Die Fiktion im öffentlichen Recht [1 ed.] 9783428488247, 9783428088249

Ziel der Regensburger Habilitationsschrift ist es, den Stellenwert der Rechtsfiktion im Prozeß der Rechtsgewinnung im öf

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Die Fiktion im öffentlichen Recht [1 ed.]
 9783428488247, 9783428088249

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MONIKA JACHMANN

Die Fiktion im öffentlichen Recht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 742

Die Fiktion im öffentlichen Recht

Von Monika Jachmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jachmann, Monika: Die Fiktion im öffentlichen Recht / von Monika Jachmann. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 742) Zugl.: Regensburg, Univ., Habil.-Schr., 1995/96 ISBN 3-428-08824-7

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08824-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

In fiottone iuris semper aequitas existìt. (S. Bartolus, Komm. 67 zu Dig. 41, 3,15 pr. S. a. L20.)

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg im Wintersemester 1995/96 als Habilitationsschrift angenommen. An dieser Stelle möchte ich allen voran meinem verehrten Lehrer, Herrn Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Udo Steiner, für seine stete Förderung und für die Übernahme des Erstgutachtens sehr herzlich danken. Zu danken habe ich auch den Herren Professoren Reinhard Hendler und Andreas Hoyer für ihre zügige Begutachtung der Arbeit sowie den übrigen Professoren der Juristischen Fakultät, stellvertretend dem Dekan, Herrn Professor Dr. Reinhard Zimmermann, für das Wohlwollen, das sie mir bei der Durchführung des Habilitationsverfahrens entgegengebracht haben. Danken möchte ich weiter allen, die mir in praktischer Hinsicht die Erstellung der Habilitationsschrift ermöglicht bzw. erleichtert haben: Der Freistaat Bayern hat mir durch den Habilitationsförderpreis (Hans-Zehetmair-Preis) 1995 viel Freiraum für meine wissenschaftliche Arbeit geschaffen. Ohne die konsequente Unterstützung durch meine Familie hätte mein Habilitationsvorhaben nicht gelingen können. Herzlicher Dank sei schließlich allen gesagt, die in unermüdlicher Schreib- und Korrekturlesearbeit geholfen haben, aus meinen Manuskripten und Diktaten die nunmehr vorliegende Schrift zu erstellen, insbesondere Edith Fischer, Christa Krämer-Eul, Ulrike Konrad, Anita Scharf und Thomas Strauß. Freising/Regensburg, im März 1997 Monika Jachmann

Inhaltsübersicht Teil 1 Das Rechtsinstitut der Fiktion

41

A. Problemstellung

41

B. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

46

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

64

D. Mögliche Fiktionszwecke

102

E. Die Definition der Rechtsfiktion und ihre Abgrenzung von anderen Rechtsinstituten

131

F. Methodologische Strukturierung der Rechtsfiktionen

231

Teil 2 Bestand und Einordnung der Gesetzesfiktion in der Rechtswirklichkeit öffentlichrechtlicher Normen

233

A. Die gesetzlich vorgesehene Fiktion von Verwaltungsakten

234

B. Die gesetzlich vorgesehene Fiktion sonstigen Verwaltungshandelns

414

C. Bekanntgabefiktionen im Verwaltungsverfahren D. Im Verwaltungsrecht vorgesehene Fiktionen von Willenserklärungen privater Verfahrensbeteiligter

442 472

E. Rechtmäßigkeitsfiktionen

482

F. Die Fiktion einer rechtlich relevanten Qualität des Handelns eines am Verwaltungsverfahren Beteiligten

502

G. Sonstige Fiktionen in formellen Gesetzen des Verwaltungsverfahrensrechts..

507

H. Gesetzesfiktionen im formellen Verfassungsgesetz und sonstigen Staatsrecht

551

I. Gesetzesfiktionen unterhalb der Ebene des formellen Gesetzes

568

J. Gesetzesfiktionen im Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrecht

578

10

Inhaltsübersicht

Κ. Fiktionen in allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheitsrecht

587

L. Ausblick

598 Teil 3

Gesamtbewertung der Gesetzesfiktion im öffentlichen Recht

600

A. Die Einordnung des Gestaltungsmittels der Fiktion in öffentlichrechtlichen Gesetzen aus der Sicht von Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie

600

B. Verfassungsrechtliche und verwaltungsrechtliche Beurteilung der Gesetzesfiktion

658

Teil 4 Der Einsatz der Fiktion im Rahmen öffentlichrechtlicher Rechtsanwendung sowie im inneren Gesetzgebungsverfahren A. Die Rechtsanwendungsfiktion

978 978

B. Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren

1074

Teil 5 Die Fiktion als Gegenstand der Rechtsdogmatik auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts

1095

A. Das Institut der wissenschaftlichen Rechtsfiktion

1095

B. Exemplarische Durchsicht potentieller Anwendungsbeispiele der wissenschaftlichen Rechtsfiktion im öffentlichen Recht

1097

C. Bewertung der wissenschaftlichen Rechtsfiktion im öffentlichen Recht

1147

Teil 6 Zusammenstellung der wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung und abschließende Betrachtung

1151

A. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung

1151

B. Abschließende Betrachtung

1196

Literaturverzeichnis Sachverzeichnis

1201 1304

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Das Rechtsinstitut der Fiktion

41

A. Problemstellung

41

B. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

46

I.

Die Bedeutung des Wortes "Fiktion" im allgemeinen Sprachgebrauch

46

Π. Die Einordnung der Rechtsfiktion in der Rechtsphilosophie bzw. juristischen Methodenlehre/Gesetzgebungstheorie

47

ΙΠ. Die maßgeblichen Kriterien für die Einordnung der Rechtsfiktion

62

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm I.

Die möglichen Einsatzbereiche der Rechtsfiktion 1. Die Normsetzung a) Die Fiktion als Bestandteil des Gesetzes b) Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren 2. Die Rechtsanwendung 3. Die Rechtsdogmatik

64 64 65 65 71 72 73

Π. Die Fiktion im Bereich der Gesetzgebung 1. Die Gesetzesfiktion 2. Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren

75 75 80

ΙΠ. Die Fiktion im Bereich der Rechtsanwendung 1. Die Fiktion im System der Rechtsanwendung 2. Die Bildung des Prüfungsmaßstabes durch den Rechtsanwender 3. Die Fiktion bei der Anwendung von Präjudizien oder Verwaltungsvorschriften 4. Zwischenergebnis

81 81 88 97 100

IV. Die Fiktion im Bereich der Rechtsdogmatik

100

V. Der abstrakte Inhalt des Verhältnisses der Rechtsfiktion zur Realität des Tatsächlichen bzw. Normativen

101

nsverzeichnis D. Mögliche Fiktionszwecke I.

Die möglichen Zwecke des Einsatzes der Rechtsfiktion durch den Gesetzgeber 1. Die Fiktion als formales Gestaltungsmittel der Gesetzgebung a) Die Fiktion als Form der Definition b) Die Fiktion als verdeckte Verweisung oder Einschränkung 2. Mittelbare Zwecke der Verwendung der Gesetzesfiktion a) Formale mittelbare Zwecke von Gesetzesfiktionen b) Materielle mittelbare Zwecke von Gesetzesfiktionen c) Übergeordnete Zwecke von Gesetzesfiktionen 3. Die Fiktion als materieller Norminhalt 4. Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren

Π. Die mögliche Zweckorientierung des Einsatzes der Rechtsfiktion bei der Rechtsanwendung 1. Das Bild der Rechtsanwendungsfiktion in der Literatur 2. Die Zielorientierung der Rechtsanwendungsfiktion

102 103 103 103 113 117 117 119 121 122 122 123 123 124

DL Die Zweckorientierung des Einsatzes der Rechtsfiktion in der Rechtsdogmatik 128 E. Die Definition der Rechtsfiktion und ihre Abgrenzung von anderen Rechtsinstituten I.

Die Definition der Rechtsfiktion

Π. Die Abgrenzung der Rechtsfiktion von anderen Rechtsinstituten 1. Die Analogie a) Die Analogiebildung bei der Rechtsanwendung b) Die gesetzlich angeordnete Analogie 2. Die Vermutung a) Die gesetzliche Vermutung (1) Die widerlegliche gesetzliche Vermutung (2) Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung (3) Zwischenergebnis b) Die Vermutung bei der Rechtsanwendung jenseits gesetzlicher Vermutungsregeln 3. Das konkludente Handeln bzw. die stillschweigende Erklärung 4. Objektive Beweislast und Schätzung a) Die Beweislastentscheidung im Falle eines non liquet (1) Der Standort der Beweislastentscheidung im administrativen bzw. verwaltungsgerichtlichen Rechtsanwendungsprozeß (2) Die methodologische Struktur von Beweislastregeln b) Die Schätzung der Verwaltung im Falle eines non liquet (1) § 162 AO (2) Die Kostenschätzung im Erschließungsbeitragsrecht c) Die Schätzung bei der Anwendung von Tatbeständen, die ihrer Natur nach objektiv nicht exakt bestimmbare Merkmale enthalten

131 131 138 138 138 142 142 142 143 149 153 154 157 158 158 158 174 181 182 189 190

nsverzeichnis

13

d) Die Schätzung des Gerichts 5. Die Prognose 6. Typisierung und Pauschalierung a) Typus und Typisierung im Recht b) Die gesetzliche Typisierung/Pauschalierung (1) Anwendungsbeispiele gesetzlicher Typisierung/Pauschalierung (2) Die Abgrenzung von gesetzlicher Typisierung/Pauschalierung und Gesetzesfiktion (3) Die Abgrenzung von gesetzlicher Typisierung/Pauschalierung von einer gesetzlichen Ermächtigung des Rechtsanwenders zur Fiktionsbildung c) Typisierung im Bereich der Rechtsanwendung ( 1 ) Die sog. typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht (2) Die Fiktion als Mittel materieller Typisierung (3) Formelle Typisierung und Fiktion (4) Die sog. Typisierungslehre im Bauplanungsrecht 7. Die Hypothese 8. Die gesetzliche Auslegungsregel

192 197 202 202 205

F. Methodologische Strukturierung der Rechtsfiktionen

206 209 211 213 214 219 222 225 226 228 231

Teil 2 Bestand und Einordnung der Gesetzesfiktion in der Rechtswirklichkeit öffentlichrechtlicher Normen A. Die gesetzlich vorgesehene Fiktion von Verwaltungsakten I.

Der Verwaltungsakt als Fiktionsgegenstand 1. Der Erlaß eines Verwaltungsakts als öffentlichrechtliche Willenserklärung 2. Zur Bedeutung der Bekanntgabe des Verwaltungsakts 3. Zur Bestimmtheit des Verwaltungsakts 4. Die gesetzliche Verwaltungsaktfiktion

Π. Die Fiktion von Widmung, Einziehung und Umstufung im Straßenrecht.. 1. Die Widmungsfiktion a) Die straßenrechtliche Widmung b) Die Fiktion der Widmung im Rahmenförmlicher Verfahren ( 1 ) Der Verzicht auf eine Widmungsverfiigung (2) Der Verzicht auf eine selbständige Widmungsverfiigung c) Die Fiktion der Widmung in sog. Bagatellfällen d) Die fiktive Widmungsverfiigung e) Zweck und Fiktionswirkung der Widmungsfiktionen ( 1 ) Der Zweck der Widmungsfiktionen (2 ) Betroffene materielle Rechtspositionen

233 234 234 234 242 246 249 251 251 251 253 253 254 256 256 259 259 261

nsverzeichnis (3) Verfahrensanforderungen bei der Widmungsfiktion, insbesondere hinsichtlich behördlicher Mitwirkungsakte (a) Der Ausfall behördlicher Mitwirkungsakte bei der Widmungsfiktion in Bagatellfällen (b) Die Anforderungen an dasförmliche Verfahren, im Rahmen dessen auf eine Widmungsverfügung verzichtet wird. (4) Der Wegfall eines etwaigen Entscheidungsspielraums der Widmungsbehörde (5) Das Ausmaß der Fiktionswirkung 0 Art. 67IV BayStrWG 2. Die Einziehungsfiktion a) Die straßenrechtliche Einziehung b) Die Einziehungsfiktion in Bagatellfällen c) Art. 67 V BayStrWG 3. Die Umstufungsfiktion in Bagatellfällen ΙΠ. Die Fiktion von Genehmigungen nach Ablauf einer gesetzlich festgelegten Entscheidungsfrist 1. Die Fiktion der Teilungsgenehmigung a) § 19 ΠΙ 6 BauGB ( 1 ) Die Teilungsgenehmigung (2) Die Genehmigungsfiktion (3) Zweck und Fiktionswirkung der Genehmigungsfiktion (a) Die Fiktion der Genehmigungserteilung (b) Die Bedeutung des gemeindlichen Einvernehmens (c) Die Bedeutung der Zustimmung der höheren Verwaltungsbehörde (d) Der Verzicht auf die Einhaltung der Entscheidungsfrist.... b) § 5 Π BauGB-MaßnG c) Die Erteilung eines Zeugnisses über Genehmigungsfreiheit oder Eintritt der Fiktionswirkung gem. § 23 Π BauGB 2. Die entsprechende Anwendung des § 19 ΠΙ 6 BauGB a) §22 VI 2 iVm. § 19 m 6 BauGB b) § 145 I iVm. § 19 ΠΙ 6 BauGB 3. § 6 Π GrdstVG 4. Baugenehmigungsfiktionen im vereinfachten Genehmigungsverfahren a) Die Gesetzeslage b) Die Fiktionswirkung der Baugenehmigungsfiktion 5. Die Fiktion der beschränkten wasserrechtlichen Erlaubnis gem. Art. 17a Π BayWG 6. Die Fiktion der Genehmigung von Bauleitplänen und gemeindlichen Satzungen a) § 6 IV 4 BauGB (iVm. § 11 Π BauGB bzw. § 1 Π 2 BauGBMaßnG) ( 1 ) Die gesetzliche Regelung (2) Die notwendige Mitteilung der Fristverlängerung (3) Die Anforderungen an einen Antrag, der die Entscheidungsfrist in Lauf setzt

263 263 268 270 273 274 275 275 275 277 278 281 282 282 282 283 284 284 291 301 302 303 303 310 310 310 311 313 313 315 322 323 324 324 325 328

nsverzeichnis (4) Die ortsübliche Bekanntmachung des Eintritts der Fiktionswirkung b) § 165 VE BauGB iVm. § 6 I V 4 BauGB c) §1191 GemO Rh.-Pf. 7. Die Problematik einer etwaigen Genehmigungsfiktion in Anzeigeverfahren a) Art. 711 BayBO b) § 11 ΠΙ2 1. Alt. BauGB c) §§ 2 ΠΙ 1, 3 ΠΙ 1, 5a ΠΙ 1 GWB d) Gesetzliche Meldepflichten, mit denen der Behörde ein tatsächlicher Vorgang angezeigt wird 8. Die Zustimmungsfiktion im Anmeldeverfahren nach dem GenTG 9. Die Genehmigungsfiktionen nach § 11 ΠΙ, V AEG und § 12IV 2 AEG a) § l i m , V A E G b) § 12IV 2 AEG 10. §21 IH2SchwbG IV. Die Fiktion sonstiger Verwaltungsakte 1. Die Fiktion der ausländerrechtlichen Aufenthaltsgenehmigung bzw. Duldung a) Die grundsätzliche Ausgestaltung des Aufenthaltsrechts im AuslG b) §69 ΠΙ 1,2 AuslG c) § 69 Π 1 AuslG d) Hinweis zu § 5511 AsylVfG 2. Die vorläufige Unterschutzstellung im Denkmalschutzrecht 3. Die Fiktion der Betriebserlaubnis eines einen Betrieb Fortführenden. a) §10 GastG b) § 121 SprengG c) § 46 GewO d) Abgrenzung gegenüber der Erstreckung der Regelungswirkung eines sachbezogenen Verwaltungsakts auf einen Rechtsnachfolger des Adressaten 4. Gestattungsfiktionen in Obergangsregelungen a) § 94 AuslG b) §34 GastG c) §§ 46,47 SprengG d) §411, Π GenTG e) § 111, Π und § 13 DiätAssG 5. Verwaltungsaktfiktionen zur Vermeidung einer doppelten behördlichen Rechtmäßigkeitsprüfung a) Die Fiktion der Genehmigung des dinglichen Rechtsgeschäfts mit Genehmigung der causa b) Die fiktive Genehmigung einer gemeindlichen Satzung bei Übernahme der entsprechenden Mustersatzung 6. Verwaltungsaktfiktionen bei der gesetzlichen Ausgestaltung von Beamtenverhältnissen sowie ähnlichen Dienstverhältnissen a) Die Fiktion einer wirksamen Ernennung

15 329 330 330 331 331 333 337 338 339 341 341 342 343 347 348 348 349 353 354 354 358 358 360 361 362 364 365 365 366 367 368 369 369 371 371 372

nsverzeichnis b) Die Fiktion beamtenrechtlicher Verwaltungsakte im Recht der Abgeordneten c) Die Fiktion einer Entlassung d) Die Fiktion einer Beurlaubung 7. Die Steueranmeldung 8. Art. 81 ΠΙ 1 BayBO 9. Verwaltungsaktfiktionen auf der Basis einer Zeugniserteilung a) § 145 Vn 2. HS BauGB b) §2814 BauGB c) § 5,2 GrdstVG 10. Die Einigung der Verfahrensbeteiligten als fiktiver Enteignungsbeschluß 11 .§§ 27,2 und 26b Π Nr. 1 KWKG 12. § 7 m GrdstVG V. Analyse der grundsätzlichen rechtlichen Problematik der gesetzlichen Fiktion von Verwaltungsakten und Zwischenergebnis 1. Bereichsspezifische Analyse 2. Die wesentlichen Zwecke der gesetzlichen Verwaltungsaktfiktionen.. 3. Der Verzicht auf eine behördliche Einzelfallentscheidung 4. Der mögliche Ausfall der Beteiligung von Drittbehörden bzw. von Betroffenen 5. Die verwaltungsverfahrensrechtliche Erscheinung desfingierten Verwaltungsakts 6. Bundesrecht als Hindernis für die landesrechtliche Einführung von Gesetzesfiktionen B. Die gesetzlich vorgesehene Fiktion sonstigen Verwaltungshandelns I.

Sonstiges Verwaltungshandeln als Fiktionsgegenstand

Π. Die Fiktion verwaltungsinterner behördlicher Erklärungen 1. Die Fiktion von Mitwirkungsakten im baurechtlichen Genehmigungsverfahren a) Die Fiktion von Einvernehmen der Gemeinde sowie Zustimmung der höheren Verwaltungsbehörde gem. §§ 36 Π 2 1. HS bzw. 19 m 7 1. HS BauGB, ggf. iVm. § 5 m BauGB-MaßnG (1) §36 Π 2 1. HS BauGB (2) § 19 m 7 1. HS BauGB (3) §§ 36 Π 2 2. HS bzw. 19 m 7 2. HS BauGB (4) § 5 ΠΙ BauGB-MaßnG b) Art. 77 Π 2 BayBO iVm. § 36 Π 2 BauGB und § 5 m BauGBMaßnG c) § 12II2,3,m2LuftVG d) Die Fiktion der Mitwirkung von Behörden, die nach Landesrecht an der Behandlung eines Bauantrags zu beteiligen sind (1) Die Regelung behördlicher Mitwirkungsakte in den Landesbauordnungen (2) Die Fiktion von Einvernehmen bzw. Zustimmung

374 375 378 378 384 387 387 387 388 389 392 392 393 393 396 398 404 407 413 414 414 415 416 416 416 418 419 419 420 425 426 426 428

nsverzeichnis

(3) Befristete Anhörungspflichten 2. Die Fiktion von behördlichen Mitwirkungsakten im Rahmen komplexer Verwaltungsentscheidungen a) §213 VwPBG b) § 67 Π 3 GO Rh.-Pf. c) Abgrenzung der Zustimmungsfiktion von nicht fiktiven Unbeachtlichkeitsanordnungen 3. Analyse der grundsätzlichen rechtlichen Problematik der gesetzlichen Fiktion verwaltungsinterner behördlicher Erklärungen

17

429 431 431 432 433 434

ΙΠ. Die Fiktion eines wirksamen Beschlusses

436

IV. Die Fiktion einer wirksamen Satzung

437

V. § 7 I V 3,4 BauGB-MaßnG

441

VI. § 246a V 1 Nr. 1 BauGB C. Bekanntgabefiktionen im Verwaltungsverfahren I.

Bekanntgabe und Zustellung als Fiktionsgegenstand

Π. Öffentliche Bekanntgabeakte 1. Die öffentliche Bekanntgabe von Verwaltungsakten 2. Die Einzelzustellung durch öffentliche Bekanntmachung 3. Die Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses durch Auslegung 4. Die Zustellung verfahrensabschließender Entscheidungen in sog. Massenverfahren durch öffentliche Bekanntmachung 5. § lOVmBImSchG

442 442 442 443 443 447 449 451 459

ΙΠ. Die unwiderlegliche Vermutung des Zugangs nicht vor einem bestimmten Termin 1. Die Übermittlung/Zustellung durch die Post 2. Das Unterlassen der Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten

460 460 462

IV. Die Ersatzzustellung durch Niederlegung

462

V. Zustellungsfiktionen bei bestehender unmittelbarer Kenntnisnahmemöglichkeit 1. Die Zustellung bei Verweigerung der Annahme 2. § 10IV4AsylVfG

464 464 464

VI. § lOnAsylVfG

465

Vn.§ 9 VwZG/Art. 9 BayVwZVG

466

VŒ. Analyse der grundsätzlichen rechtlichen Problematik der gesetzlichen Bekanntgabefiktionen 467

2 Jachmann

nsverzeichnis

18

D. Im Verwaltungsrecht vorgesehene Fiktionen von Willenserklärungen privater Verfahrensbeteiligter I.

472

Die Fiktion der Zustimmung von durch einen Verwaltungsakt Betroffenen 473 1. Die unwiderlegliche Vermutung der Zustimmung zur Widmung gem. Art. 67IV BayStrWG 473 2. Die unwiderlegliche Vermutung der Zustimmung des Baunachbarn gem. Art. 7812 BayBO 474

Π. Die Fiktion eines Antrags

477

ΙΠ. Die Fiktion einer Antragsrücknahme

478

IV. Die Fiktion der Vereinbarung von Rechtsverhältnissen im Zuge der Ausführung eines Enteignungsbeschlusses

480

V. § 26 ΠΙ EStG

481

VI. Die grundsätzliche rechtliche Problematik fiktiver Willenserklärungen von privaten Verfahrensbeteiligten E. Rechtmäßigkeitsfiktionen I. Die Rechtmäßigkeit als Fiktionsgegenstand Π. Die gesetzliche Fiktion der partiellen Rechtmäßigkeit eines zu erlassenden Verwaltungsakts bzw. eines Vorhabens 1. § 5 IV BauGB-MaßnG 2. Art. 76IV 1 BayBO 3. Art. 3 Π 4 BayBO 4. Rechtmäßigkeitsfiktionen zur europarechtlich gebotenen Anpassung rechtlich relevanter Standards 5. Analyse der typischen rechtlichen Problematik partieller Rechtmäßigkeitsfiktionen ΠΙ. Die Heilung von Verfahrensfehlern 1. Die Fiktionseigenschaft von Heilungsvorschriften 2. Analyse der grundsätzlichen Struktur und rechtlichen Problematik von Rechtmäßigkeitsfiktionen in Heilungsvorschriften

482 482 482 483 483 492 494 496 497 498 498 500

F. Die Fiktion einer rechtlich relevanten Qualität des Handelns eines am Verwaltungsverfahren Beteiligten 502 I.

Die Fiktion der Rechtzeitigkeit einer Erklärung

Π. Die Fiktion des fehlenden Verschuldens einer Fristversäumung ΠΙ. Die Fiktion einer speziellen rechtlichen Qualität des Handelns eines Beteiligten

502 503 504

Inhaltsverzeichnis IV. Die gesetzliche Bestimmung der Rückwirkung einer Erklärung eines Beteiligten

506

V. Zwischenergebnis

507

G. Sonstige Fiktionen in formellen Gesetzen des Verwaltungsverfahrensrechts.. I.

Fiktionen zur gesetzlichen Begriffsbestimmung 1. Fiktive Abweichungen vom allgemeinen Sprachgebrauch 2. Fiktive Abweichungen von normativen Begriffsbestimmungen a) Die Abweichung von Begriffsbestimmungen des gleichen Gesetzes b) Die Abweichung von Begriffsbestimmungen in anderen normativen Zusammenhängen 3. Die Korrektur eines gesetzlichen Prinzips

Π. Fiktionen bei der Bestimmung des sachlichen oder zeitlichen Anwendungsbereichs eines Gesetzes 1. Fiktionen in Obergangsregelungen 2. Die (echte) Rückwirkung eines Gesetzes ΙΠ. Fiktionen zur sachlichen Harmonisierung gesetzlicher Regelungen 1. Fiktionen zur Harmonisierung einzelner Vorschriften innerhalb eines Gesetzes 2. Fiktionen zur Anpassung verschiedener Gesetze IV. Die gesetzliche Normierung der steuerlichen Rückwirkung eines Ereignisses iSv. § 17511 Nr. 2 AO 1. Die Fiktionseigenschaft gesetzlicher Rechtsfolgenbestimmungen für einen Zeitraum vor Eintritt eines bestimmten Ereignisses 2. Beispielsfälle der gesetzlichen Anordnung einer steuerlichen Rückwirkung a) Die Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Rückwirkungstatbestände im Steuerrecht b) Unmittelbare Rückwirkungsanordnungen in materiellen Steuergesetzen c) § 175 Π 1. Alt. AO d) Abgrenzung von der rückwirkenden Rechtsfolgenbestimmung im Einzelfall 3. Die einheitliche Struktur gesetzlicher Rückwirkungsfiktionen H. Gesetzesfiktionen im formellen Verfassungsgesetz und sonstigen Staatsrecht I.

2'

19

Fiktionen im Gesetzgebungsverfahren 1. Die Fiktion des Zeitpunkts des Erlasses eines Gesetzes 2. Art. 81 Π GG 3. Art. 113ÜI2GG 4. Die Fiktion der Zustimmung von Bundesrat oder Bundestag zum Erlaß einer Rechtsverordnung

507 510 510 513 513 522 524 526 526 529 530 531 533 538 538 542 542 543 545 547 548 551 551 551 556 557 558

nsverzeichnis

20 Π. Art. 115a IV GG

559

ΙΠ. Fiktionen im Recht der Staatsangehörigkeit 1. Art. 116ÏÏ2 GG 2. § 24 RuStAG 3. Fiktive Abweichungen vom allgemeinen Sprachgebrauch

561 561 561 562

IV. Sonstige Fiktionen im Recht der Abgeordneten und Minister 1. § 54 Π 2 AbgG 2. Fiktionen zur Festlegung von Zeiträumen 3. Fiktionen in Obergangsbestimmungen

562 562 563 564

V. Fiktionen im Wahlrecht 564 1. Fiktionen zur formalen Aufrechterhaltung gesetzlicher Begriffe bzw. Schemata in besonderen Fallkonstellationen 564 2. Fiktionen im Dienste der Rechtssicherheit 565 3. Fiktionen zur Harmonisierung gesetzlicher Regelungen 567 4. Fiktionen im Wahlprüfungsverfahren 568 I.

Gesetzesfiktionen unterhalb der Ebene des formellen Gesetzes I.

Gesetzesfiktionen in materiellen Gesetzen des Verwaltungsrechts 1. Gesetzesfiktionen in Rechtsverordnungen 2. Gesetzesfiktionen in Satzungen

Π. Gesetzesfiktionen in materiellen Gesetzen des Staatsrechts 1. Gesetzesfiktionen in Rechtsverordnungen: Das Beispiel der BWO/ LWO 2. Gesetzesfiktionen in Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane a) GeschO BT b) GeschO BR c) GeschO BReg d) Zwischenergebnis J. Gesetzesfiktionen im Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrecht I.

Fiktionen im Handlungsbereich eines Beteiligten 1. Fiktionen im Zusammenhang mit der Vertretung eines Beteiligten.... 2. Fiktionen infolge rügeloser Einlassung 3. Die Fiktion der Klagerücknahme 4. § 134 V VwGO

568 568 569 570 571 571 572 573 576 577 577 578 578 578 579 579 580

Π. Fiktionen im Handlungsbereich des Gerichts 1. § 56a VwGO 2. § 84 ΠΙ VwGO

581 581 583

ΙΠ. Sonstige Fiktionen

584

IV. Zwischenergebnis

587

nsverzeichnis Κ. Fiktionen in allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheitsrecht I.

Die Fiktion von Prozeßfthigkeit bzw. Beteiligungsfthigkeit einer Partei..

21 587 587

Π. Die Bevollmächtigung nach Rechtsscheinsgrundsâtzen

589

m. Der Rechtsgedanke des § 162 BGB

590

IV. Der Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität

591

V. Die Fortgeltung der bisherigen Geschäftsordnung bei der Neukonstituierung von Bundesregierung und Bundestag

593

VI. Das Zustandekommen eines Beschlusses der Bundesregierung im sog. Einwendungsausschlußverfahren

596

VII. Die grundsätzliche Problematik von Fiktionen in allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheitsrecht

597

L. Ausblick

598 Teil 3

Gesamtbewertung der Gesetzesfiktion im öffentlichen Recht A. Die Einordnung des Gestaltungsmittels der Fiktion in öffentlichrechtlichen Gesetzen aus der Sicht von Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie I.

Die allgemeine Frage nach dem zweckmäßigen Einsatz der Gesetzesfiktion

Π. Rechtsphilosophische bzw. rechtstheoretische Beurteilung der Gesetzesfiktion ausgehend von den Zwecken des Rechts 1. Die Idee der Gerechtigkeit a) Die elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen als Maßstab für die Beurteilung der Gesetzesfiktion b) Die Anwendung des Maßstabs der Idee der Gerechtigkeit 2. Die friedenstiftende Funktion des Rechts a) Die friedenstiftende Funktion des Rechts als Maßstab für die Beurteilung der Gesetzesfiktion b) Prüfung der Gesetzesfiktion am Maßstab der friedenstiftenden Funktion des Rechts (1 ) Die Vermeidung eines klaren Widerspruchs zu dem Recht vorgegebenen Topoi (2) Die Wahrung der Einheit der Rechtsordnung und der Folgerichtigkeit der einzelnen Rechtsbereiche

600

600 601 605 606 606 612 622 622 626 626 632

nsverzeichnis (3) Die der friedenstiftenden Funktion des Rechts adäquate Gesetzesfassung (a) Die Verständlichkeit der normativen Regelungsaussage.... (aa) Die Klarheit der Gesetzesfassung (bb) Die Verständlichkeit für den Normadressaten (b) Die Erkennbarkeit der ratio des Gesetzes (c) Die Sachgemäßheit der Gesetzessprache aus der Sicht des Normadressaten (d) Zwischenergebnis 3. Die grundsätzliche Eignung der öffentlichrechtlichen Gesetzesfiktion zur Erzielung von Normwirksamkeit

639 640 641 643 652 653 655 656

B. Verfassungsrechtliche und verwaltungsrechtliche Beurteilung der Gesetzesfiktion 658 I.

Hinweise zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Dimension der Gesetzesfiktion

Π. Allgemeine verfassungsrechtliche Anforderungen an jede Normsetzung... 1. Die Fiktion als formales Gestaltungsmittel der Gesetzgebung a) Allgemeine verfassungsrechtliche Anforderungen an gesetzliche Definitionen sowie Verweisungen bzw. Einschränkungen ( 1 ) Die notwendige Bestimmtheit gesetzlicher Regelungen (a) Das allgemeine formale rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (b) Das Gebot inhaltlicher Bestimmtheit (c) Formale Bestimmtheit und Fiktion (2) Die verfassungsrechtliche Problematik der Verweisung b) Die verfassungsrechtliche Problematik der "verdeckten" Ausgestal tung der Gesetzesfiktion 2. Die Gesetzesfiktion als materieller Gegenstand einer gesetzlichen Regelungsaussage a) Der Gleichheitsgrundsatz (1 ) Die grundsätzliche Regelungsaussage des Art. 31 GG (2) Die sachliche Folgerichtigkeit des Gesetzes (3) Die Gleichheit in der Zeit b) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip c) Die Anforderungen der Rechtssicherheit d) Das Gebot inhaltlicher Bestimmtheit eines Gesetzes e) Das Verhältnis von Bundes-und Landesrecht 3. Ausblick ΙΠ. Die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren durch Gesetzesfiktionen 1. Das gesetzgeberische Ziel der Verfahrensbeschleunigung

659 660 660 661 661 661 672 675 680 686 688 689 689 693 700 701 706 709 710 711 712 713

nsverzeichnis

23

a) Das tatsächliche Bedürfnis nach Verfahrensbeschleunigung b) Die Verfahrensbeschleunigung als rechtliches Prinzip (1) Ansätze einer einfachgesetzlichen Verankerung der Pflicht zur Beschleunigung von Verwaltungsverfahren (2) Der Topos der Verwaltungseffizienz (a) Effizienz als Maxime der Verwaltung (b) Verwaltungseffizienz als Ergebnis eines gesetzgeberischen Ausgleichs von kollidierenden Belangen (3) Die verfassungsrechtliche Fundierung des Ziels der Verfahrensbeschleunigung im einzelnen (a) Die Schaffung einheitlicher bzw. gleichwertiger Lebensverhältnisse (b) Die Funktionsfähigkeit der Verwaltung (c) Die Wirtschaftlichkeit staatlichen Handelns (d) Die dem Grundrechtsschutz angemessene Dauer von Verwaltungsverfahren (e) Art. 19IV GG (f) Sonstige mögliche verfassungsrechtliche Grundlagen des Ziels der Verfahrensbeschleunigung (4) Zwischenergebnis 2. Die Bestimmung möglicher Ansatzpunkte für eine Verfahrensbeschleunigung durch Gesetzesfiktionen ausgehend von den in Betracht kommenden Verzögerungsgründen 3. Die Gesetzesfiktion als Sanktionierung von gesetzlichen Fristen für die Behördenbeteiligung a) Verfahrensbeschleunigung durch fiktionsbewehrte gesetzliche Fristen für die Beteiligung von Drittbehörden b) Allgemeine Grenzen der gesetzlichen Fiktion von Zustimmung bzw. Einvernehmen von Drittbehörden ( 1 ) Der Eingriff in behördliche Mitwirkungskompetenzen (a) Art. 28 Π GG (b) Der bloße Entzug von Zuständigkeiten (2) Der Konflikt der Zustimmungsfiktion mit dem rechtsstaatlichen Untersuchungsgrundsatz bzw. dem gebotenen Grundrechtsschutz im Verwaltungsverfahren (a) Die Bedeutung des rechtsstaatlichen Untersuchungsgrundsatzes (b)Die Maßgaben von rechtsstaatlichem Untersuchungsgrundsatz und verfahrensrechtlichem Grundrechtsschutz für fiktionsbewehrte gesetzliche Fristen für Behördenbeteiligungen (c)Das Verhältnis der Zustimmungsfiktion zur materiellen Rechtslage (d) Zwischenergebnis (3) Sonstiges entgegenstehendes höherrangiges Recht c) Die Zulässigkeit einer Fiktionsbewehrung von Äußerungsfristen für Drittbehörden im Anhörungsverfahren bei der Planfeststellung ( 1 ) Der Konflikt mit dem Abwägungsgebot

713 715 715 716 717 722 728 728 732 733 737 749 753 757 759 762 762 764 764 764 777 778 779

783 790 797 797 798 799

nsverzeichnis (2) Der Konflikt mit der Ersetzungs- und Konzentrationswirkung des Planfeststellungsbeschlusses (3) Die Auswirkungen der Zustimmungsfiktion auf die Bürgerpartizipation (a) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Grundrechtsschutz durch Verfahren (b) Rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren (c) Demokratieprinzip d) Zwischenergebnis 4. Die Gesetzesfiktion als Sanktionierung von gesetzlichen Fristen für die Bürgerpartizipation a) Die Fiktion der Zustimmung von partizipationsberechtigten Bürgern zu einem zu genehmigenden Vorhaben als Mitwirkungslast. b) Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Zustimmungsfiktion ( 1 ) Partizipationsrechte (a) Die objektivrechtlich gebotene Bürgerpartizipation (b) Aus einer materiellen Rechtsposition erwachsende Rechte auf Beteiligung am Verwaltungsverfahren (c) Verfahrensbeteiligung als Mindeststandard eines "fair trial" im Verwaltungsverfahren (2) Mitwirkungslasten c) Sonstiges entgegenstehendes Recht 5. Die Fiktion der partiellen materiellen Rechtmäßigkeiteines Vorhaben a) Die grundsätzliche Problematik einer partiellen Rechtmäßigkeitsfiktion nach Fristablauf b) Die partielle Rechtmäßigkeitsfiktion als Alternative zur materiellrechtlichen Unbeachtlichkeitsanordnung 6. Die Genehmigungsfiktion a) Die grundsätzliche Problematik einer gesetzlichen Genehmigungsfiktion nach Fristablauf ( 1 ) Die maßgeblichen Beurteilungskriterien (2) Die Verlautbarung der fingierten Genehmigung (3) Die Bestimmtheit des Inhalts der fingierten Genehmigung (4) Die potentielle Verletzung administrativer Zuständigkeiten... (a) Art. 28 Π GG (b) Der Grundsatz der horizontalen Gewaltenteilung (c) Der Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung (5) Der mögliche Ausfall behördlicher Mitwirkungshandlungen sowie der Bürgerpartizipation/Betroffenenbeteiligung (6) Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Schutz betroffener Grundrechte (7) Die gebotene Klärung vorhandener Risiken und Gefahren (8) Die Relevanz der Säumnis von Betroffenen (9) Die Bedeutung der gerichtlichen Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit der fingierten Genehmigung ( 10) Entgegenstehendes höherrangiges Recht b) Die Fiktion von Planungsentscheidungen

803 805 807 814 818 821 822 823 825 825 826 827 839 840 847 848 849 856 857 858 858 861 870 872 872 873 881 881 883 887 891 901 902 903

nsverzeichnis

25

(1) Die Genehmigungsfiktion als eine der Planungsentscheidung inadäquate Lösung (2) Das Erfordernis einer Umweltverträglichkeitsprüfung c) Zusammenfassende Bewertung 7. Zustellungsfiktionen

904 910 911 913

IV. Verwaltungsvereinfachung und Bestandswahrung durch verwaltungsrechtliche Gesetzesfiktionen 1. Verwaltungsvereinfachung durch Gesetzesfiktionen a) Das gesetzgeberische Ziel der Verwaltungsvereinfachung b) Der potentielle Konflikt mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung c) Art. 28 Π GG 2. Das gesetzgeberische Ziel der Bestandswahning a) Die Gesetzesfiktion im Dienste einer Besitzstandswahrung (1) Vertrauensschutz im Rahmen des grundrechtlichen Freiheitsschutzes (2) Vertrauensschutz aus Art. 31 GG (3) Die rechtsstaatlich gebotene zeitliche Kontinuität staatlichen Handelns (4) Besitzstandswahrung durch Gesetzesfiktionen b) Die Fiktion einer hoheitlichen Regelung als wirksam ( 1 ) Die Heilung eines nichtigen Verwaltungsakts (2) Die fiktive Wirksamkeit einer Satzung c) Die Gesetzesfiktion im Dienste einer Wahrung tatsächlicher Gegebenheiten V. Gesetzesfiktionen als Bindeglieder im System der Rechtsordnung 1. Die sachliche Harmonisierung gesetzlicher Regelungen durch Gesetzesfiktionen 2. Gesetzliche Rückwirkungsanordnungen VI. Ergänzende Hinweise zu einzelnen Gegenständen verwaltungsverfahrensrechtlicher Gesetzesfiktionen 1. Die Fiktion von Verwaltungsakten 2. Die Fiktion sonstigen Verwaltungshandelns 3. Bekanntgabefiktionen 4. Die Fiktion von Betroffenenerklärungen 5. Rechtmäßigkeitsfiktionen a) Die Kompetenz des Normgebers als Maßgabe für die Rechtmäßigkeitsfiktion b) Der Einsatz der Rechtmäßigkeitsfiktion im Zusammenhang mit einer Privatisierung im Bereich der staatlichen Gefahrenabwehr.. c) Die Frage nach der etwaigen Übernahme des Rechtsgedankens von § 214 m 2 BauGB in eine Rechtmäßigkeitsfiktion VE. Ergänzende Hinweise zur Gesetzesfiktion in einzelnen Sachbereichen des Verwaltungsverfahrensrechts 1. Gesetzesfiktionen im besonderen Verwaltungsrecht 2. Die Gesetzesfiktion im Steuerrecht

917 918 918 919 924 925 925 927 934 935 938 941 941 941 947 948 948 948 951 951 954 955 957 958 958 959 965 966 966 966

nsverzeichnis 3. Gesetzesfiktionen bei der Statuierung öffentlichrechtlicher Anforderungen an den Privatrechtsverkehr

967

Vm. Gesetzesfiktionen im Staatsrecht

969

IX. Gesetzesfiktionen im Verwaltungsprozeßrecht

972

Teil 4 Der Einsatz der Fiktion im Rahmen öffentlichrechtlicher Rechtsanwendung sowie im inneren Gesetzgebungsverfahren A. Die Rechtsanwendungsfiktion I.

Der Gegenstand der Rechtsanwendungsfiktion

Π. Die Einordnung der Rechtsanwendungsfiktion aus der Sicht von Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie 1. Die bisherige Bewertung der Rechtsanwendungsfiktion in Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie 2. Die Beurteilung der Rechtsanwendungsfiktion am Maßstab der friedenstiftenden Funktion des Rechts ΙΠ. Die Zulässigkeit der Verwendung der Fiktion bei der Rechtsanwendung aus verfassungsrechtlicher wie auch verwaltungsrechtlicher Sicht 1. Die bisherige verfassungsrechtliche Beurteilung der Rechtsanwendungsfiktion in der Literatur und der eigene Ansatzpunkt 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rechtsanwendungsfiktion im normativen Bereich a) Die Bildung von Rechtsanwendungsfiktionen durch die Verwaltung (1) Die Rechtsanwendungsfiktion zum Zwecke materieller Typisierung (2) Die normative Ermächtigung zur Bildung von Rechtsanwendungsfiktionen b) Die Bildung von Rechtsanwendungsfiktionen durch den Richter.. ( 1 ) Die Mißachtung einer etwaigen Präjudizienbindung (2) Die potentielle Verletzung der richterlichen Begründungspflicht 3. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sachverhaltsfiktionen a) Die Bildung von Sachverhaltsfiktionen durch die Verwaltung (1) Sachverhaltsfiktionen im Rahmen behördlicher Prognoseentscheidungen

978 978 979 982 982 984 987 987 990 990 990 993 994 996 1005 1008 1009 1010

nsverzeichnis (2) Sachverhaltsfiktionen bei der Feststellung vergangener und gegenwärtiger Umstände (a) Die Bedeutung der behördlichen Ermittlungspflicht insbesondere im Hinblick auf einen Ausfall der Mitwirkung eines Verfahrensbeteiligten (b) E)ie erforderliche gesetzliche Regelung (3) §42,2 AO (4) Art. 1513 BayKG b) Die Bildung von Sachverhaltsfiktionen durch den Richter 4. Ehe Fiktion als Inhalt einer Rechtsanwendungsentscheidung a) Der rückwirkende Verwaltungsakt (1 ) E)ie grundsätzliche Struktur des rückwirkenden Verwaltungsakts (2 ) Ehe rückwirkende auflösende Bedingung b) Ehe Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsakts c) Ehe Berichtigung eines offenbar unstimmigen Verwaltungsakts... d) Das rückwirkende Urteil 5. Die Verwaltungsaktfiktion bei Schweigen der "Erlaßbehörde" B. Ehe Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren I.

27 1032 1033 1044 1047 1055 1056 1058 1058 1059 1063 1066 1068 1071 1072 1074

Ehe Beurteilung der Fiktionsbildung im inneren Gesetzgebungsverfahren aus der Sicht der Rechtsphilosophie 1074

Π. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Fiktionsbildung im inneren Gesetzgebungsverfahren 1. Ehe verfassungsrechtlichen Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren a) Grundsätzliche Erwägungen b) Das spezielle Beispiel des Abwägungsvorgangs 2. Verfassungsrechtliche Grenzen der Bildung von Sachverhaltsfiktionen im inneren Gesetzgebungsverfahren, insbesondere bei der gesetzgeberischen Prognose

1075 1075 1075 1081 1085

Teil 5 Die Fiktion als Gegenstand der Rechtsdogmatik auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts A. Das Institut der wissenschaftlichen Rechtsfiktion

1095 1095

B. Exemplarische Durchsicht potentieller Anwendungsfälle der wissenschaftlichen Rechtsfiktion im öffentlichen Recht 1097 I.

Ehe fehlende Fiktionseigenschaft originärer juristischer Zweckschöpfungen

1098

nsverzeichnis Π. E)ie unmittelbare sachliche dogmatische Begründung 1. Die Aufhebung eines rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts 2. Die Rechtskraft sachlich unrichtiger Urteile 3. Die aufschiebende Wirkung gem. § 80 VwGO

1104 1104 1108 1110

ΙΠ. Die fehlende Maßgeblichkeit naturwissenschaftlicher Axiome bzw. Prinzipien innerhalb der Rechtsdogmatik 1112 1. Die Aufhebung eines nichtigen Verwaltungsakts 1113 2. Die juristische Sekunde 1119 IV. Das bloße Unrichtigkeitsurteil hinsichtlich dogmatischer Theorien 1120 1. Die angebliche Fiktion der Eindeutigkeit des Ergebnisses der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe 1120 2. Die angeblich fiktive Grundlage der sog. normativen Ermächtigungslehre 1122 V. Anwendungsbeispiele einer wissenschaftlichen Rechtsfiktion 1. Die Besteuerung fiktiver Verkehrsakte 2. Die Abweichung vom sog. Nichtigkeitsdogma a) Das Verhältnis von Nichtigkeitsdogma und Stufenaufbau der Rechtsordnung b) Die Verneinung der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht VI. Die Frage nach etwaigen fiktiven Elementen in der Begründung der Legitimation der Verfassung sowie einer einzelnen parlamentarischen Entscheidung 1. Die Idee eines Gesellschaftsvertrages 2. Die Mehrheitsentscheidung des Bundestages in der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes 3. Die Legitimation des Grundgesetzes durch seine ZurückfÜhrung auf die verfassunggebende Gewalt des Deutschen Volkes nach der Präambel C. Bewertung der wissenschaftlichen Rechtsfiktion im öffentlichen Recht I.

Bisherige Ansätze in der Literatur

Π. Der wissenschaftliche Wert der Rechtsfiktion

1122 1122 1124 1124 1127

1129 1130 1138 1143 1147 1148 1148

Teil 6 Zusammenstellung der wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung und abschließende Betrachtung A. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung

1151 1151

nsverzeichnis I.

Zur dogmatischen Einordnung des Rechtsinstituts der Fiktion

29 1151

Π. Zur Bedeutung der Gesetzesfiktion in der Rechtswirklichkeit öffentlichrechtlicher Normen 1158 DI. Zur Bewertung der öffentlichrechtlichen Gesetzesfiktion

1175

IV. Zur Bewertung der Fiktion bei der Anwendung öffentlichrechtlicher Normen und im inneren Gesetzgebungsverfahren

1190

V. Zur wissenschaftlichen Rechtsfiktion

1194

B. Abschließende Betrachtung

1196

Literaturverzeichnis

1201

Sachverzeichnis

1304

Abkürzungsverzeichnis a. Α. AbfG AbfKlärV AbgG ABl. Abschn. AbwAG AcP a.E. AE AEG ÄndG a.F. AfA AK-GG Allg.VerwR Alt. AMG Ani. Ann. d. Philos. AO AöR AP ARSP AsylVfG AT AtG AtVfV AufenthG/EWG

anderer Ansicht Abfallbeseitigungsgesetz Klärschlammverordnung Abgeordnetengesetz Amtsblatt Abschnitt Abwasserabgabengesetz Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) am Ende Anwendungserlaß Allgemeines Eisenbahngesetz Änderungsgesetz alte Fassung Absetzung für Abnutzung Alternativkommentar zum Grundgesetz Allgemeines Verwaltungsrecht Alternative Arzneimittelgesetz Anlage Annalen der Philosophie (Zeitschrift) Abgabenordnung 1977 Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsgerichtliche Praxis, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Zeitschrift Gesetz über das Asylverfahren Allgemeiner Teil Atomgesetz Atomrechtliche Verfahrensordnung Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten der EWG

Abkürzungsverzeichnis

31

AuslG AW BAföG

Ausländergesetz Allgemeine Verwaltungsvorschrift Bundesausbildungsförderungsgesetz

BAG BAGE

Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (sog.

BauGB

Amtliche Sammlung) Baugesetzbuch

BauGB-MaßnG BauO/BO BauR Bay BayAbfALG

BayBG BayBgm. BayFMBl. BayGT BayRS BayStrWÄG BayStrWG BayVBl. BayVerfGH BayVGH BayVerfGHE (n.F.) BayVwVfG BayVwZVG BB BBahnG BBauG BBesG Bbg BBG

Maßnahmengesetz zum Baugesetzbuch Bauordnung/Landesbauordnung Baurecht, Zeitschrift für das gesamte öffentliche und zivile Baurecht Bayern/Bayerisch Gesetz zur Vermeidung, Verwertung und sonstigen Entsorgung von Abfällen und zur Erfassung und Überwachung von Altlasten in Bayern (Bayerisches Abfallwirtschafts- und Altlastengesetz) Bayerisches Beamtengesetz Der Bayerische Bürgermeister (Zeitschrift) Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen Bayerischer Gemeindetag Bayerische Rechtssammlung Änderungsgesetz zum Bayerischen Straßen- und Wegegesetz Bayerisches Straßen- und Wegegesetz Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Sammlung von Entscheidungen des BayVGH mit Entscheidungen des BayVerfGH (neue Folge) Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Bundesbahngesetz Bundesbaugesetz Bundesbesoldungsgesetz Brandenburg( isch) Bundesbeamtengesetz

32 Begr. Bek. Berl/Bln Bes.VerwR BezWG BFHE BFHNV BG BGBl. BHO BImSchG BImSchV BK Bl. BLG BMinG BMVtdg. BNatSchG BR BReg Brem BRRG BRS BSGE BStBl. BSeuchenG BT BT-Drs. Buchh. BV BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG

Abkürzungsverzeichnis Begründung Bekanntmachung Berlin(isch/er) Besonderes Verwaltungsrecht Bayerisches Bezirkswahlgesetz Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (sog. Amtliche Sammlung) Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Beamtengesetz Bundesgesetzblatt Bundeshaushaltsordnung Bundes-Immissionsschutzgesetz VO zur Durchfilhrung des BImSchG Kommentar zum Bonner Grundgesetz Blatt Bundesleistungsgesetz Bundesministergesetz Bundesminister der Verteidigung Bundesnaturschutzgesetz Bundesrat Bundesregierung Bremen/Bremisch Beamtenrechtsrahmengesetz Baurechtssammlung (Zeitschrift) Entscheidungen des Bundessozialgerichts (sog. Amtliche Sammlung) Bundessteuerblatt Bundes-Seuchengesetz Bundestag Bundestagsdrucksache Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG Verfassung des Freistaates Bayern Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (sog. Amtliche Sammlung) Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis BVerwGE BW BWG BWildSchV BWO DAR DB DiätAssG DJT DJZ DÖV DR DRiG DRiZ DSchG DSchPflG

DStJG DStR DStZ DStZ(A) DtZ DuD DV DVB1. E EFG EG EheG EMRK Entsch. EStDV EStG EStR EuGRZ EVO

3 Jachmann

33

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (sog. Amtliche Sammlung) Baden-Württemberg(isch) Bundeswahlgesetz Bundeswildschutzverordnung Bundeswahlordnung Deutsches Autorecht (Zeitschrift) Deutsche Bundesbahn/Der Betrieb (Zeitschrift) Diätassistentengesetz Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Recht (Zeitschrift) Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Denkmalschutzgesetz Rheinland-Pfälzisches Landesgesetz zum Schutz und zur Pflege der Kulturdenkmäler (Denkmalschutz- und-pflegegesetz) Deutsche Steueijuristische Gesellschaft Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsche Steuer-Zeitung (Zeitschrift, ab 1980) Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A (Zeitschrift, bis 1979) Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Datenschutz und Datensicherung (Zeitschrift) Verordnung zur Durchführung Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidung (sog. Amtliche Sammlung) Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) EinfÜhrungsgesetz Ehegesetz Europäische Menschenrechtskonvention Entscheidung Einkommensteuer-Ehirchfilhrungsverordnung Einkommensteuergesetz Einkommensteuer-Richtlinien Europäische Grundrechte-Zeitschrift Eisenbahnverkehrsordnung

34 FamRZ FG FGO FlurbG FÖJG FördergebietsG FR FS FSt. FStrG GastG GBl. GBO GemO/GO GenTG GeschO/GO GewArch GewO GK GrdstVG GrEStG GrKrV GrStG GüKG GVB1. Hamb HandwO HBG HdbStR HdbVerfR HeilBÄndG Hess HFR HHG HS

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Finanzgerichtsordnung Flurbereinigungsgesetz Gesetz zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres Gesetz über Sonderabschreibungen und Abzugsbetrftge im Fördergebiet Finanz-Rundschau (Zeitschrift) Festschrift Die Fundstelle (Zeitschrift) Bundesfernstraßengesetz Gaststättengesetz Gesetzblatt Grundbuchordnung Gemeindeordnung Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz) Geschäftsordnung Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbeordnung Gemeinschaftskommentar Grundstücksverkehrsgesetz Grunderwerbsteuergesetz Verordnung über Aufgaben der Großen Kreisstädte Grundsteuergesetz Güterkraftverkehrsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Hamburg(isch) Handwerksordnung Hessisches Beamtengesetz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Verfassungsrechts Heilberufsänderungsgesetz Hessen/Hessisch Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Häftlingshilfegesetz Halbsatz

Abkürzungsverzeichnis HSchLG HV Inf InfAuslR InV-WoBauLG InvZulG JA JAPO JbFfSt Jb. f.RSoz.u.RTheorie JM JR JuS JZ KAG Kap. KG KraftStG KritV KStG KStZ KWBG KWG KWKG L. LadschlG LAG LAGE LBG LBO LKV LMBG Ls.

3*

35

Hochschullehrergesetz Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg Die Information über Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Informationsbrief Ausländerrecht (Zeitschrift) Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz Investitionszulagengesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Bayer. Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Justizministerium Juristische Rundschau (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kommunalabgabengesetz Kapitel Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz) Kraftfahrzeugsteuergesetz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Körperschaftsteuergesetz Kommunale Steuer-Zeitschrift Bayer. Gesetz über kommunale Wahlbeamte Gesetz über das Kreditwesen Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen (Kriegswaffenkontrollgesetz) Leitsatz Gesetz über den Landenschluß Lastenausgleichsgesetz Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts (sog. Amtliche Sammlung) Landesbeamtengesetz/ Landbeschaffungsgesetz Landesbauordnung Landes- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift) Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Leitsatz

36 LSt LStDV LStR LStrG LT-Drs. LuftVG LWG MAB1. MBO ME MeldeG MittBayNot

MRRG MüKo Münch Hdb ArbR N. Nachw. Nds/N NdsVBl. NJW NJW-RR NStZ NuR NVwZ NVwZ-RR NW NWB NWVBL NZA NZV OFH OrdenG OVG

Abkürzungsverzeichnis Lohnsteuer Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien Landesstraßengesetz Landtagsdrucksache Luftverkehrsgesetz Bayerisches Landeswahlgesetz Ministerialamtsblatt der bayerischen inneren Verwaltung Musterbauordnung Musterentwurf Gesetz über das Meldewesen Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern (Zeitschrift) Melderechtsrahmengesetz Münchener Kommentar Münchner Handbuch für Arbeitsrecht Nachweise Nachweise Niedersachsen/Niedersächsisch Niedersächsische Verwaltungsblätter, Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift - Rechtsprechungsreport (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht (Zeitschrift) Neue Verwaltungsrechtszeitschrift Neue Verwaltungsrechtszeitschrift - Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen/Nordrhein-Westfälisch Neue Wirtschaftsbriefe (Zeitschrift) Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Oberster Finanzhof Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen Oberverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis

37

OWiG

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PartG PIVereinfG PrOVGE

Parteiengesetz Planungsvereinfachungsgesetz Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (sog. Amtliche Sammlung) Personenstandsgesetz Regierungsentwurf

PStG RegE RFH RFHE RG RhlPfTRh.-Pf. RiA RL ROG ROW Rpfleger Rspr. RStBl. RuP Rz. Saarl/S SaBl. Sächs SchlH/SH SchulG SchwbG SGB X SGG SprengG SpuRt StabG StAnpG StB StBauFG Stbg

Reichsfinanzhof Entscheidungen des Reichsfinanzhofs (sog. Amtliche Sammlung) Reichsgericht Rheinland-Pfalz/Rheinland-Pfòlzisch Recht im Amt (Zeitschrift) Richtlinie Raumordnungsgesetz Recht in Ost und West (Zeitschrift) Der Deutsche Rechtspfleger (Zeitschrift) Rechtsprechung Reichssteuerblatt Recht und Politik (Zeitschrift) Randziffer Saarland/Saarländisch Sammelblatt für Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder sächsisch Schleswig-Holstein(isch) Schulgesetz Schwerbehindertengesetz Sozialgesetzbuch X Sozialgerichtsgesetz Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) Zeitschrift Sport und Recht Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Steueranpassungsgesetz Der Steuerberater (Zeitschrift) Städtebauförderungsgesetz Die Steuerberatung (Zeitschrift)

38

Abkürzungsverzeichnis

StbJb

Steuerberater ahrbuch

StBp. StEK StG StKongRep. StiG st.Rspr. StrWG StT StuW Thür TWG Tz. UR UStG UTR UVP UVPG UVP-RL

Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift) Steuererlasse in Karteiform (Hrsg. : Felix/Carlé) Stiftungsgesetz Steuerberaterkongreß-Report Straßengesetz ständige Rechtsprechung Straßen- und Wegegesetz Der Städtetag (Zeitschrift) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Thüringer/Thüringisch Telegraphenwegegesetz Textziffer Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) Umsatzsteuergesetz Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Umweltverträglichkeitsprüfung Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung Richtlinie des Rechts über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten Verwaltungsblätter ftlr Baden-Württemberg Versammlungsgesetz Versicherungsrecht (Zeitschrift) Verwaltungsarchiv Verwaltungsrecht Verwaltungs-Rechtsprechung in Deutschland, Sammlung oberrichterlicher Entscheidungen aus dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht Bayerische Verordnung über die Straßen- und Bestandsverzeichnisse vom 21. August 1958 Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Ministerialblatt des Bundesministeriums der Verteidigung Verordnung Vollzugsbekanntmachung

VB1BW VersG VersR VerwArch VerwR VerwRspr

VerzVO VfGHG VG VGH VMB1. VO VollzBek.

Abkürzungsverzeichnis

39

VR

Verwaltungsrundschau (Zeitschrift)

VSSR VStG VStR WDStRL

Vierteljahresschrift für Sozialrecht Vermögensteuergesetz Vermögensteuer-Richtlinie Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz Waffengesetz Wahlprüfungsgesetz

VwPBG VwVfG VwVG VwZG WaffG WahlprüfG WaStrG WG WHG WPflG WPg WRMG

WuV WuW ZBR ZDG ZEuP ZfBR ZfP ZfV ZG Ziff. ZParl ZPO ZRP ZUR zust. ZZP

Bundeswasserstraßengesetz Wassergesetz Wasserhaushaltsgesetz Wehrpflichtgesetz Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift) Gesetz über die Umweltverträglichkeit von Waschund Reinigungsmitteln (Wasch- und Reinigungsmittelgesetz) Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift) Wirtschaft und Wettbewerb, Zeitschrift ftlr Kartellrecht, Wettbewerbsrecht und Marktorganisation Zeitschrift für Beamtenrecht Zivildienstgesetz Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Verwaltung Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend Zeiftschrift für Zivilprozeß

Teil 1

Das Rechtsinstitut der Fiktion A. Problemstellung Der BegrifiF "Fiktion" umschreibt im allgemeinen Sprachgebrauch1 eine Erdichtung bzw. Annahme2, eine Einbildung3 oder Erfindung 4, d.h. etwas, was nur in Vorstellung existiert, etwas Erdachtes3, eine Unterstellung6. Die Literaturwissenschaft definiert die Fiktion Mals Veibalisierung oder andere Form der Kodierung von in ihrem Seinsmodus intentional umgedeuteten, d.h. fiktiven Gegenständen und Sachverhalten". "Fiktiv" sind dabei "Gegenstände und Sachverhalte, die von einem Individuum entgegen dessen zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Auffassung vom Seinsmodus dieser Gegenstände und Sachverhalte intentional für einen bestimmten Zeitraum in eben diesem 8

9

Seinsmodus umgedeutet werden". In der Philosophie wird die Fiktion als

1

Die Fiktion ist durchaus kein Exot im allgemeinen Sprachgebrauch. Als typisch kann etwa der Satz gelten "Wie so häufig, steht die Wirklichkeit der Fiktion kaum nach." (Zimmermann, ZEuP 1994,733 (734)). - Vgl. weiter zur Gegenüberstellung von Tatsache und Fiktion im allg. Sprachgebrauch etwa den Titel von Erich Fromms Analyse der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten: "Es geht um den Menschen. Tatsachen und Fiktionen in der Politik.M - Jorge Luis Borges betitelt eine Sammlung irrealer Erzählungen als "Fiktionen". 2 Der Sprach-Brockhaus, 9. Aufl. 1984; Knaurs Fremdwörter-Lexikon 1982; Wahrig, Fremdwörter Lexikon; Wahrig, Deutsches Wörterbuch 1986/1991; jeweils Stichwort Fiktion. 3 S. nur Duden, Das Herkunftswörterbuch 1989, Stichwort Fiktion. 4 S. etwa Knaurs Fremdwörter-Lexikon, Stichwort Fiktion. 5 S. nur Duden, Fremdwörterbuch 1990, Stichwort Fiktion. 6 Vgl. etwa Duden, Das Herkunftswörterbuch; Wahrig, Deutsches Wörterbuch; Wahrig, Fremdwörter-Lexikon; Knaurs Fremdwörter-Lexikon; Der Sprach-Brockhaus; jeweils Stichwort Fiktion. 7 Landwehr, Text und Fiktion, S. 185. 8 Landwehr, aaO., S. 176. 9 Zu einem Überblick über die wesentlichen Stationen der Entwicklung eines Fiktionsbegriffs in der Philosophie, insbesondere in Abgrenzung zur Hypothese, s. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort Fiktion m.w.N.

42

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Idee der Vernunft von der objektiven Realität unterschieden10. Parallel zum allgemeinen Sprachgebrauch versteht man sie als Widerspruch zur Wirklichkeit ; die Unterstellung wird als Erkenntnismittel bzw. methodisches Hilfsmittel aufgegriffen, bei dem mit bewußt falschen Vorstellungen das Richtige erkannt werde. Die Verwaltungswissenschaft bezeichnet als organisatorische Fiktion insbesondere eine systematische Form selektiver Wahrnehmung, die zu Realitätsverlusten bei der Entscheidungsfindung fuhrt . Im Bereich des Rechts als System zur Ordnung von sozialen Konflikten 16 bzw. als Versuch der Abbildung und ordnenden Gestaltung der Gesellschaft begreift man die Fiktion insbesondere als gewollte Gleichsetzung eines als ungleich Gewußten18 bzw. als rechtliche Gleichbewertung zweier verschiedener Tatbestände . Dabei haftet der Verwendung der Fiktion ein gewisser Beigeschmack dahin an, daß sie ein Mittel sachverhaltsbezogener Manipulation oder bewußter Täuschung21 sein könnte, eine wahrheitswidrige Behauptung, auf deren Grundlage der Richter einen Sachverhalt quasi umdenkt, um die Wahrheit zu verschleiern. Die Rechtsfiktion wird sogar als "schädliche Entgleisung" , als

10 S. etwa Eisler, Kant-Lexikon, Stichwort Fiktion m.w.N. - Kant (Kritik der reinen Vernunft, S. 799) versteht Vernunftbegriffe als "bloße Ideen", die "keinen Gegenstand in irgendeiner Erfahrung" haben, aber "darum doch nicht gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände" bezeichnen. "Sie sind bloß problematisch gedacht, um in Beziehung auf sie (als heuristische Fiktionen) regulative Principien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen." 11 Vgl. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, etwa S. 172 ff ; Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort Fiktion; Hölder, AcP 69 (1886), 203 (223). 12 Vgl. etwa Klaus/Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Stichwort Fiktion. 13 Vgl. z.B. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, S. 289; Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort Fiktion. 14 Vaihinger, aaO., S. 175. 13 Eichhorn, Verwaltungslexikon, Stichwort organisatorische Fiktion. 16 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 91. 17 Vgl. Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, S. 33; zu den Zwecken des Rechts s. im einzelnen unten sub Teil 3 Α. Π. 1. a); 2. a). 18 Larenz, Methodenlehre, S. 262. 19 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 27 ff. 20 Meyer, Fiktionen im Recht, S. 117. 21 Vgl. Esser (Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 81 ff), der gewisse Fiktionsarten als Mittel der geheimen Durchbrechung und Sabotage unhaltbarer Obersätze beurteilt. 22 S. dazu statt vieler Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 18 m.w.N.; Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (94, 95); Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des Als-Ob, S. 114; Weigelin, Archiv ftlr Rechts-

Α. Problemstellung

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"Bankrotterklärung der Wissenschaft"*, als "technische Notlüge"23 oder "Fehlgriff der Rechtsordnung" kritisiert. Andererseits werden Fiktionen das tägliche Brot der Juristen genannt und als elementare Lebensnotwendigkeit der Rechtswissenschaft bezeichnet. Die Annahme einer Rechtsfiktion liegt besonders nahe, wo ein Gesetz Begriffe wie "gilt als" , "wie wenn", "als ob" oder "steht gleich", "ist auch anzusehen" verwendet.50 Hier stellt sich jedoch sogleich die Frage nach der Abgrenzung der Fiktion von ihr - prima facie - verwandten Instituten, beispielsweise der Analogie oder Vermutung, aber auch der Schätzung, der Typisierung oder der Hypothese. Auch diesen Rechtsinstituten wohnt eine gewisse Nähe zum nicht Vorhandenen inne; sie implizieren eine Art irrealer Zuordnung. Ziel vorliegender Untersuchung ist es, die Bedeutung der Rechtsfiktion im Prozeß der Rechtsgewinnung im öffentlichen Recht zu bestimmen. Hierfür werden zunächst rechtstheoretisch bzw. methodologisch die Strukturmerkmale, die die Fiktion als im Recht relevante Größe in konstitutiver Weise prägen, herausgearbeitet, sowie mögliche Anwendungsbereiche der Fiktion im Prozeß öffentlichrechtlicher Rechtsfindung aufgezeigt (Teil 1). Dabei ist die Fiktion von anderen Rechtsinstituten abzugrenzen, welche ihr strukturell oder funktionell nahestehen. Ausgehend von der so gefundenen Definition der Fiktion soll deren Bedeutung in der Rechtswirklichkeit öffentlichrechtlicher und Wirtschaftsphilosophie 18 (1924/25), 23 ff.; Hofacker, Ann. d. Philos. 4 (1924), 475 ff. 23 Kelsen, Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (632). 24 Bülow, AcP 62 (1879), 1 (7). 23 V. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 305. 26 Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts, S. 108. 27 Vgl. zur "Unaufrichtigkeit des Gesetzes" bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs Schroeder, ZRP 1992,409 (410) sub ΠΙ. 28 Vgl. Krückmann, ZStW 37 (1916), 353 (362); Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des Als-Ob, S. 14, 108; Mallachow (aaO., S. 13) betrachtet die Fiktion als Arbeitsmittel gerade der hochentwikkelten Wissenschaft. Crome (System des Deutschen Bürgerlichen Rechts, S. 108) nimmt an, daß ein Volk umso leichter ohne Fiktionen auskomme, je höher entwickelt sein Kultur- und Rechtszustand sei. 29 S. nur Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 36. 30 Vgl. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 48 f.; Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 30. 31 Vgl. Hölder, AcP 69 (1886), 203 (224).

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Normen ermittelt werden (Teil 2). Dies setzt eine -freilich nur in exemplarischer Weise zu leistende" - Durchsicht verschiedener Sachbereiche des öffentlichen Rechts der Bundesrepublik Deutschland33 auf die Verwendung von Gesetzesfiktionen voraus, sowie deren Strukturierung, insbesondere im Hinblick auf die fingierten Gegenstände und die Zwecke der einzelnen Fiktionsnormen. Einzugehen ist dabei auch auf die besondere verwaltungsrechtliche bzw. verfassungsrechtliche Problematik, die aus der Verwendung der Gesetzesfiktion in dem jeweiligen speziellen normativen Zusammenhang erwächst. Auf der Basis der sich hierbei ergebenden Fragenkomplexe soll in grundsätzlicher Weise eine Gesamtbewertung des Rechtsinstituts der Gesetzesfiktion erfolgen (Teil 3). Ausgehend von einer allgemeinen rechtsphilosophischen Beurteilung gilt es hier insbesondere, Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Gesetzesfiktionen aus verfassungsrechtlicher, aber auch verwaltungsrechtlicher Sicht aufzuzeigen. Es wird zu prüfen sein, inwieweit die Fiktion nicht nur als Mittel der Gesetzessprache dienen kann, sondern auch als normativer Regelungsinhalt in Betracht kommt, insbesondere in Gestalt eines Ersatzes für die Äußerung eines Rechtsfolgewillens im aktuellen Einzelfall. Dies betrifft v.a. die gesetzliche Fiktion von Verwaltungsakten. Im Zentrum der Untersuchung soll die Gesetzesfiktion stehen. Es wird aber auch darzulegen sein, inwieweit die Fiktion im Rahmen administrativer bzw. verwaltungsgerichtlicher Rechtsanwendung sowie im sog. inneren Gesetzgebungsverfahren - in rechtsphilosophisch und verfassungsrechtlich zu billigender Weise - eingesetzt werden kann (Teil 4). Schließlich wird auf die Bedeutung der Fiktion als Methode der Rechtsdogmatik einzugehen sein (Teil 5). Der Stellenwert der Rechtsfiktion bei der Fortentwicklung des öffentlichen Rechts hängt primär von ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit sowie von ihrer Adäquanz im System des geltenden Verwaltungsrechts ab. Beide 32

Im Vordergrund stehen sollen dabei VwVfG und AO, das besondere Verwaltungsrecht, das Staatsrecht sowie das Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrecht. Aus Gründen der Stoflbegrenzung soll auf das besondere Steuerrecht nur exemplarisch, auf das Sozialrecht sowie das Kartellrecht allenfalls am Rande eingegangen werden. Nicht behandelt werden Fiktionen im Dienste der Rechtsangleichung im Einigungsvertrag v. 31.08.1990. 33 Völkerrecht sowie Europarecht werden nicht behandelt. 34 Die Rechtsphilosophie soll Maßstab für die Bewertung der Rechtsfiktion sein. Nicht aber sollen sich die Erörterungen auf etwaige Fiktionsbildungen als Methode der Philosophie selbst beziehen.

Α. Problemstellung

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Aspekte will die vorliegende Untersuchung erhellen, wobei das Schwergewicht der Problemstellung bei der Verfassungskonformität liegt. Angesichts der Unabhängigkeit des Eintritts der Fiktionswirkung einer Gesetzesfiktion von einer realen Einzelfallentscheidung könnte die öffentlichrechtliche Rechtsfiktion in Form der Gesetzesfiktion insbesondere dort gesteigerte Bedeutung erlangen, wo der Rechtsstaat mit seinem Streben nach Komplettierung der gesetzlichen Sozialgestaltung und optimaler Klärung der Sach- und Rechtslage in der von zunehmender Komplexität und Vielgestaltigkeit geprägten modernen Gesellschaft an die Grenzen der Praktikabilität stößt und sich die Frage seiner Effizienz stellt. Die Gesetzesfiktion kommt als besonders geeignetes Mittel der Beschleunigung von Verwaltungsverfahren, insbesondere von Genehmigungsverfahren, in Betracht. Sie kann aber auch der sonstigen Verwaltungsvereinfachung dienen, ggf. gekoppelt mit einer Anpassung sachlicher und/oder rechtlicher Bestände an eine geänderte Sachoder Rechtslage, indem eine gesetzliche Regelung die fiktive Perpetuierung von Rechtsverhältnissen im weitesten Sinne vorsieht oder Überleitungsvorschriften vorhandene Bestände in eine gesetzliche Neuregelung einbeziehen. Via Gesetzesfiktion können die Regelungen verschiedener Normkomplexe sachlich oder zeitlich harmonisiert werden. Auch im Bereich der Rechtsanwendung bietet sich Fiktion prima facie als Ausweg aus der wachsenden Masse und Komplexität von Verwaltungsverfahren an. Insoweit erscheint gerade das Besteuerungsverfahren als geeignetes Anwendungsfeld, indem es angesichts der Vielzahl der zu bearbeitenden gleichgelagerten Fälle zur Typisierung neigt. Hinsichtlich jedes der genannten Einsatzzwecke der öffentlichrechtlichen Rechtsfiktion stellt sich die Frage, inwieweit der Verfassungsstaat des Grundgesetzes einer Aufgaben- bzw. Konfliktbewältigung im Wege der Fiktion Grenzen setzt.

35 Vgl. Wagner, in: ders. (Hrsg.), Zukunftsaspekte der Verwaltung, S. 21 (32); zur Kritik der "Gesetzesflut" s. nur Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, insbes. S. 9 ff. m.w.N.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

B. Der grundlegende Ansatz fur die Einordnung der Rechtsfiktion Ausgangspunkt der Ermittlung der formalen methodologischen Struktur der Rechtsfiktion soll die Wortbedeutung des Begriffs MFiktionM sein sowie deren bisherige Einordnung in der Rechtsphilosophie bzw. insbesondere in der juristischen Methodenlehre.

I. Die Bedeutung des Wortes "Fiktion" im allgemeinen Sprachgebrauch Der im allgemeinen Sprachgebrauch verwendete Begriff der Fiktion ist aus dem lateinischen Substantiv "fictio" (Bildung, Gestaltung)36 abgeleitet37 welches auf dem Stammverb "fingere" 38 basiert. Dieses meint zum einen "formen, gestalten, bilden, darstellen" im handwerklichem Sinn wie auch "bauen, schaffen, gestalten" in bildlicher Ausdrucksweise. Hinzu kommt die metaphorische Bedeutung des "sich Vorstellens, sich Denkens, Annehmens bzw. Erdichtens, Ersinnens," was auch die negative Komponente von "erlügen, erheucheln" oder "vorgeben" umfaßt. 39

36

Stowasser, Schulwörterbuch, Stichwort Fiktion. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Stichwort Fiktion. 38 Vgl. auch Baumhoer, Die Fiktion im Straf- und Prozeßrecht, S. 14. 39 Stowasser, Schulwörterbuch; Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, jeweils Stichwort fingo; Thesaurus linguae latinae, VI 770,40 ff.; Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort Fiktion m.w.N.; zum allgemeinen Sprachgebrauch vgl. etwa auch Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 5 f. Wenn Meurer hier darauf hinweist, daß Analysen, die mit einer dem allgemeinen Sprachgebrauch entlehnten Begriffsdefinition operieren, wenig ertragreich sein werden, so ist dem insoweit zu folgen, als der allgemeine Sprachgebrauch keine zwingenden Rückschlüsse auf den Inhalt einer juristischen Systembildung gestattet, die mit Begriffen des allgemeinen Sprachgebrauchs arbeitet. Dennoch muß die außeijuristische Begriffsbestimmung Ausgangspunkt der juristischen sein. Die juristische Begriffsbildung trifft zunächst auf die Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs. Entstehungsgrund der juristischen Begriffsbildung ist - abgesehen von terminologischen Neuschöpfungen der Jurisprudenz - der allgemeine Sprachgebrauch, in dem sich die Gesellschaft artikuliert, deren Rechtsbeziehungen die Jurisprudenz darstellt bzw. gestaltet. Die Verwendung eines Begriffs des allgemeinen Sprachgebrauchs zur Umschreibung juristischer Zusammenhänge kann freilich Modifikationen der Begriffsbedeutung gegenüber der im allgemeinen Sprachgebrauch mit sich bringen, die bis zur vollständigen Sinnabweichung gehen können. Dies gilt es ggf. herauszuarbeiten. 37

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

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Begriffsbestimmendes Element der Fiktion ist danach zum einen das Schaffen einer neuen Existenz aus einem vorhandenen anderen Bestand oder auch aus einem Nullum. Die Fiktion beschreibt insoweit sowohl das Ergebnis als auch den Vorgang der Entwicklung des Neuen. Ex ante betrachtet, zielt sie auf die Schaffung von etwas zunächst noch Irrealem. Als zweite den Fiktionsbegriff determinierende Komponente kommt die Ausbildung einer neben der tatsächlichen Welt in der menschlichen Vorstellung angesiedelten Existenz hinzu. Auch hier bezeichnet die Fiktion etwas Irreales. Dieser Bezug zur Irrealität folgt jedoch nicht nur aus der Ex-ante-Betrachtung eines dynamischen Vorgangs, sondern besteht auch im Bereich des statischen Ergebnisses dieses Vorganges. Der allgemeine sprachliche Ausdruck des Fingierens impliziert also eine Komponente des Irrealen, Unwahren, Künstlichen bzw. des nur Scheinbaren. Da diese Komponente bei der Fiktionsbildung zweckorientiert eingesetzt wird, ist auch ein Bewußtsein von der Unwirklichkeit des Fingierten als wesensbestimmendes Merkmal des Fiktionsbegriffs im allgemeinen Sprachgebrauch zu betrachten.

II. Die Einordnung der Rechtsfiktion in der Rechtsphilosophie bzw. juristischen Methodenlehre/Gesetzgebungstheorie Die Rechtsfiktion war bislang primär Thema der Rechtsphilosophie. Diese reflektiert - verstanden in einem weiten Sinn - juristische Grundsatzfragen in philosophischer Manier, d.h. in systemtranszendenter Weise und auf der Basis eines universalen Formalobjekts. Gegenstand der Rechtsphilosophie ist das Ganze des Rechts. Die Fragen etwa nach Zweck und Ziel des Rechts oder nach der Funktion der Rechtsnorm sind solche der Rechtsphilosophie. Funktion und Legitimität von Rechtssätzen sind zugleich Thema der Rechtstheorie, welche auf eine formale Betrachtung rechtlicher Zusammenhänge und Strukturen ausgerichtet ist und in dieser Zielsetzung wiederum von der Rechtsphilo-

40 S. dazu auch Baumhoer, Die Fiktion im Straf- und Prozeßrecht, S. 14; Ritter (Hrsg.), aaO. 41 Im Ergebnis wie hier Baumhoer, aaO. 42 Vgl. Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 2. 43 S. zu diesem Wesen rechtsphilosophischen Denkens nur Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 1 ff.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

sophie als umfassendere Disziplin überlagert wird. 44 Fragt man schließlich nach dem Wesen der Rechtsfiktion, so ist innerhalb der Rechtstheorie insbesondere die juristische Methodenlehre bzw. die Gesetzgebungstheorie betroffen. Die Fiktion innerhalb der Einzelwissenschaft 46 des öffentlichen Rechts ist zunächst als Teilaspekt der Fiktion im Recht insgesamt zu begreifen. Soweit Rechtsphilosophie bzw. juristische Methodenlehre/Gesetzgebungstheorie das Wesen der Rechtsfiktion beschreiben, sind diese Ansätze grundsätzlich auch auf die Fiktion im öffentlichen Recht übertragbar. Ausgehend von einer rechtsphilosophischen bzw. methodologischen Eingrenzung des Rechtsinstituts der Fiktion ist weitergehend freilich zu fragen, welcher Stellenwert ihr gerade im Prozeß der Rechtsfindung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zukommt. In der deutschen Rechtsphilosophie bzw. juristischen Methodenlehre/ 48 49 Gesetzgebungstheorie kehren seit dem letzten Jahrhundert die prinzipiellen 44

Kaufmann, aaO., S. 1 (12 f.); ders., Ober Gerechtigkeit, S. 1. Die Rechtstheorie ist als Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft auf eine logische Durchdringung und Strukturierung des Rechts ausgerichtet. Zur Findung des Substrats ihres methodischen Vorgehens bedarf die Rechtstheorie jedoch der Rechtsphilosophie (s. dazu Zacher, in: Jahr/Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Beiträge zur Grundlagendiskussion, S. 224 ff, 245 f.), welche ihrerseits ohne Methodik nicht auskommen kann. Rechtsphilosophie wie Rechtstheorie zielen letztlich auf das "richtige Recht" ab (Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 14). 45 Vgl. zur Einordnung der juristischen Methodenlehre als Problembereich der Rechtstheorie Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 12. - Die Methodenlehre betrifft das Verfahren der Gewinnung konkreter Rechtsanwendungsentscheidungen aus dem Gesetz, die Gesetzgebungstheorie die Methode, mit der man zu richtigen Gesetzen kommt. Vgl. dazu nur Kaufmann, aaO., S. 30 (133 f.); eingehend zur Thematik einer Gesetzgebungswissenschaft Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 22 ff. m.w.N. Methodenlehre und Gesetzgebungstheorie treffen sich in der Beurteilung der fertigen Norm, die sie freilich von unterschiedlichen Standpunkten aus vornehmen. 46 Vgl. zur Terminologie Kaufmann, aaO., S. 4. 47 Diese weitergehende Fragestellung ist eine rechtsdogmatische. Sie ist aber wiederum zu unterscheiden von der Funktion der Rechtsfiktion als Mittel der Rechtsdogmatik - s. dazu unten Teil 1 C. IV.; D. IV.; Teil 5. 48 Zur Herkunft der Rechtsfiktionen aus dem Sakralwesen der griechischen und insbes. römischen Kultur - über die pontificische Tradition (Fiktion der Opfertiere), die Fiktion der Auguren (Anlegen eines künstlichen ager Romanus) und der Fetialen - s. insbes. Demelius, Die Rechtsfiktion, S. 1 ff, 18 ff. sowie Bülow, AcP 62 (1879), 1 (3);

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

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Ansätze zur Einordnung der Rechtsfiktion kontinuierlich wieder. Im Vordergrund steht zunächst die Gesetzesfiktion. Schwerpunkte werden zum einen bei der formalen Verweisungs- oder auch Definitionsfunktion der Fiktion, zum anderen - in materieller Hinsicht - bei deren etwaiger Wahrheitswidrigkeit gebildet. Dieser Schwerpunktbildung korrespondiert sowohl die Bestimmung der rechtslogischen Struktur der Fiktion als auch die Frage nach der Berechtigung des Einsatzes der Fiktion im Recht, wobei beide Gesichtspunkte z.T. ineinander übergehen.50 Die Fiktionen werden schließlich nach ihren möglichen Zwecken eingeteilt. Die formale Verweisungsfunktion der Rechtsfiktion stellt bereits das Rechtslexikon von Weiske heraus. Das Wesen derfictio iuris bestehe darin, M daß nach gesetzlicher Vorschrift unter gewissen Umständen eine Thatsache, die in Wirklichkeit nicht eingetreten war, für eingetreten angenommen werden soll, damit auf den Fall, in welchem die Fiction stattfindet, diejenigen rechtlichen Folgen in Anwendung kommen, welche die Gesetze ursprünglich und eigentlich nur in dem Falle eintreten lassen, da dasfingierte Ereignis wirklich stattgefunden hatte", d.h. "ficito idem operatur in casufictio, quod Veritas in casu vero"." Die Fiktion diene dazu, vorhandene rechtliche Grundsätze auf neue Fälle auszudehnen. Sie sei nichts anderes als eine Weise, in welcher eine gesetzliche Bestimmung getroffen werde. Ganz entsprechend beurteilt Bülow 3 die gesetzliche Fiktion dahingehend, daß der Richter durch die gesetzliche Fiktion angewiesen werde, etwas, was nicht geschehen sei, als geschehen anzunehmen; es werde ihm befohlen, etwas, was nicht existiere, als existent zu behandeln. Auch Bülow sieht den maßgeblichen Zweck der gesetzlichen Fikzur Geschichte der Rechtsfiktion vgl. weiter Wieacker, Zeitschr. f. d. gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), 176 (177 f.); Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 21, sowie Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 18 ff.; Meurer, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 281 (283) m.w.N.; speziell zur Entwicklung der fictio iuris im römischen Recht s. etwa Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 72 ff.; Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 19 f.; zum kanonischen Recht vgl. Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 18, Fn. 52, 53. 49 Zur historischen Determination des Rechts als Rechtfertigung einer Begriffsbestimmung der Rechtsfiktion ausgehend von deren "historischem Werdegang" vgl. Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 17 f. 30 Zur Frage der Berechtigung des Einsatzes der Fiktion im Recht s. vorliegend v.a. Teil 3 und 4. 31 Weiske, Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, Bd. 4,1843, S. 276. 32 Weiske, aaO.,S. 277. 33 Bülow, AcP 62 (1879), 1 ff. (3).

4 Jachmann

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

tion darin, "durch eine kurze Verweisung die mit einem Thatbestande verbundenen Rechtswirkungen auch auf einen anderen Thatbestand zu erstrekken", ohne daß es nötig wäre, "die Masse der für den ersteren erlassenen und ausgebildeten Vorschriften für den letzteren zu wiederholen."54 Diese gesetzgeberische Fiktion dürfe jedoch nicht in eine wissenschaftliche umgesetzt werden.59 Auf dem Gebiet der Wissenserkenntnis sei kein Raum für Fiktionen, da es sich hierbei um eine Negationrichtiger Erkenntnis handle, um die offene Verneinung der Wahrheit und der Wissenschaft. Weiter greift etwa auch Bierling" den Gedanken der Ausdehnung der Norm auf und versteht die Rechtsfiktionen als eigentümliche Abart der verweisenden Rechtssätze. Die Fiktion sei ein logisches Hilfsmittel der Verweisung. In materieller Hinsicht weist auch Bierling auf die Realitätsabweichung der Fiktion hin. Sie beruhe auf dem Bewußtsein der Nichtübereinstimmung mit der Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Weiske, Bülow und Bierling gehen zwar von einer inhaltlichen Realitätsabweichung der Fiktion aus, die sie jedoch angesichts deren - quasi vorrangiger - formaler Zwecksetzung nicht beanstanden. Demgegenüber stellt Demelius 8 die logische Struktur der Fiktion als - bloß formale - Gleichsetzung von Vorhandenem und nicht Vorhandenem heraus. Durch die Rechtsfiktion werde eine vorhandene Tatsache einer nicht vorhandenen Nzu dem Behufe" gleichgesetzt, "damit ein Rechtssatz oder Rechtsbegriff auf das vorhandene tatsächliche Verhältnis übertragen werde, letzteres dem ursprünglich vom Rechtssatze oder Rechtsbegriffe beherrschten Verhältnisse juristisch gleich gelte". Es handle sich dabei um eine bloße Form des Ausdrucks.59 Mit dem Mittel der Fiktion solle nichts erdichtet60, sondern einer juristischen Handlung diejenige Rechtswirkung beigelegt werden, welche nach dem bestehenden Recht mit einer anderen Handlung verknüpft sein würde. Diese Sichtweise vertieft Bernhöft \ Er definiert in schematisierender Weise die Rechtsfiktion als "Rechtssatz, durch den an einen bestimmten Tatbestand (Fiktionsbasis) dieselben Rechtsfolgen geknüpft werden, die ein anderer Tatbestand (fingierter 54

Bülow, aaO., 4 f. Bülow, aaO., 9. 36 Bülow, aaO., 6. 37 Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1894, S. 101. 38 Demelius, Die Rechtsfiktion, 1858, S. 43. 39 Demelius, aaO., S. 84 f. 60 Demelius, aaO., S. 39. 61 Bernhöft, Zur Lehre von den Fiktionen, in: FS für Bekker, 1907/1970, S. 240 (241,246). 33

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

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Tatbestand) hat". Das Gesetz ordne dabei nicht an, daß der fingierte Tatbestand für Wahrheit gehalten werden solle, sondern daß bestimmte Rechtsfolgen eintreten sollen.62 Der Inhalt des fingierten Tatbestandes könne sowohl eine natürliche wie eine juristische Tatsache sein. Gegenstand der Gleichsetzung sind dabei allgemein zwei ungleiche Tatbestände. In der Nachfolge Bernhöfts stehen weite Bereiche der Diskussion der Rechtsfiktion bis in die Gegenwart. So versteht beispielsweise Somlo a die Fiktion als Gleichstellung eines nicht wirklichen Sachverhalts mit einem wirklichen. Fischer* begreift die Fiktion als Gleichsetzung von Ungleichem , ihre logische Struktur als die einer Proportion.66 Es gehe um die gleichen Wirkungen verschiedener Ursachen. Das gesetzte Recht verwende die Fiktion als Breviloquenz; sie biete die kürzeste Ausdrucksweise, um an verschiedene Tatbestände die gleichen Rechtsfolgen zu knüpfen. Lehmann nennt Fiktionen ein gesetzestechnisches Hilfsmittel, um die Wirkungen eines Tatbestandes a in einfacher, abgekürzter Weise auf einen Tatbestand b zu übertragen. Als Mittel vereinfachender Gesetzgebungstechnik versteht weiter Rosenberg 9 die Fiktion. Er definiert sie als Rechtssatz, der die für den Tatbestand a festgesetzte Rechtsfolge dadurch auf den Tatbestand b überträgt, daß er den Tatbestand b dem Tatbestand a gleichsetzt, etwa in der Form, der Tatbestand b gelte als Tatbestand a. Mallachow begreift die Fiktion als Hdie bewußte Gleichstellung zweier ungleicher Umstände (bzw. Tatbestände) zu dem Zweck, an den einen Tatbestand - die sogenannte Fiktionsbasis - Wirkungen des zweiten - des fingierten Umstandes - zu knüpfen.1* Auch nach Weigelin soll eine gesetzgeberische Fiktion dann gegeben sein, wenn das Gesetz für einen gewissen Tatbestand vorschreibe, daß dieselbe Rechtsfolge eintreten solle, wie wenn ein anderer Tatbestand vorläge. Ähnlich definiert Munzer - ganz in der Tradition der genannten Vertreter eines Verständnisses der Gesetzesfiktion als Verweisung - die Gesetzesfiktionen ausgehend von ihrer den logischen Fiktionen der Wissenschaft parallelen 62

Bemhöft, aaO., S. 245; ebenso Bülow, AcP 62 (1879), 1 ff. (9). Somlo, Juristische Grundlehre, 2. Aufl. (1927), S. 524 ff./l. Aufl. 1917. 64 Fischer, AcP 117(1918), 143(145 f.). 63 Fischer, aaO., 144, 151,153. 66 Fischer, aaO., 144,151. 67 Fischer, aaO., 145. 68 Lehmann, Allgemeiner Teil des BGB, 14. Aufl. 1963, S. 34/1. Aufl. 1922, S. 28. 69 Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 213 f. (1. Aufl. 1923, S. 241 f.). 70 Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 18 f. 71 Weigelin, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 18 (1924/1925), 23. 72 Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, 1927, S. 9. 63



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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Struktur als verweisende Rechtssätze, die durch die im Bewußtsein ihrer Umöglichkeit gemachte Annahme, der gegebene Tatbestand sei einem anderen ungleichen Tatbestand gleich, die Rechtsfolgen an den gegebenen Tatbestand knüpfen, die der angenommene Tatbestand schon hat. Sax* nennt die Rechtsfiktion erneut eine abbrevierende Ausdrucksweise des Gesetzgebers, mit der er die für andere Sachverhalte getroffene gesetzliche Regelung auf einen Sachverhalt ausdehne, den sie aus Gründen der Begriffskontradiktion sonst nicht erfassen könnte; dabei wolle und könne aber der Gesetzgeber an der seinsmäßigen Struktur der rechtlich so erfaßten Sachverhalte nichts ändern. Auch nach Bund liegt eine Fiktion in einem technischen Sinne vor, wenn an eine Fiktionsbasis Rechtsfolgen geknüpft seien, die ein fingierter Tatbestand auslöse. Ganz entsprechend nennt Karpen die Fiktion einen schwer erkennbaren Sonderfall der Verweisung in der Rechtsfolge. In dieser Tradition steht auch Röhl , wenn er bemerkt, daß Fiktionen "nichts Geheimnisvolles" haben, nicht die Wirklichkeit verdrehen, sondern nur eine besondere sprachliche Form von Verweisungen sind. Er weist ergänzend auf die Möglichkeit hin, mittels der Fiktion Legaldefinitionen zu formulieren. Die logische Struktur der Fiktion arbeitet insbesondere Lorenz 7 heraus. Er sieht das Wesen der gesetzlichen Fiktion "in der gewollten Gleichsetzung (Ungleichsetzung) eines als ungleich (gleich) Gewußten." Der Gesetzgeber gestalte sie als verdeckte Verweisung oder Einschränkung aus. Statt anzuordnen: Die Rechtsfolgen von T 1 gelten auch für T 2 , fingiere das Gesetz, T 2 sei ein Fall von T 1 . Da das Gesetz keine Aussagen über Tatsachen, sondern Geltungsanordnungen enthalte, behaupte der Gesetzgeber nicht, T 2 sei in der Tat gleich T 1 oder ein Fall von T 1 , sondern er gebe die Anweisung, daß für T 2 dieselben Rechtsfolgen gelten wie für T 1 . Von der Fiktion als Ausdrucksmittel des Gesetzes unterscheidet Larenz die Verwendung der Fiktion in der Wissenschaft 8 sowie als Mittel der Begründung eines Gerichtsurteils. Im Begrün73

Sax, in: FS für Nottarp, 1961, S. 133 ff. (147), im Anschluß an Kelsen, Ann. d. Philos., Bd. 1 (1919), 630 ff. (640). 74 Bund, in: FS für Lübtow, 1970, S. 353. Freilich kann nach Bund (S. 371) die Funktion der Fiktion "pro non scripto habetur" in bestimmten Fällen als Auslegung im weitesten Sinne beschrieben werden. 73 Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 25; ders., in: Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 221 (226). 76 Röhl, Allg. Rechtslehre, 1995, S. 45. 77 Larenz, Methodenlehre, S. 262; ebenso Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 142. 78 Larenz, aaO., S. 262.

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

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dungszusammenhang eines Urteils bedeute die Fiktion, daß ein Tatbestandselement, das der Richter brauche, um zu dem von ihm alsrichtigangesehenen Schluß zu kommen, als vorhanden hingestellt werde, obwohl der Richter wisse oder sich zumindest klar darüber sein müsse, daß dem in Wahrheit nicht so sei. Hier setze die Verwendung der Fiktion die Urteilsbegründung zu einer Scheinbegründung herab. Pfeifer ° analysiert die rechtslogische Struktur der Rechtsfiktion dahin, daß sie zum einen durch ein Element der Verschiedenheit (bzw. bei einschränkenden Fiktionen der Gleichheit) und zum anderen durch das davon widersprüchliche Element der Zuordnung (bzw. der Ausgrenzung) bestimmt sei. Dies deckt sich im Ergebnis mit dem insbesondere in der Fiktionsdefinition von Larenz enthaltenen Kriterium der Gleichsetzung/Ungleichsetzung von Ungleichem/Gleichem. Auch Nipperdey 1 versteht Fiktionen als Hilfsmittel juristischer Technik, die einen anderen Rechtssatz bzw. einen Komplex von Rechtssätzen dadurch für einen neuen Tatbestand als maßgebend erklärten, daß sie diesen Tatbestand seiner wahren Natur entgegen unwiderleglich so umdenken, daß er unter jenen Rechtssatz passe. Ansatzpunkt der Gesetzesausdehnung per Fiktion ist hier aber nicht die Norm, sondern der zu subsumierende Tatbestand. In der neueren Literatur versteht weiter etwa Baumann die Fiktion als eine der Wirklichkeit zuwiderlaufende Aussage, die aber keine Wahrheitsverdrehung suche, sondern verweise. Schneider nennt die gesetzliche Fiktion Heine Unterstellung, bei der etwas angenommen wird, was rechtlich sonst anders liegt oder anders zu behandeln (zu bewerten) wäre"83; sie laufe auf eine Gleichstellung von Unterschiedlichem hinaus. Eingehend mit der Wirkungsweise der Fiktion bei der Rechtsanwendung insbesondere als Mittel richterlicher Begründungstechnik beschäftigt sich Meurer, und zwar im Bereich der strafrichterlichen Entscheidungsfindung. 79

S. dazu eingehend Larenz, Methodenlehre, 2. Aufl. 1969, S. 205 f. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, 1980, S. 54. 81 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1959, S. 198. 82 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1989, § 4 1 d, S. 85. 83 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 369. 84 Schneider, aaO., Rz. 376. 83 Vgl. Meurer, Fiktion und Strafurteil, 1973, S. 3 f., 27 f. 80

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Er drückt die Rechtsfiktion allgemein als Gleichsetzung von Ungleichem und/oder Ungleichsetzung von Gleichem zur Erreichung eines Zweckes aus * Funktionell unterscheidet er wie Larenz zwischen Gesetzesfiktionen und Begründungsflktionen.,7 Erstere definiert er - wie etwa Munzer* - als verweisende Rechtssätze, welche durch die unmögliche Annahme, der gegebene Tatbestand sei einem anderen, ungleichen Tatbestand gleich, die Rechtsfolge an den gegebenen Tatbestand knüpften, die der angenommene schon habe.89 Die Rechtstheorie bilde - was dem Gesetz als System von Geboten und Verboten versagt sei - erkenntnistheoretische Fiktionen. Diese wiesen als NechteN Fiktionen die wesentlichen zur Begriffsbestimmung Vaihingen gehörenden Merkmale auf, nämlich inneren Widerspruch, logische Unmöglichkeit und Gewaltsamkeit der Annahme sowie deren willkürliche Abweichung von der Wirklichkeit.90 Begründungsfiktionen seien verweisende normative Individualsätze, die durch die unmögliche Annahme, der gegebene Sachverhalt sei einem anderen ungleichen Sachverhalt gleich, die Rechtsfolgen an den gegebenen Sachverhalt knüpften, die der angenommene Sachverhalt schon habe. Neben der Annahme eines bloß formalen Verweisungszwecks der Rechtsfiktion wird in der Literatur - wenn auch in unterschiedlichem Maße - die Frage nach einer mit der Fiktion verbundenen inhaltlichen Realitätsabweichung ins Blickfeld gerückt. Dies führt zur Herausbildung eines speziellen juristischen Fiktionsbegriffs oder auch zur Verneinung der Fiktionseigenschaft (bestimmter) juristischer Fiktionen. Dabei werden zugleich verschiedene Fiktionszwecke herausgearbeitet. Nicht ein Verständnis der juristischen Fiktion als technische Methode der Ausgestaltung eines Rechtssatzes zum Zwecke der Verweisung, sondern das Verhältnis der juristischen Fiktion zur Realität bestimmt v.a. Vaihingers Fiktionstheorie. Vaihinger sieht in der fictio iuris als Anwendungsfall seines erkenntnistheoretischen Fiktionsbegriffs eine bewußte willkürliche Abweichung von der Wirklichkeit. Diese Einordnung ist Bestandteil eines philoso86

Meurer, aaO., S. 24. Meurer, aaO., S. 57, 73 f., 80. 88 Vgl. Fn. 72. 89 Meurer, aaO., S. 74. 90 Meurer, aaO., S. 25. 91 Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, 1922 (1. Aufl. 1911), S. 18 ff, 46 ff, 172 ff, 197. 92 Zu einem Oberblick über Inhalt und philosophische Herkunft von Vaihingers Philosophie des Als Ob vgl. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im 87

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

55

phischen Systems gesamtwissenschaftlicher Fiktionen, das auf der Grundannahme basiert, daß alles menschliche Denken letztlich auf Fiktionen hinauslaufe. Vaihinger versteht die Fiktion als vorübergehenden Kunstgriff zur Erkenntnis der Wirklichkeit , gekennzeichnet durch ein Bewußtsein der Fiktizität sowie durch Zweckmäßigkeit. Sie sei ein gebräuchliches Hilfsmittel in der Wissenschaft, bei dem mit bewußt falschen Vorstellungen das Richtige erkannt werde. Es handle sich um eine Vorstellung, die nicht wahr sei, aber dennoch zweckmäßig sein könne. Die grundsätzlich im Interesse der Erzielung richtiger Denkergebnisse erforderliche nachträgliche Korrektur der Fiktion hält Vaihinger bei den juristischen Fiktionen für entbehrlich, da es hier nicht um Naturgesetzlichkeiten gehe, sondern um die Subsumtion unter ein willkürlich von Menschen gegebenes Gesetz. Juristische Fiktionen seien als Semifiktionen nicht in sich widerspruchsvoll, sondern widersprächen nur der gegebenen Wirklichkeit. Im Wege der juristischen Fiktion werde ein Fall unter ein für ihn nicht bestimmtes Vorstellungsbild subsumiert, unter einen allgemeinen Rechtsbegriff, dem er eigentlich nicht angehöre, es werde etwas Nichtgeschehenes als geschehen angesehen oder umgekehrt oder es werde ein Fall im Widerspruch zur Wirklichkeit in ein analoges Verhältnis gebracht.97 Vaihingers Fiktionalismus basiert auf einer Statuierung eines Wirklichkeitsbzw. Wahrheitsgehalts der Rechtssätze; er schreibt juristischen Fiktionen einen positiven Erkenntniswert zu. Dem erkenntnistheoretischen Fiktionsbegriff Vaihingers, basierend auf der Annahme eines Wahrheitsanspruchs des Gesetzes, ist insbesondere Kelsen mit der Begründung entgegengetreten, daß Gesetze keine Erkenntnismittel seien, sondern soziale Regelungen, und daher keine erkenntnistheoretischen Fiktio9β

nen enthalten könnten. Kelsen unterscheidet erkenntnistheoretische Fiktionen, die nur im Bereich von Rechtsdogmatik und Rechtstheorie (wissenschaft-

Beamtenrecht, S. 23 ff; vgl. zum Fiktionalismus auch Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 18 sowie die Nachweise bei Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 3 Fn. 9 sowie S. 23 Fn. 90; Nass, Person, Persönlichkeit und juristische Person, S. 49 f. 93 Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, S. 17 ff, 171 ff. 94 Vaihinger, aaO., S. 173 ff. 93 Vaihinger, aaO., S. 197. 96 Vaihinger, aaO., S. 24,46 ff, 123 ff 97 Vgl. Vaihinger, aaO., S. 46 ff, 48. 98 Kelsen, Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (631 ff; 638 ff; 652 ff); vgl. dazu auch Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 27,128 ff.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

liehe, theoretische, dogmatische Fiktionen)" zur Anwendung kämen, von sog. 100 praktischen Fiktionen. Letztere dienten zum einen dem Gesetzgeber dazu, eine bestimmte Rechtsfolge - ohne Widerspruch zur Wirklichkeit - auf einen 101

anderen Fall auszudehnen , ohne daß es sich dabei eigentlich um eine Fiktion handle;102 ein normativer Begriff könne nie mit der Wirklichkeit in Widerspruch stehen.103 Von den praktischen Fiktionen des Gesetzgebers unterscheidet Kelsen die der Rechtsanwendung. Der Rechtsanwender schaffe mittels der praktischen Fiktion einen unaufhebbaren Widerspruch zur Rechtsordnung104, indem er eine fiktive Rechtsbehauptung anwende.105 Gegenstand auch dieser Fiktionsbildung sei nicht die Wirklichkeit, vielmehr werde eine gewünschte, von der Rechtsordnung abweichende, Rechtsfolge im Rahmen der Anwendung einer Rechtsnorm auf einen bestimmten Tatbestand erzielt. Wegbereiter Kelsens waren insbesondere Holtzendorjf, Hölder und Jellinek. Holtzendorjf 01 nennt Fiktionen solche Vorstellungen oder Begriffe, mit welchen man dergestalt operiere, als wenn ihnen etwas Wirkliches entspräche. Er differenziert zwischen Fiktionen mit bloß historischer Funktion, die alleine die leichtere Anknüpfung eines neuen Rechtssatzes an das bisherige Recht bezweckten, und solchen Fiktionen, die der Erleichterung des juristischen Denkens dienten. Letzteren komme zwar kein selbständiger juristischer Wert zu - weshalb die Bezeichnung als "Dogmatische Fiktionen8 verfehlt sei -, sie könnten jedoch ein wichtiges Hilfsmittel sein für die wissenschaftliche Darstellung schon gewonnener Wahrheiten sowie für die Entdeckung neuer. Holtzendorjf weist dabei darauf hin, daß die Fiktion nicht die Negation, die Ablehnung der Wahrheit, sondern nur ein bewußtes Abstrahieren davon fordere, d.h. ein zeitweiliges Ignorieren derselben um eines bestimmten Zweckes willen. Hölder geht davon aus, daß H im Begriff der Fiction" der "Wider99

Kelsen, aaO., 633 ff. Als wissenschaftliche Fiktionen, d.h. Hilfsbegriffe zur Erkenntnis des Rechts, bezeichnet Kelsen etwa den Begriff des Rechtssubjekts oder den des subjektiven Rechts. 100 Kelsen, aaO., 638 ff 101 Kelsen, aaO., 638 ff, 641. 102 Kelsen, aaO., 642. 103 Kelsen, aaO., 656. 104 Kelsen, aaO., 648 f. 103 Kelsen, aaO., 647. 106 Kelsen, aaO., 646. 107 Holtzendorff, Rechtslexikon, Bd. 1,1880, S. 829. 108 Hölder, Die Einheit der Correalobligation und die Bedeutung juristischer Fictionen, AcP 69 (1886), 203 (223).

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

57

spruch gegen die Realität" liege. Maßgeblich sei nicht die "ficticische Fassung " des betreffenden Rechtssatzes. Keine wirklichen Fiktionen seien die sog. historischen Fiktionen, bei denen nur ein Widerspruch gegen das bisherige durch die betreffende Neuerung abgeänderte Recht bestehe; dieser Widerspruch trete durch dieficticische Fassung der Norm lediglich weniger 109

schroff in Erscheinung. Es handle sich um eine bloße Verweisung. Eine Fiktion von sachlicher Bedeutung könne im Recht nur diejenige sein, welche durch den Inhalt einer Norm statuiert werde - ob sie nun durch deren Fassung zur Erscheinung gelange oder nicht -, indem sie bewußt etwas nicht Vorhandenes als vorhanden behandelt wissen wolle. Jellmek m trägt insoweit zur Erhellung des Instituts der Rechtsfiktion bei, als er zwischen der Welt des realen Geschehens, d.h. der Naturvorgänge, und der juristischen Welt als einer reinen Gedankenwelt differenziert, die sich zu ersterer verhalte wie die Welt der ästhetischen Empfindungen zu der der theoretischen Erkennntis. Sie sei aber keine Welt der Fiktionen, sondern eine solche der Abstraktionen. Die Abstraktion beruhe auf dem Geschehenen, die Fiktion dagegen auf dem Erfundenen. Somlo n begründet die Loslösung der Gesetzesfiktion von der natürlichen Realität im Sinne Kelsens damit, daß das Anwendungsgebiet der Fiktionen Behauptungs- und Aussagesätze seien. Rechtssätze seien jedoch Bestimmungssätze, welche - nicht auf Seinsbetrachtungen gerichtet - ihrer logischen Bedeutung nach keine Möglichkeit für die Anwendung von Fiktionen böten. Das Fiktionsähnliche könne also in der Jurisprudenz nur dem Ausdruck nach, nicht dem Wesen nach Platz haben. Im Anschluß an Bülow folgert Somlo hieraus, daß sich die juristische Fiktion nur dem Ausdruck, der Form nach, nicht aber dem Wesen nach von einer Ausnahme oder Verweisung unterscheide. Juristische Fiktionen seien Metaphern, Redewendungen, terminologische Bequemlichkeiten, insgesamt ein durchaus einwandfreies Mittel der Norminhaltsformulierung. In der Tradition Kelsens steht auch Fischer wenn er annimmt, daß die Fiktion als Methode der Rechtswissenschaft der Beantwortung der Frage nach 109 110 111 112 113

Hölder, aaO., 222. Hölder, aaO., 224. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1905, S. 17. Somlo, Juristische Grundlehre, 2. Aufl. (1927), S. 524 ff. Fischer, AcP 117 (1918), 143 (145 f.).

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

58

der juristischen Realität diene.114 Im Bereich des gesetzten Rechts wie auch in der Rechtswissenschaft bewirke die Fiktion eine nur beschränkte Gleichset113

zung.

Auch Weigelin nimmt an, daß in der Rechtswissenschaft nur für Ndie in der Konstruktion der rechtlichen Erscheinungen und deren Systematik steckenden Fiktionen" Raum sei. Wie Kelsen geht weiter etwa Willrodt 17 von einer Relativ-Wirklichkeit des Rechts aus. Er beurteilt jedoch Gesetzesbestimmungen, die fiktive Formulierungen unter Verwendung der Ausdrucksweise "als ob" enthalten, um den Anwendungsbereich einer Rechtsregel auszudehnen, materiell nicht als Fiktionen. In der Nachfolge derer, die einen Verweisungszweck der gesetzlichen Fiktion herausgeaibeitet haben und in Abkehr von Vaihingers erkenntnistheoretischem Fiktionsbegriff einen eigenständigen juristischen suchen, steht insbesondere Esser U9 n° Esser sieht das Wesen der Rechtsfiktion nicht in einem Widerspruch zur Realität. Es gehe nicht um die Schaffung einer besonderen "juristischen Wahrheit", sondern um die Gleichbewertung von Sachverhalten unter juristischen Gesichtspunkten. Esser versteht die Rechtsfiktion im Gesetz als normative Gleichsetzung bzw. rechtliche Gleichbewertung verschiedener Tatbestände in einer besonderen Form der Verweisung. Die Rechtsfiktion unterscheide sich nicht durch die Besonderheiten ihres Inhalts, sondern durch die ihrer Form von anderen Rechtssätzen.121 Es gehe nicht um tatsächliche Identifikation von Verschiedenem; bei der Rechtsfiktion handle es sich vielmehr um ein technisches Hilfsmittel zur rein normativen, zur rechtlichen 114

Fischer, aaO., 146 f. Fischer, aaO., 154. 116 Weigelin, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 18 (1924/1925), 25; als Beispiele werden hier Rechtssubjekt, subjektives Recht, Entstehung, Veränderung und Untergang von Rechten genannt. 117 Willrodt, Semifiktionen und Vollfiktionen in Vaihingers Philosophie des Als Ob, 1934, S. 88 f. 118 S. oben Weiske, Demelius, Bülow, Hölder, Bierimg, Bernhöft, Fischer, Lehmann, Rosenberg, Weigelin, Munzer. 119 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 1969 (1. Aufl. 1940), S. 26 ff. 120 Vgl. weiter insbes. Kelsen, Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (646); Meurer, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 281 (284). 121 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 1969 (1. Aufl. 1940), S. 25 f.; 29 ff. 115

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

59

Gleichbewertung zweier verschiedener Tatbestände.122 Esser trennt Vaihingers erkenntnistheoretischen Fiktionsbegriff vom juristischen Fiktionsbegriff. 123 Was dem Gesetz als einem System von Geboten versagt sei, das vermöge die auf Erkenntnis (wenn auch nur einer gesollten Wirklichkeit) gerichtete Rechtstheorie: sie bilde "echte1*, erkenntnistheoretische Fiktionen.124 Diese Denkbehelfe hätten auch im geschriebenen Recht ihren Niederschlag gefunden. Nicht nur Kelsens Ansatz, sondern auch Vaihingers Fiktionalismus wird in der Literatur aufgegriffen. So betrachtet etwa Mallachow ganz im Sinne Vaihingers jede Begriffsbildung als fiktiv. 125 Die Fiktion im Allgemeinen sei "ein bewußt falsches Mittel zumrichtigenZweck".126 In erneut materieller Sichtweise erblickt auch Schönfeld 27 das Wesen jeder juristischen Fiktion darin, "daß Recht und Leben auseinandergehen". Nicht die Form, sondern der Gehalt sei es, dessen Wirklichkeit bezweifelt werde, wenn von einer Rechtsgestaltung gesagt werde, sie sei fingiert. Auch Baumhoer bezeichnet - wieder in Anlehnung an Vaihinger - Fiktionen als "bewußte und zweckmäßige Abweichungen von der Wirklichkeit, die nach Erreichung des Zwecks wieder ausfallen". Grundsätzlich enthielten Fiktionen Substitutionen im weitesten Sinne, d.h. Gleichsetzungen, Ersetzungen von Wirklichem durch Unwirkliches. Im "fiktiven Urteil" als "fiktive Tätigkeit des Denkens"30 stecke die Aufforderung zum Vollzug einer vergleichenden Apperzeption zweier Tatbestände A und B, trotz Bewußtseins der theoretischen Unmöglichkeit, zur Erstreckung (Ausdehnung) der Konsequenzen des Tatbestandes Β auf den Fall A. Auch hier klingt freilich die Verweisungfunktion der Fiktion an.

122

Esser, aaO., S. 18 ff, 21,25,29, 32; zu Esser s. auch unten Teil 3 Α. I. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 18 ff. 124 Esser, aaO., S. 200. 123 Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 18 f. 126 Mallachow, aaO.,S. 33. 127 Schönfeld, Rechtsperson und Rechtsgut im Lichte des Reichsgerichts, in: FG RG Π, 1929, S. 191 (252). 128 Baumhoer, Die Fiktion im Straf- und Prozeßrecht, 1930, S. 16. 129 Baumhoer, aaO., S. 20. 130 Baumhoer, aaO.,S. 16, 18. 123

60

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Ebenfalls in Verfechtung eines Wahrheitsanspruchs des Rechts weist Brandt 31 darauf hin, daß es - auch in Gesetzen - echte Rechtsfiktionen geben könne, die eine Verdunkelung der Rechtswahrheit seien. Wo es freilich nur darum gehe, "aus abgestorbenen und verdorrten Formen den lebendigen Gehalt in neuer Form hervorzuziehen," beginne das Gebiet der unechten Fiktionen. Neben dem Verhältnis von Rechtsfiktion und natürlicher Realität sowie der Differenzierung zwischen verschiedenen Einsatzbereichen und Zwecken der Fiktion im Recht (Gesetzgebung, Rechtsanwendung, Rechtsdogmatik) wird in der Literatur der materielle Inhalt der Rechtsfiktion v.a. im Hinblick auf ihre etwaige analogische Struktur

132

diskutiert.

V. Jhering etwa sieht in der Fiktion eine eigentümliche Form der analogen Ausdehnung des Gesetzes bzw. eine verdeckte Verweisung, die jedoch nur in einem eingeschränkten Anwendungsraum berechtigter Weise eingesetzt werden könne. Mallachow hebt die "analogischen Rechtsfiktionen" hervor, die er in Ge134

setzesfiktionen und Fiktionen der juristischen Dogmatik unterscheidet. Die Gesetzesfiktionen unterteilt er inhaltlich in die Gruppe der historischen, (Anknüpfung einer neuen Rechtsform an eine alte, bestehende) verweisenden, rückwirkenden und rechtsschöpfenden (fingierte Rechte).139 Fikentscher versteht die Fiktion als Anordnung einer Analogie, wobei unwiderleglich vermutet werde, daß zwei Fälle gleich zu behandeln seien.16 Kauftnann 37 begreift die Rechtsfiktion formal als Gleichsetzung von Ungleichem, die sich materiell in der Orientierung an einem sich als wesentlich erweisenden Gesichtspunkt als Analogie erweise. Maßgeblicher Ansatzpunkt dieser Einordnung ist der innere Grund für die formale Ausgestaltung einer 131

Brandt, Wert und Unwert der Fiktion, DR 1941,1379 (1384). S. zum Verhältnis von Fiktion und Analogie unten Teil 1 Ε. Π. 1. 133 V. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 303, 307. 134 Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 47 ff. 133 Mallachow, aaO. 136 Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 285. 137 Kaufmann, Analogie und MNatur der Sache", 1982, S. 26. 132

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

Gesetzesfiktion als verdeckte Verweisung. Diesen sieht Kaufinann Ähnlichkeit der Tatbestände.

61

in der

Nach Meyers Sichtweise behandeln Fiktionen - ihrem Wesen nach Analogien - tatsächlich Verschiedenes im Bewußtsein der Ähnlichkeit in einer ist

rechtlichen Beziehung gleich. Meyer zeigt - wie schon Kelsen oder Somlo die kategoriale Eigenständigkeit der Rechtsfiktionen gegenüber den erkenntnistheoretischen auf. Erkenntnistheoretische Fiktionen fungierten als Vermittler naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sie seien ohne Vergleichsmaßstab vorgeschrieben durch das gestellte Problem - nicht denkbar und ihre Aussage habe nur Gültigkeit für den speziellen Gesichtspunkt, unter dem sie verglichen. Die Definition, die erkenntnistheoretische Fiktion arbeite mit bewußt falschen Vorstellungen, sei insoweit zutreffend, als ihr sprachliches Bild diesen Eindruck vermittle, nicht jedoch, soweit man ihr eigentliches Wesen be139

rücksichtige. Die erkenntnistheoretische Fiktion decke sich insoweit mit der juristischen, als beiden die Methode des Vergleichens und der Gleichstellung eigen sei.140 Auch Meyer sieht die strukturelle Form der Fiktion darin, daß Verschiedenes gleichgestellt bzw. Gleiches differenziert werde. Während bei der erkenntnistheoretischen Fiktion das Verschiedene sich unter einem bestimmten Gesichtspunkt bis zur Unterschiedslosigkeit annähern lasse, müsse die Rechtfertigung der juristischen Fiktion am Maßstab rechtlicher Vergleichbarkeit beurteilt werden. Der Wirklichkeitsbezug von Rechtsnormen sei nicht ein solcher wie der von Sätzen, die die Wirklichkeit beschrieben und behaupteten, diese sei so oder anders; Fiktionen enthielten demnach auch nicht die Behauptung, die gleichgestellten Sachverhalte seien bei objektiver Wirklichkeitsbetrachtung gleich. Meyer weist daraufhin, daß sich Rechtsfiktionen in einer fundamentalen, nicht abändeibaren Abhängigkeit von sprachlichen Gegebenheiten befänden; sie stellten an den begrifflichen Grenzen die Verbindung des rechtlich Gleichsinnigen her, wo es einen einheitlichen Begriff nicht gebe.14 Meyer sieht eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen dem Verfahren der Fiktionen und dem der Rechtsanwendung; während das analogische Verfahren der Rechtsanwendung jedoch darin bestehe, allgemeine Norm und Lebenssachverhalt in Entsprechung zu bringen, vollziehe sich die 138 139 140 141 142 143

Meyer, Fiktionen im Recht, S. 19 f., 64 ff, im Anschluß an Kaufmann. Meyer, aaO., S. 3 ff. (8 f.). Meyer, aaO., S. 9. Meyer, aaO., S. 15. Meyer, aaO.,S. 25. Meyer, aaO., S. 32.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Analogie der Gesetzesfiktionen innerhalb der allgemeinen Norm. Die Analogie der Gesetzesfiktion bestehe darin, daß verschiedene tatbestandliche Fassungen am Normsinn gemessen würden. Eng mit der Problematik der Realitätsabweichung der Fiktion hängt die Frage zusammen, ob die Rechtsfiktion an eine bestimmte Form gebunden ist. Dies könnte insbesondere deshalb der Fall sein, weil im Bereich des Rechts die Fiktion in Gestalt einer materiellen Realitätsabweichung keinen Raum haben könnte. Von einer ficticischen Fassung der Norm spricht beispielsweise schon Hölder 4\ Auf die besondere Form der Fiktion weist - wie bereits oben dargelegt - insbesondere Esser hin. Kelsen nimmt demgegenüber an, daß die Sprachform des "Als-Ob" bei den Fiktionen des Gesetzgebers nicht wesentlich sei. Hofacker ist der Auffassung, daß juristische Fiktionen in ausgeprochenen Sätzen (nasciturus pro iam nato habetur) auftreten und mehr verhüllt in entsprechenden Anwendungen sowie in Begriffserläuterungen, die verschiedenartige Begriffe nicht unter einen Oberbegriff bringen, sondern gleichsetzen, bzw. in Begriffsverengungen und in allen formalen Rechtsbegriffen. Zu verweisen ist an dieser Stelle beispielsweise auch auf die oben zitierte Auffassung von Schönfeld 49 oder Willrodt 49.

III. Die maßgeblichen Kriterien fur die Einordnung der Rechtsfiktion Sowohl die Wortbedeutung der Fiktion als auch die Analyse der bisherigen Einordnung der Rechtsfiktion in der Rechtsphilosophie bzw. juristischen Methodenlehre zeigen, daß dem Rechtsinstitut der Fiktion - betrachtet man seine formallogische Struktur - ein spezifischer Bezug zum Irrealen wesenseigen ist. Sei es, daß man die Rechtsfiktion als Abweichung von der Wirklichkeit, als Gleichsetzung von Ungleichem oder als Verweisung auf eine andere Existenz versteht, jedenfalls erfolgt die Konstruktion einer Fiktion, verstanden als Vorgang ihrer Bildung, in Anknüpfung an einen vorhandenen Bestand, d.h. an den Gegenstand, welcher durch die Fiktionsbildung letztlich als existent angenommen werden soll, den Fiktionsgegenstand. Die Fiktion zielt ausgehend 144 143 146 147 148 149

Meyer, aaO., S. 64 f., 70 f. S. dazu bereits oben. Kelsen, Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (639). Hofacker, Ann. d. Philos. 4 (1924/25), 475 (477). S. oben Fn. 127. S. oben Fn. 117.

Β. Der grundlegende Ansatz für die Einordnung der Rechtsfiktion

63

von ihm auf die Einbeziehung einer in diesem Bestand nicht existierenden, d.h. irrealen Größe. Diese irreale Größe - die Fiktionsbasis - wird so, betrachtet man nunmehr das Ergebnis der Fiktionsbildung, zum Ausgangspunkt der mit der Fiktion ausgedrückten Regelungsaussage. Die in der Fiktion angeordnete Verknüpfung von Fiktionsgegenstand und Fiktionsbasis ist eine solche zwischen zwei verschiedenen Größen, von denen die eine - die Fiktionsbasis im Bestand der anderen - demfingierten Gegenstand - nicht existent ist. Diese Bezugnahme auf etwas nicht Existentes, d.h. Irreales, ist als konstitutives Element der Bildung einer Rechtsfiktion festzuhalten. Sie schlägt eine Brücke von einem Bereich des Realen bzw. Existenten - dem der fingierte Gegenstand angehört - zu einem Bereich des in Relation hierzu Irrealen bzw. nicht Exi190

stenten - dessen Bestandteil die Fiktionsbasis ist.

Die genannte Bezugnahme von einem vorhandenen Bestand auf eine gegenüber diesem irreale Größe basiert auf der in der Philosophie bzw. Logik herausgearbeiteten Struktur der Fiktion als wissenschaftlichem Satz bzw. logischem Hilfsmittel. Fiktion ist die Annahme eines Satzes im Bewußtsein seiner Unmöglichkeit; sie widerspricht anderen logischen Sätzen oder anderen bestimmten Erkenntnissen.151 Kommt diese logische Denkweise der Fiktion nunmehr im Bereich des Rechts zur Anwendung, so bestimmt dieser Einsatzbereich die das Wesen der Fiktion ausmachende Komponente der Unmöglichkeit bzw. des Widerspruchs. Das sich hieraus ergebende Institut der Rechtsfiktion gilt es nunmehr im einzelnen zu definieren bzw. einzuordnen. Die dabei maßgeblichen Beurteilungskriterien ergeben sich aus obiger Durchsicht der bisherigen Ansätze in Rechtsphilosophie bzw. juristischer Methodenlehre zur Einordnung des Rechtsinstituts der Fiktion.192 Die Rechtsfiktion ist in Beziehung zu setzen zu einer Realität. Diese Beziehung ist zu spezifizieren unter Berücksichtigung des Merkmals der Gleichheit/Ungleichheit. Insbesondere ist das Verhältnis der ge150

Das nach dieser Erkenntnis mit der Fiktion in Beziehung zu bringende Reale ist zu verstehen als eine Existenz, nicht aber im Sinne Kants (Kritik der reinen Vernunft, A 598, Β 626) als etwas zu einer res, d.h. zum Sachgehalt eines Dinges Gehörendes. Zu Kants Verständnis des Wortes "real" s. Heidegger, in: FS für Wolf, S. 217 (221 f.). 131 Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 6. 132 Zur bloß funktionellen Verschiedenheit von logischer Fiktion und Gesetzesfiktion vgl. Munzer, aaO., S. 8.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

nannten Wirklichkeit sowie des Gegenstandes der Fiktion zu den Bereichen des Tatsächlichen oder des Normativen zu klären. Die möglichen Einsatzbereiche und Zwecke der Fiktion im Recht sind aufzuzeigen. Dabei ist insbesondere der Gesichtspunkt der Ausdehnung einer Rechtsfolgenbestimmung zu berücksichtigen. Es ist zu differenzieren zwischen dem formalen Erscheinungsbild der Rechtsfiktion d.h. ihrer methodologischen Struktur sowie ggf. einer rein formalen Zwecksetzung - und dem sachlichen Inhalt bzw. materiellen Hintergrund der jeweiligen Fiktion. Es ist zu prüfen, ob die Rechtsfiktion eine bestimmte Art der Formulierung voraussetzt. Ausgehend von den genannten Maßgaben soll im folgenden eine Definition des Rechtsinstituts der Fiktion entwickelt werden. Ansatzpunkt hierfür hat nach den bisherigen Erkenntnissen die Realität zu sein, welche die Grundlage für eine in der Fiktion enthaltene Aussage sein kann.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Rechtsfiktion durch einen besonderen Bezug zu etwas nicht Existentem bzw. Irrealem geprägt ist, soll im folgenden ermittelt werden, nach welchem Maßstab diese Größe des nicht Realen zu bestimmen ist. Ansatzpunkt hierfür müssen die möglichen Anwendungsfelder der Rechtsfiktion als Erkenntnis- oder Regelungsmodell sein. Der jeweilige Einsatzbereich der Rechtsfiktion determiniert den vorhandenen Bestand, an den sie anknüpft, und damit die Größe des nicht Existenten, auf die die Rechtsfiktion Bezug nimmt.

I. Die möglichen Einsatzbereiche der Rechtsfiktion Als mögliche Einsatzbereiche der Fiktion im Bereich des Rechts kommen insbesondere die Normsetzung bzw. Gesetzgebung, aber auch die Rechtsanwendung und die Rechtsdogmatik in Betracht.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

65

1. Die Normsetzung Im Bereich der Normsetzung erlangt die Fiktion primär als Normbestandteil Bedeutung. Daneben kommt aber auch ihr Einsatz im sog. inneren Gesetzgebungsverfahren in Betracht. a) Die Fiktion als Bestandteil des Gesetzes Die Fiktion kommt zunächst als Gestaltungsinstrument der Gesetzgebung in Betracht (gesetzliche Fiktion153 bzw. Gesetzesfiktion154). Gesetzgebung als Staatsfunktion im Rahmen der Verfassung des Grundgesetzes ist auf der Grundlage ihrer Aufgabe in Demokratie und sozialem Rechtsstaat zu bestimmen. In der Demokratie kommt der Gesetzgebung die Aufgabe der politischen Willensbildung über grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sowie die der Normierung der Ergebnisse dieser Willensbildung mit demokratischer Legitimation und in einem demokratischen Verfahren. Klarheit, eine gewisse Dauerhaftigkeit sowie die Verbindlichkeit dieser Gesetzgebungsakte sind rechtsstaatliche Erfordernisse. Gesetzgebung kann insoweit als politische Willensbildung über solche Gegenstände beschrieben werden, welche infolge ihrer grundlegenden Bedeutung für die Gesellschaft einer rechtsverbindlichen und stabilen Regelung bedürfen. Im Gesetz manifestiert sich die politische Entscheidung der Volksvertretung.15 Entsprechend der genannten staatsrechtlichen Funktion der Gesetzgebung kann der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes zunächst formal derart bestimmt werden, Mdaß es sich um eine staatliche Anordnung handelt, die von der gesetzgebenden Körperschaft in einem bestimmten Verfahren erlassen worden 139

ist". Die Qualifizierung als ein auch materielles Gesetz wird dabei meist davon abhängig gemacht, daß das Gesetz den Bürger zum Adressaten habe; 153 154

So etwa Larenz, Methodenlehre, S. 262. So etwa Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht,

S. 43.

153 Anhaltspunkte liefern daneben auch die grundrechtlichen und sonstigen - vgl. etwa Art. 59 Π, 100 GG sowie dazu Ossenbühl, in: HdbStR m, § 62, Rz. 12, 26 ff. Gesetzesvorbehalte. 136 Vgl. Hesse, Grundzüge d. VerfR, Rz. 503 fi. 137 Vgl. Hesse, aaO., Rz. 505. 138 Vgl. Badura, in: HdbStR VII, § 163, Rz. 7 ff 139 Stern, Staatsrecht I, § 20 IV. 4. 0, S. 826 m.w.N.

5 Jachmann

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

lediglich an Organe der staatlichen Wirkungseinheit gerichtete Gesetze werden als solche in "nur-formellem Sinne" bezeichnet.160 In Übereinstimmung mit dem genannten formalen Gesetzesbegriff gilt die Bindung an Recht und Gesetz gem. Art. 20 III GG für alle staatlichen Aktivitäten mit Ausnahme gerade jener desförmlichen Gesetzgebers, d.h. des Parlaments.161 Vollziehende Gewalt iSv. Art. 20 III GG ist auch der Erlaß von Rechtsverordnungen nach Art. 801 GG und von autonomen Satzungen.162 Dies bedeutet jedoch nur, daß auch beim Erlaß dieser Normen das Parlamentsgesetz zu beachten ist. Andererseits setzt die Gesetzesbindung von Judikative und Exekutive nach Art. 20 III GG die für jegliche geschriebene Rechtsordnung elementare Vorstellung der Rechtserzeugung durch Normsetzung und Normvollzug voraus.163 Danach werden im Wege der Normsetzung (generell-) abstrakt die Rechtsfolgen geregelt, die in einem abstrakt umschriebenen Fall eintreten sollen. Durch Anwendung dieser Regelung erfolgt quasi auf einer zweiten Stufe die Festsetzung der Rechtsfolgen im Einzelfall. 164 Wenn auch die erste Stufe nach dem Grundgesetz primär dem Parlament zugeordnet ist (Art. 77, 78 GG) und Normsetzungsakte anderer Organe einer besonderen Legitimation bedürfen, so kommt die Rechtswirklichkeit dennoch nicht ohne derartige Normsetzungsakte aus. Dem trägt auch das Grundgesetz insbesondere in Art. 80 I Rechnung. Die Einzelfallentscheidung hat auch Normen unterhalb des formellen Gesetzes zu wahren. Dies führt zu einem weiteren materiellen Gesetzesbegriff, der neben formellen Gesetzen auch Rechtsverordnungen und Satzungen umfaßt, indem er an die Funktion der Normsetzung anknüpft. Vorliegend soll das Gesetz als Ausgangsbasis der Gesetzesfiktion als Festlegung einer Rechtsnorm verstanden werden. Rechtsnormen sind Regeln der 160

Stern, aaO. S. nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rz. 25. 162 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 37. 163 S. auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 40; Lübbe-Wolff, DÖV 1987, 896 (899). 164 Zur Abgrenzung von generellem Gesetz und individuellem Vollzug s. auch Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 53 ff. 163 Vgl. Maurer (Allg.VerwR, § 4, Rz. 8), der insoweit den Begriff des materiellen Gesetzes verwendet. Ein weiter Gesetzesbegriff liegt etwa auch Art. 93 I Nr. 4 GG zugrunde; vgl. nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rz. 34; Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rz. 630. 166 Ebenso Schneider, Gesetzgebung, Rz. 14; begrifflich etwas anders Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 71 m.w.N. - Der hier ver161

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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Rechtsordnung, die - als Verhaltensnormen - beanspruchen, daß sich ihre Adressaten ihnen gemäß verhalten, bzw. - als Entscheidungsnormen -, daß Behörden und Gerichte ihnen gemäß handeln und urteilen.167 Ausgehend von der genannten staatsrechtlichen Funktion der Gesetzgebung, nach demokratischen Grundsätzen Rechtssicherheit hinsichtlich gesellschaftsrelevanter Fragen zu schaffen, ist für eine Rechtsnorm ihr allgemeiner bzw. voller168 Geltungsanspruch169 als konstitutiv zu betrachten. Dies bedeutet eine Bindung aller in Betracht kommenden Bindungssubjekte, d.h. Bürger, Verwaltung und Gerichte - bei der Satzung freilich nur innerhalb der Grenzen der sie legitimierenden Autonomie. Korrelat dieses Geltungsanspruchs ist die Außenwirkung der Rechtsnorm. Dieser entspricht grundsätzlich die Allgemeinheit bzw. Generalität ihres Inhalts. Generalität meint Übertragbarheit der normativen Regelungsanordnung auf nicht von vornherein exakt definierte Einzelfälle. 171 Betrachtet man den Ableitungszusammenhang von allgemeinem Geltungsanspruch und Generalität, so ist jedoch als Rechtsnorm nicht nur eine Rechtsregel einzustufen, die eine Aussage über die Rechtsfolgen für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen enthält, sondern auch eine andere maßgebliche Festlegung von Grundentscheidungen, etwa die Festlegung eines Rechtsstatus, eines Programms oder einer sonstigen allgemeinen Bezugsgröße (sog. Bestimmungsnormen). Maßgeblich ist dabei die gesamtgesellschaftliche Relevanz

wendete Begriff der Rechtsnorm ist zu unterscheiden von dem einer methodischen Sichtweise, nach der die Rechtsnorm am Fall jeweils erst produziert werden muß. So etwa Müller, Juristische Methodik, S. 26 f. 167 Larenz, Methodenlehre , S. 250. 168 Vgl. dazu Di Fabio, DVB1. 1992, 1338 (1343) m.w.N.; ders., Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 368. 169 Larenz, Methodenlehre, S. 250. 170 Di Fabio, DVB1. 1992, 1338 (1343); ders., Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 368. 171 Kritisch gegenüber einer Lehre vom generellen Rechtssatz, die die Regelung individuell bestimmter, konkreter Angelegenheiten von der Gesetzgebung im materiellen Sinne ausnimmt, etwa Richardi (Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 24 f.) oder Rödig (in: Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 5 ff.). Diese Kritik setzt jedoch maßgeblich daran an, daß der allgemeine Charakter des Gesetzes nicht logisch begründbar sei. Vorliegend geht es demgegenüber um eine Erfassung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Rechtsanwendung, wie es dem Grundgesetz zugrundeliegt. 172 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 14 ff., 26; s. dazu, daß dem Erfordernis der Allgemeinheit eines Gesetzes auch die Bestimmung eines Status, die Festlegung eines Programms, die Etablierung einer Institution oder die Festlegung der Ziele und Mittel einer Planung genügen, Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 28. 5*

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Teil 1: Das Rechtsinstitut der Fiktion

der Bestimmung.173 Liegt - demgemäß - freilich ein formelles Gesetz vor, so kann für vorliegenden Zusammenhang die Eigenschaft als auch materielles Gesetz dahinstehen. Würde im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren abweichend von oben genanntem Kriterium der Generalität des Norminhalts und auch nicht im Sinne einer Grundentscheidung von gesamtgesellschaftlicher Relvanz - ausschließlich ein konkret bestimmter Einzelfall geregelt und wäre diese Regelung nicht im Wege eines Gesetzesvollzugs auf andere Fälle anwendbar, so wäre das Vorliegen eines Gesetzes dennoch allein aus der Gesetzesform zu folgern. Da die Rechtsnorm notwendig die sprachliche Form eines Satzes hat, kann sie auch als Rechtssatz bezeichnet werden. Diese Terminologie ist hingegen nicht einheitlich. Kelsen etwa verbindet den Rechtssatz als hypothetisches Urteil zwingend mit der Funktion der Rechtswissenschaft, die Rechtsnorm als Imperativ17 dagegen mit der Funktion der Rechtsautorität. Maurer 78 beschränkt den Begriff der Rechtsnorm als Synonym für das Gesetz im materiellen Sinn - anders als den des Rechtssatzes - auf das Außenrecht. Der Anwendungsraum der Gesetzesfiktion soll vorliegend durch die Begriffe von Rechtsnorm bzw. - gleichbedeutend - Rechtssatz beschrieben wer179 den. Der Rechtssatz soll als hoheitliche generell - abstrakte Regelung mit 180 Außenwirkung definiert werden. Rechtssätze entstehen in der Gegenwart

173

Vgl. auch die Beispiele bei Schneider, aaO., Rz. 18. Es handelte sich dann allerdings um ein nur formelles Gesetz. 173 Larenz, Methodenlehre; ähnlich Adomeit, Normlogik - Methodenlehre - Rechtspolitologie, S. 129, wonach "der Rechtssatz die Form, die Rechtsnorm der Inhalt ist". 176 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73 ff. 177 S. dazu auch sogleich unter Π. 178 Maurer, Allg. VerwR, § 4, Rz. 3. 179 Das Merkmal des Generellen meint dabei zum einen die Allgemeinheit des Inhalts in Unterscheidung zum Einzelfallbezug von Verwaltungsakten, Regierungsakten und Urteilen; diese Allgemeinheit des Inhalts kennzeichnet aber nur Rechtsnormen, die eine Rechtsregei enthalten, die für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gilt (vgl. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 35, 37). Generalität kommt darüber hinaus aber auch solchen Rechtsnormen zu, die einmalig, aber mit dem Anspruch auf dauerhafte Geltung etwas Grundsätzliches festlegen (so auch Schneider, aaO., Rz. 35). - Vgl. zur Generalität des Gesetzes auch Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 201 ff. 180 Ebenso Maurer, Allg.VerwR, § 4, Rz. 3. - Vorliegend ist nicht ein weiter rechtstheoretischer Normbegriff gemeint, der auch konkret-individuelle Normen einschließt (s. dazu nur Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 200). Vielmehr geht es - in Abgrenzung zur 174

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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primär durch bewußte, verfahrensmäßig geregelte Rechtsetzungsakte, die in der schriftlichen Fixierung der beabsichtigten Rechtsregel ihren Abschluß finden. Die entsprechenden geschriebenen Rechtsquellen der Rechtssätze sind die Verfassung sowie formelle und materielle Gesetze. Formelle Gesetze werden von den verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzgebungsorganen in dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahren erlassen. Generalität kommt ihnen - freilich in einem nurförmlichen Sinn - schon infolge ihres Zustandekommens zu. Materielle Gesetze enthalten inhaltlich generell-abstrakte Regelungen mit Außenwirkung, werden aber nicht notwendig vom Parlament beschlossen.181 Die genannten Rechtsquellen sollen vorliegend maßgeblich den Begriff des Gesetzes ausmachen, der den Anwendungsbereich der Gesetzesfiktion bestimmt. Als potentielle Anwendungsbereiche der Gesetzesfiktion kommen grundsätzlich auch Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze in Betracht. Der Begriff der allgemeinverbindlichen Rechtsnorm umfaßt - soweit sie im 182 einzelnen überhaupt als Rechtsquellen anzuerkennen sind - auch sie. Allgemeine Rechtsgrundsätze sind Maximen, welche sich auf fundamentale, als solche der Disposition des Gesetzgebers entzogene Prinzipien des Rechts bzw. der Gerechtigkeit zurückfuhren lassen oder selbst Sätze von solch fundamentaler Bedeutung sind. Sie sind notwendige Ausprägung jener Rechtsprinzipien, die die gesamte Rechtsordnung tragen bzw. ergeben sich aus der Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips auf konkrete Interessenlagen innerhalb besonderer sozialer Lebensverhältnisse.18 Die LegitimationsgrundRechtsanwendungsfiktion - um die Beschreibung des Anwendungsraums der Gesetzesfiktion im Sinne einer praktischen Jurisprudenz. 181 Zur Ablehnung einer Kritik gegen die begriffliche Unterscheidung von Gesetzen im formellen und materiellen Sinne s. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 25. Zu den Begriffen des Gesetzes im formellen und materiellen Sinn s. etwa Maurer, aaO., Rz. 8; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 71 f. - Zur Einordnung von Richterrecht und sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften s. unten Teil 1 C. ΙΠ. 2. - In der Konsequenz der hier vertretenen weiten Fassung des Normbegriffs unter Einbeziehung auch der Festlegung eines Rechtsstatus liegt die Ablehnung einer Kategorie der nur formellen Gesetze. Wie hier Schneider, aaO., Rz. 26; anders die wohl h.M., s. dazu nur Maurer, aaO.; Hill, Jura 1986, 286 (287 f.) m.w.N. 182 Vgl. zum Gewohnheitsrecht Schneider, aaO., Rz. 14; Blasius/Büchner, aaO., S. 64 ff.; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 269 m.w.N.; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen s. Blasius/Büchner, aaO., S. 66 f. 183 BVerwG, DÖV 1973, 784 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 481 ff.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

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läge allgemeiner Rechtsgrundsätze ist in ihrer Eigenschaft als unerläßliches Glied im System der geltenden Rechtsordnung zu sehen. Allgemeine Rechtsgrundsätze stellen konstitutive Bestandteile der Gesamtrechtsordnung 184

dar. Als unerläßliche Glieder der Rechtsordnung sind sie letztlich auf Wertentscheidungen zurückfuhrbar, auf denen auch diese selbst basiert. Gewohnheitsrechtlichen Rechtssätzen wird eine Legitimation aus einer längeren, dauernden, ständigen, gleichmäßigen und allgemeinen Übung (longa consuetudo) einerseits und der Anerkennung als verbindliche Rechts185

norm seitens der Beteiligten (opinio necessitatis) andererseits zuerkannt . Im einzelnen wird die Legitimationsgrundlage im Willen der Rechtsgemeinschaft gesehen (sog. Willenstheorie), oder in einer - ausdrücklichen bzw. auch stillschweigenden - Autorisierung durch Gesetzgeber oder Gerichte (sog. Gestattungstheorie). Aus verfassungsrechtlicher Sicht sind beide Ansätze in dem 187

vom Gesetzmäßigkeitsprinzip (Art. 20 III, 97 I GG) geprägten öffentlichen Recht problematisch. Postuliert das Gesetzmäßigkeitsprinzip doch eine Bindung des Rechtsanwenders an zwingendes, d.h. nicht dispositives, Gesetzesrecht. Der gesetzgeberische Wille ist grundsätzlich in dem vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zu betätigen und ergibt sich für den 188

Rechtsanwender aus der Gesetzesauslegung . Die Rechtsgemeinschaft hat ihren politischen Willen in der parlamentarischen Demokratie grundsätzlich über die parlamentarische Gesetzgebung in allgemeinverbindliche Normen umzusetzen. Daß das Grundgesetz in Art. 20 III GG in der Formulierung "Gesetz und Recht" in allgemeiner Weise gewohnheitsrechtlicher Rechtsetzung Legitimation verleihen wollte, ist schwerlich begründbar. Bestehen danach zwingende gesetzliche Prüfungsmaßstäbe, kann der Rechtsanwender 190

hiervon nicht unter Berufung auf eine andere Übung abweichen. 184

Soweit eine

Vgl. zur Bedeutung der Qualifikation eines Rechtsprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz i.ü. unten Teil 3 Β. X. 2. 183 BVerfG, NJW 1983, 25 (31), s. dazu statt vieler Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 64 f.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 214 ff. m.w.N.; Freitag, Gewohnheitsrecht und Rechtssystem, insbes. S. 41 ff; 73 ff., 78 f.; Müller, Juristische Methodik, S. 127; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 271. 186 S. dazu Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 552 ff. m.w.N. 187 S. dazu unten insbes. Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1). 188 Vgl. dazu auch unten Teil 1 E. I. 189 Vgl. auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Π Rz. 52. 190 Vgl. Hesse, Grundzüge d. VerfR, Rz. 507, wonach das Gewohnheitsrecht "zwar im Sinne von Art. 20 ΙΠ G ("Gesetz und Recht") für die rechtsprechende Gewalt ver-

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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solche Übung im Rahmen der Ausfüllung von Beurteilungs- oder Ermessensspielräumen herangezogen würde, wäre dies nicht zwingend als Norma191

tivwirkung der Übung zu qualifizieren. Die Gewohnheit könnte u.U. nach Art. 3 I GG verbindlich sein bzw. Maßgeblichkeit gerade erst durch die 192

Rechtsanwendungsentscheidung erlangen. Bezüglich der Problematik einer etwaigen Normativwirkung oder sonstigen Bindungswirkung von sog. Gewohnheitsrecht soll es vorliegend jedoch mit der Feststellung sein Bewenden haben, daß speziell im öffentlichen Recht für die Anerkennung von - im oben beschriebenen Sinn - normativ wirkenden gewohnheitsrechtlichen Rechts193

Sätzen allenfalls ein sehr begrenzter Raum bleibt. Entsprechendes gilt für allgemeine Rechtsgrundsätze schon nach ihrer Definition als unerläßliche Glieder der Rechtsordnung. Ist ein Rechtsprinzip aus einem formellen oder materiellen positiven Gesetz ableitbar oder stellt es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, kommt eine etwaige - ergänzende - gewohnheitsrechtliche Anerkennung nicht in Betracht. b) Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren Neben der Verwendung der Fiktion in einem Gesetz als fertiges Produkt wäre es denkbar, daß sich der Gesetzgeber ihrer schon bei der Durchführung des sog. inneren Gesetzgebungsverfahrens bedient. Das innere Gesetzgebungs194 verfahren betrifft den "legislatorischen Produktionsablauf* bzw. die Findung 193

der materiellen Entscheidung über den Inhalt eines Gesetzes. Es meint - in Abgrenzung zur fertigen Norm als Ergebnis der gesetzgeberischen Entscheidung sowie zum äußeren Ablauf der Gesetzgebung, zum formellen Gesetzgebungsverfahren, insbesondere Umfang, Art und Zeitpunkt der Beteiligung einzelner Gesetzgebungsorgane - die "Methodik der Entscheidungsfindung" bzw. "die bei der Normerzeugung zu beobachtende Me-

bindliches Recht enthält, das aber nicht in Widerspruch zu ranghöheren und ranggleichem geschriebenen Recht treten darf 1. 191 S. dazu unten Teil 1 C. ΙΠ. 2.; 3. 192 Vgl. dazu Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 555; Esser, in: FS für v. Hippel, S. 95 (116 ff.). 193 Vgl. dazu auch unten Teil 2 Κ. VI. 194 Merten, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, S. 81 (82). 195 Vgl. auch Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 542. 196 Schwerdtfeger, in: FS für Ipsen, S. 173 f.; Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, S. 62.

Teil 1: Das Rechtsinstitut der Fiktion

72

thodeN . Hier käme in Betracht, daß der Gesetzgeber, anstatt den zu gestaltenden Bereich der sozialen Wirklichkeit in tatsächlicher Hinsicht - insbesondere im Hinblick auf entscheidungserhebliche Daten oder ggf. abzuweh198

rende Gefahren bzw. Störungen - zu ermitteln, sein Entscheidungsmaterial (z.T.) fingiert. Die Fiktion könnte in diesem Sinne bereits im Vorfeld der gesetzlichen Gestaltung - verstanden als Fixierung einer Regelungsanordnung - Bedeutung erlangen, ohne u.U. in dieser selbst notwendig faßbar zu sein. Insoweit soll in Unterscheidung zur Gesetzesfiktion von der Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren gesprochen werden. 2. Die Rechtsanwendung Exekutive - vorliegend ist insbesondere die Verwaltung von Interesse - und Judikative sind gem. Art. 20 III bzw. 97 I GG an die Gesetze gebunden und damit mit der Anwendung der Gesetzesfiktion - als vom Gesetzgeber vorgegebenem Bestandteil eines anzuwendenden Gesetzes - befaßt. Über diese reine Anwendung einer vorgegebenen Fiktionsanordnung hinaus kann die Fiktion u.U. mögliche eigene Erkenntnis- oder Begründungsmethode von Verwaltung und Rechtsprechung im Rahmen der Anwendung von Gesetzen sein, die selbst keine Fiktionsregelung enthalten. So versteht etwa Larenz die Fiktion im Begründungszusammenhang eines gerichtlichen Urteils dahin, daß ein Tatbestandselement, aus dem der Richter eine Rechtsfolge herleite, als im Sachverhalt vorhanden von ihm unterstellt werde, obgleich er wisse oder sich doch darüber klar sein müßte, daß dem in 200

der Tat nicht so sei. Nach Meurer werden Fiktionen in Urteilsbegründungen verwendet, um vorhandende Sätze durch Gleichsetzung von einer bekannten 197

Merten, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, S. 84; vgl. auch Karpen, Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungslehre, S. 41; Hill, Jura 1986,286 (291). 198 Vgl. Schwerdtfeger, in: FS für Ipsen, S. 178 ff. - S. allgemein zur Vergleichbarkeit der Struktur von Gesetzgebungsverfahren und Rechtsanwendungsverfahren bzw. zur Komplementarität von Rechtsetzung und Rechtsanwendung Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 30 (133 f. m.w.N., 164); ders., Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 19, 71; insbes. zum Modell der "umgekehrten Subsumtion" etwa Bydlinski, Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 641 ff. 199 Dieser bloßen Anwendung der gesetzlichen Fiktionsregelung kommt bei der systematischen Analyse der möglichen Einsatzbereiche der Rechtsfiktion keine eigenständige Bedeutung zu. 200 Larenz, Methodenlehre, S. 264.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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mit einer noch nicht oder noch nicht vollständig bekannten Erscheinung auf letztere zu übertragen.201 Diese Begründungsfiktion diene so der Gewinnung eines normativen Individualsatzes, dem Urteilstenor, und zwar indem durch die unmögliche Annahme, der gegebene Sachverhalt sei einem anderen ungleichen Sachverhalt gleich, die Rechtsfolgen an den gegebenen Sachverhalt geknüpft werden, die der angenommene Sachverhalt schon habe. Lerche nimmt eine Fiktion an, wenn eine gerichtliche Entscheidung fälschlicherweise 204

vorgebe, im Einklang mit einem Präjudiz zu stehen.

Eine derartige Rechtsanwendungsfiktion könnte u.U. Hilfskonstruktion zur Findung von gesetzeskonformen Ergebnissen sein. Dies gilt es zu klären. Zunächst ist jedoch zu konkretisieren, an welchen Stellen des administrativen bzw. judikativen Rechtsanwendungsprozesses die Fiktion zum Einsatz kommen kann. 3. Die Rechtsdogmatik Schließlich kann die Rechtsfiktion u.U. der Begründung neuer Normen dienen (normpropositiver Charakter der Rechtsdogmatik ) bzw. eine Begründung für normativ institutionalisierte rechtliche Gestaltungen liefern, d.h. diese beschreiben oder erklären (normdeskriptiver Charakter der Rechtsdogmatik209). Sie kann allgemein Bestandteil rechtsdogmatischer Konstruktionen im Rechtsanwendungsbereich sein, indem etwa eine dogmatische Voraussetzung eines gesetzlichen Tatbestandes oder eines Rechtsprinzips im weitesten Sinne unterstellt wird. Die Fiktion kann allgemein Lücken in dogmatischen Erklärungszusammenhängen schließen. Insoweit soll vorliegend von wissenschaftlicher Rechtsfiktion gesprochen werden. Gemeint ist damit 201

Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 73. Meurer, aaO., S. 74. 203 Meurer, aaO. 204 Lerche, Die Technik des "Als-Ob,f im Recht, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (96). 203 S. dazu etwa Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 3 ff. 206 S. dazu insbes. Teil 4. 207 S. dazu unten sub ΠΙ. 208 Neumann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 422 (434 f.). 209 Neumann, aaO. 210 Um die klare begriffliche Abgrenzung zu der dogmatischen Fiktion etwa im Sinne Essers (Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 81 ff., 92 ff.) - s. dazu unten Teil 1 D. I. 2. b); Teil 3 Α. I. - zu wahren, soll vorliegend von der Verwendung dieses Be202

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

vorliegend die Verwendung des Rechtsinstituts der Fiktion im Bereich der Rechtsdogmatik, verstanden als die Erarbeitung systemimmanenter Beurteilungsmerkmale211 im Ordnungssystem des Rechts.212 Die Rechtsdogmatik ist auf das geltende Recht ausgerichtet,213 d.h. einer bestimmten Rechtsordnung zugewandt;214 vorliegend ist diesbezüglich das innerstaatliche öffentliche Recht maßgeblich. Die wissenschaftliche Fiktion steht insoweit in engem Zusammenhang mit der Gesetzesfiktion, als die dogmatische Erklärung einer abstrakten Rechtsfigur als Fiktion dann, wenn diese Rechtsfigur gesetzlich ausgestaltet ist, zur Auslegung der jeweiligen Norm als Fiktionsnorm führt. 213 Als Erklärung einer (anzuwendenden) Norm oder vom Rechtsanwender gebrauchten rechtlichen Konstruktion dient die wissenschaftliche Rechtsfiktion auch der Rechtsanwendung.

griffes abgesehen werden. Mallachow (Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 61 ff.) bezeichnet dagegen die von der Dogmatik verwendete Rechtsfiktion als "dogmatische". 211 Ihr systemimmanentes Denken unterscheidet die Rechtsdogmatik von der Rechtsphilosophie. Vgl. Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 2; ders., Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 9. 212 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 91; vgl. auch etwa Ehlers, VerwArch 67 (1976), 369 m.w.N.; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 15. - Zur Funktionsbestimmung der Dogmatik s. im einzelnen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326 ff. 213 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 5, 9; Tipke, Die Steuerrechtsordnung m, S. 1236. 214 Larenz, Methodenlehre, S. 191,193. 213 S. zum. Zusammenhang von Gesetzesfiktion und wissenschaftlicher Fiktion auch unten Teil 1 D. ΙΠ. Vgl. zum Beispiel der juristischen Person unten Teil 1 D. I. 1. a) a.E.; Teil 5 Β. I. 216 Vgl. Ehlers, VerwArch 67 (1976), 369 f.; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 16 und 99 f.; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 18 f., 175; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 91 ff ; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 185. - s. zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Fiktion und Rechtsanwendimg auch unten Teil 1 D. ΙΠ.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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IL Die Fiktion im Bereich der Gesetzgebung 1. Die Gesetzesfiktion Dient die Rechtsfiktion als Gestaltungsmittel der Gesetzgebung, bietet es sich für die Konkretisierung ihrer oben vorgenommenen Einordnung nach dem Merkmal der Bezugnahme auf eine irreale Größe an, zunächst das Normative als existent bzw. real zu betrachten. Die Rechtsfiktion knüpft insoweit an eine durch die Normsetzung geschaffene Realität an. Der Fiktionsgegenstand ist Teil des Normativen. Diese Methode der Anknüpfung an das Normative als Realität verlangt nach einer Definition der normativen Reali218

tät. Die normative Realität ergibt sich aus der Eigenschaft der Norm, zu gelten. Normgeltung ist die Zugehörigkeit einer bestimmten Norm zu einer 219

bestimmten Normenordnung. Diese Zugehörigkeit meint, daß ein Verhalten als von einer bestimmten Rechtsordnung geboten anzusehen ist. Hierüber entscheidet die Rechtsordnung selbst durch sog. Ermächtigungsnormen, welche an einen bestimmten Tatbestand die Rechtsfolge knüpfen, daß eine Norm zustandegekommen ist. Die Rechtsordnung selbst bestimmt die Relevanz von Sätzen in ihrem Normengefüge. Nimmt eine in diesem Sinne geltende Norm im Wege der Fiktion Bezug auf einen in einem anderen Gesetz festge217 Kelsen (Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (644)) geht demgegenüber davon aus, daß bei den Fiktionen des Gesetzgebers ein Widerspruch zur Wirklichkeit der Rechtsordnung ausgeschlossen sei. 218 Vgl. die prinzipielle Unterscheidung von Sein und Sollen (Norm) bei Kelsen, etwa Reine Rechtslehre, S. 5; dazu Hendler, JuS 1972, 489 f.; insbes. zur These, daß die Norm nicht wahrheitsfkhig ist, wohl aber die Aussage über die Norm, die sog. Normaussage, statt vieler Adomeit, JuS 1972, 628 (631 f.); Kelsen, aaO., S. 75 f.; vgl. auch Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 29 f., 41 ff. - Zu einem Überblick über die zum Verhältnis von Sein und Sollen vertretenen Grundauffassungen s. Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 30 (109 f.); Ellscheid, ebenda, S. 179 (232 ff.) m.w.N. 219 Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463 (464ff.) m.w.N.; vgl. weiter zur Normgeltung Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 27 m.w.N.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 549 ff. m.w.N.; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 298 f.; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 139 ff.; Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 159 ff.; speziell dazu, daß von "Geltung" im üblichen Sprachgebrauch nur innerhalb des Regelsystems gesprochen werden kann, s. Hart, Der Begriff des Rechts, S. 152; - zu einem Überblick über den Geltungsbegriff in der Philosophie vgl. demgegenüber Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort "gelten, Geltung" m.w.N. 220 Lippold, aaO., 466 f.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

legten Bestand, so schafft sie eine Relation der die Fiktion enthaltenden Regelung zu der anderen Normierung. Die für die Fiktionsbildung maßgebliche Realität ist dabei die Ebene, auf der sich diese Relation bewegt, d.h. das Normative. Im Hinblick auf ihre Geltung sind die Rechtssätze abzugrenzen von den Aussagesätzen, die eine Tatsachenbehauptung oder naturwissenschaftliche Festeilung beinhalten. Anders als im Bereich letzterer kann man beim Rechtssatz nicht fragen, ob er wahr oder falsch ist;222 die empirische Wahrheit ist keine für die Geltung eines Rechtssatzes oder einer Rechtsnorm maßgebliche Kategorie. Die Frage kann nur dahin lauten, ob ein Rechtssatz eine Regel der Rechtsordnung darstellt. Auch soweit ein Rechtssatz einem Adressaten als 223

Imperativ ein bestimmtes Verhalten gebietet, bleibt er ausschließlich Bestandteil der Rechtsordnung; er enthält nicht die Behauptung einer Tatsache oder eine sonstige empirisch faßbare Aussage. 4 Erst die Reaktion des Normadressaten vollzieht sich im Bereich der sozialen Wirklichkeit.223 Dabei geht es um die Frage der Wirksamkeit bzw. Effektivität der Norm.226 Eine Norm ist wirksam, wenn sie in einem bestimmten zeitlichen und örtlichen Rahmen faktisch angewandt wird. Die Umsetzung der Norm betrifft die

221

Vgl. etwa auch Weinberger, Rechtslogik, S. 226 f. Larenz, Methodenlehre, S. 251; vgl. weiter Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 25 ff.; Meyer, Fiktionen im Recht, S. 17. 223 Die Imperativentheorie (vgl. dazu nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 22 ff. m.w.N. in Anm. 6b, S. 200 f.; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 13 f.; Röhl (Allg. Rechtslehre, S. 226 ff., mit einer Darstellung der Kritik an der Imperativentheorie) geht davon aus, daß letztlich alle Normen auf solche Sätze zurückzuführen seien, die als Imperative ein bestimmtes Verhalten ge- oder verbieten und beschränkt den Begriff des Rechtssatzes hierauf. Kritisch insbes. Larenz, aaO., S. 253 ff. m.w.N., aber auch Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 33 ff. - Die Berechtigung der Imperativentheorie kann vorliegend dahinstehen. 224 Vgl. Larenz, aaO., S. 251 Fn. 2. 223 S. dazu Kininger, Die Realität der Rechtsnorm, insbes. S. 171 f. Weiterführend zum Verhältnis von Rechtsgeltung und Normwirksamkeit Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 54 ff. m.w.N. 226 Vgl. etwa Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 322 ff. m.w.N. - Z.T. wird auch von einer faktischen Geltung im Unterschied zur normativen Geltung gesprochen. S. dazu etwa Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 80; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 32 m.w.N. 227 Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463 (468) m.w.N. - Zur Normwirksamkeit s. im einzelnen unten Teil 3 Α. Π. 1. a); 3. - Die hier gemeinte Wirksamkeit der Norm ist nicht zu verwechseln mit der von der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit abhängigen Wirksamkeit eines Gesetzes nach Maßgabe der hierfür in einer bestimmten 222

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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Realität der Lebenssachverhalte. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Merkmal der Norm selbst. Gleiches ist für die - aus rechtstheoretischer Sicht von Geltung und Wirksamkeit der Norm zu unterscheidende - Verbindlichkeit 228

der Norm anzunehmen. Gemeint ist damit, daß die Norm - vom Normadressaten, Normsetzer oder aus objektiver Sicht - für maßgeblich gehalten 229

wird. Schließlich gehören das faktische Zustandekommen der Norm bzw. ihre faktische Kodifikation der sozialen Wirklichkeit an, auch hierauf bezieht sich die Regelungsaussage der Norm nicht. Es handelt sich ebenfalls um außerhalb der Realität des Normativen stehende Umstände. Konstitutiv für das Normative ist demgegenüber die Geltungsanordnung eines Rechtssatzes230, die darauf abzielt, daß seine Regelungsaussage fortan als maßgeblich angenommen wird. Die unmittelbare Wirkung, auf die die Geltungsanordnung gerichtet ist, die Geltung der normativen Regel, liegt im Bereich des Normativen, d.h. der Gesamtheit rechtlicher Regelungsaussagen im Sinn von rechtlichen Tatbeständen und Beziehungen. Dieser Bereich des Normativen bildet eine eigene Realität bzw. Seinsebene, verstanden als nicht naturalisti231

sehe Ontologie. Diese Sichtweise ist nur scheinbar der Kritik Essers ausgesetzt, der sich gegen den Glauben an eine eigene MRechtsweltM im Sinne einer Verlegung der Rechtsgebote aus dem gesollten in ein tatsächliches wenn auch übersinnliches - Sein, wie es der "Theorie der juristischen Tatsache" entstammt, wendet. Die Anerkennung einer Ebene juristischer Systembildung zwischen rechtlichen Tatbeständen als Realität des Normativen impliziert nicht die Bewertung einzelner Tatbestandsstücke als das eigentlich Rechtsbedeutsame derart, daß ihnen das Recht eine bestimmte Rechtsqualität Rechtsordnung einschlägigen positiven Anforderungen oder mit der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts iSv. § 43 VwVfG. 228 Vgl. zur Kritik an einer Identifizierung von Geltung und Verbindlichkeit Lippold, aaO., 486. 229 Lippold, aaO., 469 ff. 230 Larenz, Methodenlehre, S. 256; Müller (Juristische Methodik, S. 27 f.), der freilich terminologisch anders von Normtext spricht. 231 Vgl. Larenz, aaO., m.w.N.; Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 17; Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, S. 91; Weinberger, Logische Analyse in der Jurisprudenz, S. 103. Die vorliegend gemeinte Realität der Norm ist als logische Realgeltung der Norm (Weinberger, aaO.) zu verstehen, beinhaltet aber nicht deren empirisch faßbare Einwirkungen auf das Verhalten des einzelnen und der Gesellschaft, d.h. das gesellschaftliche Realsein der Norm (vgl. dazu Weinberger, aaO., S. 104). Letzteres ist der sozialen Wirklichkeit zuzurechnen. 232 S. dazu - kritisch - v. Hippel, Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 14 (37 ff.). 233 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 128 ff. (132).

78

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

verliehen habe, so wie die Natur den verschiedenen Materien natürliche 234

Eigenschaften verleiht. Vielmehr bildet die vorliegend vertretene Ontotogie des Normativen lediglich die Grundlage für eine Gegenüberstellung der - zur Realisierung rechtlicher Geltungsanordnung - korrespondierenden Ebenen des Seins und des Rechts. Sollensordnung und Seinsordnung, Normativität und Faktizität des Rechts bilden erkenntnistheoretisch getrennte Sphären.235 Eine Aussage darüber, ob und inwieweit der Gesetzgeber schematisch bestimmte Wirkungen an das Vorliegen bestimmter Tatsachen knüpft, 236 ist damit noch nicht verbunden. Ein Gesetz muß, soll es seinen Zweck der Gestaltung von Lebenssachverhalten erfüllen, deren Subsumtion ermöglichen. Ausgehend hiervon erscheinen diese Lebenssachverhalte als quasi hinter dem Normativen stehende Realität. Auch diese Realität der Lebenssachverhalte kommt als Bezugsgröße der Gesetzesfiktion bzw. als der Bereich in Betracht, dem der Fiktionsgegenstand angehört. Die in sich geschlossene Realität des Normativen knüpft inhaltlich an die empirische Wirklichkeit an. Dabei kann die Fiktion zum Einsatz kommen. Auch wenn die Fiktion hier eine Größe der empirischen Realität, des Lebenssachverhalts zur Ausgangsbasis hat, sucht sie freilich nicht soziale oder

234 Vgl. Esser, aaO., S. 132; v. Hippel, Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, in Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, S. 25 ff. 235 Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 3. - Freilich ist eine Verbindung zwischen normativer und natürlicher Realität möglich. Kelsen (Reine Rechtslehre, S. 216 f.) sieht diese Verbindung darin, daß die Rechtsnorm mit ihrer Wirksamkeit auch die Geltung verliere und die positive Rechtsnorm, um zu gelten, durch einen Seinsakt gesetzt werden müsse (vgl. auch Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 554; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 32 f.). Zu begründen wäre dies anhand der jeweils maßgeblichen konkreten Rechtsordnung. Das Sein ist gerade insoweit rechtlich relevant, als geltende Normen dies festlegen. So auch Lippold, Rechtstheorie 19 (1988), 463 (474 ff.). Mit der Anerkennung der zwei nebeneinander bestehenden Realitäten der Lebenssachverhalte und des Normativen ist darüber hinaus nicht festgeschrieben, daß positives Gesetz und natürliche Realität nur über die Subsumtion des Tatbestandes unter das Gesetz (s. dazu sogleich sub IQ. 1.) zueinander in Beziehung treten könnten (so die Kritik Müllers (Juristische Methodik, S. 72 f., 117) an Kelsen). Sachgesichtspunkte aus dem Bereich der Lebenssachverhalte können die Normauslegung bzw. Normkonkretisierung (s. dazu sogleich sub ΠΙ. 2.) beeinflussen. - Zur Sonderproblematik des funktionslosen Bebauungsplans s. Steiner, in: FS für Schlichter, S. 313 ff. 236 Vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 133 m.w.N.; Pfeifer, Fiktionen im Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 31; zur Kritik an Essers Normativismus s. etwa Brandt, DR 1941, 1379 (1383 f.); Wieacker, Zeitschr. f. d. gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), 176 (179, 181 ff).

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

79

naturwissenschaftliche Gegebenheiten außer Kraft zu setzen.237 Sie steht ausschließlich im Dienste der Erfassung der natürlichen bzw. sozialen Wirklichkeit durch die Norm. Die Gesetzesfiktion gehört der Rechtsordnung an. Diese stellt eine Gesamtheit von Gedankengebilden dar; als solches kann die 238

Gesetzesfiktion nicht unmittelbar Tatsachen abändern. Rechtssätze unterliegen nicht dem Kriterium der Wahrheit der natürlichen bzw. sozialen 239

Lebenssachverhalte. Setzt der Gesetzgeber das Gestaltungsmittel der Fiktion ein, will er damit nicht Tatsachen der natürlichen bzw. sozialen Realität 240

schaffen, sondern Rechtsfolgen herbeiführen. Die Gesetzesfiktion ist nicht auf objektive Wirklichkeitserkenntnis bezogen, sondern dient der Schaffung einer normativen Regelungsaussage. Wie jeglicher Rechtssatz gerade im Hinblick auf den von ihm zu regelnden Ausschnitt der empirisch faßbaren Realität geschaffen ist, selbst aber der Realität des Normativen angehört, so ist auch im Rahmen der Findung einer Fiktionsdefinition nicht von Alternativität der beiden genannten "Realitäten" auszugehen. Vielmehr kann sich der Gesetzgeber des Gestaltungsmittels der Fiktion sowohl bei der Festlegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale einer Norm in Abweichung vom allgemeinen Sprachgebrauch bedienen - Realität, der der Fiktionsgegenstand entstammt, ist hier die empirisch feststellbare soziale Wirklichkeit - als auch insoweit, als er bereits normativ festgelegte Tatbestände/Tatbestandselemente zueinander in Beziehung setzt - Realität ist dann das Normative.

237

Vgl. statt vieler Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 142; Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, § 4 I 1 d, S. 85; Neumann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 422 (434); Bülow, AcP 62 (1879), 1 (9); Meyer, Fiktionen im Recht, S. 25 ff. 238 Vgl. Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 121; so auch schon Kelsen, Ann. d. Philos., 1 (1919), 630 (656); s. dazu etwa auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 44 f. 239 Vgl. an dieser Stelle nur Meyer, Fiktionen im Recht, S. 26 m.w.N. 240 Meyer, aaO., S. 26 f., 73 f.; vgl. auch Wieacker, in: FS für Erick Wolf, S. 421 (448 f.), wo er darauf hinweist, daß die Übertragimg körperlicher Verhältnisse auf Beziehungen, die zwischen Bedingungen rechtlichen Sollens bestünden, unzulässig sei; s. dazu auch unten Teil 5 Β. I.; ΙΠ. 241 Vgl. auch Meyer, aaO., S. 111. 242 Vgl. auch Meyer, aaO., S. 16.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

80

Zur Verdeutlichung möge der folgende Gesetzestext dienen. § 1 Das Halten von Haustieren ist genehmigungspflichtig. § 2 Haustiere im Sinne des § 1 sind Hunde, Hühner, Schafe und Pferde. § 3 Als Hund im Sinn von § 2 gilt auch die Katze. § 4 Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn die Behörde sie nicht innerhalb eines Monats verweigert. § 5 Das Halten von Fischen ist der Behörde anzuzeigen. § 6 Piranhas gelten als Haustiere im Sinne des § 2. In § 3 dient die Gleichstellung von Hund und Katze der Beschreibung des Tatbestandes zur Ermöglichung der Subsumtion auch der Katze unter § 2. Das Merkmal des Irrealen entstammt dem Bereich der Lebenssachverhalte bzw. der sozialen Wirklichkeit. § 4 stellt das Nullum des Schweigens der Behörde der positiven Genehmigungserteilung gleich. Die irreale Zuordnung ergibt sich hier schon formal aus der Parallelbehandlung von Willensäußerung und Schweigen der Behörde, die beide dem Bereich der Lebenssachverhalte entstammen. Anders als § 3 bezweckt § 4 aber primär nicht die Ermöglichung der Subsumtion. Vielmehr sollen an ein Nullum Rechtsfolgen geknüpft werden, die nach der Regelungsaussage des § 1 sonst nur die reale Genehmigungserteilung nach sich zieht. Das Merkmal des Irrealen resultiert danach maßgeblich (auch) aus dem Bereich des Normativen. Ausschließlich innerhalb der normativen Realität bewegt sich die fiktive Gleichstellung in § 6. § 2 definiert einen normativen Begriff des Haustiers, der - nach systematischer Auslegung im Hinblick auf § 5 - Fische nicht umfaßt. Piranhas werden wegen der von ihnen gegenüber sonstigen Fischen, insbesondere Zierfischen, ausgehenden Gefahren dadurch der Genehmigungspflicht des § 1 unterworfen, daß sie unter den Haustierbegriff des § 2 gefaßt werden, obwohl sie dessen normativ festgelegte Voraussetzung nicht erfüllen. 2. Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren Relevante Bezugsgröße einer Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren wäre das einschlägige Entscheidungsmaterial des Gesetzgebers aus dem Bereich der sozialen Wirklichkeit.

243

Vgl. oben I. l.b).

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

81

III. Die Fiktion im Bereich der Rechtsanwendung Die Rechtsordnung bedarf der Umsetzung ihrer Vorgaben in die soziale Wirklichkeit. Diese erfolgt im öffentlichen Recht durch Rechtsanwendung 244 seitens der Exekutive sowie der Judikative. Rechtsanwendung bedeutet 245

rechtstechnisch die Anwendung eines abstrakten Prüfungsmaßstabes auf einen konkreten Sachverhalt (1.). Die Abgrenzung der Rechtsanwendung von der Gesetzgebung erscheint problematisch im Bereich eigener Maßstabsbildung durch Exekutive und Judikative (2.). Gegenstand bzw. Inhalt der Rechtsanwendung bestimmen den Anwendungsraum der Rechtsanwendungsfiktion. 1. Die Fiktion im System der Rechtsanwendung Rechtsanwendung kann zunächst allgemein als Anwendung eines abstrakten Prüfungsmaßstabes auf einen konkreten Sachverhalt begriffen werden. Grundsätzlich ergibt sich dieser Prüfungsmaßstab aus einer Norm, so daß Rechtsanwendung die Realisierung gesetzlich vorgezeichneter Wertentscheidungen am konkreten Sachverhalt bedeutet. Dabei werden der konkrete Lebenssachverhalt und die in Betracht kommende Norm unter dem maßge244

Soweit der formelle Gesetzgeber die Obereinstimmung eines von ihm zu erlassenden Gesetzes mit der Verfassung bzw. der Normgeber eines nur materiellen Gesetzes dessen Übereinstimmung mit höherrangigem Recht prüft, könnte jedoch freilich auch dies als Rechtsanwendung qualifiziert werden. Vorliegend soll insoweit aber maßgeblich auf das Handlungsergebnis, das erlassene Gesetz, abgestellt werden. 243 Da es vorliegend um den methodischen Vorgang der Rechtsanwendung geht, kann eine Differenzierung zwischen der Erstentscheidung durch die Verwaltung und der judikativen Kontrolle (s. dazu insbes. unten Teil 4 Α. ΙΠ. 3. a) (1)) unterbleiben. Es kommt auch nicht auf den normtheoretisch funktionellen Unterschied der Gesetzesbestimmung als Maßstabsnorm bzw. Verhaltensnorm einerseits und als Kontrollnorm bzw. Beurteilungsnorm andererseits an (s. dazu etwa Franßen in: FS fìlr Zeidler, S. 429 (444); Papier, DÖV 1986, 621 (625); Schulze-Fielitz, JZ 1993, 772 (779)). 246 Vgl. auch Jachmann, Die Verwaltung 1995,17 ff. 247 Zur Frage der Dichte der gesetzlichen Vorzeichnung der Entscheidung des Rechtsanwenders s. sogleich sub 2. 248 Gegen diese Beschreibung einer Grundstruktur der Rechtsanwendung kann nicht eingewandt werden, die auf ihr aufbauende herkömmliche Methodik vernachlässige die Entscheidungsrelevanz sachlicher Aspekte (vgl. dazu insbes. Müller, Juristische Methodik, etwa S. 40 ff.). Eine etwaige Lockerung der Bindung des Rechtsanwenders an normativ vorgegebene Direktiven - sie ist im Einzelfall zu begründen (s. dazu sogleich sub 2.) - kann durchaus systemimmanent erfolgen. - Zum Rechtsanwendungsprozeß s. auch Brühl, JA 1992, 193 ff. m.w.N.

6 Jachmann

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

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benden rechtlichen Gesichtspunkt verglichen und es wird ihre Entsprechung 249

bzw. mangelnde Entsprechung festgestellt. Letzteres vollzieht sich in mehreren gedanklichen Schritten. Vollständige Rechtssätze sind ihrer logischen Struktur nach hypothetische Sätze250, die konditional gefaßte Regelungsanordnungen enthalten. Rechtsnormen sind zweigliedrig aufgebaut, in Tatbestand und Rechtsfolge. 251 Diese Struktur der Rechtssätze bestimmt die formale Vorgehensweise bei ihrer Anwendung. Ausgehend von der Feststellung des 233

254

Sachverhalts sowie des Inhalts des gesetzlichen Tatbestandes ist zu prüfen, ob der Sachverhalt den Merkmalen des gesetzlichen Tatbestandes entspricht. Auf der Grundlage letztgenannter Subsumtion ist die Rechtsfolgenanordnung des Rechtssatzes auf den Einzelfall zu übertragen. Dabei soll nicht verkannt werden, daß sowohl die anzuwendende Norm Auswirkungen auf die Sachver249 Vgl. weitergehend Kaufmann (Analogie und "Natur der Sache", S. 44 f.; ders., in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 30 (164 f.); ders., Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 68 f.), der die Rechtsanwendung insgesamt als analogisches Verfahren begreift; zur Einordnung auch der "gewöhnlichen" Subsumtion als Analogie s. weiter Kaufmann, Über Gerechtigkeit, S. 190 ff.; Grundlage dieser Sichtweise ist die Aufgabendefinition des Gesetzgebers als Beschreibung von Typen (zum Typus s. unten Teil 1 Ε. Π. 6. a)). 250 Larenz, Methodenlehre, S. 256; vgl. zur Hypothese unten Teil 1 Ε. Π. 7. 231 Unvollständige Rechtssätze (etwa Legaldefintionen oder Gesetzesbestimmungen, die hinsichtlich eines Tatbestandselements oder der Rechtsfolge auf einen anderen Rechtssatz verweisen) begründen Rechtsfolgen nur in Verbindung mit anderen Rechtssätzen (vgl. Larenz, aaO., S. 257 m.w.N.). 232 Vgl. Esser (Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 41), der vom "äußeren Gang" des Subsumtionsprozesses spricht. 233 Vgl. dazu nur Martens, KritV 1989, 341 (346). 234 Damit ist noch keine Aussage darüber verbunden, inwieweit die Normauslegung unter Einbeziehung von geschichtlichen, philosophischen bzw. politischen Aspekten erfolgen kann. Vgl. zur Kritik an einem Positivismus der Normbehandlung statt vieler Müller, Juristische Methodik, S. 68 ff. - Zur erforderlichen Feststellung der genannten Voraussetzungen des syllogistischen Schlusses durch den Rechtsanwender s. insbes. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 53 ff., 66. 233 Kritisch gegenüber der Trennung zwischen Auslegung und Subsumtion mit Blick auf die Praxis Sendler, in: FS für Ule, S. 337 (342 ff.). 236 Zur Zweckorientierung eines Rechtssatzes hin auf seine Anwendung sowie zum sog. Syllogismus der Rechtsfolgenbestimmung als Methode zur Verwirklichung dieser Anwendung s. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 271 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 43 ff. (49); Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 45 ff.; vgl. weiter unten Teil 1 D. Π. 1. a); Brühl, JA 1992, 193; Klug, Juristische Logik, S. 19,49 f.; allgemein zum Syllogismus als Schlußverfahren s. etwa Czech, Grundkurs der Logik, S. 95 ff.; - zur Differenzierung zwischen theoretischem und normativem Syllogismus s. nur Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 184 f.; Walter, Rechtstheorie 11 (1980), 299 (305 f.).

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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haltsfeststellung hat, wie umgekehrt der Sachverhalt die Normaufbereitung durch den Rechtsanwender beeinflußt. Auch hat der Rechtsanwender bei der Feststellung des anzuwendenden abstrakten Prüfungsmaßstabes je nach Inhalt und Art der gesetzlichen Vorgaben eigene Weitentscheidungen zu treffen. 237 Einer hieran anknüpfenden Kritik an der methodischen Vorgehensweise des Syllogismus258 ist freilich entgegenzuhalten, daß die vom Rechtsanwender methodisch vorzunehmenden Arbeitsschritte die eines Syllogismus der 259

Rechtsfolgenbestimmung sind, auch wenn er bei der Ableitung eines abstrakten Prüfungsmaßstabes aus dem Gesetz eigene Wertungen hinsichtlich bestimmter Sachverhaltselemente einzubringen hat.260 Auch wo die Rechtsanwendung einer Wertung erfordert, sind die vom Rechtsanwender als maßgeblich erachteten Kriterien für diese Wertung - methodologisch betrachtet - zunächst abstrakt zu definieren und dann am konkreten Fall zu realisieren. Die Methode eines beim Gesetz ansetzenden Syllogismus ist gerade der Rechtsanwendung im öffentlichen Recht adäquat, welche gem. Art. 20 III GG bzw. nach den Gesetzesvorbehalten der Grundrechte von den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vorrangs und Vorbehalts des Gesetzes geprägt ist. Ausgehend hiervon ist zu prüfen, ob und inwieweit die jeweils einschlägige Norm dem Rechtsanwender eine "eigenverantwortliche Entscheidung"261 beläßt.262 237

S. dazu sogleich sub 2. Vgl. statt vieler Müller, Juristische Methodik, S. 74, 169, 173; Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 13 ff. m.w.N.; Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, S. 17 ff. m.w.N. 259 Larenz, Methodenlehre, S. 271. 260 Vgl. auch Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, S. 240; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 146; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 85 ff. zur formalen Struktur von Ermessensnormen. 261 Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 15. 262 In der Sache nähert sich der hier vertretene Syllogismus einer Theorie der Rechtsfindung im Einzelfall an, soweit diese auf die Bildung einer sog. Fallnorm gestützt wird (vgl. insbes. Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 202 ff.). Zur Methodik einer Normkonkretisierung am Fall besteht insoweit eine Parallele, als auch diese den (als solchen bezeichneten) Normtext zum Ausgangspunkt der Fallösung nimmt (vgl. Müller, Juristische Methodik, S. 169). Wenn dem Normtext aber nur eine "SignalWirkung und Begrenzungsfunktion in Rechtserzeugungs- und Begründungsvorgängen" (Müller aaO.) zugesprochen wird, so darf das nicht dazu führen, daß in der Sache rechtsstaatliche Gesetzesbindungen unterlaufen werden. Maßgeblich ist, daß die Rechtsanwendung in der Sache die gesetzlich vorgegebenen Wertentscheidungen in der sozialen Wirklichkeit umsetzt. Diesem Postulat entspricht die hier vertretene Methodik eines beim Gesetz ansetzenden Syllogismus. Der vom Rechtsanwender im Einzelfall anzuwendende Prüfungsmaßstab ist aus den unmittelbaren gesetzlichen Vorgaben sowie insbesondere unter Wahrung von verfassungsrechtlichen Direktiven zu bilden. Maßstabsbildung und Maßstabsanwendung sind methodologisch zu trennen. Wenn 258

*

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Aus der Struktur der Rechtsanwendung als einem von der gesetzlichen Regelungsaussage ausgehenden Syllogismus der Rechtsfolgenbestimmung ergeben sich formal vier Ansatzpunkte für eine Verwendung der Rechtsfiktion, nämlich die Sachverhaltsfeststellung, die Feststellung der Regelungsaussage der Norm (Gewinnung des Obersatzes des Syllogismus der Rechtsfolgenbestimmung), die Subsumtion (Gewinnung des Untersatzes) M\ind die Feststellung der Rechtsfolge. Die Sachverhaltsgewinnung vollzieht sich in zwei Stufen, zum einen der Vorstellung eines konkreten Ausschnitts aus der sozialen Wirklichkeit und zum anderen der Feststellung, daß dieser Sachverhalt sich realiter ereignet hat. Dabei ist die Vorstellung des Sachverhalts freilich ihrerseits schon determiniert durch die anzuwendende Norm. Im Bereich der Sachverhaltsfeststellung ist eine Fiktion insoweit möglich, als der Rechtsanwender die Feststellung, daß sich der vorgestellte Sachverhalt ereignet hat, durch die der sozialen Wirklichkeit widersprechende Annahme dessen ersetzt. 66 Es handelt sich dabei um eine Tatsachenfiktion oder Sachverhaltsfiktion. FiktionsgegenMüller (aaO., S. 273) einer syllogistischen Vorgehensweise den "Grundirrtum" vorwirft, "die Rechtsnorm als vor dem Rechtsfall existent anzusehen" bzw. "die Illusion einer lex ante casum" kritisiert, die positivistischen wie antipositivistischen Ansätzen gemeinsam sei, so ist dem - jedenfalls für den Bereich des öffentlichen Rechts im Geltungsbereich des GG - entgegenzuhalten, daß die grundsätzliche Zuweisung der Legislativfunktion an den Gesetzgeber sowie der Primat der legislativen Vorgaben für die administrative wie judikative Einzelfallentscheidung in der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsstniktur des GG angelegt ist. S. dazu schon oben Teil 1 C. I. sowie Jachmann, ZBR 1994, 1 (8 ff.). - Weiter zur Problematik der Normbildung am Fall etwa Hassemer,in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 248 ff.; knapp auch Kaufmann, ebenda, S. 30 (163 f.) m.w.N.; Haft, ebenda, S. 269 (281); Ellscheid, ebenda, S. 179 (182); - aus historischer Sicht Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? 263 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 273 f., insbes. zur notwendigen Trennung von Sachverhaltsfeststellung und Subsumtion. 264 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 19; dazu Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 11 m.w.N. 263 Vgl. dazu etwa Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 576 f.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 28; Maaßen, Privatrechtsbegriffe in den Tatbeständen des Steuerrechts, S. 188, 194; Müller, Juristische Methodik, S. 74; Brohm, DÖV 1987, 265 (271); Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 152. 266 Zu dieser Sachverhaltsfiktion s. auch unten Teil 1 Ε. Π. 6. c). - Zu Sachverhaltsfiktionen aus dem zivilrechtlichen Bereich (Unterhaltsrecht), s. Spangenberg, FamRZ 1994, 1565 f.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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stand sind Fakten, die als tatbestandliche Voraussetzungen für die Anordnung der jeweiligen Rechtfolge vorliegen müssen.267 Eine Tatsachenfiktion bildet etwa der Richter, wenn er im Begründungszusammenhang eines Urteils ein Tatbestandselement, aus dem er eine Rechtsfolge herleitet,fingiert, d.h. als im Sachverhalt vorhanden hinstellt, obwohl er sich seines Fehlens bewußt ist.268 Hingegen ist nicht schon in jeder Vorstellung des Sachverhalts im Vorfeld der Subsumtion eine Fiktion zu sehen, da der Rechtsanwender hier nicht Bezug nimmt auf einen in der sozialen Wirklichkeit nicht vorhandenen Bestand, sondern dieses Vorhandensein in der zweiten Stufe der Sachverhaltsfestellung realiter ermittelt werden soll. Materielle Rechtsnormen269 des öffentlichen Rechts knüpfen Rechtsfolgen an die reale Existenz von Tatsachen, nicht erst 270

an deren Erwiesenheit im Verwaltungsverfahren oder im Prozeß. Soweit etwa Hoffmann-Riem 211 daraus, daß die Rechtsanwendung in tatsächlicher Hinsicht nur auf einem Wahrscheinlichkeitsurteil beruhen könne, folgert, 273

ein bestimmter Grad von Wahrscheinlichkeit werde als Wahrheit fingiert, kann dem nicht gefolgt werden. Die Sachverhaltsfeststellung führt - abgesehen von den Fällen eines non liquet - zur Überzeugung des Rechtsanwenders. Diese Überzeugung schließt einen zweckorientierten Einsatz der Fiktion durch den Rechtsanwender und damit zumindest die gewollte Gleichstellung von 267 Zum Tatsachenbegriff im Rahmen des Rechtsanwendungsmodells vgl. etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 28 ff. 268 Larenz, Methodenlehre, S. 264. 269 Der Begriff der materiellen Rechtsnorm ist hier in Unterscheidung zur Beweisregel gebraucht. S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 2. a) (1); 4. a). 270 S. dazu Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 144 ff. m.w.N. zur a.A.; Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 72 Fn. 3; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 43 ff. m.w.N. zum Streitstand im Zivil(prozeß)recht. S. auch unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1). 271 Hoffmann-Riem, "Anscheinsgefahr" und "Anscheinsverursachung" im Polizeirecht, in: FS für Wacke, S. 327 (330). 272 S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1). 273 Zur Problemstellung s. etwa auch Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 39. 274 S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). 273 Zur zwingenden Verknüpfung von Gesetzmäßigkeit und Tatbestandsmäßigkeit des Verwaltungshandelns s. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 133 ff. sowie unten, insbes. Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1); Teil 3 Β. ΙΠ. 3. b) (2) (a); zur Problematik von Vermutung, Beweislast, Schätzung, Prognose und Typisierung s. unten Teil 1 Ε. Π. 2.; 4.; 5.; 6. 276 S. dazu unten Teil 1 E. I.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Wahrheit und Wahrscheinlichkeit aus. Wer von der Wahrheit überzeugt ist, greift nicht zu ihrer Fiktion. Die Feststellung des Inhalts des gesetzlichen Tatbestandes278 erfolgt im Wege der Auslegung des Gesetzes. Der Rechtsanwender ist dabei nach der Geltungsanordnung des Rechtssatzes, deren Verbindlichkeit Art. 20 III GG gewährleistet, an die Aussage des Gesetzgebers gebunden. Setzte sich der Rechtsanwender über eine bestehende Gesetzesbindung hinweg, indem er nor279 mindernd bzw. - ergänzend oder - einschränkend , d.h. funktional betrachtet 280

rechtsetzend tätig würde , könnte er dies mittels einer Fiktion bei der Feststellung der Gesetzesaussage. Die Fiktion bei der Feststellung des Sachverhalts und bei der des Inhalts der Norm sind methodologisch zu trennen. Sie können aber sachlich zum gleichen Ergebnis fuhren. Die Annahme einer vom Gesetz an das Vorliegen eines bestimmten gesetzlichen Tatbestandsmerkmals geknüpften Rechtsfolge trotz fehlender Subsumierbarkeit des realen Sachverhalts unter dieses Tatbestandsmerkmal kann bei rein methodologischer Betrachtung im Wege der Ausdehnung der Norm oder im Wege der Annahme einer nicht existenten Tatsache erfolgen. Soweit etwa Kelsen 1 annimmt, daß im Rahmen der Rechtsanwendung die juristische Fiktion nur eine fiktive Rechtsbehauptung, nicht aber eine fiktive Tatsachenbehauptung sein könne, bzw. daß die Behauptung einer nicht geltenden generellen Norm das Mittel sei, um zu dem gewünschten Urteil zu gelangen, basiert diese Auffassung auf der Prämisse eines rechtlichen Verbots der Tatsachenfiktion. Sie kann so die Feststellung der formallogischen Struktur der Rechtsfiktion nicht beeinflussen.

277

S. dazu auch unten Teil 4 Α. ΠΙ. 3. a) (2) (a). Vgl. auch Martens (RechtsanWendung und Rechtsetzung durch VerwaltungsVorschriften, in: Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, S. 165 (195 f.)), der die für den Gesetzesvollzug notwendige Aufbereitung der normativen Vorgaben durch den Rechtsanwender die "Ausfüllung der gesetzgeberischen Vorausbestimmung ... durch die Bildung konkreter Rechtssätze und verfeinerter Rechtsbegriffe" nennt. 279 Vgl. auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 54 f. 280 S. zur funktionalen Rechtsetzung des Rechtsanwenders im einzelnen sogleich unten Teil 1 C. ΙΠ. 2. 281 Kelsen, Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (646). 278

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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Im Bereich der Subsumtion könnte sich der Rechtsanwender der Fiktion u.U. derart bedienen, daß er die logische Brücke zwischen festgestelltem Sachverhalt und inhaltlich erfaßter Norm realiter nicht schlägt, sondern die Prüfung der Konformität von Sachverhalt und Norm durch die Fiktion dieser Konformität ersetzt, obwohl sie nach der gesetzlichen Regelungsaussage nicht besteht.282 Ergibt sich die von der Rechtsnorm angeordnete Rechtsfolge unmittelbar als Folge der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes, so gilt für die Möglichkeit des Einsatzes einer Fiktion bei der Rechtsfolgenbestimmung das zur Feststellung des Inhalts des gesetzlichen Tatbestandes Gesagte. Die Rechtsanwendung führt jedoch häufig nicht unmittelbar über die Subsumtion zur Findung einer - gesetzlich vorgesehenen - Rechtsfolge; es bedarf vielmehr der Wertung im Bereich der Rechtsfolgenseite der Norm zur Ausübung eines gesetzlich eingeräumten Ermessens. Die Anwendung einer Fiktion ist auch hier möglich bei der Ermittlung der für die Wertung erforderlichen Tatsachengrundlagen sowie bei der Feststellung des gesetzlichen Ermessenspiel283

raums.

Letzter Schritt der Rechtsanwendung ist der Erlaß einer Entscheidung als Realisierung der ermittelten Rechtsfolge. Auch der Tenor einer Rechtsanwendungsentscheidung, insbesondere die Regelung eines Verwaltungsakts, könnte - ggf. gesetzlich vorgesehen - selbst eine Fiktion enthalten. Eine solche Rechtsanwendungsfiktion wäre der Gesetzesfiktion vergleichbar; freilich 284

beträfe sie nur den jeweils zu regelnden Einzelfall. Bei zunächst rein methodischer Betrachtung käme auch eine Ersetzung einer realen Rechtsanwendungsentscheidung - etwa eines Verwaltungsakts - insgesamt, d.h. hinsichtlich Erlaß und Inhalt, durch ihre Fiktion in Betracht, wobei Fiktions282 S. jedoch zur fehlenden praktischen Relevanz dieser theoretisch denkbaren Fiktionsbildung unten Teil 4 Α. I. 283 Im Rahmen der Ermessensausübung könnte die Exekutive zwei Sachverhalte hinsichtlich ihrer Rechtsfolge gleichstellen oder als ungleich behandeln, ohne hierfür in der geäußerten Entscheidung, etwa einem schriftlichen Verwaltungsakt, eine Begründung zu geben; dabei kann sie sich einer Fiktion bedienen, sofern sie im Bewußtsein der rechtlich relevanten Verschiedenheit bzw. Gleichheit der beiden Fallgestaltungen handelt. Auch diese Fiktionsbildung knüpft rechtslogisch jedoch nicht an das Verhältnis der beiden Sachverhalte zueinander, sondern an das Verhältnis jedes einzelnen Sachverhalts zur Norm an, welche freilich eine Aussage zur Relation der beiden Sachverhalte enthalten kann. 284 Diese Art der Rechtsanwendungsfiktion erlangt primär in Gestalt rückwirkender Verwaltungsakte Bedeutung. S. dazu unten Teil 4 Α. ΙΠ. 4. a).

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

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3

basis das bloße Schweigen einer Behörde sein könnte. Praktische Relevanz könnte dieser Gedanke insbesondere insoweit erlangen, als ein anderer Rechtsanwender - sei es eine dritte Behörde, deren eigene Entscheidung den Erlaß des (dannfingierten) Verwaltungsakts voraussetzt, die Widerspruchsbehörde oder das Gericht - das Vorliegen der behördlichen Entscheidung/des dann fingierten Verwaltungsakts zu prüfen hätte. Aus seiner Sicht ginge es dabei um die Subsumtion des Schweigens unter eine Norm bzw. um die Ausdehnung des Anwendungsbereichs einer Norm auf bloßes behördliches Schweigen. 2. Die Bildung des Prüfungsmaßstabes durch den Rechtsanwender Im Rahmen des dargestellten Subsumtionsmodells ist zu berücksichtigen, daß sich die Rechtsfolge in dem vom Rechtsanwender konkret zu lösenden rechtlichen Konflikt häufig nicht aus einem rein logischen Denkvorgang im Sinne eines gesetzlich vollständig determinierten Syllogismus der Rechtsfol286

genbestimmung, basierend auf einer wertungsfreien Subsumtion, ergibt. Auch Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit wachsen Rechtsentwicklungsaufgaben zu. Sowohl Sachverhalt wie Norm sind vom Rechtsanwender 288

aufzubereiten. Rechtstechnisch betrachtet bedarf der Rechtsanwender dennoch stets eines abstrakten Prüfungsmaßstabs, um an ihm den zu entscheidenden Lebenssachverhalt zu messen. Ist ein solcher dem Gesetz nicht direkt zu entnehmen und bildet ihn der Rechtsanwender selbst, so stellt sich dann,

285

S. dazu auch unten Teil 4 Α. ΙΠ. 5. Vgl. dazu etwa Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 576 ff.; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, insbes. S. 242 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, insbes. S. 78 ff.; Richardi, in: FS für Dietz, S. 269 (280 f.); Ott, Der Rechtspositivismus, S. 200; Schmidt - Aßmann, AöR 116 (1991), 329 (364); ders., in: HdbStR I, 24, Rz. 60; Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 143 f.; Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, S. 361 ff.; Hassemer, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 72 ff.; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 268 f.; ders., VVDStRL 34 (1976), 43 (58 ff.). - Zu einem Überblick über die verschiedenen Ansätze zur methodischen Beschreibung der Rechtsfindung als "Methode der kritischen Prüfung", s. Pernice, aaO., S. 353 ff. m.w.N. 287 Vgl. nur Schulze-Fielitz, aaO., S. 147 ff. m.w.N. 288 S. dazu etwa Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 38 ff., 41 ff., 74. 286

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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wenn er sich dabei einer Fiktion bedient, die Frage, ob es sich um eine Gesetzesfiktion oder um eine Rechtsanwendungsfiktion handelt. Die Problematik, inwieweit eine methodologische bzw. verfassungsadäquate Abgrenzung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung bzw. Rechtsfortbildung möglich, sinnvoll und geboten ist, wird z.T. auf der Basis einer Einordnung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung als integriertes Verfahren der Rechtsfindung gelöst. Soweit die Rechtsfindung als Prozeß arbeitsteiliger Rechtskonkretisierung durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspre290

chung herausgestellt wird , steht dies nicht notwendig einer - systemimmanenten - Differenzierung zwischen Setzung und Anwendung von Gesetzen entgegen. Darüber hinaus wird es als Aufgabe einer schöpferischen Rechtskonkretisierung betrachtet, im Sinne des hermeneutischen Zirkels eine nie abschließend normativ determinierte Verknüpfung zwischen Gesetzestatbe291 ständen und konkreten Einzelfallentscheidungen herzustellen. Die Ge292

genauffassung trennt streng zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung. Ziel vorliegender Untersuchung ist es, die Rechtswirklichkeit auf die (mögliche) Verwendung von Fiktionen hin zu analysieren und die hier feststellbaren Rechtsfiktionen insbesondere nach den Maßstäben der geltenden Rechtsordnung zu bewerten. Die Rechtswirklichkeit wird durch rechtlich erhebliches Handeln faßbar, welches wiederum durch ein Handlungsergebnis bestimmbar ist. Betrachtet man die Kategorie des rechtserheblichen Handlungsergebnisses im Bereich des öffentlichen Rechts unter dem Blickwinkel der Verfassung, so ist an einer formalen Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Rechtsanwendung festzuhalten. Daß Gesetzgebung nicht den ganzen Bereich der Bildung von rechtlichen Maßstäben ausmacht, an denen der 289 S. dazu nur Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 24 ff.; Rhinow, in: Eichenberger u.a. (Hrsg.), Grundfragen der Rechtssetzung, S. 91 ff. 290 S. inbes. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 143 ff. m.w.N. 291 Zu einer hermeneutischen Theorie der Rechtsnorm s. v.a. Müller, Juristische Methodik, etwa S. 121, 169; vgl. zum sog. hermeneutischen Zirkel auch Schroth, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 344 (346, 355 f.); Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 106; zusammenfassend Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 107 m.w.N. 292 Vgl. etwa Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 18 ff., 48 ff., 172 ff., 188 ff., 346 ff.; zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer qualitativen Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung bzw. zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung s. Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 49 ff. m.w.N., insbes. in Fn. 166, 167.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Rechtsanwender den Einzelfall miflt, wird dabei nicht verkannt.293 Gesetzgebung wie eigene Maßstabsbildung durch den Rechtsanwender werden von der Kategorie der - vorliegend als solche bezeichneten - funktionalen Rechtsetzung erfaßt. Primär hat der Rechtsanwender seinen Prüfungsmaßstab durch Auslegung der gesetzlichen Vorgabe zu entnehmen. Bei der Feststellung des Norminhalts unterliegt er der Bindung an das Gesetz (Art. 20 III GG).2" Bediente er sich hier der Fiktion, so handelte es sich um den oben296 behandelten Normalfall einer Rechtsanwendungsfiktion. Der Gesetzgeber selbst kann in der gesetzlichen Regelungsaussage der rechtsanwendenden Verwaltung einen Bereich eigener, gerichtlich nicht überprüfbarer Entscheidung einräumen. Im Rahmen der Wahrnehmung einer 297

solchen Einschätzungsprärogative bzw. eines solchen Beurteilungsspielraums ist die Verwaltungsentscheidung nicht gesetzlich derart vorgezeichnet, daß sie sich ausschließlich aus der Subsumtion unter das Gesetz ergäbe. Vielmehr wird die Verwaltung - funktional betrachtet - zugleich rechtsetzend tätig.298 Sie subsumiert den realen Lebenssachverhalt unter einen (z.T.) selbst gebildeten Maßstab. Als Beispiel sei die Zielkonkretisierung der Verwaltung 293

S. dazu etwa auch Jannasch, in: FS für Zeidler, S. 487 (496). Funktionale Rechtsetzung soll vorliegend als Bestimmung des abstrakten Maßstabes verstanden werden, unter den der konkrete Einzelfall subsumiert wird. Damit ist jedoch nichts über die Form dieser Maßstabsbestimmung gesagt; insbes. bedeutet funktionale Rechtsetzung nicht notwendig zugleich Normativwirkung der genannten Maßstabsbestimmung. - Zur Problematik der Stellung des Richters als Ersatzgesetzgeber s. an dieser Stelle nur Heins, ZRP 1995, 149 f. 293 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 68 f. 296 S. oben Teil 1 C. m. 1. 297 Mit dem Begriff der Einschätzungsprärogative soll vorliegend der gesamte Bereich behördlicher Letztentscheidungsrechte in Abgrenzung zum Ermessen bezeichnet werden. - Die Frage, wann eine administrative Einschätzungsprärogative im einzelnen zu bejahen ist, kann an dieser Stelle offen bleiben. Vgl. dazu etwa - zur jüngeren Diskussion - BVerfGE 80, 257 (265 f.); 83, 130 (148); 84, 34 (53 ff.); 84, 59 (77 ff.); 85, 36 (56 ff.); BVerfG, DVB1. 1993, 485; Schulze-Fielitz, JZ 1993, 771 ff.; Redeker, NVwZ 1992, 305 ff.; Würkner, NVwZ 1992, 309 ff.; Rozek, NVwZ 1992, 343 ff.; Jarass, NJW 1987, 1225 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV Rz. 191 ff.; Schmidt-Eichstaedt, DVB1. 1985, 645 ff; Papier, DÖV 1986,621 ff.; Sendler, in: FS für Ule, S. 337 ff.; s. i.ü. unten Teil 3 Β. m. 6. a) (4) (b) sowie insbes. zur Frage nach dem Bestehen von Entscheidungsprärogativen bei behördlichen Prognoseentscheidungen Teil 4 Α. ΙΠ. 3. a) (1). 298 Vgl. auch Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 715. 294

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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im Rahmen komplexer Verwaltungsentscheidungen genannt.2" Auch soweit hier infolge der Vielgestaltigkeit der - in der von der Verwaltung anzuwendenden Norm geregelten - Sachverhalte die Verknüpfung der Sachverhalte mit 300 der Rechtsnorm teilweise durch Selektion bzw. Reduktion erfolgt, basiert 301

diese Vorgehensweise letztlich auf dem allgemeinen Subsumtionsmodell. Betrachtet man die Zusammenstellung des Abwägungsmaterials im Rahmen planerischer Abwägung, so folgt auf die abstrakt-begriffliche (tatbestandliche) Abgrenzung der abwägungserheblichen Gesichtpunkte302 die Subsumtion von konkret vorliegenden Umständen hierunter. Diese abstrakte Abgrenzung der abwägungserheblichen Gesichtspunkte bedeutet eigene Maßstabsbildung durch den Rechtsanwender. Eine solche hat zwar die gesetzlich vorgegebenen Leitsätze und Leitlinien zu wahren, sie ist aber nicht ausschließlich normativ 304

determiniert . Vielmehr stellt die Informationsgewinnung hinsichtlich der Abwägungsmaterialien einen Auswahlprozeß nach Maßgabe von Kriterien dar, welche die planende Stelle als Zielkonkretisierung im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben selbst setzt. Der Planungsträger wählt auf der Grundlage der Planungsleitsätze die Kriterien aus, zu denen er nach der konkreten Art des Vorhabens eine tatsächliche Untersuchung für notwendig hält. Selektion und Reduktion bedeuten in diesem Sinne eine Entscheidung über die rechtliche Relevanz von Sachverhalten bzw. Sachverhaltsausschnitten, die dem Bereich des Normativen zuzuordnen ist. Der Rechtsanwender hat seine Entscheidung am anzuwendenden Gesetz auszurichten. Soweit ihm das Gesetz jedoch eine eigene Maßstabsbildung in Gestalt einer Entscheidung über die rechtliche Erheblichkeit von Sachverhaltskomponenten eröffnet, betreibt er funktionale Rechtsetzung. Auch dabei handelt es sich jedoch insoweit um Rechtsanwendung, als die Verwaltung nicht eine generelle Geltungsanordnung mit Außenwirkung trifft. 299

S. dazu insbes. Hoppe, in: FG BVerwG, S. 295 (305) m.w.N.; Papier, NJW 1977, 1774 (1775); Sendler, in: FS für Schlichter, S. 55 (71 f.) sowie unten Teil 3 Β. ΠΙ. 3. c)

(1).

300

Hoppe, aaO., S. 298, 303 ff. m.w.N. Anders wohl Hoppe, aaO., S. 306. 302 Vgl. dazu auch Weyreuther, BauR 1977, 293 (301 ff); Hoppe, DVB1. 1977, 136 (138) m.w.N. zur Rspr.; Schmidt-Aßmann, WDStRL 34 (1976), 221 (256). 303 Vgl. auch Hoppe, in: FG BVerwG, S. 295 (305). 304 Insoweit ist Hoppe (aaO., S. 304 ff.) in seiner Kritik an einer Einordnung der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials als reine Norminterpretation mit darauf folgender Subsumtion zu folgen. A.A. etwa BVerwGE 59, 87 (98); BVerwG, DVB1. 1988, 844; Stüer, BayVBl. 1990, 39 (41). 303 Die Vorgehensweise des Rechtsanwenders entspricht der bei der materiellen Typisierung; s. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 6. c) (2). 301

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Bedient sich die Verwaltung bei der Ausfüllung eines Beurteilungsspielraumes einer Fiktion, so kommen als deren Bezugsgröße das Normative wie auch die soziale Realität in Betracht. Die Verwaltung könnte zum einen die für die Wahrnehmung der Einschätzungsprärogative erforderliche Sachverhaltsfeststellung durch eine entsprechende Sachverhaltsfiktion ersetzen. Zum anderen könnte sie die gesetzlich vorgegebenen Grenzen des Beurteilungsspielraums via Fiktion erweitern oder einschränken. Bei der autonomen Maßstabsbildung der Verwaltung selbst könnte man an eine Fiktionsbildung im normativen Bereich darüber hinaus auch in der Weise denken, daß zwei abstrakt formulierte Fallvariationen gleichgestellt würden, obwohl sie sich hinsichtlich ihrer - nach den jeweiligen normativen Vorgaben - relevanten Merkmale nicht decken. Praktische Relevanz kann dies jedoch allenfalls in Gestalt einer fiktiven Formulierung von Verwaltungsvorschriften erlangen. Dabei handelte es sich nicht um eine Gesetzesfiktion. Die für die Beurteilung als Fiktion maßgebliche Realität wären die gesetzlichen Vorgaben der Einschätzungsprärogative, nicht aber eine zusätzliche normative Ebene administrativer Maßstabsbildung. Füllt die Verwaltung einen ihr gesetzlich eingeräumten Bereich eigener Entscheidung durch Verwaltungsvorschriften aus, so stellen diese mangels Allgemeinverbindlichkeit keine materiellen Gesetze und damit keinen Anwendungsraum für Gesetzesfiktionen dar. Kann der Rechtsanwender seinen Entscheidungsmaßstab nicht unmittelbar einer vorhandenen Norm entnehmen, ist er vielmehr zur wertenden Ausfüllung von normativ vorgegebenen Beurteilungsspielräumen verpflichtet, so bedeutet dies Normkonkretisierung durch Bildung von gesetzlich nicht determinierten (Detail-)Maßstäben08 für die Einzelfallentscheidung.309 Geschieht diese funktionale Rechtsetzung via 306

S. zum Zusammenhang von normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift und administrativem Beurteilungsspielraum insbes. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 354 ff.; ders., DVB1. 1992, 1338 ff.; Sendler, UPR 1993, 321 (324); Papier, in: FS für Lukes, S. 159 (162); Wallerath, NWVBL 1989, 153 (155 ff.); Herdegen, AöR 114 (1989), 607 (632 f.) m.w.N.; Jarass, NJW 1987, 153 (155 ff.); Jachmann, Die Verwaltung 1995, 17 (21 ff.). 307 Vgl. nur BVerfGE 78, 214 (227) m.w.N. zur Rspr.; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 73; Tipke, Die Steuerrechtsordnung ΙΠ, S. 1163 ff ; s. auch Lambrecht, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, S. 79 (110 f.). 308 Etwas anders z.B. Gerhardt, NJW 1989, 2233 (2234); zum Begriff der Gesetzes bzw. zur Normkonkretisierung s. auch unten Teil 1 Ε. Π. 6 c) (1) (2). 309 Weitergehend demgegenüber der Begriff der Konkretisierung von Normtexten bei Müller, Juristische Methodik, S. 22, 121; insgesamt kritisch gegenüber dem Instrument der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift Koch, ZUR 1993, 103 ff.

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Verwaltungsvorschrift, 310 so ist dies jedoch nicht gleichbedeutend mit Normativwirkung der Verwaltungsvorschrift. Die Verwaltung schafft eine interne Richtschnur zur Ermöglichung bzw. Erleichterung sowie Vereinheitlichung der auf dieser Grundlage konkret zu treffenden Einzelfallentscheidungen. 31 Soll Normkonkretisierung durch die Verwaltung in rechtmäßiger Weise erfolgen, setzt dies einen entsprechenden gesetzlichen Konkretisierungsraum im Sinne einer Einschätzungsprärogative voraus. Füllt die Verwaltung einen solchen Spielraum durch Verwaltungsvorschriften aus, so handelt es sich bei diesen um Innenrecht, mangels allgemeinen Geltungsausspruchs aber nicht

3,0 Mit Di Fabio (Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 360; DVB1. 1992, 1338 (1344)) kann die normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift als "Normzwischenschicht" bezeichnet werden, mittels derer die Verwaltung das "in großer Münze ausgegebene" Gesetz vollzugsfähig macht. 311 Hill (Jura 1986, 286) beispielsweise qualifiziert Verwaltungsvorschriften demgegenüber als Innenrechtsnormen. - Die Problematik der Normativwirkung von Verwaltungsvorschriften ist nicht identisch mit der Frage der Bindung der Gerichte an - norminterpretierende wie normkonkretisierende - Verwaltungsvorschriften. Grundsätzlich kritisch auch insoweit Lambrecht, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, S. 79 (111 ff.). Martens (Rechtsanwendung und Rechtsetzung durch Verwaltungsvorschriften, in: Tipke (Hrsg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, S. 165 (178 f., 188 f.); s. auch ders., VerwaltungsVorschriften zur Beschränkung der SachVerhaltsermittlung, S. 33 ff.) geht von einer präsumtiven Verbindlichkeit von norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften der Gestalt aus, daß die Gerichte von ihnen nur aus gewichtigem und gutem Grund abweichen dürften. Dem tritt Tipke (Die Steuerrechtsordnung ΙΠ, S. 1170 m.w.N.) mit dem Hinweis entgegen, Richtlinien sollten nicht nach der Autorität des Urhebers gewichtet werden, sondern aufgrund der ihnen inhaltlich zukommenden Überzeugungskraft. Richtigerweise ist die Bindung des Richters nach dem einschlägigen Normenmaterial zu beurteilen, das Richter wie Verwaltung bindet (Art. 20 ΙΠ, 97 I GG). Ähnlich etwa die Rechtsprechung des BVerwG zu Verwaltungsvorschriften über Immissionswerte nach dem BImSchG (BVerwGE 55, 250 (260)) sowie Gusy (DVBL 1987, 497 (500)), der die Bindung der Gerichte an normkonkretisierende Verwaltungs Vorschriften damit begründet, daß die Gerichte an rechtmäßige behördliche Maßnahmen gebunden seien. Basiere die Entscheidung im Einzelfall auf einer Normkonkretisierung, welche durch zulässige Verwaltungsvorschriften vorgenommen sei, so könne das Gericht diese zulässigen Verwaltungsvorschriften nicht beanstanden, weil sie mit dem Gesetz vereinbar seien. Vergleichbar zumindest im Ergebnis auch die Rspr. des BFH, so etwa in NJW 1992, 1646 (1648), wonach Bestimmungen einer AfA-Tabelle von den Steuergerichten insoweit nicht zu beachten sind, als sie im Regelfall zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung fìihren. S. dazu im einzelnen Jachmann, Die Verwaltung 1995, 17 (29 ff.); dies., StuW 1994, 347 (352). 312 Wallerath, NWVB1 1989, 153 (161); Gusy, DVB1. 1987,497 (498).

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

um Rechtsnormen bzw. materielle Gesetze.313 Im Außenverhältnis ist die normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift Ausgeübte Beurteilungsermächtigung".3U Autoritäten, die das Grundgesetz zur allgemeinveibindlichen Festlegung von Rechtsnormen vorsieht, sind neben dem Volk und den von ihm gewählten Vertretern in Bundestag (samt Bundesrat) bzw. den einzelnen Landesparlamenten als Inhaber der gesetzgebenden Gewalt solche Organe der Exekutive, denen von dem Inhaber der gesetzgebenden Gewalt Normsetzungsbefugnisse in einer vom Grundgesetz zugelassenen Weise delegiert worden sind, sowie schließlich Körperschaften des öffentlichen Rechts, denen der Inhaber der gesetzgebenden Gewalt Autonomie eingeräumt hat, welche den Erlaß öffentlich-rechtlicher Satzungen umfaßt. Liegt keine delegierte Verordnungsermächtigung nach Art. 80 I GG vor 316 und besteht auch keine Satzungsautonomie, so ist die Exekutive gem. Art. 20 I I I GG im Außenverhältnis grundsätzlich auf - gesetzesgebundene - Einzelfallentscheidungen beschränkt, die freilich durch Verwaltungsvorschriften vorgeregelt sein können oder - bei Bestehen eines entsprechenden gesetzlichen Konkretisierungsauftrages - vorgeregelt sein müssen . Auch die Bildung norminterpre313

Vgl. auch BVerfGE 78, 214 (227) m.w.N. zur Rspr.; Papier, in: FS für Lukes, S. 159; anders etwa Beckmann, DVB1. 1987, 611 (617); zum Streitstand s. zunächst Guttenberg, JuS 1993,1006 (1007 f.) m.w.N. sowie sogleich im folgenden. 314 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 464 f.; ders., DVB1. 1992, 1338 (1345); Jachmann, Die Verwaltung 1995,17 (20 ff). 313 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 29. 3,6 Vgl. auch Di Fabio, DVB1. 1992, 1338 (1345). 317 Wolf, DÖV 1992, 849 (852, 856). 318 Darüber hinaus wird z.T. die These vertreten, der Gesetzgeber könne im Rahmen einer gesetzlichen Regelung Konkretisierungsspielräume derart festlegen, daß sie die Exekutive durch allgemeinverbindliche Regelungen ausfüllen könne bzw. müsse. Vgl. dazu statt vieler Hill, NVwZ 1989, 401 (406); Beckmann, DVB1. 1987, 611 (617); weitere Nachweise bei Wolf, aaO., 851, Fn. 20. In derartigen Bereichen könnte die Exekutive Gesetzesfiktionen bilden. Vorliegend ist kein Raum zur umfassenden Lösung der Problematik autonomer Normsetzung der Verwaltung über den Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen hinaus. Zu diskutieren wären hier demokratische Legitimation und Gewaltenteilungsgrundsatz, letzterer v.a. im Hinblick auf die Gewährleistung einer funktionsfähigen Normsetzung (vgl. Ossenbühl, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, S. 99). Es sei jedoch daraufhingewiesen, daß die Verwaltung jedenfalls nicht Kraft eigener verfassungsgegebener Kompetenz, insbes. als Folge originärer demokratischer Legitimation, Verwaltungsvorschriften mit Normativwirkung, d.h. genereller Geltungsanordnung und Außenwirkung, erlassen kann. Fraglich kann nur sein, ob die Legislative die Wahrnehmung ihrer Gesetzgebungsbefugnis - eine Gesetzgebungsbefugnis hat das Parlament gerade auch jenseits der Grenzen des Parlamentsvorbehalts - durch den Erlaß formeller Gesetze derart auf die Exekutive delegieren kann, daß diese Verwaltungsvorschriften mit Normativwir-

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tierender wie normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften ist dem Bereich der Rechtsanwendung zuzuordnen. Die Fiktion kann dabei in qualitativ gleicher Weise wie bei der Rechtsanwendung im Einzelfall zum Einsatz kommen. Die Verwaltung kann insbesondere anordnen, daß bei Vorliegen eines Sachverhaltselements (a) auch von dem eines anderen Sachverhaltselements (b) auszugehen ist, obwohl sich a und b - tatsächlich oder in ihren rechtlich relevanten Merkmalen - nicht decken. Der Bereich der Rechtsanwendung scheint auch dort zu enden, wo für einen Lebenssachverhalt eine Rechtsfolge zu bestimmen ist, der deshalb nicht vom Tatbestand einer Norm umfaßt ist, weil eine gesetzliche Regelung überhaupt fehlt, oder weil die vorhandene gesetzliche Regelung lückenhaft ist. Der Rechtsanwender muß wiederum, um zu einer Entscheidung zu gelangen, seinen Prüfungsmaßstab - etwa im Wege der Analogie - selbst bilden, d.h. funktional Rechtsetzung betreiben.3 2 Deren Zweck ist jedoch auch hier nicht kung erlassen kann (vgl. auch Hill, NVwZ 1989, 401 (406)). S. dazu im einzelnen Jachmann, Die Verwaltung 1995,17 (22 ff.). 319 Eine Antinomie von allgemeinverbindlicher normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift und verwaltungsinterner norminterpretierender Verwaltungsvorschrift ist insoweit abzulehnen, als beide der Findung des konkreten hinreichend bestimmten Prüfungsmaßstabs des Rechtsanwenders dienen. Norminterpretation iSv. Auslegung könnte als Unterfall der Normkonkretisierung definiert werden, verstünde man die Normkonkretisierung als Findung des dem Rechtsanwender unmittelbar für seine Subumtion dienenden Prüfungsmaßstabes. Es ist nur ein gradueller, nicht aber ein qualitativer Unterschied, ob diese Maßstabsbildung durch Auslegung des Gesetzes oder ohne entsprechende gesetzliche Determination geschieht. Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 373; Starck, WDStRL 34 (1976), 43 (63); Meyer, Fiktionen im Recht, S. 120 f. im Anschluß an Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 175; Ossenbühl, aaO., S. 100 Fn. 5; s. weiter Albers, in: FS für Simon, S. 519 (540 ff.). Vorliegend soll der Begriff der Normkonkretisierung jedoch nur für die gesetzlich nicht unmittelbar determinierte Maßstabsbildung jenseits der Auslegung verwendet werden. Die normkon-kretisierende Verwaltungsvorschrift bildet jedoch wie die norminterpretierende grundsätzlich eine generelle Richtlinie ohne Außenwirkung als Grundlage der exekutiven Einzelfallentscheidung, der allein Außenwirkung zukommt. Normativwirkung könnte eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift allenfalls in dem in Fn. 318 angedeuteten Rahmen haben. Zu Norminterpretation und Normkonkretisierung s. auch unten Teil 1 E. 6. c) (1). 320 Kritisch gegenüber einer Trennung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung in diesem Bereich dagegen Hill, NVwZ 1989,401 (406). 321 Vgl. dazu auch unten Teil 1 Ε. Π. 4.; 5.; 6. c). 322 Vgl. zum Verständnis der Analogie als Konstruktion eines neuen Rechtssatzes Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 177. Fikentscher (Methoden des Rechts IV, S. 284) nennt die Analogie ganz parallel die Bildung einer neuen Fallnorm. Zur Analogie vgl. i.ü. unten Teil 1 Ε. Π. 1.

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die Festlegung einer generellen Geltungsanordnung mit Außenwirkung, sondern die Entscheidung eines Einzelfalls, wenn die Entscheidung auch etwa als Richterrecht oder wegen ihrer Festlegung in Verwaltungsvorschriften in einer Vielzahl von weiteren Fällen wie eine Norm den abstrakten Tatbestand zur Findung einer Rechtsfolge bildet. Deshalb soll vorliegend auch insoweit 324

von Rechtsanwendung gesprochen werden. Anknüpfungspunkt für die Verwendung einer Fiktion kann auch hier sowohl die Realität des Normativen als auch die soziale Wirklichkeit sein.

323

Richterrecht meint die eigene Bildung des abstrakten Prüfungsmaßstabes durch den Richter selbst sowie die Anwendung dieses Prüfungsmaßstabes auch für weitere Judikate desselben oder auch anderer Gerichte. Vgl. Jachmann, ZBR 1994,1 (8); Maurer, Allg.VerwR, § 4, Rz. 29 m.w.N.; einengend Müller, Juristische Methodik, S. 89 ff.; zur uneinheitlichen Bestimmung des Richterrechts s. nur die Übersicht bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 458 ff ; vgl. weiter Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 145 ff. m.w.N. - Zur praktischen Bedeutung von Richterrecht s. etwa Hilger, in: FS für Larenz, S. 109 ff; Schulze-Fielitz, aaO. - Zum Streit um die Rechtsquelleneigenschaft von Richterrecht s. etwa Redeker, NJW 1972, 409 (411); Bydlinski, JZ 1985, 149 ff.; Olzen, JZ 1985, 155 (158 f.); vgl. auch Fikentscher (aaO., S. 222), der Gewohnheitsrecht als Unterart von Richterrecht versteht, welches er wiederum als aus Fallnormen gebildete Rechtsquelle einordnet. Inwieweit Richterrecht aus rechtstheoretischer bzw. methodologischer Sicht als Rechtsquelle in Betracht kommt, kann vorliegend dahinstehen. - Als Rechtsquellen gleichen Rangs ordnet etwa Richardi (in: FS fìlr Dietz, S. 269 (281)) Gesetzesrecht und Richterrecht ein. Vgl. zur Vielschichtigkeit des Begriffs der Rechtsquelle nur Fikentscher, aaO. S. 323; s. dazu, daß die Einordnung als Rechtsquelle im methodologischen Sinne zu unterscheiden ist von der verfassungsrechtlichen Qualifikation als Rechtsnorm auch Tipke, Die Steuerrechtsordnung ΙΠ, S. 1179 m.w.N. -. Es sei lediglich die grundsätzlich fehlende Gesetzesqualität im (verfassungs-) rechtlichen Sinne festgestellt (s. dazu unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b) (1)). Von diesem Befund ist die weitere Feststellung zu trennen, daß eine etwaige fiktive Bezugnahme auf ein Präjudiz nicht dem Bereich der Lebenssachverhalte zuzuordnen ist, sondern insoweit dem normativen Bereich, als es um die Bildung des Prüfungsmaßstabes durch den Rechtsanwender geht. Dies gilt es im folgenden - sub 3. - zu erläutern. Zum Richterrecht s. weiter unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b) (1). 324 Der Begriff der Rechtsanwendung bezeichnet danach vorliegend die Einzelfallentscheidung durch Exekutive (insbes. Verwaltung) und Gerichte. Diese Einzelfallentscheidung kann auch auf der Grundlage abstrakter Verwaltungsvorschriften erfolgen, welche selbst in Abgrenzung zur Gesetzgebung dem Bereich der Rechtsanwendung zuzuordnen sind.

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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3. Die Fiktion bei der Anwendung von Präjudizien oder Verwaltungsvorschriften Rechtsanwendung durch die Judikative basiert häufig auf einem Rückgriff des aktuell entscheidenden Richters auf Präjudizien, d.h. Entscheidungen, in denen dieselbe Rechtsfrage, über die neuerlich zu befinden ist, von einem Gericht in einem anderen Fall bereits entschieden wurde. Dabei ist nicht die in Rechtskraft erwachsende Entscheidung präjudiziell, sondern nur die in der Urteilsbegründung gegebene Antwort des Gerichts auf eine Rechtsfrage, die sich in dem aktuell zu entscheidenden Fall in gleicher Weise stellt.32 Normative Wirkung im Sinne von Allgemeinverbindlichkeit ist Präjudizien bzw. dem aus ihnen gebildeten Richterrecht mangels entsprechender demokratischer Legitmation des Richters nicht beizumessen. Hierauf wird näher einzugehen sein. Auch soweit eine normative Wirkung von Richterrecht derart in Betracht käme, daß es Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes oder 328

zum Gewohnheitsrecht erstarkt wäre oder daß ein Fall des § 31 ΒVerfGG vorläge, so wäre Grundlage dieser normativen Wirkung gerade nicht die Eigenschaft als Richterrecht. Inhaltlich weisen Präjudizien, insbesondere höchstrichterliche Grundsatzentscheidungen, freilich insoweit eine gewisse Nähe zur Gesetzgebung auf, als sie in abstrakter Weise die rechtliche Seite der Fallentscheidung betonen und so einen abstrakten Maßstab bilden; es handelt 329

sich um Rechtsetzung im dargestellten funktionalen Sinn.

Vorliegend gilt es zu klären, auf welchen Gegenstand sich eine etwaige Fiktionsbildung im Rahmen einerrichterlichen Entscheidungsbegründung bezöge. Der Rückgriff auf ein Präjudiz enthält dann eine Fiktion, wenn die aktuelle Entscheidung vorgibt, sie stünde in Einklang mit dem Präjudiz, während dies jedoch nicht der Fall ist. Formale Bezugsgröße für die Verwen323

Larenz, Methodenlehre, S. 429 ff. S. dazu weiter unten Teil 4 Α. m. 2. b). 327 S. dazu unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b); vgl. auch Bydlinsky, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 501 ff ; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 566. 328 Larenz, Methodenlehre, S. 432 f.; zur Rechtsnatur der Präjudizien s. auch Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 68 f. m.w.N. 329 S. oben 2. 330 Zum fiktiven Rückgriff auf Präjudizien s. für den Bereich des Strafrechts Meurer, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 281 (288 f.) sowie eingehend, ders., Fiktion und Strafurteil, insbes. S. 30 ff. 331 Vgl. Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (96); Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 3 f., 25 f., ("Begründungsfiktionen"); s. dazu unten Teil 4 Α. DI. 2. b). 326

7 Jachmann

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

dung der Fiktion ist hier das Präjudiz. Dieses drückt eine bestimmte Gesetzesauslegung bzw. Gesetzeskonkretisierung oder u.U. auch einen gewohnheitsrechtlichen Rechtssatz bzw. allgemeinen Rechtsgrundsatz aus. Die Abweichung von dem Präjudiz im Rahmen der neuen Entscheidung kann auf einer Mißachtung des Sachverhalts, auf einer anderen Gesetzesauslegung bzw. Gesetzeskonkretisierung oder einem anderen Verständnis eines in dem Präjudiz enthaltenen gewohnheitsrechtlichen Rechtssatzes oder allgemeinen Rechtsgrundsatzes beruhen. Der Grund für die Abweichung von einem Präjudiz kommt freilich, geschieht diese Abweichung auf dem Wege der Fiktion, dabei gerade nicht zum Ausdruck. Beruht die Fiktionsbildung auf einer Mißachtung des realen Sachverhalts, ergeben sich keine Besonderheiten gegenüber der sonstigen Sachverhaltsfiktion. Auch eine Rechtsanwendungsfiktion im normativen Bereich wäre nach den dargestellten Grundsätzen ohne Besonderheiten zu bejahen, würde ein Richter fiktiv die Regelungsaussage eines ausnahmsweise mit Normqualität ausgestatteten Präjudizes modifizieren. Eine Fiktionsbildung bei der Anwendung von Präjudizien kann darüber hinaus aber gerade derart erfolgen, daß der Richter verdeckt (lediglich) von dem in einem Präjudiz formulierten Ergebnis funktionaler richterlicher Rechtsetzung abweicht. Fiktionsgegenstand ist dabei das Vorliegen der Voraussetzungen des in einem Präjudiz formulierten abstrakten Satzes in dem - real hiervon abweichenden - neuerlich zu entscheidenden Fall. Die Fiktionsbildung erfolgt auf der Ebene derrichterlichen Maßstabsbildung. Der neuerlich judizierende Richter stützt seine Entscheidung darauf, daß die im Präjudiz abstrakt formulierten Tatbestandsmerkmale auch vorliegen, wenn die den neuerlich zu entscheidenden Sachverhalt prägenden abstrakten Merkmale gegeben sind, obwohl beide abstrakten Sachverhaltsbeschreibungen sich nicht decken. Die Orientierung am Präjudiz bildet einen Zwischenschritt bei der Feststellung des Prüfungsmaßstabes. Die Fiktionsbildung ist Bestandteil der richterlichen Begründung der Gesetzesauslegung bzw. Gesetzeskonkretisierung. Fiktionsgegenstand ist - abgesehen von den Fällen, in denen ein Präjudiz nach § 31 BVerfGG, als Gewohnheitsrecht oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz nor334

mative Wirkung zeitigt - eine abstrakte Norminterpretation oder Normkonkretisierung in einem früheren Judikat. Der aktuell entscheidende Richter begründet seine Entscheidung damit, daß eine Norm deshalb auf den konkreten Lebenssachverhalt anzuwenden sei, weil dieser die Voraussetzungen eines 332

S. oben 1. Zur kategorialen Unterscheidung von Gewohnheitsrecht und Richterrecht s. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 271. 334 Zur Bindungwirkung von Präjudizien s. eingehend unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b) (1). 333

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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früheren Präjudizes erfülle. Die richterliche Entscheidung basiert zum einen auf der Annahme, daß das ursprüngliche Präjudiz eine rechtmäßige Konkretisierung des Gesetzes darstellt, und zum anderen auf der Fiktion, daß die abstrakten Merkmale des Präjudizes auch den entscheidenden Fall erfassen. Dabei können zwei Fallgruppen unterschieden werden. Zum einen kann das fiktive Abweichen von dem im Präjudiz formulierten Tatbestand zu einem Abweichen von dem durch das Präjudiz konkretisierten Gesetz fuhren. Dann ist von einer fiktiven Modifikation des Gesetzes, d.h. von einer Rechtsanwendungsfiktion im normativen Bereich im dargestellten Sinne auszugehen. Methodisch stellt das Präjudiz einen im Rahmen der Rechtsanwendung aus dem Gesetz abgeleiteten Prüfungsmaßstab dar, den der neuerlich entscheidende Richter sich zu eigen macht. Führt zum anderen die fiktive Abweichung von Präjudiz lediglich zu einer anderen gesetzeskonformen Normkonkretisierung, so wirkt sich der verdeckte unrichtige Rückgriff auf das Präjudiz zum einen als Lücke im Zusammenhang der richterlichen Begründung aus. Allein hierin liegt keine Realitätsabweichung. Eine solche wäre jedoch insoweit begründbar, als das jeweilige Präjudiz selbst Bestandteil der normativen Realität sein könnte. Die historische Existenz eines früheren Richterspruchs bzw. die Herausbildung eines Präjudizes als Richterrecht ist - vergleichbar dem Erlaß einer Norm - zwar Bestandteil der natürlichen Realität. Die Ausrichtung der inhaltlichen Aussage eines Präjudizes auf eine Interpretation bzw. Konkretisierung des Gesetzes spricht jedoch für die Zuordnung einer unzutreffenden Annahme eines Präjudizes zum normativen Bereich. Hierfür ist jedoch zu verlangen, daß dem Präjudiz eine, wenn auch nicht unmittelbar normative, so doch normativ vermittelte Maßgeblichkeit für die neuerliche richterliche Entscheidung zukäme. Eine derartige Maßstabswirkung können Präjudizien insbesondere - ohne an dieser Stelle Einzelheiten zur Bindungswirkung von Präjudizien vorwegnehmen zu wollen3 - durch Vermittlung des verfassungsrechtlichen Postulats der Rechtsanwendungsgleichheit erlangen. Dies rechtfertigt eine Einbeziehung von Präjudizien in die normative Realität, obwohl es sich auch um Produkte der Rechtsanwendung und nicht 333

Im Ansatz ähnlich die Theorie der Fallnorm (vgl. insbes. Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 202 ff, 222; s. auch Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, S. 647 f.). Die Fallnormtheorie fordert insbes. für die Fallnormen, die das Gesetz "weiterbilden", Verbindlichkeit nach Art. 20 ΠΙ GG (Fikentscher, aaO., insbes. S. 325 ff, 336 ff). Zur Ablehnung eines entsprechenden Normverständnisses aus verfassungsrechtlicher Sicht s. unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b), kritisch etwa auch Schroth, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 344 (354 f.). 336 S. dazu unten Teil 4 Α. m. 2. b) (1 ).



Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

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der Gesetzgebung im vorliegend vertretenen verfassungsrechtlichen Sinn handelt. Die fiktive Abweichung des Richters von einem Präjudiz findet ihre methodische Parallele in der fiktiven Abweichung einer Verwaltungsbehörde von einer über Art. 3 I GG Bindungswirkung entfaltenden Ermessensrichtlinie.337 Insoweit gilt das Gesagte entsprechend. 4. Zwischenergebnis Zusammenfassend ist an dieser Stelle festzuhalten, daß für den Einsatz der Rechtsfiktion bei der Rechtsanwendung sowohl das Normative als auch die soziale Wirklichkeit als maßgebliche Realität in Betracht kommen, an die die Fiktionsbildung anknüpft. Unter Ignoration der realen Gegebenheiten wird dabei der Rechtsanwendung ein nicht existenter Lebenssachverhalt oder eine nicht existente Norm bzw. auch ein nicht existenter mittelbar bindender Prüfüngsmaßstab aus dem Bereich der funktionalen Rechtsetzung im Rahmen der Rechtsanwendung zugrundegelegt.

IV. Die Fiktion im Bereich der Rechtsdogmatik Die Rechtsdogmatik kann die Fiktion u.U. dazu benutzen, um Normen, Rechtsgrundsätze oder allgemein rechtliche bzw. rechtsdogmatische Konstruktionen durch Gleichsetzung einer bekannten bzw. dogmatisch durchdrungenen mit einer davon verschiedenen Erscheinung auf letztere zu übertra338

gen. Ebenso kommt eine fiktive Herausnahme bestimmter Konstellationen aus einer - ggf. normativ verankerten - rechtlichen Konstruktion in Betracht, die nach bisherigem und beibehaltenem dogmatischen Verständnis in den Anwendungsraum der betroffenen rechtlichen Konstruktion fielen. Die wissenschaftliche Fiktion dient der Erklärung bzw. Begründung sowie der Fin339

dung normativer Regelungen oder sonstige Rechtsprinzipien. Entsprechend dieser Zwecksetzung kann Maßstab des Irrealen sowohl die soziale Wirklichkeit als auch das Normative sein. Auch soweit die Fiktion dazu dienen soll, eine logische Lücke innerhalb einer dogmatischen Schlußfolgerung zu 337

Zur Ablehnung einer Normativwirkung von Verwaltungsvorschriften s. oben 2. Ähnlich Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigimg des Privatrechts, S. 8; Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 57. 339 S. oben I. 3. 338

C. Der Standort der Rechtsfiktion zwischen Lebenssachverhalt und Norm

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schließen, geht es letztlich stets nur um die Herstellung einer Beziehung von Lebenssachverhalten und Rechtsnormen, so daß auch der Fiktionsgegenstand freilich einer dieser beiden Ebenen entstammt und nicht etwa selbst ein dogmatisches Gedankengebilde darstellt.340 Da es in der Rechtsdogmatik regelmäßig um die Erarbeitung allgemeiner Zusammenhänge bzw. Grundsätze geht, kommt dabei als Fiktionsgegenstand ebenfalls nicht etwa eine konkrete soziale Begebenheit in Betracht, sondern ein abstrakter Ausschnitt aus der 341

sozialen Wirklichkeit. Weiter ist zu beachten, daß die Aussagen der Rechtsdogmatik nicht selbst Geltungsanordnungen sind, sondern die Erläute342

rung bzw. Hinterfragung solcher bezwecken.

V. Der abstrakte Inhalt des Verhältnisses der Rechtsfiktion zur Realität des Tatsächlichen bzw. Normativen Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, daß die Rechtsfiktion aus einer Bezugnahme auf eine nicht reale Größe resultiert, und von welcher Qualität die hierfür maßgebliche Realität sein kann. Im folgenden gilt es das Verhältnis der Rechtsfiktion zur Realität des Tatsächlichen bzw. Normativen zu konkretisieren, d.h. die denkbaren Arten der via Fiktion hergestellten Verbindung von Realem und nicht Existentem aufzuzeigen. Die einer jeden Fiktion innewohnende Bezugnahme von einem vorhandenen realen Bestand auf eine gegenüber diesem irreale Größe kann zum einen 343

in einer Gleichbehandlung von Verschiedenem liegen; dabei wird ausgehend von einem vorhandenen Bestand aus dem Bereich der sozialen Wirklichkeit oder dem Bereich des Normativen ein Schluß gezogen auf eine nicht zu diesem Bestand gehörende Größe. Die Summe der Merkmale, die die mittels der Fiktion einander zugeordneten Fälle unterscheiden bzw. invididualisieren, kann als Spanne bezeichnet werden. 340

344

Der Bezug zum Irrealen kann zum

Es hat insoweit etwas anderes zu gelten wie für die Fiktion bei der Anwendung von Präjudizien oder Verwaltungsvorschriften (s. oben ΙΠ. 3.), welche selbst der normativen Realität zugeordnet werden können. 341 Liegt ein solcher abstrakter Lebenssachverhalt in einem konkreten Einzelfall vor, kann die wissenschaftliche Fiktion der Rechtsanwendung zugute kommen. 342 Der Rechtsdogmatik fehlt insoweit die Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung. Vgl. dazu auch Neumann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 422 (434). 343 Vgl. auch Meyer, Fiktionen im Recht, S. 15,111. 344 So etwa Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 11.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

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343

anderen in einer unterschiedlichen Behandlung von Gleichem bestehen. Hier wird von einem Ausgangsbestand ein Schluß auf dessen Nichtvorliegen gezogen, d.h. quasi auf eine Größe, die ein anderes Vorzeichen hat als der Ausgangsbestand. Maßstab der Gleichheit kann beidemale die soziale Wirklichkeit sein, der der jeweils zu subsumierende soziale Lebenssachverhalt angehört, wie auch das Normative. Gleichbehandlung bzw. Ungleichbehandlung können sich auf Ausschnitte von - nach dem allgemeinen Sprachgebrauch oder nach der jeweiligen normativen Ausgestaltung - einheitlichen Größen beschränken. Im Wege der Fiktionsbildung kann ein Nullum einer tatsächlich oder normativ existenten Größe (z.T.) gleich behandelt werden. Dabei handelt es sich zwar auch um eine Gleichbehandlung von Verschiedenem. Die Besonderheit dieser Konstellation besteht jedoch darin, daß die Fiktionsbasis nicht selbst schon einen positiven, wenn auch gegenüber dem Fiktionsgegenstand andersartigen Bestand darstellt. Die Bezugnahme der Rechtsfiktion auf das Irreale impliziert eine Komponente des Endgültigen. Die Realität steht im Zeitpunkt der Fiktionsbildung als 346

Größe fest. Die Rechtsfiktion nimmt eine Entscheidung über die Behandlung eines in dieser - auch durch ein zeitliches Merkmal bestimmten - Realität nicht enthaltenen Bestands im Sinne einer festen Zuordnung vor.

D. Mögliche Fiktionszwecke Die dargelegte Grundstruktur der Rechtsfiktion bedingt deren mögliche Verwendungszwecke. Im folgenden soll in abstrakter Weise aufgezeigt werden, welchen Zwecken der Einsatz der Rechtsfiktion in ihren verschiedenen Anwendungsbereichen entsprechend deren Struktur bzw. Eigengesetzlichkeit und grundsätzlicher Zielorientierung dienen kann.

343

Vgl. auch Meyer, Fiktionen im Recht, S. 15,111. Diese Aussage steht nicht im Widerspruch zur oben - Β. I. 2. Absatz - dargestellten Wortbedeutung. Auch die dort angesprochene Betrachtung eines dynamischen Vorgangs ex ante bezieht sich auf das Ergebnis der Fiktionsbildung als Gleichstellung von - vor der Entscheidung über die Fiktionsbildung auch formal - Ungleichem. 346

D. Mögliche Fiktionszwecke

103

I. Die möglichen Zwecke des Einsatzes der Rechtsfiktion durch den Gesetzgeber347 348

Bei der folgenden abstrakten Ermittlung der möglichen Zwecke des Einsatzes der Rechtsfiktion durch den Gesetzgeber soll differenziert werden zwischen der Bedeutung der Rechtsfiktion als Element fertiger Normen und ihrer Verwendung bei der Findung solcher Normen im sog. inneren Gesetzgebungsverfahren. Innerhalb des erstgenannten Bereichs ist weiter zu unterscheiden zwischen unmittelbaren, d.h. gesetzeskonstruktiven Zwecken und solchen, die der Gesetzgeber materiell mittels der Konstruktion der Rechtsfiktion verfolgt. 7. Die Fiktion als formales Gestaltungsmittel

der Gesetzgebung

Der Gesetzgeber kann sich der Fiktion als formalem Gestaltungsmittel zur Formulierung gesetzlicher Regelungsaussagen bedienen, d.h. mit ihrem 349

Einsatz unmittelbar gesetzestechnische Zwecke verfolgen. men Definition und Verweisung in Betracht.

Als solche kom-

a) Die Fiktion als Form der Definition Der Gesetzgeber kann sich der Fiktion als Mittel der Beschreibung einzelner Tatbestandsmerkmale, d.h. zum - gesetzeskonstruktiven - Zweck der Begriffsbestimmung bzw. Definition 330 bedienen.331 Insoweit soll vorliegend von einer definitorischen Fiktion gesprochen werden. Definition meint in diesem Zusammenhang Nominal - bzw. Benennungsdefinition. Die Nominaldefinition enthält eine sprachliche Festsetzung;3 sie gibt den Sinn an, den der Definierende, vorliegend der Gesetzgeber, mit einem von ihm verwendeten 347

Vgl. zu einem Überblick über mögliche Zwecke von Gesetzesfiktionen auch Meurer, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 281 (285 ff.). 348 Zu den konkreten Zwecken bestimmter öffentlichrechtlicher Gesetzesfiktionen s. unten Teil 2. 349 Vgl. auch Meyer (Fiktionen im Recht, S. 112, 118 f.), der zwischen technisch und dogmatisch bedingten Fiktionen unterscheidet. 330 Vgl. zur Erforderlichkeit gesetzlicher Definitionen etwa Meyer, aaO., S. 33 ff. 351 Vgl. Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 142; Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 98 ff; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 45. 352 Schneider, Logik fUr Juristen, S. 47; Kindermann, ZG 1987, 43; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 51, 55 f.; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 32 f., 44. 353 Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 61.

104

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Wort verbunden wissen will. Nominaldefinitionen sind von Realdefinitionen bzw. Essentialdefinitionen zu unterscheiden, welche auf Eigenschaften bzw. das Wesen eines seienden Gegenstandes, einer Erscheinung der sozialen 354

Wirklichkeit abstellen.

Gesetze gestalten das gesellschaftliche Zusammenleben, indem sie abstrakte Regeln für bestimmte Lebensbereiche aufstellen. Demgemäß sind sie adressatenbezogen336 und bedürfen der Anwendung, um ihren Zweck, innerhalb der Gemeinschaft der Adressaten Rechtsbeziehungen zu gestalten, erreichen zu können. Das System der Verknüpfung abstrakter Regeln mit konkreten Regelungsobjekten funktioniert jedoch nur, wenn die abstrakte Norm ausreichend erkennen läßt, welche Lebenssachverhalte sie gestalten soll.358 Dies ist unproblematisch, wenn sich die Norm exakt derselben Sprache bedient, in der die Gesellschaft einheitlich auch die vorgesetzlichen Lebenssachverhalte zu beschreiben pflegt, d.h. wenn sich Rechtssprache und allgemeiner Sprachgebrauch decken. Dem allgemeinen Sprachgebrauch ist dabei auch eine nicht juristische Fachsprache zuzuordnen, die sich in einem 354

Schneider, Logik für Juristen, S. 47 ff; Wank, aaO., S. 51, 56 ff.; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 34 ff. - Freilich nimmt die Definition des Gesetzgebers unter den Nominaldefintionen insoweit eine Sonderstellung ein, als der Gesetzgeber auch bei der Definition bestimmten Grenzen rechtsphilosophischer wie verfassungsrechtlicher Natur (s. dazu unten Teil 3, insbes. Α. Π. 2. b); Β. Π.) unterliegt, während sonst Nominaldefinitionen (jenseits der formalen Regeln des Definierens) beliebig sind. S. dazu auch Wank, aaO., S. 65. 333 Vgl. dazu etwa Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 155, sowie schon oben Teil 1 C. Π.; zur Konkretisierung dieser Aussage s. unten Teil 3 Α. Π 1. a). 336 Vgl. Dölle, Vom Stil der Rechtssprache, S. 10, wonach es im Wesen des Rechts liege, daß es jemanden anspreche; zum Adressatenbezug des Rechts s. i.ü. unten Teil 3 Α. Π. 2. b) (3). 337 Vgl. Meyer, Fiktionen im Recht, S. 28 f.; zu den Zwecken des Rechts s. unten Teil 3 Α. Π. 338 Vgl. auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 196; Meyer, aaO. 339 Zum Nebeneinander von Rechts- und allgemeinem Sprachgebrauch vgl. etwa Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 98 ff.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 49 f.; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 99; Meyer, aaO., S. 28; Pfeifer, aaO., S. 196 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 320; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 194 ff.; vgl. zur Bedeutung des allgemeinen Sprachgebrauchs für die Gesetzesauslegung nur Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 19 ff. 360 Zur Funktion der Allgemeinsprache für das Recht s. auch Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 6 ff.; Kaufmann, Über Gerechtigkeit, S. 186 ff.

D. Mögliche Fiktionszwecke

105

bestimmten Bereich der natürlichen bzw. sozialen Realitât herausgebildet hat etwa in der Technik, Pharmazie oder Medizin - und so von den unmittelbaren Adressaten eines Gesetzes gesprochen wird, das diesen Bereich regelt. Eine abstrakte Norm lebt jedoch von der Bildung von Oberbegriffen 362; derartige Zusammenfassungen von Einzelbegriffen des allgemeinen Sprachgebrauchs orientieren sich nicht notwendig daran, ob auch dieser einen entsprechenden Sammelbegriff kennt, sondern an dem von der abstrakten Norm verfolgten Zweck. Es entwickelt sich eine besondere "juristische Kunstsprache"364, die sich am Normzweck ausrichtet und eine präzisere Ausdrucksweise ermöglicht bzw. umständliche Erläuterungen erspart. Die Gesetzesprache bildet so spezifisch rechtliche Begriffe aus, d.h. Hreine M Rechtsbegriffe, zu denen ein Äquivalent im allgemeinen Sprachgebrauch nicht vorhanden ist.363 Daneben verwendet der Gesetzgeber Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs, denen im Rahmen des Gesetzes jedoch nicht dieselbe Bedeutung wie nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zukommt; ihre ursprüngliche Bedeutung wird entsprechend dem Gesetzeszweck modifiziert. Decken sich 361

S. dazu, daß das Recht teilweise die Fachsprache rezipiert, auch Kirchhof, aaO.,

S. 32. 362

Zur Notwendigkeit einer abstrakt-generalisierenden Verwendung der Sprache vgl. auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 196 m.w.N. 363 Aus der Sicht des Gesetzgebers entspricht seiner Befugnis zur sachlichen Regelung die Befugnis zur Sprachregelung. Vgl. dazu auch Kindermann, ZG 1987, 43 (44 f.). - Weitergehend Kaufmann (Analogie und "Natur der Sache", S. 32 unter Berufung auf Radbruch), der davon ausgeht, daß praktisch alle juristischen Begriffe einen spezifisch rechtlichen Sinn zum Ausdruck brächten. 364 Larenz, Methodenlehre, S. 320; vgl. auch Kindermann, aaO., 45. 365 Vgl. auch Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 108; Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 196, 201 f.; sowie Meyer, Fiktionen im Recht, S. 28 ff.), wonach ein vollständiges, ausschließlich rechtliches Begriffssystem an der Abhängigkeit des Gesetzgebers von der in der Rechtsgemeinschaft gesprochenen Sprache scheitern muß. 366 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 199 f.; Kindermann, ZG 1987, 43 (45); Pfeifer, aaO., S. 196, 200; Meyer, aaO., S. 30; vgl. weiter Sax, in: FS für Nottarp, S. 133 (134). - Gerade wirtschaftlich relevante Gesetzgebung, insbesondere die Steuergesetzgebung, ist darauf angewiesen, ihre Terminologie zunächst dem Wirtschaftssprachschatz zu entnehmen. Im Laufe der Zeit bildet sich dann - bei entsprechendem Bedarf nach der jeweiligen ratio legis - aus dem ursprünglich noch unpräzise verwendeten Begriff der Wirtschaftssprache ein Rechtsbegriff heraus, der eine präzise Normierung ermöglicht. S. dazu Flick, in: FS für Franz Klein, S. 329 (332) m.w.N. Vgl. zur Unterscheidung von allgemeinem Sprachgebrauch und Gesetzesbegriff auch das Beispiel des Begriffs der Familie bei Schwab, Familienrecht, § 1, Rz. 2 f.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

allgemeiner Sprachgebrauch und Gesetzesbegriff (z.T.) nicht, muß die Norm zur Aufrechterhaltung der Subsumieibarkeit klarstellen, welche Lebenssachverhalte mit einem bestimmten Normbegriff beschrieben werden sollen. Ein Bedürfnis nach der gesetzlichen Definition von Begriffen der Gesetzessprache erwächst auch daraus, daß der Zweck jeglicher Norm, Lebenssachverhalte zu gestalten, dazu führt, daß der allgemeine Sprachgebrauch originär dieser normativen Gestaltung zuzuordnende bzw. aus ihr entspringende Begriffe aufnimmt, so daß die Grenze zwischen allgemeinem Sprachgebrauch und normativer Begriffsbildung zu verwischen droht. Die Definition des einzelnen Normbegriffs für seine Verwendung in einem bestimmten normativen Zusammenhang wahrt hier die Konformität zwischen der einzelnen gesetzlichen Anordnung und den Lebenssachverhalten, die sie gestalten soll. Dasselbe gilt, wenn unterschiedliche Bedeutungsinhalte eines Begriffes in verschiedenen Rechtsgebieten abzugrenzen sind. Vorliegend ist zu fragen, wie der Gesetzgeber im Rahmen des dargestellten Verhältnisses zwischen allgemeinem Sprachgebrauch und Gesetzessprache das Gestaltungsmittel der Fiktion zum Zwecke der Definition verwenden kann, d.h. es stellt sich die Frage nach dem möglichen Einsatzbereich der definitorischen Fiktion. Larenz meint, mitunter bediene sich das Gesetz einer Fiktion, wo es seinen Zweck ebenso durch eine Definition hätte erreichen können. Beide Wege unterscheidet er danach, daß bei der Definition etwa die Formulierung M veibrauchbare Sachen im Sinne des Gesetzes sind ...M verwendet werde, bei der Fiktion dagegen die Formulierung "als verbrauchbar gelten auch". Wie z.T. auch Esser bei der Bestimmung der von ihm als definitorisch bezeichneten Fiktionen69 stellt auch Larenz auf die fiktive Formulierung mittels des 367

Vgl. beispielsweise zum Verhältnis von Steuerrecht und Zivilrecht statt vieler Flick, in: FS für Franz Klein, S. 329 (332 f.) m.w.N. 368 Larenz, Methodenlehre, S. 263. 369 Vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 98 ff, 101, 121 f. Esser linterscheidet zwei Arten definitorischer Fiktionen, zum einen eine Fiktionsbildung, die sich ohne Verwendung fiktiver Sprachbilder vollziehen könne, nämlich durch die bloße willkürliche Abweichung juristischer Begriffsbildung von der allgemein üblichen - diese Begriffsverschiebung beruhe auf dem Nebeneinander von Rechts- und allgemeinem Sprachgebrauch -, zum anderen eine sprachliche Verwendung der Fiktionsform bei der Definition gesetzlicher Begriffe, bei der in Wahrheit eine Fiktion deshalb nicht vorliege, weil ein äquivalenter Verkehrsbegriff gar nicht bestehe.

D. Mögliche Fiktionszwecke

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Wortes "gilt" ab.370 Dem kann ausgehend von vorliegend vertretenem Ansatz nicht gefolgt werden. Auch für die definitorische Fiktion ist konstitutiv, daß sie einen Bezug zu einer nicht realen Größe aufweist, d.h. eine Gleichsetzung/Ungleichsetzung von materiell Ungleichem/Gleichem ausdrückt. Gerade darin unterscheiden sich definitorische Fiktionen von sonstigen Definitionen. Demgegenüber differenziert etwa auch Meyer 371 zwischen Definition und Fiktion. Definitionen und Fiktionen stimmten zwar in der Gleichbewertung von seinsmäßig Verschiedenem unter einem bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt überein; während jedoch bei den Fiktionen die Verschiedenheit begrifflich zum Ausdruck komme, indem Fiktionen begrifflich Verschiedenes gleichsetzten, lasse sich bei der Definition das seinsmäßig Verschiedene unter einen Begriff fassen, d.h. die Definitionen hielten sich innerhalb des Sinnbereichs der Begriffe. Dieser Definitionsbegriff Meyers ist enger als der vorliegend verwendete. Auch die Fiktion im Sinne Meyers kann der gesetzlichen Begriffsbestimmung dienen. Inwieweit die Überwindung begrifflicher Schranken als konstitutives Merkmal der definitorischen Fiktion anzuerkennen ist, soll im folgenden geklärt werden. Bewirkt die Norm die erforderliche Verbindung zwischen ihrer eigenen Aussage und dem zu gestaltenden Lebenssachverhalt derart, daß sie einen dem allgemeinen Sprachgebrauch fremden "reinen GesetzesbegrifF bildet und beschreibt, welche auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückzuführenden Sachverhaltsgruppen für den Zweck der normativen Gestaltung von diesem Gesetzesbegriff erfaßt werden, handelt es sich um eine Definition eines ausschließlich rechtlichen Begriffs. Der Gesetzgeber braucht dabei - rechtstechnisch betrachtet - auf eine Verwendung dieses Begriffs in der Umgangssprache keine Rücksicht zu nehmen. Eine Komponente des Irrealen kann hier nur daraus erwachsen, daß die Definition des Rechtsbegriffs von einem bereits im selben Gesetz oder in einem anderen Rechtsbereich definierten rein rechtlichen Begriff verdeckt abweicht. Als Maßstab für die von den Topoi Wirklichkeit und Gleichheit ausgehende Feststellung, ob eine definitorische Fiktion vorliegen kann, kommt ausschließlich das Normative in Betracht. Da der rein rechtliche Begriff keine Komponente des allgemeinen Sprachgebrauchs ent370

Ebenso etwa auch Kindermann, ZG 1987,43 (58). Meyer, Fiktionen im Recht, S. 35 ff. 372 Meyer, aaO., S. 40. 373 Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 201 im Anschluß an Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 108. 371

108

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

hält, kann er auch nicht etwas nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Gleiches ungleich behandeln oder umgekehrt. Die Definitionsnorm basiert nicht auf einem Schluß auf etwas - im Bereich der Lebenssachverhalte - nicht Vorhandenes, sondern schafft originär erst einen solchen Bestand, den "reinen GesetzesbegrifF. Die Annahme einer deflatorischen Fiktion scheidet insoweit aus. Demgegenüber kann im Rahmen der Definition eines reinen Rechtsbegrififs etwas im Bereich des Normativen als ungleich Festgelegtes gleich behandelt werden, oder etwas als gleich Festgelegtes ungleich. Maßstab für diese (Un-)Gleichheit kann zunächst das Gesetz sein, in dem auch der neue Rechtsbegriff definiert wird. Ein Gesetz könnte zwei rechtliche Begriffe (A und B) in unterschiedlicher Weise definieren und in einer dritten Norm diese Begriffe A und Β unter bestimmten Voraussetzungen gleichsetzen ("Als Β gilt auch AM); dabei handelte es sich um eine Fiktion. Eine Definition von Β könnte etwa wie folgt lauten: "B im Sinne dieses Gesetzes ist NN. Im übrigen gilt auch A als B." Letztgenannte Gleichstellung bezieht sich insoweit auf Verschiedenes, als sich NN und A nicht decken. Betrachtet man weiter als Ausgangsbasis der Prüfung der Möglichkeit der Definition eines "reinen" Rechtsbegriffs via Fiktion den Gesamtbereich des Normativen, so könnte für eine deflatorische Fiktion dort Raum sein, wo ein Gesetz einen Rechtsbegriff in anderer Bedeutung gebraucht als ein Gesetz aus einem anderen Rechtsbereich. Ein Gesetz 1 könnte etwa den reinen Rechtsbegriff A als "A ist NN" definieren. Ein Gesetz 2 könnte bestimmen "A ist XX", wobei NN und XX Unterschiedliches ausdrücken sollen.3 4 Hier würde jedoch grundsätzlich die für das Vorliegen einer Fiktion konstitutive Bezugnahme der einen Definition auf die andere Begriffsbestimmung fehlen. Etwas anderes wäre anzunehmen, wenn sich im Bereich des Normativen ein allgemeiner Rechtsbegriff - u.U. auch auf der Grundlage einer gesetzlichen Definition - herausgebildet hätte, dem etwa im gesamten öffentlichrechtlichen Normenkomplex oder auch im Zusammenhang einer bestimmten - in verschiedenen Gesetzen geregelten Gesetzesmaterie, dieselbe Bedeutung beigemessen würde; dies zumindest dann, wenn das eine sich klar absetzende herrschende Rechtsmeinung tut. Ein solcher allgemeiner Rechtsbegriff werde als A bezeichnet. Ein Gesetz könnte nunmehr einen Begriff Β beschreiben, der die Voraussetzungen von A nicht erfüllte. Eine definitorische Fiktion mittels eines abweichenden allgemeinen Rechtsbegriffs (A) könnte wie folgt lauten: "A im Sinne dieses Geset-

374

Vgl. dazu Pfeifer, aaO., S. 202. Man könnte hier etwa an die Begriffe Beitrag, juristische Person, Gebietskörperschaft oder Beamter denken. - Vgl. dazu unten Teil 2 G. I. 2. 373

D. Mögliche Fiktionszwecke

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zes ist B", wobei die rechtliche Bedeutung von Β nicht (ganz) in der von A enthalten wäre. Hier würde die der gesetzlichen Regelung vorgegebene Größe A gleichgestellt mit der davon abweichenden B; darin läge der für die Fiktion konstitutive Bezug zum Irrealen. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß die Fiktion dann geeignetes Mittel zur Definition von Begriffen ist, die ausschließlich der Rechtssprache angehören und kein Äquivalent im allgemeinen Sprachgebrauch haben, wenn eine Ungleichbehandlung dieser Begriffe mit an anderer Stelle mit Geltung auch für den gesetzlichen Regelungsbereich, dem die Fiktionsnorm angehört - definierten oder mit allgemein anerkannten Rechtsbegriffen _

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erfolgt. Eine Norm kann die Verbindung zu den von ihr zu regelnden Lebenssachverhalten neben der Bildung besonderer Rechtsbegriffe auch so herstellen, daß

376

Anders demgegenüber der Fiktionsbegriff von Pfeifer (Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 201 ff), der im Anschluß an Esser (Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 101, 107 ff, 121 ff.) grundsätzlich davon ausgeht, daß auch ausschließlich rechtlich gebrauchte Begriffe mit Hilfe einer Fiktion definiert werden könnten. Diese definitorischen Fiktionen seien entweder in der Verkennung ausschließlich rechtlicher Begrifllichkeit oder der (vermeintlichen) Abweichung von einem bereits an anderer Stelle definierten Rechtsbegriff begründet. Im ersteren Fall werde so verfahren, als hätte der gesetzliche Begriff nicht einen ausschließlich von den Vorstellung des Gesetzgebers geprägten Inhalt, sondern müßte auf einen natürlichen außerrechtlich vorgegebenen Begriff und die damit verbundenen Vorstellungen der Gemeinschaft Rücksicht nehmen. Obwohl sich die wirklichkeitsbezogenen Voraussetzungen der ausschließlich juristischen Begriffsbildung nicht zu einem natürlichen Begriff verfestigt hätten, dessen Gebrauch mit einem bestimmten, der gesetzlichen Definition vorgelagerten Begriffsinhalt verknüpft sei, verhalte sich der Gesetzgeber so, als wäre dies der Fall und verwechsle in einem positivistischen Rechtsverständnis das Wesen eines natürlichen Begriffs mit dem eines rein rechtlichen bzw. die sozialen Voraussetzungen mit ihrer rechtlichen Bewertung. Diese Sichtweise entspricht nicht der vorliegend vertretenen Auffassung, wonach konstitutives Merkmal einer jeden Fiktion die Bezugnahme auf das Irreale durch Gleichbehandlung von Verschiedenem oder Ungleichbehandlung von Gleichem ist. Ob eine Norm aber, die das Sprachbild des Als Ob verwendet, - hieraufstellt insbes. auch Esser (aaO., S. 101) ab - tatsächlich fiktiven Charakter hat, ist erst unter den genannten materiellen Gesichtspunkten zu prüfen. Auch Esser deutet freilich die hier vertretene Auffassung an, wenn er darauf hinweist, daß die Umschreibung eines spezifisch rechtlichen Begriffs durch das Sprachbild der Fiktion - "es gilt als" - in Wahrheit keine Fiktion enthalte, sondern nur eine bürokratische Art der definitorischen Umschreibung (aaO.).

110

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

sie einen fest umrissenen377 Begriff des allgemeinen Sprachgebrauchs verwendet, aber speziell für Zwecke des Normativen definiert. Dann decken sich allgemeiner Sprachgebrauch und Gesetzessprache u.U. (z.T.) nicht. Durch die Definition wird festgelegt, was ein Begriff, dem im allgemeinen Sprachgebrauch ein eindeutig bestimmter Bedeutungsgehalt zukommt, speziell im Regelungsbereich eines konkreten Gesetzes bezeichnen soll. Der Gesetzesanwender soll sich keine Gedanken darüber machen, wie der allgemeine Sprachgebrauch den jeweiligen Begriff versteht, sondern ihn ausschließlich als Baustein im Tatbestandsgefuge des positiven Gesetzes verwenden. Dies impliziert die Möglichkeit eines Abweichens der normativen Bedeutung eines solchen Begriffes von der, die ihm der allgemeine Sprachgebrauch zuweist. Letzterer ist jedoch maßgeblich für die Beschreibung der Lebenssachverhalte als Subsumtionsgegenstand. Erfaßt der normative Begriff nach seiner gesetzlichen Definition - ggf. neben dem sprachlich identischen Begriff des allgemeinen Sprachgebrauchs - einen oder mehrere Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs, die er nach seiner Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch nicht einschließt, oder engt umgekehrt die gesetzliche Definition den Bedeutungsgehalt des Begriffs entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch ein, so weist die normative Gleichstellung bzw. Ungleichstellung der nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in ihrer Aussage ungleichen bzw. gleichen Begriffe den Bezug zum Irrealen auf, der für die definitorische Fiktion konstitutiv ist. Die Fiktion dient der Überwindung begrifflicher Grenzen; sie ist Mittel der Definition des Gesetzesbegriffs. 378 Mit Esser kann diese definitori379

sehe Fiktion als Begriffsverschiebung Nach Pfeifer

bezeichnet werden.

dient die Fiktion auch der Präzisierung eines undeutlichen 380

umgangssprachlichen Begriffs. Soll mittels eines inhaltlich schwer zu umreißenden Begriffs des allgemeinen Sprachgebrauchs eine exakte Gesetztesaussage getroffen werden, so muß das Gesetz den Begriff präzisieren. Dies geschieht etwa durch Formulierungen wie "als angemessen gilt", "als geeignet gilt", "Vermögen umfaßt", "erheblich ist" u.ä. Eine Fiktion ist in derartigen Begriffsbestimmungen aber nur enthalten, wenn die dem ungenauen Begriff 377 So auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 198. 378 Abweichend Meyer (Fiktionen im Recht, S. 33 ff), der von einer Definition - in Abgrenzung zur Fiktion - nur dann ausgeht, wenn die gesetzliche Bestimmung die natürlichen Grenzen der Begriffe nicht überschreitet. 379 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 101. 380 Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 199 f.

D. Mögliche Fiktionszwecke

111

des allgemeinen Sprachgebrauchs gesetzlich zugewiesene Bedeutung nicht mehr von dem dem Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch zukommenden Wortsinn umfaßt ist. Nur dann wird Gleiches ungleich behandelt. 381

Ist ein Rechtsbegriff zum Topos des allgemeinen Sprachgebrauchs geworden, so daß ihm nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein bestimmter Bedeutungsgehalt zukommt, und definiert ihn ein Gesetz in Abweichung zu 382

diesem Wortsinn, so stellt sich die Frage, ob trotz der Vermischung der Ebenen von Definitions- und Subsumtionsobjekt eine Gesetzesfiktion als Folge einer Abweichung der Gesetzessprache vom allgemeinen Sprachgebrauch vorliegen kann. Angesichts der Zweckorientierung jeglicher Norm hin auf die von ihr zu gestaltenden Lebenssachverhalte ist dies zu bejahen. Maßstab des Realen ist hier der Lebenssachverhalt, der selbst schon infolge der permanenten Beziehung zwischen Natürlichem und Normativem durch normative Elemente geprägt ist. Der Bezug zum Irrealen besteht in der Abweichung der Norm von der Realität der Lebenssachverhalte, d.h der sozialen Wirklichkeit, als deren Bestandteil auch der im tatsächlichen sozialen Leben bereits eingeführte, aus dem Bereich des Normativen stammende, Begriff zu betrachten ist. Voraussetzung des Vorliegens einer Gesetzesfiktion ist hier jedoch, daß zum einen dem Rechtsbegriff im allgemeinen Sprachgebrauch ein verfestigter u.U. nur durch wenige konstitutive Merkmale umschriebener - sozialer Bedeu383

tungsgehalt zukommt, und daß sich die gesetzliche Definition nicht im Rahmen dieses Bedeutungsgehalts bewegt. Esser begreift die Bildung von Rechtsbegriffen durch Vergegenständli384

chung (Substantivierung) und Personifikation der gemeinten Rechtssätze und Rechtsbeziehungen zu eigenen Rechtswesen wie beispielsweise Hder Vertrag", "die Forderung", "die Ehe" oder "das Eigentum" als Fiktionen, weil ihnen keine wirkliche Erscheinung im Recht entspreche, sie vielmehr von der Phantasie zur Versinnbildlichung der hinter ihnen stehenden Relationen frei

381

Vgl. zu dieser Problematik etwa auch Wieacker, Zeitschr. f. d. gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), 176 (181 f.). 382 Vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 100. 383 Als Beispiele könnten hier etwa folgende auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommene Rechtsbegriffe genannt werden: Vertrag, behördliche Genehmigung, Ehe, Polizei, Gemeinde, u.ä. 384 Zur Personifikation vgl. etwa auch Nass, Person, Persönlichkeit und juristische Person, S. 51.

112

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

geschaffen seien.3" Dem kann nach hiesigem Verständnis insoweit nicht gefolgt werden, als hier keineswegs notwendig ein Bezug zum Irrealen durch eine Gleichstellung von Ungleichem vorliegt. Es kann sich vielmehr auch um originäre juristische Begriffsbildungen handeln - so etwa bei den Begriffen "Forderung" oder "Vertrag". Verwendet ein Gesetz einen Oberbegriff im genannten Sinne, so bezeichnet es damit exakt die von diesem Oberbegriff erfaßten einzelnen Rechtsbeziehungen bzw. Rechtssätze; der Oberbegriff und die von ihm umfaßten Rechtsbeziehungen bzw. Rechtssätze sind deckungsgleich. Die Bildung des Oberbegriffs dient insoweit lediglich der Abstraktion.387 Für die Annahme einer Fiktionsbildung bleibt nur dort Raum, wo der abstrakte Oberbegriff von einem Gesetz in Abweichung von der ihm - nach dem allgemeinen Sprachgebrauch oder nach einem als allgemein anerkannten bzw. anderweitig definierten Rechtsbegriff - zukommenden Bedeutung verwendet wird. Die Frage, ob eine solche verdeckte Abweichung der Gesetzessprache vom allgemeinen Sprachgebrauch vorliegt, kann sich freilich auch dann stellen, wenn die oben genannte Bildung von Rechtsbegriffen durch 388

Vergegenständlichung im Wege der Personifikation

erfolgt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß eine definitorische Gesetzesfiktion zum einen dann vorliegt, wenn im Rahmen der Definition eines reinen Rechtsbegriffs in verdeckter Weise ein allgemein anerkannter oder an anderer Stelle maßgeblich definierter Rechtsbegriff mit einem Begriff oder Tatbestand gleichgesetzt wird, der von dem ihm sonst zukommenden Bedeutungsgehalt nicht umfaßt ist. Zum anderen kann eine definitorische Gesetzesfiktion darin 383

Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 128 ff., insbes. 202. Da es regelmäßig um grundlegende, allgemein im Recht oder zumindest in einem weiten Rechtsbereich geltende Begriffe gehen wird, wären etwaige Fiktionsbildungen im angesprochenen Sinn primär in der Rechtsdogmatik zu erörtern. Ob beispielsweise die juristische Person eine Fiktion darstellt - s. dazu unten Teil 5 Β. I. - ist zunächst eine Frage der Rechtsdogmatik. Wäre diese Frage zu bejahen, so hätte dies aber zur Konsequenz, daß sämtliche Gesetze, welche den Begriff einer spezifizierten juristischen Person verwenden, insoweit Gesetzesfiktionen enthielten. Zur engen Verbindung zwischen dogmatischer und gesetzlicher Fiktionsbildung s. schon oben Teil 1 C. I. 3. 387 Gegen die Annahme einer Fiktion auch Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 f. Zur Verneinung einer Fiktionsbildung kommt im Ergebnis auch Wieacker (Zeitschr. f. d. gesamte Staatswissenschaft 102 (1942), 176 (182 f.)), indem er Begriffe wie Eigentum oder Vertrag als geistige Wirklichkeiten und damit als real betrachtet; zur Problematik der Realität des Normativen s. oben Teil 1 C. Π. 388 Vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 202 unter Bezugnahme auf Vaihinger. 386

D. Mögliche Fiktionszwecke

113

bestehen, daß ein Begriff des allgemeinen Sprachgebrauchs für Zwecke normativer Regelung (z.T.) abweichend von der ihm nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zukommenden Bedeutung definiert wird. Hierzu sind auch die Fälle zu rechnen, in denen ein zum Topos des allgemeinen Sprachgebrauchs gewordener Rechtsbegriff in einem Gesetz abweichend von diesem allgemeinen Sprachgebrauch definiert wird. b) Die Fiktion als verdeckte Verweisung oder Einschränkung Durch die Anordnung, daß die für einen Tatbestand χ getroffene Regelungen auch bei Vorliegen eines Tatbestands y eingreifen sollen, kann sich der Gesetzgeber - neben der Verfolgung anderer Zwecke - insbesondere aufwendige Einzelanordnungen bzgl. des Tatbestandes y ersparen.389 Begründet diese Anordnung die Anwendbarkeit von für den Tatbestand χ normierten Rechtsfolgen auf den Tatbestand y originär bzw. konstitutiv, weil der Tatbestand χ nach seiner gesetzlichen Ausgestaltung den Tatbestand y nicht ohnehin umfaßt, so handelt es sich um eine sog. echte eigentliche bzw. konstitutive 390

Verweisung oder Verweisung im engeren Sinn. Formal kann diese Verweisung zum einen so ausgestaltet sein, daß das Gesetz ausdrücklich anordnet, daß die Rechtsfolgen des Tatbestandes χ auch bei Vorliegen des Tatbestandes y eintreten sollen. Hier wird dieselbe Rechtsfolge an zwei - auch nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung - verschiedene Tatbestände geknüpft. Als Alternative hierzu kann das Gesetz schon die Tatbestände χ und y gleichstellen. Geschieht dies unter Verdeckung der Ungleichheit von χ und y, insbesondere indem das Gesetz den Tatbestand y als Fall des Tatbestands χ 391

beschreibt, so handelt es sich um eine Gesetzesfiktion. Bei beiden Alternativen liegt eine Gleichbehandlung von Ungleichem vor. Nur im letzteren Fall 392

der sog. verdeckten Verweisung 389

handelt es sich aber um eine Gesetzesfik-

Zum ökonomischen Element der Verweisung vgl. etwa Karpen, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 221 (224); Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 114; Schweizer, in: GS für Rödig, S. 66 (67) m.w.N.; zu den Zwecken der Verweisung insgesamt s. Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 11 ff. 390 Zur Abgrenzung dieser Form der Verweisung s. Müller, Handbuch der Gesetzgebungstechnik, S. 169; Herschel, BB 1963, 1220; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 21 ff. 391 Denkbar wäre auch die Formulierung "x steht y gleich". 392 Vgl. z.B. Larenz, Methodenlehre, S. 262; Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 45 f.; Bülow, AcP 62 (1879), 1 (50); zur logischen Austauschbarkeit von Fiktion und Verweisung s. auch Rödig, in: Rödig

8 Jachmann

114

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

tion, deren abstrakten Fiktionsgegenstand ein gesetzlicher Tatbestand oder einzelne Tatbestandsmerkmale bilden.399 Regelt das Gesetz dagegen explizit, daß bei Vorliegen von Tatbestand χ und auch bei Vorliegen von y bestimmte gleiche - Rechtsfolgen eintreten, so fehlt es an einer Komponente des Irrealen; die Norm schafft quasi originär zusätzlich zu dem Ausgangsbestand Tatbestand χ plus Rechtsfolgenanordnung χ - einen weiteren Bestand - Tatbestand y plus Rechtsfolgenanordnung x. Der neue Tatbestand wird iVm. der vorhandenen Rechtsfolgenanordnung, auf die verwiesen wird, zum eigenständigen Bestandteil der Realität des Normativen; eine Fiktion des Ausgangstatbestandes erübrigt sich. Geschieht die (z.T.) identische Rechtsfolgenanordnung für χ und y mittels offener Verweisung auf die Rechtsfolgen von χ in den Fällen von y, so erfolgt der Schluß vom Ausgangstatbestand χ auf den neuen Tatbestand y gerade nicht über den Zwischenschritt der Fiktion des Ausgangstatbestandes x. Die Rechtsfolgenanordnung für Fälle von y wird nicht über deren gesetzlich angeordnete Subsumtion auch unter χ erreicht. Ebenso wie der Gesetzgeber mittels einer Fiktion eine einmal normierte Rechtsfolge (z.T.) auf vom Ausgangstatbestand verschiedene Tatbestände ausdehnen kann, kann er auch via Fiktion eine verdeckte Einschränkung eines Tatbestandes χ erreichen, indem dessen Unterfall, ein Tatbestand y, so ange394

sehen wird, als erfasse ihn der Tatbestand χ nicht. Dies hat zur Folge, daß die Rechtsfolgen des Tatbestandes χ an den Tatbestand y nicht geknüpft sind. Kennzeichnend für das Gestaltungsmittel der Fiktion ist auch hier, daß nicht etwa explizit angeordnet wird, in welchen Fällen des Ausgangstatbestandes dessen Rechtsfolgen nicht eintreten sollen, sondern vielmehr diese "Ausnahmen" als schon vom Ausgangstatbestand nicht erfaßt beschrieben werden. Der für die Fiktion konstitutive Bezug zum Irrealen besteht darin, daß ausgehend von einem vorhandenen Bestand - Tatbestand y als Bestandteil von Tatbestand χ - Schlüsse auf die gegenüber diesem Bestand nicht existente

(Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 592 ff., 610; Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, S. 230 ff ; ders., NJW 1979, 623 (625); allg. zum Verweisungszweck der Gesetzesfiktion s. weiter Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 24 f. sowie die sonstigen Nachweise oben Teil 1 Β. Π. 393 Vgl. etwa Murswiek, Diskussionsbeitrag in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 102; Karpen, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 221 (226). 394 Vgl. z.B. Larenz, Methodenlehre, S. 262; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 142.

D. Mögliche Fiktionszwecke

115

Größe - Nichtvorliegen des Tatbestands y - gezogen werden, d.h. in der Ungleichbehandlung von Gleichem. Als verdeckte Verweisung (bzw. Einschränkung) kann letztlich auch die oben dargestellte definitorische Gesetzesfiktion verstanden werden. Die Rechtsfolgen gesetzlicher Tatbestände werden hier durch die Fiktion bestimmter Tatbestandsmerkmale bei Vorliegen anderer Merkmale (Fiktionsbasis) auf so entstehende neue Tatbestände übertragen. (Parallel hierzu werden durch die Fiktion der fehlenden Zugehörigkeit zu einem Tatbestand Größen von dessen Rechtsfolge ausgenommen, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch oder einer anderen normativen Bestimmung dem Tatbestand angehören würden.) Insoweit kann der unmittelbare Zweck jeglicher Gesetzesfiktion in der Übertragung (bzw. im Ausschluß) von Rechtsfolgen, d.h. in der Verweisung (bzw. 395

in der Einschränkung), gesehen werden. Die definitorische Fiktion bildet bei der Verknüpfung von Ausgangstatbestand und dem Tatbestand, auf den im Ergebnis Rechtsfolgen des Ausgangstatbestandes projiziert werden, den Zwischenschritt, der auch die Verweisung zur verdeckten Verweisung macht. Das Gesetz knüpft bei der Verweisung an den Bestand einer vorhandenen Norm an - bei der deflatorischen Fiktion an ein Tatbestandsmerkmal der Norm, das dem allgemeinen Sprachgebrauch entstammt oder auch in anderer Weise normativ festgelegt ist; basiert hierauf eine Annahme, die im Bewußtsein ihrer Unmöglichkeit gemacht wird, liegt eine Gesetzesfiktion vor. Trotz der dargelegten Möglichkeit der konstruktiven Einordnung auch der definitorischen Fiktion als Verweisung, ist sie jedoch hinsichtlich ihres unmittelbaren Zwecks von der verweisenden Fiktion abzugrenzen. Während die definitorische Fiktion primär auf eine Begriffsbestimmung abzielt, bezweckt die verweisende Fiktion ausschließlich die Rechtsfolgenerstreckung. Freilich ist der Übergang zwischen beiden Kategorien als fließend zu betrachten. Wie weit die in der verweisenden Fiktion angeordnete Gleichbehandlung von Ausgangstatbestand (x) und Fiktionsbasis (y) reichen soll, ist der jeweili397

gen gesetzlichen Fiktionsregelung durch Auslegung zu entnehmen. 393

Die

So z.B. auch Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 26 ff. Vgl. auch Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 7. 397 Vgl. statt vieler Larenz, Methodenlehre, S. 263; Simon/Gräber, DÖV 1971, 725 (726) m.w.N. 396

8'

116

Teil 1: Das Rechtsinstitut der Fiktion 39t

Rechtsfiktion bewirkt nicht zwingend eine Verweisung auf alle Rechtsfolgen eines fingierten Tatbestandes, vielmehr richtet sich die Übertragung einer Rechtsfolge auf die Fiktionsbasis stets nach der jeweiligen gesetzlichen Fiktionsanordnung.399 Insoweit kann von Offenheit der Fiktion gesprochen werden. 400 Entsprechendes gilt für die einschränkende Fiktion. Aus der Einordnung der Gesetzesfiktion als Mittel der Verweisung folgt, daß aus den konkreten Merkmalen der Fiktionsbasis grundsätzlich keine Schlüsse auf die von der Fiktionsregelung bezweckte Rechtsfolgenanordnung zu ziehen sind. Weiter ist festzuhalten, daß auch nicht der Fiktionsgegenstand derart tatsächlich mit der Fiktionsbasis identifiziert werden darf, daß ohne Prüfung des Inhalts der jeweiligen Fiktionsnorm die für den fingierten Tat401

bestand gegebenen Regelungen "kritiklos" werden. 402

398

auf die Fiktionsbasis übertragen

Andererseits ist auch der These nicht zu folgen, wonach eine Gesetzesfiktion schon nach ihrer rechtslogischen Struktur nicht eine Verweisung auf alle an den Fiktionsgegenstand geknüpften Rechtsfolgen sein könne (vgl. etwa Fischer, AcP 117 (1918), 143 (154); kritisch Bernhöft, in: FS für Bekker, S. 240 (258 f.)). Wenn Hölder (Natürliche und juristische Personen, S. 321) davon ausgeht, daß die durch die Fiktion gegebene Gleichstellung verschiedener Dinge stets nur eine partielle, relative sei, da eine solche Gleichstellung eine volle Verneinung der Verschiedenheit bedeute, so spricht hiergegen, daß die Identität von Rechtswirkungen nicht den zwingenden Schluß auf die Identität von deren Ursachen rechtfertigt. Vielmehr kann der Gesetzgeber politische Motive für die totale Gleichbehandlung verschiedener tatsächlicher oder rechtlicher Konstellationen haben. 399 Vgl. mit dieser Tendenz schon Hofacker, Ann. d. Philos. 4 (1924/(25), 475 (477 f.). Auch Hölder (AcP 69 (1886), 201 (231)) geht im Anschluß an Bierling davon aus, daß für die Tragweite jeder Fiktion der Wille des Fingierenden maßgeblich sei. Bernhöft (aaO., S. 245) weist daraufhin, daß nach den gewöhnlichen Auslegungsregeln zu prüfen sei, welche Rechtsfolgen das Gesetz herbeiführen wollte. Je nach dem Umfang der Rechtsfolgen Verweisung differenziert er zwischen unbeschränkten und beschränkten bzw. absoluten und relativen Fiktionen, wobei letztere nur gewisse Rechtswirkungen des fingierten Tatbestandes auf den Tatbestand der Fiktionsbasis übertrügen. 400 Vgl. z.B. Steiner, DVB1. 1970, S. 34 (35) m.w.N. 401 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 31. 402 S. dazu auch Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 48 f.

D. Mögliche Fiktionszwecke

117

2. Mittelbare Zwecke der Verwendung der Gesetzesfiktion Setzt der Gesetzgeber die Gesetzesfiktion konstruktiv als Technik der Definition oder Verweisung ein, so können hinter der Wahl gerade dieses Gestaltungsmittels verschiedene mittelbare Zwecke stehen, die formeller oder materieller Natur sein können. Es kann sich um solche der Gesetzesgestaltung handeln sowie um solche aus dem Bereich der inhaltlichen Regelungsaussage 403

der Fiktionsnorm. Insbesondere im Anschluß an Essers Einteilung der Rechtsfiktionen können in abstrakter Weise insbesondere die folgenden möglichen mittelbaren Zwecke von Gesetzesfiktionen genannt werden. Dabei geht es an dieser Stelle lediglich um eine erste abstrakte Erfassung der möglichen Zweckorientierung von Gesetzesfiktionen. Die hier genannten Zwecke werden anhand konkret festzustellender Gesetzesfiktionen zu verifizieren bzw. zu ergänzen sein. a) Formale mittelbare Zwecke von Gesetzesfiktionen Es wurde festgestellt, daß die Gesetzesfiktion neben der Definitionsfunktion den unmittelbaren Zweck einer Verweisung verfolgen kann, d.h. der Gesetzgeber erspart sich die selbständige Regelung der Rechtsfolgen eines Tatbestandes. Insoweit unterscheidet sich die Gesetzesfiktion nicht von anderen 406

Verweisungsformen. Gegenüber sonstigen Verweisungen hat die Gesetzesfiktion jedoch den Vorzug einer besonderen Kürze, indem sie auch eine Nennung der Vorschriften vermeidet, auf die sie verweist. Wenn etwa schon eine Genehmigungseiteilung fingiert wird, hat dies zwanglos zur Konsequenz, daß die Rechtsfolgen einer realen Genehmigungserteilung auch bei Vorliegen der Voraussetzungen der Fiktionsbasis eingreifen, ohne daß es umfangreicher Einzelverweisungen bedürfte. Formaler mittelbarer Zweck der Fiktion ist hier die Kürze bzw. Knappheit der Gesetzessprache. Die Gleichstellung verschiedener 403

Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 199. S. unten Teil 2. 405 Auch die Rechtsgrundverweisung dient der Regelung der Rechtsfolgen eines Tatbestandes - Zur Verweisung als Instrument zur Realisierung gesetzesökonomischer Zwecke s. schon oben Teil 1 D. I. 1. b). 406 Vgl. etwa Meyer, Fiktionen im Recht, S. 102 f. 407 Vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 37 ff.; Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 25 f.; Lerche, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (90); Meyer, aaO., S. 102 ff ; Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 52 ff, 58. 404

118

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Größen via Fiktion kann zudem eine besonders klare Gesetzessprache mit sich bringen, indem sie die explizite und u.U. komplizierte Formulierung einer Relation der beiden betroffenen Tatbestände (Fiktionsgegenstand und Fiktionsbasis) ersetzt. Durch Eindeutigkeit und Prägnanz der Formulierung der Fiktion eines Tatbestandes können sonst nicht zu vermeidende Zweifelsfragen - insbesondere über den Umfang einer Verweisung - abgeschnitten werden (Fiktionen als Form des Abschneidens von Zweifelsfragen). Die mittels der Fiktion ausgedrückte Gleichstellung bzw. Ungleichstellung kann dem Normadressaten die gesetzliche Regelungsaussage u.U. deutlicher ma40β

chen als eine entsprechende Umschreibung. Die mittels Fiktion vorgenommene Gleichsetzung kann dazu führen, daß der Inhalt der gesetzlichen Regelungsaussage besonders deutlich herausgestellt wird. Die Gesetzesfiktion kann so Mittel zur plastischen Darstellung des Gesetzesinhalts sein, d.h. sie kann der Veranschaulichung dienen (Fiktionen als Mittel plastischer Darstellung des Gesetzesinhalts). Die in der Fiktion liegende Gleichsetzung/Ungleichsetzung kann dabei nicht nur den Inhalt der gesetzlichen Regelunganordnung als solchen besonders deutlich machen, sondern auch die rechtspolitische Absicht des Gesetzgebers, bestimmte ungleiche/gleiche Tatbestände gleich/ ungleich zu bewerten . Die genannten formalen mittelbaren Fiktionszwecke können dahingehend zusammengefaßt werden, daß mittels der Fiktion eine besonders klare, präzise, verständliche Gesetzessprache erreicht werden soll. Daneben kann die Gesetzesfiktion u.U. dazu dienen, die gesetzlich angeordnete Verweisung besonders knapp zu formulieren. 1 Diese formalen mittelbaren Zwecke der Gesetzesfiktion könnten unter dem Stichwort der Zweckmäßigkeit der formalen Gesetzgebungstechnik zusammengefaßt werden. Gemeint ist damit die Verfolgung einer möglichst klaren, knappen, präzisen, verständlichen Aus408

Esser, aaO., S. 45 ff ; Meyer, aaO., S. 104 f.; Mallachow, aaO., S. 58. Esser, aaO., S. 47 ff. 4,0 Meyer, Fiktionen im Recht, S. 105. 411 Esser (Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 37 ff.) spricht hier von der Fiktion als Kurzverweisung, welche unnötige und vielfach auch unmögliche Einzelanordnungen erspare. Gegen die Annahme eines besonderen Vorteils der Fiktion als Kurzverweisung gegenüber anderen Verweisungsformen wendet sich Pfeifer (Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 172). Damit ist jedoch lediglich eine Aussage über den Wert der Gesetzesfiktion als Kurzverweisung getroffen; diese steht nicht der Annahme entgegen, daß die Gesetzesfiktion als Verweisung gerade auch zu dem mittelbaren formellen Zweck eingesetzt werden kann, eine möglichst knappe Formulierung des Gesetzestextes zu erreichen. 409

D. Mögliche Fiktionszwecke

119

drucksweise des Gesetzgebers. Dabei bleibt das Merkmal der Fiktionen als Gegenstand (auch) des Inhalts der gesetzlichen Regelungsaussage außer Betracht; es geht schlicht um die Technik der Abfassung von Gesetzen, die möglichst zweckmäßig im Sinne von "geschickt" oder "zielkonform" erfolgen soll. Mit Lerche könnte man Gesetzesfiktionen, welche die genannten formalen mittelbaren Zwecke verfolgen, als ökonomische Fiktionen bezeichnen.412 Der Begriff der ökonomischen Fiktion wird in der Literatur jedoch meist als Ausdruck einer positiven Beurteilung von Fiktionen verwandt. Esser etwa teilt die Fiktionen im Rahmen seiner Bewertung in zwei Hauptgruppen, wobei er den "ökonomischen" Fiktionen , denen ein praktischer gesetztestechnischer Wert zukomme, diejenigen gegenüberstellt, die als Mittel der geheimen Durchbrechung und Sabotierung unhaltbarer Obersätze dienten und zu verwerfen seien.414 An dieser Stelle soll jedoch noch keine Wertung vorgenommen werden. Essers Begriff der ökonomischen Fiktion drückt mehr aus als die bloße Beschreibung möglicher Zwecke von Gesetzesfiktionen. Deshalb soll vorliegend der Begriff der ökonomischen Fiktion nicht verwendet werden. Auch die Frage der Zweckmäßigkeit einer Fiktionsbildung soll der späteren 416

Bewertung der Gesetzesfiktion vorbehalten bleiben. An dieser Stelle soll es mit der Feststellung sein Bewenden haben, daß die Gesetzesfiktion formale mittelbare Zwecke der dargestellten Art aus dem Bereich der Gesetzestechnik verfolgen kann. b) Materielle mittelbare Zwecke von Gesetzesfiktionen Materiellen Gehalts ist der Einsatz der Gesetzesfiktion in Präsumtionsform. Esser bildet für den Bereich des Zivilrechts eine Gruppe von Fiktionen in Präsumtionsform, welche er einen Gesetzesbehelf bei mangelhafter Parteierklärung nennt.417 Das System rechtsgeschäftlicher Privatautonomie - welchem im Prozeß die Verhandlungs- und Dispositionsmaxime entspreche418 412

Lerche, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (90); zur juristischen Ökonomie s. schon v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 242 ff. 413 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 37 ff. 414 Esser, aaO.,S. 81 ff, 199. 413 Von einem engeren Begriff der ökonomischen Fiktion geht - ähnlich wie Esser auch Meurer aus (vgl. Meurer, Die Fiktion als Gegenstand der Gesetzgebungslehre, in: Rödig, Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 281 (285,287)). 416 S. unten insbes. Teil 3 A. 417 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 50 ff. 418 Esser, aaO.,S. 61.

Teil 1: Das Rechtsinstitut der Fiktion

120

funktioniere nur dann einwandfrei, wenn sich alle Rechtsgenossen korrekt 419

benähmen; es werde gestört bei Säumigkeit oder Nachlässigkeit der gestaltungs- oder mitwirkungsberechtigten Rechtsgenossen. Diese Störung beseitige das Gesetz, indem es für die jeweils zu regelnde Lebensbeziehung selbst durch die Fiktion eine baldige Ordnung schaffe, und zwar in der Weise, daß es die gesetzlich getroffene Ersatzentscheidung als vom Dispositionsberechtigten angeordnet oder vereinbart erkläre.420 Zwar herrschen im öffentlichen Recht nicht Privatautonomie und Dispositionsmaxime vor. Weiter fehlt es jedenfalls im Bereich der Über-Unterordnung an einem Parteienverhältnis im Sinne Essers. 421 Jedoch sind auch im öffentlichen Recht Fallgestaltungen denkbar, in denen ein Beteiligter, insbesondere eine Behörde, zu einem Handeln verpflichtet wäre, dem aber nicht nachkommt. Auch hier kann die gesetzliche Fiktion der Vornahme der gebotenen Handlung einen rechtlichen Konflikt lösen, der sonst bei Ausfall oder verspäteter Vornahme der Handlung entstünde. Vorliegend sollen Gesetzesfiktionen, welche den mittelbaren materiellen Zweck verfolgen, eine rechtlich gebotene Handlung eines an einem Rechtsverhältnis im weitesten Sinne Beteiligten zu ersetzen, weil diese Handlung nicht oder verspätet erfolgt, als Gesetzesfiktionen in Präsumtionsform bezeichnet werden. Auch im öffentlichen Recht können diese zur gesetzlichen Ordnung solcher Lebensbeziehungen dienen, deren Regelung normalerweise der Erklärung eines Rechtsgenossen bedarf, welcher diese Erklärung aber nicht - zeitnah - liefert. Das Gesetz kann hier die gesetzlich getroffene Ersatzentscheidung als von dem zur realen Entscheidung Berech423

tigten bzw. Zuständigen angeordnet erklären.

Materieller mittelbarer Zweck einer Gesetzesfiktion kann weiter die verdeckte Durchbrechung - formal aufrechterhaltener - bestehender Rechtsnormen bzw. Rechtsgrundsätze sein. Esser bildet in diesem Zusammenhang die Gruppe der Fiktionen als Mittel der geheimen Durchbrechung und Sabotierung von Obersätzen. Er unterteilt diese in Anlehnung an die von

419

Esser, aaO., S. 50. Esser, aaO.,S. 51. 421 So auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 180. 422 Damit wird jedoch noch keine Bewertung dieser Fiktionsart vorgenommen. 423 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 50 ff. 424 Esser, aaO., S. 81 ff. 420

D. Mögliche Fiktionszwecke

121

v. Jhering 423 eingeführten Bezeichnungen in "dogmatische" und "historische" Fiktionen4 . Diese Unterscheidung geschieht vor dem Hintergrund, daß die Fiktion einerseits in der Rechtstheorie der scheinbaren Aufrechterhaltung sakrosankter aber unhaltbarer Dogmen und Axiome diene, und andererseits in der Geschichte der Rechtsentwicklung die Fiktion der kasuistischen Fortbildung des positiven Rechts unter formaler Aufrechterhaltung der in Wirklichkeit aufgegebenen und durchbrochenen Grundsätze des bestehenden Rechts gewesen sei.427 Der materielle mittelbare Zweck dieser dogmatischen und historischen Fiktionen ist derselbe: Der Gesetzgeber formuliert an einer Stelle, wo er das Erfordernis einer Ausnahme von einem bestehenden gesetzlichen System sieht, diese Ausnahme und gleicht sie zugleich dem gesetzlichen _

428

System an.

Der Gesetzgeber kann schließlich dann die Gesetzesfiktion wählen, wenn er sich nicht im klaren darüber ist, ob eine zu treffende Regelung gegenüber einem vorhandenen gesetzlichen Begriff oder System eine Ausnahme dar429

stellt. Freilich handelt es sich hier nur insoweit um eine Fiktion, als die dem System in verdeckter Form angeglichene Regelung tatsächlich eine materielle Ausnahme von diesem System darstellt.430 Materieller mittelbarer Zweck der Fiktionsbildung ist hier die Vermeidung einer dogmatischen Durchdringung der zutreffenden rechtlichen Konstruktion.43 c) Übergeordnete Zwecke von Gesetzesfiktionen Von den mittelbaren materiellen Fiktionszwecken ist die jeweilige Zielsetzung bzw. Motivation des Gesetzgebers zu unterscheiden, die letztlich hinter der einzelnen Fiktionsnorm steht. Die genannten unmittelbaren und mit423

V. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 308. 426 S. dazu etwa auch schon Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des "Als-Ob", S. 47 ff. 427 Esser, Wert und Bedeutung von Rechtsfiktionen, S. 81. 428 Vgl. dazu auch Meyer, Fiktionen im Recht, S. 107, 112. 429 Meyer (aaO., S. 109 f.) spricht von Fiktionsbildung aus dogmatischer Ratlosigkeit, wenn die systematische Durchdringung eines Rechtsgebiets noch nicht weit genug fortgeschritten sei. 430 Wie insbes. bei der Vermutung (Teil 1 Ε. Π. 2.) liegt das Merkmal des Bewußtseins der Irrealität der Zuordnung - s. dazu Teil 1 E. I. - dann als dolus eventualis vor. 431 Vgl. dazu auch Meyer, Fiktionen im Recht, S. 109 f.; v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 305.

122

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

telbaren Zwecke der Verwendung der Gesetzesfiktion stellen quasi ein Zwischenziel auf dem Weg der Realisierung dieser übergeordneten Zwecke dar, die der Gesetzgeber mit der Normierung öffentlichrechtlicher Gesetzesfiktionen jeweils verfolgt. Zu denken ist hier insbesondere an die Vereinfachung des Gesetzesvollzugs oder die Verfahrensbeschleunigung. Verfahrensvereinfachung kann etwa durch diefiktive Formulierung von Ausnahmen von solchen gesetzlichen Prinzipien erreicht werden, deren Wahrung das Verwaltungsverfahren schwerfällig macht, Verfahrensbeschleunigung durch Ersetzung eines zu lange dauernden Verwaltungshandelns durch dessen fiktive Annahme. 3. Die Fiktion als materieller Norminhalt Die Verfolgung der oben dargestellten mittelbaren Zwecke materiellen Gehalts durch den Einsatz der Rechtsfiktion bedeutet zugleich die Schaffung zweckkonformer materieller Norminhalte. Die Rechtsfiktion macht insoweit den Inhalt der Regelungsaussage der Fiktionsnorm aus. 432

Betrachtet man § 4 des oben gebildeten Gesetzesbeispiels, so dient die Fiktion dort gesetzestechnisch als Verweisung. Es handelt sich um eine Gesetzesfiktion in Präsumtionsform. Inhaltlich knüpft die Fiktionsnorm Rechtsfolgen an das Fehlen einer rechtserheblichen Willensäußerung, dies aber nicht unmittelbar, sondern über den Zwischenschritt der Annahme einer solchen Willensäußerung. Die Gesetzesfiktion erlangt in derartigen Fällen maßgebliche Bedeutung als Formulierung eines bestimmten Gesetzesinhalts, nämlich des Verzichts auf die rechtliche Willensäußerung. 4. Die Fiktion im inneren Gesetzgebungsverfahren Im inneren Gesetzegebungsverfahren kann die Fiktion unmittelbar der Findung von Tatsachengrundlagen für die gesetzgeberische Entscheidung dienen. Sie kann dem Gesetzgeber die Findung der tatsächlichen Ausgangsdaten einer normativen Regelung und damit die Gesetzgebungsarbeit erleichtern. Dies kann zu einer sachlichen Vereinfachung und damit auch Verkürzung des

432

S. oben Teil 1 C. Π. 1. Speziell im rechtsstaatlich determinierten öffentlichen Recht erscheint diese gesetzlich angeordnete Rechtserheblichkeit eines Nullum von besonderer Relevanz und eine Gruppenbildung insoweit angezeigt. S. dazu insbes. Teil 2 Α. ΙΠ. 433

D. Mögliche Fiktionszwecke

123

Gesetzgebungsverfahrens führen. Als übergeordnete Motivation des Gesetzgebers zur Fiktionsbildung käme danach insbesondere die Ökonomie des Gesetzgebungsverfahrens in Betracht.

II. Die mögliche Zweckorientierung des Einsatzes der Rechtsfiktion bei der Rechtsanwendung 434

In den obigen Ausführungen wurde die Rechtsanwendungsfiktion ausgehend von einer abstrakten Abgrenzung des Bereichs der Rechtsanwendung sowie der vom Rechtsanwender vorzunehmenden Denkschritte betrachtet. Nunmehr soll das Bild der Rechtsanwendungsfiktion weiter komplettiert und insbesondere festgestellt werden, mit welcher Zielorientierung sich der Rechtsanwender der Fiktion bedienen kann. Einleitend sei insoweit auf die Behandlung der Rechtsanwendungsfiktion in der Literatur eingegangen. 7. Das Bild der Rechtsanwendungsfiktion

in der Literatur

Die Literatur befaßt sich mit derrichterlichen Fiktionsbildung. Dabei finden sich jedoch häufig lediglich Feststellungen zur technischen Möglichkeit eines Einsatzes der Rechtsfiktion auch in diesem Bereich,4 kaum aber Aussagen zur Zielorientierung der Rechtsanwendungsfiktion. Detaillierte Überlegungen im Hinblick auf die Zwecksetzung der Rechtsanwendungsfiktion stellt Meurer an, wobei er zwischen der Deutung einer Begründungsfiktion als "heuristisches Prinzip" und als "Fortsetzung der Gesetzesfiktion auf anderer Ebene" unterscheidet.436 Als heuristisches Prinzip bzw. "Diagnoseform" ermögliche die Begründungsfiktion eine "Querprobe" durchrichterliche Entscheidungen, welche Vorinformationen über Entscheidungsprozesse vermittle, die mit herkömmlicher dogmatisch - systematisch rechtspolitischer Analyse nicht so schnell bereitgestellt werden könnten; der genaue Begründungszusammenhang sei freilich nach Gewinnung entsprechender Vorinformationen mit Hilfe der Fiktion in herkömmlicher Betrachtungsweise zu erfassen. Diese Verwendung der Fiktion ergänze insoweit die herkömmliche Betrachtungsweise um ein weiteres Mittel. Demgegenüber

434 433 436 437

S. oben Teil 1 C. I. 2.; m. Vgl. die Nachweise oben sub Teil 1 C. I. 2. Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 57. Meurer, aaO., S. 57,81 f.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

124

seien Fiktionen in Urteilsbegründungen Spiegelbild vollzogener Rechtsan438

wendung ; als Fortsetzung der Gesetzesfiktion auf anderer Ebene und mit anderen Mitteln, könnten sie ihrem Charakter als Verweisung entsprechend als Abbreviatur beschrieben werden, hinter der sich - aus von Fall zu Fall verschiedenen Gründen - nicht für notwendig gehaltene oder erkannte weitere Explikationen versteckten. Die Begründungsfiktion weise auf größere Zusammenhänge hin, aus denen die zugrundeliegenden Vorstellungskomplexe 439 zu konkretisieren seien. Nach Λteurer stellt sich die Begründungsfiktion als 440

Denk- und/oder Formulierungsbehelf dar, als Sprachform auf der Ebene der Urteilsbegründung und als Denkform bei der Rechtsanwendung und Sachver441

haltsgewinnung. Die Fiktion könne dabei einer Beschränkung der richterlichen Entscheidung auf "fallrelevante" Rechtsfragen dienen und sei ein wertvolles Mittel zum Abschneiden von Zweifelsfragen, die im konkret zu 442

entscheidenden Fall keine Bedeutung hätten. Darüber hinaus könne die Fiktion im Interesse einer Präzision der Ausdrucksweise und Exaktheit der 443

verwendeten Begriffe stehen. Weiter erkennt Meurer in der Rechtsanwendungsfiktion ein klassisches Werkzeug heimlicher Rechtsfortbildung, die äußerlich an Rechtssätzen und Vorstellungen festhalte, welche sie im Verborgenen durchbreche. 2. Die Zielorientierung der Rechtsanwendungsfiktion Die bisherigen Untersuchungen zur Rechtsanwendungsfiktion haben ergeben, daß sich der Rechtsanwender ihrer sowohl im Bereich der Sachverhaltsermittlung als auch bei der Findung des im konkreten Fall anzuwendenden Prüfungsmaßstabes bedienen kann. Als Denkmethode des Rechtsanwenders kann die Fiktion sowohl als Ersatz für eine reale Sachverhaltsfeststellung dienen, als auch bei der funktionalen Rechtsetzung zur Modifikation gesetzlicher Tatbestände. Insoweit kann man in Parallele zu obiger Strukturierung der möglichen Zweckorientierung der

438 439 440 441 442 443 444

Meurer, aaO., S. 80. Meurer, aaO.,S. 57, 80. Meurer, aaO.,S. 58, 80. Meurer, aaO., S. 65, 70, 75. Meurer, aaO., S. 58. Meurer, aaO., S. 58. Meurer, aaO., S. 59.

D. Mögliche Fiktionszwecke

125

Gesetzesfiktion - vom unmittelbaren Zweck der Rechtsanwendungsfiktion sprechen. Dient die Rechtsfiktion der Gewinnung des zu subsumierenden sozialen 445

Lebenssachverhalts, so könnte man im Hinblick darauf, daß auch die Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit nur in Begriffen (des allgemeinen Sprachgebrauchs) faßbar sind, den unmittelbaren Zweck der Rechtsfiktion auch hier in einer Verweisung im Sinne der Ausdehnung von Geltungsbereichen nämlich der der Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs - sehen. Hiergegen spricht jedoch, daß anders als die normativen Begriffe die Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs schon a priori nicht zur Disposition des Rechtsanwenders stehen. Er kann zwar - freilich u.U. unberechtigt - Normen gestalten, nicht aber die Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit, die der allgemeine Sprachgebrauch ausdrückt, bzw. denen er selbst zuzurechnen ist. Grund dafür, daß der Rechtsanwender die Ermittlung des realen Sachverhalts (z.T.) ersetzt durch die Fiktion eines Sachverhalts bzw. einer Tatsache (unmittelbarer Zweck der Fiktionsbildung) kann primär die Verkürzung des Subsumtionsvorgangs sein (mittelbarer Zweck), welche wiederum der Verwaltungsvereinfachung bzw. Verfahrensbeschleunigung dient (übergeordneter Zweck). Im Bereich des Normativen kann mittels der Rechtsfiktion eine lückenhafte normative Regelung ergänzt oder die Regelungsaussage einer Norm auf von ihr nicht erfaßte Sachverhalte ausgedehnt werden, für die eine normative Regelung fehlt. Der unmittelbare Zweck der Fiktion besteht hier parallel zur Verweisungsfunktion der Gesetzesfiktion in der Ausdehnung normativer Regelungen. Die hinter dieser unmittelbaren Zweckverfolgung stehende Motivation im Sinne eines mittelbaren Zwecks wird regelmäßig darin bestehen, dem Rechtsanwender trotz fehlender normativer Vorgaben eine Entscheidung zu ermöglichen. Übergeordneter Zweck ist die Rechtsfortbildung. Weiterer unmittelbarer Zweck einer Rechtsanwendungsfiktion kann sein, daß der Rechtsanwender für einen konkreten Fall eine Ausnahme von einer an sich einschlägigen gesetzlichen Regelung macht, d.h. mittels der Fiktion den Regelungsumfang bzw. -inhalt einer Norm einschränkt. Maßgebliche übergeordnete Motivation hierfür kann insbesondere der Ausgleich einer ange443

S. dazu etwa auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 54 f., sowie oben Teil 1 C. ΙΠ. 1. 446 Vgl. Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 17.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

126

nommenen Unangemessenheit der betroffenen Norm sein (mittelbarer Zweck) sowie damit wiederum die Rechtsfortbildung (übergeordneter Zweck). Die Rechtsanwendungsfiktion könnte darüber hinaus u.U. dadurch der Findung einer angemessenen Gesetzesauslegung dienen, daß die Norm - quasi in einer Testphase - auf lediglich gedachte Fälle angewandt wird und aus den Ergebnissen dieser Rechtsanwendung Rückschlüsse auf das Verständnis des 447

Normtatbestandes gezogen werden. Die gedachten Fallbeispiele bilden dabei jedoch nicht die unmittelbare, maßgebliche Grundlage der endgültigen Entscheidung des konkret zu lösenden rechtlichen Konflikts. 448 Damit liegt nach hiesiger Sicht keine Fiktion vor. Es fehlt das Merkmal des Endgülti449

gen.

Soweit die Rechtsanwendungsfiktion der Rechtsfortbildung dient, besteht ihr Spezifikum darin, daß es sich um heimliche Rechtsfortbildung handelt. Oben wurde für die Gesetzesfiktion als Verweisung das konstitutive Merkmal der Verdeckten FormH herausgearbeitet. Begründet wurde dies damit, daß die explizite Anordnung der Geltung der Rechtsfolgen eines Tatbestandes χ auch bei Vorliegen eines Tatbestandes y originär einen neuen selbständigen Bestand schafft. Das fiktive Element liegt demgegenüber gerade in der tatbestandlichen Einbeziehung von y in den Tatbestand x, woraus dann die Erstreckung der Rechtsfolgen von χ auch auf y resultiert. Entsprechendes hat dort zu gelten, wo der Rechtsanwender funktional Rechtsetzung betreibt.41 Der Rechtsanwender erweitert etwa einen gesetzlichen Tatbestand nur dann fiktiv auf Fälle, die vom Wortlaut des Gesetzes nicht mehr gedeckt wären, wenn er eine solche abstrakte Fallgruppe verdeckt unter den Tatbestand faßt, d.h. formal am Wortlaut des Gesetzes festhält, nicht aber, wenn er erklärt, die Grenzen des Gesetzes zu überschreiten. Mißachtet aber der Rechtsanwender nicht einen normativen Tatbestand, sondern einen realen Lebenssachverhalt, so scheidet - wie bereits erwähnt - schon logisch die Möglichkeit aus, daß der Rechtsanwender offen einen neuen Bestand schafft. Die Realität der Lebenssachverhalte ist einer Gestaltung durch den Rechtsanwender schon strukturell unzugänglich. Bezieht sich eine Gleichsetzung/Ungleichsetzung von Unglei447

S. dazu Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 70, insbes. Fn. 39. 448 Zur Hypothese s. unten Teil 1 Ε. Π. 7. 449 S. dazu schon oben Teil 1 C. V. sowie auch unten Teil 1 E. I. 450 S. oben I. l.b). 431 Zur funktionalen Rechtsetzung durch den Rechtsanwender s. oben Teil 1 C. ΙΠ. 2.

D. Mögliche Fiktionszwecke

127

chem/Gleichem auf Elemente der Realität der Lebenssachverhalte, ersetzt also der Rechtsanwender seine reale Sachverhaltsermittlung durch die Fiktion eines Sachverhalts, so kommt danach dem Merkmal der "verdeckten Form" keine Bedeutung zu. Eine Rechtsfiktion ist hier stets dann anzunehmen, wenn der Rechtsanwender seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrundelegt, obwohl er weiß, daß dieser (z.T.) nicht der sozialen Wirklichkeit entspricht. Meurer 32 nennt weiter die Fiktionszwecke der Beschränkung auf fallrelevante Rechtsfragen bzw. des Abschneides von im konkreten Fall nicht relevanten Zweifelsfragen einerseits sowie der Präzision der Ausdrucksweise andererseits. Führt jedoch die Beurteilung der Fallrelevanz bestimmter Rechtsfragen im Vorfeld des Einsatzes der Fiktion zu dem Ergebnis, daß es auf eine Rechtsfrage nicht ankommt, so bedarf es der Fiktionsbildung zur Lösung dieser Rechtsfrage gerade nicht. Soll die Rechtsanwendungsfiktion ein Mittel besonders exakter Ausdrucksweise sein, ist damit nicht ihre Verwendung als Denkmethode angesprochen, sondern als Formulierungsbehelf. Die Formulierung ist jedoch im Bereich der Rechtsanwendung von Exekutive und Judikative lediglich als Abbildung des Denkens des Rechtsanwenders zu betrachten. Prima facie läge es freilich nahe, hier eine Parallele zu ziehen zur Gesetzessprache bzw. den oben dargestellten formellen mittelbaren Zwecken von Gesetzesfiktionen. Hiergegen spricht jedoch, daß die Gesetzesfiktion notwendig in der Fassung eines Gesetzes zum Ausdruck kommt, während es sich bei der Rechtsanwendung um einen Vorgang der Verknüpfung von Lebens434

Sachverhalt und Norm im dargestellten Sinne handelt. Demgegenüber ist die Fassung des Ergebnisses dieses Denkvorgangs in Worte, die Schriftlichkeit der Entscheidung des Rechtsanwenders bzw. die Form der Kundgabe des Ergebnisses der Rechtsanwendung insoweit senkundärer Natur, als das Ergebnis des Denkvorgangs den Inhalt seiner Artikulation bestimmt. Wollte man in der präzisen Ausdrucksweise einen besonderen Zweck der Rechtsanwendungsfiktion sehen, setzte dies voraus, daß die Rechtsanwen-dungsfiktion nicht lediglich als Formulierung des fiktiven Denkens des Rechtsanwenders in dessen Entscheidung zum Ausdruck kommen könnte, sondern auch als bloße Formulierung, welcher keine Verwendung der Fiktion im Rahmen der Feststellung von Sachverhalt oder maßgeblicher Norm zugrunde läge. Dies ist jedoch abzulehnen, da es insoweit an dem für jede Fiktion konstitutiven Bezug 432 433 434

Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 58; s. dazu schon oben 1. Teil 1 D. I. 2. a). S. oben Teil 1 C. m. 1.

128

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

zum Irrealen fehlt; der genannte Bezug resultiert gerade aus dem Einsatz der Fiktion im Rahmen des Denkvorgangs zur Ermittlung von Sachverhalt oder maßgeblicher Norm.

III· Die Zweckorientierung des Einsatzes der Rechtsfiktion in der Rechtsdogmatik In einem unmittelbaren Sinn kann die wissenschaftliche Fiktion der - wenn auch nur formalen - Begründung rechtlicher Konstruktionen433 dienen, insbesondere wenn es um die Erklärung allgemeiner Rechtsfiguren oder die Interpretation, Hinterfragung bzw. auch Ergänzung/Einschränkung einzelner Normen geht. Die Fiktion kann als Bestandteil einer rechtlichen Konstruktion deren formale Schlüssigkeit wahren. Diese formale Sicherung der Schlüssigkeit einer rechtlichen Konstruktion bzw. Lückenlosigkeit einer rechtsdogmatischen Deduktion dient der Aufrechterhaltung, Ausdehnung, Einschränkung oder auch Neubildung des jeweiligen rechtlichen Prinzips, das auf der Konstruktion oder Deduktion beruht. Eine Trennung von unmittelbarer und mittelbarer Zwecksetzung ist dabei jedoch nicht in einer Weise wie bei der Gesetzesfiktion angezeigt. Die Aufrechterhaltung einer Konstruktion oder Deduktion und die Wahrung eines hierauf beruhenden Prinzips sind nicht sinnvoll zu trennen. Beide Aspekte zusammen machen eine rechtstechnische Funktion der wissenschaftlichen Fiktion aus. Diese besteht in der Erklärung, Begründung bzw. Findung von hinter dem positiven Recht stehenden Systemzusammenhängen. Der genannte rechtstechnische Einsatz der wissenschaftlichen Fiktion kann durch übergeordnete Wertungsgesichtspunkte motiviert sein, welche bei abstrakter Betrachtung wiederum rechtsdogmatischer Natur sein können - so etwa die Aufrechterhaltung eines grundsätzlich praktikablen und leicht verständlichen Prinzips -, welche aber auch aus dem Bereich der Rechtsanwendung resultieren können, in deren Dienste die Rechtsdogmatik steht - so beispielsweise Aspekte der Rechtssicherheit -. Zu denken wäre auch an ein v.a. neu entstehendes - rechtspolitisches Bedürfnis nach der Herausnahme bestimmter Fallgestaltungen aus einer rechtlich anerkannten, ggf. auch normativ verankerten rechtlichen Konstruktion, oder nach einer Einbeziehung 433 Der Begriff der rechtlichen Konstruktion soll vorliegend in einem sehr weiten Sinne verstanden werden, d.h. sämtliche juristischen Systembildungen bzw. methodischen Verknüpfungen der Rechtsdogmatik umfassen.

D. Mögliche Fiktionszwecke

129

von an sich sachfremden Konstellationen in eine rechtliche Konstruktion oder ein rechtliches System. Die wissenschaftliche Fiktion kann Mittel der Rechtsfortbildung sein. Sie kann der Wissenschaft - um mit den Worten v. Jherings zu sprechen456 - in deren Jugendperiode als Krücke dienen, mittels derer sie zu einem Zeitpunkt Fortschritte machen kann, zu dem sie diese Aufgabe auf dogmatisch begründetem Wege noch nicht hätte meistern können. Der Einsatz der wissenschaftlichen Fiktion kann - wie bereits angesprochen - Einfluß auf Gesetzgebung und Rechtsanwendung nehmen. Dies gilt jedoch insgesamt für die Rechtsdogmatik und ist nicht als spezieller Zweck der wissenschaftlichen Rechtsfiktion zu betrachten. 459

460

Pfeifer versteht die Gesetzesfiktion als "heuristisches Prinzip"; die Frage nach dem Grund und nach der Rechtfertigung der Verwendung der fiktiven Ausdrucksweise könne einen Beitrag zur Auslegung gesetzlicher Vorschriften und zur Lösung offener Streitfragen leisten. Eine Beurteilung der Gesetzesfiktion als heuristisches Prinzip in diesem Sinne hat bei der Feststellung anzusetzen, daß sich hier zunächst der Gesetzgeber des Gestaltungsmittels der Fiktion bedient. Es handelt sich nicht um einen Einsatz der Rechtsfiktion originär durch den Rechtsanwender in der oben 1 dargestellten Weise. Die Anwendung einer Gesetzesfiktion als "heuristisches Prinzip" im Sinne einer Frage nach Grund und Zweckmäßigkeit der Fiktion46 bedeutet Interpretation der jeweiligen Fiktionsnorm. Dabei handelt es sich um ein Ele-

436 V. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 305. 437 S. oben Teil 1 C. I. 3. 458 Die Zwecksetzung der wissenschaftlichen Rechtsfiktion deckt sich insoweit partiell mit der Fiktion bei der Rechtsanwendung, als sie der Findung des im jeweiligen Fall anzuwendenden Prüfungsmaßstabes dienen kann. Pfeifer (Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 57) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß den sog. "Fiktionstheorien" mit den Begründungsfiktionen der Rechtsanwendung gemeinsam sei, daß es sich um Fiktionen zum oder über das Gesetz handle, denen der imperative Charakter der Norm fehle. 439 Pfeifer, aaO., S. 166, im Anschluß an Meurer (Fiktion und Strafurteil, S. 81), der daraufhinweist, daß die Begründungsfiktion als heuristisches Prinzip auf der Stufe der analysierenden Betrachtung von Judikaten Verwendung finden könne und eine Querprobe durch Entscheidungsbegründungen erlaube. 460 Vgl. dazu auch Kant, oben Fn. 10. 461 S. oben Teil 1 C. m. 462 Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 166.

9 Jachmann

130

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion 463

ment der Anwendung der jeweiligen Fiktionsnorm , nicht aber um eine besondere Methode der Rechtsanwendung oder Rechtsdogmatik, im Rahmen derer die Fiktion zum Einsatz käme. Dieser bloßen Anwendung der gesetzlichen Fiktionsregel kommt bei der Systematisierung des Einsatzes der Rechtsfiktion insoweit keine eigenständige Bedeutung zu, als der Rechtsanwender auf eine schon vorhandende Fiktion trifft und nicht selbst zweckgerichtet eine solche bildet. Die Hinterfragung einer Gesetzesfiktion im Interesse ihrer zutreffenden Auslegung, die Suche nach einer Erklärung bzw. Begründung einer Fiktionsnorm ist nun aber dem Bereich der Rechtsdogmatik zuzuordnen. Gerade hinsichtlich der Norminterpretation kann die Rechtsdogmatik der Rechtsanwendung dienen. Ein Unterschied der dogmatischen Hinterfragung einer Fiktionsnorm und der wissenschaftlichen Fiktion im dargelegten Sinn kann zwar der Intention nach darin bestehen, daß die wissenschaftliche Fiktion von demjenigen, der eine Begründung für ein - prima facie - nicht fiktiv ausgestaltetes vorhandenes Rechtsprinzip sucht, als Denkmodell zur Überbrückung einer rechtsdogmatischen bzw. rechtstechnischen Lücke eingesetzt wird, während die Auslegung einer - als solche erkannten - Fiktionsnorm die Folgen der fiktiven Gleichstellung/Ungleichstellung aufklären soll. Die Interpretation einer Norm mit dem Ziel der Feststellung, ob es sich um eine Fiktionsnorm handelt, kann jedoch gerade über die Erkenntnis zu einem positiven Ergebnis führen, daß eine gesetzlich angeordnete Gleichstellung nur durch eine Fiktion begründbar ist. Insoweit decken sich dogmatische Hinterfragung einer Fiktionsnorm und Einsatz der wissenschaftlichen Fiktion zur Erklärung einer normativ verankerten rechtlichen Konstruktion. Danach kann die Verwendung der Fiktion als "heuristisches Prinzip" dem Bereich der wissenschaftlichen Fiktion zugeordnet werden. Eine besondere Zwecksetzung der wissenschaftlichen Rechtsfiktion ergibt sich insoweit jedoch nicht. Als formales Begründungselement im Rahmen dogmatischer Zusammenhänge dient die wissenschaftliche Fiktion unmittelbar dazu, Lücken in einem dogmatischen Gefüge zu schließen bzw. Ungereimtheiten zu überbrücken. Sie liefert selbst jedoch keine sachliche Begründung, sondern zeigt vielmehr die Grenzen der materiellen dogmatischen Begründbarkeit einer - fiktiv vorgenommenen - rechtstechnischen Verknüpfung auf. Materiell bedeutet eine fiktive dogmatische Verknüpfung eine Ausnahme von dem durch sie formal gewahrten Prinzip. Eine Rechtfertigung für den Einsatz einer wissenschaft-

463

Zum Rechtsanwendungsprozeß s. oben Teil 1 C. ΙΠ. 1.

£. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

131

liehen Rechtsfiktion bzw. eine Begründung für die ihr entsprechende Ausnahme kann u.U. aus einer übergeordneten Zwecksetzung abzuleiten sein.

E. Die Definition der Rechtsfiktion und ihre Abgrenzung von anderen Rechtsinstituten Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen zur methodologischen Struktur der Rechtsfiktion sowie zu den möglichen Zwecken ihres Einsatzes soll im folgenden der Begriff der Fiktion definiert und die Fiktion von verwandten Rechtsinstituten abgegrenzt werden.

L Die Definition der Rechtsfiktion Die Rechtsfiktion behandelt - beurteilt am Maßstab der sozialen Wirklichkeit oder am Maßstab der Realität des Normativen - etwas nicht Reales als real, indem sie an einen in der sozialen Wirklichkeit oder in einer Norm vorhandenen Bestand - Sachverhaltsausschnitt bzw. Begriff oder Tatbestand (-smerkmal) - anknüpft und in diesem Bestand vorhandene Umstände (Wortbedeutung oder Rechtsfolgen) entweder einer im Verhältnis zu dem Bestand nicht realen, d.h. in diesem Bestand nicht existenten, Größe zuordnet oder die genannten Umstände aus dem Bestand ausklammert. Im Bereich der funktionalen Rechtsetzung - formelle wie materielle Gesetzgebung, Normkonkretisierung im Sinne einer Findung von gesetzlich nicht determinierten (Detail-)Maßstäben durch den Rechtsanwender sowie sonstige Bildung von abstrakten Prüfungsmaßstäben durch den Rechtsanwender für die Einzelfallentscheidung - werden dabei Ausgangsbestand (Fiktionsgegenstand) und Bezugsgröße (Fiktionsbasis) nicht unmittelbar ausdrücklich, sondern verdeckt gleichgestellt bzw. wird (bei der einschränkenden Fiktion) der Ausgangsbestand nicht originär begrenzt, sondern in verdeckter Form. Formallogisch stellt die Fiktionsbildung ein Schlußverfahren dar,464 das jedoch inhaltlich bzw. materiell gerade nicht auf einer logischen Kohärenz der Prämissen basiert. Wird die Fiktion gebildet, erfolgt der Schluß vom Fiktionsgegenstand auf die Fiktionsbasis. Letztere wird ihrer Bezeichnung jedoch gerecht, wenn die gebildete Fiktion als fertiger Satz gelesen bzw. angewandt wird. Ausgehend von der Feststellung des Vorliegens der Fiktionsbasis gestat464

Zum GedankengefÜge des Schlusses s. nur Strombach, Die Gesetze unseres Denkens, S. 82.

*

132

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

tet hier die Regelungsaussage der Fiktion bzw. die in der Fiktion enthaltende Annahme den Schluß auf das Vorliegen des Fiktionsgegenstandes. Materiell besteht das Verhältnis von Fiktionsgegenstand und Fiktionsbasis in einer irrealen Zuordnung. Die Fiktionsbasis kann als gegenüber dem Ausgangsbestand Ungleiches oder Verschiedenes beschrieben werden; der Topos des Ungleichen bzw. Verschiedenen umfaßt dabei sowohl die Ungleichheit zweier existenter Größen als auch die Ungleichheit von einem positiven Bestand und einem Nullum. Die Fiktion hat zur Folge, daß mit der Ausgangsgröße verbundene Umstände auch bei Vorliegen der Bezugsgröße zum Tragen kommen, obwohl beide Größen sich (z.T.) nicht decken, oder, daß diese Umstände (bei der einschränkenden Fiktion) nicht zur Wirkung kommen, obwohl die beiden Größen (partiell) deckungsgleich sind. Das Wesen der Rechtsfiktion besteht danach darin, daß sie die - ggf. partiell - fehlende (bei der einschränkenden Fiktion vorhandene) Deckungsgleichheit eines Fiktionsgegenstandes (Ausgangsgröße) und einer Fiktionsbasis (Bezugsgröße) durch die - endgültige46 - Anordnung oder Annahme der (Teil-) Identität (bei der einschränkenden Fiktion der fehlenden (Teil-) Identität) beider für Zwecke einer bestimmten rechtlichen Behandlung ersetzt. Diese Anordnung oder Annahme führt zur (teilweisen) Geltung (Nicht-Geltung) der an die fingierte Größe, den sog. Fiktionsgegenstand, gekoppelten Rechtsfolgen (Fiktionswirkung). Die Denk- und Gestaltungsmethode der Rechtsfiktion kann nur einsetzen, wer die ihre logische Struktur bestimmenden Topoi im jeweiligen Anwendungsfall erkennt466, d.h. die Gleichheit/Ungleichheit von Ausgangsbestand und Bezugsgröße kennt und die in der Fiktion liegende Bezugnahme von Fiktionsgegenstand auf die Fiktionsbasis bewußt46 vornimmt. Abstrahiert man 463

Vgl. auch Peschau, Die Beweislast im Verwaltungsrecht, S. 63. Anders der Ansatz etwa von Holtzdendorff (Rechtslexikon, S. 830), der die Kenntnis der Fiktion als Voraussetzung ihres Erlaubtseins fomuliert: "Erlaubt ist der Gebrauch von Fiktionen überall, wo ..., sofern sie nur gleichzeitig als Fiktion erkannt und nötigenfalls auch ausdrücklich als solche bezeichnet wird." 467 Ähnlich Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 53. Gegen das Bewußtsein der Fiktivität als Fiktionsmerkmal wenden sich etwa Esser (Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, S. 200) und Meurer (Fiktion und Strafurteil, S. 25, m.w.N.). Soweit damit lediglich ausgedrückt werden soll, daß eine Denkform bleibe, was sie sei, gleichgültig, was der darüber denke, der in ihr denke so Meurer, aaO., m.w.N. in Fn. 100 -, steht dies dem hier geforderten Wissen um Gleichheit bzw. Ungleichheit nicht entgegen. 466

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

133

von den möglichen Einsatzbereichen und -zwecken der Rechtsfiktion, so besteht ihr Wesen in der Annahme eines Satzes im Bewußtsein seiner Unmöglichkeit. Das genannte Bewußtsein ist Voraussetzung des Gebrauchs der Fiktion als logisches Hilfsmittel. Dieses strukturelle Erscheinungsbild der Fiktion liegt grundsätzlich auch der Variante der Gesetzesfiktion zugrunde. Sollen Gesetze auf ihre Eigenschaft als Gesetzesfiktion hin analysiert werden, so ist der gesetzgeberische Wille469 ggf. im Rahmen der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen. Da die Gesetzesfiktion als Bestandteil des Gesetzes Geltung erlangt, kann auch die Feststellung des Vorliegens einer Gesetzesfiktion nur nach den Grundsätzen erfolgen, die allgemein für die Bestimmung des Inhalts von Willensäußerungen in diesem Medium gelten. Auch für die Einordnung einer Norm als Gesetzesfiktion ist der Wille des Gesetzgebers nur insoweit von Bedeutung, als er in der jeweiligen gesetzlichen Regelungsaussage verbindlich geäußert wurde.41 Damit sollen weder überholte begriffsjuristische Ansätze472 wiederaufgegriffen werden, noch soll von vorneherein sonst eine Entscheidung für oder gegen eine subjektive oder objektive Auslegungstheorie getroffen werden4 3. Es geht vielmehr darum, die Definition der Gesetzesfiktion in die allgemeine Korrespondenz von Normsetzung und rechtsanwendender Norminterpretation einzubinden. Für die Einordnung einer Norm als Gesetzesfiktion ist danach der - durch Auslegung festzustellende - Inhalt der jeweiligen gesetzlichen Regelungaussage maßgeblich. Die Gesetzesauslegung ist - ohne daß 468

Bzgl. des Vorliegens dieses Bewußtseins als dolus eventualis s. unten zur gesetzlichen Vermutung sub Teil 1 Ε. Π. 2. a) sowie zur Rechtsanwendungsfiktion sub Teil 4 Α. I. 469 S. zur Problematik der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens auch Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 53. 470 Zu den anerkannten Grundsätzen der Gesetzesauslegung s. nur Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 163 ff. m.w.N.; Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 85 ff.; Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), S. 30 (134 ff.) m.w.N.; Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 628 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung DI, S. 1239 ff. - Vorliegend ist kein Raum, um auf die Problemstellung näher einzugehen, inwieweit die herkömmliche Auslegungsmethodik als sog. "Methodensynkretismus" zu kritisieren ist. Vgl. dazu nur Engisch, aaO., Fn. 80 m.w.N. 471 Vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (130); 33, 265 (294). - S. dazu, daß der Wille des Gesetzgebers nur insoweit berücksichtigt werden kann, als er im Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat, etwa auch - bezogen auf das Steuerrecht - Flick, in: FS für Klein, S. 329 (333). 472 Vgl. nur Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 146 m.w.N. 473 Vgl. insoweit zu einem knappen Überblick über den Streitstand nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 88 ff; Tipke, Die Steuerrechtsordnung ΙΠ, S. 1241 ff.

134

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

vorliegend ein umfassendes System der maßgeblichen Auslegungskriterien zu entwickeln wäre - jedenfalls nicht ausschließlich an den subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers zu orientieren. Maßgeblich hat primär der Wortsinn einer Norm zu sein. Erst wenn Wortsinn und Bedeutungszusammenhang des Gesetzes Raum für verschiedene Auslegungen lassen, ist - soweit feststellbar auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers abzustellen.473 Die Qualifikation einer Norm als Gesetzesfiktion setzt danach weder notwendig eine positive Feststellung des Bewußtseins des historischen Gesetzgebers voraus, eine normative Zuordnung entgegen maßgeblicher natürlicher oder normativer Vorgaben vorzunehmen, noch entfällt eine Einordnung als Gesetzesfiktion zwingend bei Fehlen eines solchen Bewußtseins. Eine bestimmte Art der Formulierung ist nicht konstitutiv für die Rechtsfiktion, insbesondere die Gesetzesfiktion.476 Die Gleichsetzung/Ungleichsetzung des Ungleichen/Gleichen muß nur erkennbar zum Ausdruck kommen,477 sei es in einer - auszulegenden - gesetzlichen Regelung oder in einer begrifflichen Fassung einer Rechtsanwendungsentscheidung. Einer bestimmten sprachlichen Form kann auch kein zuverlässiger Indizwert für das Vorliegen einer Rechtsfiktion zugesprochen werden. So kann beispielsweise die Wendung "gilt alsM zwar auf der Tatbestandsseite einer Norm eine Fiktion ausdrücken, ebenso aber auch sprachlicher Ausdruck für eine nicht fiktive 479

Definition oder Verweisung sein.

474

490

Sie ist nicht der Fiktion vorbehalten.

S. dazu nur Larenz, Methodenlehre, S. 343; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 182. 473 Larenz, aaO., S. 344; Koch/Rüßmann, aaO. 476 So etwa auch Bernhöfl, in: FS für Bekker, S. 240 (282 f.). Munzer, Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 15; a.A. Thalmann, Bilder in der Sprache der Rechtswissenschaft, dargestellt an den Lehren über das Verhältnis von Recht und Staat, S. 30. 477 Meyer, Fiktionen im Recht, S. 53, 59. 478 Meyer, aaO.,S. 53, 57. 479 So könnte beispielsweise eine - nicht fiktive - Legaldefinition in einem Tierschutzgesetz wie folgt lauten: "Als Tiere gelten auch zu Versuchszwecken gezüchtete Mäuse." oder "Eier gelten nicht als Tiere." - Das Wort "gilt" kann im Rahmen einer offenen Verweisung in der Bezugnahme auf die in einer anderen Norm ausgedrückten Rechtsfolge originär einen neuen Bestand schaffen. R1 sei die Rechtsfolge von Tl. Eine offene Verweisung auf R1 im Falle von T2 würde wie folgt lauten: "Liegt T2 vor, so ist R1 anzuwenden", oder auch "R1 gilt auch bei Vorliegen von T2". 480 Vgl. auch Meyer, Fiktionen im Recht, S. 54, 56.

. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

135

Auch Formulierungen wie "ist anzusehen wie", "wie wenn", "als ob"4*1 u.ä. garantieren nicht, daß die mittels dieser Wendungen gleichgestellten Größen tatsächlich ungleich sind. Andererseits kann eine Fiktion etwa auch als direkte Gleichstellung mittels der Wendung "ist" oder "sind" formuliert werden. Läßt danach also die sprachliche Fassung eines Rechtssatzes keinen sicheren Schluß darauf zu, daß er eine Fiktion enthält, so kann doch unter den möglichen sprachlichen Formen, in denen Gesetzesfiktionen ausgedrückt werden können, zwischen solchen unterschieden werden, die nach ihrer Wortbedeutung ein Element des Irrealen umfassen bzw. auf eine Zuordnung in Abweichung von der Realität der Lebenssachverhalte oder einem sonst maßgeblichen normativen Begriff oder System hinweisen, und solchen, die insoweit neutral sind, wie insbesondere "ist" bzw. "sind" oder "steht gleich". Formulierungen der erstgenannten Gruppe lassen nach ihrer sprachlichen Fassung das Vorliegen einer Fiktion vermuten. Beschreiben sie im Einzelfall tatsächlich eine Gesetzesfiktion, so soll vorliegend von einer formal offenen 492

Fiktion gesprochen werden. Da sich sprachliche Ausdrücke, die ein Element des Irrealen enthalten, besonders gut zur Formulierung von Gesetzesfiktionen davon ausgegangen werden, daß die Fiktion in eignen, kann mit Bernhöft der Regel schon durch die Fassung des Gesetzes als solche hervortritt. Von solchen formal offenen Fiktionen kann eine Kategorie sog. versteckter Fiktionen unterschieden werden, deren sprachliche Fassung keinen Hinweis auf ein Merkmal des Fiktiven gibt. Die Abgrenzung von der formal offenen Fiktion soll vorliegend mit dem Begriff der formal versteckten Fiktion zum Ausdruck gebracht werden.4*4 Anders als Formulierungen wie "gilt als", "ist auch anzunehmen, wenn", "wird angesehen als" läßt die sprachliche Fassung einer formal versteckten Fiktion nicht schon nach ihrem Wortsinn erkennen, daß die gleichgestellten Größen tatsächlich nicht gleich sind, sondern (ggf. in be485

stimmter Hinsicht) lediglich als gleich anzusehen sind.

481 Zur Verknüpfung dieses Bindeworts mit der Fiktion s. etwa Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichwort als ob, m.w.N. 482 Vgl. Meyer , der - in abweichender Terminologie - "die offene Fiktion" als solche versteht, die auf den fiktiven Charakter der mittels ihrer getroffenen Aussage hinweist. 483 Bernhöft, in: FS für Bekker, S. 240 (282). 484 Meyer, Fiktionen im Recht, S. 60 f.; zur versteckten Rechtsfiktion vgl. auch schon Mallachow, Rechtserkenntnistheorie und Fiktionslehre, in: Bausteine zu einer Philosophie des wAls-ObM, S. 57 f.; Bernhöft, aaO., 282 ff. 483 Wird eine Fiktion etwa im Prädikat der Fiktionsnorm mit der Formulierung ausgedrückt, daß T1 gleich T2 ist, oder daß jemand, der schweigt, eine bestimmte Erklä-

136

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Jenseits der Differenzierung zwischen Gesetzesfiktionen, die in ihrer sprachlichen Fassung bzw. ihrem Wortsinn einen Hinweis auf ein fiktives Element enthalten, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, kann mit den Begriffen der offenen bzw. versteckten Fiktion die unmittelbare bzw. mittelbare Unmöglichkeit der in der Gesetzesfiktion enthaltenen Annahme beschrieben werden. Maßgebliches Differenzierungskriterium ist dabei, ob sich die Realitätsabweichung der Fiktion, d.h. die Unmöglichkeit der mit ihr verbundenen Ausnahme, allein aus der Fiktionsnorm selbst ergibt (unmittelbare Unmöglichkeit), oder ob es zur Begründung der Realitätsabweichung/Unmöglichkeit der Annahme eines Rückgriffs auf außerhalb der Fiktionsnorm selbst stehende gesetzliche Regelungen oder rechtliche Grundsätze bedarf (mittelbare Unmöglichkeit).486 Ginge man davon aus, daß an einen Tatbestand T1 eine Rechtsfolge R1 geknüpft sei und RI via Fiktion auf einen Tatbestand T2 erstreckt werden solle, so könnte ein Fall der mittelbaren Unmöglichkeit der in dieser Zuordnung zum Ausdruck kommenden Annahme wie folgt gestaltet sein: ,fAls Fall von T1 ist im Hinblick auf R1 auch T2 zu betrachten". Die Unmöglichkeit der hierin liegenden Annahme ergibt sich aus weiteren Normen oder Rechtsgrundsätzen, wonach R1 für T1 gilt, und T1 andere Tatbestandsmerkmale hat als T2, d.h. T1 und T2 ungleichartige Tatbestände sind.4 Demgegenüber stellt sich unmittelbare Unmöglichkeit etwa so dar: MT2 gilt als Τ Γ . Die Ungleichheit der Tatbestandsmerkmale von T1 und T2 ergibt sich dabei schon aus der Fiktionsnorm selbst. Dies ist dann der Fall, wenn die Tatbestandsmerkmale von T1 und T2 sich aus der Bedeutung der von der Fiktionsnorm verwendeten Begriffe nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ergeben bzw. ihre Relation (auch) eine Abweichung von der Realität der Lebenssachverhalte darstellt, so insbesondere die fiktive Definition im Wege der Begriffsverschiebung 4 oder die Fiktion in Präsumtionsform. 4

rung abgibt -, so fehlt es an einem sprachlichen Hinweis auf das mögliche Vorliegen einer Fiktion. 486 Vgl. insbes. Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 71 ff. m.w.N.; Munzer, Ober Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 7 f., 14. 487 Vgl. auch Meurer, aaO., S. 73. 488 S. dazu § 3 des sub Teil 1 C. Π. 1. gebildeten Beispiels sowie Teil 1 D. I. 1. a). 489 S. dazu § 4 des sub Teil 1 C. Π. 1. gebildeten Beispiels sowie Teil 1 D. I. 2. b). Die Fiktion in Präsumtionsform soll zwar nach ihrer Intention die für den Fall eines realen Handelns vorgesehenen Rechtsfolgen auch an ein Schweigen knüpfen, d.h. das normative Prinzip der Verbindung von realem Handeln und Rechtsfolge durchbrechen. Dies geschieht jedoch durch die Gleichstellung von realem Handeln und Schweigen als schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ungleichen Größen. Die Gesetzesformulierung "Die Genehmigung gilt mit Ablauf von zwei Wochen als erteilt" enthält

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

137

Eine Gesetzesfiktion in Präsumtionsform nach dem Muster "Die Genehmigung gilt mit Fristablauf als erteilt" / "Die Erklärung gilt mit Fristablauf als abgegeben" stellt sowohl eine offene wie eine formal offene Gesetzesfiktion dar. Allgemein steht die offene Fiktion der formal offenen Fiktion insofern nahe, als die unmittelbare Unmöglichkeit schon daraus resultiert, "daß offen490

sichtlich Ungleiches gleichgesetzt wird." Methodisch betrachtet ist diese Offensichtlichkeit jedoch Folge der als unmittelbare Unmöglichkeit beschriebenen inhaltlichen Gesetzesgestaltung, nicht jedoch der sprachlichen Formulierung der Fiktionsnorm. Die Qualifizierung einer Fiktion als offen geht nicht notwendig einher mit der Qualifizierung als auch formal offen und umgekehrt. Das dargestellte Erscheinungsbild der Rechtsfiktion kann in folgender De491

finition zusammengefaßt werden, die der weiteren Erörterung zugrundegelegt werden soll: Rechtsfiktion ist das Ergebnis der endgültigen Bezugnahme von einem vorhandenen Bestand auf eine in diesem Bestand nicht existente/existente Größe durch die gewollte Gleichsetzung eines als ungleich Gewußten bzw. die gewollte Ungleichsetzung/Differenzierung eines als gleich Gewußten - bei der funktionalen Rechtsetzung allerdings in verdeckter Form. Bei der offenen Gesetzesfiktion ergibt sich das Merkmal des Fiktiven, d.h. die Unmöglichkeit der der Norm zugrundeliegenden Annahme bzw. die Ungleichheit/Gleichheit des gleich/ungleich Gestellten allein aus der Fiktionsnorm selbst. Die formal offene Gesetzesfiktion ist dadurch gekennzeichnet, daß sie schon nach ihrer sprachlichen Formulierung, d.h. der Wortbedeutung der verwendeten Begriffe nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, ein Element des Irrealen enthält.

insoweit schon bei isolierter Betrachtung eine Abweichung von der Realität der Lebenssachverhalte. 490 Meurer, Fiktion und Strafurteil, S. 73, 77. Stets bleibt aber zu beachten, daß nach vorliegend vertretenem Verständnis nur die verdeckte Gleichsetzung/Ungleichsetzung eine Gesetzesfiktion darstellt; schafft dagegen das Gesetz - insbesondere im Wege der offenen Verweisung - einen neuen Bestand, so kann daraus alleine wegen der Unmöglichkeit der dem zugrundeliegenden Annahme, d.h. einem Widerspruch im Gesetz zwischen dem neu geschaffenen Bestand und einem bereits vorhandenen, nicht auf das Vorliegen einer Gesetzesfiktion geschlossen werden. 491 Ähnlich Larenz, Methodenlehre, S. 262; Bülow, AcP 32 (1879), 1 (50); Meyer, Fiktionen im Recht, S. 15.

138

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Von der konstruktiven Struktur der Rechtsfiktion sind die Zwecke zu unterscheiden, denen ihr jeweiliger Einsatz dient. V.a. bei der Gesetzesfiktion ist zwischen unmittelbaren, mittelbaren und übergeordneten Zwecken zu differenzieren. Durch die Verfolgung materieller mittelbarer Zwecke wird die 493

Gesetzesfiktion zugleich zum materiellen Norminhalt.

II. Die Abgrenzung der Rechtsfiktion von anderen Rechtsinstituten Im Folgenden soll die Rechtsfiktion von anderen Rechtsinstituten abgegrenzt werden, die ihr prima facie deshalb verwandt erscheinen, weil auch sie einen gewissen Bezug zum Irrealen im Sinne eines Schlusses von einem vorhandenen Bestand auf etwas nicht Existentes aufweisen. Zu denken ist insoweit an die Analogie, die Vermutung, das konkludente Handeln bzw. die stillschweigende Erklärung, die Beweislastentscheidung bei non liquet, die Schätzung und die Prognose, die Typisierung bzw. Pauschalierung, die Hypothese sowie die gesetzliche Auslegungsregel. 1. Die Analogie Von der Analogie ist die Rechtsfiktion sowohl im Bereich der Rechtsanwendung/Rechtsdogmatik als auch dem der Gesetzgebung zu unterscheiden. a) Die Analogiebildung bei der Rechtsanwendung Als dogmatische Methode, derer sich der Rechtanwender zur Findung des 494

im zu entscheidenden Fall anzuwendenden Prüfungsmaßstabes bedient, bedeutet Analogie die Übertragung einer im Gesetz gegebenen Regelung auf von ihr nicht erfaßte, aber ihrem Regelungsgegenstand ähnliche Sachverhalte.

492

495

S. oben Teil 1 D. I. 1.;2.;Π. 2. S. oben Teil I D . I. 3. 494 Zu einem weitergehenden Verständnis der Analogie im Sinne einer rechtstheoretischen Grundlage s. Sigloch, Die Analogie als rechtstheoretischer Grundbegriff, insbes. S. 69 ff; vgl. allgemein den detaillierten Überblick über die juristischen Lehren zum Analogieverfahren bei Langhein, Das Prinzip der Analogie als juristische Methode, S. 33 ff. m.w.N. 493 Vgl. Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 174; Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, § 4 ΠΙ 2, S. 112; Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 284. 493

. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

139

Sie dient der Ausfüllung von Gesetzeslücken496 durch die Gleichbehandlung 497

491

von - gemessen an einem tertium comparationis - Gleichartigem. Dabei kann der Anwendungsbereich einer Einzelregelung ausgedehnt werden (sog. Gesetzes- oder Einzelanalogie) oder ein aus mehreren gesetzlichen Bestimmungen entnommener Rechtsgrundsatz auf einen nicht normierten Tatbestand angewandt werden (sog. Rechts- oder Gesamtanalogie)499. In diesem Sinn begründet die Analogie eine funktionale Rechtsetzung durch den Rechtsanwender. 901

Die wohl h.M. sieht die logische Struktur der Analogie 502

m

in einem Schluß

vom Besonderen auf das Besondere. Die Ähnlichkeit der beiden besonderen Topoi beurteilt sich am Maßstab eines beide erfassenden allgemeinen Prin503 zips. Die Analogie ist ausgerichtet auf die Findung eines allgemeinen Prin504 505 zips durch Abstraktion und dessen Anwendung auf das Besondere. Dadurch, daß die Analogie ausgehend von einem bestimmten normativen Bestand auf die Behandlung von etwas normativ nicht Erfaßtem schließen läßt, könnte sie u.U. den auch für die Fiktion typischen Bezug zum nicht Rea-

496

Vgl. z.B. Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 83; weiter demgegenüber der Analogiebegriff von Kaufmann (vgl. insbes. Analogie und "Natur der Sache", S. 26). 497 Kaufmann, aaO., S. 36. 49e Larenz, Methodenlehre, S. 381 ff. 499 Zu dieser Unterscheidung s. z.B. Larenz, aaO., S. 383 f. m.w.N.; Fikentscher, Methoden des Rechts, IV, S. 286; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 376; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 477 ff. 500 Vgl. dazu oben Teil 1 C. m. 2. 901 Vgl. dazu, daß es sich bei der juristischen Analogie um einen Vorgang wertenden Denkens handelt und nicht nur um eine formal-logische Gedankenoperation, Larenz, Methodenlehre, S. 382 m.w.N. auch zur a.A. in Fn. 32; s. zur Differenzierung zwischen den Analogiemodellen von Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rz. 476 ff ; vgl. auch schon Lotze, Logik, S. 129. 302 So z.B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 146 ff; Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 173 m.w.N.; Klug, Juristische Logik, S. 115. 303 Engisch, aaO., S. 143. 304 Vgl. auch Zippelius (Methodenlehre, S. 80), der Analogie als Generalisierung begreift. 303 Vgl. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 60; wie hier Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Rz. 476; s. auch Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 174 m.w.N.

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

140

len aufweisen. Realität wäre insofern die normative Regelung. Im Wege der Analogie wird aus dem Blickwinkel dieser Realität Ungleiches gleich behandelt. Diese Gleichbehandlung von Ungleichemfindet zwar ihre Basis gerade in der vorrangigen Gleichheit des formal Ungleichen. Hinsichtlich dieser formalen Ungleichheit deckt sich die Bildung einer Analogie jedoch mit der einer Fiktion in dem Schluß von einem vorhandenen normativen Bestand auf 306

eine von diesem Bestand verschiedene Größe.

Beim Analogieschluß wird aus der Feststellung der Gleichheit von einem gesetzlich normierten Tatbestand (x) und einem nicht normierten Tatbestand (y) in bestimmter Hinsicht die Anwendbarkeit der fur χ normierten Rechtsfolgenanordnung auf den nicht normierten Tatbestand y gefolgert. Dies fuhrt dazu, daß die jeweilige Rechtsfolge von χ auch bei Vorliegen von y eintritt. Die logische Struktur der Analogie deckt sich insoweit mit der der Verwei508

sung , wenn auch die der Lückenausfüllung dienende Analogie ein Mittel der Rechtsfortbildung im Zuge der Rechtsanwendung ist, während die Verweisung als Gestaltungsmittel des Gesetzgebers selbst dient. Mit ihrer Ähnlichkeit zur Verweisung steht die Analogie in rechtslogischer Hinsicht auch der Fiktion nahe. Wie die offene Verweisung oder ausdrückliche gesetzliche Gleichstellung führt jedoch auch die Analogie nicht zur verdeckten Behandlung des nicht normierten Tatbestandes als Unterfall des normierten; lediglich der Geltungsbereich der Rechtsfolgenanordnung für den normierten Tatbestand wird auf Sachverhalte erstreckt, die unter den nicht normierten Tatbestand fallen. Der Analogieschluß führt zur offenen Bildung einer neuen Fallnorm309, d.h. zur originären Schaffung eines neuen Bestandes. Anders als bei der offenen Verweisung oder ausdrücklichen gesetzlichen Gleichstellung begründet 306 Nach Pfeifer (aaO.) steckt insofern (!) in jeder Fiktion eine Analogie. Kaufmann (Analogie und "Natur der Sache", S. 26) nimmt an, daß das Wesen der Fiktionen in einer Analogie bestehe, d.h. in einer Gleichsetzung von Ungleichem unter einem sich als wesentlich erweisenden Gesichtspunkt, oder, wie man auch sagen könne, in einer Gleichheit nach Maßgabe eines bestimmten Verhältnisses (Verhältnisgleichheit, Verhältniseinheit). Ebenso Meyer, Fiktionen im Recht, S. 113, 188. Vgl. ferner Kelsen (Ann. d. Philos. 1 (1919), 630 (647)), der Rechtsanwendungsfiktion und Analogie gleichsetzt. Auch v. Jhering (Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Teil, S. 303) sieht in der Fiktion "nichts als eine eigentümliche Form der analogen Ausdehnung des Gesetzes." 307 Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 173. 308 Diese Parallele deutet auch Pfeifer (Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 60 unten) an. 309 Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 284.

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

141

diesen neuen Bestand zwar nicht der Gesetzgeber als die Instanz, die auch den Ausgangsbestand eingerichtet hat. Der Schluß vom Ausgangsbestand (Tatbestand der Norm) auf die Bezugsgröße (Tatbestand, auf den die Norm analog angewandt wird) erfolgt jedoch auch hier in offener Form. Zudem unterscheiden sich Fiktion und Analogie in der logischen Struktur der Bezugnahme des Ausgangsbestandes auf den - in den Ausgangsbestand einzubeziehenden - anderen Bestand, d.h. in der Art der gedanklichen Verknüpfung beider. Konstruktives Merkmal der Fiktion ist der Verzicht auf die Feststellung etwaiger gleicher (ungleicher) Merkmale der zueinander in Beziehung gesetzten ungleichen (gleichen) Tatbestände. Die Feststellung dieser Gleichheit (Ungleichheit) der formal ungleichen (gleichen) Tatbestände ist aber notwendiger Bestandteil jeglicher Analogiebildung. Gegen diese Differenzierung kann nicht eingewandt werden, daß u.U. die Gleichheit der zueinander in Beziehung gesetzten Größen auch eine Grenze der Fiktionsbildung aufzeigen könnte/11 daß die Fiktion auf einer Eignung der gleichgesetzten Fälle für die logische und normative Gleichbehandlung beruhe und die Ähnlichkeit oder Affinität auch den Anlaß für die Fiktionsbildung gebe, oder daß die Rechtfertigung der juristischen Fiktion am Maßstab rechtlicher Vergleichbarkeit beurteilt werden müsse. In diesem Sinne kann die Vergleichbarkeit fiktiv gleichgesetzter Größen u.U. im Rahmen einer übergeordneten Zwecksetzung der Fiktionsbildung Bedeutung erlangen. Sie ist aber nicht unmittelbarer Bestandteil der Fiktionsbildung als methodisches Vorgehen des Rechtsanwenders.31 Nach ihrer rechtslogischen Struktur bleibt die Fiktion bei der formal festgestellten Ungleichheit/Gleichheit der zueinander in Beziehung 310

Meurer (Fiktion und Strafurteil, S. 26 m.w.N.) drückt dies dahingehend aus, daß die Fiktion das Ziel der Analogie, die juristische Gleichbewertung, - anders als die Analogie - unter Verzicht auf logische Kohärenz erreiche, indem sie Ungleiches gleich setze, während die Analogie aus der Teilübereinstimmung verschiedener Sachverhalte deren juristische Gleichbewertung folgere. Gegen Identität von Analogie und Fiktion auch Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (91 f., insbes. Fn. 13); vgl. i.ü. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 61. 311 Vgl. etwa Pfeifer, aaO., S. 60; Meyer, Fiktionen im Recht, S. 74, 76, 80, 113, 115. 312 So Munzer (Über Gesetzesfiktionen mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 9) zur Gesetzesfiktion. 313 So Meyer, Fiktionen im Recht, S. 15,18. 314 S. dazu oben Teil 1 D. Π. 2.; m. 313 Vgl. Meurer (Fiktion und Strafurteil, S. 1 u. 26 m.w.N.), der daraufhinweist, daß der Obersatz des fiktiven Urteils nicht durch Indukion, sondern willkürlich, allenfalls von Ergebnis her gerechtfertigt, substituiert werde.

142

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

gesetzten Größen stehen und nimmt diese zum Ausgangspunkt der Zuordnung, während Basis des Analogieschlusses die Feststellung einer Gleichheit der zueinander in Beziehung gesetzten Größen ist. In Abgrenzung zur Fiktion kann die Analogie als "Gleichsetzung eines als gleich Gewußten in offener Form" bezeichnet werden. b) Die gesetzlich angeordnete Analogie Soweit ein Gesetz selbst die entsprechende Anwendung anderer Normen anordnet1, handelt es sich nicht um die Oberwindung einer planwidrigen Unvollständigkeit318 des Gesetzes, sondern um eine offene Verweisung319 auf die Teile des Verweisungsgegenstandes, die dem Sachbereich, der durch die Verweisung normiert wird, adäquat sind. Bei rechtstechnischer Betrachtung im Hinblick auf die Tätigkeit des Rechtsanwenders unterscheidet sich eine derartige Verweisungsanalogie von der Analogie zur Lückenschließung nicht in prinzipieller Weise. Lediglich der Kreis der für die Analogiebildung heranzuziehenden Normen ist eingeschränkt"1 2. Die Vermutung Die Vermutung ist primär Gestaltungsmittel des Gesetzgebers. Daneben kommt aber auch ihr Einsatz durch den Rechtsanwender in Betracht. In beider Hinsicht ist sie von der Rechtsfiktion abzugrenzen. a) Die gesetzliche Vermutung Eine gesetzliche Vermutung liegt vor, wenn eine Norm selbst die Subsumtion unter einen ihrer Tatbestände dadurch determiniert, daß sie wiederum in abstrakter Weise beschreibt, bei Vorliegen welcher Voraussetzungen (Vermutungsbasis) der ursprüngliche Tatbestand (Gegenstand der Vermutung 316

Vgl. Schneider (Gesetzgebung, Rz. 376), der von der Gleichsetzung von Ähnlichem spricht. Ähnlichkeit ist jedoch nichts anderes als teilweise Gleichheit (Schneider, Logik für Juristen, S. 168). 317 Vgl. etwa § 62,2 VwVfG, § 121 BBesG. 318 So die Ltickendefinition bei Larenz, Methodenlehre, S. 373. 319 Vgl. Clemens, AöR 111 (1986), 63 (78 f.). 320 Anders Fikentscher (Methoden des Rechts IV, S. 285), der die Anordnung einer Analogie durch den Gesetzgeber und die Fiktion gleichsetzt. 321 Vgl. Karpen, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebungstechnik, S. 221 (230).

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

143

oder Grundnorm322) als erfüllt anzusehen ist. Dabei kann vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen auf das Vorliegen einer Tatsache (Tatsachenvermutung/praesumtio facti) geschlossen werden oder auch auf das Vorliegen eines Rechtes bzw. Rechtsbegriffs (Rechtsvermutung/praesumtio iuris).324 Regelmäßig weist die Normierung der gesetzlichen Vermutung ein geringeres Maß an Abstraktheit auf als der Ausgangstatbestand. Es sind widerlegliche und unwiderlegliche gesetzliche Vermutungen zu unterscheiden. Hinsichtlich beider Varianten ist zu fragen, ob sie wie die Gesetzesfiktion notwendig Gleiches ungleich oder Ungleiches gleich behandeln. (1) Die widerlegliche

gesetzliche Vermutung

Die Qualifikation einer widerleglichen gesetzlichen Vermutung als Gesetzesfiktion könnte schon deshalb ausgeschlossen sein, weil die Widerleglichkeit dazu führen könnte, daß der Vermutung das für die Fiktion konstitutive Merkmal der Endgültigkeit ihrer Aussage fehlt. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn in der Folge einer Anwendung der Vermutungsregel die Möglichkeit der Erzielung eines realitätskonformen Ergebnisses offenbliebe. Hiervon ist jedoch - betrachtet man zunächst die widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung - nicht auszugehen. Deren Tatbestand besteht zum einen aus einer materiellrechtlichen Grundnorm (Vermutungsgegenstand). Zum anderen enthält er die beweisrechtliche Anordnung, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Vermutungsbasis auch das Vorliegen des Tatbestandes der Grundnorm anzunehmen ist, obwohl dessen Erfüllung nach 322

Vgl. Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt,

S 81

323 324 323

Vgl. Berg, aaO., S. 85. Vgl. Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, § 41 Id, S. 86. Vgl. Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt,

S. 89. 326

Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, § 4 I Id, S. 86, spricht insoweit davon, daß die Fiktion notwendig falsch sei, die Vermutung dagegen auch richtig sein könne; ebenso Blasius/Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 143; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 103 m.w.N.; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 367. 327 Eine typische widerlegliche Tatsachenvermutung ist etwa wie folgt aufgebaut: Eine Rechtsfolge R1 soll eintreten, wenn der Betroffene arbeitsunfähig ist (Grundnorm). Dies (Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen) wird im Zweifel vermutet, wenn der Betroffene das 70. Lebensjahr vollendet hat (Vermutungsbasis). Vgl. auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidimg bei ungewissem Sachverhalt, S. 81; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 364 f.

144

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Durchführung der erforderlichen Sachverhaltsfeststellung ungewiß geblieben ist. Materiellrechtlich bleibt ausschließlich das Vorliegen der tatsächlichen 528 Voraussetzungen der Grundnorm maßgeblich. Widerlegliche gesetzliche 529

Tatsachenvermutungen sind Beweislastnormen. Die Widerleglichkeit ist also nicht als Eröffnung der Möglichkeit einer Korrektur der auf der Grundlage der Vermutungsregel gefundenen Entscheidung zu verstehen. Vielmehr bedeutet die Widerlegung der Vermutung, daß das Vorliegen der Voraussetzungen der Grundnorm zur Überzeugung des Rechtsanwenders feststeht, so daß keine Non-liquet-Situation vorliegt und deshalb auch kein Raum ist für eine Beweislastentscheidung nach Maßgabe der widerleglichen gesetzlichen Tatsachenvermutung. Die widerlegliche Vermutung im vorliegend verstandenen Sinne ist zu unterscheiden von einer gesetzlichen Beweismaßsenkung, die im Vorfeld eines non liquet schon eine Reduzierung der zur Überzeugungsbil532

dung erforderlichen Wahrscheinlichkeit anordnet. Eine derartige öffentlichrechtliche Beweismaßsenkung kann die gleiche formale gesetzestechnische Struktur wie die widerlegliche gesetzliche Vermutung haben. Sie gestattet es jedoch im Unterschied zu dieser, a priori von einer Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der Grundnorm abzusehen, und bei gegebenen Voraussetzungen eines leichter feststellbaren anderen Tatbestandes - dieser findet seine strukturelle Parallele in der Vermutungsbasis - vom Vorliegen der Voraussetzungen der Grundnorm auszugehen. Materiellrechtlich bleibt auch hier die Grundnorm maßgeblich. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens von deren Voraussetzungen sind jedoch dadurch gemindert, daß stets aus dem Vorliegen der Voraussetzungen des anderen Tatbestandes auf das Vorliegen der Voraussetzungen der Grundnorm geschlossen werden 328

Berg, aaO. Berg, aaO., S. 84; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 365 m.w.N.; Gottwald, Jura 1980, S. 225 (235); Prütting, in: MtlKo ZPO, § 286 Rz. 126 f.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast im Öffentlichen Recht, S. 70 ff; zur Problematik der Fiktionsbildung bei Beweislastentscheidungen s. allg. unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). Von sonstigen Beweislastnormen unterscheiden sich die widerleglichen gesetzlichen Tatsachenvermutungen dadurch, daß sie den Nachweis einer Vermutungsbasis voraussetzen, deren Merkmale außerhalb des vermuteten Tatbestandes liegen (Gottwald, aaO.). 330 Vgl. auch BGHZ 79, 62 (65 f.). 331 S. dazu eingehend Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 85 ff. 332 Das Beweismaß ist das Kriterium der Überzeugungsbildung. Zum Beweismaß s. nur Prütting, JA 1985, 313 (314); ders., in: MüKo ZPO, § 286 Rz. 16, 27 ff; grundsätzlich zum Beweismaß bei der öffentlichrechtlichen Rechtsanwendung, insbes. in Abgrenzung zur Beweislast, unten sub 4. a) (1 ). 329

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

145

darf, obwohl für diesen Schluß nicht die für eine Überzeugungsbildung grundsätzlich erforderliche Wahrscheinlichkeit3" spricht. Der Rechtsanwender dürfte es bei einer solchen voraussetzungsgebundenen Beweismaßreduzierung nur dann nicht bei dem Schluß vom Vorliegen des typischen Falls auf den individuellen Fall belassen, wenn besondere Anhaltspunkte für eine Atypik 334

vorlägen. Die Abgrenzung einer Beweismaßsenkung in diesem Sinne von der widerleglichen gesetzlichen Tatsachenvermutung hat im Einzelfall nach der durch Auslegung zu bestimmenden ratio legis zu erfolgen. Als typisches Beispiel für eine widerlegliche gesetzliche Vermutung im vorliegend verstandenen Sinne sei an dieser Stelle nur § 12 I I S MRRG genannt. Nach § 12 I I 1 MRRG ist Hauptwohnung die vorwiegend benutzte Wohnung des Einwohners. Gem. § 12 II 5 MRRG ist in Zweifelsfällen die vorwiegend benutzte Wohnung dort, wo der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen des Einwohners liegt. Hierbei soll nicht etwa von vorneherein auf den Schwerpunkt der Le-

533

Zur Bestimmung des Beweismaßes s. unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1). Bei einer offensichtlichen Atypik wäre der Schluß vom Vorliegen des typischen Falls auf Merkmale des individuellen Falls auch nicht mehr mit der reduzierten Wahrscheinlichkeit möglich. - Zur Typisierung s. unten Teil 1 Ε. Π. 6., insbes. 6. b) (3). 535 S. hierzu weiter unten Teil 1 Ε. Π. 6. b) (3). - Wenn Gottwald (Jura 1980, 225 (235) demgegenüber annimmt, idR. genüge bei gesetzlichen Vermutungen von vornherein der Nachweis der Vermutungsbasis, die vermutete Tatsache selbst bedürfe also keines Beweises, so ist dies eine Frage der Auslegung der einzelnen Norm (so auch Gottwald, aaO., im Hinblick auf § 1600ο Π BGB). Der Einordnung einer Norm, die von vornherein lediglich den Nachweis der Vermutungsbasis verlangt, als Beweislastnorm (so Gottwald, aaO.) kann jedoch für den Bereich des öffentlichen Rechts im Hinblick auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip (Art. 20 ΙΠ, 97 I GG) in den Ausprägungen des Prinzips der Tatbestandsgebundenheit der Rechtsfolgenbestimmung bzw. des Untersuchungsgrundsatzes - s. dazu unten insbes. Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1); Teil 3 Β. ΙΠ. 3. b) (2) (a) - nicht gefolgt werden (vgl. auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 85 ff.). Eine Non-liquet-Situation kann hier erst bejaht werden, wenn die grundsätzlich bei Behörde oder Gericht liegende Sachverhaltsfeststellung - mit der gebotenen Intensität - nicht zur Überzeugungsbildung geführt hat. Ein etwaiger Gegenteilsbeweis ist in diesem System von vornherein Bestandteil der Oberzeugungsbildung. Die widerlegliche gesetzliche Vermutung greift erst ein, wenn eine Überzeugungsbildung hinsichtlich der Grundnorm und damit auch ein Gegenteilsbeweis nicht möglich war. Erst wenn eine solche Non-liquet-Situation hinsichtlich der Grundnorm feststeht, genügt der Nachweis der Vermutungsbasis. Ist demgegenüber eine Norm so auszulegen, daß von vornherein davon ausgegangen werden kann, daß die Voraussetzungen der Grundnorm vorliegen, wenn das Vorliegen der Vermutungsbasis festgestellt ist, so betrifft dies die administrative bzw. judikative Überzeugungsbildung im Vorfeld eines etwaigen non liquet. 534

10 Jachmann

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

146

bensbeziehungen abgestellt werden, sondern vorrangig auf die vorwiegende _ 33« Benutzung. Die gesetzliche widerlegliche Tatsachenvermutung enthält also durchaus eine endgültige Aussage. Ihre Regelungsanordnung könnte danach u.U. insoweit eine Fiktion implizieren, als sie das Vorliegen der Voraussetzungen der Vermutungsbasis und der des Tatbestandes der Grundnorm auch für solche Fälle gleichstellt, in denen sie sich realiter nicht entsprechen. Die Einordnung als Gesetzesfiktion könnte insoweit aber daran scheitern, daß die widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung nicht als eigenständiger materieller Tatbestand auf einen anderen verweist, sondern erst bei einem Fehlschlagen der gebotenen Sachverhaltsfeststellung zur Grundnorm eingreift. 537 Eine Beweislastregel ist zwar nicht Bestandteil des materiellen Gesetzes,538 unter das die festzustellende und ggf. vermutete Tatsache zu subsumieren ist, sondern Ergänzungsnorm zum materiellen Gesetz. Als solche regelt sie das Beweisri539

siko im Rahmen der Durchsetzung der Anordnungen des materiellen Rechts. Die Beweislastregel ordnet an, wie Behörde oder Gericht im Fall eines non liquet zu entscheiden haben. Auch die Variante der widerleglichen Tatsachenvermutung weist den Rechtsanwender an, bei Nichterweislichkeit (eines 540 Merkmals) der Grundnorm - sowie Vorliegen der Vermutungsbasis - vom 541

Vorliegen des nichterweislichen Sachverhalts anzugehen. Diese Anweisung geschieht - rechtslogisch betrachtet - über den Zwischenschritt der Anweisung zur Gleichstellung von Vermutungsbasis und unerweislicher Tatsache. Dies könnte zum einen als durch die Ungewißheit hinsichtlich des Vermutungsge542

genstandes bedingte Verweisung auf dessen Rechtsfolge verstanden werden, zum anderen als Ermächtigung und Anweisimg des Rechtsanwenders zur Bildung einer Sachverhaltsfiktion. Gegen erstgenannte Variante spricht, daß 336

Vgl. nur VGH Kassel, NVwZ-RR 1991, 357 (358) m.w.N. So (u.a.) die Kritik von Nierhaus (Beweismaß und Beweislast, S. 191 f.) gegen eine allgemeine Einordnung von Beweislastregeln als Fiktionen. S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). 338 Der Begriff des materiellen Gesetzes ist hier in Unterscheidung zur Beweisregel gebraucht. Vgl. dazu insbes. Nierhaus, aaO., S. 162. 339 S. Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 262 m.w.N.; Nierhaus, aaO.; sowie unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). 340 Vgl. zu dieser Besonderheit der Beweislastregel in Form der widerleglichen gesetzlichen Tatsachen Vermutung Nierhaus, aaO., S. 365 f. 541 S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). 342 Vgl. dazu Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 81. 337

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

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sich die Verweisung zwischen den verschiedenen Normkategorien von Beweisregel und materiellem Gesetz vollzöge. Die Beweislastregel dient aber gerade nicht einer materiellen Ergänzung der Grundnorm, sondern soll vielmehr die Umsetzung von deren materieller Regelungsanordnung im Rahmen der Rechtanwendung ermöglichen. Damit kann die widerlegliche gesetzliche Vermutung grundsätzlich nicht Vermutungsbasis und Vermutungsgegenstand identifizieren, da beide von unterschiedlicher rechtlicher Qualität sind. Die Vermutungsbasis löst selbst keine materiellrechtlichen Rechtsfolgen aus, sondern enthält nur eine Bedingung für das Eingreifen der beweisrechtlichen Regelungsanordnung der gesetzlichen widerleglichen 543

Vermutung hinsichtlich der Handhabung der Beweislast. Damit kann die widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung nicht als bedingte Gesetzesfiktion eingeordnet werden. Sie kann jedoch als Anweisung des Rechtsanwenders zur Bildung einer Sachverhaltsfiktion zu verstehen sein, soweit im Einzelfall bei Vorliegen der Vermutungsbasis nicht auch die Voraussetzungen des Vermutungsgegenstands gegeben sind. Hiergegen könnte lediglich einzuwenden sein, daß der Begriff der Fiktion nur solche Konstellationen 545

erfaßt, in denen "derfingierte Tatbestand mit Sicherheit nicht vorliegt", während es gerade im Wesen der gesetzlichen Vermutung liegt, daß sie 546

Vorliegen wie Nichtvorliegen des vermuteten Gegenstandes betrifft . Die Rechtsfiktion wurde oben als Gleichsetzung eines als Ungleich Gewußten definiert. Danach enthielte eine widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung jedenfalls dann keine Anordnung zur Fiktionsbildung, wenn Vermutungsbasis und Vermutungsgegenstand notwendig deckungsgleich wären. Besteht nach der Auslegung der jeweiligen Vermutungsregel aber die Möglichkeit, daß unter Vermutungsgegenstand und Vermutungsbasis unterschiedliche Fälle subsumiert werden, so beruht die Subsumtion eines Falles unter die Grundnorm, der zwar die Voraussetzungen der Vermutungsbasis erfüllt, dessen Subsumierbarkeit unter die Grundnorm aber nicht geklärt werden konnte, dann auf einer Sachverhaltsfiktion, wenn die Voraussetzungen der Grundnorm 543

Zur grundsätzlichen Normstruktur der Beweislastregel s. unten Teil 1 Ε. Π. 4. a). Würde eine gesetzliche Tatsachenvermutung nicht auf einer tatbestandsfremden Vermutungsbasis aufbauen, sondern schlicht anordnen, daß im Zweifel ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestands "zu vermuten" ist - sog. "voraussetzungslose Vermutung" (Gottwald, Jura 1980, 225 (235)), so handelte es sich um eine Beweislastregel, die mangels Gleichstellung von Vermutungsgegenstand und Vermutungsbasis nicht zur Bildung einer potentiellen Sachverhaltsfiktion anweisen würde. Vgl. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (2). 545 So z.B. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 192 m.w.N. 540 Vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 103. 344

1

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

tatsächlich nicht vorlagen. Da letzteres aber gerade nicht feststellbar ist, liegt nur potentiell eine Fiktion vor. Demgemäß kann sich auch der Rechtsanwender nur der Möglichkeit bewußt sein, einen nicht realen Sachverhalt zu subsumieren. Dieses Bewußtsein in der Qualität eines dolus eventualis ist jedoch als obiger Fiktionsdefinition genügend zu betrachten. Das voluntative Element der Fiktion soll diese als Mittel methodischer Vorgehungsweise von zufälligen, aus unbewußten - insbesondere auf Nachlässigkeit beruhender Unkenntnis resultierenden Realitätsabweichungen abgrenzen. Dieser Abgrenzungsfunktion genügt auch das Bewußsein von der Möglichkeit einer Realitätsabweichung. Das zur widerleglichen gesetzlichen Tatsachenvermutung Gesagte ist auch auf die widerlegliche gesetzliche Rechtsvermutung übertragbar, soweit diese 547

Tatsachenfeststellung und Subsumtion ersetzt. Vermutungsgegenstand einer widerleglichen gesetzlichen Rechtsvermutung ist das Ergebnis einer nicht real durchgeführten Rechtsanwendung. Demgemäß kann eine widerlegliche Rechtsvermutung - bei abstrakter rechtstechnischer Betrachtung - so aufgebaut sein, daß sie lediglich die Feststellung von Tatsachen ersetzt, deren Subsumtion unter die einschlägige Norm zur Bejahimg des vermuteten Rechts führt, und anstelle der Einzelergebnisse dieser Tatsachenfeststellungen das Ergebnis der Subsumtion wiedergibt. Insoweit kann die Vermutung für den Bestand eines Rechts oder das Erfülltsein eines Rechtsbegriffs aufgelöst werden in 548

Vermutungen einer Mehrheit von Tatsachen.

Darüber hinaus könnte eine

547 S. dazu, daß die widerlegliche Rechtsvermutung wie eine Beweislastregel für alle zur Widerlegung in Betracht kommenden Tatsachen wirkt, sobald die Vermutungsbasis feststeht, Gottwald, Jura 1980, 225 (236) m.w.N. Die widerlegliche gesetzliche Rechtsvermutung ist wegen ihrer Erstreckung auf die Subsumtion jedoch nicht als Beweislastregel zu qualifizieren. Vgl. dazu Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 122,196. 548 Vgl. dazu Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 85 m.w.N.; Weber-Grellert, StuW 1981, 48 (59). - Anders als die bloße Tatsachenvermutung hat freilich die Rechtsvermutung keine bestimmten Tatsachen zum Gegenstand. Ein vermuteter Rechtszustand kann u.U. auf verschiedenen Wegen hergestellt werden. Eine Rechtsvermutung, die diesen Rechtszustand zum Gegenstand hätte, beträfe lediglich den hergestellten Rechtszustand selbst, nicht aber einen bestimmten tatsächlichen Weg des Entstehens des Rechtszustands. Die widerlegliche gesetzliche Rechtsvermutung löst eine Non-liquet-Situation hinsichtlich von einer oder mehreren Tatbestandsvoraussetzungen eines vermuteten Rechtszustands nicht unmittelbar durch deren Ersetzung, sondern mittelbar durch die Ersetzung der Prüfung des Eintritts des Rechtszustands überhaupt, auch wenn sich dieser Rechtszustand lediglich aus Sachverhaltsfeststellung plus Subsumtion ergibt.

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

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widerlegliche Rechtsvermutung neben Tatsachenfeststellung und Subsumtion auch eine bei der Anwendung der Grundnorm vom Rechtsanwender zu leistende Gesetzeskonkretisierung ersetzen. Insoweit wäre eine Anordnung zur potentiellen Fiktionsbildung des Rechtsanwenders im normativen Bereich dergestalt möglich, daß sich die in der widerleglichen Vermutung normativ vorweggenommene Wertung des Rechtsanwenders nicht im Rahmen der Vorgaben der Grundnorm hielte. Die widerlegliche Rechtsvermutung kann den 549

Rechtsanwender - insoweit vergleichbar der unwiderleglichen Vermutung zu einer Maßstabsbestimmung im normativen Bereich anweisen, die nicht notwendig von der normativen Regelungsaussage der Grundnorm gedeckt ist. Dabei handelte es sich um eine Anweisung zur potentiellen Bildung einer Rechtsanwendungsfiktion im normativen Bereich. Impliziert eine widerlegliche Rechtsvermutung auch ein derartiges normatives Element, so ist sie nicht ausschließlich in Tatsachenvermutungen auflösbar. (2) Die unwiderlegliche

gesetzliche Vermutung

Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung331 knüpft an das Vorliegen eines Tatbestandes y das eines anderen Tatbestandes x, wobei die ebenfalls normierten Voraussetzungen von χ vom Rechtsanwender zwar nicht geprüft werden sollen - das Vorliegen von χ wird auf Grund der unwiderleglichen Vermutung unerheblich 2 -, jedoch durchaus vorliegen können. Aus dieser Struktur der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung ergibt sich, daß es sich nicht lediglich um eine prozessuale Vorschrift 3 im Sinn einer gesetzlichen Beweis-

349

S. dazu sogleich sub (2). Vgl. zum Beispiel des § 1 m 2. HS BNatSchG unten Teil 4 Α. m. 2. a) (2). 331 Gegen die Möglichkeit grundsätzlich unwiderlegbarer Vermutungen Meyer, Fiktionen im Recht, S. 46. Diese Auffassung basiert auf der Annahme, Zweck der gesetzlichen Vermutung sei es ausschließlich, Unklarheiten über konkrete tatsächliche Verhältnisse realiter zu beseitigen (S. 45 f.). Hiergegen spricht - neben dem Wortlaut von § 292, 1 ZPO -, daß es - auch wenn man als möglichen Gegenstand der gesetzlichen Vermutung mit Meyer lediglich Tatsachen betrachten wollte - bei der dem Bereich des Normativen zuzuordnenden gesetzlichen Vermutung nicht um Tatsachenaufklärung zum Zwecke der Erkenntnis der natürlichen Realität geht, sondern um eine normative Regel zum Zwecke der Beschaffung eines Subsumtionsgegenstandes zur Findung eines rechtlichen Interessenausgleichs. 332 Vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 102. 333 So etwa Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, S. 188; w.N. bei Leipold, aaO., S. 103 Fn. 106. 330

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

regel954 handeln kann333 bzw. um eine Verfahrensregelung fur eine Tatsachenermittlung.336 Als solche würden sie formal die Feststellung des Tatbestandes χ anordnen, auf dessen Vorliegen es bei der Rechtsanwendung gerade nicht ankommen soll. Nach der Regelungsaussage der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung ist eine reale Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von χ - im Unterschied zur widerleglichen gesetzlichen Vermutung» unerheblich.337 Fiktion und unwiderlegliche gesetzliche Vermutung stimmen darin überein, daß beide das Ergebnis eines Schlusses von einem vorhandenen Bestand auf das Vorliegen einer anderen Größe darstellen. Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung kann - ebenso wie die Fiktion - einen Bezug zum nicht Realen aufweisen, indem nicht jeder Lebenssachverhalt, der unter den Tatbestand y subsumiert werden kann, notwendig auch die Voraussetzungen des Tatbestandes χ erfüllt. Die Qualität einer Fiktion kann demgegenüber einer als unwiderlegliche Vermutung formulierten Norm dann nicht zukommen, wenn der vermutete Tatbestand χ notwendig deckungsgleich ist mit dem Tatbestand y, bei dessen Vorliegen nach der Regelungsaussage der Norm auf das Vorliegen von χ zu schließen ist. Zwar legt der Begriff der Vermutung die Vorstellung nahe, sie stütze sich jedenfalls auf begründete Wahrscheinlich539

keitsschlüsse ; dies ist jedoch kein konstitutives Merkmal der unwiderlegli-

334

278.

So aber etwa schon Weiske, Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, S.

333 Im Erg. wie hier etwa auch Nipperdey, in: Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 198 Fn. 8; Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 61. 336 Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26 Rz. 17. 337 Vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 103 f. 338 Blasius/Büchner (Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, S. 143) sprechen insoweit im Zusammenhang mit § 133 BRRG davon, daß "an sich eine Fiktion" vorliegt. Meurer (Fiktion und Strafurteil, S. 26) weist darauf hin, daß die unwiderlegliche Vermutung der Fiktion gleiche, wenn im Einzelfall die Vermutung nicht zutreffe, die Rechtsfolge werde dann wie bei der Fiktion an einen Tatbestand geknüpft, der der Wirklichkeit nicht entspreche. Insoweit seien Fiktionen und unwiderlegliche Vermutungen nicht zu trennen. 339 Vgl. etwa schon Weiske (Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, S. 276), der den Unterschied zwischen "Fiction" und "Präsumtion" darin sieht, daß bei der ersteren eine "Thatsache", von der man wisse, daß sie in Wirklichkeit nicht eingetreten sei, für eingetreten erachtet werde, bei der letzteren dagegen eine "Thatsache", welche zwar nicht vollkommen bewiesen, aber wahrscheinlich sei, für bewiesen gehalten werde. Meurer (aaO.) sieht den Unterschied zwischen unwiderlegliche

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

151

chen gesetzlichen Vermutung. 560 Wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines Sachverhalts häufig das gesetzgeberische Motiv für die Verwendung einer Vermutung sein wird, so betrifft dies doch nicht den Inhalt des sie begründenden Rechtssatzes. Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung ordnet vielmehr an, daß die Feststellung dieser Wahrscheinlichkeit und ihrer Realisierung im Einzelfall nicht zu erfolgen hat, und ersetzt so die Prüfung des Realitätsbezugs ihrer Aussage. Dies macht unwiderlegliche Vermutung und gesetzliche Fiktion zu austauschbaren Gestaltungsinstrumenten.564 Wie die Gesetzesfiktion ergänzt die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung - anders als die widerlegliche - das materielle Recht derart, daß mittels Verweisung eine Rechtsfolge an einen zweiten Tatbestand geknüpft wird. Angesichts der dargestellten Parallelen zwischen Fiktion und unwiderleglicher gesetzlicher Vermutung liegt die Einbeziehung letzterer in den Fiktionsbegriff nahe. Hiergegen kann zunächst nicht eingewandt werden, bei der

Vermutung und Fiktion darin, daß letztere in der Regel gerade deshalb aufgestellt werde, weil sie typischerweise der Realität entspreche. 560 So z.B. auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 80; a.A. z.B. Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 62. 561 Vgl. die Nachweise bei Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, Fn. 30. 362 Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 103. 363 Hierin besteht der maßgebliche Unterschied zur Analogie. 364 Soll die an den Tatbestand χ geknüpfte Rechtsfolge auf den Tatbestand y ausgedehnt werden, so kann dies durch die Formulierung "als χ gilt auch y" geschehen (Fiktion), wie auch durch die Formulierung "wenn y vorliegt, wird χ unwiderleglich vermutet" (gesetzliche Vermutung). Beide Male wird das tatsächliche Vorliegen von χ unerheblich. Vgl. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 102. 363 Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 81. 366 Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, S. 103; Berg, aaO., S. 88, 90. 367 So z.B. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26 Rz. 17; Rosenberg, Die Beweislast, S. 213; Diederichsen, NJW 1965, 671 (673 f.); vgl. auch Gottwald, Jura 1980,225 (236): "Die unwiderlegliche Vermutung nähert sich der Fiktion, insoweit die Rechtsfolge auch eintritt, wenn die Vermutung nicht zutrifft."; Meyer (Fiktionen im Recht, S. 52) geht davon aus, daß es unwiderlegliche Vermutungen überhaupt nicht gebe, sondern daß es sich in solchen Fällen um Fiktionen handle. Nach Fikentscher (Methoden des Rechts IV, S. 284) wird bei den Fiktionen unwiderleglich vermutet, daß zwei Fälle gleichzubehandeln seien. Vgl. auch die weiteren Nachweise bei Leipold, aaO., S. 102 Fn. 102. Gegen eine Einbeziehung der Vermutung in das "Vorstellungsbild der Fiktion im engeren Sinn" entsprechend der Fiktionsdefinition

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Teil 1: Das Rechtsinstitut der Fiktion

Fiktion sei die Ungleichbehandlung von Gleichem der Grundsatz, bei der un568

widerleglichen Vermutung nur die Ausnahme. Grundsatz und Ausnahme sind keine Größen der Defintion der Fiktion. Auch die eine unwiderlegliche Vermutung anordnende Rechtsnorm verzichtet nach ihrer formalen Struktur auf eine solche Bewertung369, und die Motivation des Gesetzgebers bzgl. des Grads an Realitätsbezug der angeordneten Vermutung muß sich in der Regelungsaussage der Rechtsnorm nicht notwendig niedergeschlagen haben. Oben wurde die Rechtsfiktion als Gleichsetzung (Ungleichsetzung) eines als ungleich (gleich) Gewußten definiert. Wollte der Rechtsanwender im Einzelfall einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung feststellen, ob und inwieweit sie eine Fiktion enthält, so müßte er gerade entgegen der Zwecksetzung der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung die Voraussetzungen des vermuteten Tatbestandes prüfen. Der Verzicht auf diese Prüfung könnte zur Bewertung der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung als eine potentielle Fiktion371 führen, vergleichbar einer auf der Grundlage einer widerleglichen Vermutung vom Rechtsanwender zu bildenden Sachverhaltsfiktion 372. Während jedoch bei der widerleglichen Vermutung die etwaige Fiktionsausbildung durch den Rechtsanwender erfolgt, ist die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung mit der Gesetzesfiktion zu vergleichen. Maßgeblich ist danach nicht der Wille des Rechtsanwenders, sondern der des Gesetzgebers. Entscheidend ist insoweit - wie bereits festgestellt - der aus der Gesetzesauslegung sich ergebende und insoweit in maßgeblicher Weise geäußerte gesetzgeberische Wille. Unwiderlegliche gesetzliche Vermutung und Gesetzesfiktion sind danach abzugrenzen, ob die Auslegung der jeweiligen Norm ergibt, daß stets als ungleich (gleich) zu Bewertendes verdeckt gleich (ungleich) behandelt von Larenz wendet sich Lerche, Die Technik des "Als-Ob" im Recht, in: Eisenmann/Zieger (Hrsg.), Zur Rechtslage Deutschlands, S. 87 (91). Gleichzeitig spricht Lerche (aaO., Fn. 12) aber insoweit von fiktiven Vermutungen, als die gesetzlichen Vermutungen zu der - bedingten oder unbedingten - Anordnung von Rechtsfolgen führten, als ob das Bestehen eines Sachverhalts, das nicht sicher sei, sicher wäre. 368 So aber etwa Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, S. 61 f. m.w.N.; wie hier schon Bernhöfl, in: FS für Bekker, S. 240 (254 ff.). 369 So Bernhöfl (aaO., S. 255) zu der Gattung von Fiktionen, bei denen mit dem Tatbestand der Fiktionsbasis regelmäßig der fingierte Tatbestand verbunden sei. 370 Diese Situation findet bei der widerleglichen Vermutung eine Parallele in der Unerweislichkeit des vermuteten Sachverhalts. 371 Gegen die Einbeziehung einer Gleichstellung von nur potentiell Ungleichem in den Fiktionsbegriff jedoch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 192 m.w.N. 372 S. oben (1). 373 S. oben Teil 1 E. I.

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

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werden soll - dann Fiktion - oder ob etwas, was gleich oder ungleich sein kann, gleichgestellt (ungleich gestellt) wird - dann unwiderlegliche gesetzliche Vermutung. Ergibt die Gesetzesauslegung eine partielle Deckungsgleichheit gleichgestellter Tatbestände, so impliziert dies auch die Möglichkeit einer abstrakten Umschreibung der Bereiche von Deckungsgleichheit und fehlender Deckungsgleichheit. Der Ausschnitt der Regelungsaussage der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung, der den Bereich fehlender abstrakter Deckungsgleichheit in diesem Sinne betrifft, stellt eine Gesetzesfiktion dar. Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung ist danach als partielle Gesetzesfiktion zu verstehen. Wird in einem konkreten Einzelfall auf der Grundlage einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung im Sinne o.g. Fiktionsdefinition verdeckt etwas Gleiches ungleich behandelt, sind die jeweils Betroffenen materiell genauso gestellt, wie wenn die abstrakte Norm nur eine Fiktion und nicht die ihrem Gegenstand nach weitergehende gesetzliche Vermutung enthielte. Die in der unwiderleglichen Vermutung enthaltene verdeckte Gleichbehandlung von Ungleichem ist nach ihrem sachlichen Gehalt eine Fiktion. 4 Auch angesichts dieser Parallele zwischen der MNur-Gesetzesfiktion" und der in einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung angeordneten Zuordnung entgegen einer bestehenden Ungleichheit ist letztere in den Begriff der Rechtsfiktion einzubeziehen. Als materieller mittelbarer Zweck einer partiell fiktiven unwiderleglichen Vermutung kommt neben dem Ziel, die Grundnorm für die Rechtsanwendung praktikabel zu machen, auch in Betracht, daß der Gesetzgeber eine dogmatische Durchdringung einer im Grundtatbestand angelegten rechtlichen Konstruktion zu meiden sucht . (3) Zwischenergebnis Widerlegliche wie unwiderlegliche gesetzliche Vermutungen sind als Fiktionsnormen einzuordnen, wenn ein vermuteter Sachverhalt/Tatbestand χ 374

Vgl. etwa BGH, NJW 1965, 584; OVG Münster, ZMR 1989, 394 (395) m.w.N.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 33; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 82 f.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26 Rz. 17; Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl., S. 213; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 292 Rz. 5. 373 Vgl. oben Teil 1 D. I. 2. b).

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

nicht notwendig deckungsgleich ist mit einem Sachverhalt/Tatbestand y, bei dessen Vorliegen auf das Vorliegen von χ geschlossen wird. Die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung stellt fur den Bereich, in dem sich der Tatbestand der Vermutungsbasis und der vermutete Tatbestand nicht decken, eine - partielle - Gesetzesfiktion dar. Die widerlegliche gesetzliche Vermutung enthält insoweit die Anweisung an den Rechtsanwender zur potentiellen Bildung einer Sachverhaltsfiktion bzw. - bei der Rechtsvermutung - die Anweisung zur potentiellen Bildung der Fiktion einer Rechtsanwendung (Sachverhaltsfeststellung plus Subsumtion unter die Grundnorm, ggf. auch potentiellen fiktiven Modifikation der Grundnorm). Das für die Annahme einer Fiktion konstitutive Merkmal des Bewußtseins von der Irrealität der Zuordnung umfaßt auch den dolus eventualis. b) Die Vermutung bei der Rechtsanwendung jenseits gesetzlicher Vermutungsregeln Gegenstand einer Vermutung des Rechtsanwenders jenseits der Anwendung gesetzlicher Vermutungsregeln können bei methodologischer Betrachtung sowohl Tatsachen als auch Normbestandteile sein. Von praktischer Relevanz ist v.a. die tatsächliche Vermutung376 - und zwar als widerlegliche in Gestalt des sog. Anscheinsbeweises/prima-facie-Beweises377. Dieser dient der Ermittlung des realen Sachverhalts, indem bei typischen Abläufen, d.h. in Fällen, in denen ein gewisser Tatbestand nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Kausalverlauf hinweist, auf den typischen Charakters des Geschehens und nicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abgestellt wird. Sind keine Tatsachen ersichtlich, welche die Möglichkeit eines von dem typischen Geschehensablauf abweichenden dartun, so ist kein weiterer Beweis

576

Vgl. etwa Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, § 411 d, S. 86. Vorliegend ist kein Raum für eine umfassende Darlegung des umstrittenen Stellenwerts der gesetzlich nicht geregelten sog. tatsächlichen Vermutimg innerhalb des Beweisrechts. S. dazu insbes. Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 50 ff ; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 83 ff., 156 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 214. Zur Einordnung des prima-facie-Beweises als Anwendungsfall der tatsächlichen Vermutung s. statt vieler Tipke, in: Tipke/Kruse, FGO, § 96 Rz. 12 m.w.N. - Vgl. weiter zum Anscheinsbeweis Kollhosser, AcP 165 (1965), 45; Diederichsen, VersR 1966, 211 ff ; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast. 577

. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

155

nötig.37" Standort des prima-facie-Beweises innerhalb der Beweisführung379 ist die Beweiswürdigung im Sinne einer Beantwortung der Frage, welche Schlüsse das im Verfahren vorhandene Informationsmaterial hinsichtlich des Sil

festzustellenden Sachverhalts zuläßt. Streitig ist, ob der prima-facie-Beweis auch eine Senkung des Beweismaßes impliziert. Das Beweismaß regelt, auf welchem Gewißheitsgrad der Schluß von dem jeweiligen Beweismittel auf die Wirklichkeit sein muß bzw. welchen Gewißheitsgrad sich der Rechtsanwender für die Sachverhaltsfeststellung verschaffen muß.30 Dieser Streit kann vor* liegend dahinstehen. Weder Beweiswürdigung noch Beweismaß implizieren ein Element des Irrealen im Sinne einer Fikionsbildung. Wenn eine durch Erfahrungssätze vermittelte Wahrscheinlichkeit als ausreichend betrachtet 384

wird, um den so ermittelten Sachverhalt als festgestellt und damit tauglich für die rechtliche Würdigung zu behandeln, bedarf es keiner Fiktion dieses Sachverhalts mehr. Der Rechtsanwender ist von dem - wenn auch ggf. mit einem geringeren Maß an Gewißheit - festgestellten Sachverhalt überzeugt. Damit handelt es sich nicht um eine Gleichstellung bzw. Ungleichstellung von 578

S. nur BVerwG, NJW 1892, 1983; BGH, NJW 1982, 2668; BFH, NVwZ 1990, 303 (304); Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26 Rz. 18; v. Bornhaupt, NWB Fach 2, S. 5425(5431). 379 Zur Systematik der Beweisführung s. allgemein Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 44 ff. 380 S. nur BGH, NJW 1985, 554; Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 244; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 46 m.w.N. 581 Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 107 f.; Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 203; Rommé, aaO., S. 53. 382 So die h.M., s. etwa Osterloh, aaO., S. 213, 218 f.; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 109, 355; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286 Rz. 92; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 214; a.A. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 202; Berg, aaO., S. 111; differenzierend etwa Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, S. 135; Musielak/Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, Rz. 182; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 83 ff. 383 Vgl. nur Osterloh, aaO., S. 203 m.w.N.; Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rz. 10; zur Abgrenzung von der Beweislast s. unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1). - Jedenfalls bedeutet der Anscheinsbeweis die Formulierung subsumtionsfâhiger Tatbestände mit einer Wenn-Dann-Struktur, nach denen bestimmte Erfahrungssätze grundsätzlich eine für die konkrete Sachverhaltsfeststellung hinreichende Wahrscheinlichkeit vermitteln. Vgl. BGH, NJW 1982, 2668; BFH, NVwZ 1990, 303 (304); Osterloh, aaO., S. 327; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rz. 236 m.w.N. 384 An dieser Stelle sei auf eine Bewertung der These, daß bereits eine entsprechend der Lebenserfahrung verminderte Wahrscheinlichkeitsaussage ausreiche, um einen Sachverhalt als bewiesen zu betrachten, verzichtet. Vgl. dazu Osterloh, aaO., S. 220.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

als ungleich bzw. gleich Gewußtem im Sinne obiger Fiktionsdefintion. Vielmehr bezweckt die widerlegliche Vermutung hier gerade die Vermeidung einer solchen Gleich-/Ungleichstellung. Wollte man demgegenüber argumentieren, die Sachverhaltsfeststellung nach Maßgabe der allgemeinen Lebenserfahrung impliziere die Möglichkeit eines Abweichens des festgestellten vom realen Sachverhalt, so wäre hiergegen einzuwenden, daß der Rechtsanwender - ggf. auch infolge der Anwendung eines reduzierten Beweismaßes von der Richtigkeit seiner Sachverhaltsfeststellung ausgeht. Damit setzt er nicht im Sinne obiger Fiktionsdefinition383 Ungleiches gleich. Z.T. werden auch tatsächliche Vermutungen anerkannt, die auf einem Erfahrungssatz beruhen und eine Umkehrung der Beweislast bewirken sollen. Hiergegen spricht jedoch die Funktion von Erfahrungssätzen bei der Rechtsanwendung. Sie dienen insoweit der Sachverhaltsfeststellung, als diese abgesehen von unmittelbarer Wahrnehmung - auf eine Schlußfolgerung aus 388

konkret ermittelten Tatsachen angewiesen ist. Der Erfahrungssatz kommt im Rahmen der Überzeugungsbildung des Rechtsanwenders zum Einsatz, nicht 390

nach deren Scheitern. Hinsichtlich einer etwaigen Fiktionsbildung bei der Anwendung von Erfahrungssätzen im Rahmen der administrativen bzw. judikativen Sachverhaltsfeststellung gilt damit das zum Prima-facie-Beweis Gesagte. Eine weitere dogmatische Einordnung tatsächlicher Vermutungen, 383

S. oben Teil I E . Π. 1. Vgl. etwa BVerwGE 3, 110 (111); 5, 275 (278); 8, 305 (307); BVerwG, Buchh. 310 § 86 VwGO Nr. 40, S. 3; Buchh. 23.4 § 7 G 131 Nr. 41; Michael, Die Verteilung der objektiven Beweislast im Verwaltungsprozeß, S. 113 ff. m.w.N., 137 f. 387 Vgl. auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 97 ff. 388 Berg, aaO., S. 103 f. 389 S. dazu unten sub 4. a) (1). 390 Vgl. dazu auch unten Teil 1 Ε. Π. 4. a) (1); b) (1). - Nagler (Dogmatische Strukturen der Beweislast im Öffentlichen Recht, S. 427 ff, 440 mit umfassender Darstellung des Streitstandes) geht demgegenüber davon aus, daß Erfahrungssätze geeignet seien, im Wege einer widerleglichen tatsächlichen Vermutung die objektive Beweislast für ein Tatbestandsmerkmal umzukehren. Voraussetzung hierfür sei eine Non-liquetSituation, in der aufgrund der Sachverhaltsermittlung ein Erfahrungssatz für anwendbar erachtet worden sei, aufgrund dessen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der vermuteten Tatsache bestehe und daher das gewonnene Ergebnis der Beweislastumkehr mit dem Normzweck und den Gerechtigkeitsvorstellungen im Einzelfall vereinbar sei bzw. sich als dessen zwingende Konsequenz darstelle. Vgl. hiergegen jedoch auch das Postulat einer gesetzlichen Regelung unten Teil 4 Α. ΙΠ. 3. a) (2) (b). 386

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

157

insbesondere in Abgrenzung zum Anscheinsbeweis, kann vorliegend dahinstehen.391 Betreibt der Rechtsanwender funktional Rechtsetzung, so könnte er methodologisch betrachtet, vergleichbar dem Vorgehen des Gesetzgebers bei der unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung, wie sie insbesondere in Verwal392

tungsvorschriften verwendet wird - einen abstrakten Tatbestand y formulieren, bei dessen Vorliegen er das Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandes χ endgültig annähme, obwohl er sich bewußt wäre, daß χ und y nicht in allen Fällen deckungsgleich sind. Entsprächen sich χ und y in dem vom Rechtsan393

wender konkret zu entscheidenden Einzelfall nicht, würde χ fingiert. Es handelte sich - parallel zur Einordnung der unwiderleglichen gesetzlichen 394 Vermutung als partielle Gesetzesfiktion - um eine Rechtsanwendungsfiktion 393

im Bereich des Normativen , wie sie u.U. auch auf eine widerlegliche Rechtsvermutung gestützt werden kann . 3. Das konkludente Handeln bzw. die stillschweigende Erklärung Fehlt es an einer ausdrücklichen rechtserheblichen Willensäußerung eines Rechtssubjekts, so können u.U. dennoch Rechtsfolgen eintreten, die an sich eine solche Willensäußerung voraussetzen. Grund hierfür kann neben der Fiktion einer solchen Willensäußerung ihre konkludente oder stillschweigende 397

Vornahme sein. Bei einer konkludenten Erklärung ergeben besondere Anhaltspunkte, daß ein bestimmtes Verhalten als Äußerung eines bestimmten Rechtsfolgewillens zu verstehen ist. Bei einer stillschweigenden Erklärung folgt aus besonderen Anhaltspunkten, daß in einem Schweigen die Äußerung eines Rechtsfolgewillens liegt. Ein derartiges schlüssiges Verhalten ist Be591

S. dazu, daß zwischen der Verwendung von Erfahrungssätzen ganz allgemein beim mittelbaren Beweis und in Fällen des Anscheinsbeweises kein qualitativer Unterschied besteht, insbes. Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 100 ff., 107 f. m.w.N.; vgl. auch Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 220,244. 392 Vgl. oben Teil 1 C. m. 2. 393 S. dazu weiter unten Teil 1 Ε. Π. 6. c) (2). 394 S. oben a) (2). 393 S. dazu schon oben Teil 1 C. ΠΙ. 1.; 2. 396 S. dazu oben a)(l). 397 Vgl. etwa Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, S. 75 f.; Ehlers, Der stillschweigende Verwaltungsakt; - zum konkludenten und stillschweigenden Verwaltungsakt s. auch Teil 2 Α. I.

158

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

standteil der Realität der Lebenssachverhalte. Eine entsprechende Fiktion erübrigt sich. 4. Objektive Beweislast und Schätzung Einer Beweislastentscheidung im Falle eines non liquet scheinen insoweit fiktive Elemente innezuwohnen, als sie gerade nicht auf einer Feststellung des realen Sachverhalts basiert. Entsprechendes gilt für Sachverhaltsschätzungen seitens der Verwaltung oder der Gerichte. a) Die Beweislastentscheidung im Falle eines non liquet (l) Der Standort der Beweislastentscheidung im administrativen bzw. verwaltungsgerichtlichen Rechtsanwendungsprozeß In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsverfahren wie auch verwaltungsgerichtlichen Verfahren scheint für eine formelle Beweislast, die den Beteiligten eine mit verfahrensrechtlichen Folgen sanktionierte Behauptungs- und Beweisführungslast auferlegte, kein Raum zu sein.3" Jedenfalls gelten aber auch hier die Grundsätze der objektiven (materiellen) Beweislast oder Feststellungslast.600 Gegenstand der objektiven Beweislast ist die Frage, zu wessen Gunsten oder Ungunsten der Rechtsanwender zu entscheiden hat, wenn er den realen Sachverhalt nicht mit dem erforderlichen Grad an Gewißheit beurteilen kann und deshalb keine Entscheidung auf der 598 Anders etwa Bülow (AcP 32 (1879), 1 (11)), der fingierte und stillschweigende Einlassung als gleichbedeutend betrachtet; ähnlich Weigelin, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 18 (1924/25), 23 (24). 399 So die h.M., vgl. statt vieler Badura, in: Erichsen (Hrsg.), Allg.VerwR, § 37, Rz. 7; Hartmann/Cortrie, WPg 1981, 165 (166); Gottwald, Jura 1980, 225 (226); Obermayer, in: FS Boorberg Verlag, S. 111 (114). - Die Kategorie der Darlegungslast ist für das Verwaltungsverfahren jedoch nicht allgemein abzulehnen. Die sog. formelle Beweislast betrifft den Problemkreis der Mitwirkungslasten der Beteiligten im Verwaltungsverfahren. Hierauf wird an anderer Stelle einzugehen sein (vgl. unten Teil 3 Β. ΙΠ. 4. b) (2); Teil 4 Α. ΙΠ. 3. a) (2) (a)). Es ist insbes. zwischen verschiedenen Arten von Verwaltungsverfahren zu differenzieren, in deren Struktur auch eine je unterschiedliche Verteilung des Ermittlungsaufwands zwischen Behörde und Betroffenen angelegt ist (vgl. dazu insbes. Wahl, in: Blümel/Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, S. 83 (89 ff.)). Danach kann es gerade in Antragsverfahren auch eine formelle Beweislast geben (Wahl, aaO., S. 94). 600 Ganz herrschende Meinung; vgl. statt aller nur Gottwald, aaO., 227; ablehnend Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 704 f.

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

159

Basis eines festgestellten Sachverhalts treffen kann.601 Unter der objektiven Beweislast ist der Nachteil zu verstehen, den ein Verfahrensbeteiligter infolge der Beweislosigkeit einer Tatsache erleidet, wenn ein Rechtssatz, zu dessen Tatbestand die aufgrund einer Beweislastnorm als nicht bestehend behandelte Tatsache gehört, nicht angewandt wird.002 Die objektive Beweislast ergibt sich aus der Anwendung von Beweislastregeln in einer Non-liquet-Situation.60* Gemäß der wohl noch überwiegend auch im öffentlichen Recht vertretenen Grundregel zur Verteilung der objektiven Beweislast trägt - mangels besonderer gesetzlicher Regelung - deijenige die Folgen der Unerweislichkeit einer Tatsache, der aus dieser Tatsache eine ihm günstige Rechtsfolge ableiten will (sog. Normentheorie oder Normbegünstigungsprinzip). Danach soll beispielsweise bei einem begünstigenden Verwaltungsakt der Betroffene den Beweis dafür zu erbringen haben, daß die maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzungen durch den Sachverhalt erfüllt sind.606 Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gilt die Normentheorie im Steuerrecht derart, daß die Finanzbehörde im Regelfall die Feststellungslast für die Tatsachen trägt, die 601 S. dazu nur BFH, BStBl. Π 1971, 220 (223 f.); BStBl. Π 1989, 462 (463); Tipke, in: Tipke/Kruse, AO, § 88 Rz. 11 b; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 24 Rz. 37 m.w.N.; Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 204 m.w.N.; Gottwald, aaO. 602 Vgl. nur Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 242. 603 S. dazu etwa Nierhaus, aaO., S. 33 f. 604 Vgl. zur Systematisierung der Beweislastverteilung durch Gegenüberstellung einerseits eines Grundprinzips der Beweislast, wonach fehlende Feststellung zur Verneinung des betroffenen Tatbestandsmerkmals führt, und andererseits von Sonderregeln der Beweislast, die von dem gesamten Grundprinzip abweichen, statt vieler Musielak/Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, Rz. 202 f.; Gottwald, Jura 1980, 225 (227). 603 S. nur BVerwG, NJW 1994, 468; Buchh. 412.6 § 1 HHG Nr. 28; BVerwGE 14, 181 (186 f.); 18, 66 (71); 44, 265 (269 f.); 47, 365 (375); Kopp, VwGO, § 108 Rz. 13 m.w.N.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 24 Rz. 37 m.w.N.; Brühl, JA 1992, 193 (199); vgl. auch Gottwald, aaO., 228 ff. m.w.N.; Schwab, in: FS für Bruns, S. 505 (519); kritisch insbes. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 230 ff. - zur Rspr. des BVerwG sowie allg. S. 407 ff. m. umfassenden N.; Pestalozza, in: FS Boorberg Verlag, S. 185 (197 f.); zu einem Überblick über die verschiedenen auch im öffentlichen Recht vertretenen Beweislasttheorien s. Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 71 ff. m.w.N., zusammenfassend S. 113 ff ; zu den verschiedenen Ansätzen einer Bestimmung der Beweislastverteilung im Verwaltungsrecht s. weiter Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 177 ff. m.w.N.; zu einer Abweichung vom Normbegünstigungsprinzip nach Sphärengesichtspunkten vgl. Ewer/Rapp, NVwZ 1991, 549 ff. 606 Vgl. Obermayer, in: FS Boorberg Verlag, S. 111 (114).

Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

160

vorliegen müssen, um einen Steueranspruch geltend machen zu können, der in Anspruch genommene Steuerpflichtige dagegen für Tatsachen, die Steuerbefreiungen und -ermäßigungen begründen oder einen Steueranspruch aufheben 607

oder einschränken.

Der dogmatische Standort der Beweislast erschließt sich v.a. aus ihrer Abgrenzung zu Beweiswürdigung und insbesondere Beweismaß.608 Im Rahmen der Kategorien von Beweismaß und Beweislast ist der empirischen Situation Rechnung zu tragen, daß die Sachverhaltsfeststellung - abgesehen von den Fällen einer unmittelbaren Wahrnehmbarkeit eines festzustellenden Sachverhalts(-ausschnitts) - notwendigerweise mit Schlußverfahren arbeitet, welche ihrerseits nur Wahrscheinlichkeitsurteile gestatten, nicht aber Feststellungen mit 100 %-iger Sicherheit. Hieran knüpft sich die Frage, welche Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Sachverhalts sprechen muß, damit er einer judikativen Rechtsanwendungsentscheidung zugrundegelegt werden kann, d.h. welche Wahrscheinlichkeit dierichterliche Überzeugungsbildung (§ 108 11 VwGO) ermöglicht. Es ist dies die Frage nach dem jeweils geltenden Beweismaß (Beweiskriterium). Die Problematik der für die Überzeugungsbildung erforderlichen Wahrscheinlichkeit betrifft das Verwaltungsverfahren wie das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Zwar fehlt in den Verwaltungsverfahrensgesetzen durchweg eine der gesetzlichen Verpflichtung der Gerichte, grundsätzlich die Beweise nach ihrer freien Überzeugung zu würdigen (§ 108 I 1 VwGO612, § 96 I 1 FGO, § 286 ZPO), vergleichbare Regelung

607 Vgl. etwa BFH, BStBl. Π 1971, 220 (224); 1983, 760 (761); 1986, 857; s. weiter Tipke, Die Steuerrechtsordnung ΙΠ, S. 1195; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rz. 160 ff. 608 Vgl. dazu kritisch für den Bereich des Zivilprozesses Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, insbes. S. 212 ff., 243 f. 609 S. dazu Gottwald, aaO., insbes. S. 193 ff. m.w.N.; Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 114; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweislastwürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 34;. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 307 ff., m.w.N.; vgl. weiter BVerwGE 83,177 (178). 610 Überzeugung meint dabei die nach den jeweils maßgeblichen Verfahrensanforderungen gewonnene Erkenntnis des Richters, daß die vorhandenen Wahrnehmungen oder Schlußfolgerungen ausreichen, um das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen bei Erfüllung des relevanten Beweismaßes zu bejahen. Vgl. nur Prutting, in: MüKo ZPO, § 286 Rz. 18; Dawin, NVwZ 1995, 729 ff.; s. auch Gottwald, aaO., S. 207. 611 Zum Beweismaß s. schon oben Teil 1 Ε. Π. 2. a) (1); b). 612 Vgl. dazu Dawin, NVwZ 1995,729 f.

. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

161

für die Behörde613. Auch eine administrative Rechtsanwendungsentscheidung614 ist jedoch ohne eine Überzeugungsbildung des jeweiligen Amtsträgers hinsichtlich des im Einzelfall zu gestaltenden Lebenssachverhalts nicht möglich. Freilich tritt im behördlichen Ermittlungsverfahren die individuelle, subjektive Komponente der Überzeugungsbildung gegenüber der des Richters insoweit zurück, als behördliche Entscheidungen (auch) Ergebnisse einer hierarchisch organisierten Entscheidungsorganisation sind.617 Dies ändert aber nichts daran, daß auch im Verwaltungsverfahren eine Überzeugungsbildung hinsichtlich des Einzelfalls stattfinden muß, und daß diese Überzeugungsbildung seitens des jeweils handelnden Amtswalters - und insoweit auch subjektiv - erfolgen muß. Dabei ist der jeweilige Amtswalter freilich - dasselbe gilt auch für den Richter - nicht nach seiner "Meinung als PrivatpersonH, sondern nach seiner Meinung als Träger seines jeweiligen Amtes gefragt. Die Überzeugung von Richter wie Amtsträger in einer Behörde ist funktionell im Hinblick auf das wahrgenommene Amt zu begreifen. 619 Dabei ist der behördliche Amtsträger eingebunden in ein hierarchisches System der staatlichen Aufgabenerfüllung; er kann insoweit etwa an (formell typisierende) Verwaltungsvorschriften gebunden sein. Betrachtet man jedoch den typischen Fall einzelfallbezogener Gesetzesanwendung, so ist der Akt der unmittelbaren Überzeugungsbildung bei Richter und Amtswalter derselbe, wenn er auch auf unterschiedlich ausgestalteten Ermittlungsverfahren beruht.

613

S. dazu m.w.N. Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 272 ff. 6H S. oben Teil 1 C.m. 1. 613 Zur analogen Anwendung von § 96 I 1 FGO im steuerlichen Verwaltungsverfahren s. Tipke, Die Steuerrechtsordnung m, S. 1192; Schmidt-Liebig, StBp. 1993, 10 (14); Hartmann/Cortie, WPg 1981, 165 (166); s. zur Parallelität der Beweiserhebung von Behörde und Gericht Tipke, VerwArch 60 (1969), 136 (146). 616 An dieser Stelle ist kein Raum für eine Darstellung des Streitstandes zwischen subjektiven und objektiven Beweismaßtheorien. S. dazu den Überblick bei Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 64 ff. m.w.N. 617 Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 209 f. 618 Vgl. Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 72. 619 Vgl. Rommé, aaO. 620 S. dazu unten Teil 1 Ε. Π. 6. b) (3).

11 Jachmann

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Für die Bestimmung des Beweismaßes sind im Grundsatz zwei durchaus konträre Ansätze denkbar.621 Für die maßgebliche Überzeugung des Richters kann zum einen im Sinne eines Einheitsbeweismaßes bzw. Regelbeweismaßes - abgesehen von normativen Modifikationen - die seine ernstliche Zweifel ausschließende Gewißheit darüber verlangt werden, daß der angenommene Sachverhalt der Realität entspricht.622 Dieses Regelbeweismaß eröffnet stets dann, wenn nicht für oder gegen das Vorliegen eines Sachverhaltselements eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit spricht, den Raum für eine Beweislastentscheidung. Dabei impliziert freilich das Beweiskriterium der Wahrheitsüberzeugung notwendig ein relativierendes Element, indem die dem Rechtsanwender zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel keine absolute Sicherheit ermöglichen.623 Die objektive, historische Wahrheit kann insoweit 624

nur Ziel, nicht aber Ergebnis der Sachverhaltsfeststellung sein. Diese zwangsläufige Grenzrelativität der Sachverhaltsfeststellung erheben die Gegner eines Einheitsbeweismaßes im genannten Sinne zum Prinzip, indem sie um nur die zwei wesentlichen hierzu vertretenen Grundtendenzen aufzugreifen - eine überwiegende Wahrscheinlichkeit als ausreichend betrachten , oder aber die im Einzelfall erforderliche Wahrscheinlichkeit im Wege einer Abwägung bestimmen. Gegenstand dieser Abwägung ist einerseits die Gefahr 621

Zu einem umfassenden Überblick über die - v.a. zum Zivil- und Straßprozeßrecht entwickelten - Beweismaßtheorien s. Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 186 ff; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 48 ff; Prutting, in: MüKo ZPO, § 286 Rz. 31 ff; jeweils m.w.N. 622 So für das Verwaltungsprozeßrecht statt vieler etwa BVerwG, Buchh. 310 § 108 VwGO Nr. 70; Buchh. 412.3 § 1 BVFG Nr. 26; BayVBl. 1989, 24; BVerwGE 55, 82 (83); Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 108 Rz. 1; Nierhaus, aaO., S. 61; Dawin, NVwZ 1995, 729 (730): "... das nach logischen und rationalen Kriterien bestehende Urteil einer Identität der gedanklichen Rekonstruktion der Wirklichkeit mit dieser selbst"; für das finanzgerichtliche Verfahren BFH, BStBl. Π 1990, 188 f.; 1988, 944 (946); BFH/NV 1987, 728 (730); 1988, 600 f.; List, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 96 FGO Anm. 19 f.; Gräber/v. Groll, FGO, § 96 Rz. 16. 623 Vgl. auch Nierhaus, aaO., S. 62 m.w.N; Prütting, JA 1985, 313 (315). 624 In diesem Sinne auch Nierhaus, aaO. 623 Vgl. insbes. Bruns, Zivilprozeßrecht, S. 245 ff; Mötsch, in: FS für Rödig, S. 334 (345); hiergegen statt vieler Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 76 ff. m.w.N.; ders., JA 1985, 313 (316 ff.). 626 Für eine Verbindung der Freiheit der Beweiswürdigung mit einem situationsgebundenen, in Grenzen variablen Beweismaß - ausgehend vom zivilrechtlichen Haftungsrecht - Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 198 f., 202 ff; 208; ders., in: FS für Lange, S. 447 (451 ); zust. Rüßmann, in: AK - ZPO, § 286 Rz. 15, 20, 28; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 88 ff.; Musielak, ZZP 99 (1986), 217 (222).

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einer Entscheidung aufgrund einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung, andererseits der Vorteil der Entscheidung auf der Basis der vorhandenen Sachverhaltskenntnis.2 Vorliegend gilt es den dogmatischen Standort der Beweislastentscheidung zu bestimmen, um deren etwaigen fiktiven Charakter auszumachen. Die Abgrenzung von Beweislast und Beweismaß ist hierfür insoweit maßgeblich, als das Beweismaß Kriterium der realen Überzeugungsbildung ist und damit keinen fiktiven Charakter hat. Eine relativierende Beweismaßbestimmung könnte nunmehr die Kategorie der Beweislast überflüssig machen, indem der Rechtsanwender das Beweismaß stets so zu bestimmen haben könnte, daß es eine reale Überzeugungsbildung ermöglichte. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Die Frage, welche Wahrscheinlichkeit für einen einer Rechtsanwendungsentscheidung zugrundezulegenden Sachverhalt sprechen muß, ist zu trennen von der Problematik, mit welcher Intensität die für die Sachverhaltsaufklärung zuständige Instanz diese Sachverhaltsaufklärung betreiben darf oder muß. 627

Vgl. dazu insbes. Neil (Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 93 ff, 209 ff.), nach dessen Sichtweise sich die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Rechtsgut unter Bedingungen der Ungewißheit einem anderen Rechtsgut "geopfert" werden dürfe, als durch Abwägung gewonnenes Resultat aus dem Wertverhältnis der Rechtsgüter in ihrer konkreten Betroffenheit ergibt; Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 706 ff ; weiter Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 208 ff. m.w.N.; Bender, in: FS für Baur, S. 247 (251 ff); Musielak, in: FS für Kegel, S. 451 (470 f.). 628 S. dazu schon oben Teil 1 Ε. Π. 2. a) (1 ); 2. b). 629 Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 711; Neil, Wahrscheinlichkeitsuiteile in juristischen Entscheidungen, insbes. S. 209; Mötsch, in: FS für Rödig, S. 334 (338 f.); sowie - mit Blick auf die Mitwirkungspflichten der Beteiligten im Verwaltungsverfahren sowie die Möglichkeit der Schätzung im Steuerrecht - Martens, Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung, Rz. 94 ff; ders., Die Praxis des Verwaltungsverfahrens, Rz. 161 ff., 173; hiergegen Nierhaus, DÖV 1985, 632 (634); s. weiter zur partiellen Austauschbarkeit von Beweiswürdigung und Beweislastentscheidung als Konsequenz einer relativen Beweismaßtheorie Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, S. 213; kritisch demgegenüber Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 45 f. Freilich verringert ein weniger hohes Beweismaß den Raum für Beweislastentscheidungen (vgl. auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 18; Berg, Beweismaß und Beweislast im öffentlichen Umweltrecht, S. 75 f.; Prütting, JA 1985, 313 (316)). 630 Diese dogmatische Unterscheidung schließt es nicht aus, in einem weiteren Schritt von der für eine Verfahrensart - insbes. im Bereich eines bestimmten sachlichen Normenkomplexes - typischen Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung

11*

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

Die Rechtsanwendung im öffentlichen Recht ist geprägt von der Gesetzesbindung der rechtsanwendenden Instanzen. Das im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Prinzip materieller Gesetzmäßigkeit darf nicht durch eine Verfahrensgestaltung bzw. Beweisführung unterlaufen werden, die die Umsetzung der normativen Vorgaben in die Realität nicht in ausreichendem Maße sicherstellt.632 Das materielle Gesetzmäßigkeitsprinzip bedarf insoweit eines verfahrensrechtlichen Korrelats. Dieses sei vorliegend als rechtsstaatlicher Untersu633

chungsgrundsatz bezeichnet. Dessen Inhalt wird im einzelnen herauszuarbeiten sein.634 An dieser Stelle sei lediglich fesgehalten, daß Ausgangspunkt auch der Bestimmung der Anforderungen an behördliche wie auch verwaltungs- bzw. finanzgerichtliche Sachverhaltsfeststellung Gesetzmäßigkeitsprinzip bzw. rechtsstaatlichen Untersuchungsgrundsatz zu sein haben. Das öffentliche Recht knüpft Rechtsfolgen grundsätzlich - freilich kann der Gesetzgeber anderes bestimmen, indem er Zweifel, Ungewißheit, fehlende

Rückschlüsse auf ein sinnvollerweise zu forderndes Beweismaß zu ziehen. So für das steuerliche Ermittlungsverfahren Osterloh, StuW 1993, 342 (348); s. auch unten Fn. 665. Allgemein hinsichtlich Verfahren mit Verhandlungsmaxime Gottwald, aaO., S. 206. 631 S. dazu schon oben Teil 1 C. m. 1. 632 Vgl. unten Teil 3 Β. ΙΠ. 3. a) (2) (a). 633 Vgl. zur Korrespondenz von Gesetzmäßigkeitsprinzip und Untersuchungsgrundsatz auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 259; Kopp, VwVfG, § 24 Rz. 1; Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 140; Söhn, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rz. 5, 30, 39, 48; Schromek, Die Mitwirkungspflichten der am Verwaltungsverfahren Beteiligten - eine Grenze des Untersuchungsgrundsatzes?, S. 90. 634 S. dazu unten Teil 3 B. DL, insbes. 3. a) (2). - Der Begriff des rechtsstaatlichen Untersuchungsgrundsatzes wird vorliegend in einem weiten Sinne verwendet. Er bezeichnet allgemein die verfahrensrechtliche Seite des materiellen Gesetzmäßigkeitsprinzips. - S. demgegenüber die engere Begriffsbestimmung des Untersuchungsgrundsatzes im Rahmen von § 88 AO etwa bei Söhn, aaO. Rz. 2 ff, wonach der Untersuchungsgrundsatz als Prinzip der Amtsermittlung insbesondere vom Legalitätsprinzip unterschieden wird, verstanden als Verfahrensmaxime, die die Behörde zur Sachverhaltsermittlung verpflichtet. Enger auch das Verständnis des Untersuchungsgrundsatzes bei Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, S. 224 f., wonach der Untersuchungsgrundsatz (§§24 VwVfG, 88 AO) als verfahrensrechtliche Kompetenznorm lediglich bestimmt, daß alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln und zu berücksichtigen sind, aber keine Aussage zur Entscheidungserheblichkeit und damit zu Umfang und Gegenstand der Ermittlung enthält. - Zur Auslegung von §§ 24 I, Π VwVfG bzw. 881, Π AO s. unten Teil 3 Β. m. 3. b) (2).

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Beweisbarkeit, Wahrscheinlichkeit u.ä. als Tatbestandsmerkmale faßt"3 - an reale Sachverhalte. Notwendige Ergänzung einer materiellen Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist die Tatbestandsgebundenheit ihrer Rechtsfolgenbestimmung,637 verstanden als ein Prinzip notwendiger Kongruenz von Lebenssachverhalt und gesetzlicher Regelungsanordnung bzw. notwendiger Korrespondenz von tatbestandlich vorgesehenem Lebenssachverhalt und Ausspruch der gesetzlich an den jeweiligen Tatbestand geknüpften Rechtsfolge.638 Diese Tatbestandsgebundenheit der administrativen Rechtsfolgenbestimmung ergibt sich zum einen aus der rechtsstaatlichen Komponente des allgemeinen Gesetzesvorbehalts . Fordert der Vorbehalt des Gesetzes insoweit, daß ein abstrakt-hypothetischer gesetzlicher Tatbestand einen Eingriff rechtfertigt, so impliziert dies notwendig, daß diesem Tatbestand im konkreten Fall ein tatsächlich existierender Sachverhalt zugrunde liegt. Darüber hinaus verlangt jedoch schon der Vorrang des Gesetzes641 die unbedingte Korrespondenz von gesetzlichem Tatbestand und Lebenssachverhalt. Entsprechend dem Inhalt der jeweiligen gesetzlichen Regelungsanordnung darf bzw. - bei einer als zwingend auszulegenden gesetzlichen Verknüpfung von Gesetzestatbestand und Rechtsfolgenanordnung - muß eine Rechtsfolge von der Behörde ausgesprochen werden, wenn und soweit die tatsächlichen Voraussetzungen des einschlägigen materiellen Rechtssatzes vorliegen. Sieht eine gesetzliche Regelungsaussage für einen bestimmten Tatbestand zwingend eine bestimmte Rechtsfolge vor, so darf diese Rechtsfolge nur ausgesprochen werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen des Tatbestandes vorliegen, sie muß es aber auch. Gleiches gilt, wenn an das Vorliegen eines Tatbestandes ein behördliches Ermessen geknüpft ist, hinsichtlich der Voraussetzungen des Ermessenstatbestandes. Soweit es um die Wahrnehmung eines Ermessens633 S. dazu unten c) sowie Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 140 f. m. zahlreichen Gesetzesbeispielen. 636 S. dazu oben Teil 1 C. m. 1.; vgl. auch Nierhaus, aaO., S. 154, 157 m.w.N.; Rommé, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweiswürdigung, Beweismaß und Beweislast, S. 43 ff. m.w.N. zum Streitstand im Zivil(prozeß)recht. 637 Vgl. auch Nierhaus, aaO., S. 133 f. 638 Vgl. auch Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 701. 639 S. dazu eingehend Teil 3 Β. Π. 1. a) (1) (b). 640 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 133; Weber-Grellet, StuW 1993, 97 (101); ders., StuW 1981,48 (52); Rupp, AöR 85 (1960), 301 (319). 641 Vgl. auch Nierhaus, aaO. 642 S. dazu auch BVerwG, NVwZ 1995, 175 (177), wo das BVerwG eine Verletzung des sachlichen Rechts annimmt, wenn ein Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht.

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Teil 1 : Das Rechtsinstitut der Fiktion

spielraums geht, ist Entsprechendes bzgl. der Ermessensbindung, insbesondere des Grundsatzes der Rechtsanwendungsgleichheit, anzunehmen. Soweit nicht schon der Vorbehalt des Gesetzes das Vorliegen der Voraussetzungen einer Eingrififsnorm verlangt, folgt die notwendige Koppelung der tatsächlichen Voraussetzungen des Gesetzestatbestands und der für diesen vorgesehenen gesetzlichen Rechtsfolgenbestimmung aus dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes. Würde eine Behörde eine Norm anwenden, ohne daß die tatsächlichen Voraussetzung ihres Tatbestandes vorlägen, so mißachtete sie die gesetzliche Tatbestandsbestimmung. Wollte eine Behörde eine Norm, die ihr insoweit weder einen Beurteilungsspielraum noch einen Ermessungsspielraum eröffnete, trotz Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen ihres Tatbestandes nicht anwenden, so würde dies die unbedingte Rechtsfolgenbestimmung der Norm verletzen. Beides bedeutete einen Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes. Das Prinzip der Tatbestandsgebundenheit der Rechtsfolgenbestimmung ist als Teilaspekt oder notwendiges Korrelat des Grundsatzes des Vorrangs des Gesetzes bzw. der Rechtsanwendungsgleichheit zu betrachten und stellt als solches selbst einen rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsatz dar.644 Es gilt grundsätzlich in gleicher Weise für die Administrativentscheidung wie auch 643

für die das Verwaltungshandeln kontrollierende Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Hinsichtlich der administrativen Sachverhaltsfeststellung (Entsprechendes hat auch für die judikativen Sachverhaltsfeststellung im Bereich des öffentlichen Rechts zu gelten) ergibt sich aus dem Prinzip der Tatbestandsgebundenheit der Rechtsfolgenbestimmung bzw. der unmittelbaren Korrespondenz von gesetzlichem Tatbestand und Lebenssachverhalt - verstanden zunächst als von der einzelnen zu bestimmenden Rechtsfolge losgelöster und in diesem Sinne abstrakter Maßstab - eine doppelte Konsequenz. Zum einen hat die Behörde den relevanten Sachverhalt grundsätzlich umfassend zu ermitteln, d.h. es ist 643 S. dazu auch unten Teil 4 Α. ΙΠ. 2. b) (1); zur Verbindung von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung im Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung s. nur Jachmann, Vereinbarungen über Erschließungsbeiträge im Rahmen von Grundstücksverträgen mit Gemeinden, S. 204 ff., 213, 232 ff. m.w.N.; dies., BayVBl. 1993, 326 (329 f.); zum Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung s. weiter Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 135 ff. m.w.N. sowie unten Teil 4 A. m. 3. a) (3). 644 Vgl. auch Nierhaus, aaO., S. 138 f., 141 f. 643 Vgl. auch Nierhaus, aaO., S. 61; Lambrecht, in: Friauf (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, S. 79 (81).

E. Definition und Abgrenzung der Rechtsfiktion

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im Rahmen der Durchführung des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich eine möglichst große Annäherung an die objektive Realität zu suchen.646 Dem entspricht zum anderen im Grundsatz ein Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit als Grundlage der behördlichen647 wie auch gerichtlichen Überzeugungsbildung64*.649 Der Rechtsanwender muß subjektiv überzeugt