Stifter schrieb, und so wandert die Scheibe des Mondes vor der Sonne vorbei. Die Verdunkelung des Gemüts, die Umnachtung des Geistes verweht wieder - durch das Walten des Schöpfers, der in die tägliche Realität des Narrenturmes eingriff. Von Kaiser Joseph wird viel Kurioses und Spleeniges berichtet. Zweifellos war er kein einfacher Mensch. Alle seine Versuche, sein „Wollen" - nach eigener Aussage hatte er „immer nur gewollt" - muteten seinen Zeitgenossen und auch uns oft merkwürdig an. Historische Untersuchungen gehen auf seine Neigungen und seinen Charakter oft nur in Randglossen und Anmerkungen ein. Sämtliche Werke zu seiner Person, die noch zur Zeit der Monarchie erschienen, halten sich diesbezüglich - aus Rücksicht auf das Kaiserhaus und in repressiveren Zeiten auch wohl aus Rücksicht der Autoren auf sich selbst - zurück. Joseph II. war ein Spinner, ungeachtet seiner Leistungen und Verbesserungen, die nicht zu leugnen sind. So „schräg" und unglücklich er, der sich gerne als „Schätzer" der Menschen sah, als einer, der die Menschen aber nicht unbedingt liebte, auch war, gerade so könnte ihm auch das Gefüge des Weltalls erschienen sein, das in der Natur seine Entsprechung in der „Schiefe der Ekliptik" fand. Als Joseph Franz, der Konstrukteur des „verrückten Uhrwerks" des Narrenturmes, dem Kaiser seinen Plan vorlegte, zum Trost über den schmerzvollen Verlust seiner Tochter, war erst ein christliches Jahrtausend vergangen. Diesen ersten Zeitabschnitt christlicher Rechnung kann man in der i78

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typisch versteckten Form der Zahlen im Turm aufspüren. Die Leser mögen wieder meine Skizze zur Hand nehmen (Abbilung 9 oder 10), um zu verstehen, was ich meine: Die Bogenlänge eines Zellensegmentes entlang der äußeren Begrenzungsmauer beträgt 2,5571428 Klafter. Wie ich bereits beim Finsternisjahr zeigen konnte erzielt man einen guten Wert, nimmt man das julianische Geburtsdatum des Kaisers als Umfang. In diesem Falle jedoch verweist die julianische Zahlenfolge auf etwas gänzlich anderes: den Winkel des Erdäquators zur Ebene der Erdbahn um die Sonne, der Ekliptik. Ich setze die 2557019 Tage gleich einem Winkel der Ekliptik von 25,57019°. Die Ekliptik ist ein veränderlicher Wert und schwankt über einen langen Zeitraum von rund 40000 Jahren zwischen 21° 55' und 24° 18'. Pro Jahr nimmt die Neigung um 0,47" ab. Bezogen auf den Standardwert des Jahres 1900, ergibt sich für den Narrenturm - unter Verwendung der obgenannten Ziffern - ein Winkel von 25° 54' 12,68". Dieser Ekliptikwinkel entspricht einer Zeit um das Jahr 1000. Nimmt man aber nicht den Wert des josephinischen Geburtsdatum, sondern den tatsächlichen ZifFernbetrag, der entsteht, wenn 66 durch 28 geteilt wird, dann verweist der Ekliptikwinkel auf den Zeitpunkt von ca. 1060 n. Chr., ziemlich genau dort, wo man eine Lücke in den merkwürdigen 552-Jahr-Perioden findet. Die Himmelsmechanik, die hier nur kurz angerissen werden konnte, bringt uns in das Oktogon am Sehnendach, in das nächste Kapitel: „Weit in die nebelnde Fern' ein Mann durchspäht mit den Augen, sitzend auf luftiger Wart', in das finstere Meer hinausschauend: So weit heben im Sprung sich der Götter schallende Rosse" (Homer, Illias, V 70). 179

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Der in die nebelnde Fern' spähende Mann ist Kaiser Joseph, der Götter schallende Rosse, die Planeten im All, die auf ihrer Bahn durch den Kosmos rasende Erde.

Anmerkungen: 1 Ich weiß, die ewige Fußnotensetzerei ist eine Unart, zwingt sie doch die Leser andauernd zur Unterbrechung ihrer Lektüre, besonders wenn man schon in der Überschrift eine solche vorgesetzt bekommt. Aber, wenn schon in diesem Kapitel vermehrt von den Zahlen die Rede sein wird, der Titel schon auf das All, das Weltall vorbereitet, dass - wie man des Weiteren sehen wird - vornehmlich aus Zahlen und Ziffern besteht, aus dem ultimativen Zahlatom der Pythagoräer, der 1, sich zusammensetzt, so sei durch diese erste Fußnote nur daran erinnert. Ich las das „Titelwort" zuerst, zwar nicht in dieser, meiner Form mit dem Bindestrich dazwischen - in Arno Schmidts Typoskriptroman „Die Schule der Atheisten", dort gleich am Beginn der 9. Scene, Abschnitt 1: „(hinter Mitternacht./ Ein greiser Mann am StehPult, (»Meine Lampe ist meine Sonne«; er spielt wohl oder übl das Allesschläft= Einsamwacht); vor ihm ein altes Buch, in das ein Käfer sich labyrinthische Schluchtn gefressn hat, (wie Pym=seine; auf Zahlall) ..." Pym, der Held aus Edgar A. Poes „Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket", einem höchst merkwürdigen Reiseroman, gelangt gegen Ende seiner abenteuerlichen Fahrt auf eine geheimnisvolle Insel namens Tsalal. Dort findet er ein labyrinthisches Grabensystem, das bei Arno Schmidt nicht umsonst ein Käfer in die Seiten eines Buches gefressen hat, dann, auf einer Landkarte oder aus der Luft besehen, entpuppte sich das Labyrinth auf Tsalal als altertümliche Schrift. Schmidt nannte den ersten Teil seines „Zettels Traum", einem wahren Monstrum an Buch, „Das Schauerfeld oder die Sprache von Tsalal". Der Autor war profunder Poe-Kenner und übersetzte auch einen Teil der Geschichten Poes aus dem Amerikanischen ins Deutsche. Die Sprache von Tsalal, einer Insel nahe am Südpol, ist seinem Dafürhalten nach ein „korrumpiertes Hebräisch". Wenn Schmidt nun in der „Schule der Atheisten", einem weiteren 180

Das „Zahl-All" Roman, die Hauptfigur Kolderup an „Zahlall" denken läßt, macht er dies nicht ohne Grund. Hebräische Buchstaben werden ja bekanntlich bei kabbalistischen Operationen in Zahlen umgewandelt. Die Sprache Tsalals ist eine Art Hebräisch - der Begriff „Zahlall" trifft diesen Themenkomplex in Schmidts Werk ganz genau. Schmidt war besessen von Logarithmentafeln, mathematischen Tabellenwerken, tausende Zahlen, Zahlenkolonnen, die er eigenhändig mit einer einfachen mechanischen Rechenmaschine errechnet hatte. In seinem letzten, aufgrund seines vorzeitigen Todes Fragment gebliebenen Roman „Julia oder die Gemälde" lässt er eine Person mit einem Computer die alten Logarithmentafeln nachrechnen. Ich werde bei Schmidt nie den Verdacht los, dass er sein Leben auf irgendeine mysteriöse Art mit den Zahlen verwoben sah, ungefähr wie: Aus den Zahlen bin ich entstanden und zu den Zahlen - ins Zahlall kehre ich zurück. Nicht, dass ich damit sagen möchte, Schmidt hätte den Narrenturm auch nur dem entfernten Hörensagen nach gekannt, sicher nicht; aber seine intensive Beschäftigung mit dem Werk Poes - das seltsamerweise auch viele Anknüpfungspunkte zum Narrenturm bietet - machten ihn für mich interessant. Ich erzähle dies nur, damit man sich vorstellen kann, warum und wieso ich auf dieses Zahlensystem gekommen bin. Poe liefert eine Fülle von kuriosesten Parallelen zum Turm. Ich erwähnte die Figur des Hofrats von Kempelen bereits, bei Poe als Alchemist in „Von Kempelen und seine Erfindung" verwendet. Der mechanische Türke - in „Mälzeis Schachspieler", das mysteriöse Tsalal und die „Methode von Doktor Tarr und Professor Feather", einer Groteske, die in einer „Irrenanstalt" handelt, sind Geschichten, die von ihrem Inhalt her für den Narrenturm interessant sind. In der Anstalt der Irrenärzte Tarr und Feather haben die „Irren" handstreichartig die Macht übernommen und die Wärter eingesperrt. Ein junger Student besucht die Anstalt und merkt den Schwindel nicht. Es wird ein Bankett gegeben und gefeiert - genau diese Szenerie wiederholte sich in den 40er Jahren des 18. Jh.s in Wien. Unter Direktor Viszanik wurde ein Ball für die ruhigen Insassen gegeben, zu dem auch Damen und Herren der feinen Gesellschaft Wiens eingeladen waren, ein ziemlich surrealistisch anmutender Abend, wie sich einer Zeitungsnotiz entnehmen läßt. In den „Osterreichischen Blättern", 1847, Nr. 224, liest man davon: „Um halb sieben Uhr begann der seltsame Ball, wo der wissenschafdiche Scharfsinn mit einer fixen Idee im fröhlichen Walzer sich 181

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drehte, geistige Schönheit mit ausgesprochenem Blödsinn eine Polka tanzte. [...] In der That, dieser Tanzsaal war ein Schlachtfeld, auf welchem die Menschlichkeit einen der schönsten Siege über Vorurtheile erfocht!" Ich bitte die Leser diesen kleinen Exkurs hinzunehmen und kehre nun wieder zum Haupttext zurück - zurück unter die Uberschrift. Hierbei gibt es einen fundamentalen Unterschied zum ägyptischen Joseph, denn nur der hl. Joseph, Vater Jesu und Gatte Mariens, ist kanonisiert und somit auch wirklich ein Heiliger. Durch das Aufkommen der sozialistischen Arbeiterbewegung im 19. Jh. sah sich die katholische Kirche genötigt, den Namenstag Josephs vorübergehend auf den 1. Mai zu verlegen und den Heiligen als Mann der Arbeit, ein gegenreformatorischer, taktischer Schachzug, zu verehren. Heute „feiert" man Joseph wieder am 19. März. Dies sei nur als Anregung gedacht und mag vielleicht nicht mit dem Nan-enturm zu tun haben, aber im Erdgeschoß des Hauses finden sich nur 27 Zellen, jedoch 28 Segmente, da eine Zelle als Ein- und Ausgang ins Gebäude dient. Es könnte auch sein, dass diese Zellen für die 27 Schriften den Neuen Testaments stehen, in das man symbolisch durch das 28. Segement hineingehen kann. Dies könnte den Übergang zu etwas Neuem darstellen oder, wie bereits erwähnt (Kap. 2), den Übergang zu einer anderen Sphäre anzeigen. Überdies sind bezüglich der Gematria, die Buchstaben des griechischen und des hebräischen Alphabets in drei Kolonnen angeordnet, die jeweils 9 Zahlen/Buchstaben enthalten, also insgesamt 27 Buchstaben ausmachen. Man ergänzte bestimmte Zahlenwerte durch „Sonderzeichen", da das hebräische Alphabet nur 22 Buchstaben und das griechische nur 24 Zeichen hat. Die 27 Zellen stünden somit auch für das gematrische Grundkonzept, das in gnostischen und kabbalistischen Verfahren angewandt wurde. Ich habe die Schreibweise der Pauly'schen Realenzyklopädie für das klassische Altertum verwendet. Sollte bis jetzt noch mancher Leser noch nicht von der „Gematria" überzeugt sein, ermittle man die Quersumme von 1594, der „einfachen" Josephszahl: sie ist selbstverständlich - bedenke man den ig. März als Namenstag, die die Ziffer 19 ist! 57 kommt auch als eine Stellung der Zahlen im „Zahlenspiel" 142857 x 2 = 285714 etc. vor, auf das ich bei der Kreisteilung (560°) durch die Zahl 28 verwies.

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Das „Zahl-All" 8 19 ist tetraktisch-pythagoiäisch - Quersumme 10 = 1, die Zahl des Heiligen Geistes. Die 3 des Monats März = die Dreifaltigkeit. 9 Im Jahr 532 n. Chr. stellte der skythische Mönch Dionysios Exiguus (ca. 500-550) erstmalig feste Regeln zur Berechnug des Ostertermins auf, der für die Christenheit von allergrößter Wichtigkeit ist. Ostern ist ja bekanntlich ein bewegliches Fest und Dionysios berechnete das Osterdatum zuerst auf 84 Jahre voraus. Später errechnete er einen großen Osterzyklus von 532 Jahren. 10 Ein Sonnenjahr dauert im Durchschnitt 365,25 Tage; eine Lunation 29,53 Tage. Unter Lunation versteht man eine Periode, in der der Mond alle Phasen von z. B. Neumond zu Neumond durchläuft. 29,53 x 235 = 6939,55 Tage und 19 x 365,25 = 6939,75 Tage11

Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn.

12 Tetraeder - 4 Flächen; Oktaeder - 8 Rächen; Ikosaeder - 20 Flächen; Hexaeder, der Würfel - 6 Flächen; Dodekaeder - 12 Flächen. 13 Errechnet unter Zuhilfenahme der julianischen Tage: 20. 3. 1763, das Geburtsdatum der Kaisertochter, w a r der Tag mit der Nummer 2364696; Eröffnungstag Narrenturm = Nummer: 2372762. Subtrahiert man, bleiben: 8066 Tage. 14 Joseph könnte die „Chymische Hochzeit" zelebriert haben, das Resultat der alchemistischen Transmutation, die Geburt des Phönix. 15 Scaliger wählte diese Zahlen deshalb, u m sein Tempus Historicum verbindlicher erscheinen zu lassen. 28 und 19 sind Werte aus der Astronomie, einer Wissenschaft, deren Erkenntnisse von allen Kulturen in Ost und West anerkannt wurden, weil aus der Natur abgeleitet. Somit schuf er einen kulturunabhängigen Zeitraum, da auch die Indiktion, die „Römerzinszahl", in Westeuropa und auch bei den Byzantinern - bis zur Eroberung der Stadt Konstantinopel durch die Türken - in Gebrauch war. 16 Sie verschwand nur im Bereich der Datierung kaiserlicher Urkunden manche Volkskalender und astronomische Ephemeriden behielten die „Römerzinszahl" bis auf den heutigen Tag bei. Kurzfristig dachte ich im Zuge meiner Nachforschungen, dass die Zahl 5, die Anzahl der Stockwerke im Turm, irgendetwas mit der Indiktion gemeinsam haben müsste. Eine Indiktionsperiode besteht aus 3 x 5 Lustren, fünfjährigen Zyklen aus der römischen Antike. Das Lustrum ist an die Fünfeahl gebunden. Wenn wir heute einen Luster an der Decke des Wohnzimmers anbringen lassen, so hat der Leuchtkörper seinen Namen von dieser Zeitperiode, da früher solche Lampen zumeist fünf Halterungen für Kerzen hatten. Das antike Lustrum war eng mit einem Staatsritus ver-

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Das „Zahl-All" bunden, der zu Beginn der Periode vollzogen wurde. Dabei „lustrierte" der Pontifex maximus, der oberste Hohepriester des Staatskultes, das Heer, indem er es fünfmal umkreiste. Die Fünfzahl hing mit der Kreisbewegung des Priesters zusammen, der durch diese kultische Handlung einen Reinigungsprozess vollzog, der Unheil abwehren sollte. Dies wäre der Wirkungsweise nach auch beim Narrenturm möglich. Ich halte es aber für ausgeschlossen, dass Joseph solch heidnischen Brauch praktizierte, dazu war er denn doch viel zu aufgeklärt. 17 Kepler hatte nach dem damals berühmten Griechischlehrbuch des Julius Cäsar Scaliger die Sprache gelernt. Ich halte es für erwähnenswert, dass der ältere Scaliger seine Verwandtschaft mit einem italienischen Fürstengeschlecht, der Familie Scala aus Verona, nachzuweisen versuchte. Scala bedeutet auf Italienisch Stiege, Treppe. Auf Quarins Wappen war eine hölzerne Treppe zu sehen, die, falls Quarin eingeweiht in das Geheimnis war, als Hinweis auf Scaliger verstanden werden könnte. 18 Das Jahr 3949 v. Chr. als Tag anzusetzen, da Gott die Welt erschuf, lässt sich genau genommen auf den Humanisten Sethus Calvisius (Seth Kallwitz, 1556-1615) zurückführen, einem Zeitgenossen Scaligers, mit dem dieser in regem Briefkontakt stand. Ich entdeckte in einem Kalendarium aus der ersten Hälfte des 19. Jh.s, eine Datumsangabe des Zeitpunktes der Erschaffung der Welt mit dem Hinweis: nach Calvisius. Derlei wissenschaftlich nicht haltbare Daten wurden in fundamental religiösen Kreisen nicht so leicht aufgegeben. Noch heute gibt es Kreise, die unerschütterlich daran festhalten - zumal in den USA, aber auch in Osterreich. Die Freimaurer geben in ihrer Logenkorrespondenz das Datum stets ab Erschaffung der Erde an. In diesem speziellen Fall 4000 v. Chr. 19 Ich dachte kurz auch, ob der Narrenturm nicht auch wirklich in diese Ordnung eingebunden gewesen sein könnte, und verglich Triangulierungspläne, geodätische Vermessungen aus dieser Zeit. Leider wurde ich nicht fündig. Auf dem Turm der 1855 eröffneten neuen k. k. Landes-Irren-Heilanstalt befand sich aber ein Vermessungspunkt. 20 Man denke an den moralischen Verfall Tom Rakewells. Die Irren sind also nichts anderes als verwirrte, irrende Seelen. Meist, so gängige Annahmen, gaben sie sich der Begierde hin. Vgl. Maximilian Locher, ein damals bekannter Arzt in Wien, der einen Zusammenhang zwischen Irresein und Geschlechtskrankheiten, sexueller Ausschweifung überhaupt, annahm. Trieb und Lust galten unvernünftig, alles Triebhafte machte demnach verrückt!

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Das „Zahl-All" Überhaupt arbeitet die Wissenschaft ausschließlich mit Konstrukten. Es ist, als legte man eine Klarsichtfolie um die Welt und auf dieser Folie zeichnet der Wissenschaftler nach, was er sieht und findet. Die Wirklichkeit wird zu einer Realität. Zuerst werden Theorien aufgestellt, der Rahmen geschaffen, innerhalb dessen sich die Forschung bewegt. Die gefundenen Daten - gezogen aus der Wirklichkeit - müssen den vorher festgelegten Grundannahmen entsprechen. Prof. Fritz Wallner von der Universität Wien, Institut für Epistemologie - der Wissenschaft von der Erkenntnis - , sprach in diesem Zusammenhang von einer entstandenen „Mikroweit", die die Wirklichkeit abbildet, ihr ähnlich ist. Dennoch funktionieren die Konstrukte der Wissenschaft: ein Flugzeug fliegt tatsächlich. Die Theorien zur Aerodynamik, die, bevor man zu konstruieren und zu bauen begann, aufgestellt wurden, fanden ihre Bestätigung in der Wirklichkeit. 8,66 kann man auch noch mit einer anderen, schwierigeren Methode ausrechnen. Das Tempus Historicum beginnt 4713 v. Chr. Bis zum Beginn des Jahres 1784 vergingen demnach 6497 Jahre. Die julianische Datumsnummer für den 19. 4.1784 lautet: 2572762 - so viele Tage sind seit dem 1. 1. 4713 v. Chr. vergangen. Um dies zu berechnen, nimmt man für die Dauer eines Jahres 365,25 Tage an. Multipliziert man nun die 365,25 mit der Anzahl der Jahre, stellt man mit Entsetzen fest, dass die julianische Nummer nicht stimmen kann! 565,25 x 6497 = 2375029,2. Dazu kämen noch 91 Tage (Jänner, Februar, März) und die 19 Tage für das Monatsdatum. Warum stimmt der Wert nicht? 1. Scaliger nahm ein Jahr o in sein Nummernsystem auf, das in der normalen Zeitrechnung nicht existiert - für astronomische wird es aber manchmal verwendet! Die Tagesnummer für den 19. 4.1784 müsste - unkorrigiert - 2573139,25 lauten. Davon zieht man nun ein Jahr ab: 365,25 Tage = 2372774. 2. muss man von diesem Wert weitere 10 Tage abziehen, die bei der gregorianischen Kalenderreform ausgelassen wurden. Das Datum sprang 1582 vom 4. gleich auf den 15. Oktober. 2572774 - 10 = 2372764. 3. zieht man von diesem soeben ermittelten Wert wieder einen Tag ab, denn im Zuge der Kalenderreform wurde das Kalenderjahr um durchschnittlich 11 Minuten verkürzt. Daher werden in einem Zeitraum von 400 Jahren, um wieder auszugleichen, jeweils 5 Schalttage ausgelassen. Bis 1784 wurde ein solcher Schalttag gestrichen, nämlich der aus dem Jahr 1700. 2572764 - 1 = 2572763. 4. beginnen die julianischen Tage erst um 12.00 - also zu Mittag, man

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Das „Zahl-All' muss also noch einen Tag abziehen und kommt zum korrekten julianischen Datum: 2572762. Nun kann man folgende Berechnung durchführen: Nach allem, was ich nun erklärt habe, entfernt man ein Jahr vom Zeitraum 4715 bis 1784. Es verbleiben 6496 Jahre (Scaliger nahm ein Jahr o an!). Nun stellt man sich vor, dass dieser Zeitraum beim ersten Kammersegment (vgl. Abbildung 10), ganz so wie bei der bereits durchgeführten Rechnimg, beginnt. Davor wird 6496 durch 7 geteilt - 6496 : 7 = g28. 28 Jahre kommen somit auf eines von 7 Segmenten. 928 ist übrigens eine Zahl, die tetraktisch ist - ich nenne sie sogar eine „Hypertetraktys", weil man die Quersummenaddition zweimal durchfuhren kann und dabei mit „Turmzahlen" jongliert: 2 + 8 = 10; 10 + 9 = 19; 1 + 9 = 10! Teilt man nun die jeweils 928 Jahre auf 7 Segmente, dann liegt der Zeitpunkt der Eröffnung des Turmes, 19. 4. 1784, genau in der Nordrichtung, in der Trennwand zwischen der 7. und der 8. Zelle. Dividiert man nun die Gesamtdauer des Tempus Historicum durch 928 7g8o : 928 = 8,599..., gerundet also landet man wieder bei den 8,66! 23 8,6658393. 24 Die Tochter des Kaisers unterscheidet sich durch die französische Schreibweise Marie Therese von der ihrer Großmutter. 25 Im Zuge meiner Recherchen überlegte ich mir, ob nicht der Narrenturm mit dem griechischen Gott Apoll zu tun haben könnte. Apollon wird mit dem Norden in Zusammenhang gebracht, weilte er doch bei den „Hyperboreern", einem mythischen Volk, das im hohen Norden lebte. Ist der Narrenturm ein Apollontempel? Apoll steht für Ordnung, symbolisiert die Mäßigung (vgl. Tarotkarte Nr. 14: „Temperence"), die „Siebenzahl" war ihm heilig. Erkenne dich selbst: stand als Formel über dem Tempeltor des pythischen Orakels zu Delphi, dem Tempel des Apoll. Der Narrenturm gliedert sich durch die zwei Höfe in zwei Kreisbögen, die an den Spitzen einander berühren. Nicht umsonst nennt man das Quergebäude „Sehne", die sich ja zwischen den beiden Bögen spannt. Attribute Apollons sind nun aber der Bogen - als Waffe - und die Leier, die Lyra, Symbol der himmlischen Harmonie und des Lebens, die früher ebenfalls bogenförmig dargestellt wurde. Zwei Bögen, die sich an ihren Enden berühren, dies erinnert an Heraklit, Frg. Nr. B 51: „Sie verstehen nicht, wie (das Eine), auseinander strebend, in sich übereinstimmt: gegenstrebige Verbindung wie ein Bogen und Leier."

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Das „Zahl-All" „Das Wort für Bogen (biös) ist Leben (bios), der Tat nach Tod." Aufgrund der Kompliziertheit der Himmelsmechanik dauert das Finsternisjahr nicht so lange wie ein Gemeinjahr. Näheres erfährt man darüber in den einschlägigen Astronomielexika.

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Abbildung i) : Das Oktogon am Sehnendach

Kapitel 6

Das Oktogon am Sehnendach

Acht Bits ergeben ein Byte1 - auf dieser einfachen Grundlage funktioniert heute die Hard- und Software eines Computers. Ein Bite ist die kleinste „Zahleneinheit" im Computer, dessen Wert entweder Null oder Eins, Strom fließt oder Strom fließt nicht, sein kann. Ich sprach, was den Narrenturm anlangt, verschiedentlich von Zahlatomen, den kleinsten Zahlenteilchen, deren Wert jeweils - nach den Annahmen der Pythagoräer - eins beträgt. Der Narrenturm erinnert unter diesem Gesichtspunkt tatsächlich an einen, wenngleich auch vorsintflutlichen Computer. Die „Hardware" ist das Gebäude selbst, die „Software" das inkludierte Zahlenmaterial - wie wir sehen konnten, versteckt sich in diesem auch ein Virus - die Zahl des Tieres 666. Ist der Narrenturm eine Maschine, ein Rechenautomat2? Vordergründig betrachtet gibt es an ihm nicht viel, was diesen Schluss zuließe. Bewegliche Teile, die das Wesen einer Maschine ausmachen, fehlen. Ich gebe aber zu bedenken, dass das ganze Gebäude, Kabelleitungen vergleichbar, mit „Luftadern", dem Röhrensystem der Heizung, durchzogen ist. Ich erwähnte bereits die damals in Wien gängige Vorstellung vom „Ignis", jener feinstofflichen Substanz des Feuers, die sich - gemäß dem Dogma des Chemie-Lehrbuches Boerhaaves - auf einen Körper übertragen kann. Die vier unterirdisch angelegten Ofen und die Warmluftleitungen sind nicht bloß zum Zwecke der Heizung der Zellen gebaut worden, sie sollten vielmehr die Ordnungskriterien der Architektur und die Turmzahlen den Insassen näher brin189

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gen und auf unterschwellige Art vermitteln. Als Heizungssystem erwiesen sich die „Hypokausten" für untauglich und nicht zu brauchen. Die warme Luft und der Lauf der vergehenden Zeit sollte der bewegliche Teil der Maschine sein. Luft und Wind ganz allgemein transportierten die Botschaft der Zahlen, die vom Turm ausgesandt wurde. Bevor ich nun zu einem weiteren markanten Punkt meiner Hypothesen gelange, der die Bedeutung der Luft und des Luftraums hervorhebt, sei noch einmal kurz zusammengefasst, was mit dem merkwürdigen Turm und seinen Zahlen eigentlich beabsichtigt wurde. 1. Der Narrenturm diente der „Verwahrung" von Geisteskranken. Er steht für die Ordnung des Kosmos, und diese Ordnung sollte sich auf den Geist der Kranken übertragen, ihnen zum Wohle gereichen und sie möglicherweise sogar von ihrer Krankheit heilen. Dies alles stellt im Sinne des „Josephinismus" den Mehrwert des Gebäudes dar, die praktische Nutzanwendung, denn der wahre Zweck der Anlage blieb dem Kaiser vorbehalten. 2. Joseph II. besuchte den Turm oft und begab sich in das Oktogon auf dem Dach. Was der Monarch dort oben wollte, kann mehrere Gründe gehabt haben: Joseph gedachte dort oben - auf luitiger Wart - im Stillen und ungestört, seiner Tochter und seiner Mutter, ja mehr noch: Er versuchte Kontakt mit ihren Seelen aufzunehmen oder, sollte diese etwas peinliche, spiritistische Variante nicht in Betracht kommen, zumindest eine Art Botschaft abzuschicken. Diese Botschaft - vercodiert in Zahlen und diese über den Warmluftstrom in den Luftröhren zu Luft verwandelt - speiste Joseph in jene „goldene Kette", die den Bereich des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos verbindet, ein. Hier gibt es nun wieiyo

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der verschiedene Möglichkeiten, an wen sich die Botschaft richtete. Es könnten die Seelen der Verstorbenen gewesen sein, vielleicht um in irgendeiner Form Hilfe von ihnen zu erlangen. Joseph mochte seine möglichen melancholischen Zustände auf diese Weise bekämpft haben - es könnte aber auch sein, dass die Regierungsgeschäfte ihn überforderten und er Rat suchte, Inspiration. Anregung durch den Heiligen Geist! Es sei an dieser Stelle zwingend darauf verwiesen, dass Joseph, ungeachtet seiner skandalösen Verordnungen, die Klöster betreffend, als auch seiner manchmal ungeschminkt geäußerten kirchenkritischen Haltung, dennoch ein gläubiger Christ war. Atheistische oder deistische Positionen lehnte er strikt ab. Der Deismus nimmt zwar einen Schöpfergott an, der das All und die Erde geschaffen, der aber nach dem Schöpfungsakt nicht mehr in das Weltgeschehen eingreift. Es wäre gut möglich, dass Josephs religiöse Uberzeugung sich von rosenkreuzerisch-pantheistisch gefärbten Vorstellungen leiten ließ. Der Pantheismus nimmt eine Allbeseeltheit der Natur und des Kosmos an, Gott lässt sich in allen Gegenständen finden - in einer Form, die mehr einem „heiligen Geist" entpricht. Diesen „Weltgeist", an sich unpersönlich, könnte man durch das System des Narrenturms beschwören und dienstbar machen - eine zugegebenermaßen blasphemische Vorstellung, die aber von Alchemisten und Rosenkreuzern praktiziert wurde. Eine vorstellbare, virtuelle Erscheinungsform des Weltgeistes, die sich vorzüglich zu einer Manipulation eignete, war die Zahl. Jedwedes Ding, jede Substanz hat seine Zahl und damit seine Unverwechselbarkeit, aber auch Wesensähnlichkeit zu anderen Zahlen und zur Erscheinungsform des Heiligen Geistes: der ultimativen 1. Die Zahl des 191

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Kaisers: 1596, ist ein reduziertes zahlenalchemistisches Destillat des Menschen Joseph, das in den Kosmos und in das „Zahlall" eingespeist wurde. Zudem wurde die Allgegenwart des göttlichen Geistes auch durch die Luft, das Wehen des Windes angenommen. Wind ist allein nicht nur die durch Druckunterschiede hervorgerufene Bewegung von Luftmassen, sondern auch der seit der Antike angenommene Trägerstoff für das „Pneuma", das Ignis. Pneuma ist eine feurige Substanz, die den Kosmos durchdringt, die die göttliche Ordnung aufrechterhält und sich unter dem Einfluss des frühen Christentums zum Heiligen Geist verwandelte. Durch den Geist und das Pneuma ist alles eins, alles miteinander verbunden. Gibt es Hinweise, die darauf verweisen, dass Joseph ähnlich gedacht haben könnte? Da wäre zunächst, als ein Indiz, seine seltsame Abneigung gegen die damals gerade beginnende Luftschifffahrt, seine unverständliche Ablehnung Joseph galt als Modernist und aufgeschlossen gegenüber den Neuerungen der Technik. Er selbst zeigte großes Interesse an Maschinen und Automaten aller Art - die Ballonfahrer, die seit 1783 erstmals in die Lüfte stiegen, lehnte er ab. Noch etwas ist dazu nicht uninteressant: James Watt (1736-1819), der allseits bekannte englische Erfinder der Dampfmaschine, die ja auch mit „Pneuma", komprimierter Luft - in Form von verdichtetem Wasserdampf - arbeitete, entwickelte in den Jahren 1782-84 einen verbesserten Typus dieser Maschinen^, die wesentlich zur Industrialisierung Europas beitrugen. Was ich damit verdeutlichen will, ist die maschinelle Nutzung der Luft, die ja auch in einer Sonderform beim Narrenturm zum Tragen kommt und den maschinellen Aspekt des Gebäudes hervorheben soll. Erhitzte Luft war es auch, die den Ballon der Gebrüder Montgolfier zum Steigen brachte. In Frankreich stießen die 192

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waghalsigen Flugexperimente der Montgolfiers, d'Arlandes und Roziers auf enormes Publikumsinteresse. Ludwig XVI. wohnte den Experimenten der Flugpioniere persönlich bei und förderte die Ballonfahrten. Alsbald brach europaweit ein regelrechtes Ballonfieber aus und gelegentliche Aufstiege vermochten riesige Menschenmengen zu mobilisieren, die das Spektakel auf keinen Fall versäumen wollten. Selbstverständlich wollte man auch in Osterreich die Entwicklung nicht verpassen und begann mit den verschiedensten Experimenten. Am 17. Jänner 1784 stieg in Wien ein erster „Aerostat", wie man die schwebenden Seidenkugetn nannte, auf. Zuvor, gegen Ende 1783, probierte der Grazer Mineraloge und Buchdrucker von Widmanstätten einen unbemannten Aufstieg. Bald darauf, im März 1784, avisierte der bekannte Schausteller und Feuerwerker Stuwer einen Aufstieg vor Publikum, der allerdings erst im Juli stattfinden sollte. Als es so weit war, tausende zahlende Zuseher hatten sich versammelt, kam es beinahe zu einem schweren Unfall, denn der Ballon und mit ihm die Gondel, in der sich vier Personen befanden, hatte sich unvermutet losgerissen und trieb steuerlos davon. Glücklicherweise konnte der flüchtige Ballon nach kurzer Fahrt sicher zur Landung gebracht werden. Auffällig bei all den Versuchen und Aufstiegen ist, dass Joseph sie ignorierte und keine Notiz davon nahm. Schon im Februar 1784, Joseph weilte gerade in Mailand, wurde er eingeladen, dem Ballonaufstieg des Italieners Andreani beizuwohnen. Der Kaiser zog es vor, der Darbietung fernzubleiben - mit der Begründung, dass er damit nichts zu schaffen haben möchte, denn, falls der Ballon abstürzen sollte, wolle er nicht die Folgen dieses Leichsinns mit ansehen. Als Stuwer in Wien seinen missglückten Aufstieg wagte, der Nachfolger des Kaisers, Erzherzog Franz, war unter den Zusehern, galoppierte Joseph demonstrativ durch

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die Praterauen und zog einen Spazierritt dem Spektakel des Ballonfluges vor. Am stärksten aber äußerte er seine Ablehnung, als der damals weltbekannte Luftschiffer Jean Pierre Blanchard, der mit seinem Ballon später den Ärmelkanal überqueren sollte, brieflich bei der kaiserlichen Hofkanzlei anfragte, ob der Kaiser einen Aufstieg in Wien gestatten würde. 1786 antwortete Joseph persönlich auf das Schreiben Blanchards und lehnte dessen Vorhaben rundum ab. „Ich habe Ihren Brief erhalten, Mr. Blanchard. Sie haben die Kuriosität Ihrer Zuschauer durch viele und an verschiedenen Orten gemachten Versuche hinlänglich befriedigt, so dass deshalb wegen Ihrer Reussierung kein Zweifel übrig bleibt. Sobald Sie durch Ihre Kenntnisse und wiederholten Versuche das Mittel gefunden haben werden, die Aerostation einigermaßen nützlich zu machen, soll es mir angenehm seyn, wenn Sie nach Wien kommen wollen, um mich davon zu unterrichten und zu überzeugen." Erst nach dem Tod Josephs 1790, konnte Blanchard 1791 in Wien starten. Es mag geradezu typisch für das Denken Josephs gelten, dass er in der Ballonfahrt vor einem zahlenden Publikum, allein nur wegen der Sensation, keinen Sinn erkannte. Als im höchsten Grade stets utilitaristisch und pragmatisch denkender Monarch, konnte er dem nichts abgewinnen. Es könnte aber auch sein, dass er die Ballonaufstiege deshalb missbilligte, weil sie ein, seiner Meinung nach, verbotenes Eindringen in den Luftraum bedeuteten, vergleichbar einer Verschmutzung des mit Pneuma und Geist durchsetzten Äthers. Angeblich pflegte Joseph eine Leidenschaft für die Belange des Militärs - eigentlich hätte er den Nutzen und strategischen Wert von Ballonfahrten zur Gefechtsfeldbeobachtung und Aufklärung erkennen müssen. Seine Abneigung gegen das Metier an sich erklärt 194

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sich nur unzureichend darin, dass er keinen praktischen Sinn erkennen konnte. Zu Forschungszwecken wäre ein Ballon interessant genug gewesen.4 Die Luftfahrt, noch dazu allein zum Zwecke des schnöden Geldverdienens, wertete der Kaiser als gefährliche Störung seines Konzeptes, als eine Entweihung des heiligen Luftbereiches, der, erfüllt vom Weltgeist, seine Domäne war. Wie hat man sich eigentlich die Sache mit dem Pneuma in der Luft genau vorzustellen? Es stellt sich hierbei jedoch zuvor die Frage, ob die Annahme eines in der Luft verteilten und wirkenden Pneumas überhaupt noch zeitgemäß war und angenommen wurde? Insofern gebe ich zu bedenken, dass die Naturwissenschaften zwar schon sehr viele „Geheimnisse" der Natur gelüftet hatten, vieles und Wesentliches, was die Ursachen von Phänomenen wie Luft, Wind und Wetter anging, konnte man jedoch noch nicht vollständig erklären. Als Beispiel dafür mag der immer wieder auftretende „Blutregen"5 dienen, der bis weit in das ig. Jh. hinein untersucht wurde, bis sich endlich herausstellte, woher die rötliche Färbung des Regens tatsächlich kam: von Blütenpollen. Oder der lange Weg zur gründlichen Erkenntnis, was denn nun ein Blitz wirklich ist. Wobei die Meteorologen, was Phänomene wie den Kugelblitz betrifft, noch heute geteilter Meinung sind. Wie es sich damals, vom wissenschaftlichen Standpunkt her besehen, mit der Luft und dem Wind verhielt, schließt eine Durchmischung des Elements Luft mit einer Pneumasubstanz noch nicht zwingend aus. Einerseits entdeckte man mehr und mehr über die Funktion der Luft, die Ursache des Windes, andererseits wohnte der Luft noch eine unbestimmte, sakral-religiöse Komponente inne. Zweierlei Qualitäten kennzeichnen somit das Element Luft: die phy195

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sikalische Komponente, die durch die Naturwissenschaften erforscht werden kann, und eine subtil-feinstoffliche Eigenschaft, vergleichbar dem im Feuer vorkommenden Ignis Boerhaaves oder der in Luft „aufgelösten" Zahlen. Der Luft wurde seit Hippokrates eine gewisse Erkenntnis- und Denkfähigkeit zugesprochen. Uber diese Fähigkeit der Luft, als ein Botenstoff in den Kosmos, zu den Kreisläufen der Gestirne, die ihrerseits, nach Plato, durch ihre Bewegungen die Zeit entstehen lassen, kann man sich Gott nähern. Die erkennende Funktion der Luft ist aber auch zugleich das Walten des Heiligen Geistes. Die Luft sah man als ein Wesen, eine lebendige und Leben spendene Substanz an, die in ihrer Feinheit alles zu durchdringen vermochte. Dadurch kann die Substanz der Seele und des Geistes auch luftartig gedacht werden und hängt über den Kosmos mit dem Göttlichen zusammen. Der Heilige Geist kommt immer von oben herab - einerlei ob in Gestalt oder Allegorie, wie die bekannte Taube, oder er „west" durch die Zahl im Turm. Durch die Dynamik der Luft und des Geistes wird die Botschaft nach den Sternen 6 getragen und die Antwort zirkuliert im Pneumastrom wieder zur Erde zurück und wird erkennbar - selbstverständlich nur Eingeweihten wie dem Kaiser. Das auf die Erde strömende Pneuma ergriff Besitz vom Kaiser, hob seine Persönlichkeit auf und brachte ihn über die Namenszahl dem Geist Gottes näher. Vom himmlischen Äther, dem Bereich Gottes, spannte sich die Kette der Alchemisten und Rosenkreuzer zur Seele. Im Grunde ist es heute nahezu unmöglich, exakt nachzuvollziehen, was der Kaiser nun wirklich im Narrenturm gewollt hatte. So viel bleibt jedoch noch anzumerken, dass die antiken Pneumavorstellungen in das Christentum einflössen und von diesem aufgenommen wurden. Auch 196

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ideengeschichtlich kann man eine „goldene Kette" der verschiedensten Pneumavorstellungen ausmachen. Sie reicht von den ersten Ansätzen der Vorsokratiker über Piaton, Sokrates, Zenon und Poseidonius, den Evangelisten besonders Johannes, den Briefen des Apostels Paulus bis hin zu den Kirchenvätern. Die mögliche Konzeption, der Joseph anhing, steht nicht unbedingt im Widerspruch zum herrschenden Grunddogma der katholischen Kirche, es ist vielmehr eine christlich-alchemistische Sonderform, die freilich nicht publik gemacht werden durfte. „Wie, keine Hauptreligion?", fragte Kaiserin Maria Theresia brieflich und autoritär bei ihrem Sohn nach, nachdem Joseph ihr seine Gedanken zur religiösen Toleranz vorgeschlagen hatte. Joseph verkehrte in derlei heiklen Belangen nur brieflich mit seiner Mutter, was erahnen läßt, wie sehr er sich vor ihrem Widerspruch gefürchtet haben muss. Maria Theresia war stets eine gehorsame Katholikin, die es in ihrer übertriebenen Frömmigkeit bis hin zur Bigotterie brachte. Unter ihrer Regierung wurden religiöse Abweichler - Lutheraner und andere „Ketzer" - noch in das Banat und nach Siebenbürgen an die Militärgrenze zum Osmanischen Reich abgeschoben. „Toleranz, zur Doktrin erhobene Gleichgültigkeit, sind eben die wahren Mittel alles zu untergraben ... Wie könnte man sonst diese Leute eindämmen? Gar nicht, weder Galgen noch Rad hülfe da. [...] Ich spreche hier nur als Politiker, nicht als Christin. Wollen Sie mitansehen, wie jeder seiner Phantasie gemäß handelt? ... nichts ist notwendiger und vorteilhafter als die Religion. Ohne festgesetzten Ritus gibt es auch keine Unterwerfung unter die Kirche und wohin fuhrt dies? Das Faustrecht würde wieder auferstehen", heißt es in dem oben erwähnten, in aggressivem Ton gehaltenen 197

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Brief der Kaiserin an Joseph weiter. Joseph wurde wegen seiner aufklärerischen Ideen - Toleranz gegenüber den Religionen - von seiner Mutter ordentlich der Kopf gewaschen. Ich finde, dieses Zitat zeigt ganz gut, in welchem gespannten Verhältnis die beiden zueinander standen. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass Joseph durch das „Toleranzpatent" von 1781, gleichsam wie in einer Trotzreaktion auf die überkommenen Ansichten seiner Mutter, den anerkannten Hauptreligionen - Protestanten, Juden, Griechisch-Orthodoxen - relative Religionsfreiheit gewährte. Er selbst könnte sich die Freiheit zugestanden haben, nach den Überlegungen, die ich zum Narrenturm ausführte, „geglaubt" zu haben. „Wollen Sie mitansehen, wie jeder seiner Phantasie gemäß handelt?", fragte ihn die Kaiserin und er beherzigte dies, offenbar als Gegenreaktion, im umgekehrten Sinn, nachdem seine Mutter gestorben war. Josephs Widerspruchsgeist und Opposition seiner Mutter gegenüber könnte mit ein Grund gewesen sein, der Ausschlag dazu gab, den Narrenturm nach den Plänen des Jesuitenpaters Franz, den Joseph ja überaus schätzte, zu bauen. Sein Widerstand gegen alles, was seiner Mutter gut und teuer war, könnte als weitere Motivation zum Turmbau gelten.7 Ich ließ es bereits an verschiedenen Stellen anklingen, dass Joseph vom Oktogon aus vielleicht astronomische Untersuchungen vornahm, die das Zahlensystem und die Wirksamkeit des Turmes „nachprüfbar" machen sollten. Wie kann man nun eine etwaige Reaktion aus dem Jenseits nachprüfen? Anton Pilgram, Exjesuit und Assistent an der Wiener Sternwarte, ich verwies schon auf sein Werk „Über das Wahrscheinliche in der Wetterkunde", 1778, war der Ansicht, dass der Einfluss der Himmelskörper, besonders 198

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aber der des Mondes, bedeutsam für das Wetter der Atmosphäre wäre. Pilgram und viele weitere Forscher seiner Zeit waren von einer Verbindung der Erde mit dem Mond überzeugt.8 Diese Verbindung äußerte sich durch das Mondlicht, die zwischen den Himmelskörpern Erde und Mond bestehenden Gravitationskräfte, aber auch durch eine immer dünner werdende Lufthülle, die gegen den Mond hin wieder zunahm. Viele „Sciencefiction"-Geschichten aus dieser Zeit erzählen von Ballonflügen zum Mond, also war die Vorstellung einer „Luitverbindung" zum Erdtrabanten durchaus noch wach.9 Nimmt man nun eine physikalische Verbindung zum Mond an, glaubt man an die prinzipielle Möglichkeit einer solchen, dann könnte doch eigentlich auch der „Pneumastrom" mit dem Mond in einer direkten Verbindung stehen, da der Erdtrabant ja nach dieser Ansicht mehr zur Erde gehörig anzusehen ist, denn als selbstständiger Himmelskörper im Kosmos. Es gab tatsächlich Vorstellungen, die die Seelen nach dem körperlichen Tode auf dem Monde wähnten. Antike Überlegungen des Aristoteles und Poseidonios gehen davon aus. Ariost (1474-1533) beschrieb Flaschen auf dem Mond, darin die Seele ihren auf Erden verlorenen Verstand wiederfindet (Kant führte dies in seinen „Träumen eines Geistersehers" an, vgl. Kap. 1). Eine Art „Zwischenaufenthaltsort" der Seelen war der Mond, wo die Seelensubstanz so lange blieb, bis auch sie starb und allein das Göttliche in ihr wieder zur Sonne zurückstrebte. Natürlich waren solche Glaubensvorstellungen nicht jedem bekannt, lebten aber vermutlich in esoterischen Geheimzirkeln weiter fort. 10 Uberhaupt war der Mensch des 18. Jahrhunderts, bis hinein in das nächstfolgende 19., von seinen Denkfiguren und Vorstellungen noch nicht so weit vom antiken Denken entfernt wie wir heute.

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Erst die fundamentalen Erneuerungen der späten industriellen Revolution brachten es mit sich, dass man die „alten Standpunkte" langsam aufgab. Ich glaube, man vergisst heute nur allzu leicht, woran unsere Großelterngeneration noch unerschütterlich festhielt.11 Astronomie im Narrenturm - wie könnte dabei vorgegangen worden sein? Man erinnere sich an das beschriebene Bild, worauf man Franz Stephan als Naturforscher sieht. Auf einem prunkschweren Tisch, daneben der Kaiser auf eine Goldmünze weist, steht ein wunderbares, präzise gearbeitetes Teleskop - klein und handlich - trotzdem ein ganz akkurates Instrument. Dies Fernrohr, möglicherweise ein Newton'sches Spiegeltelekop, fände im Oktogon des Narrenturmes reichlich Platz und lieferte gute Beobachtungsergebnisse. Jonathan Swift (1667-1745), der Autor von „Gullivers Reisen", beschrieb im dritten Teil seines Romans die fliegende Insel Laputa. Diese Insel ist kreisrund und wird durch ein Magnetensystem schwebend erhalten. In ihrem Zentrum, dem Mittelpunkt, halten sich in einem kreisrunden Schacht Astronomen auf, die mit kurzen Fernröhren den Himmel beobachten - Newton'sche Reflektoren. Ganz so, wie die Swift'schen Astronomen Laputas in den nächtlichen Himmel spähen, könnte es sich beim Narrenturm verhalten. Laputa, gelandet - der Kaiser konnte in ungestörter Ruhe den Mond betrachten. In Wien waren um die Zeit Josephs die Beobachtungsmöglichkeiten recht dürftig. Nicht, dass es keine geeigneten Instrumente gegeben hätte, aber die Sternwarte mitten in der Stadt gelegen, auf dem Dach der Aula der Universität12, eignete sich kaum zu genauen Beobachtungen. Dutzende Kirchtürme müssen die freie Sicht verstellt haben, aus hun200

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derten Rauchfangen stieg Rauch und Qualm, eine Dunstund Staubglocke hing beständig über der Stadt. Gleich neben der Aula steht die Jesuitenkirche, daran anschließend das Gebäude der alten Universität. Kaiser Ferdinand II. veranlasste 1623 eine Zusammenlegung des Jesuitenkollegiums mit der alten Universität, was eine vollständige Übertragung des Lehrbetriebes auf den Orden bedeutete. 1735 errichteten die Pater auf dem Dach ihres Kollegiums eine erste Sternwarte. Zuvor hatte der kaiserliche Hofastronom Johann Jakob Marinoni (1676-1755) sich eine derartige Privatanlage auf dem Dach seines Wohnhauses in der Innenstadt eingerichtet. Marinoni unterrichtete die Kaiserin Maria Theresia in der Astronomie. Er besaß sehr genaue Instrumente, die er nach seinem Tode der Kaiserin testamentarisch vermachte. Das Interesse der Habsburger an dieser Wissenschaft war offensichtlich nicht unbedeutend. Marinoni fungierte noch als astrologischer Berater für den Großvater Maria Theresias, Leopold I., was ihn aber nicht hinderte, auch wissenschaftlich tätig zu sein. So befasste er sich mit der Aufgabe der Landvermessung und führte auch die Dezimalunterteilung für das Klaftermaß ein, die aber allein in der Vermessungs- und Ingenieurkunst zur Verwendung kam. Erst im Jahre 1755, nach Marinonis Tod, bekam die Universität ihre eigene Sternwarte. Pater Hell wurde mit der Ausstattung und Leitung der Warte beauftragt. Bereits 1753 war die Universitätssternwarte von der Kaiserin gestiftet worden, Joseph Franz fungierte vorübergehend als Direktor. Aufgrund der schlechten Beobachtungssituation, wegen der Luftverhältnisse in der Stadt und der Beengtheit der Beobachtungsräume, hinkte die praktische Beobachtung etwas nach. Die Jesuiten betrieben aber zusätzlich eine eigene Sternwarte in Tyrnau, in der Slowakei, wo die 201

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Bedingungen wesentlich besser waren. Sie waren im Grunde nicht auf die unpraktische Lokalität auf dem Auladach angewiesen. Theoretisch konnte man in Wien aber mit dem Wissen Schritt halten und man war auf jeden Fall in der Lage, trotz der vielen Störfaktoren, den Mond zu observieren. Auf diesem Gebiete leistete man Großes in Wien. Johann Tobias Bürg (1766-1824) verbesserte durch seine Beobachtungen die „Mondtheorie" wesentlich. Für die Seefahrt war es - zur genauen Positionsbestimmung - unbedingt erforderlich, die Bahn des Mondes exakt zu berechnen. Auf hoher See griff man dazu auf Tabellenwerke zurück, als die genauesten galten im 18. Jh., diejenigen des deutschen Astronomen Tobias Mayer. Im Jahre 1798 schrieb die Französische Akademie der Wissenschaften einen Wettbewerb aus, diese Tafeln zu verbessern, durch Werte, die aus mindestens 500 genau definierten Mondbeobachtungen bestehen sollten. Bürg lieferte eine rechnerische Glanzleistung, da er auf über 3000 Beobachtungswerte zurückgreifen konnte. Napoleon verdoppelte daraufhin das Preisgeld - es gab einen zweiten, französischen Sieger, sodass Bürg den vollen Preis von einem Kilogramm Gold zugestanden bekam. Bürg zog sich ab 1813 ins Privatleben zurück, da er sein Gehör verloren hatte, und widmete sein weiteres Leben der Pflege und Hege der Vögel und Waldtiere. Obwohl der Papst durch seine „Breve"13 den Jesuitenorden 1773 aufhob, blieben die Pater weiterhin in universitärem Amt und Würden. Nach Marinoni übernahm Pater Hell die astronomische Oberleitung. Hell starb 1792 und als seinen Nachfolger bestimmte er den Pater Triesnecker, der als oberster Astronom und Direktor der Sternwarte diese bis 1817 leitete. Erst ab 1819 übernahm mit Joseph Johann Littrow, der erste Nichtkleriker seit Marinoni, die Leitung 202

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der Sternwarte. Auch der oben angeführte Tobias Bürg war Exjesuit. Behält man in Erinnerung, dass Joseph nun nicht gerade beste Beziehungen zu den Jesuiten unterhielt, der Orden gerade aber in der Astronomie besonders stark vertreten war, kann man sich das Oktogon auf dem Dach des Narrenturmes gut als Ausweichquartier vorstellen, zumal die Sichtverhältnisse dort vermutlich wirklich etwas besser gewesen sein müssen. Wenn Joseph durch die Zahlen eine Botschaft aussandte, dann könnte diese Mitteilung doch auch von Wesen auf dem Monde, die mit einer „Empfangsanlage" ausgestattet wären, die nach ähnlichen Prinzipien wie der Narrenturm funktionierte, empfangen werden. Ein deutlicher Hinweis darauf könnte auch der eigenartige Blitzableiter auf dem Dach gewesen sein, der zusammen mit der Metallspitze auf dem Oktogondach die Figur eines Kreises bildet, mit einem Mittelpunkt im Zentrum. Astronomisch betrachtet ist dies das Symbol für das Zentralfeuer der Sonne. Ich brachte bereits den Blitzableiter mit dem dritten kabbalistischen Sephirot, das für Intelligenz steht, in Zusammenhang. Die Zahl 8066, die Anzahl der julianischen Tage, die seit der Geburt Marie Thereses, der Tochter des Kaisers, bis zum 19. April 1784 vergangen waren, lassen sich auch wie folgt darstellen: 8 © 66, anstelle der Null kann man auch das Sonnenzeichen einsetzen. Falls nun bei einem Gewitter ein Blitz in den Draht auf dem Dach eingeschlagen hätte und sich ein zweiter Lichtbogen zur Metallspitze des Oktogons spannte, dann könnte man vielleicht das solcherart entstandene Lichtsignal bis zum Monde wahrnehmen! Viele der Astronomen zur Zeit des Kaisers glaubten an Bewohner auf den anderen Planeten und auch an „Seleniten" - Mondwesen. Auf diese 20}

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Weise hätte man die Aufmerksamkeit der Mondbewohner zusätzlich erregt, einerlei ob diese nun mehr geistige Wesenheiten, Seelen, oder eine Sonderform der grünen Männchen vom Mars waren. Joseph sandte also eine Botschaft nach dem Mond und wartete auf Antwort. Aufgrund des damaligen Kenntnisstandes konnte man leicht ableiten, dass die Beobachtungsbedingungen auf dem Mond, wegen einer angenommenen dünneren Atmosphäre, um vieles besser sein müssten als auf der Erde. Die Mondluft schien offensichtlich ungetrübt durch Wolken oder Nebel. Starke Teleskope auf dem Mond brächten weitaus bessere Ergebnisse, als auf Erden jemals möglich wären. Heute müssen die Astronomen in die Trockenheit der chilenischen Wüstengebiete ausweichen, um genügend Dunkelheit und reine Luft vorzufinden, um ihre Riesenspiegel effektiv zu verwenden - oder sie weichen überhaupt in den luftleeren Raum des Orbits aus, wie es beim „Hubble-Space-Telescope" der Fall ist. Die Antwort, die Joseph möglicherweise erwartete, könnte tatsächlich eingetroffen sein! Nicht, dass ich irgendwelche Lebewesen auf dem Monde annehmen will, aber es gibt ein merkwürdiges Phänomen, dass eifrige Beobachter des Mondes seit langer Zeit kennen und im Laufe der Jahrhunderte immer als Beweis interpretierten, das der Mond wirklich bewohnt sein könnte. Dieses Phänomen ist unter der prosaischen Abkürzung „TLP" - Transient Lunar Phenomenon - mittlerweile jedem Amateurastronomen gut bekannt. Von Zeit zu Zeit leuchten bestimmte Teile der Mondoberfläche nämlich plötzlich auf. Dieses „Lichtsignal" ist unterdessen mehrfach wissenschaftlich gesichert worden, allein, man weiß nicht recht, was es genau ist. Es gibt Erklärungen, die das Aufleuchten mit einer Erdbebenaktivität im Mondinneren in Verbindung sehen, die bestimmte 204

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Gase an die Oberfläche entlässt, die dann gut sichtbar aufleuchten. Vermehrte TLP-Aktivität zeigt sich in den Kratern Gassendi und Aristarch. Falls Joseph jemals ein T L P sah, dann hätte er im wahrsten Sinne des Wortes „zurückblitzen" können, ja mehr noch - durch die Form und Anordnung des Blitzableiters, die dem Sonnenzeichen gleicht, wären die Seleniten auf die Anlage aufinerksam geworden, hätten ihrerseits vermehrt die Gegend um den Narrenturm durch ihre Mondteleskope angepeilt. Was sie gesehen hätten: das Allgemeine Krankenhaus - von oben betrachtet mit dem Josephinum einen Winkel bildend, eine geometrische Figur, vielleicht auch den fein angedeuteten Zirkel des Narrenturms. Dies alles lag im Bereich des Möglichen, denn im nächsten Kapitel werden die Leser mit einer Person näher bekannt, von der ich annehme, dass sie in das Geschehen um den Narrenturm involviert war und deren „Lebenswerk" genau all die Annahmen widerspiegelt, die ich vorhin dargelegt habe - nur in einem umgekehrten Sinn: Der Betreffende sah die Gebäude der Mondbewohner und erkannte darin Mauern und riesige Bollwerke, die wie ein Spiegelbild des Allgemeinen Krankenhauses und des Narrenturmes anmuteten.

Anmerkungen: 1

Acht Ecken ergeben ein Oktogon, sozusagen das „Byte" des Narrenturms.

2 Im selben Jahr, 1784, stellte der deutsche Ingenieur und Mechaniker Johann Müller (1746-1830) - er w a r übrigens auch Baumeister - seine „Differenzmaschine", einen händisch zu betreibenden Rechenautomaten, fertig. Die Maschine ist rund, gänzlich aus Messing gefertigt, im Zentrum der Abdeckscheibe befindet sich eine Kurbel, mit der

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Das Oktogon am Sehnendach man das Rechenwerk in Bewegung setzt. Die Abdeckplatte gliedert sich in vierzehn runde Scheiben, die sich - je nach gewünschter Rechenoperation - drehen und den zu ermittelnden Wert anzeigen. Seltsamerweise hatte Müller seine Maschine auch auf Basis der Zahl Sieben konstruktiv umgesetzt, was seinen äußeren Ausdruck in vierzehn Anzeigescheiben findet. Ich will damit keinen direkten Zusammenhang zum Narrenturm postulieren, sondern damit nur sagen, die Rechenmaschine Müllers war mit daran schuld, dass ich auf die Idee kam, der Narrenturm könnte mehr gewesen sein als eine etwas merkwürdig gebaute Irrenanstalt. 5 Dampfkraft wurde selbstverständlich schon lange vorher maschinell umgesetzt und genutzt. Belüftungssysteme in Bergwerken wurden teilweise mit Dampfkraft betrieben. Luft als mechanisches Antriebsmittel kannte man seit der Antike. Es sei nur an Heran von Alexandria (2. Jh. v. Chr.) erinnert, der der Nachwelt ein Werk „Pneumatica" hinterließ, in dem von ihm konstruierte Automaten geschildert werden, die mit Druckluft arbeiteten. Im übertragenen Sinn verwendete Heron das Pneuma zum Betrieb seiner Maschinen. Pneuma konnte somit auch praktisch angewendet werden und zugleich Träger des göttlichen Geistes sein. 4 An dieser Stelle sei eine kleine Abschweifung spekulativer Natur erlaubt. Ich dachte im Verlauf meiner Recherchen zu dieser Arbeit einige Zeit lang an folgende phantastische Nutzungsmöglichkeit des Narrenturms: Man stelle sich den Kaiser vor, wie er kurzatmig das Stiegenhaus hinaufhastet, hinauf in das Oktogon. Es ist Nacht und völlige Windstille herrscht. Oben im geräumigen Dachboden des Sehnengebäudes haben verschwiegene Vertraute des Kaisers alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, Vorbereitungen zu einem Experiment, zu dem die Ballonfahrten Blanchards und Stuwers eine Konkurrenz darstellen. In fieberhafter Eile werden die Seitenwände und das Dach des Oktogons heruntergeklappt - eine raffinierte Konstruktion aus Scharnieren und Holzwänden, die sich leicht auseinander nehmen lässt und eine mehrere Quadratklafter große Plattform auf dem Sehnendach bildet. Im Oktogon befindet sich ein großer Korb aus Weidenruten, Tauwerk und Flaschenzüge. Der Kaiser drängt in seiner ungeduldigen Art die Helfer, endlich den im Dachboden verwahrten Seidenballon auszubreiten, am Korb zu vertäuen und die Lederschläuche an den großen Rauchfang am Dach anzuschließen. Unten in den Kellern werden die vier Ofen beschickt und warme Luft strömt durch die Röhre hinauf in den Ballon, der sich langsam bläht und füllt.

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Das Oktogon am Sehnendach Die einzigen Rauchfange des Narrenturms befanden sich auf dem Sehnendach - in die Zellen des Rundbaues wurde die warme Luft direkt geleitet, eine Fehlplanung, da ja auch die Abgase und der Rauch der Ofen in die Zellen geblasen wurde. Selbstverständlich ist die oben erwähnte Idee niemals Wirklichkeit geworden, eine Möglichkeit dazu hätte bei besserer Planung bestanden. Wie sagt aber so weise der Prophet Kohelet in der Bibel: „Windhauch, nichts als Windhauch." 5 Einen interessanten Hinweis diesbezüglich fand ich in „Kastners Archiv für die gesamte Naturlehre", 1824, wo in einem langen Artikel ausführlich über „Hydrometeore" referiert wird. Noch etwas, außer dem Blutregen, ist erwähnenswert: der so genannte Sonnen- oder Ätherstaub. Neben den durch die Winderosion hochgewirbelten Staubteilchen nahm man an, dass aus dem All, entweder von der Sonne oder aus den Tiefen des Raums, Staub auf die Erde herniedersinkt. Dies erinnerte mich daran, dass das Pneuma, welches man in der Luft aufgelöst sich dachte, späterhin mehr und mehr eine manifeste Form annahm und zu dem besagten Sonnenstaub sich verwandelte. Die Atherstaub-Theorie geht auf Kant und mehr wohl auf Laplace zurück. Sie besagte, dass in der Frühzeit des Bestehens des Universums dieses von sich verdichtenden Staubwolken erfüllt war, aus denen sich die Sterne und Planeten bildeten. 6 Es ist gut möglich, dass die Zahlenbotschaft „nur" bis zum Mond gelangen sollte, den man sich über die Luft direkt mit der Erde verbunden vorstellte. Dem Mond kommt nämlich in seiner Funktion als möglichen Aufenthalt der Seelen besondere Bedeutung zu. Eine „Himmelfahrt" ist eigentlich ganz einfach: Der Körper stirbt auf Erden und die Seele löst sich von ihm los, entschwebt auf den Mond, verbringt dort einige Zeit, bis auch die Seele stirbt und das verbleibende Pneuma, der letzte Rest an göttlicher Seelenenergie, zurück zur Sonne wandert, aus der sie entstanden ist. Die diesbezügliche Vorstellung findet man schon bei den alten Philosophen der Stoa und auch bei Aristoteles. Es ist gut möglich, dass derlei Annahmen in das Gedankengut der Rosenkreuzer Aufnahme fanden. Überdies glaube ich, dass derartige Vorstellungen weiter verbreitet waren, als man heute annimmt. Irgendwie, sofern man überhaupt glaubt, muss doch die Seele wieder zurück zu Gott gelangen oder Eingang ins Paradies finden. Unsere Großmütter glauben das und glauben es noch immer. Die moderne Theologie hat mit dem personalisiert gedachten Gott Schluss gemacht. Was Joseph II. betrifft, so stellt der Versuch beim Narrenturm eine Zwischenform dar, die einerseits noch mit vorstell-

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Das Oktogon am Sehnendach baren Bildern und Annahmen operiert, andererseits in die Abstraktheit der Zahlen und des Pneumas hineinreicht. 7 Er lehnte die Arzte ab, denen seine Mutter vertraute - Quarin wurde zum Direktor des Allgemeinen Krankenhauses ernannt. Maria Theresia bedauerte es, als 1773 der Papst den Jesuitenorden aufhob, Joseph begrüßte dies nachhaltig. 8 Kepler, der ein gewisses „verfeinertes" Interesse an der Astrologie hatte, nahm optisch-harmonische Wirkungen der Gestirne auf das Seelenleben an. Optisch deshalb, da die sichtbaren Konstellationen der Planeten, allein durch ihre Stellung zueinander, vom Menschen und seiner Seele wahrgenommen werden. 9 185g veröffentlichte E. A. Poe die „Unvergleichbare Reise des Hans Pfaall", in der der Held mit einem Ballon auf den Mond fliegt. Zur Zeit Poes - die Geschichte ist eine Satire - kam man langsam davon ab, eine Luftverbindung zum Mond anzunehmen. 10 Allein der Umstand, dass ich, als Autor dieser Zeilen, Ihnen, den Lesern, dieses zu vermitteln versuche, zeigt ja, dass dieses Wissen heute noch zugänglich ist. Betrachtet man nun die heutigen Esoteriker, wundert einen gar nichts mehr. Zur Zeit Josephs II. war antikes philosophisches Wissen ebenso bekannt und präsent, und ein phantasiereicher Geist hätte daraus leicht eine Privatreligion zimmern können, zumal er den Gedanken der Alten - von unserem Standpunkt aus ist Joseph ja selbst auch ein Fossil - wesentlich näher stand, als uns dies heute möglich ist. Überdies halte ich es in unserer Zeit für schlichtweg unmöglich - „seriös" und ernsthaft - , zum Beispiel Hexenkulten oder den Zermonien irgendwelcher „Idealkelten" nachzugehen und derlei Kult und Riten zu praktizieren. Der Zugang zu all diesen historisch bekannten und in der Gegenwart hinzukonstruierten Kulten ist verschüttet. Das Gleiche mag auch für Lehren gelten, die einem anderen Kulturkreis entstammen. 11 Zum Beispiel meine alte Großmutter, die zeit ihres Lebens an den klassisch alten Vatergott mit knielangem Vollbart und an ein Paradies glaubte. Sie unterschied sich dadurch um keinen Deut von den jahrhundertealten tradierten Vorstellungen. 12 Heute befindet sich in dem Gebäude die Akademie der Wissenschaften. 13 Breve: die urkundlich beglaubigte Aufhebung des Ordens.

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Kapitel 7

Seleniten und Circellen Unser Planet Erde rast mit einer mittleren Geschwindigkeit von rund 50 Kilometern pro Sekunde auf einer Ellipsenbahn um die Sonne. Dabei dreht sich die Erde am Äquator mit einer Geschwindigkeit von circa 46g Meter pro Sekunde. Dadurch wird der Narrenturm, betrachtet man ihn als winziges Maschinenteilchen im kosmischen Getriebe, bewegt, selbst wenn er nicht durch die Warmluftleitungen von den Kelleröfen aus mit Pneumaenergie versorgt würde. Die Zahlen des Turmes versinnbildlichen die Kreisläufe des Kosmos. Im Kleinen finden sich die gleichen Zahlund Zeitstrukturen des Makrokosmos. Schon allein dadurch gelangt die Information des Turmes in den Weltraum, durch die Geschwindigkeit der sich fortdrehenden Erde. Man könnte damals auch diese Eigenbewegung der Erde als Ursache für die Entstehung der Winde und Bewegung der Luft angesehen haben. Durch die Luft sieht der Mensch - Hippokrates schrieb der Luft sogar Denk- und Erkenntnisfähigkeit zu. „Wäre nicht das Auge sonnenhaft, wie könnte es die Sonne erkennen", zitiere ich frei nach Goethe, der damit auch seine pantheistische Weltanschauung illustrierte. Er bezieht sich genau auf die Verbindung zwischen der Sonne, dem göttlichen Licht, und dem Auge - als Eingangspforte in den Körper - auf dem Wege zum Licht in unserem Inneren, der Seele. Bei Joseph II. ist diese, über das Medium der Luft getragene Beziehung, in Zahlen dargestellt. Sehen heißt bei Goethe das Werk des Schöpfers zu erkennen. Vornehmlich nachts stand Joseph II. vermutlich 209

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im Oktogon, der luftigen Warte Homers, und meditierte über die Gestirne und den Mond. Das Oktogon symbolisierte das Element Luft. Nach acht Richtungen wies die Windrose der antiken Architekten und der Agrimensoren, der römischen Feldvermesser, die die Himmelsrichtung mit den Windnamen gleichsetzten. Die alten Vermesser und Architekten hatten aus sanitären Gründen bei ihrer Arbeit darauf zu achten, dass ihre Pläne einen möglichen schädlichen Einfluss des Windes berücksichtigten und die Konstruktion von Häusern oder Stadtanlagen hatte von der herrschenden Windrichtung abhängig zu sein. Das Oktogon, als eine Windrose, war aber vermutlich nicht exakt nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet, da es sich auf den Quertrakt der Sehne bezog und die wahre Nordrichtung etwas um eine Zelle nach links verschoben verläuft. Dies bringt uns zu einem weiteren Aspekt um das „Geheimnis" des Turmes, wenn es denn tatsächlich eines war, denn es gibt merkwürdige Indizien und Anhaltspunkte dafür, dass sich die „Sache", trotz versuchter Geheimhaltung, herumsprach. Es ist ja schlechterdings nahezu unmöglich, gerade wenn man sich darum besonders sorgt und bemüht, ein Geheimnis zu wahren. Zu viele Leute - man denke an das Wärterpersonal und die Ärzte, die im Turm ihren Dienst versahen - waren darin involviert. Die vielfach dokumentierte mögliche Anwesenheit des Kaisers im Narrenturm wird sich auch bald herumgesprochen haben. Selbstverständlich wäre dann nur hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt worden. Wer konnte es zu Lebzeiten Josephs II. verantworten, eine Sache ans Licht zu bringen, die des Kaisers höchst persönlichen Lebensbereich berührte und die fortschrittlicheren Zeitgenossen selbstverständlich als etwas verquer und spleenig 210

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erscheinen musste. Trotzdem dürfte die Angelegenheit in bestimmten Kreisen inoffiziell durchaus bekannt gewesen sein. Ich fand eine höchst sonderbare Anspielung, die den Schluss nahe legt, dass man über den wahren Zweck der Besuche des Kaisers im Turm informiert war. Höchst sonderbar deshalb, da es sich um eine verschlüsselte Anmerkung handelt, die aber, wenn man sich etwas eingehender mit dem Turm befasst hat, ganz offensichtlich erkennen lässt, was eigentlich damit gesagt werden soll. Betreffende Stelle fand ich bei Ernst Moritz Arndt und sie mutet zuerst wie ein Scherz an, entpuppte sich aber als Treppenwitz, bei dem man erst etwas zeitverzögert versteht, worum es wirklich geht. Arndt bereiste in den Jahren 1798 bis 1799 Deutschland, Italien und Frankreich. Uber seine Eindrücke führte er ein Tagebuch, das er 1801 veröffentlichte. Darin schreibt er: „Beyläufig, ehe ich von einigen merkwürdigen Phänomenen dieser lauten Gesellschaft (gemeint sind die Geisteskranken) eine kleine Skizze gebe, will ich denen, die sich einer Glatze schämen, und nicht Gelegenheit haben, sie, wie Cäsar, mit einem Lorbeer zu bedecken, rathen, hier (im Narrenturm) einige Monate sich in die Kur zu geben. Denn D. North [Dr. Nord, der damalige zuständige Arzt und Direktor des AKH; Anm. d. Verf.] bemerkt, dass nach den Vesikatorien die Haare außerordentlich wachsen, und dass verschiedene, die glatzig hineingekommen, nach einigen derben Ziehpflastern krausköpfig wieder heimgingen." Arndts launige Schilderung mag man als solche hinnehmen, verdächtig bleibt dennoch einiges an dieser Passage. Was meine Aufmerksamkeit auf sich zog, sind bestimmte Schlüsselwörter, die der Autor verwendete: die Glatze, der Lorbeer des Cäsar, einige Monate, Vesikatorien

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und Ziehpflaster, die Krausköpfigkeit. Diese Stelle ist unmöglich ernst zu nehmen und mochte auch ein etwas unangebrachter Witz sein - was aber könnten die Schlüsselwörter bedeuten, sollten sie ein geheimer Code sein, den „Wissende" dechiffrieren konnten? Ich erwähnte in Kapitel 5 einen Mann namens Calvisius, der nachrechnete, wann Gott die Erde geschaffen hätte. Calvisius stand mit Scaliger und auch Kepler1 in Briefkontakt. Er und möglicherweise auch Scaliger, sofern Nord, der zuständige Anstaltsarzt, Arndt davon erzählte, sind in gewisser Weise sprechende Namen und verweisen beide auf die Glatze. Arndt, der ja sicherlich Latein konnte, wusste, dass „calvus" kahl, glatzig heißt. Aber auch Scaliger ließe sich so interpretieren, klingt doch in diesem Namen der Skalp mit an, der mit einem Skalpell von der Kalotte des Schädels gepellt wurde. Anatomisch bezeichnet man in England die Kopfhaut - ohne Haar, die Glatze - als Skalp. Außerdem: Calvisius latinisierte seinen deutschen Namen, ursprünglich hieß er Kallwitz, wobei sich der „Witz" und die Kahlheit der Kopfhaut geradezu aufdrängt. Doch kommen wir weiter zum Cäsar, der seine Glatze mit dem Lorbeer bedecken durfte. Es ist wahrscheinlich, dass hiermit nur Joseph II. gemeint sein konnte, dem das alleinige, exklusive Recht vorbehalten war, im Narrenturm seine Privatprobleme zu behandeln. Er allein durfte dort Astronomie betreiben und Zahlenspielereien auflösen. Einige „Monate" - Monde - Aufenthalt genügten und schon spross und kräuselte sich das neue Haar. „Vesikatorien" waren blasenziehende Zugpflaster - man erinnere sich an von Störcks Behandlung der blinden Maria Theresia Paradis, deren Kopfhaut dadurch „therapeutisch" vereiterte. Nun wusste man aber damals auch, ganz so, wie heute manche wieder daran glauben, dass bei Vollmond die Haare 212

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besonders wachsen, da der Mond ja eine ziehende Wirkung haben soll. Das „derbe Zugpflaster", „Vesikatorium", im Narrenturm ist nichts anderes als der nackt-kahle Mond. Bemerkenswert: Die Haare wachsen derartig stark, dass man sogar krausköpfig wird. Metaphorisch stand der Krauskopf für üppige Haarpracht, er gemahnte aber auch an bestimmte alarmierende Kräuselungen der Stirn, wenn man gewisse Zweifel und Bedenken an einer Sache hegte. Arndts Stirn muss sich recht ordentlich gekräuselt haben, als Dr. Nord ihm vielleicht von den Turmzahlen und „Mondfunktionen" erzählte. Er war vermutlich nicht sogleich in der Lage, den Ausführungen des Arztes sogleich zu folgen. Dies alles mag nun dem zweifelnden Leser und der argwöhnischen Leserin selbst die Stirne in Falten legen, würde Arndt nicht mit seiner Schilderung der Zustände im Turm fortfahren, denn gleich anschließend, an die zitierte Stelle, stellte er einen Insassen vor, der an einem Zahlenwahn litt und jede Nacht aus dem Schlaf erwachte, weil er meinte die richtigen Lottozahlen geträumt zu haben! „Der Lottospieler. Dieser war munter und wohlgemuth. Er erzählte uns, es sey sein größtes Unglück, dass er nicht frey gelassen werde. Alle Nacht zeige ihm der Traum die Nummern, welche die nächste Ziehung (!) herauskommen würden; er könne ein steinreicher Mann seyn, wenn das Schicksal ihm nicht so hart mitspiele. Aber, meine Herren, wie ich hier bin, habe ich kein Geld, und kann auch nicht einsetzen. Bitten Sie doch den Herrn von North für mich, die schöne Zeit vergeht sonst..." Es ist heute nicht mehr nachzuprüfen, ob es solch einen Patienten wirklich gab oder ob der Dichter ihn nur erfand. Das Arndt seinen Narrenturm-Text benutzte, um Anspielungen politischer Natur anzubringen, geht aus dem nächstfolgenden Punkt hervor, in dem er einen Mann beschreibt, der 21}

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glaubte ein Krebs zu sein und sich nur mehr rückwärts schreitend fortbewegte: „Der Krebs. Dieser arme Teufel glaubt, er sey des Todes, so er vorwärts gehe, und hat eine ganz entsetzliche Angst, wenn man ihn so fortbewegt. Rückwärtsgehen muss er, das ist nun einmal seine Natur. Ich bin unterdrückt, schrie er, und ein Krebs geworden, darf nicht mehr vorwärts gehen. Wie viele mögen da wohl mit ihm einstimmen! Dann schwatzte er hirnloses Zeug vom Krebs, woraus nichts zu fassen war." Hier kommt eine Anspielung auf politische Verhältnisse um die Zeit von 1800 ans Tageslicht. Viele in Deutschland und auch in Osterreich waren von den Idealen der Französischen Revolution begeistert. Allein die „Rückschrittlichkeit" der Regierungen zwang die Bürger jedoch, im wahrsten Sinne des Wortes, rückwärts zu gehen. Das Biedermeier wurde gesellschaftlich vorbereitet. In Osterreich herrschte Franz II., der Neffe Josephs II., der die josephinischen Reformen rückgängig machte und einen Bespitzelungsapparat einrichtete, der es in der Monarchie unmöglich machen sollte, an Revolution bloß auch nur zu denken. Es war vermutlich aber trotzdem nicht schwer, kritisch-politische Anspielungen anzubringen. Arndt schrieb weniger vorsichtig in politischen Belangen. Bei wenngleich auch noch so versteckten Hinweisen auf das Zahlensystem des Narrenturmes dürfte mehr Vorsicht geboten gewesen sein, da es, wie ich glaube, einen massiven Grund gab, darauf nur sehr undeutlich einzugehen. Erstens betraf es Joseph II., den Onkel des gerade regierenden Kaisers Franz II., der ganz offensichtlich eine Leidenschaft für das „Irrenhaus" gehegt hatte, was auch damals nicht unbedingt als selbstverständlich hingenommen wurde und gewisse Verschwiegenheit voraussetzte. Man mag Josephs II. „Menschen214

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liebe" zur Erklärung seiner merkwürdigen Vorliebe ins Treffen führen, bedenke aber, was wir z. B. von einem Bundespräsidenten halten sollten, der zum Zwecke der schönen Aussicht sich ständig in einer Nervenheilanstalt aufhielte. Man würde doch mit der Zeit annehmen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung wäre. Zweitens gibt es eine peinliche Übereinstimmung gewisser Daten des Turmes und dem 1801 herrschenden Franz II. Der Turm wurde an einem 19. April in Betrieb genommen. Der Sohn Franz II. erblickte am 19. April 1793 das Licht der Welt. Ein Zufall, gewiss, aber der Sohn von Franz II., der spätere Kaiser Ferdinand I., genannt der „Gütige", war von seiner Geburt an schwerer Epileptiker und machte als Kind nicht den Eindruck, er würde jemals die Regierungsgeschäfte übernehmen können. Der kaiserliche Leibarzt Joseph Andreas von Stifft (1760-1836) berichtete über den Zustand des Knaben: „Vor allem war der kronprinz in einem erbarmungswürdigen zustand von schwäche. Im 5ten jähre seines alters war er kaum im stände, ein paar hundert schritte weit zu gehen." Die Untertanen Ferdinands, der von 1835 bis 1848 regierte, sahen in seiner Behinderung einen Ausdruck von Güte und verliehen dem Kaiser den Beinamen „der Gütige". Alsbald wandelte sich dieser aber in „Gutinand" und Ferdinand mutierte zu „der Fertige", was sich ganz offensichtlich auf seine Krankheit bezog. Sophie von Bayern, die Mutter Kaiser Franz Josephs, sprach von Ferdinand, wortwörtlich und überaus brutal, als dem „Trottel auf dem Kaiserthron". Dies wäre ein gewichtiger Grund, warum Arndt seinen Text nur in verschlüsselter Form veröffentlichen konnte. Majestätsbeleidigung und Verleumdung wäre das Geringste gewesen, was man Arndt hätte vorwerfen können. 215

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Die historisch-biographische Forschung über Kaiser Joseph ist überhaupt, das ganze 19. Jh. hindurch bis zum Ende und Untergang der Habsburgermonarchie, vom Respekt gegenüber dem Kaiserhaus geprägt. Diese etwas naiv anmutende Haltung, die ihren schriftlichen Ausdruck meist nur in netten Anekdoten fand und nicht in manchmal berechtigter Kritik, findet man sogar noch in den einschlägigen Werken der 50er und 60er Jahre unseres Jahrhunderts. Um es klar und deutlich auszusprechen: Der aufgeklärt-absolutistische Führungsstil Josephs II. gipfelte manchmal in purem Unsinn und Willkür. Ich bin überzeugt, nur um ein bekanntes Beispiel zu nennen, würde man heute die Bestattung eines Toten in einem Holzsarg behördlich verbieten, ein Aufschrei der Empörung hallte durch das Land - genauso wie damals die Untertanen auf diese seine Verordnung reagierten. Joseph II. bedauerte es, seine Gesetze auf Widerstand stoßen zu sehen, und zeigte sich verständnislos gegenüber den Protesten, da er, von einer fast krankhaften Erneuerungssucht und Sparsamkeit motiviert, es für vernünftig hielt die Toten in Säcken zu bestatten. „Diesem eigenwilligen und herrischen Sohne, mit dem nicht einmal die eigene Mutter fertig geworden war, stand jetzt 1780 der Protomedicus Störck als sein amtlich bestellter Gesundheitsberater gegenüber" - schrieb die große Medizinhistorikerin Erna Lesky 2 und ließ dabei die Spannungen zwischen Mutter und Sohn anklingen. „Während der zehn Jahre, die Josephs fortschreitende Lungenphthise ihm noch zu wirken erlaubten, hat er auch immer wieder den Rat seines Protomedicus Störck eingeholt. Aber nicht nur diesen! Mindestens ebenso wichtig war ihm der Rat, den ihm der lombardische Chirurg Giovanni Alessandro Brambilla zu geben wußte."3 Auf diesen 216

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Umstand ging ich schon einmal ein: Brambillas Berufung bedeutete nichts anderes, als den von Maria Theresia bestellten Protomedicus von Störck zu schwächen. Brambilla genoss in der Wiener Ärzteschaft deshalb keine besonders gute Reputation. Was mich aber an der zitierten Stelle interessierte, war die Erkrankung Josephs II. an der „Lungenschwindsucht". Diese, damals weit verbreitete Krankheit, ließ den Kaiser an ständiger Kurzatmigkeit leiden. 1789 schrieb er an seinen Bruder Leopold, der in Florenz weilte, darüber: „Was meine Gesundheit anlangt, das Fieber ist weg, aber die Brust ist enger denn je. Ich huste fürchterlich und werfe viel aus, die Atmung ist beschwerlich, Herzklopfen bei der kleinsten Bewegung. Letzlich bin ich ein zerstörter Körper, welcher nur mehr ein Leben voll Leiden und Unglück hinschleppen kann, solange ihn die Vorsehung dazu verdammt. Die Arzte wissen nichts mehr zu machen und zu sagen ..."4 Die Beengtheit der Brust, die beschwerliche Atmung waren die Anzeichen seines körperlichen Hinscheidens. Beklemmungen mag er auch all die Jahre davor verspürt haben, wenn seine Mutter ihn bevormundete. 5 Aber schon bei seinem Regierungsantritt war die Funktion und Leistungsfähigkeit seiner Lungen durch die Krankheit beeinträchtigt. Dies könnte auch mit ein Grund gewesen sein, der den Kaiser in den Narrenturm, als Luftmaschine, „Pneumagenerator", zog. Er muss schon sehr früh zu Beginn seiner Regierungszeit die Aussichtslosigkeit seines Bemühens, seines „Wollens" erkannt haben. Joseph muss nicht nur körperlich, sondern auch seelisch in schlechter Verfassung gewesen sein. Der Ideenkomplex, den der Kaiser im Narrenturm verwirklichte, glitt lautlos und geheim auf einer Luftschiene 2/7

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über Begriffe wie Sehen - Seele - Licht und Sonne - zu Selene, der Mondgöttin, und den Seleniten, den Bewohnern der Mondoberfläche.6 Was ich in diesem Kapitel vornehmlich zeigen möchte, ist, dass ein gewisser Kreis von Personen - über Quarin und den damals längst verstorbenen Pater Franz hinausgehend - um das „Wesen" des Turmes gewusst haben und manche vielleicht sogar in das „große Werk" integriert waren. Ich fand nun einen Mann7, der in die Wirkungsweise des Narrenturmes wahrhaftig „eingefügt" gewesen sein könnte und von dem ich annehme, dass die Person und das Handeln des Kaisers wesentliche Eindrücke und Spuren in seinem umfangreichen Lebenswerk hinterließen. Sein überaus vielfältiges und reichhaltiges Werk ist, wenngleich auch heute fast völlig vergessen, voll von Hinweisen auf den Turm! Ich meine Franz de Paula Gruithuisen (1774-1852), geboren als Sohn eines Falkoniers8 auf Schloss Haltenberg am Lech in Bayern. Als Kind dürfte er, obwohl er aus nicht gerade wohlhabenden Verhältnissen stammte, eine gute Schulbildung erhalten haben.9 Im „Neuen Nekrolog der Deutschen" für das Jahr 1852, Nr. 138, liest man über ihn: „Sein Einkommen [das des Vaters; Anm. d. Verf.] war gering und er konnte auf die Erziehung seines Sohnes, dessen Fähigkeiten sich frühzeitig entwickelten, nicht soviel verwenden, als er wohl gewünscht hätte, thun zu können. In den alten Sprachen machte Gruithuisen schnelle Fortschritte. Auch in seiner wissenschaftlichen Bildung überhaupt, zeichnete er sich rühmlich aus. Zu seinem Berufsfache wählte er die Chirurgie. Aus dem älterlichen Hause sehnte er sich hinaus in die Welt. Er wollte Erfahrungen sammeln und seine Kenntnisse berichtigen und erweitern." Über sein Leben ist fast nichts bekannt. Das Zitat meint nicht etwa einen jungen Mann, sondern ein Kind von höch218

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stens 12 Jahren, das sich in seiner wissenschaftlichen Bildung auszeichnete (!) und als Beruf die Chirurgie wählte, um hinaus in die Welt zu ziehen! In den lexikal-biographischen Kurzbiographien ist mehrmals davon die Rede, Gruithuisen hätte als Knabe eine nicht näher bestimmte Chirurgenschule besucht. Ich hege nun aber einen gewissen Verdacht, dass er als „Jüngling", so lautete die offizielle Bezeichnung, das von Joseph II. gegründete Josephinum absolvierte, freilich nicht als voll ausgebildeter Militärarzt, sondern als Lazarettgehilfe. Im 1785 eröffneten Josephinum gab es Zöglinge, die im Alter von 12 bis ig Jahren dort zu Sanitätspersonal für die österreichische Armee ausgebildet wurden. Die spärlichen Angaben über Gruithuisen sind sich nun darüber einig, dass er am Türkenfeldzug der österreichischen Armee - unter dem Oberkommando Josephs II. - von 1788/89 teilnahm. Der Krieg geriet beinahe zu einer Katastrophe für die Österreicher - Joseph II. brachte er den Tod, da er sich im Feld überanstrengte und seine Krankheit sich dadurch verschlimmerte. Gruithuisen nahm als „Kindersoldat" am Krieg teil und es ist nahe liegend, dass er - in österreichischen Diensten stehend - davor die notwendige und vorgeschriebene Ausbildung im eigens für diese Zwecke gegründeten Josephinum durchlief. Die rückwärtige Front des Militärspitals, das ein Teil der Gründung Josephs II. war, grenzte an das Gelände des Narrenturmes. Wenn Gruithuisen dort als Zögling untergebracht war, musste er den Turm gut kennen. Es gibt nun aber zwei gewichtige Fakten, die den kleinen Gruithuisen, der irgendwann - vielleicht - zwischen 1785 und 1789 nach Wien kam, in höchstem Maße interessant für den Kaiser und den Narrenturm machten. Da wäre sein Geburtsdatum - Eröffnungs- und bestimmte Geburtsdaten spielen eine große Rolle für das Zah2iy

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lensystem - , der ig. März 1774. Der 19. 5. ist der Namenstag Joseph des Nährvaters und 3 x 19 ergeben 57 etc. Dies allein genügt aber noch nicht, denn an dem Datum kann bald jemand Geburtstag haben, was aber Gruithuisen darüber hinaus auszeichnete, war sein phänomenaler Gesichtssinn, denn er sah wie ein Falke. Dies ist keine Übertreibung und wurde mehrfach von Zeitgenossen bezeugt! Gruithuisen war in der Lage, die Phasen der Venus, die etwa denen des Mondes vergleichbar sind, am Nachthimmel mit freiem Auge zu erkennen. Er unterschied durch bloßes Hinsehen die Stellungen der vier größten Jupitermonde um den Großplaneten, von denen man erst seit Galileo Galilei überhaupt etwas wusste. In einer wissenschaftlichen Abhandlung, von der hier noch ausführlicher die Rede sein wird, erklärte er, seine erstaunliche Sehkraft durch besondere Maßnahmen zu schützen. Weiters behauptete er, dass er einmal von einem Berg aus, bei gutem Wetter, eine Gruppe von Menschen über eine Distanz von 10 Meilen klar ausmachte, wobei er einzelne Personen unterscheiden konnte. Falls er auf über 10 Meilen wirklich etwas sehen konnte, muss er ein ans Wunderbare grenzendes Sehvermögen gehabt haben. Es ist gut möglich, dass sich Gerüchte über seine Fähigkeit herumsprachen und der Kaiser davon informiert wurde. Joseph könnte sich des Augenlichts Gruithuisens dahingehend bedient haben, dass er ihn - gewissermaßen als lebendiges Teleskop - benutzt hat, um dadurch eine Bestätigung seiner Annahmen zu finden. Mit Gruithuisen als „Verstärker" hinter einem leistungsstarken Teleskop konnte ihm schlichtweg nichts entgehen.10 Diese fallweisen, hypothetisch von mir angenommenen Besuche im Narrenturm und die persönliche Bekanntschaft mit dem Kaiser könnten einen nachhaltigen Eindruck, der 220

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sich in seinem gesamten späteren Werk bemerkbar machte, hinterlassen haben. Zunächst aber diente er weiter in der Armee und wurde nach Beendigung des Krieges ausgemustert. Auffällig ist für die Zeit nach dem Tod Josephs II., dass Gruithuisen offenbar über finanzielle Mittel verfugte, die über das Maß eines einfachen Lazarettgehilfen hinausgingen. Erst 1792, nachdem ihm möglicherweise das Geld ausgegangen war, findet man ihn als Bediensteten am bayrischen Hof. 11 Jedenfalls weiß man - Gruithuisen selbst führt es an - , dass er um diese Zeit, von 1792 bis 1794, mit selbst gebauten Fernrohren den Mond observierte. Es waren dies riesige Instrumente von 14 bis 24 Fuß Länge, die einiges Geld gekostet haben müssen, auch wenn er sie selbst zusammengebaut hatte. Als einfacher Bediensteter hätte er sich so etwas kaum leisten können. Zudem hatte er genügend Zeit um sich im Selbststudium weiterzubilden. Seine Leidenschaft geilt der Philosophie und den Naturwissenschaften. Die kurzen Biographien erwähnen zwar, dass ein unbekannter Gönner flir Gruithuisen sorgte, wissen aber auch nicht mehr oder halten sich darin zurück. Uber die genaue Tätigkeit Gruithuisens von seiner Militärzeit an bis 1801 gibt es nur Vermutungen, keine Dokumente oder sonstige Fakten. Joseph II. war nicht knausrig, sobald er Vertrauen zu jemandem fasste. Gruithuisen, als intelligenter, verschwiegener und in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Knabe, könnte in Joseph II. einen großzügigen Gönner gefunden haben. Dies würde auch erklären, warum er über Jahre seinen „Hobbys" nachgehen konnte - als ausgemusterter Soldat aus armen Elternhaus, der für eine fremde Armee als Söldner gekämpft hatte, die unter Joseph II. 1778 sogar in Bayern einmarschierte.

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Ab 1801 studierte er Medizin in Landshut und ließ sich dabei - umgelegt auf damalige Verhältnisse - relativ lange Zeit. Erst 1808 promovierte er und noch im selben Jahr berief man ihn als Professor an die Schule für Landärzte in München. Neben seinem Medizinstudium dürfte er sich intensiv mit Astronomie, Philosophie und den übrigen Naturwissenschaften beschäftigt haben. Ab 1809 setzt die Veröffentlichung einer Vielzahl naturkundlicher-wissenschafitlicher Arbeiten ein. 12 Es macht den Eindruck, als hätte Gruithuisen sich in sein Fach bald derart eingearbeitet, dass er genügend Zeit dafür hatte, seiner einzigen und wahren Leidenschaft nachzugehen: der Beobachtung des Mondes.1^ Bevor ich nun zu seinem Hauptwerk komme, der „Entdeckung vieler deutlicher Spuren der Mondbewohner, besonders eines colossalen Kunstgebäudes derselben"1"*, einer wunderlich-phantastischen Arbeit, mit der Gruithuisen die „staunende" Fachwelt konfrontierte, sei noch auf bestimmte andere Aspekte seiner Forschung eingegangen, die alle nur ein Ziel kannten: den Nachweis von Wesenheiten auf dem Mond. Gruithuisen war in vielen Bereichen ein ernst zu nehmender Wissenschafter und seinem Wissen nach auf der Höhe seiner Zeit.' 5 Er war einer der Ersten, der Mondkrater als Spuren von Meteoriteneinschlägen erkärte. Erst mit der verhängnisvollen Veröffentlichung seiner Mondtheorie16 manövrierte er sich langsam in die Vergessenheit. In den astronomischen Werken nach seiner Zeit finden sich kaum noch Hinweise auf ihn. Bei Jules Verne - „Reise von der Erde zum Mond" - wird noch einmal sein Name, allerdings in ironischem Zusammenhang, genannt. Gruithuisen verfocht die These, dass das Wasser langsam von der Erdoberfläche verschwinden werde. Als

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Beweis dafür sah er die so genannten „erratischen Blöcke", riesige Steintriimmer, die vom Geschiebe vorzeitlicher Gletscher transportiert und beim Abschmelzen rätselhaft in Gegenden zurückblieben, zu der sie geologisch nicht einzuordnen waren. Auch auf dem Mond spielte sich dies so ab. Einstmals wogten, nach seiner Theorie, riesige Meere auf dem Erdtrabanten, von denen auch die „Alten", die antiken Wissenschafter, überzeugt waren, es gäbe sie wirklich. Bei seinen Mondbeobachtungen sah er seichte Tümpel, Nebelbänke, Weiher und Teiche, Wolkenformationen. Die Meere trockneten aus und das Wasser wurde knapp. Er sah deutlich teilweise ausgetrocknete Flussläufe, dann: Kanäle1?, ein ganzes System künstlicher Wasserstraßen - „wie beim Kanalbau in Holland". Überall bemerkte er die Spuren längst ausgetrockneter Meere, in denen sich ganze „Bergadern" - Gebirgszüge - auflösten. Das Merkwürdige an all den sonderbaren Überlegungen Gruithuisens war aber dies: In seinem Aufsatz über die „Seleniten", die Mondbewohner, gibt er an, die Luft in der Mondatmosphäre sei 28-mal leichter als die auf der Erde. Wir wissen heute, dass der Mond überhaupt keine Atmosphäre besitzt. 28-mal erinnert wieder an den Narrenturm, der nicht umsonst ohne Brunnen errichtet wurde, auf einer künstlichen Anschüttung steht, die ihn vom Boden abhebt, und der von einem Netzwerk von Heizadern durchzogen war, die ihn gut trocken halten sollten. Die Luftigkeit des Narrenturms soll ihn empfänglicher machen für den Strom des Pneumas. Bestimmte Qualitäten der Seele entschweben durch die Luft, gelangen vielleicht auf den Mond. Die dortigen Lebewesen sind gänzlich aus Geist und Pneuma. Was macht nun Gruithuisen? Bei ihm verschieben sich die von Joseph II. angenommenen Seinsqualitäten der See-

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lenwesen vom Geistigen, vom nicht Greifbaren, zu „leichten Lebenwesen", die in der dünnen Atmosphäre des Mondes existieren. „Die Feuchtigkeit ist der Seelen Tod", meinte schon Heraklit. Je trockener der Mond, desto besser die Chancen für nahezu rein geistige Lebewesen. Joseph II. versuchte an dieses „Problem" noch magisch, kabbalistisch heranzugehen, Gruithuisens Methode war aber die Wissenschaft und aufgrund seiner breiten Sachkenntnis versuchte er jeden Sachverhalt genau zu erklären. Hinter seinen naturwissenschaftlichen Versuchen das Thema zu bewältigen, klingt aber noch immer das alte Schema Josephs II. durch, das er als Kind vielleicht kennen gelernt hatte. Man könnte fast sagen, die Ideen verfestigten sich im Laufe der Jahre; war zunächst nur die Vorstellung, die „platonische Idee", begann sie bei Gruithuisen Gestalt anzunehmen und inkorporierte sich. Die Verschiebung von der Idee, dem geistigen Bild, zur greif- und sichtbaren Manifestation sah Gruithuisen auch in der „Urzeugung", der „Generatio aequivoca", deren Theorie davon ausging, alle Lebewesen entstünden aus einfachen Zellindividuen, die jeweils verschiedene Sonderorgane ausprägten und somit für die Vielfalt der Arten sorgten. Die einfachen Zellen konnte man den kleinsten Zahlatomen gleichsetzen, aus denen sich alle anderen Zahlen bildeten. Eine Zelle und eine Zahl: die 1 - aus der sich jede höhere Zahl oder Form ableitete. Was bei Joseph II. noch das Walten Gottes in Form der Kreisbahnen der Gestirne und der Schwingungen des Kosmos war, durch die nach Piaton die Zeit und die Seele entstand, wurde bei Gruithuisen zur Annahme, dass durch den Raum ziehende Kometen, „Weltkörper" - als Manifestation des Willen Gottes - , Leben hervorbrachten. „Sanft brennende Atmosphären", die Kometenschweife, befruchteten das All.18 224

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„Kometen sind nicht bloß anfangende Planeten, sondern auch Mutterorte, woraus am besten die Organisation^ zu allen jenen Anlagen kommt, die sich erst weiter zu entwickeln pflegen, sobald der Komet sich mit einem Monde oder Planeten vereint hat, davon unser Mond ein gar so lebendiger Zeuge ist. Denn in Ansehung eines grellen aber fortwährenden Tages und eines ununterbrochenen Zustandes zwischen Frühling und Sommer, können wir vorzugsweise die größeren Kometen mit ihren Millionen von meilenhohen sanft brennenden Atmosphären im Auge haben, und dabei nur allein die unbegreiflichen Sphären tropischer Organisation am Nordpol der Erde 2 0 usw. von diesen Fremdlingen ableiten, die sich mit der Erde ehemals vereinten." Er sah darin einen Beweis der Existenz Gottes. Und er selbst muss sich für einen Auserwählten gehalten haben. 21 Nimmt man nun, wie Gruithuisen, die Urzeugung am Beginn allen Lebens an, so ist auch der Mensch aus ihr hervorgegangen. Aus einfachen Zellstrukturen, die von Gott bevorzugt behandelt werden, bildet sich der Embryo. Die weitere Konsequenz davon, deutliches Zeichen seiner Bevorzugung durch Gott, ist seine Sehkraft, die zum Zwecke der Entdeckung und Offenbarung besonders gut ausgeprägt wurde. Demnach schreibt er auch Traktate über das Auge, die davon handeln, dass Tiere, wie z. B. die in völliger Dunkelheit lebenden Tiefseefische, durch äußere Veranlassung dazu genötigt, es fertig brächten, funktionstüchtige Augen auszubilden. Nimmt man den in lichtlosen Höhlen lebenden „Proteus anguineus" (den Grottenolm) wo „Sehen und Erkennen überflüssig" - aus seiner angestammten Umwelt heraus, so kann er seine Sehorgane an die neuen Bedingungen anpassen. Dies versuchte man auch in treffender Analogie beim Narrenturm. Die Geisteskran225

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ken, bisher in einer ungeeigneten Umgebung lebend, die ihre Geisteskraft verkümmern ließ, sollten neue Fähigkeiten durch die Ordnung und Stellarwirkung des Hauses erlangen und dadurch wieder „normal" werden. Ein Organismus kann sich nach ganz verschiedenen Richtungen entwickeln. Gruithuisen, als „Organismus" Mensch, bildete ungewöhnlich scharfe Augen aus, mit denen er am Himmel „gänzlich unverhoffte Dinge" wahrnahm. Ganz so unverhofft dürften die Dinge nicht gewesen sein, die Gruithuisen nach 12-jähriger fortwährender Mondbeobachtung entdeckt hatte. Er räumt allerdings ein, nicht jeder wäre sogleich in der Lage, die epochalen Sichtungen, die er im Krater Schröter fand - eine riesige Stadt, rund g Meilen lang - , nachzuvollziehen, da man sich erst in den Mond „einsehen" müsste. Kaum jemand verfugte aber über sein Sehvermögen und nahezu niemand habe eine derart genaue Kenntnis der Mondtopographie, die der seinen gleichkäme. Gruithuisen war Fachmann für den Mond. Schon als 18-Jähriger kannte er jeden noch so unscheinbaren und winzigen Krater, hatte sämtliche verfügbaren Mondkarten im Kopf gespeichert. Schon als Jugendlicher war er der Meinung, dass just dort, im Krater Schröter, wo er jenes „kolossale Kunstgebäude" entdeckte, Leben auf der Mondoberfläche existieren müsse. Gruithuisen schildert zuerst detailreich die Vegetation auf dem Mond. Palmwälder und Farnhaine, sich ausnehmend wie „zottiger Sammet", die durch schnurgerade Straßenzüge durchbrochen, nach den „Commando eines Straßenbaudirektors" angelegt, der „itineraren Communikation" dienten. Darunter verstand er offensichtlich Mitteilungsversuche der Seleniten, der Mondbewohner, die an die Menschen adressiert waren. Riesige Tierherden zögen dort auf breiten Bahnen - einmal sieht er schattige Sche226

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men, die aufeinander treffen und sich wieder voneinander entfernen - allein zum Zweck Aufmerksamkeit zu erregen. Er selbst schlägt später vor auf diese Nachrichten zu antworten und empfiehlt die Pflanzung großer Rübenfelder in Sibirien - in Form einer graphischen Umsetzung des „pythagoräischen Lehrsatzes", der den Seleniten doch bekannt sein müsste. 22 Am 12. Juli 1822 sah er mit seinem kleinen, leistungsstarken Frauenhofer'schen Refraktor, einem Instrument modernster Bauart, den „colossalen Kunstbau" zum ersten Mal. Was Schröter und Herschel mit ihren Riesenspiegeln nicht gelang, glückte ihm, dem Begabten, dem Auserwählten.23 Seit diesem Zeitpunkt sah er den merkwürdigen Bau mehrmals. Zuerst nimmt er einen gewaltigen Termitenbau an, dann aber findet er gewisse Gesetzmäßigkeiten, die ihn auf intelligentes Leben, dem menschlichen vergleichbar, schließen lassen. Die ganze Anlage ist nämlich genau nach den „Weltgegenden", den Himmelsrichtungen ausgerichtet. Er erkennt deutlich einen geraden „Hauptzug", von dem im Winkel von 4g0 Nebenzüge abweichen. Er nimmt an, die Stadtplanung erfolgte deshalb so, um die kalten, trockenen Winde abzuwehren oder eine Art polizeilicher Überwachung der Mondbewohner zu ermöglichen. Die ganze Anlage ist seiner Meinung nach unter dem Boden sublunar - angelegt. Die geometrisch gestaltete Anlage unterscheidet sich von einer „Altstadt", die er ebenfalls zu erkennen meint, durch ihre Übersichtlichkeit. Dies alles erinnert ein wenig an die „Winkelzüge", die Höfe und kasernenartigen Strukturen des Allgemeinen Krankenhauses und den alten Stadtkern Wiens. Alle Mondgebäude vermutete er also unter der Oberfläche, kein Wunder, denn Gruithuisen hätte niemals offen über die Vorfalle im Narrenturm sprechen können, und 227

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daher - unbewusst - verlegte er die Anlage unter die Mondoberfläche. Kurz und gut, ich gehe davon aus, dass er die ganze Wiener Anlage auf den Mond projizierte. In unmittelbarer Nähe der „Neustadt" auf dem Mond sieht er ein „sternschanzen-artiges" Bauwerk, von dem er selbstverständlich sofort annimmt, es müsse dem „Sternendienst" geweiht sein, einer Art Kultus und Religion der Seleniten. Dies deckt sich augenscheinlich mit den irdischen Gegebenheiten: Die Gebäudezüge des Allgemeinen Krankenhauses und des Josephinums bilden zueinander ebenso Winkel, die an das Mondbauwerk erinnern. Das sternförmige Kultgebäude entspräche dem Narrenturm. Aufgrund der Beschaffenheit der Mondoberfläche ist er sich sicher, die Gebäude zögen sich unter der Oberfläche - sie dürfen nicht klar zu Tage treten, denn die eigentliche Funktion des irdischen Narrenturmes ist geheim und so montiert er die von mir hypothetisch angenommenen Erlebnisse und Eindrücke seiner Jugend um, spiegelt sie auf den Mond. Erst im weiteren Verlauf seines Berichtes wird es klar, dass er auch den Narrenturm auf den Mond projiziert. Dieser Umstand schlägt sozusagen aus dem Unbewussten durch. Einmal wird er darin ziemlich konkret und deutlich: Er erspäht kleine Ringelchen, die „Circellen", die alle von einem dunklen Schattenring umgeben sind. Er gibt ihre Größe in Fuß-Durchmessern an, extrem genauen Werten, um damit seine Sehkraft zu beweisen! Er sieht Circellen, in denen ein weiteres Kreislein sich erkennen lässt - mit einem feinen schwarzen Punkt in der Mitte! Manchmal blitzt es aus diesen Ringbauten auf! Gruithuisen beobachtete viele TLPs (transient lunar phenomenons) - man denke dabei an die „Blitzschutzanlage" auf dem Narrenturm - , 228

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alles Parallelen, die sich mit der Situation auf der Erde vereinbaren lassen. Die Lichtsignale 24 deutet er als Freudenfeuer - die Seleniten feierten Neumondfeste. Natürlich nahm die Fachwelt Gruithuisens Behauptungen mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Gleich nach der langen Abhandlung Gruithuisens in „Kastners Archiv" meldete sich der Astronom Olbers in einem Fachartikel zu Wort, in dem er Stellung zu den Thesen nahm. Olbers sprach ganz offen aus, dass er nichts von all dem hält, und führte Gruithuisens Endeckungen auf eine übersteigerte Phantasie zurück. Kastner, der Herausgeber des nach ihm benannten Archives, fügte der Kritik Olbers eine Fußnote an, in der er darauf hinwies, „nur wenige sahen die Trabanten des Jupiters mit freiem Auge", er hielt also Gruithuisens Entdeckung für wahr - wegen der „Falkenaugen" des Astronomen.25 Über Gruithuisens Lebensdaten ist, wie bereits gesagt, kaum etwas bekannt. Fest steht aber, dass er im Jahr 1826 für mehrere Monate in Wien weilte, um für seine Sache zu werben. Er war ein geschäftiger Mensch, der oft herumgereist sein muss, interessant ist aber die Länge des Aufenthaltes in Wien. Im „Berliner Jahrbuch für Astronomie" von 182g sagt er in einem Brief, er habe sich 1826 für mindestens zweieinhalb Monate in Wien aufgehalten. Er besuchte dort den Direktor der Sternwarte, Littrow, und verschiedene Amateurastronomen. Es könnte gut möglich sein, dass er auch den Narrenturm besuchte, um eine „besondere" Bestätigung seiner Beobachtungen dort zu finden oder des Kaiser Josephs II. zu gedenken, der ihm als Kind die „Mond-Flausen" in den Kopf gesetzt haben könnte. Mochten seine - zugegeben - sonderbaren Hypothesen ihm auch mehr geschadet als genützt haben, fest steht, dass er sich bemühte, seine Schlussfolgerungen plausibel erschei229

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nen zu lassen, und so schrieb er ganz zu Beginn seiner Abhandlung: „Wer diese Ableitungen zu kühn findet, den erinnere ich bloß daran, dass sie weniger zum Behufe einer Theorie, als vielmehr zur Aufstellung neuer Untersuchungsprobleme dienen sollten; denn, wenn man solcher Ansichten entbehrt, entbehrt man auch der Richtung in der Forschung, und ohne jene ist diese so viel als ganz todt; ein Verhältniß, welches auch für jedes Ergebniß der folgenden Untersuchungen hier gelten soll." Dem kann ich mich, was meine Arbeit betrifft, nur anschließen. Und außerdem: 1977 starteten die Voyager-Raumsonden der NASA zu ihrer Reise durch das äußere Sonnensystem. An Bord beider Voyager-Sonden, die jetzt weiter in die Tiefen des Alls vorstoßen, nachdem sie unser Sonnensystem längst verlassen haben, befinden sich zwei Schallplatten mit Liedern und „Geräuschen" der Erde - selbstverständlich fehlt auch der fast schon obligatorische Gesang der Buckelwale nicht und der damalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim sprach eine kurze Botschaft auf die Goldplatten. Diese Botschaft ist allen Ernstes für Außerirdische bestimmt, die, falls sie jemals die Sonden finden, Informationen über uns Menschen erhalten sollen. Im Prinzip ist dies nichts anderes, was auch beim Narrenturm versucht wurde. Hätte man schon die Compact Disc als Tonträger erfunden gehabt, damals, als die Voyagers aufbrachen, hätte man die Stimmen und Gesänge, all die Grußbotschaften auch in Zahlen verwandelt - digitalisiert und die Botschaft in den Weltraum entlassen. Zwar nimmt man bei der NASA keine Seelenwesen oder gar Gott als Empfänger an, aber immerhin Wesen von anderen Sternen.

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Zusätzlich zu den Schallplatten applizierten die Techniker der N A S A noch kreisrunde Plaketten aus Gold an den Sonden, die schematisch - in wissenschaftlicher Bildsprache - weitere Informationen über die Erde und die Menschen enthalten. Darauf ist neben anderen Abbildungen Folgendes, Merkwürdiges zu sehen (vgl. Abbildung 14 und ig).

In der Raumsonde Voyager befindet sich eine Schallplatte mit Stimmen, Geräuschen und Grussbotschaften von der Erde. Die Platte ist in einer Schutzhülle aus Metall verwahrt (Haltbarkeit ca. 1 Mrd. Jahre). In die Schutzhülle eingraviert ist eine Abspielanleitung - verfasst in einer „logischen" Zeichensprache - die es Ausserirdischen erleichtern soll, die Platte zum Klingen zu bringen. Eines, der auf der Schutzhülle abgebildeten Schemata sieht ungefähr so aus, wie oben dargestellt Es zeigt die Platte, wie wenn man sie von Oben betrachten würde. Das Zentrum ähnelt dem astronimischen Sonnensymbol; 27 Teilstriche laufen um den Rand der Platte; an 28. Stelle sieht man - dort wo beim Narrenturm der Eingang liegt - den Tonabnehmer. Bemerkenswert: der senkrechte Strich zwischen dem 8. und 9. Teilstrich, Aber: Windhauch, alles Windhauch - Zufall?

Abbildung 14: Voyager-Raumsonde

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Abbildung iy. Voyager-Abspielanleitungfür Schallplatte, umgelegt auf den Narrenturm.

Anmerkungen: 1 Keplers Kontakt mit Calvisius betraf die Frage nach dem Geburtsdatum Jesu Christi, denn, wie sich herausstellte, hatte Dionysios Exiguus sich etwas verrechnet, als er den Zeitpunkt der Geburt Christi bestimmte. Für die Katholiken blieb dies ohne besondere Folgen, die Lutheraner und Calvinisten jedoch übten massive Kritik an der Kalenderreform Papst Gregors und überprüften die Daten genau. 2 Archiv für österr. Geschichte, 122. Band, 1. Heft, Wien 1959, S. 121. Überdies: Müssen Mütter unbedingt immer mit ihren Söhnen „fertig werden" und falls ja, warum? Musste man mit Joseph fertig werden, war sein Charakter derart kompliziert und schwierig, dass Maria Theresia ihn „fertig machen" musste? Die Kaiserin unterdrückte ihn, die übliche Erziehung bei Hofe, eine Art „Ablichtung", zerbrach ihn. Im Grunde blieb Joseph II. - ungeachtet der wirklichen Fortschritte sei-

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ner Regierung, wie z. B. der Abschaffung der Todesstrafe - eine historische Randerscheinung, ein „arabesker" Mensch, der lediglich Stoff für Anekdoten lieferte. E. Lesky, a. a. 0 . E. Lesky, a. a. 0 . , S. 213. Maria „Terroresia"!: E. Bauer, 1999. Aber auch: Mikrokosmos und Makrokosmos vereinigen sich. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht ist - wieder einmal - E. A. Poe: „The colloquy of Monos and Una", worin der Mikro- mit dem Makrokosmos ein Gesprach führt, also zusammenkommt und sich vereint. Obwohl mir bereits bekannt, war es purer Zufall, dass ich ihn in das direkte Umfeld des Narrenturmes einfügen konnte. Falkner. Gruithuisens Vater war als Falkner bei der Schlossherrschaft angestellt. Es war gar nicht so einfach überhaupt biographische Daten zur Person Gruithuisens zu finden. Kurze Artikel über ihn gibt es in der „Allgemein Deutschen Biographie", der „Neuen Deutschen Biographie", der „Bayrischen Biographie", dem „Neuen Nekrolog der Deutschen" und in Poggendorffs „Biographisch-Literarischem Handwörterbuch zur Geschichte der Exakten Wissenschaften" - all diese Reihenwerke sind lexikalisch gegliedert und an der Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek Wien frei in der Präsenzbibliothek zugänglich. In all den Artikeln findet sich jedoch wenig an einschlägigen Lebensdaten zur Person, vielmehr verweisen die Artikel auf das schriftlich hinterlassene Werk. An „neueren" Arbeiten zur Person kenne ich nur die Festrede vom 14. März 1914 (!), gehalten von Siegmund Günther, anlässlich des 155. Stiftungstages der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, ein schmales Bändchen von 31 Seiten, zu gut einem Drittel aus Anmerkungen bestehend, und das Hörspiel: „Die Kreisschlösser", 1966 gedruckt, 195g geschrieben, von Arno Schmidt. Joseph II. litt vorübergehend (?) an einer Augenkrankheit, die sein Augenlicht schwächte. Ab 1776 beschäftigte er den bekannten Augenarzt, Anatomen und „Starstecher" Joseph Barth (1745-1818) als kaiserlichen Arzt. Erna Lesky schrieb in diesem Zusammenhang von „einflussreichen Augenleidenden" bei Hofe (Die Wiener medizinische Schule im ig. Jahrhundert, Wien, 1965). Leider konnte ich über die Augenerkrankung des Kaisers nicht mehr in Erfahrung bringen. Barth jedoch führte nach dem Tod des Kaisers, 1790, ein beschauliches Leben und beschäftigte sich mit Archäologie. Es scheint so, als hätte Joseph seine Dienste länger beansprucht.

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Darüber gibt es einander gegensätzliche Meinungen in den Kurzbiographien. Fest steht, dass man nichts Genaues weiß und Gruithuisen über Geld verfugte um sich Fernrohre zu bauen und studieren zu können. Ab 1801 studiert er Medizin, davor muss er einen Schulabschluss gemacht haben. Im neuen Nekrolog liest man darüber kiyptisch: „Durch mehrer Experimente und selbstgefertigte Fernröhren gewann er die Gunst eines einflussreichen und vermögenden Mannes, der sich seiner thätig annahm und ihm auf der Universität Landshut ein reichliches Jahrgeld zufließen ließ." Das mag auch so stimmen, aus Diskretion wird aber der Name des Gönners verschwiegen, den es gegeben haben mag oder auch nicht. Eine einmalige Zuwendung Josephs hätte vielleicht auch für ein späteres Medizinstudium gereicht.

12 Darunter ein Werk: „Über die Existenz der Empfindung in den Köpfen und Rümpfen der Geköpften, und von der Art sich darüber zu belehren", weiters: „Anthropologie, oder von der Natur des menschlichen Lebens und Denkens, für angehende Philosophen und Ärzte"; „Hippocrates des Zweiten ächte medizinische Schriften ins Deutsche übersetzt" - ein Beweis für die Aktualität der hippokratischen Lehren um 1800 (!); 1812 liefert er einen Gottesbeweis: „Neuer kosmo-theologischer Beweis von der Existenz Gottes" - es scheint, als hätte es nichts gegeben, was er sich nicht zugetraut hätte. 13 Gruithuisen entwickelt auch ein Instrument, das „Eklysmometer" den „Zugmesser", eine Messvorrichtung, die zur Anzeige von Bewegungen der Erdkruste verwendet wurde. Seine ursprüngliche Intention jedoch war es, die Anziehungskraft des Mondes damit sichtbar zu machen. 14 Publiziert 1824 in „Kastners Archiv für die gesamte Naturlehre", Band 1 und 2. 15 Die Französische Akademie der Wissenschaften verlieh Gruithuisen einen Preis von 1000 Goldfrancs, für seine Methode Blasensteine zu zermalmen oder auf chemischen Wege aufzulösen - lange vor Civiale. 16 Zunächst jedoch, 1826, ernannte man ihn zum Professor für Astronomie an der Universität München. Erst nach und nach begannen seine Gegner sich zu formieren. Seine Annahmen über die Mondbewohner stellten sich als unhaltbar heraus, entsprachen, da die Astronomie in starken Schüben sich weiterentwickelte, nicht mehr dem nachmalig herrschenden Grundkonsens der Wissenschaften. 17

Damit wird Gruithuisen, lange vor Schiaparelli und Percival Lowell, zum Ahnvater aller extraterrestrischen Kanalsysteme. Lowell widmete sein ganzes wissenschaftliches Leben der Erforschung der bekannten

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Seleniten und Circellen Marskanäle. Der Sciencefiction-Autor H. G. Wells verarbeitete in seinem Roman „Krieg der Welten" dieses Thema. Die Bewohner des Planeten Mars überfallen die Erde und beginnen mit einer Invasion. Ihr Heimatplanet ist eine sterbende Welt - ohne Wasser, das für sie wie für uns lebensnotwendig ist. 18 Winzige Elementarkörperchen - „fleischgewordenes Gotteswort" oder manifeste Zahlteilchen - durchzogen das All. Gruithuisen war Verfechter der These, dass diese Elementarteilchen, zuerst riesige Staubwolken, sich zu den Himmelskörpern formten. Abstrakte Zahlen werden zu Atomen. ig Organisation heißt bei Gruithuisen „Leben". 20 Dies bezieht sich auf Funde von fossilen Pflanzen und Tieren, auf die man in Polargebieten stieß. 21 Allein schon wegen seiner überragenden Sehkraft, wegen der Auswahl durch den Kaiser und seines „passenden" Geburtsdatums. 22 Man enthalte sich an dieser Stelle des Gelächters, ich werde noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, wo die NASA ganz Ahnliches versucht hat - ein paar Jahrzehnte sind seither erst vergangen! 23 Andere Astronomen, wie z. B. Kepler, waren durch die Unzulänglichkeit ihres Sehsinnes gehandicapt. Kepler litt unter einer fatalen Doppelsichtigkeit, die es notwendig machte, dass er seine theoretischen Überlegungen durch Daten absichern musste, die der geniale Tycho Brahe, ein exzellenter Beobachter - mit freiem, unbewaffnetem Auge - , gewonnen hatte. Kepler nannte seinen Sehfehler die „leidliche Blödigkeit des Gesichts". 24 In einer anderen Arbeit verweist Gruithuisen auf die Bedeutung optischer Lichtsignale zur Kommunikation über weite Distanzen. So sollten z. B. Wetterwarten, die er sich auf dem Watzmann und Großglockner vorstellte, Informationen über Blinkspiegel austauschen. 25 Das Werk und die Bemühungen Gruithuisens blieben, trotz vieler Anfeindungen, nicht ohne gebührende Würdigung. Heute ist ein Mondkrater nach ihm benannt. 26 Es sind dies die Hüllen der Platten.

235

Literaturverzeichnis

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2)7

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2)9

Anhang 1

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums Bildteil von ALFRED STOHL u n d BEATRIX PATZAK

Anhang i Die systematische Sammlung pathologisch-anatomischer Präparate in Wien geht auf den berühmten Arzt Johann Peter Frank zurück. Erst seit 1796 forschte man in der pathologischen Anatomie nach einigermaßen wissenschaftlichen Standards. Heute gilt das Museum, das erst seit 1971 im Narrenturm untergebracht ist, als das weltweit größte seiner Art. Seit der Ubersiedlung aus den Räumen des pathologisch-anatomischen Universitätsinstitutes in den Turm, wuchs der Bestand der Sammlung von 7000 auf rund 50000 Objekte an und wird laufend erweitert. Unter dieser Vielzahl von Exponaten unterscheidet man vier verschiedene Gruppen: 1.

Feuchtpräparate - authentische menschliche oder tierische Leichen-

2.

Trockenpräparate, konserviert durch die Methoden der Mazeration,

teile in Formaldehyd konserviert - stellen die größte Gruppe dar. Exsikkation (Austrocknung) und Taxidermie (Ausstopfung). Unter Mazeration versteht man ein chemisches Verfahren, bei

dem

hauptsächlich Knochen von den sie umgebenden Weichteilen befreit werden. 3.

Modelle und Moulagen aus Wachs. Moulagen sind naturgetreue farbige Wachsabdrücke, die von Spezialisten für den anatomischen Unterricht angefertigt wurden. Im Gegensatz zu Modellen - eigentlich idealisierte Wachsplastiken - sind Moulagen von Vorbildern aus der Wirklichkeit abgeformt.

4.

Medizinische Instrumente und Geräte - besonders beachtenswert ist die weltweit drittgrößte Sammlung an Mikroskopen.

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

1 Knochenmessgerät Carl von Rokitanskys (1804-1878), konstruiert und gebaut von Siegfried Marcus (1821-1898^). Uber die Funktion und das Baujahr dieses Instrumentes ist kaum etwas bekannt - es wurde durch Zufall in den Bestanden des alten Museums im pathologischen Institut entdeckt. Bis 1956 gab es kein vollständiges Inventar der Museumsobjekte, es wurde erst in mühsamer Kleinarbeit von Hofrat Karl A. Portele erstellt. Bedingt durch die Beengtheit der Räumlichkeiten konnte es passieren, dass man gewisse Exponate übersah und diese mit der Zeit einfach in Vergessenheit gerieten. So diente das in einer unscheinbaren Holzkiste aulbewahrte Knochenmessgerät lange als Untersatz für ein anderes Museumsstück. Der in Wien lebende Konstrukteur und Mechaniker Marcus wurde durch den Bau eines ersten Automobiles (1870) bekannt. Bokitansky gilt in der Medizingeschichte als einer der bedeutendsten Pathologen. Er forschte, als einer der Ersten, nach ausschließlich objektiven Richtlinien und schuf somit die wissenschaftliche Pathologie. Rokitansky dürfte mit dem Messinstrument vermutlich anthropologische Untersuchungen an Schädeln durchgeführt haben.

243

Anhang I

2 Stopfpräparat (Taxidermie) eines an Ichtyosis erkrankten Mädchens. Dieses Präparat wurde von Joseph Barth (1745-1818), dem Anatomen und Augenarzt von Joseph II., um 1780 angefertigt. Es steht mit dem vorher beschriebenen Messgerät insofern in Zusammenhang, da die Transportkiste des Instrumentes lange Zeit als Untersatz fiir das ausgestopfte Mädchen diente. Ichtyosis (die „Fisch-Schuppenkrankheit") ist eine unheilbare, vererbte Anomalie der Haut. Uber des Mädchens Herkunft und Geschichte ist leider nichts Näheres bekannt. Ursprünglich befand sich das Präparat im kaiserlichen Naturalienkabinett (wo auch der zu trauriger Berühmtheit

244

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums gelangte Angelo Soliman ausgestellt wurde) und kam erst im 19. Jh. in den Bestand des Museums. Erst igg7 fertigte man eine Röntgenaufnahme an und stellte fest, dass das Innere des Präparates aus einem durchgängigen, festen Wachskörper besteht. Bisher nahm man nämlich an, die Körperhülle des Mädchens wäre über einen Holzrahmen gespannt. Merkwürdig ist, dass sich die Hände und Füße des Mädchens - mumifiziert - noch am Präparat befinden, ebenso die Ohrmuschelknorpel. Deswegen konnte man erstmalig eine Altersbestimmung vornehmen - das Mädchen war zum Zeitpunkt des Todes ca. 4-5 Jahre alt. 3 Wachsbüste (Modell) eines verunglückten Pferdeknechtes von Georg Prohaska (1749-1820). Das Modell zeigt den Kopf eines Mannes, dem ein ausschlagendes Pferd den Unterkiefer zertrümmerte, der operativ entfernt werden musste. Zu einer Zeit, in der das Pferd das wichtigste Transportmittel darstellte,

24S

Anhang I waren solche typischen Arbeitsunfälle häufig. Es kam selten vor, dass jemand so eine schwere Verletzung überlebte. Der Mann hat sicher noch an die zehn Jahre nach dem Unfall gelebt. Abgesehen davon, dass er entstellt den Rest seiner Tage fristen musste, bleibt es ein Rätsel, wie er Nahrung zu sich nahm. Da der Unterkiefer fehlte, musste ihm wahrscheinlich jedes Essen vorgekaut und durch den Hals in die Speiseröhre massiert werden.

4 Wachsmodell einer Not-Sektio (Kaiserschnitt) ans Gebärklinik, um 1700.

einerfranzösischen

Lag der Wert des vorigen Modelles mehr im Bereich der medizinischen Kuriosität, so diente dieses dem praktischen Anschauungsunterricht. Zum Zwecke der Ausbildung medizinischen Personals verwendete man als Unterrichtsmaterial oft Modelle. Dieses Exponat gehört zu den ältesten der Sammlung. Es zeigt eine realistische Situation, die richtige Handhaltung des Chirurgen ist mit dargestellt.

246

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

g Moulage, „Spiegler-Tumore" (Zylindrome) Eduard Spiegier (Wien 1860-1908).

- nach dem Dermatologen

Diese Tumorform tritt hauptsächlich an der Kopfhaut auf. Diese Moulage, wie der Großteil der Moulagensammlung des Museums, stammt aus der Hand des Arztes Carl Henning (1860-1917) und seines Sohnes Theodor (1897-1946). Hennings Moulagen erreichten einen weltweite Bekanntheit wegen ihrer Detailtreue und der äußerst realistischen Dokumentation von Krankheiten.

247

AnhangI Um 1895 begann Henning mit der Herstellung seiner Farbplastiken für den Unterricht an der Universität Wien. Als Abformmittel wurden Elastine benutzt, deren Zusammensetzung erst kürzlich geklärt werden konnte, da sich das „Rezept" noch heute im Besitz der Familie Henning befindet. 1998 wurde am Institut für technische Chemie, der Akademie für angewandte Kunst, eine ausführliche Analyse des Wachses durchgeführt.

248

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

6 Büsten eines Zwillingspaares, Mikrozephalie, Carl Henning. Die Brüder waren Patienten der 1907 eröffneten „Klinik am Steinhof". Unter Mikrozephalie versteht man eine abnorme Verkleinerung des Gehirnschädels. Dabei entwickelt sich der Knochenbau des Gesichtes normal. Die Büsten zeugen von der künstlerischen Begabung Hennings, da sie keine herkömmlichen Abgüsse sind, sondern der Arzt sie aus einem Wachsblock herausmodellierte. Die Köpfe erinnern stark an die Plastiken, die „Charakterköpfe" Franz Xaver Messerschmidts (1736-1783) - den Selbstporträts des geisteskranken Künstlers.

249

Anhang i

2$0

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

7 Skelette zweier Schwestern. Rachitis. Die Zwillingsschwestern starben im Alter von 19 und 25 Jahren. Rachitis war im ig. und bis weit in das 20. Jh. eine verbreitete Vitamin-D-Mangelerscheinung, aufgrund derer es zu schweren Wachstumsschäden der Knochen kam. Es bürgerte sich der Begriff von der „englischen Krankheit" ein, weil in den finsteren Slums englischer Industriearbeiter, die oftmals in bitterster Armut lebten, Rachitis überall anzutreffen war. Der soziale Aspekt dieser Krankheit ist nicht zu übersehen.

2?

Anhang i

8 Unterkiefer einer Arbeiterin in einer Zündhokfabrik. (Knochenmarksentzündung).

Osteomyelitis

Einer der historischen Forschungsschwerpunkte im Museum liegt auch auf dem Gebiete der Arbeits- und Sozialmedizin, der Veränderung der Arbeitsbedingungen und der daraus resultierenden Erkrankungen. Der Unterkiefer einer 1855 an Tuberkulose verstorbenen Arbeiterin in einer Zündholzfabrik zeigt deutlich die Folgen einer schweren Knochenmarksentzündung. Damals verwendete man gelben Phosphor für die Köpfe der Streichhölzer. Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal schlecht. Die Arbeiterinnen atmeten die schädlichen Dämpfe des Phosphors ein und es kam dadurch oftmalig zu eitrigen Kiefernekrosen. Weil sich dieses Krankheitsbild drastisch verbreitete, wurde 1907 die Verwendung von gelbem Phosphor in der Zündholzverarbeitung untersagt. Die Tuberkulose, an der die Frau letztlich verstarb, erlangte in Wien eine ungeheure Verbreitung - ja, man sprach sogar von der „Wiener Krankheit", wenn man die Tuberkulose meinte.

252

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

9 Janiceps,

„Januskopf".

Als „Monstren", Ungeheuer, bezeichnete die Medizin derartige Missbildungen. Beim Janiceps vereinigen sich zwei Körper in nur einem Kopf. Dank der begleitenden medizinischen Fürsorge während der Schwangerschaft sind derartige Missbildungen heute kaum mehr möglich.

23

Anhang I

Der Janiceps wäre nicht lebensfähig gewesen und wurde - in bereits mazeriertem Zustand - tot geboren. 1879 gelangte er in den Bestand des Museums.

10 Porzellanbüste mit „phrenologischen" Zonen, um 1845, von L. N. Fowler. Die Schädel-Phrenologie geht auf den in Wien forschenden Arzt Franz Joseph Gall (1758-1828) zurück. Gall war der Meinung, gewisse Charaktereigenschaften des Menschen wären durch die Beschaffenheit der Schädelform bedingt, ein fataler Irrglaube, der während des ganzen 19. Jh.s sich größter Popularität erfreute. Besonders aber in den USA wuchs sich die Phrenologie zu einer ganzen Industrie aus. Die Firma Fowler und Wells erzeugte unzählige Porzellanschädel, anhand derer man, vergleichbar heutigen Intelligenztests, zum Beispiel Berufsberatungen durchführte

254

Die Sammlungen des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums

oder die Aufnahme eines Bewerbers in eine bestimmte Firma davon abhängig machte. Um 1900 versuchte der italienische Psychiater C. Lombroso einen Zusammenhang zwischen der Schädelform und krimineller Veranlagung zu finden - zweifelhafte Forschungsansätze, die später im nationalsozialistischen Rassenwahn ihren traurigen Höhepunkt fanden.

Anhang 2 / Teil 1

Zur architektonischen Form des Narrenturmes V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

Architektonisch fällt das Haus in die Gruppe der RundbauAnlagen, wobei der Entwurf die Typologie der Zell- und Korridorsysteme, welche üblicherweise in lang gezogenen Trakten verliefen, aufnimmt. Die Form verweist hier auf das Rondell, das immer wieder als Bettenrotunde in Klöstern und Krankenhäusern vorkommt. Hier scheint einerseits das mönchische Abparzellierungsmodell noch durch, demgegenüber das System die damals herrschende Ansicht der Verwahrung und Unschädlichmachung vertrat. „Ohne Vorbild und Muster einer guten Irrenanstalt, wie es die damalige Zeit mit sich brachte, entwarf der Leibarzt Baron v. Quarin nach dem Willen seines Kaisers den Plan eines Gebäudes zur Aufnahme und Heilung von Geisteskranken. Nach dem Antrage Quarins entstanden: der Irrenthurm (Narrenthurm) in Wien, das sogenannte Tollhaus in Prag, und in den Lokal-Krankenhäusern der übrigen Provinzen, wurden Lokalitäten für Irre vorbereitet."1 Durch einen Befehl des Kaisers sollte Quarin alle eingelangten Vorschläge zur Detailplanung mit einbeziehen, die ihm am brauchbarsten und vorteilhaftesten erschienen. Der Entwurf war in erster Linie ein Wirtschaftsplan, eine genaue Ein- und Ausgabenrechnung der für 2000 Patienten konzipierten Anlage. Quarin war jedoch als ehemaliger Lei257

Anhang

2/1

ter des Sanitätswesens mit den Problemen der Logistik und Organisation solcher Einrichtungen vertraut. 2 „Man sollte aber endlich die Ansicht aufgeben, dass Quarin der Planverfasser (Architekt) irgend welcher Bauwerke gewesen sei. Unbestritten ist die Tatsache, dass engagierte Mediziner mit skizzenhaften Ideen oft wesentlichen Einfluss auf die Grundrissgestaltung ausübten, so auch Quarin. Die Entwurfsplanung für die Wiener Bauwerke (Umbau, Gebärhaus und Narrenturm) leistete aber Gerl." 3 Josef Gerl 4 wurde die technische Durchfuhrung des Projekts übertragen, wobei jedoch die Oberleitung in Quarins Händen verblieb. Die äußere Erscheinung der neu errichteten Gesamtanlage erscheint prototypisch für eine nach den Grundsätzen der Zweckmäßigkeit ausgerichteten Baugesinnung und das neu erbaute Tollhaus wurde sozusagen zum Träger dieser Geisteshaltung. „Das ganze allgemeine Krankenhaus wie es heute zu sehen ist, hat der bürgerliche Baumeister Joseph Gerl hergestellet. Seine Majestät Joseph II haben ihn wegen des zur Allerhöchsten Zufriedenheit hergestellten Gebäude kaiserlich beschenket. "5 Die Meinungen, wer nun definitiv die Idee zum „Tollhausgebäude" hatte, sind unterschiedlich, und bestimmte Aussagen scheinen sich hier als Floskeln durchzusetzen. Deshalb im Folgenden der Versuch, die Frage zur Form des Narrenturmes unter verschiedenen Gesichtspunkten zu erläutern: 1. Ökonomisch-funktionale Gründe: Die Nützlichkeit „Daher die Bauart solcher für Geisteskranke bestimmter Lokale meistens von der Idee und dem Bestreben geleitet wurde, auf den kleinsten Räume recht viele Unglückliche zusammenzuhäufen." 6 258

Zur architektonischen Form des Narrenturmes

Und diese auch mit einem Minimum an Pflegepersonal zu beaufsichtigen. Das war auch der Ansatz, der zum Panoptismus der Benthams führte, welcher ursprünglich von Samuel Bentham stammte und von dessen Bruder Jeremy Bentham mit dem Werk „Panopticon, the inspection house" aus 1791/1787 eingehend beschrieben wurde. Eine Analogie? des Narrenturmes mit dem von Bentham konstatierten Modell von 1791 ist aufgrund der zeitlichen Differenz, des Baubeginns zum „Tollhaus" 1783 in Wien, nicht gegeben. Jene häufig aufgeworfene Frage, ob der Narrenturm Bentham bei der Konzeption seines Panopticons beeinflusste oder ob dieser umgekehrt unter panoptischen Gesichtspunkten, die in späterer Zeit häufig im Zusammenhang mit Irrenanstalten, Gefängnissen oder anderen Überwachungsbauten diskutiert wurden, geplant wurde, ist im Hinblick auf die Ausführung des Zentralhauses und der doch stark länderspezifisch unterschiedlichen Tendenzen im psychiatrischen Anstaltsbau auszuschließen. „In diesem Rundbau (Narrenturm), der mit seinen zirkulären Fluren das Gegenteil eines panoptischen Systems darstellt - mehr als fünf Türen sind gleichzeitig nicht zu überblicken - wurde eigentlich das Personal mit eingesperrt, denn auch ihm blieb nur der knappe Blick in die winzigen Innenhofsegmente gewährt." 8 Ein nach dem Vorgaben Benthams konzipiertes Panopticon wurde Zeit seines Lebens nicht realisiert, obwohl sich jenes Prinzip in stets abgewandelter Form bei einigen Bauwerken durchsetzte, wie z. B. dem Edinburgh BridewellGefängnis, 1791-1794 (Robert Adamsons halbkreisförmige Variation), dem Pauper Lunatic Asylum bei York (1818 von Watson & PritchettQ), dem Western Penitentiary, Pittsburgh, Pennsylvania, 1818-1826 (A. Stricklands 8-eckiger Grundriss,

259

Anhang 2/l

1855 abgebrochen), oder dem Stateville Prison, Illinois, ab 1916, Zimmermann-Chicago, die vollzirkuläre Abwandlung des Panopticons. Im Hinblick auf die Nützlichkeit existierte hier eine spätere Irrenanstalt, wo das Narrenturm-Schema noch als Variation durchscheint, nämlich die jener von SchleswigStadtfeld, 1818-1820, wo ein halbkreisförmiger Trakt (nicht mehr erhalten) zur Unterbringung von „Tobsüchtigen" verwirklicht wurde (vgl. Abbildung 1). „Es liegt nahe, das Schleswiger Rondell und den Wiener Narrenturm unter dem Gesichtspunkt der panoptischen Irrenanstalten zu betrachten. Das Prinzip dieser Bauten ist bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutiert worden." 10

2. Symbolische Werte: Die Ähnlichkeit „Warum ist die runde Form des Gebäudes gewählt worden? Diese runde Form sollte Symbol der Tollen sein, nach der Redensart tourner la tete."11 Die Idee, dass man das, auch für die damalige Zeit, wohl eigentümliche Gebäude bewusst symbolisch besetzte, ist leicht nachvollziehbar. Belege hierzu finden sich schon in der Bezeichnung des Hauses. „Von der Form eines Amphitheaters", von einem schlichtweg „runden Gebäude", aber keinem „Pantheon", von einem „Thurm, der aussieht wie eine Vestung", mit der aufgesetzten Altane oder dem späteren „Guglhupf des Kaisers" ist da die Rede. Der Narrenturm als eine Hecke mit Rundschnitt wird zum Irrgarten der architektonischen Repräsentanz des Absolutismus, in dem sich genau jener Machtapparat widerspiegelt, den es zu etablieren galt. 260

Zur architektonischen Form des Narrenturmes

3. Architekturtheoretische Strömungen jener Zeit: Die Proportion „Noch radikaler im Sinne einer auf stereometrische Grundformen reduzierten Architektur ist der Narrenturm in Wien (Kaiser Josephs Gugelhupf), ein zylindrisches Gebilde, auf Grund der sachlichen Angaben des kaiserlichen Leibarztes Dr. Quarin 1783 entstanden, das keinen anderen Inventor haben kann als Isidor Canevale."12 Isidorus Amandus Marcellus Canevale wurde 1775 Hofarchitekt, womit ihm die Aufsicht über die kaiserlichen Bauten in den Vorstädten oblag. Der Kontumazhof wäre somit in seinen Wirkungsbereich gefallen, er schied aber bereits 1782 offiziell aus dem Hofbauamt aus und erhielt danach nur noch einzelne Aufträge'^ wie die Anlage von Laxenburg, die Gestaltung des Augartens sowie die Planung des Josephinums. Renate Wagner-Rieger hinterließ leider keine eindeutigen Angaben, warum Canevale auch die Planung des Narrenturmes beeinflusst haben soll. Einen wesentlichen Einfluss übte zweifelsohne der Kaiser selbst auf die Planung des Hauses aus. Dieser besichtigte im Zuge seiner Frankreichreise14,1777, unter dem Pseudonym Graf von Falkenstein auch jenes viel diskutierte Hotel Dieu in Paris sowie die Abteilungen für männliche- und weibliche Geisteskranke der Bicetre und der später unter Charcot weltberühmten Salpetriere. „Bei seiner Errichtung benützte Joseph alle seine auf Reisen gesammelten Erfahrungen und suchte die auffallensten Vorzüge des Auslandes in eine Gesamtheit zu vereinigen, die zu ihrer Zeit nicht ihres Gleichen hatte."15 „Trotz des ungünstigen Eindruckes der mangelnden Sorgfalt müssen die Einrichtungen des größten Krankenhauses 261

Anhang 2/l

des Kontinents in ihrer Zweckmäßigkeit doch lange nachgewirkt haben, da der Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses 1783 nach dem Plan des Hotel Dieu in Angriff genommen wurde." 16 Die Planungen für das Pariser Zentralspital zogen sich über Jahre und eine Fülle von Vorschlägen wurde verworfen wie auch jene Radialanlage17 von Antoine Petit18. Ob Joseph II. diese Spitalspläne bekannt waren, ist nicht bewiesen, obwohl er im Zuge seines Aufenthaltes mit dem Werk eines der berühmtesten französischen Architekten in Kontakt kam, nämlich dem von Claude Nicolas Ledoux, welcher als Wegbereiter des „revolutionären Klassizismus" angesehen wird. 19 In Wien konnten sich solche Ideen, welche dem Barockklassizismus entgegenstanden, nur unter der Herrschaft von Kaiser Joseph II. ausbreiten, und in Canevale fand er einen geeigneten Architekten zur Förderung dieser Vorhaben. Das „Josephinum", 1785-1785 als einstiger Träger der medizinisch-chirurgischen Akademie, zählt neben dem Augartenportal, 1781-1782, der Umgestaltung des „grünen Lustschlosses" im Prater, 1781-1784, oder dem Kasernen-Spital in Budapest, 1785-1786, zu den Hauptwerken von I. A. M. Canevale.

Anmerkungen: 1 Wittelshöfer Ludwig, „Wien's Heil- und Humanitätsanstalten", S. 183 f. Wien 1856. 2 Welcker Carl, „Josef Freiherrn von Quarins Leben und Wirken", Osterr. Zeitschrift für praktische Heilkunde, Wien 1870. 3 Schiffczyk Dieter, „Die intellektuelle Revolution im europäischen Krankenhausbau um 1800", europ. Hochschulschriften, Reihe 37, Architektur, Bd. 4, S. 144 ff., 301.

262

Zur architektonischen Form des Narrenturmes 4 Josef Gerl baute 1763-1767 den Konventhof des Neuklosters in Wiener Neustadt; 1769-1774 die Mietshausanlage Melkerhof in der Schottengasse; Umgestaltung der Josefstädter- und Heumarktkaserne sowie des Invalidenhauses an der Landstraße. Übersichtspläne der gesamten Krankenhausanlage, inkl. Narrenturm, signiert Josef Gerl, sind vorhanden. 5 „Wiens gegenwärtiger Zustand unter Josephs Regierung", S. 150, Wien 1787. 6 Joseph Johann Knolz, „Darstellung der Humanitäts- und Heilanstalten im Erzherzogtume Österreich unter der Enns", S. 191, Wien 1840. 7 „Auf seiner Reise nach Weißrussland dürfte Bentham auch von dem 1784 fertig gestellten sog. Narrenturm Josephs II. gehört haben, der die Irrenabteilung des gleichzeitig erbauten Allgemeinen Krankenhauses bildete", Zitat nach Pfeiffer Hans, „Neuzeitliche Gefängnisbauten und ihre Geschichte", S. 3 ff., 51, Dissertation, Stuttgart 1934. 8 Schiffczyk Dieter, „Die intellektuelle Revolution im europäischen Krankenhausbau um 1800.", europ. Hochschulschriften, Reihe 37, Architektur, Bd. 4, S. 144 ff., 301. 9 Oettermann Stephan, „Das Panorama: Die Geschichte eines Massenmediums", Frankfurt/Main: Syndikat 1980, S. 36 f. sowie 117 ff. 10 Jetter Dieter, „Zur Planung der Schleswiger Irrenanstalt (1817)", Sudhoffs Archiv Bd. 45, S. 138,1961. 11 Leonet Schack Staffeidts Reisetagebuchaufzeichnungen, in: Wiener medizinische Wochenschrift, 46. Jg, 1896, S. 417-467, „Das medizinische Wien vor 100 Jahren", Kronfeld Adolf. 12 Renate Wagner-Rieger, „Wiens Architektur im 19. Jh.", S. 52, Osterreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst, Wien 1970. 13 „Da Ganneval der teutschen Sprache nicht recht mächtig ist, ... so wäre ich gesinnet, ihn von den gewöhnlichen Bauämtlichen Reparationen und Arbeiten loszuzählen,... dergestalt, dass Ganneval nichts als den Augarten, Pratter, die neue Anlegung zu Laxenburg, und andere Arbeitten, so ihm aufgetragen därften, zu besorgen habe." Zitat aus: Frühwirth Hermine, „Wiener Profanbauten aus der Zeit Maria Theresias und Joseph's II.", 62 f., Hofbauakten 1782, Handbillett vom 24. Aug. 1782, Dissertation, Wien 1935. 14 Wagner Hans, „Die Reise Joseph's II nach Frankreich 1777 und die Reformen in Osterreich", in: Österreich und Europa, Festgabe Hugo Hantsch, Styria 1965. 15 Gross-Hoffinger, „Lebens- und Regierungsgeschichte Josephs des

26)

Anhang 2/1 Zweiten und Gemälde seiner Zeit", S. 345, II. Bd., Stuttgart 1857. 16 Schönbauer Leopold, „Das medizinische Wien", 145 f., 1944. 17 Abb. in: Pevsner Nikolaus, „A Histoiy of Building Types", index 9.34 und g.33.55, Thames and Hudson, 1976. 18 „Memoire sur la meilleure maniéré de construire un hôpital de malades", Paris 1774. Er gruppiert die Säle sternförmig um eine zentrale Kirche, an dessen Rand auf 272 m Durchmesser die Verwaltungsräume liegen und in den zentralen Dom gleichzeitig die Abzüge verlegt waren. Zur Entwicklung des Pariser Zentralspitals: Kuhn Oswald, „Handbuch der Architektur", 1. Heft: Krankenhäuser, 5. Halb-Band, Gebäude für Heil- und sonstige Wohlfahrtsanstalten, S 86, Stuttgart 1897. 19 „The German Emperor Joseph II in 1777, and the later Czar Paul I in 1782 on their visits to Paris were shown Ledoux s drawings. They subscribed in advance to the publication which Ledoux was then preparing, and which was to keep him engaged almost to the end of his life."; Zitate aus Kaufmann Emil, „Three Revolutionary Architects, Boullée - Ledoux - and Lequeu, Transactions of the American philosophical society, Volume 42, Part 3,1952.

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Anhang 2 / Teil 2

Kurze Geschichte der „Irrenhausarchitektur" V o n ALFRED STOHL u n d G E R T HASENHÜTL

„Wenn irgendwo im Lande iemand mit der Sinnenverrückung, oder sonst einem ähnlichen Zustande befallen würde, so soll solcher nicht gleich von den Kreisämter nun mittelbar nach Wien geschickt, sondern indessen an einem sichern Orte in Verwahrung genommen, und darüber die vorläufige Anzeige an die Regierung gemacht, und die weitere Verordnung erwartet werden." 1 Diese Anschauung über das Wesen der Geisteskrankheit kennzeichnet die Entwicklung des Anstaltsbaues in jener Frühphase, die sich zumeist auf die Einrichtung gesonderter Abteilungen für Geisteskranke in Krankenhausverbänden, in Anschluss an Zuchthäuser, Gefängnisse oder Armenhäuser beschränkte. Daneben gab es noch kleine, oft private Anstalten oder Versorgungshäuser für psychisch Kranke, durch welche sich erst langsam so etwas wie eine wissenschaftlich-fundierte Psychiatrie bilden konnte. Die Errichtung des „Narrenturmes" fallt in die Epoche, in der erst allmählich jene medizinischen Erklärungsmodelle aufkamen, die im Vorfeld zu den maßgebenden Bewegungen und Theorien des frühen 19. Jh.s wie Philippe Pinels Wirken in der Bicetre und sein Traktat aus 1801, Johann Christian Reils Rhapsodien aus 1803, John Conollys „nonrestraint" System ab 1839 oder Heinrich Damerows Theorien der Heil- und Pflegeanstalten aus 1840 standen.

26;

Anhang 2/2

„Bis in die Zeit der Aufklärung hinein, bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts, ist in der Irrenbehandlung der Sicherheitsgesichtspunkt der maßgebende." 2 Im Hinblick auf die psychiatrische Versorgung ist die Konzeption des „Tollhauses" ebenfalls als Irrenverwahranstalt zu sehen. Psychisch Kranke wurden vor dessen Eröffnung neben der Abteilung für Wahnsinnige im Hospital zu St. Marx, weitere im Unirten Spital, bis 1760 spanisches Spital, dem „Narrenspital von Dr. Jovis"3, 1756-1784 in Erdberg sowie in den Irrenabteilungen der Krankenanstalt der Barmherzigen Brüder in Görz untergebracht. Irrenrechtlich galt in der Frühzeit der Regelung der Freiheitsansprüche der Kranken kein juristisches Interesse und die administrative Leitung unterlag der medizinischen Polizei. Spätere „Reformvorschläge" und Beschwerden, wie diejenigen Johann Peter Franks, seit 179g Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, oder Franz Nords, vormals Vorstand des Narrenturmes und ab 1805 Nachfolger von Frank, wurden nicht berücksichtigt, bis dann erst in der zweiten Phase des Narrenturmes mit der irrenärztlichen Praxis des Dr. Michael Viszanik, 1839, e i n e mehr wissenschaftlich fundierte Psychiatrie in Wien etabliert wurde. Die Entwicklung kann an drei Architekturkonzepten festgemacht werden -A a) dem Narrenturm 1784, als Zell-Korridorsystem. b) der NÖ Heil- und Pflegeanstalt, ab 1907 Träger der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik, ein modifiziertes Korridor-System, „No-Restraint". Die aus dem Narrenturm stammenden Kranken wurden teilweise in jene Anstalt abgesiedelt oder wieder der Verwaltung ihrer Kronländer wie Ungarn, Böhmen, Galizien unterstellt.5 Diese von 1848 bis 1853 errichtete 266

Kurze Geschichte der „Irrenhausarchitehtur"

Anstalt ist heute nicht mehr erhalten, da sie 1974 dem Neubau des Allgemeinen Krankenhauses weichen musste. Nach deren Eröffnung blieben das „Irrenlazareth" und der „Narrenthurm" vorerst als Teile dieser Anstalt bestehen. Es kam ein gänzlich neues Baukonzept zur Anwendung, nicht mehr die Einzelverwahrung war primär, sondern man schaffte Gruppenverbände oder Wachsäle. Vom Typus entspricht jenes Konzept dem der „relativ-verbundenen Heilanstalt", c. dem psychiatrischen Krankenhaus „am Steinhof", 1907 eröffnet, Pavillon-System, „Open-door-concept". Die Er- bzw. Einrichtung des einstigen Allgemeinen Krankenhauses vollzog sich unter der Regierung Kaiser Josephs II., welche neben Paris eine der bedeutendsten europäischen Spitalsgründungen des ausgehenden 18. Jh.s war. Der Narrenturm war zunächst der einzige Neubau im Zuge der Gründung des Generalspitals und wurde am 19. April 1784 als Tollhaus6 des Allgemeinen Krankenhauses, also vor der offiziellen Eröffnung des Hauptspitals am 16. August 1784, seiner Bestimmung übergeben. Stilistisch fällt der Bau in die Zeit des Frühklassizismus, jene Zeitspanne von ca. 1770 bis 1800. Die Frühphase wird häufig unter der Bezeichnung „Josephinismus" oder „Josephinischer Stil" gefasst. Unter Joseph II. erfolgte eine deutliche Trennung von staatlicher und kaiserlicher Architektur und eine Umschichtung des Bauwesens durch die Neuorganisaton des bis dahin in den Zünften organisierten Handwerks sowie der Neueinrichtung des Hofbauamtes als Oberdirektion7,1783. Der Entschluss des Kaisers, ein Zentralspital einzurichten und die damals vereinzelt gelegenen Anstalten neu zu organisieren, zeigt sich schon an einem 1781 verfassten Auftrag8 an die niederösterreichische Regierung zur Errichtung der 267

Anhang 2/2

Annenversorgungsanstalten. Joseph II. akzeptierte den darauf erstellten Plan nicht und verordnete Direktiven, welche die Basis der Neugestaltung des gesamten Humanitätswesens bildeten. Laut dieser Verordnung sollte nur das Waisenhaus am Rennweg und das große Armenhaus, inklusive des Kontumazhofes, von der Spitalsneugründung verschont bleiben, wobei „die Narren" und „auch sonst Eckel erregende Kranke"9 in den Kontumazhof zu verlegen waren. In den späteren „Direktiv-Regeln zur künftigen Einrichtung der hiesigen Spitäler und allgemeinen VersorgungsHäuser", im August 1782, findet sich zur Versorgung von Wahnsinnigen folgender Eintrag: „Unter jenen, die Schaden oder Eckel verursachen, verstehe Ich Wahnwitzige und mit Krebsen oder solchen Schäden behaftete Personen, welche aus der allgemeinen Gesellschaft, und aus den Augen deren Menschen müssen entfernt werden, diese müssen zusammen in ein entferntes Spital verleget werden, allwo weder andere Kranke, noch weniger Jugend oder Kindsbetterinnen sich befinden. Verbesserung derselben, damit noch ein, noch der andere unter das Publikum komme, muss das erste Ziel seyn."10 Es folgten Vorschläge und administrative Entscheidungen, bis dann schließlich eine Aufforderung an die Ärzteschaft erging, in welcher dem Urheber des besten Planes die Direktorenstelle im neuen Spital als Belohnung zugesichert wurde. 5. Sept. 1782, Hofdekret an die Regierung: „Damit es aber in dem allgemeinen Krankenhause nichts erwinde, die Zuund Einrichtung mit gutem Vorbedacht gemachet, und alles, was die Kranken-Pflege und Wirthschaft, dann in einer besonderen Abtheilung dieses Hauptkrankenhauses mit verbundene und einzurichtende Gebär-Anstalt betrift, bes268

Kurze Geschichte der „Irrenhausarchitektur"

tens ordentlich und wirtschaftlich eingerichtet werde, so ist etwelchen in den Spitälern practicirten Medicis zB. Mertens, Quarin, Stoll, Schreiber, Kollmann, Molinari, etc. zu erinnern, dass derjenige, welcher dießfalls den besten und vollkommensten Vorschlag machen wird, als Vorsteher dieses Universal-Krankenhauses in seinem Fache mit einem Gehalt von jährlich 4000 fl. angestellet werden würde." 11 Pläne für die Einrichtung des zu eröffnenden Krankenhauses stammten weiters von Fauken J. P. X., Pasqual Joseph de Ferro, Haan, Kollweg Mathäus (Arzt am Kontumazhof) und Pasquallati (Physikus am Großarmenhaus). Von den eingegangenen Vorschlägen erscheint neben dem ausgeführten Projekt von Quarin inbesondere jenes von J. P. X. Fauken, Physikus am St. Marxer Spital, als interessant, welches 1784 publiziert wurde. Er berechnete sein Krankenhaus auf 1400 bis 1600 Betten einschließlich denjenigen für zahlende Kranke, wobei auch Irrsinnigen eine eigene Abteilung eingeräumt wurde. Dieses nicht zentral gelegene Krankenhaus bildet ein Ensemble aus langen 2-geschoßigen Flügelbauten, in denen jederseits 12 große Krankenzimmer und 6 Zwischengebäude zusammenhängend unter sich angeordnet sind. Das Projekt von Fauken war kein Adaptierungsplan wie jenes von Quarin, der mit seiner Idee der Umwidmung des Invaliden- und Großarmenhauses auch auf Mitteleinsparungen und möglichst hohe Effizienz bei niedrigen Kosten Wert legte. Beide angeführten Entwürfe basieren auf dem Prinzip der verbesserten Korridor-Krankenhäuser 12 und die gewünschte Klassifizierung erfolgte räumlich in Bezug auf verschiedene Verpflegungskategorien und den jeweiligen Krankheitsformen. Eine Aufnahme des damals aufstrebenden Pavillon- oder Blockbautenmodells erfolgte in Wien nicht und erschien hinsichtlich einer möglichst öko269

Anhang 2/2

nomischen Fortführung der damals sehr verbreiteten Korridor-Krankenhausbauten nicht angebracht. Die Grundstruktur des Hauptspitals als Kasernenbauoder Hofbautentyp in geschlossener Verbauung blieb also durch die Adaptierung bestehen und die Änderung betraf neben der Neufassadierung, den Fenstervergrößerungen vor allem die Innenraumneugestaltung des ehemaligen Invaliden- und Großarmenhauses in der Alservorstadt. Der Beschluss, den Narrenturm zu bauen, muss erst spät gefallen sein, denn in Josef Quarins Wirtschaftsplan sind z. B. keine Ausgaben für ein Tollhausgebäude erwähnt und ein solches ist auch nicht explizit beschrieben. Im Zuge der Umadaptierung wollte man ursprünglich nur eine Scheidemauer errichten, die den Bereich der venerisch- und skorbutischen Kranken im vorderen und den der „Narren im hinteren Hofe" trennen sollte. 13 Von diesem Plan ging man jedoch schließlich ab und jenes Areal wurde dem zukünftigen Narrenspital zugewiesen. „Es ist auch 1785 in dieser Gegend ein Haus für Wahnwitzige und ein grosses Militärspital an die Stelle des ehemaligen Kontumazhofes gebauet worden." 14

Anmerkungen: 1 Verordnung in Oesterreich vom 14. Weinmonate 1782, „Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II für die K. K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze", S. 570, Wien 178g. 2 Koch Lotte, „Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung", S. 197, Palm-Enke, Erlangen 1953. 3 Vom Verfasser der Hof- und Adelsgeschichten: „Illustriertes Geschichtenbuch vom Kaiser J o s e f , Wien 1882, S. 812.

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Kurze Geschichte der „Irrenhausarchitektur" 4 Haiko Peter, Harald Leupold-Löwenthal, Mara Reissberger, „Die weiße Stadt - Der Steinhof in Wien; Architektur als Reflex der Einstellung zur Geisteskrankheit", Kritische Berichte, Jg. 9, Heft 06,1981. g Maresch Maximilian, „ Z u r Auflassung des Irrenthurmes", Wochenblatt der K.K. Gesellschaft der Ärzte, No. 45, 46,1866. 6 „Nachrichten an das Publikum über die Errichtung des Hospitales in Wien", in: Lesky Erna, „Einführung zur Nachricht an das Publikum über die Errichtung des Hauptspitals in Wien", Wiener Bibliophilen Gesellschaft, Wien i960. 7 Hofdekret vom 15. Weinmonat (= Oktober) 1785, „Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II für die k.k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze.", 1. Band, S. 233. 8 Wittelshöfer Ludwig, „Wien's Heil- und Humanitätsanstalten", S. 27, Wien 1856. 9 Wittelshöfer Ludwig, „Wien's Heil- und Humanitätsanstalten", S. 50, Wien 1856. 10 Grois Bernhard, „Das allg. K H in Wien und seine Geschichte", Maudrich, S. 2g, 1965. 11

Grois Bernhard, „Das allg. K H in Wien und seine Geschichte", Maudrich, S. 35 f., 1965.

12 Kuhn Oswald, „Handbuch der Architektur", 1. Heft: Krankenhäuser, 5. Halb-Band, Gebäude für Heil- und sonstige Wohlfahrtsanstalten, S. 100, Stuttgart 1897. 13 Wittelshöfer Ludwig, „Wien's Heil- und Humanitätsanstalten", S. 49, Wien 1856. 14 Nicolai Friedrich, „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1784", 3. Band, Berlin und Stettin 1784, 2. Buch, II. Abschnitt, Seite 77.

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Anhang 2 / Teil 3

Gegenwärtiger Bauzustand und architektonische Besonderheiten V o n ALFRED STOHL u n d G E R T HASENHÜTL

Die Außenfassade dieser Backsteinarchitektur bildet ein als Quaderung ausgeführtes Rustikamauerwerk - aufkaschiert welches ursprünglich bis zum einteiligen Sockel des Erdgeschoßes verlief. Rustikaverputze waren damals durchaus gängige Stilmittel und entstanden in Anlehnung an das aus Natursteinen verfertigte Mauerwerk, aus grob behauenen Polsterquadern. Am Haupteingang des Gebäudes ist noch der Türbogen sowie das aufgesetzte quaderförmige Emblem über den angedeuteten Keilsteinen erhalten. Die Zellenfenster des Hauses waren als vergitterte Schlitzfenster, über die Höhe von drei Außenquaderungen gezogen, ausgeführt. Die Innenhoffenster sind ebenfalls, ganz im Sinne einer „Plattenarchitektur", mit einer aufgesetzten Fensterrahmung versehen. Die Böden in den Gängen waren mit Plattenkalksteinen belegt, in den Kammern teilweise gedielt und zum Gang hin leicht abschüssig, wodurch Flüssigkeiten und Fäkalien abfließen konnten. Jede Kammer hatte damals einen eigenen Abort oder offenen Abtritt mit Deckel, der in ein Drainagesystem in der kreisrunden Mittelmauer und dem Fundament mündete. Diese Abtritte wurden 1795 durch Leibschüsseln oder Latrinen ersetzt, weil sich in den

Anhang 2/}

eingemauerten 14 Schächten „der Unrath leicht anhäuft und im Winter bei Froste oft ganz stecken bleibt, und wenn das Wetter aufgeht, einen unerträglichen Gestank verursacht". Eine Abteilung bestand aus einem Zellenkranz von 28 Kreisabschnitten, welche ursprünglich alle voneinander getrennt waren, und stockwerksweise existierten Trakte für „ruhige Wahnsinnige", so genannte „Militär-Irre", Frauen, und im letzten Geschoß gab es einen „Tobtrakt für schwere Fälle". Die Kammern der „ruhigen Fälle" waren mit massiven Betten, einem hölzernen Tisch und Sessel ausgestattet; in den oberen Stockwerken reduzierte sich die Kammerperipherie auf Pritschen, d. h. strohlagerartige Bettstellen. Laut ursprünglichem Planmaterial wurden die Kammern des Narrenturmes über ein im Fundament integriertes Ringleitungssystem und senkrecht liegenden Warmluftschächten beheizt. An diesen 14 Steigleitungen waren die Zellen paarweise angeschlossen und die Warmluft sollte über verstellbare Öffnungen (Schieber) in die einzelnen Kammern einströmen: „Der ganze Thurm sollte durch vier grosse eiserne Oefen die unter der Erde gelegt sind, und durch lange Röhren in alle Behälter ableiten, geheizet werden. Bey den ersten Versuchen sah man aber sogleich, dass die ihren Absichten gar nicht entsprachen. Man heizet jetzt jede Abtheilung durch zwey Oefen, die auf den Gängen, die vor den Behältern herumlaufen, gesetzt sind."1 Dieses für die damalige Zeit durchaus fortschrittliche System war, obwohl schon nach kurzer Zeit aufgegeben, ein Vorläufer der späteren Umluftheizung. Eine solche wurde in den 20er Jahren des 19. Jh. von Paul Traugott Meissner (geb. 1778) als Luftheizung entwickelt und verbreitet. Was

m

Gegenwärtiger

Bauzustand

und architektonische

Besonderheiten

Michael Viszanik dazu veranlasste 184g von der „Meissnerischen Heitzung" im Narrenturm, 1827, zu sprechen, war die Aktualität des damals erschienenen Werkes „Die Heizung mit erwärmter Luft", Wien 1826. Die Heizung im Narrenturm erfolgte zeitlich auf unterschiedliche Arten: Nämlich über die ursprünglich eingebaute Zentralheizung, noch vor 1800 aufgegeben. Einer Zwischenform mit Ofen auf den einzelnen Gängen, aber ohne Warmluftkanäle zu den Kammern, d. h., die Korridore wurden beheizt und die Warmluft sollte durch die Zimmertüren in die Kammern strömen: „... in jedem dieser Gänge sind zwei grosse Ofen angelegt, die den ganzen Gang erwärmen, und wenn die hölzernen Thüren der Gemächer geöffnet sind, auch hinlängliche Wärme durch die eisernen Gitterthüren in die Zellen abgeben." 2 „Aus diesem Quergebäude kommt man zu jeder Seite auf jedem Stockwerk in einen Gang mit Mauersteinen gepflastert, und dieser hat Kachelöfen mit hölzernen Spalieren umgeben, aus denen eiserne Röhren herumführen und den Gang erwärmen, und nach aussen zu (das ganze ist wie ein Gefängnis abermals mit einer grossen Mauer umgeben) sind die kleinen Zellen für die Kranken zu ein bis drei Betten ..."3 „Die Beheitzung der Zimmer geschieht in grossen irdenen Oefen, sowie die Beleuchtung in Oellampen, vom Gange aus." 4 Und schließlich einer Abwandlung, jetzt mit speziellen Röhren in den Gängen, wie aus späteren Planmaterial zu ersehen ist. „... und die Heitzung ist ausserhalb der Zellen in den Gängen angebracht, indem die Wärme durch die an den 275

Anhang 2/)

Fensterchen mit Gittern versehenen Thüren mittels Röhren in die einzelnen Zellen geleitet wird. "5 Die einstige Laterne befand sich im Zentrum des Hauses, welche als 8-eckiger Turmaufsatz über dem Versorgungshaus installiert war und „Gloriette" oder „Belvedere" genannt wurde: „Josef stieg hier in jeder Woche mehrmals hinauf. Diese Rotunde war gleichsam der Thron seiner Liebe, von welcher sie ihre Tochter, die grosse Stadt unten, mit zärtlichen Blicken umfasste." - Staffeidt, 1796. Demnach war dieses Türmchen das wichtigste Merkmal in der architektonischen Repräsentanz des Hauses, in dem es mit seiner speziellen Position und der Verwendung durch den Kaiser selbst zum „Theatrum caeremoniale" wurde. Das ebenfalls Ende des 18. Jh.s entwickelte Panorama („la nature coup d oeil", Robert Barker 1792) scheint hier zum architektonischen Programm geworden zu sein.

Anmerkungen: 1 Baldinger Ernst Gottfried, „Neues Magazin für Arzte", 7. Band, 4. Stück, S. 327,1785, „Das Hauptspital in Wien", von Herrn M. **'*. 2 Krünitz Johann Georg, „Ökonomisch-technologische Encyklopädie", Berlin 1844,185. Teil, S. 604. 3 Horn Wilhelm, „Reise durch Deutschland, Ungarn, Holland, Italien, Frankreich, Großbritannien und Irland", 1. Band, S. 235, Berlin 1831. 4 Martin Anselm, „Die Kranken- und Versorgungsanstalten zu Wien, Baaden, Linz und Salzburg", S. 73, München 1832. 5 Haidinger Andreas, „Die in der K. K. Haupt- und Residenzstadt Wien bestehenden Krankenanstalten", Wien 1844, S. 478.

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Anhang 2 / Teil 4

Kleine Chronologie : Bemerkungen zur Einrichtung, Heizung, Belegung, Organisation, Struktur, Kammersituation, Patientenanzahl, Schließung V o n ALFRED STOHL u n d GERT HASENHÜTL

1784,19. April: Inbetriebnahme, Belegung. 1784, 20. April: „Man kann uns nicht genug erzählen wie viele auch von der ersten Noblesse alle Tage in das vormalige Kontumaz hinaus fahren, um die Kunst des Thurm (welcher wenigst von einigen, Neuspandau genennt wird) bewundern zu können. Den Wächtern, welchen ohnehin die Wahl, einzulassen, wen sie wollen, nicht wohl genommen werden kann, bekommt die bekannte Großmuth des Wiener Adels, recht wohl." 1 1784, Juli: „III. Zur Aufnehmung in das Tollhaus sind alle dieienigen geeignet, welche bei dem allgemeinen Krankenhause unentgeltlich aufgenommen werden. Daher hat man sich bei Armen, welche so unglücklich sind, von dieser Klasse zu sein, auf eben die Art, wie bei den Kranken zu benehmen." 2 1784: „Das in der Vorstadt die Aisergasse gebaute Haus für Wahnwitzige ist fünf Geschosse hoch, und ein rundes Gebäude. In der Mitte des innern Platzes ist ein Querge277

Anhang 2/4

bäude. Einige glauben, es werde sehr unbequem seyn, wahnwitzige Leute so hoch hinauf zu bringen, und meinen, da in dieser Gegend noch Platz genug ist, so würde ein geräumiges Gebäude, das von ein oder zwey Geschoß wäre, nebst einem geräumigen Garten, wo diese Unglücklichen von Zeit zu Zeit frische Luft schöpfen könnten, zweckmässiger, und zu Erlangung ihrer Gesundheit heilsamer seyn. Indessen ist die Einrichtung gut, daß nur im untern Geschosse zwey Oefen geheizt, und von da die Wärme durch Röhren in alle Zimmer nach dem höchsten Geschosse geführet werden soll. Eine Idee, die auch in andern neugebauten Häusern wegen der Holzsparung näher untersucht, und wenn sie brauchbar befunden wird, nachgeahmt zu werden verdient. "3 178g: „Das Tollhaus: Ein eigner von den übrigen Gebäuden des Spitals ganz abgesonderter runder Thurm der frey und ziemlich hoch liegt, ist für die Tollen und Unsinnigen bestimmt. Dieser Thurm hält fünf Stock, und jeder Stock macht eine Abtheilung, die 28 besondere Behälter hat. Jeder Behälter ist mit doppelten Thüren versehen. Er hält ein, auch zwey Betten, und einen Abtritt, der durch lange Röhren ableitet. [...] Für die in diesem Thurme aufbewahrten Unsinnigen sind dieselben Abtheilungen, wie im Kranken- und Gebährhause. Diejenigen, für welche täglich ein Gulden gezahlt wird, haben eigne Behälter und eigne Bedienung. Von den andern Klassen werden zwey, wenn sie ruhig sind, und sich miteinander vertragen können, in einen Behälter zusammen gebracht. Die ruhigen Wahnsinnigen haben alle Betten. Die Wüthenden bekommen Strohlager, und werden nach Erforderniß geschlossen, wozu schon in jedem Behälter die Einrichtung getroffen ist. So viel wie möglich ist, bringt man diejenigen, die sich oft 278

Kleine Chronologie

verunreinigen, in das oberste Stock, damit sie durch ihren Gestank nicht so sehr das ganze Gebäude anstecken. In jeder Abtheilung dieses Tollhauses sind ein Wärter und zwey Wärterinnen angesetzt, die in einem Mittelgebäude, das inwendig den Thurm durchschneidet, wohnen. Ein Arzt hat die innere Kurversorgung der Tollen. Er bekommt dafür jährlich 600 Gulden, und giebt einen Tag um den andern des Nachmittags um drey Uhr die Visite. Ausser ihm ist noch ein Wundarzt mit einem Assistenten angesetzt, die beyde im Thurme selbst wohnen. Im März 1785."4 1786, 1. August: „Die Zimmer sind - ... alle mit steinernen Blatten belegt, und jedes mit einem Bett, Tisch, Stuhl und einem Pivet versehen. In der Höhe kann durch eine Öffnung Wärme hineingelaßen werden. Jedes Zimmerchen ist mit einer doppelten Thüre verschloßen; zuerst ist ein Gitter von Eisen, und dann noch eine wohlbeschlagene hölzerne Thüre. [...] Wegen Mangel an Platz werden die ganz unschädlichen Narren in ein besondres Haus oder ins Spitthai gebracht. Bald soll in Graz noch ein Tollhaus angelegt werden; denn nur ein einziges hier für die ganze ungeheure Monarchie ist offenbar zuwenig." 5 (In dieses besondere Haus, dem Siechenhaus am Aiserbach, wurden aufgrund stetiger Uberfullung des Narrenturmes vorwiegend ruhige und rekonvaleszente Kranke verlegt.)6 1786: „The Tower for lunatics, near this hospital, has five stories, and twenty-eight rooms on each floor. The doors open into a passage six feet wide, which goes round the building. Though great attention was paid to cleanlines, the passages were veiy offensive; the form of the building causing the air

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Anhang 2/4

to stagnate in its centre, as in a deep well, men: 185, woman: 78."7 1787: „Wahnwitzige aus dem Clero werden in das Hospital der Barmherzigen Brüder gebracht, wo für diese Unglückliche besondere Zimmer vorhanden sind. [...] Im Irrenhaus waren 166 Männer und 74 vom weiblichen Geschlechte, Summe 240." 8 1789: „Ein großer Theil der Unglücklichen, hier eingesperrten, sind Soldaten. Viele sind nicht in die Behältnisse eingekerkert, sondern sitzen und laufen in den Gängen umher. Manche liegen an Ketten in ihren Kerkern, und sind an die Wände angeschlossen. [...] Merkwürdig sind die zwölf Zimmer, welche für die vornehmern Wiener Schönen gebaut sind, und die Guldenzimmer heißen, weil täglich ein Gulden für ein solches Zimmer bezahlt werden muß."9 1792: „In den Zimmern sind überall zwey Betten angebracht, und leider ! waren auch fast überall zwey Wahnsinnige darinnen. Die Erwärmung im Winter ist nicht die Beste. In jedem Gange sind vier Ofen, wenn ich recht habe, von denen aus die Wärme in die umher liegenden offenen Zimmer wehen soll. [...] Zu Anfangs waren untenher grosse Oefen angelegt, von denen die Wärme in die oberen Stockwerke aufsteigen sollte: Allein diesem Vorhaben entsprach der Erfolg nicht. Die Kaminen, die davon in die Zimmer geleitet waren, gaben zum Theil einen dicken Rauch, zum Theil aber eine widerwärtige kalte Luft von sich." 10 1792, Dezember: „Wahnsinnige, welche nicht wüthen, gehen frei auf dem Gange umher, auch erlaubt man ihnen 280

Kleine Chronologie

im Hofe zu spazieren. Dieser ist aber klein, und ein freierer, mit Bäumen besetzter Platz, würde ohne Zweifel wohltätiger für solche Wahnsinnige sein, deren Zustand mit Melancholie verbunden ist. Jedes Stockwerk hat seinen besondern Hüter. Die Pfleglinge dieser Anstalt dürfen nicht mit Härte behandelt werden. Sie haben gute Betten. Diejenigen, deren Wut durch den Anblick der Besuchenden gereizet werden möchte, werden nicht gezeigt."11 1794: „An der Behandlung möchte sich wenig tadeln lassen; ich könnte sie der in dem berühmten Bedlam vorziehen; auch habe ich erfahren, daß viele wieder hergestellt von hier zurückkehren. Man schreibt ihnen zuweilen die nöthigen Speisen vor, und sie genießen, wenn ihre Umstände es nur einigermaßen zulassen, zuweilen das Wohlthätige der frischen Luft auf ein paar Höfen im Innern. Die Zimmer oder Behälter sind nicht verschlossen, macht die Raserey der Bewohner er nicht durchaus nothwendig, einige sieht man dagegen, wie es sich leicht erwarten läßt, gefesselt. Ich fand nicht die Hälfte dieser Behälter bewohnt und man sagte mir, daß unter den Unsinnigen, die sich hier aufhielten, verschiedene Leute von Geburth sich befanden." 12 1796: „In der Mitte des runden Hofes stehet ein länglich viereckiges Gebäude für den Verwalter, den Oekonomus und andere Bedienstete, das mit beiden Enden an den Rundbau stösst und inwendig Eingänge in die fünf Stockwerke desselben hat. [...] Morgens werden den Lenksamen die Zellen aufgeschlossen und sie dürfen bei Tage auf dem Gange herumgehen. Des Abends werden sie wieder eingesperrt. Jeden Morgen werden Zellen und Gänge gekehrt und die Fenster geöffnet. Täglich kommt ein Arzt der von Zelle zu Zelle 281

Anhang 2/4 gehet. Die Speisen erhalten sie in irdenen Schalen, täglich ein mal Fleisch, Morgens und Abends Suppe. Alle acht Tage wird die Kleidung und das Bett gewechselt. In jeder Zelle ist in einem Winkel ein Abtritt. Jedes Stockwerk hat besondere Wärter und Wärterinnen. Die Einrichtung ist hier anders als in Zellen, wo die Tollen strenger behandelt werden und ihre Speisen von einem Gitter aus, das auf den Tollgang geht, erhalten. Es waren hier sehr wenig Wüthende und Angeschlossene. Einer der Unglücklichen hat Wände und Decke seiner Zelle mit Bildern von Vögeln, Menschen, Sonnen und Bäumen mit Gras statt eines Pinsels grün bemalt. [...] Nicht weit von diesem Gebäude ist ein anderes für die Wahnsinnigen und Blödsinnigen, die nicht sowohl Bewachung als Pflege und Fürsorge bedürfen. Hier sind jetzt 60, dort 212 Kranke."^ 1796: „Da aber die mehrsten in dem Irrenthurme befindlichen Wahnwitzigen, aus Mangel eines schicklichen Platzes, nie aus diesem ungesunden Gebäude gelassen werden konnten, und sich auf Sonn- und Feyertäge eine Menge müßiger, fürwitziger Personen um jenen Thurm versammelte, die daselbst verhasteten Personen durch zurufen störte, oft reizte, auch manchmal denselben schneidende und andere schhädliche Werkzeuge zusteckte; so ward jetzt auf mein Einrathen, durch eine Mauer aller willkührlicher Zutritt versperrt, zugleich aber zu beyden Seiten des Irrenthurms ein Rasenplatz mit Bäumen besezt, und den unglücklichen Verrückten zu einiger Bewegung in freyer Luft, und zu ihrer Ergötzung angewiesen. Die in jeder Zelle der Wahnwitzigen befindlichen, einen unverträglichen Gestank verbreitenden, Abtritte wurden vermauert; hingegen ward jenen ein verdecktes Gefäß, welches, so oft es zu

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Kleine Chronologie

ihren Bedürnissen gedient hatte, sogleich beseitiget werden konnte, angewiesen."^ Auch Frank erwähnt schon „weibliche Guldenzimmer" in einzelnen Krankenzimmern zur Aufnahme von „Epileptischen, die Ruhe störenden oder Abscheu erregenden Patienten". 1797: „Damit auch vermöglichere Wahnsinnige, welche zur bessern Bequemlichkeit ihre Dienstleute zum Warten verlangen, oder auch solche, die mit stilleren Wahnsinn behaftet sind, von der Pflege des allgemeinen Krankenhauses nicht ausgeschlossen bleiben, hat man in den sogenannten Guldenzimmern des Spitales einige Zimmer zu dieses Absicht zugerichtet. Kein Wahnsinniger wird seit dem Januar 1796 im Spitale aufgenommen, wenn nicht von dem Arzte oder Wundarzte, der ihn behandelt hat, eine Krankheitsgeschichte mitgegeben wird, da diese zur Behandlung und Heilung des Kranken wesentlich beyträgt." 15 1799: „Unten ist ein Garten, wo die Halbtollen und Genesenden spazieren können. Diese, versteht sich, die stark genug dazu sind, müssen auch kleinere Arbeiten thun, Holz und Wasser tragen, fegen und dergleichen." 16 1801: „Die meisten Wahnsinnigen werden unentgeltlich aufgenommen. Einige zahlen täglich 1 Gulden, ander 30 kr. noch andere 10 kr. [...] Die Ursachen des periodisch zurückkehrenden Wahnsinns sind eben so dunkel, wie die Ursachen aller übrigen periodischen Krankheiten. Ich machte die Beobachtung in dem Wiener Irrenhause, daß in diesem Jahre (1801) während des Solstitiums fast alle Wahnsinnige unruhiger wurden." [...] 28)

Anhang 2/4 Man hegt fast allgemein die Meinung, daß die Wahnsinnigen die äußerste Kälte, Hunger und andere Ungemächlichkeiten leicht und ohne allen Nachteil ertragen können. Allein die Erfahrung lehrt, daß sie größtentheils gegen die Kälte eben so empfindlich sind, wie andere Menschen. Nur sehr wenige unter ihnen scheinen das Unangenehme der Kälte weniger oder gar nicht zu fühlen; erleiden aber demohngeachtet alle Folgen der Verkältung, als Durchfälle, Krämpfe, Koliken, Katarrhe u. s. w. So hatte der Herr Primararzt Nord vor zwey Jahren in dem Wiener Irrenhause drey Wahnsinnige, welche aus Verkältung den Starrkrampf (tetanus) bekamen; zweye davon wurden gerettet, und der dritte starb."1? 1802: „Der Narrenthurm ist nicht sehr glücklich erdacht; es sind darin freylich viele Narren leicht zu beherbergen, allein viele derselben werden gewiß mit Mühe die Treppen hinaufgebracht, und viele kommen wohl bloß deswegen selten zum Spazieren; besonders übel ist es aber, daß ein entsetzlicher Zugwind im ganzen Gebäude freyes Spiel hat, so daß man sich in manchen Orten gar nicht davor schützen kann. Sonst ist alles sehr reinlich, es sind auch (die Reconvalescenten abgerechnet, deren mehrere zusammen sind) in jedem Zimmer nur zwey Irren. Mehrere, die sehr wüthend sind, waren mit Ketten gefesselt, deren letztes Glied, das um den Arm oder Fuß ging, von starkem Leder war. Die Betten sehr niedrig, wie auf der Erde. Einen Bildhauer ausgenommen, der ziemlich niedliche Figuren aus Thon machte, fand ich diejenigen, welche so weit waren, daß sie arbeiten konnten, mit Garnwinden beschäftigt." 18 1802, Juli: „Die Kur, welche hier sehr oft glücklich ausfällt, indem beinahe ein Drittel der Kranken geheüt wird, besteht 284

Kleine Chronologie

meistentheils in Diät, oder Hunger, und jedem Kranken muß eine Krankengeschichte mitgegeben werden."^ 1803: „Kreyl Michael alt 40 Jahr katholisch von Nußdorf in Oe: gebürtig herhl. Hause ist eodem Dato durch die Alstergasse Polizey Direktion in das Tollhaus gratis überbracht worden. Wien den 9. August 1803 K. allg. Krankenhaus Kanzley." 20 1804, 17. September: „Die Anzahl der Kranken ist jetzt 317, davon befinden sich 192 in dem eigentlichen Narrenthurm; 12g in dem Rekonvaleszenten-Hause. Seit Mai 1803 sind die gänzlich tollen ganz getrennt von diesen, auf Nords Vorschlag. Die Rekonvaleszenten befinden sich in einem eigenen Hause, nahe bei jenem. In dieses werden auch Blödsinnige aufgenommen, und einige, die eine partielle Geisteschwäche zeigen." 21 180g: „Löbliche K. K. Polizey Ober Direktion !; Der Unterzeichnete macht die gehorsamste Anzeige, daß der auf Zuordnung der löbl. Polizey Ober Direktion am gten Februar 1804 in die Irrenanstalt abgegebene Martin Hein, ein lediger Schustergesell, von Steinberg in Schwaben gebürtig, seit geraumer Zeit keinen besonders auffallenden Wahnsinn; sondern nur einen gewissen Grad von Geistesschwäche, wodurch er, weder sich selbst, noch der bürgerlichen Gesellschaft gefährlich ist, äussere. Da er dieser Begrenztheit des Verstandes von früher Jugend an unterworfen ist, läßt sich in dem Irreninstitute keine weitere Besserung desselben erwarten zum bürgerlichen Leben aber wenig Nützliches von ihm erwarten, er wäre daher als ein Ausländer von hier abgeschoben zu werden um so mehr geeignet, da sich hierzu sein allhier ansässiger Bruder hilfsthätig anbiethet, und ihn mit 28s

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den nöthigen Kleidungsstücken zu versehen verspricht. Wien dem 25. August 1805. Nord." 22 1807: Die in das Allgemeine Krankenhaus für die Irrenanstalt überbrachten Personen werden bei „nicht gleich bemerkten Wahnsinne nicht gleich in das Irrenhaus, sondern in das Lazareth zur vorläufigen Untersuchung überbracht" .23 1808: „Um dieses Gebäude wurde 1796 ein Garten angelegt, der schon unter Quarins Direction vorgeschlagen aber erst unter Franks Oberaufsicht zustande kam, in welchem die Genesenden Ruhe und frische Luft genießen können. [...] Fremde müssen, wenn sie das Irrenhaus besehen wollen, von dem Oberdirector oder der Kanzley, einen Erlaubnißschein haben." 24 1814: „An die löbl. Spitalsdirektion ! Der Militair-Invalide Jour Peter, welcher sich sei 25. August 1811 im Tollhause befindet, hat sich am 3 ten d. M. Nachmittags gegen 4 Uhr in seiner Kammer mit einem aus gezupfter Kotzenwolle verfertigtem Stricke erhängt, wurde aber noch lebend ertappt, und stieß noch in der selben Minute mit Füßen nach dem Wärter welcher ihn gerettet hat. Übrigens hat er sich aber auch so schlecht gehängt, daß er allein, von mir sogleich nach der Tat, in loco, genau erhobenen Umständen zufolge mehrere Stunden hätte hängen müßen, eh er hätte sterben können. Ich befehl sogleich dem Tollhauschirurgen, Prochasca, einer löbl. Spitalsdirektion die Meldung von diesem Vorfalle zu machen, welches aber wegen Abwesenheit derselben nicht geschehen konnte. Auf ausdrücklichen Befehl trage ich diese schriftliche Anzeige hiermit nach. Dem g. März 1814 Görgen.U25 1817: Erstmals werden Kranke aus der Wiener Irrenanstalt in

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Kleine Chronologie

das Versorgungshaus Ybbs an der Donau verlegt. „Der Irrenanstalt ist ein eigener Primararzt ausschließlich zugetheilt."26 1817: „Diejenigen, die einer Beschäftigung fähig sind, wozu sie keiner Werkzeuge bedürfen, womit sie sich oder anderen gefährlich werden können, werden nach ihrer Art mit Schreiben, Zeichnen, Malen, Musik u.d.gl. verschieden beschäftiget, oder aber zum Garnwinden, wovon sie einigen Gewinn haben, verwendet. Der Irrenarzt besucht den Irrenthurm einmal, und der Sekundararzt zweymal täglich. Ausserdem wird aber unvermuthet zu verschiedenen Stunden Nachsicht gepflogen." 2 ? 1827: Im Irrenthurm wird die sog. „Meissnerische Heitzung" eingeführt, welche aber „wegen des unpassenden Baues unserer Irrenanstalt dem erwünschten Zwecke nicht entspricht und wegen der hiemit verbundenen nicht unbedeutenden Auslagen nicht sehr willkommen ist ...". 28 Die erwärmte Luft sollte durch die Luken der Zelltüren in die Kammern geleitet werden. 1865: „Das Gebär- und Findelhaus sowie die 1853 eröffnete neue Irrenanstalt samt dem ,Narrenthurm', bis dato Staatsanstalt, gehen in die Administration der Niederösterreichischen-Landesvertretung über." 2 9 1866: „Der damalige Primararzt der NOE-Landes IrrenHeilanstalt Dr. Maresch plädiert für die Erweiterung oder Neuerrichtung einer Pflegeanstalt um die Patienten aus dem Narrenturm abzusiedeln." 5° 1869: Auflassung am 4. Juni 5 tlw. Ubersetzung der Kranken in das große allgemeine Irrenhaus am Briindelfeld. 5 ' 287

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1869: „Der n. ö. Landtag errichtete im Jahre 1869, um den Irrenthurm zu beseitigen, eine Irren-, Siechen- Pflegeanstalt in der Wien ganz nahe gelegenen Stadt Klosterneuburg an der Donau für 150 Kranke und sonach wurde der Irrenthurm für Irrenzwecke nicht mehr in Anspruch genommen." 32 1870: „Der Narrenthurm wird vom Krankenhausfond um 60 000 fl. ö.W. zur Verwendung als Magazin, Werkstätten und Dienerswohnungen angekauft." 33

Anmerkungen : 1 Der Postkläpperboth vom 20. April 1784, In: Mitteilungen der Wiener Ärztekammer, Nr. 3,1934, Fischer Isidor, „Zur Vorgeschichte des allgemeinen Krankenhauses ...", S. 33. 2 „Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II für die K. K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze.", 6. Band, S. 238, Wien 1785. 3 Nicolai Friedrich, „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781", Zusätze zum 3. Band LXIII-LXIV, Berlin und Stettin 1784. 4 M.**., „Das Hauptspital in Wien", Neues Magazin für Ärzte, Baldinger Ernst Gottfried, Band 7, 4. Stück, 1785. 5 Landolt Heinrich Johann, Reisetagebuch 1786, in: Neuburger Max, „Das alte medizinische Wien in zeitgenössischen Schilderungen", S. 87 f., Wien Leipzig 1921. 6 Das „Lazarethgebäude" wird schon in der „Nachricht an das Publicum" vom 20. Juni 1784 den „ganz ruhig wahnsinnigen Personen" eingeräumt. 1792 werden infolge eines Hofdekrets vom 9. Jänner rekonvaleszierende Geisteskranke in das leer stehende Gebäude, welches 1788 auf Antrag Quarins als Filiale des Allgemeinen Krankenhauses adaptiert wurde, übersetzt. In: Wittelshöfer Ludwig, „Wiens Heilund Humanitätsanstalten", S. 67,185, Wien 1856. Dieses befand sich an der Stelle des Bürgerversorgungshauses in

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Kleine Chronologie der Währingerstrasse und diente als Pestspital bis 1713, von da an blieb es unbenützt bis 1766, wo es die Verwendung als Soldatenspital (mit dem Vorbehalt der Rückgabe ans Bürgerspital bei einem Pestausbruch) erhielt. Dass in jenes Haus schon vor 1803 Patienten aus dem Narrenturm verlegt wurden, zeigt auch eine Statistik in den Anmerkungen und Zusätzen von Michael Wagners Ubersetzung der Pinel'schen Abhandlung über Geistesverirrungen aus 1801 (S. 16, S. 561-364). Derzufolge war die Aufnahmekapazität des Narrenturmes bereits um 1786 erschöpft. Er liefert von 1784 bis 4. Aug. 1801 jährliche Zahlen der Neuangekommenen, der Entlassenen, der ins Allgemeinen Krankenhaus Transferierten und der Gestorbenen. Daraus ergibt sich die jeweils zu Jahresende vorherrschende Patientenzahl wie folgt: 1784 (166), 1785 (220), 1786 (292), 1787 (335), 1788 (335), 1789 (304), 1790 (296), 1791 (296), 1792 (523), 1793 (354), 1794 (389), 1795 (394). 1796 (423), 1797 (420), 1798 (431), 1799 (456), 1800 (482), 1801 (492). 7 Howard John, „An account on the principal lazarettos in Europe", p. 68, Warrington, London 1789. 8 „Wiens gegenwärtiger Zustand unter Josephs Regierung", S. 150, 457, Vlg. Georg Philipp Wucherer, Wien 1787. g „Reisen durch das südliche Teutschland", Anonym, 1. Bd., S. 510 f., Leipzig und Klagenfurth 1789. 10 Anonym, „Bemerkungen über Menschen und Sitten auf einer Reise durch Franken, Schwaben, Bayern und Osterreich", S. 67, 10. Brief, Wien 1792. 11 Stolberg Friedrich Leopold, „Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien", 4. Bd., S. 392, Leipzig 1794. 12 Meermann J., „Reise durch Preussen, Osterreich, Sicilien und einige an jene Monarchien grenzende Länder", 2. Theil, S. 82, Braunschweig 1794. 13 Leonet Schack Staffeidts Reisetagebuchaufzeichnungen, in: Wiener medizinische Wochenschrift, 46. Jg, i8g6, S. 417-67, „Das medizinische Wien vor 100 Jahren", Kronfeld Adolf. 14 Frank Johann Peter, Selbstbiographie, „Biographie des D. Johann Peter Frank", S. 163, Wien 1802 15 „Neuestes Gemähide von Wien", S. 45 f., Vlg. Aloys Doli, Wien 1797. 16 Arndt Ernst Moritz, „Reisen durch einen Theil Teutschlands, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799", S. 235, 2. Theil, Leipzig 1801. 17 „Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverirrungen

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oder Manie", Philippe Pinel, Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Michael Wagner, S. 325 f., 360, Wien 1801. Rudolphi K. A., „Bemerkungen aus dem Gebiet der Naturgeschichte, Median und Thierarzneykunde auf einer Reise durch einen Theil von Deutschland, Holland und Frankreich gesammelt", in: Neuburger Max, S. 178. Fischer Jul. Wilh., „Reisen durch Osterreich, Ungarn, Steyermark, Venedig, Böhmen und Mähren, in den Jahren 1801 und 1802", 1. Theil, S. 118, Vlg. Anton Doli, Wien 1803. Extract Aus dem geführten Hauptprotokoll des Tollhauses vom Jahre 1803. Angekommen den 7. May 1803. Folio 37., AKH-Direktionsakten A11. Egger C. U. D., „Reise durch Franken, Baiern, Osterreich, Preußen und Sachsen", 2. Theil, S. 400, Leipzig 1810. AKH-Direktionsakten, 1813-1814, 1816-1820, Ai 1, M. Abt. 209, Wr. Stadt- und Landesarchiv. Viszanik Michael, „Leistungen und Statistik der K. K. Irrenheilanstalt zu Wien", S. 28, Wien 1845. „Neueste Beschreibung der kais. kön. Haupt- und Residenzstadt Wien", S. 154 f., Wien 1808. AKH-Direktionsakten, 1813-1814, 1816-1820, Ai 1, M. Abt. 209, Wr. Stadt- und Landesarchiv. Haidinger Andreas, „Die in der K.K. Haupt- und Residenzstadt Wien bestehenden Krankenanstalten", S. 479, Wien 1844. Medizinische Jahrbücher des kaiserl. königl. Staates, 4. Band, II. Stück, S. 45, Wien 1817. Viszanik Michael, „Leistungen und Statistik der K. K. Irrenheilanstalt zu Wien", S. 5, Wien 1845. Hoffmann Joseph, „Das Wiener k.k. allg. Krankenhaus", S. 10. Vlg. des k.k. allg. Krankenhauses, Wien 1873. Maresch Maximilian, „Zur Auflassung des Irrenthurmes", Wochenblatt der K.K. Gesellschaft der Ärzte in Wien, No. 45, 46, Wien 1866. Wiener medizinische Wochenschrift, S. 846,19. Jg., No. 50,1869. Gauster Moriz, „Die öffentliche Irrenfürsorge in Niederösterreich, insbesondere in Wien", in: „Wien's sanitäre Verhältnisse und Einrichtungen", Wien 1881, S 264. Hoffmann Joseph, „Das Wiener k.k. allg. Krankenhaus", S. 10. Vlg. des k.k. allg. Krankenhauses, Wien 1873.

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Bilddokumentation Von G E R T HASENHUTL und ALFRED STOHL

Bilddokumentation

„Perspectivischer Aufris des Narren-Hauses in Wien", Entwurf, 1783, Kupferstich 24 x 36 cm, Historisches Museum der Stadt Wien, Inv. Nr.: 71.162.

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Bilddokumentation

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„Plan der k. k. Irrenanstalt, II. Abtheilung", M 1 : 1 4 8 , Format Az, Plan der 5. Abteilung datiert und signiert, Wien 1. März 1839, Radlberger, Wiener Stadt- und Landesarchiv; Referat Karthographische Sammlung, MA 8, Inv. Nr.: 1809, 2/1-5. Duplikate des Plankonglomerats befinden sich auch im Archiv des PABM-Wien.

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Bücher über Architektur, in denen der Narrenturm vorkommt: John D. Thompson und Grace Goldin, „The hospital: A social and architectural histoiy", New Häven und London, 1975, S 62-65. Spieker Helmut, „Totalitäre Architektur", Stuttgart 1981, S. 104. Winfried Nerdinger, Klaus Jan Philipp und Hans-Peter Schwarz, „Revolutionsarchitektur - Ein Aspekt der europäischen Architektur um 1800", iggo, S. 228-229.

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bohlauWienneu Hans Veigl Morbides Wien Ein Führer durch die dunklen Bezirke der Stadt und ihre Bewohner 2000. 200 S. Ca. 32 SW-Abb. Br. ISBN 3-205-99176-1 Wien und die Wiener - dieser merkwürdige Genius loci des Morbiden und topographischer Ort eines melancholischen Menschenschlages war Jahrhunderte hindurch ebenso vom bedrückenden spanischen Hofzeremoniell geprägt wie durch die oftmaligen Machtrepräsentationen von Staat und Kirche. Dort, wo der Glaube an ein Leben vor dem Tod metaphysisch durchwirkt war, und spätestens seit der Zeit der Pest und des Barocks metaphorische Vorstellungen und Inszenierungen des Jenseitigen zum ständigen Gefährten Wienerischer Gemütlichkeit wurden, griffen Allegorien und Apotheosen der Sterblichkeit auf die Mentalitäten des Alltags über. Ein Alltag, der dann, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, zwischen Amüsement und Abnormitätenschau, Heurigem und Galgenspektakel, zwischen Spottlust und Todesangst, Narrenturm und Wurstelprater oszillierend, hier seinen einzigartig kulturellen und moralischen Ausdruck fand. Dieses morbide Wien steht im Mittelpunkt des Versuchs einer mentalen Ortsbestimmung und Stadtbeschreibung.

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bohlauWienneu Erna Lesky Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert 2000. 660 S. 100 SW-Abb. Geb. (Sonderausgabe der 2. Auflage 1978) ISBN 3-205-99254-7 Norbert Stefenelli (Hg.) Körper ohne Leben Begegnung und Umgang mit Toten 1998. 930 S. 74 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-98883-3 Richard van Dülmen (Hg.) Erfindung des Menschen Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000 1998. 682 S. u. 8 Falttafeln 350 SW- u. 30 Farbabb. ISBN 3-205-98873-6

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