Die Evolution der Kohäsion: Sozialkapital und die Natur des Menschen [1. Aufl.] 978-3-658-25055-3, 978-3-658-25056-0

Das Buch demonstriert den Mehrwert eines evolutionären Menschenbildes für die Sozialwissenschaften am Fall der Sozialkap

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German Pages XI, 630 [640] Year 2019

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Die Evolution der Kohäsion: Sozialkapital und die Natur des Menschen [1. Aufl.]
 978-3-658-25055-3, 978-3-658-25056-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen (Christoph Meißelbach)....Pages 1-34
Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie (Christoph Meißelbach)....Pages 35-121
Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse (Christoph Meißelbach)....Pages 123-210
Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals (Christoph Meißelbach)....Pages 211-412
Synthese: Evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals (Christoph Meißelbach)....Pages 413-512
Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad (Christoph Meißelbach)....Pages 513-535
Back Matter ....Pages 537-630

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Studien zur Interdisziplinären Anthropologie

Christoph Meißelbach

Die Evolution der Kohäsion Sozialkapital und die Natur des Menschen

Studien zur Interdisziplinären ­Anthropologie Reihe herausgegeben von Gerald Hartung, Wuppertal, Deutschland

Unter dem Leitbegriff der Interdisziplinären Anthropologie formiert sich aktuell eine Forschungslandschaft, die dem Rätsel des Menschen angesichts seiner Riskiertheit und nicht-garantierten Überlebenschancen, aber auch seiner technologischen Gestaltungschancen nachgeht. Einerseits liefern die neueren Forschungen zur evolutionären Anthropologie in kurzen Fristen immer präzisere Daten zur Bestimmung der menschlichen Lebensform; andererseits stellen uns die neuen technologischen Möglichkeiten in den Lebenswissenschaften vor praktische Probleme der Folgenabschätzung unseres Handelns. Derzeit sind alle Wissensdisziplinen sowohl der Natur- als auch der Geistes- und Kulturwissenschaften gefragt, ihren Beitrag zur Orientierung in dieser Situation zu liefern. Es geht dabei um theoretische Durchdringung komplexer Forschungsfragen und deren ethische Reflexion. Wir können daher mit Blick auf die Interdisziplinäre Anthropologie von einem Schlüsselthema aktueller Forschung sprechen. Die vorliegenden Studien zur Interdisziplinären Anthropologie stellen – neben dem Jahrbuch Interdisziplinäre Anthropologie – einen weiteren Versuch dar, diesem weiten Forschungsfeld ein Gesprächsforum zu bieten. Reihe herausgegeben von: Prof. Dr. Gerald Hartung Bergische Universität Wuppertal Deutschland Editorial Board: Prof. Dr. Jörn Ahrens, Universität Gießen, Deutschland

Prof. Dr. Cornelia Brink, Universität Freiburg, Deutschland

Prof. Dr. Dirk Evers, Universität Halle, Deutschland

Prof. Dr. Thomas Fuchs, Universität Heidelberg, Deutschland

Dr. Matthias Herrgen, Hochschule Darmstadt, Deutschland

Prof. Dr. Matthias Jung, Universität Koblenz, Deutschland

Prof. Dr. Katja Liebal, Freie Universität Berlin, Deutschland

Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth, Deutschland

Prof. Dr. Hartmut Rosa, Universität Jena, Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13383

Christoph Meißelbach

Die Evolution der Kohäsion Sozialkapital und die Natur des Menschen

Christoph Meißelbach Institut für Politikwissenschaft Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland Die Dissertationsversion dieses Buches wurde im Jahr 2017 vom Club of Vienna und der Stadt Wien mit dem Rupert-Riedl-Preis und von der Technischen Universität Dresden mit dem Georg-Helm-Preis ausgezeichnet.

ISSN 2567-661X ISSN 2567-6628  (electronic) Studien zur Interdisziplinären Anthropologie ISBN 978-3-658-25056-0  (eBook) ISBN 978-3-658-25055-3 https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

1

Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen  . . . . . . . .



1

1.1 Problemstellung: Was sind soziale Beziehungen wert ?  . . . . . . . . . . . . .



2

1.2 Relevanz: Anthropologische Fundierung als Desiderat und Exempel  . . .



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1.4 Fahrplan: Argumentationsgang und Vorgehensweise  . . . . . . . . . .



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1.5 Befunde: Ergebnisse und Grenzen der Untersuchung  . . . . . . . . . .



28

1.3 Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences  . . . 1.3.1 Sozialkapital: Anthropologische Grundlagen und konzeptionelle Defizite  1.3.2 Politikwissenschaft: Menschenbilder und Evolutionstheorie  . . . . . . . . . 1.3.3 Evolutionäre Humanwissenschaften: Grundlegende Wissensbestände  . . . . . . . . . . . .

VI Inhalt

2 Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie  . . . . . 2.1



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Die Problemstruktur: Menschenbilder in der Politikwissenschaft  . . . . . . . . . .

2.2

Politische Anthropologie: Forschungsfeld und Denktraditionen  . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Forschungsfeld: Politische Anthropologie und Anthropologiekritik  . . . . 2.2.2 Die Denktraditionen: Homo sociologicus vs. Homo oeconomicus  . . . . . . . 2.2.3 Bilanz: Politische Anthropologie ohne empirisches Menschenbild  2.3

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität  2.3.1 Methodologische Dimension: Das Mikro-Makro-Problem  . . . . . . 2.3.2 Ontologische Dimension: Relativismus vs. Realismus  . . . . . . . 2.3.3 Normative Dimension: Ideologie und Werturteilsfreiheit  . . . . 2.3.4 Bilanz: Politische Anthropologie als empirisches Forschungsprogramm  . . . . . . . . . 2.4

Klärung der Grundlagen: Erkenntnis, Emergenz und Komplexität  . . . . . . . . . . 2.4.1 Ausgangspunkt: Evolutionäre Erkenntnistheorie und hypothetischer Realismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Emergenz: Ontologie, Methodologie und Epistemologie des Reduktionismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Komplexität: Deterministisches Chaos und emergente Selbstorganisation  . . 2.4.4 Bilanz: Anthropologische Mikrofundierung und „guter Reduktionismus“  . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt VII

2.5

Evolutionäre Anthropologie: Einführung und theoretische Grundlagen  . . . . . . . . . . 2.5.1 Evolutionstheorie: Annäherung an eine anthropologische Geschichtstheorie  . . . . 2.5.2 Evolutionäre Humanwissenschaften: Neue Perspektiven auf die Conditio humana  . . . . . . . . . .



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2.7 Bilanz: Die Natur des Menschen in evolutionärer Perspektive  . . . . .

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3 Sozialkapital: Eine kritisch-​anthropologische Theorieanalyse  . . . . .

123

2.6 Diskussion: Kritische Einwände gegen evolutionäre Anthropologie  . 2.6.1 Grundsätzliches: Die Ablehnung einer evolutionären Perspektive auf den Menschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Reduktionismus: Genetischer Determinismus und kulturelle Kontingenz  . . 2.6.3 Normativität: Sozialdarwinismus und Wertverwirklichung  . . . . . . . 2.6.4 Adaptionismus: Historizität und die Angepasstheit an den Status quo  . . . 2.6.5 Methoden und Datenquellen: Zur Prüfung vermeintlicher „Just-so“-Stories  . . . . . .

3.1

Der Fokus: Anthropologische Grundlagen und theoretische Defizite  . . .

3.2

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam  . . . . . . . . . . . . . Pierre Bourdieu: Die Reproduktion von Ungleichheiten  . . . . . . . . . James Coleman: Sozialkapital als Lösung des Trittbrettfahrerproblems  . . Robert Putnam: Die Zivilgesellschaft als Motor der Demokratie  . . . . . Sozialtheorie ohne Anthropologie: Drei Klassiker, ein Problem  . . . . . . . . . . . . . .

3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

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VIII Inhalt

3.3

Neuere Konzeptualisierungen: Sozialkapital auf allen Ebenen  . . . . . . . . . . . 3.3.1 Relationales Sozialkapital: Netzwerke, Handlungsmotivationen und Homophilie  3.3.2 Kollektives Sozialkapital: Das Putnam-Problem  . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Multilevel-Sozialkapital: Theoretische und empirische Perspektiven  . . . . . . 3.4

Netzwerke, Normen und Vertrauen: Kategorien und Kausalhypothesen  . . . . . . . . 3.4.1 Netzwerke: Von guten und schlechten Beziehungen  . . . . . . 3.4.2 Werte und Normen: Rationalität und Norminternalisierung  . . . . . . 3.4.3 Vertrauen: Von strategischen Zielen und apriorischer Moral  . . 3.4.4 Sozialkapital in Erklärungsmodellen: Kausalstruktur und Handlungstheorie  . . . . . . . 3.4.5 Bilanz: Eine Proto-Theorie der Kooperation  . . . . . . .

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3.5 Gesamtschau: Das anthropologische Dilemma der Sozialkapitaltheorie  3.5.1 Der Konstruktionsfehler: Ein behavioristisch-​ökonomistisches Menschenbild  . . . 3.5.2 Das Problem: Unterkomplexe Perspektiven auf den Wert sozialer Beziehungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Die Folgen: Normative Verzerrungen und typologische Unschärfen  . . 3.5.4 Das Desiderat: Eine robuste Theorie der Kooperation  . . . . . . . . . . 3.5.5 Die Schnittstellen: Ansatzpunkte für eine empirisch-​anthropologische Fundierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6

Die Mission: „Bringing human nature back in“ 

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Inhalt IX

4 Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals  . . . . . . . . . . . . . . . 4.1

Die Suchspur: Sozialkapital und das Problem des Altruismus  . . . . . . . .

4.2

La familia es todo: Nepotistischer Altruismus  . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Theorie: Verwandtenselektion und inklusive Fitness  . . . . . . . 4.2.2 Empirische Befunde: Erkennung und Bevorzugung von Verwandten  . . . . . . 4.2.3 Bilanz: Nepotistisches Sozialkapital und virtuelle Verwandtschaft  4.3

Quid pro quo: Reziproker Altruismus und sozialer Austausch  . . 4.3.1 Theorie: Die Evolution der Gegenseitigkeit und des Tausches  4.3.2 Empirische Befunde: Tit-for-Tat und Betrügererkennung  . . . . . . . . 4.3.3 Bilanz: Dyadisches Sozialkapital und die Probleme mit „Reziprozität“  . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4

Tue Gutes und rede darüber: Indirekte Reziprozität und teure Signale  . . . . . 4.4.1 Theorie: Indirekte Reziprozität und kompetitiver Altruismus  4.4.2 Empirische Befunde: Wechselwirkungen von Reputation und Normen  . . 4.4.3 Bilanz: Normenbasiertes Sozialkapital und die Macht der Reputation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5

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Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion  . . . . . . . . . 4.5.1 Theorie: Gemeinsinn, Gruppen und Kultur als konstruierte Nische  . . . 4.5.1.1 Das Argument: Altruismus als Ergebnis von Gruppenkonkurrenz  . . . . . . .

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X Inhalt

4.5.1.2 Die Fundierung: EvoDevo und Systemübergänge  . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1.3 Die Rolle von Kultur: Nischenkonstruktion und Kulturfähigkeit  . . . . . . . . . 4.5.1.4 Bilanz: Die komplexe Architektur des Sozialen  . . . . . . . . . . 4.5.2 Empirische Befunde: Kollektives Handeln bei Menschen und anderen Tieren  . . . 4.5.2.1 Von Mäusen und gemeinsinnigen Mikroben: Multilevelselektion in der Natur  . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Superorganismen: Nischenkonstruktion und Systemübergänge in der Natur  . . 4.5.2.3 Geborene Kulturwesen: Menschen als ultrasoziale Nischenkonstrukteure  . . . . . . 4.5.2.4 Individuum und Kollektiv: Zum Zusammenhang von Mikro- und Makroebene  . . . . 4.5.3 Bilanz: Kollektives Sozialkapital und ein gangbarer dritter Weg  . . .

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5 Synthese: Evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals  . . . . .

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5.1 Grundsätzliches: Sozialkapital in ultimater und proximater Perspektive  . . . . .

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5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Eine Typologie: Quellen und Arten von Sozialkapital  . . Nepotistisches Sozialkapital: Blut ist dicker als Wasser  . . . . . . . . Dyadisches Sozialkapital: Gleiches mit Gleichem vergelten  . . . . Normenbasiertes Sozialkapital: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut  . . Kollektives Sozialkapital: Mehr als die Summe der Teile  . . . . . .

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Inhalt XI

5.3 Implikationen: Neue Perspektiven auf etablierte Kategorien  . . . . 5.3.1 Soziale Netzwerke: Vergemeinschaftung, Zusammenhalt und Ähnlichkeit  5.3.2 Werte und Normen: Evolvierte Apriori und soziale Konstruktionen  . . . . 5.3.3 Sozialisation und Habitusformierung: Kulturwesen von Natur aus  . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Rationalität und Präferenzen: Das Gehirn als adaptiver Werkzeugkasten  . . . . . . 5.3.5 Multilevel-Sozialkapital: Reduktionismus, Emergenz und Evolution  . . . . . .

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5.4

Unbequeme Kategorien: Vertrauen, Ethnizität, Herrschaft, Geschlecht  . . . . . . . . . 5.4.1 Die wenig nützliche Kategorie: Vertrauen als Black Box  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Die nützlichen Kategorien: Ethnizität, Herrschaft und Geschlecht  . . . . . . . . . . . . .

6 Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad  . . . . . . . .

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513

6.1

Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive 

6.2

Die Klassiker: Ein zweiter Blick auf Coleman, Putnam und Bourdieu 

. . . .

522

6.3

Ein Ausblick: Sozialkapital als ursprünglichste Form des Kapitals  . . . . . .

528

6.4

Der Proof of Concept: Anthropologie und Sozialwissenschaften  . . . . . . . . . . .

531

Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Warum kooperieren Menschen, warum unterstützen sie einander ? Dass soziale Beziehungen für Menschen von großem Wert sein können, ist eine Binsenweisheit. „Vitamin B“ gilt gemeinhin als überaus nützliche Ressource. Auch der englische Volksmund weiß: „It’s not what you know, it’s who you know.“ Das ist schon intuitiv so plausibel, dass es müßig erscheint, nach den Gründen zu fragen. Menschen sind eben so. Dabei ist es durchaus ein erklärungsbedürftiger Umstand, dass Menschen komplexe soziale Netzwerke aufbauen können, im großen Maßstab miteinander kooperieren, einander helfen und vertrauen. Erst recht ist es ein Rätsel, wie sich solche Beziehungsnetzwerke so verfestigen können, dass daraus gemeinschaftliches Handeln und gesellschaftlicher Zusammenhalt in riesigen Sozialverbänden erwachsen. Warum ist Zucker süß ? Auf den ersten Blick ist diese Frage sogar noch trivialer. Auch steht sie in keinem offensichtlichen Zusammenhang zur menschlichen Sozialität. Doch dieser erste Eindruck trügt: Zucker ist nicht ‚an sich‘ süß. Die angenehme Empfindung entsteht erst im Kopf – genau wie die Lust auf diesen Geschmack. In beiden Zuständen drückt sich die Präferenz des Organismus für energiereiche Nahrung aus. Sowohl das Bedürfnis als auch die selbstbelohnende Wahrnehmung süßen Geschmacks sind implizite Bewertungen, vorreflexive Verhaltensmotivationen, die sich in der Naturgeschichte unserer Spezies gelohnt haben. Sie sind untrennbare Bestandteile der menschlichen Natur – und so schwer bewusst zu überwinden, dass sie heute für vielerlei Probleme sorgen.1

1 Auf diese illustrative Argumentationsfigur wird noch das eine oder andere Mal zurückzukommen sein. Siehe grundlegend S. 98 f., vgl. für den Bezug zur Sozialkapitaltheorie auch S. 9.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_1

1

2

Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Ebenso verhält es sich mit Sozialverhalten. Prosozialität ist nichts jederzeit und objektiv Erstrebenswertes.2 Im Gegenteil: Für rationale Egoisten gäbe es in vielen Situationen mancherlei gute Gründe, sich nicht kooperativ oder gar altruistisch zu verhalten. Dennoch ist Kooperation unter Menschen so verbreitet, dass uns im Grunde nur auffällt, wenn sie ausbleibt: Unzählige Alltagsinteraktionen gründen sich auf die als ganz normal empfundene und meist auch eingelöste wechselseitige Erwartung, dass entlang von geteilten Kooperations- und Konformitätsnormen gehandelt wird. Hinter dem erklärungsbedürftigen Umstand dieser umfassenden Sozialität steht die Frage, warum und unter welchen Bedingungen Menschen soziale Beziehungen als erstrebenswert empfinden, welche tieferliegenden Motivationen und Wahrnehmungen also hinter sozialem Handeln stehen. Zu verstehen gilt es, worin der Wert des Sozialen liegt (Kanazawa und Savage 2004, 2009b; vgl. Ackermann und Freitag 2016: 272).

1.1 Problemstellung: Was sind soziale Beziehungen wert ? Die Sozialkapitaltheorie verleiht der Alltagsintuition sozialwissenschaftlichen Ausdruck, dass soziale Beziehungen für Menschen wichtig sind. Sozialkapital bezeichnet jene Zielerreichungsressourcen, die sich aus sozialen Beziehungsstrukturen ergeben: Einesteils können Individuen aus ihren Netzwerken manchen Nutzen ziehen; andernteils sind intakte soziale Beziehungen auch für Gesellschaften nützlich – etwa im Hinblick auf soziale Kohäsion und kollektive Handlungsfähigkeit. All dies ist zweifellos richtig und in der Sozialtheorie seit langem bekannt (Portes 1998: 21). Doch obwohl die theoretische und empirische Sozialkapitalforschung in den letzten Jahrzehnten stark prosperierte, gibt es bisher keine allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage, was Sozialkapital eigentlich ist (Bjørnskov und Sønderskov 2013: 1226). Das ist angesichts der Popularität und der intuitiven Attraktivität des Konzepts durchaus überraschend. Den Wert sozialer Beziehungen auf den Punkt zu bringen, hat sich als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Selbst prominente Vertreter der Sozialkapitaltheorie räumen ein, dass diese bisher nicht über eine „Proto-Theorie der Kooperation“ hinausgelangt ist (Woolcock 2010: 476; vgl. Diekmann 2007: 55 f.). Relativ einig ist man sich immerhin darüber, dass Sozialkapital in einer „positiven Kooperationshaltung“ wurzelt (Koob 2007: 291), die Menschen einander entgegenbringen. Woher diese normative Motivation aber rührt, liegt noch weit2 Prosozialität meint die handelnde Hinwendung zu anderen Individuen und zur Gemeinschaft (Wilson et al. 2009: 192). Siehe hierzu S. 82 f.

Problemstellung: Was sind soziale Beziehungen wert ? 3

gehend im Dunklen. Genau in der Klärung dieser Frage läge aber der Schlüssel zum Verständnis jenes Wertes, der soziale Beziehungen zu einer Ressource werden lässt (Kanazawa und Savage 2009b: 119). Die in den Sozialwissenschaften verbreiteten handlungstheoretischen Prämissen können der Sozialkapitaltheorie bei der Lösung dieses Problems kaum weiterhelfen. Das Verhaltensmodell des Rational-Choice-Paradigmas geht davon aus, dass Menschen egoistische Nutzenmaximierer sind (‚Homo oeconomicus‘). In der Realität ist soziales Handeln aber von allerlei umbettenden sozialen sowie kulturellen Einflüssen abhängig – und zudem häufig höchst irrational. Die in behavioristischen Sozialisationstheorien wurzelnde Annahme der kulturellen Determination des Menschen (‚Homo sociologicus‘) wiederum verstellt den Blick auf die Universalien menschlichen Sozialverhaltens und individuelle Handlungsrationalitäten. Während das erste Modell sozialen Strukturen zu wenig Beachtung schenkt, mangelt es dem zweiten an einer klaren handlungstheoretischen Fundierung.3 Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie – James Coleman (1988a, 1988b, 1994) und Pierre Bourdieu (1983, 1986) – suchten nach einem dritten Weg zwischen diesen antagonistischen Positionen. Ihr Ziel war es, eine Theorieperspektive auf soziale Wirklichkeit zu entwickeln, die keinem einseitigen Ökonomismus oder Soziologismus anheimfällt, die Akteurshandeln ebenso berücksichtigt wie soziale Makrofigurationen. Der fortdauernde Konflikt um das Mikro-Makro-Problem deutet darauf hin, dass das beiden nicht vollständig überzeugend gelang. Da­ rum blieben auch ihre Konzeptualisierungen von Sozialkapital augenscheinlich zu opak, um nachfolgender Forschung als solide Grundlage dienen zu können. Robert Putnam (1993, 2000), der dem Konzept letztlich zu seiner großen Popularität verhalf, konnte zur Lösung dieses grundlegenden Problems ebenfalls nichts beitragen. Obwohl alle drei Autoren eigene Definitionen lieferten und sich eine Vielzahl weiterer Texte genau dieser Herausforderung gewidmet haben, ist Sozialkapital bis heute eine vage und höchst umstrittene Heuristik geblieben (vgl. Bjørnskov und Sønderskov 2013; Castiglione 2008; Diekmann 2007). Allein mit sozialwissenschaftlichen Mitteln lässt sich eine überzeugende Handlungstheorie zur Erklärung von zwischenmenschlicher Kooperation und gesellschaftlicher Kohäsion anscheinend nicht formulieren. Zielführender dürfte es sein, der Frage nach dem Wert des Sozialen auf empirisch-anthropologischem Wege nachzugehen. Schließlich gründen die Handlungsmotivationen hinter Kooperation und Altruismus eben in der menschlichen Natur. Bei deren Erforschung konnten in den letzten Jahrzehnten vor allem jene naturwissenschaftlichen Diszi3 Siehe hierzu und zum Folgenden mit vielen Verweisen die Ausführungen ab S. 45 und dort insbesondere S. 49 ff. sowie das gesamte Kapitel 3, das sich den handlungstheoretischen Grundlagen der Sozialkapitaltheorie widmet.

4

Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

plinen große Erfolge vorweisen, die in evolutionärer Perspektive auf menschliches Verhalten blicken: Evolutionspsychologie, Soziobiologie, Verhaltensökologie und einige mehr. Den Menschen als ein Produkt der Evolution und seine physischen und psychischen Merkmale als Resultate dieses naturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses anzusehen, hat sich als überaus erkenntnisträchtig gerade auch für das Verständnis von sozialem Handeln erwiesen. In diesem Buch wird deshalb der Frage nachgegangen, ob und in welcher Weise die Sozialkapitaltheorie von diesem evolutionstheoretisch fundierten Menschenbild profitieren kann. Allgemeiner noch soll ergründet werden, mithilfe welcher Wissensbestände sozialwissenschaftliche Handlungstheorien in Richtung einer realistischen Anthropologie weiterentwickelt werden können. Auch diese Studie stellt sich damit einer für die Sozialkapitaltheorie von Beginn an wichtigen Herausforderung: der Entwicklung eines Theorieangebots zur Modellierung des Verhältnisses von individuellen Handlungsrationalitäten und sozialen Strukturen, der Suche nach einem dritten Weg zwischen ökonomistischen und strukturalistischen Reduktionismen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es folglich einesteils, den Grundriss einer handlungstheoretischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie vorzulegen, die auf Erkenntnissen von Fachbereichen basiert, welche die Natur des Menschen empirisch und in evolutionärer Perspektive untersuchen.4 Andernteils ist die Analyse ein Proof of Concept, eine Fallstudie zur Fruchtbarkeit der empirisch-anthro­ pologischen Mikrofundierung sozialwissenschaftlicher Theorien. Diese Studie ist – in den Begriffen von Paläontologie und Archäologie bildhaft gemacht (vgl. Gersbach 1998) – ein Sondierschnitt durch weitgehend unerforschtes Terrain. Er soll exemplarisch und dabei systematisch entlang eines konkreten Falles das Potential kenntlich machen, welches die Hinwendung der Sozialwissenschaften zu den evolutionären Life Sciences birgt.5 Dahinter steht die Hoffnung, Folgestudien zu inspirieren, die – in der Sozialkapitalforschung und anderswo – weiter an der Freilegung des verschütteten Projektes einer integrativen humanwissenschaftlichen Theoriebildung arbeiten. Denn auf solchen Grundmauern werden die Sozialwissenschaften ihre Bedeutung als relevante praktische Wissenschaften stärken können.

4 5

Zu den zentralen Befunden siehe S. 28 ff. Unter Life Sciences werden naturwissenschaftlich fundierte Humanwissenschaften verstanden. Unter ihnen sind hier jene einschlägig, welche in evolutionärer Perspektive auf die Conditio humana schauen, also vor allem Evolutionspsychologie, Soziobiologie, evolutionäre Anthropologie und einige mehr. Siehe auch S. 23 ff.

Relevanz: Anthropologische Fundierung als Desiderat und Exempel 5

1.2 Relevanz: Anthropologische Fundierung als Desiderat und Exempel Warum ist es wichtig, den Nutzen einer evolutionären Anthropologie für die Politikwissenschaft im Allgemeinen und für die Sozialkapitalforschung im Besonderen zu prüfen ? Hinter dieser Frage verbergen sich Teilfragen sowohl nach der Relevanz von Anthropologie im Allgemeinen als auch nach dem Nutzwert einer dezidiert evolutionären Perspektive auf die Natur des Menschen im Besonderen. Im Grunde sind beide Fragen schnell beantwortet. Politikwissenschaft kommt nicht ohne Annahmen zur Beschaffenheit der menschlichen Natur aus. Anthropologische Prämissen gehören zu den letzten Begründungszusammenhängen politischer und politikwissenschaftlicher Theorien. Ihnen kommt eine entscheidende theoriekonstruktive Rolle zu. Denn vom zugrundeliegenden Menschenbild hängt ab, welche politischen Ordnungsformen realisierbar und erstrebenswert erscheinen. Deshalb ist es wünschenswert, sozialwissenschaftliche Theoriebildung auf möglichst zutreffenden Annahmen zur Natur des Menschen zu gründen. Dies macht den Rückgriff auf empirische Anthropologie notwendig – auf eine Theorie also, die menschliches Verhalten auch aus seiner körperlichen Verfasstheit heraus begreiflich macht. Und weil, wie Charles Darwin gezeigt hat, Biologisches nur naturhistorisch zu verstehen ist, muss eine solche Anthropologie evolutionär sein.6 Warum aber sollte gerade die Sozialkapitaltheorie eine solche evolutionär-anthropologische Fundierung erfahren ? Die Antwort auf diese Frage ist zweigeteilt. Einesteils spricht eine Reihe von intratheoretischen Gründen für eine Revision der anthropologischen Grundlagen dieses Ansatzes. Damit andernteils der in dieser Studie zu erbringende Proof of Concept gelingen kann, ist dafür eine Theorie auszuwählen, an welcher sich der Mehrwert einer evolutionären Anthropologie für sozialwissenschaftliche Erklärungen überzeugend aufzeigen lässt. Die intratheoretischen Gründe für eine anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie aufzuzeigen, wird Gegenstand eines großen Teils der vorliegenden Untersuchung sein.7 An dieser Stelle sei deshalb nur darauf verwiesen, dass das Konzept Sozialkapital als hochgradig problembehaftet gilt – und zwar im Hinblick auf Definition, Konzeptualisierung, Operationalisierung, Messung und die theoretische Modellierung seiner Ursachen und Folgen (vgl. exemplarisch Bjørnskov und Sønderskov 2013; Castiglione 2008; Diekmann 2007; Fulkerson

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Siehe zu alldem ausführlich Kapitel 2. Siehe dazu die Ausführungen zum Forschungsstand auf S. 13 ff. und insbesondere das Kapitel 3.

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

und Thompson 2008; Kwon und Adler 2014; Vyncke 2012; Woolcock 2010). Gerade zu der weit über die Sozialkapitaltheorie hinaus relevanten Kausalstruktur hinter der Befolgung von Kooperationsnormen und der Qualität von sozialen Beziehungen ist noch zu wenig bekannt (Ackermann und Freitag 2016: 280; vgl. Newton 2015: 696). Ohnehin geht es in der Sozialkapitaltheorie augenscheinlich um empirische Phänomene, die eine psychologische Dimension haben: Soziale Beziehungen, Al­ truismus, Egoismus, Vertrauen, soziales Prestige, Rationalität, Handlungsmotivationen und Norminternalisierung haben zweifellos kognitive und psychische Grundlagen. Schon mehrfach ist deshalb darauf hingewiesen worden, dass zur Weiterentwicklung der Sozialkapitaltheorie der Rückgriff auf ein evolutionäres oder wenigstens psychologisch fundiertes Menschenbild besonders fruchtbar sein dürfte (exemplarisch: Ahn und Ostrom 2008; Petersen et al. 2009; Woolcock 2010).8 Mindestens drei metatheoretische Gründe sprechen zudem für die Auswahl der Sozialkapitaltheorie für eine Fallstudie evolutionär-anthropologischer Mikrofundierung. Erstens ist sie in mancherlei Hinsicht eine typische politikwissenschaftliche Theorie: Sie ist eine „Theorie mittlerer Reichweite“ (Merton 1949/1968); und ihre grundsätzlichen Probleme bei der Modellierung des Verhältnisses von Akteur und Struktur prägen als „Mikro-Makro-Problem“ auch die Sozialwissenschaften insgesamt (vgl. Greve et al. 2009; Meißelbach 2018; Opp 2014). Und auch über das Verhältnis von Individuen und sozialen Strukturen hinaus lässt sich anhand der Sozialkapitaltheorie vieles exemplarisch aufzeigen, was für die gesamte Disziplin von handlungstheoretischer Bedeutung ist. Schließlich geht es um Kooperation, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Gemeinsinn und viele weitere für Politik- und Sozialwissenschaften grundsätzlich wichtige Phänomene. Zweitens ist das Konzept des Sozialkapitals in den Sozialwissenschaften weit verbreitet und interdisziplinär anschlussfähig. Der Erfolg von Putnams „Making Democracy Work“ (1993) bescherte dem Konzept viele Jahre der ungebrochenen Konjunktur in der politikwissenschaftlichen Literatur (Kwon und Adler 2014: 413; Woolcock 2010: 471). Nach seinem Durchbruch in der Politikwissenschaft setzte es seinen Siegeszug in den Nachbardisziplinen fort und ist heute in den Wirtschaftswissenschaften ebenso verbreitet wie in der Soziologie. Das Konzept hat so auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen diesen drei Sozialwissenschaften angeregt (vgl. Svendsen und Svendsen 2009): Die Liste der empirischen Phänomene, die mithilfe des Sozialkapitalkonzepts untersucht werden, ist so lang, dass

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Für weitere Literaturhinweise hierzu siehe S. 9 ff.

Relevanz: Anthropologische Fundierung als Desiderat und Exempel 7

es – wie Adam und Rončević (2003: 156) ironisch feststellen – einfacher wäre, die nicht erforschten Phänomene aufzulisten.9 Längst gilt Sozialkapital als zentrales, integrierendes „umbrella concept“, das zwischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu vermitteln hilft (Adler und Kwon 2002). Woolcock (2010: 476) betont, dass – unbeschadet aller mit interdisziplinärer Anwendung fast zwangsläufig einhergehenden konzeptionellen Unschärfen – die Stärke des Konzepts gerade darin liegt, verschiedene Wissenschaftszweige (wieder) in Dialog miteinander zu bringen. Sozialkapital als konkreten Fall für anthropologische Fundierung zu wählen, hat also auch einen strategischen Vorteil: Wenn es von sozialwissenschaftlicher Seite her anschlussfähig gemacht werden kann, ist ein prominentes Vehikel für den Wissenstransfer zwischen Sozialund Naturwissenschaften gefunden. Drittens ist der normative Mehrwert einer evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung aufzuzeigen. Hier wird nämlich die Auffassung vertreten, dass die Sozialwissenschaften solche interdisziplinären Bezüge brauchen, wenn sie als praktische Wissenschaften kritisch und konstruktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme mitwirken möchten. Zum Selbstverständnis gerade der Politikwissenschaft und zumal der politischen Philosophie gehört es, mit normativer und empirischer Forschung zum geregelten und friedfertigen Miteinander, zum Aufbau einer „guten Ordnung“ und zum „guten Leben“ beitragen zu wollen. Solches Mitwirken an der Ausgestaltung politischer Ordnung wird jedoch wahrscheinlicher zum Erfolg führen, wenn es auf zutreffenden Annahmen über die physische und psychische Verfasstheit des Menschen als dem Baustoff sozialer Ordnung basiert.10 Es geht hier also auch um einen Beitrag zur politikwissenschaftlichen Grundlagenforschung im Bereich der politischen Philosophie und Handlungstheorie. Denn eine Sozialwissenschaft, die nach gesellschaftlicher Relevanz strebt, kann es sich nicht leisten, anthropologisch rückständig zu bleiben.11

9 Mit Sozialkapital in Verbindung gebracht werden zum Beispiel: Migration, Integration, Transformation, Kriminalität, Erfolg in Schule und Ausbildung, Verhaltensauffälligkeit und Devianz bei Jugendlichen, Gesundheit, Umweltschutz, Lebenszufriedenheit, soziale Vernetzung on- und off‌line, wirtschaftliche, politische und demokratische Performanz sowie kollektives Handeln im Allgemeinen (vgl. Woolcock 2010: 472). 10 Aber selbst jene, die das Ziel von Politikwissenschaft etwas bescheidener „nur“ auf das Verstehen und Erklären von Phänomenen auf der Makro- und der Mesoebene sozialer Wirklichkeit eingrenzen, dürften kaum einleuchtende Gründe dagegen in Stellung bringen können, sich neuen, handlungstheoretisch relevanten Erkenntnissen über die Natur des Menschen zu öffnen. 11 Obwohl die Unterscheidung zwischen Politikwissenschaft und Soziologie längst institutionalisiert ist, sollte sie – gerade im vorliegenden Fall der Befassung mit einem Konzept der politischen Soziologie – inhaltlich nicht als allzu hart und trennscharf angesehen wer-

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Die Sozialkapitaltheorie eignet sich deshalb für eine exemplarische Fallstudie, weil sie mit der Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus eine zentrale normative Kontroverse der Politikwissenschaft berührt (Westle et al. 2008a: 15 f.; vgl. Etzioni 1995; Rawls 1979, 2005, 2014; Sandel 1995; Walzer 1993). Sie rankt sich um die praktisch höchst wichtige Frage, ob und wie sich die Herstellung von Gemeinschaft und Wertbindung mit der Wahrung von Individualität und Freiheit vereinbaren lässt – und zwar vor dem Hintergrund, dass ethnische und kulturelle Heterogenität ebenso wie soziale Konflikte zunehmen, während gleichzeitig die die Akzeptanz von demokratischen Spielregeln und Strukturen abnimmt. Wenn es mithilfe evolutionär-anthropologischer Befunde gelingt, diese und andere normative Streitfragen neu zu bewerten und so die Lösung empirischer Probleme voranzubringen, ist nicht weniger gezeigt, als dass der hier angezielte interdisziplinäre Brückenschlag nicht nur leistbar ist, sondern für die Sozialwissenschaften als praktische Wissenschaften auch über die konkrete Zieltheorie hinaus nützlich sein kann. Das wäre durchaus keine Petitesse. Es zeichnet sich tatsächlich ab, dass die Sozialwissenschaften und insbesondere die Politikwissenschaft bei der Mitgestaltung der Lösungsversuche von großen zivilisatorischen Problemen gegenüber anderen Disziplinen ins Hintertreffen geraten. Es ist um die Politikwissenschaft in dieser Hinsicht schon jetzt nicht allzu gut bestellt: Sie hat zunehmend Probleme beim Einwerben von Fördermitteln (Isaac 2014; Lane 2012; Matthews 2014; Vorländer 2015). Es bestehen Zweifel an ihrer Erklärungs- und Prognosefähigkeit (Cohen 2009; Fearon 2014; Stevens 2012). Selbst in der internen Diskussion wird eingeräumt, dass der gesellschaftliche Wert von Sozialwissenschaften nicht immer klar erkennbar ist (Lupia 2014) und dass Politikwissenschaft sich deshalb wieder darauf besinnen muss, eine Humanwissenschaft zu sein (Munger 2000). Andere Disziplinen gelten inzwischen bei gesellschaftlichen Akteuren als auskunftsfähiger, wenn es um „den Menschen“ und „das Soziale“ geht. Fachbereiche wie die kognitive Neurowissenschaft und die evolutionäre Anthropologie erhalten enorme mediale Aufmerksamkeit und umfängliche Fördermittel. Das hat nicht nur mit der menschlichen Faszination für seine naturhistorischen Wurzeln zu tun, sondern auch mit konkreten Erfolgen, die solche Disziplinen bei der Erklärung menschlichen Verhaltens inzwischen vorzuweisen haben. Nicht im Fokus dieser Disziplinen stehen aber Phänomene wie die Funktionslogik und Performanz von Gesellschaften, Institutionen sowie politischen Systemen. Wenig weiß man dort über die komplexen Eigendynamiken von ge-

den (Alemann 1998; vgl. Patzelt 2013b: 23). So wird es hier auch gehandhabt: Politikwissenschaft wird als eine Soziologie des Politischen begriffen.

Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences 9

sellschaftlichen und institutionellen Strukturen. Zudem fehlt oft das politischphilosophisch informierte Bemühen um normative Begründungshorizonte guter Ordnung und guten Regierens. Deshalb sollten die Sozialwissenschaften den Naturwissenschaften weder das Feld überlassen noch sich hinter einem wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch auf soziale Tatsachen verschanzen. Zielführender dürfte der dritte Weg interdisziplinärer humanwissenschaftlicher Anstrengungen sein. Er allein birgt das Potential, der Lösung des vielleicht größten Problems humanwissenschaftlicher Theoriebildung tatsächlich näherzukommen: der Frage, in welchem kausalen Verhältnis menschliche Natur und Kultur stehen.

1.3 Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences 1.3.1 Sozialkapital: Anthropologische Grundlagen und konzeptionelle Defizite Bisher gibt es keine umfassende Untersuchung der anthropologischen Grundlagen von Sozialkapital, in der eine systematische theoretische Integration mit evolutionär-anthropologischen Wissensbeständen angestrebt würde. Diese Lücke gilt es in der vorliegenden Untersuchung zu schließen. Sie kann sich dabei auf einige Vorarbeiten stützen. Im Wesentlichen sind das solche, die in metatheoretischer Perspektive den Zustand der Sozialkapitaldebatte aufarbeiten und so Aufschluss über die zu lösenden Probleme geben. Allerdings gibt es durchaus auch Texte, die eine anthropologische Fundierung selbst einfordern und exemplarisch umreißen. Der Wert des Sozialen: Sozialkapitaltheorie und Anthropologie Die der vorliegenden Untersuchung am nächsten kommenden Texte stammen von Satoshi Kanazawa und Joanne Savage. Unter Überschriften wie „Social Capital and the Human Psyche: Why is Social Life ‚Capital‘ ?“ (Kanazawa und Savage 2004) und „Why nobody seems to know what exactly social capital is“ (Kanazawa und Savage 2009b) bringen sie Forschungsproblem und Erkenntnisinteresse dieser Studie auf den Punkt: Um wirklich verstehen zu können, warum soziale Beziehungen Kapital sein können, also eine Ressource, braucht es eine Theorie davon, welchen Wert diese Beziehungen für Menschen haben. Um aber zu verstehen, was für Menschen von handlungsrelevantem Wert ist, müssen Präferenzordnungen und Handlungsmotivationen auch von ihrer naturhistorischen Genese her ver-

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standen werden.12 Deshalb braucht die Sozialkapitaltheorie eine Verankerung in einer allgemeinen Theorie menschlicher Werte, wie sie die Evolutionspsychologie in Aussicht stellt (Kanazawa und Savage 2009b: 120). Die Autoren führen diese Verankerung der Sozialkapitaltheorie in der evolutionären Anthropologie entlang von mehreren empirischen Problemen exemplarisch vor (vgl. auch Kanazawa und Savage 2009a). Hier wird in mehrerlei Hinsicht über diese Texte hinausgegangen. Erstens fehlt ihnen die genuin sozialwissenschaftliche Perspektive. Die Autoren arbeiten die konzeptionellen Entwicklungen der Sozialkapitaltheorie nicht systematisch auf und differenzieren wenig zwischen den verschiedenen Konzeptualisierungen, die sich anknüpfend an Bourdieu, Putnam und Coleman entwickelt haben. Auch konzentrieren sie sich auf einige wenige empirische Probleme, wie etwa Unterschiede im sozialen Bindungsverhalten zwischen Geschlechtern. Hier soll es hingegen um die Ausarbeitung einer allgemeinen anthropologischen Grundlage gehen, die für alle wichtigen Ansätze anschlussfähig ist. Ziel der Untersuchung ist es, jene konzeptionellen Schnittstellen zwischen Sozialkapitaltheorie und evolutionärer Anthropologie systematisch auszuarbeiten, die von Kanazawa und Savage nur skizziert wurden. Nichtsdestoweniger liefern diese Untersuchungen gleichsam den Prototyp für das hier Unternommene. Wohl aus den genannten Gründen wurden sie aber bisher in der Sozialkapitalforschung – zumal in der politikwissenschaftlichen – nicht rezipiert. Selbst in jenen im Folgenden zu behandelnden Texten, welche eine anthropologische Fundierung explizit einfordern, werden sie nicht zitiert.13 Durchaus ist nämlich ein sich entwickelndes Bewusstsein für die Notwendigkeit von Bezügen zu den modernen Life Sciences erkennbar. So hat die Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom immer wieder auf die Wichtigkeit evolutionär-anthropologischer Fundierung hingewiesen und sie selbst vorangetrieben (vgl. Ostrom 1998, 2000; Ostrom und Walker 2005). Auch in ihrem letzten systematischen Debattenbeitrag zur Sozialkapitalforschung werden Evolutionspsychologen zitiert und wird auf die Notwendigkeit einer psychologisch fundierten Handlungstheorie hingewiesen (Ahn und Ostrom 2008). Jedoch wird in diesem Text keine tatsächliche Theoriearbeit in diese Richtung unternommen. 12 Es wurde eingangs schon betont: Weder ist Zucker ‚an sich‘ schmackhaft, noch ist prosoziales Verhalten ‚an sich‘ etwas Erstrebenswertes. Beides wird ganz intuitiv und selbstverständlich als angenehm empfunden, weil genau diese – aus welchen Gründen auch immer – entstandene normative Präferenz in der Stammesgeschichte dabei half, adaptive Probleme zu lösen. Siehe hierzu grundlegend S. 98 f. 13 Dass Kanazawa in (auf Blogs wie Big Think und Psychology Today nachzuvollziehenden) hitzigen Debatten recht fragwürdige Positionen vertreten hat, dürfte der Verbreitung dieser Argumente ebenfalls nicht zuträglich gewesen sein.

Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences 11

Ganz ähnlich verhält es sich mit den einschlägigen Texten des Ökonomen Michael Woolcock. Er hat die politik- und wirtschaftswissenschaftliche Debatte um So­ zialkapital seit langem mit weithin rezipierten Beiträgen geprägt (Woolcock 1998, 2001; Woolcock und Narayan 2000). In jüngeren Publikationen wies er dann wiederholt darauf hin, dass in der Sozialkapitalforschung die biologischen und psychologischen Grundlagen von Kooperation stärker zur Kenntnis genommen werden müssten (Woolcock und Radin 2007: 1; Woolcock 2010: 477 f.). Neben solchen Willensbekundungen gibt es durchaus auch dezidiert naturwissenschaftlich orientierte Beiträge, die in der Sozialkapitalforschung rezipiert werden (dazu gehören Macy und Flache 1995; Sturgis et al. 2010; Yamagishi und Yamagishi 1994). Hinzuweisen ist ferner auf den Handbuchartikel „Social Capital in the Brain“ (Petersen et al. 2009), welcher die kognitiven Neurowissenschaften als Hilfswissenschaft für psychologische Fundierung vorschlägt und anwendet, die evolutionäre Perspektive aber nur am Rande streift.14 Auch dort wird aber klar herausgestellt, dass in der Sozialkapitaltheorie evolvierte, kontextsensitive und vorbewusst arbeitende moralische Emotionen – also: angeborene Wertund Präferenzordnungen – stärker berücksichtigt werden müssten (Petersen et al. 2009: 84 ff.). Insgesamt kann von einem fortgeschrittenen Diskussionsstand zur hier verhandelten Forschungsfrage aber noch nicht gesprochen werden. Allerdings haben Anthropologen, Biologen und Psychologen das Konzept „Sozialkapital“ schon als nützlich für ihre eigenen Arbeiten erkannt. So bezeichnen etwa Silk et al. (2009) die sich für Pavianweibchen aus engen sozialen Bindungen ergebenden Fitnesspotentiale als Sozialkapital. Das interdisziplinär integrierende Potential des Konzepts scheint noch nicht erschöpft zu sein – und weit über den Bereich der Sozialwissenschaften hinauszugehen.15 Noch anschlussfähiger für die vorliegende Untersuchung ist ein Aufsatz zu den evolutionären Grundlagen sozialer Kohäsion unter Mitwirkung des Moralpsychologen Jonathan Haidt, der explizite Bezüge zur Forschung von Coleman und Putnam herstellt (Haidt et al. 2008). Zwar bleiben jene kursorisch und skizzenhaft, doch wird ein für diese Untersuchung zentrales Argument entwickelt: Die menschliche Fähigkeit zur „Schwarmbildung“, zur Integration in kohäsive und handlungsfähige emergente soziale Entitäten, basiert auf evolvierten Charakteristika der menschlichen Psyche. Und deshalb ist die Störanfälligkeit sozialen Zusammenhalts auch in evolutionär-anthropologischer Perspektive zu studieren. Haidt vertritt ferner die Auffassung, dass ein solches Unterfangen genau so an14 Das ist insofern verwunderlich, als der Mitverfasser Michael Bang Petersen an anderer Stelle immer wieder auf die Nützlichkeit der evolutionären Perspektive für die Politikwissenschaft hingewiesen hat (vgl. Petersen 2012b, 2012a, 2015). 15 Vgl. dazu S. 6 f.

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zugehen ist, wie es hier geschehen wird: unter Rückgriff auf individual- und multilevelselektionistische evolutionsbiologische Ansätze sowie unter besonderer Berücksichtigung angeborener sozialer Emotionen und moralischer Intuitionen (vgl. auch Haidt 2007, 2013).16 Ähnlich argumentiert eine Studie, an welcher der Evolutionsbiologe David Sloan Wilson beteiligt war (Wilson et al. 2009). Darin wird auf das enorme Potential hingewiesen, welches die Integration von Sozialkapitalforschung und evolutionären Humanwissenschaften für das Verständnis menschlicher Kooperation birgt. Zum einen lassen sich evolutionstheoretische Hypothesen mithilfe des großen Datenkorpus feldbasierter Sozialforschung prüfen und weiterentwickeln. Zum anderen aber kann gerade die Sozialkapitaltheorie von jenen evolutionären Theorien aus Biologie und Psychologie profitieren, die dabei helfen, das handlungstheoretisch so wichtige Verhältnis von menschlichem Egoismus und Altru­ismus zu entschlüsseln (ebd.: 191). Solche dort als Desiderat für zukünftige Forschung benannte interdisziplinäre Theoriearbeit (ebd.: 198 f.) ist das Projekt der vorliegenden Studie. Zentral für die hier entfaltete Argumentation ist eine in jenem Artikel vorgenommene Begriffsklärung: Weil sich in evolutionärer Perspektive altruistisches Verhalten immer wieder als im genetischen Sinne egoistisch herausstellt, ist für das Gemeinte – nämlich das konstruktive und kooperative Interagieren mit anderen sozialen Individuen – der Begriff Prosozialität anderen Begriffen vorzuziehen (ebd.: 192).17 Damit ist der Diskussionsstand zu den anthropologischen Grundlagen von Sozialkapital im Wesentlichen umrissen. Angemerkt sei, dass sich in vielen Texten zum Sozialkapital anthropologische Bezüge finden. So wird etwa behauptet, Freund-Feind-Unterscheidungen gehörten zur Natur des Menschen (Fukuyama 2001: 8); zudem wird darüber gemutmaßt, ob Vertrauen eine „tieferliegende Neigung“ (Westle et al. 2008c: 166) ist und ob es genetische Ursachen hat oder nicht (Häuberer 2010: 82; Uslaner 2008b: 104; Woolcock 2010: 480). Solche Bezüge werden im Fortgang der Analyse detailliert zu betrachten und zu synthetisieren sein, sodass klar vor Augen tritt, welche Anschlussstellen sich für eine evolutionär-​ anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie bieten.

16 Die Konzepte der Individual- und Multilevelselektion werden in Kapitel 4 systematisch eingeführt. 17 Siehe hierzu auch S. 82 f.

Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences 13

Ein weites Feld: Aporien und Defizite der Sozialkapitalforschung Bisher fehlt eine wirklich systematische Untersuchung darüber, ob und wie Aporien und Defizite der verschiedenen Ansätze in der Sozialkapitalforschung mit einer mangelhaften handlungstheoretischen Mikrofundierung in Zusammenhang stehen. Auch eine Ausarbeitung der Schnittstellen zu einer (zumal evolutionären) Anthropologie, die bei der Bewältigung solcher Probleme helfen könnte, liegt nicht vor. Sensibilität für dieses Desiderat ist indes durchaus festzustellen. Noch am deutlichsten verweisen die Kritiker des Konzepts auf den Zusammenhang von theoretischen Schwächen und anthropologischen Vorannahmen. Dass die Sozialkapitalforschung unter vielerlei ungelösten Problemen leidet, gilt aber auch unter Fürsprechern als unstrittig. Die zahlreichen Aporien und Defizite aufzuarbeiten und auf mögliche Ursachen im Bereich anthropologischer Prämissen und ihrer handlungstheoretischen Fundierung zu befragen, ist ein zentraler, in Kapitel 3 unternommener Arbeitsschritt dieser Studie. Sie aufzufinden ist nicht schwer, denn das prosperierende Feld der Sozialkapitalforschung hat ein üppiges Korpus von Literatur hervorgebracht, die sich mit methodischen und theoretischen Problemen auseinandersetzt (siehe etwa Adam und Rončević 2003; Bhandari und Yasunobu 2009; Diekmann 2007; Farr 2004; Field 2008; Fine 2010; Franzen und Freitag 2007b; Fulkerson und Thompson 2008; Gabriel und Westle 2008; Rogers und Jarema 2015). Kein metaanalytischer Text über Sozialkapital kommt ohne den Hinweis aus, dass schon darüber Uneinigkeit besteht, was Sozialkapital eigentlich ist. Folgerichtig wird der analytische Wert des Konzeptes überaus kontrovers diskutiert. Von Sozialkapital ist als „Metapher“ (Devadason 2011) oder „umbrella concept“ (Woolcock 2010) die Rede, das eher heuristischen als explanatorischen Nutzen birgt (vgl. Bjørnskov und Sønderskov 2013; Diekmann 2007). Es sei ein „essentially contested concept“ (Castiglione 2008), dessen ontologischer Status ebenso unklar sei wie sein Sitz in sozialwissenschaftlichen Kausalmodellen (Adler und Kwon 2002; vgl. aber Kwon und Adler 2014). Neben Uneinigkeiten über Ursachen und Folgen (Gehmacher 2009; Mouw 2006; Sabatini 2009a; Zmerli 2010) gibt es zudem noch immer keine allgemein akzeptierte Definition. Stattdessen wird immer wieder auf die klassischen Konzeptualisierungen von Bourdieu, Coleman und Putnam zurückgegriffen (Appel et al. 2014). Nach langen Debatten gelten nicht nur die Probleme bei der Konzeptualisierung, sondern auch bei der Operationalisierung und der Messung von Sozialkapital nach wie vor als ungelöst (vgl. Edwards 2010; Sabatini 2009a). Insgesamt liegen bisher nur „building blocks“ eines Konzeptes vor, dem es trotz weiter Verbreitung an definitorischer Klarheit, konzeptueller Schärfe und validen Messinstrumenten fehle (vgl. Edwards 2010; Vera-Toscano et al. 2013).

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Ein besonderer Stellenwert kommt in der Diskussion um Sozialkapital dem paradigmatischen Konflikt zwischen Mikro- und Makro-Ansätzen zu (vgl. Esser 2008; Lin 1999; Portes 2000). Erstere begreifen Sozialkapital in der Tradition von Bourdieu und Coleman als eine interindividuelle Netzwerkressource. Letztere fassen es anknüpfend an Putnam als eine Eigenschaft von Gemeinwesen auf. Dieser Ansatz dominiert das politikwissenschaftliche Verständnis von Sozialkapital (Fukuyama 2001; Newton 2015; Putnam und Goss 2001). Wie beide Analyseebenen miteinander in Verbindung stehen, was also gesellschaftliche Kohäsion mit sozialen Netzwerken kausal verbindet, wird kontrovers diskutiert (Fulkerson und Thompson 2008; Glanville und Bienenstock 2009; Halstead und Deller 2015; Portes und Vickstrom 2015). Zwar zeichnet sich keine Einigung ab, jedoch wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Lösung wohl darin liege, Sozialkapital als einen rekursiven Mehrebenenprozess zwischen Individuen und sozialen Tatsachen zu begreifen (Adler und Kwon 2002; Bankston 2014; Bankston und Zhou 2002; Sabatini 2015). Diese Diskussion zeigt, dass der von Bourdieu und Coleman gleichermaßen erhobene Anspruch eines theoretischen dritten Weges zwischen Struktur- und Akteurstheorien bisher nicht eingelöst werden konnte.18 Offenkundig unterscheiden sich Sozialkapitaltheorien hinsichtlich ihrer Handhabung des Mikro-Makro-Problems, also der schwierigen theoretischen Modellierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, nicht von anderen sozialwissenschaftlichen Forschungszweigen.19 Der Zusammenhang mit anthropologischen Grundlagen wird bei all diesen Problemen nur selten gesehen. Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass die Konzeptualisierungen schon deshalb schwächeln müssen, weil soziale Beziehungen – etwa im Falle von Freundschaften, sozialer Gruppenbildung und Familien – eine affektive Dimension haben, welche in der Sozialkapitaldebatte eine zu geringe Rolle spielt (vgl. Durlauf 2002; Durlauf und Fafchamps 2003; Fine 2010; Mouw 2006). Außerdem werden theoretische Weiterentwicklungen hinsichtlich der Rolle von Normen für soziales Handeln sowie der qualitativen Eigenschaften sozialer Netzwerke als notwendig und nur mit interdisziplinären Bezügen leistbar erachtet (Ackermann und Freitag 2016: 280; vgl. Newton 2015: 696). Deutliche Hinweise auf die mangelhafte handlungstheoretische Fundierung finden sich aber vor allem bei kritischen Kommentatoren der Sozialkapitaldebatte. In seiner Fundamentalkritik argumentiert Ben Fine, dass die Schwächen der gängigen Sozialkapitaltheorie schon daher rührten, dass Coleman – auf den sich 18 Zur Problemdiagnose siehe S. 124 ff., S.  189 ff. sowie S. 203 f., zu Lösungsperspektiven vgl. S. 394 ff. und S. 486 ff. 19 Zum Mikro-Makro-Problem siehe grundlegend S. 49 ff., im Zusammenhang mit der Sozialkapitaltheorie ferner S. 137 f., S.  162 ff. sowie S. 203.

Forschungsstand: Sozialkapital, Politikwissenschaft und Life Sciences 15

Putnam und damit ein Großteil der einschlägigen politikwissenschaftlichen Literatur stützt – mit seiner Abwendung von der sozialen Tauschtheorie deren psychologisches Menschenbild gegen die Prämisse des ökonomischen Nutzenmaximierers ausgetauscht habe (Fine 2010: 63 ff., vgl. auch 2001, 2008). Er betont an gleicher Stelle, wie wichtig es wäre, der Natur des Menschen in Sozialtheorien wirklich gerecht zu werden. Alejandro Portes, ein erbitterter Kritiker Putnams, hat in einem einflussreichen Aufsatz ferner darauf hingewiesen, dass sich hinter der in Sozialkapitaltheorien gängigen Unterscheidung von konsumatorischen und instrumentellen Handlungsmotivationen letztlich eine Kombination der anthropologischen Prämissen des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus verbirgt (Portes 1998: 7 f.) – ein Argument, dem hier ausführlich nachzugehen sein wird.20 Allerdings werden in diesen Texten keine eigenen empirisch-anthropologischen Überlegungen mit systematischem Anspruch angestellt; die evolutionäre Perspektive bleibt ohnehin unberücksichtigt. Insgesamt kann sich die vorliegende Studie auf einen breiten konzeptionellen und metatheoretischen Forschungsstand stützen. Zu den klassischen Texten von Bourdieu (1983), Coleman (1988a, 1988b, 1994) und Putnam (1993, 1995, 2000; Putnam und Goss 2001) existieren zahlreiche sekundäranalytische Aufarbeitungen (vgl. exemplarisch Bongaerts 2011; Bohn und Hahn 2007; Braun und Voss 2014; Coradini 2010; Gamper 2015). Außerdem bieten Handbücher (Castiglione et al. 2008; Li 2015; Svendsen und Svendsen 2009), Einführungswerke (Field 2008; Franzen und Freitag 2007b; Gabriel und Westle 2008) und Sammelbände (Hal­ stead und Deller 2015; Lin und Erickson 2008) Zugriff auf alle wesentlichen Facetten der theoretischen Ansätze. Auch die ideengeschichtliche und wissenschaftshistorische Genese des Konzeptes ist gut erschlossen und kritisch diskutiert worden (Bhandari und Yasunobu 2009; Farr 2004; Field 2008; Fine 2007; Fulkerson und Thompson 2008; Häuberer 2010; Rogers und Jarema 2015). All dieses Material ist hier einschlägig – und zwar zum einen wegen der enthaltenen Informationen über das Konzept Sozialkapital, zum anderen wegen der über die Texte verstreuten expliziten und impliziten anthropologischen Aussagen. Dieser Diskussionsstand zeigt, dass eine Untersuchung wie die vorliegende aus mindestens drei Gründen notwendig ist. Erstens werden Annahmen über die Natur des Menschen kaum einer kritischen Reflexion unterzogen. Zweitens liegt keine Aufarbeitung dieses Defizits und seiner theoretischen Konsequenzen vor. Drittens wird der Bezug zu den evolutionären Humanwissenschaften zwar gelegentlich gesucht und skizziert, nirgends aber ausgearbeitet. Diese theoretischen Leerstellen gilt es zu füllen.

20 Siehe hierzu S. 158 f. sowie S. 178 f.

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

1.3.2 Politikwissenschaft: Menschenbilder und Evolutionstheorie Neben dem Schrifttum zur Sozialkapitaltheorie sind jene sozialwissenschaftlichen Texte für diese Arbeit relevant, welche sich allgemein mit Evolutionstheorie und Anthropologie befassen. Zwar liefern diese meist keine direkte Vorarbeit für die evolutionär-anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie selbst. Sie stecken jedoch den wissenschaftstheoretischen und historischen Rahmen dieser Studie ab. Im Großen und Ganzen ergibt sich beim Blick auf diese Literatur das folgende Bild: Es gibt einen großen Fundus an Schrifttum, welches das Konzept „Evolution“ und die zentrale theoriekonstruktive Rolle von Menschenbildern in den Sozialwissenschaften behandelt. Allerdings kann nicht davon gesprochen werden, dass evolutionäre Anthropologie zumal in der Politikwissenschaft außerhalb von manchen Nischen nennenswerte Beachtung findet. Weil deshalb der konkrete Nutzen dieses Textkorpus letztlich gering bleibt, sei er im Folgenden nur grob umrissen. Eine ambivalente Situation: Menschenbilder in der Politikwissenschaft Die Frage nach der Natur des Menschen ist jahrtausendealt. Seit mit den Mitteln der politischen Philosophie nach einer „guten Ordnung“ gesucht wird – also seit der Antike –, wird auch dem Wesen der Adressaten dieser Ordnung Beachtung geschenkt. Weil empirisches Wissen zur menschlichen Natur jedoch lange Zeit auf naturwissenschaftlichem Wege nicht zu erlangen war, fiel die Anthropologie in den Zuständigkeitsbereich der Philosophen. Die meisten dieser Denker versuchten jedoch durchaus, ihr Menschenbild auf eine empirische Grundlage zu stellen.21 Zu einer wesentlichen Leistung der ideengeschichtlichen Forschung gehört es, die anthropologischen Prämissen von Klassikern wie Platon, Aristoteles, Hobbes, Marx und vielen mehr gründlich aufgearbeitet, im Hinblick auf ihre theoriekonstruktive Rolle analysiert und zeitgeschichtlich kontextualisiert zu haben (vgl. etwa Bayer und Stümke 2008; Fieser 2001; Jörke 2005; Kupperman 2010; Rembold 2007; Stevenson und Haberman 2008; Trigg 2003). Hervorzuheben ist die Dissertation von Sandra Rembold (2007), die an einigen der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Klassikern zeigt, wie weitreichend die Konsequenzen ihres Menschenbildes für die entworfenen politischen Ordnungsvorstellungen sind. An der Wichtigkeit von Menschenbildern für sozialwissenschaftliche Theorien besteht in diesem Schrifttum im Großen und Ganzen ohnehin kein Zwei-

21 Vgl. hierzu S. 532 f.

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fel.22 Diese Einsicht bildet zwar den methodologischen Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse. Allerdings behandelt der überwiegende Anteil der einschlägigen Texte die Anthropologie vor allem als ein (wissenschafts-)historisches – provokant formuliert: museales – Forschungsgebiet und nicht als empirischen Problembereich. Solche Texte behandeln gelegentlich auch den Darwinismus, stellen ihn jedoch im Hinblick auf seinen empirischen Gehalt auf eine Stufe mit den Anthropologien von Klassikern der politischen Philosophie (vgl. Jörke 2005: 48, 59 ff.; Trigg 2003: 109 ff.). Immer wieder wird so der Eindruck verstetigt, dass „[…] a promising theory of human nature could not, somehow, turn out to be a final and definitive truth. […] How much truth (or appeal) each theory has will remain, of course, a matter of individual judgement“ (Kupperman 2010: 192). Ebendies wird hier aber bestritten, geht es doch gerade um das Potential eines empirisch fundierten evolutionären Menschenbildes als handlungstheoretische Grundlage sozialwissenschaftlicher Forschung. Während der politischen Anthropologie – also der Erkundung eines für politi­ sche und politikwissenschaftliche Theorien tragfähigen empirischen Menschenbildes – in der Neuzeit lange keine große Bedeutung zukam, beginnt sich das spätestens seit der Jahrtausendwende zu ändern (Jörke 2005).23 Gerade Emotionen rücken in den letzten Jahren merklich in den Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. exemplarisch Dustdar 2008; Heidenreich und Schaal 2012, 2013; Korte 2015). Zwar wird mit Nachdruck eingefordert, sich der lange marginalisierten Rolle von Gefühlen für soziales und politisches Handeln wieder analytisch zu nähern, zu einer systematischen empirisch-anthropologischen Fundierung selbst kommt es jedoch nur selten (siehe aber Druckman und McDermott 2008; Dustdar 2008; McDermott 2004; Petersen 2012b, 2015; Wolf 2014).24 So widmet sich etwa ein ganzer Sammelband zur politischen Anthropologie diesem Problemfeld (Jörke und Ladwig 2009), doch kommen darin nur Geisteswissenschaftler zu Wort. Die als notwendig erkannte theoretische Integration natur- und sozialwissenschaftlicher Ansätze bleibt der Band deshalb schuldig (Saage 2010a). Mit der Hinwendung zu politischen Gefühlen wird die Hoffnung verbunden, die festgefahrene theoretische Frontstellung zwischen den derzeit dominanten anthropologischen Annahmen von Rationalität und kultureller Determination aufzubrechen (Scheve 2012). Bei dem Gegensatz zwischen dem Homo oeconomicus der methodologischen Individualisten und dem Homo sociologicus der methodologischen Kollektivisten handele es sich nämlich letztlich um das Ringen um 22 Gleiches wird hier noch für die deutschsprachigen Einführungswerke der Politikwissenschaft der letzten zehn Jahre gezeigt. Siehe dazu S. 35 ff. 23 Zur Entwicklung der politischen Anthropologie siehe ausführlicher S. 42 ff. 24 Vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt.

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eine angemessene Handlungstheorie (Kroneberg 2009) – und damit um eine empirisch-anthropologische Frage (Meißelbach 2013).25 Allerdings werden die Diskussionen zum Mikro-Makro-Problem, in dem sich diese Kontroverse bündelt, weitgehend ohne anthropologische Bezüge geführt (vgl. etwa Albert 2007; Esser 2006; Greve et al. 2009; Heintz 2004; Opp 2014). In dieser Debatte durchaus zu vernehmende Hinweise auf die Relevanz der philosophischen Anthropologie und der in ihr angelegten Bezüge zur evolutionären Anthropologie (Saage 2008, 2010c, 2010b) finden nur wenig Berücksichtigung oder gar auffallend harsche Ablehnung (vgl. Saage 2013).26 Es existiert folglich eine Schieflage zwischen der großen theoretischen Relevanz von Anthropologie und der geringen Rolle, die einschlägige Wissensbestände in der Praxis der Politikwissenschaft tatsächlich spielen. Etwas (zu) pointiert ließe sich sagen, insbesondere die Politikwissenschaft, welche zwar wie jede Sozialwissenschaft ohne Mikrofundierung nicht auskommt, deren Gegenstände jedoch vornehmlich auf der Meso- und Makroebene sozialer Wirklichkeit liegen, hinge anthropologisch in der Luft (Hatemi und McDermott 2011a). Weitgehend unstrittig ist jedenfalls die Einsicht, dass sozialwissenschaftliches Denken stets auf einem Menschenbild fußt. Aber selbst dort, wo man diesem Umstand explizit Rechnung zu tragen versucht, hat sich ein „methodologischer Evolutionismus“ (Kappelhoff 2015) noch längst nicht durchgesetzt, nämlich eine handlungstheoretische Mikrofundierung sozialwissenschaftlicher Theorien in Wissensbeständen zu den biologischen Grundlagen sozialen Handelns. Eine schwierige Beziehung: Evolutionäre Ansätze in den Sozialwissenschaften Der Befund mangelnden empirisch-anthropologischen Tiefgangs in der Politik­ wissenschaft überrascht angesichts der Tatsache, dass dezidiert evolutionäres Denken in den modernen Sozialwissenschaften seit jeher von Bedeutung ist. Die Genealogie sozialwissenschaftlicher Evolutionstheorien ist bereits umfänglich aufgearbeitet worden, etwa von Giesen (1991), Giesen und Lau (1981), Meyer (2010), Schurz (2011), Wortmann (2010) sowie in mehreren Beiträgen in Patzelt (2007a).27 Für den Fortgang der Analyse sind vor allem zwei Einsichten be­deutsam. Erstens war in den modernen Sozialwissenschaften von Auguste Comte über Karl Marx, Herbert Spencer, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies bis in das 25 Siehe hierzu S. 48 ff. 26 Zum Forschungsstand hinsichtlich der Rolle der philosophischen Anthropologie siehe ausführlicher und mit weiteren Verweisen S. 21 f. 27 Vgl. hierzu aus der Perspektive der Biologie auch Riedl (2003).

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20. Jahrhundert hinein naturalistisches Denken durchaus üblich (vgl. Meyer 2010). Allerdings begann schon mit Émile Durkheim als Begründer der modernen soziologischen Theorie- und Denktradition eine Abkehr vom Naturalismus. Er plädierte dafür, Soziales nur mit Sozialem zu erklären, sich also dem naturalistischen Reduktionismus zu entziehen (Durkheim 1895/1984) – und trug damit fraglos Wesentliches zur Institutionalisierung und Entwicklung einer selbstbewussten Soziologie bei (vgl. Lemke 2007: 7 ff.). Diese „Versozialwissenschaftlichung“ (Meleghy 2003) wurde später befeuert durch die missverstandene und inhaltlich falsche Verwendung evolutionären Denkens im Sozialdarwinismus und darauf aufbauend in den grausamen faschistischen und kommunistischen Ideologien und Herrschaftspraxen des 20. Jahrhunderts. Diese Auswüchse diskreditierten evolutionäranthropologisches Denken besonders im europäischen Raum nachhaltig und zu Unrecht (Hawkins 1997; Flohr 1987).28 Eine Folgeerscheinung dessen ist, dass die sozialwissenschaftliche Relevanz naturalistischer Erklärungen bis heute immer wieder bestritten wird (wie etwa von Bell 2006; Mayntz 2006; Richter 2005). Von einer so-und-nicht-anders beschaffenen Natur des Menschen auszugehen, gilt vielen als empirizistisch sowie positivistisch und als für progressive, aufgeklärte Sozialwissenschaftler ablehnenswert (vgl. hierzu Brown 2013; Levy 2011; ferner Segerstråle 2000; Thayer 2004). Kultureller Relativismus hingegen strahlte Respekt vor der Vielgestaltigkeit menschlicher Kulturen und Daseinsformen aus (Brown 2013: 439). Ausgehend vom Durkheimschen Anti-Reduktionismus und getragen von den kulturanthropologischen Studien von Franz Boas sowie seinen Schülern – unter anderem Ruth Benedict und Margaret Mead – entwickelten sich relativistische Erkenntnistheorien und auf ihnen aufbauende postmoderne Theorien, welche grundsätzliche Zweifel an der Beantwortbarkeit von Fragen darüber säten, was anthropologisch (und auch sonst) der Fall ist (Brown 2013; Meyer 2010: 24).29 Mit dem zeitweiligen Erfolg dieser Theorien verbreitete sich die Auffassung, naturalistische anthropologische Argumente dienten vor allem der Aufrechterhaltung von patriarchalischen, sozialdarwinistischen oder sonst wie unterdrückerischen gesellschaftlichen Verhältnissen (MacKinnon 2007). Immer wieder wird in solchen Debattenbeiträgen auf – wie sich zeigen wird: unhaltbare – Ressentiments gegen die Evolutionstheorie rekurriert, um eigene wissenschaftliche (und poli­ tische) Positionen zu stärken (Segerstråle 2000; vgl. auch Pinker 2002).30

28 Siehe dazu S. 104 ff. 29 Siehe S. 51 ff. 30 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit solchen Vorbehalten siehe S. 99 ff., vgl. auch S. 56 ff.

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Zweitens ist zwar nicht anthropologisches, sehr wohl aber evolutionstheoretisches Denken in den modernen Sozialwissenschaften durchaus einflussreich geworden (Meyer 2010). Die Erklärungen sozialen Wandels etwa von Talcott Parsons, Robert Bellah, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas bedienen sich mehr oder weniger explizit einer verallgemeinerten Form der Evolutionstheorie (Giesen 1991: 140 ff.; Meyer 2010: 22 f.), wie sie zuerst von Ludwig von Bertalanffy (1949) und später von Rupert Riedl (1990) ausgehend von der biologischen Evolutionstheorie bereitgestellt wurde. Diese evolutionären Ansätze krankten aber an zwei Arten von Problemen, die sie für die hier verfolgten Zwecke unbrauchbar machen. Zum einen bleiben evolutionäre Theorien sozialen Wandels letztlich antievolutionär in einem anthropologischen Sinne. Beispielsweise versucht Luhmann zwar, seine Weiterentwicklung von Parsons Systemtheorie auf eine naturalistische Grundlage zu stellen, fällt aber einem „eigenartigen Soziologismus“ (Staubmann 2004: 148) anheim und tritt später in grundsätzliche Opposition zum Forschungsprogramm der Soziobiologie (Luhmann 1997a: 438). Überhaupt spielt Anthropologie in Luhmanns Systemtheorie letztlich keine nennenswerte Rolle, was auch heftig kritisiert wurde (Esser 2002b; Meyer 2010). Wie Meyer (2010) und Sanderson (2007) betonen, wird der Conditio humana auch in anderen Evolutionstheorien sozialen Wandels zu wenig Beachtung geschenkt.31 Es handelt sich also zwar um evolutionäres Denken, nicht jedoch um die evolutionär-anthropologische Fundierung des Theoretisierens. Gerade um letzteres geht es aber in dieser Studie. Zum anderen sind viele solcher Theorien keine konsequenten Anwendungen moderner Evolutionstheorien. Aufgrund von unzweckmäßigen Analogiebildungen und mangelndem Verständnis der Evolutionstheorie misslingt immer wieder der konzeptuelle Transfer (Mayr 2002; Miller 2003; Stephan S. Müller 2010; Wortmann 2010). Noch schwerwiegender ist aber das folgende Problem: In den Sozialwissenschaften ist bis heute die traditionelle, von den Klassikern importierte Lesart der Evolutionstheorie wirkmächtig geblieben. Die vielen neuen empirischen und theoretischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte finden indes zu wenig Berücksichtigung (Mayr 2002; Meyer 2010; Sanderson 2007). Evolutionäres Denken in den Sozialwissenschaften ist folglich noch längst nicht so elaboriert, wie das angesichts moderner Evolutionsbiologie, Soziobiologie und Evolutionspsychologie möglich wäre (Wortmann 2010: 14).32 31 Allerdings lässt Habermas’ Befassung mit dem evolutionären Anthropologen Michael Tomasello (vgl. S. 353 ff.) in den letzten Jahren eine Hinwendung zu entsprechender Mikrofundierung erkennen (Habermas 2009), was jedoch erstens mit den großen inhaltlichen Schnittmengen zwischen beiden zu tun haben dürfte (Bianchin 2015) und zweitens in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Debatte (noch) keine nennenswerten Folgen zeitigt. 32 Siehe dazu die einführenden Erläuterungen auf S. 79 ff.

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Noch kein Mainstream: Evolutionäre Anthropologie in den Sozialwissenschaften Was Bemühungen um dezidiert evolutionär-anthropologische Mikrofundierung angeht, so drängt sich aus politikwissenschaftlicher Sicht zunächst die klassische philosophische Anthropologie auf (Saage 2008). Jene bemühte sich – seit dem 19. Jahrhundert zunehmend professionalisiert und institutionalisiert – um ein einheitliches Bild vom Wesen des Menschen (Arlt 2001; Thies 2009; Wilwert 2009; Witteriede 2009). Ihre sozialtheoretisch besonders relevanten Hauptvertreter, Helmut Plessner und Arnold Gehlen (vgl. Arlt 2001: 66 ff.), entfalteten ihre Menschenbilder entlang des naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes ihrer Zeit – und mithin durchaus im Fahrwasser Darwins (Jörke 2005: 13; Meyer 2010: 21 f.). Für die hier verfolgten Zwecke sind ihre Ansätze dennoch nicht sonderlich hilfreich, weil sie die aktuellen Entwicklungen in der Evolutionsbiologie und psychologie aus offensichtlichen Gründen nicht berücksichtigen (Meyer 2010: 80). Auch die zeitgenössische philosophische Anthropologie setzt sich konstruktiv mit der biologischen Evolutionstheorie auseinander (Illies 2006, 2009; Lüdtke 2010). Die vorliegende Untersuchung kann aus diesen Texten vor allem legitimierende Argumente und weiterführende Anschlussstellen etwa zu ethischen Fragen ziehen. Weniger nützlich sind sie im Hinblick auf das konkret zu Leistende, die anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie selbst. Die dafür vorrangig relevante Evolution von Kooperation samt den damit zusammenhängenden psychologischen Dispositionen wird nämlich nur am Rande behandelt (vgl. Illies 2006: 120 ff.). Allerdings hat es, befeuert vom Siegeszug des Neodarwinismus, seit den 1970er Jahren immer wieder Versuche gegeben, politikwissenschaftliches Denken direkt auf die Ansätze der evolutionären Humanwissenschaften statt auf geisteswissenschaftliche Menschenbilder zu beziehen (Bühl 1984; Flohr und Tönnesmann 1983; Giesen und Lau 1981; Losco und Baird 1982; Masters 1975; McShea 1978; Losco 1996). Diesem relativ kleinen Autorenkreis stand lange Ignoranz auf breiter Front entgegen (Losco 2011: 82). In den letzten Jahrzehnten war im angloamerikanischen Raum jedoch eine stärkere Rezeption solcher Texte zu beobachten, zumal jene es in etablierte Journals schafften (Alford und Hibbing 2004; Arnhart 1994, 1995; Masters 1990, 2007; McDermott 2004; Petersen 2012a; Petersen und Aarøe 2013). Relevanz und Nützlichkeit der evolutionären Humanwissenschaften für die Analyse von Politik und Gesellschaft sind in den vergangenen Jahrzehnten ohnehin immer wieder vor Augen geführt worden. Selbst in Antrittsreden einiger Präsidenten der American Political Science Association wurde die Wichtigkeit der biologischen Grundlagen politischen Handelns mehrfach betont – und zwar von John Wahlke (1979), James Q. Wilson (1993) und Elinor Ostrom (1998). Inzwischen haben sich – etwa mit der Gründung der Association for Politics and the

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Life Sciences im Jahr 1980 und dem seit 1982 erscheinenden Journal Politics and the Life Sciences – durchaus tragende Strukturen etabliert (Johnson 2011; Losco 2011; vgl. Blank et al. 2014; Peterson und Somit 2011). Einige Politikwissenschaftler haben sich sogar auf die Entwicklung von Schnittstellen zu den evolutionären Nachbardisziplinen spezialisiert (Hatemi und McDermott 2011b; Lopez und McDermott 2012; McDermott 2004; Petersen 2015, 2012b; Petersen und Aarøe 2013). Und jüngst gaben mit Steven A. Peterson und Albert Somit zwei führende Köpfe dieser Entwicklung ein „Handbook of Biology and Politics“ heraus, welches den einschlägigen Forschungsstand systematisch in seiner Breite erfasst (Peterson und Somit 2017). Unbeschadet dieser begrüßenswerten Entwicklungen besteht große Einigkeit darüber, dass die systematische evolutionär-anthropologische Fundierung der Politikwissenschaft nach wie vor ein Desiderat darstellt (Blank et al. 2014; Brown 2013; Cairney 2013; Johnson 2011; Lewis und Steinmo 2010; Losco 2014). Das gilt für theoretische Grundlagenforschung (Brown 2013; Schulman 2014; Corning 2008) ebenso wie für praxisrelevante Politikfeldanalysen (Cairney 2013) und die empirische Forschung überhaupt (Petersen 2012b, 2015; McDermott 2004). Vereinzelt werden in der Forschung verbreitete und als klassisch geltende Menschenbilder evolutionsanalytisch überprüft und revidiert (vgl. exemplarisch Arnhart 1994, 2010; Ashraf et al. 2005; Berry 2006; Masters 1990; McShea 1978). Die Autoren dieser Studien gehören aber zu jenem engen Zirkel amerikanischer Politikwissenschaftler, die schon seit vielen Jahren für eine evolutionstheoretische Fundierung der Sozialwissenschaften plädieren (vgl. Losco 2011, 2014). Die Soziologie ist in dieser Hinsicht fortschrittlicher (siehe Schnettler 2016). In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von Publikationen erschienen, welche sich um systematische Fundierung soziologischer Erklärungsmodelle in evolutionären Theorien bemühen (etwa Hopcroft 2006, 2016; Kappelhoff 2004; Lopreato und Crippen 2001; Meleghy und Niedenzu 2003; Meyer 2010; Runciman 1998; Turner 2010; Turner und Maryanski 2008; Walsh 2014). Insgesamt ist eine „vorsichtige Öffnung des soziologischen Mainstreams für biologische Erklärungsansätze“ zu beobachten (Schnettler 2016: 521). Allerdings sind auch in der Soziologie noch regelmäßig Klagen darüber zu vernehmen, dass die Verbreitung evolutionstheoretischer Ansätze nur langsam vorankommt (siehe neben den vorstehenden Gilgenmann 2011; Gilgenmann und Schweitzer 2006; Meleghy et al. 2008). Inzwischen ist durchaus eine interdisziplinäre Debatte im Gange, die jedoch oft – zumindest auf Seiten der Geistes- und Sozialwissenschaften – über Relevanzbegründungen, Willensbekundungen, theoretische Skizzen sowie kursorisches Umreißen möglicher Anknüpfungspunkte und gemeinsamer Forschungsansätze nicht hinauskommt. Die genannten Texte sind deshalb hier inhaltlich weniger nützlich als die Primärquellen der jeweiligen Disziplinen, sensibilisieren aber für

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den interdisziplinären Kontext der Fragestellung (Bohlken und Thies 2009; Klose und Oehler 2008; Lüke 2007; Lüke et al. 2004; Oehler 2010; Petzold 2006). Ausgearbeitete theoretische Verknüpfungsversuche wie der hier unternommene, in denen sozialwissenschaftliche Theorien systematisch auf ihre anthropologischen Prämissen befragt und dann auf evolutionär-anthropologische Wissensbestände bezogen werden, sind hingegen selten. Es bleibt zu konstatieren, dass sich nach wie vor „ein größerer Teil der Gesellschaftswissenschaften den Anregungen des modernen Darwinismus […] verweigert“ (Meyer 2010: 77). Zwar hat die Evolutionstheorie stets eine wichtige Rolle für Politikwissenschaft und Soziologie gespielt. Doch im Mainstream dieser Disziplinen sind gerade die neueren Entwicklungen der evolutionären Humanwissenschaften noch nicht angekommen. Dies betrifft schon die moderne Synthese des Neodarwinismus (Meyer 2010: 80), erst recht aber die sozialtheoretisch besonders anschlussfähige erweiterte Synthese der Evolutionstheorie (Corning 2008). Die Sozialkapitaltheorie ist dafür ein beredtes Beispiel. Deshalb kann bei einer zeitgemäßen anthropologischen Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie auf sozialwissenschaftlichen Vorarbeiten nur in der geschilderten, recht begrenzten Weise aufgebaut werden. Das ist aber kein grundsätzliches Problem, denn die in der weiteren Analyse zu offenbarenden anthropologischen Defizite der Sozial­ kapitaltheorie können unter direktem Rückgriff auf Erkenntnisse aus den Life Sciences bearbeitet werden.

1.3.3 Evolutionäre Humanwissenschaften: Grundlegende Wissensbestände Die bisher erfolgreichste forschungsleitende Theorie im Bereich anthropologischer Forschung ist die biologische Evolutionstheorie. Sie wurde inzwischen auf unterschiedlichste Arten glaubhaft bekräftigt und auch jeder Falsifikationsversuch ist fehlgeschlagen. Verschiedentlich wird deshalb die Auffassung vertreten, Evolution sei kaum noch nur als ein theoretisches Modell anzusehen, sondern vielmehr als ein empirisches Faktum (Lange 2012: 11 ff.; Mayr 2005: 30 ff.; Schurz 2011). Die Evolutionstheorie hat in den letzten 150 Jahren nicht nur die Biologie revolutioniert, sondern davon ausgehend zur entscheidenden Weiterentwicklung der naturwissenschaftlichen Humanwissenschaften geführt. Denn nimmt man die Ubiquität von Evolution an (vgl. Schurz 2011), dann ergibt sich im Vergleich zu traditionellen Menschenbildern ganz notwendig eine drastische Akzentverschiebung. Plötzlich erscheint es nicht mehr unmittelbar einleuchtend, Menschen hauptsächlich in Abgrenzung zu „den Tieren“ zu betrachten und das mensch-

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

liche Gehirn – wie Gehlen (1940/2009) – als ein Organ anzusehen, das seinen Träger von den Imperativen des Natürlichen entbindet (Tooby und Cosmides 1994; Damasio 2010; Pinker 2002). Vielmehr entwickeln so arbeitende naturwissenschaftliche Disziplinen ein evolutionär fundiertes Menschenbild, das im Hinblick auf seinen empirischen Gehalt den Verhaltensmodellen der Sozialwissenschaften überlegen ist – eben eine naturalistische Perspektive auf die Conditio humana (Voland 2013: 2). Diesen evolutionär-anthropologischen Disziplinen – insbesondere Humanethologie, Soziobiologie, Evolutionspsychologie, Verhaltensökologie – geht es (unter anderem) darum, menschliches Verhalten ausgehend von seinen naturgeschichtlichen Ursachen zu verstehen und zu erklären. Sie fügen der proximaten sozialwissenschaftlichen Erklärungsebene eine zweite, ultimate Analyseebene hinzu, auf welcher es um jenen Nutzwert geht, den bestimmte physische und psychische Merkmale in der Stammesgeschichte hatten – und darum, wie dies ihren Aufbau und ihre Funktionsweise geprägt hat.33 Da es an für sozialwissenschaftliche Theoriebildung unmittelbar anschlussfähigen Aufbereitungen dieser Wissensbestände noch mangelt, wird hier auf zentrale Lehr-, Einführungs- und Handbücher dieser Disziplinen zurückgegriffen. Im Falle der Soziobiologie ist das vor allem Voland (2013), der eine konzise Einführung in evolutionsbiologische Perspektiven auf menschliches Sozialverhalten bietet (vgl. ferner Alcock 2003; Dawkins 1976b; Wilson 1975; Wuketits 2013). Auch im Fall der Evolutionspsychologie erleichtern Einführungswerke (Buss 2012; Hampton 2010; Swami 2011; Workman und Reader 2010), Handbücher (Buss 2005; Dunbar und Barrett 2009) sowie einige klassische Texte (vor allem Barkow et al. 1992; Cosmides und Tooby 1997; Dawkins 2010; Tooby und Cosmides 1994) den Zugriff auf ein inzwischen weites und ausdifferenziertes Forschungsfeld. Nicht zuletzt stehen auch für Fachfremde verständliche Publikationen aus den Neurowissenschaften bereit, die zu verstehen helfen, was den Menschen zum handelnden Individuum macht und wie sich Handlungsentscheidungen tatsächlich ereignen (Damasio 2010, 2011; vgl. Purves et al. 2012; Breedlove und Watson 2013). Überall dort geht es (auch) um die evolutionären und psychologischen Hintergründe von menschlicher Prosozialität und Kooperation – und damit um jenen Phänomenbereich, welcher im Zentrum von Sozialkapitaltheorien steht. Zwar basiert die vorliegende Studie nicht nur auf solchem Lehr- und Handbuchwissen, jedoch bieten diese Texte interdisziplinären Grenzgängern einen guten ersten Anlauf- und Orientierungspunkt. Schließlich werden dort jene Wissensbestände verhandelt, die in den Disziplinen als relativ gesichert gelten.

33 Zu proximaten und ultimaten Ursachen siehe S. 86 ff.

Fahrplan: Argumentationsgang und Vorgehensweise 25

Darüber hinaus entfaltet sich in Zeitschriften wie Nature, Science, Current Anthropology, Evolution and Human Behavior, Evolutionary Anthropology, Evolutionary Psychology, Human Nature, PLoS ONE und vielen mehr eine breite Forschungslandschaft. Einige Literaturberichte bereiten dort zudem jenen Forschungsstand prägnant auf, der sich hier im Zusammenhang mit Sozialkapital als einschlägig erweisen wird (vgl. exemplarisch Kaplan und Gurven 2005; Gintis et al. 2015; Haidt und Kesebir 2010; Tomasello und Vaish 2013). Über Lehrbuchwissen ist ferner dort hinauszugehen, wo neuere Erkenntnisse zur Multilevelselektionstheorie (Nowak et al. 2010; Wilson 2013, 2015; Wilson und Hölldobler 2005; Wilson und Sober 1998) und zur erweiterten Synthese der Evolutionsbiologie behandelt werden (Laland et al. 2008; Lange 2012; Pigliucci und Müller 2010). Diese aktuellen Ansätze sind nützlich, um die Hervorbringung emergenter biotischer, psychischer sowie sozialer Phänomene und mithin die Grundlagen von kollektivem Sozialkapital theoretisch zu fassen. Grundlegend für all das ist ferner die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Sie macht klar, wie die Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung in die Welt gekommen sind (Irrgang 2001; Lorenz 1973; Riedl und Delpos 1996; Vollmer 2002, 2010; vgl. Kappelhoff 2003). Immer wieder wird auf Argumentationslinien von Rupert Riedl zurückzukommen sein (Riedl 1981, 1990, 1992, 2000). In seinen Texten werden evolutionäre Anthropologie und Erkenntnistheorie mit morphologischen und komplexitätstheoretischen Erkenntnissen verbunden. Sie bieten einen geeigneten integrativen Rahmen für die evolutionstheoretische Befassung mit komplexen Phänomenen wie Gesellschaften und sozialen Netzwerken. Zwischen den genannten Disziplinen wird im Folgenden nur dort differenziert, wo das die Klarheit der Argumentation fördert. Vor allem sind sie hier aufgrund ihrer zentralen Gemeinsamkeit einschlägig, nämlich der interdisziplinär zur Anwendung kommenden evolutionären Perspektive auf menschliches Verhalten. Es wird von ihnen hier deshalb oft zusammenfassend als evolutionäre Humanwissenschaften, evolutionäre Anthropologie oder schlicht Life Sciences die Rede sein.

1.4 Fahrplan: Argumentationsgang und Vorgehensweise Bei der Beantwortung der Frage, in welcher Weise die Sozialkapitaltheorie von einer evolutionär-anthropologischen Fundierung profitieren kann, wird nun wie folgt vorgegangen: Im nächsten Kapitel werden die metatheoretischen und methodischen Grundlagen erarbeitet. Dafür wird zuerst die Rolle von anthropologischen Prämissen in der Politikwissenschaft vor Augen geführt. Eine Inhaltsanalyse politikwissenschaftlicher Einführungswerke legt einen „anthropologischen

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Meta-Konsens“ darüber frei, dass Menschenbilder für sozialwissenschaftliche Theorien zentral sind. Danach wird die ontologische, methodologische und normative Dimension sozialwissenschaftlicher Anthropologie entfaltet – und damit jener wissenschaftstheoretische Kontext, in dem sich diese Untersuchung bewegt. Daran anschließend werden jene konkreten metatheoretischen Denkwerkzeu­ ge bereitgelegt, welche für die hier unternommene interdisziplinäre Theorieintegration notwendig sind. Das sind neben der Grundlage eines in der Evolutionären Erkenntnistheorie gründenden hypothetischen Realismus vor allem ein komplexer Reduktionismus- und Emergenzbegriff sowie die Komplexitätstheorie. Dieses Rüstzeug stellt sicher, dass die Hinwendung zur empirischen Anthropologie nicht in die Sackgasse eines „schlechten Reduktionismus“ im Sinne einer explanatorischen Engführung gerät, sondern sozialwissenschaftlichen Erklärungen vielmehr im Sinne eines „guten Reduktionismus“ eine wichtige Theorieperspektive hinzufügt. Ferner ist natürlich die biologische Evolutionstheorie selbst vorzustellen und ein grundlegendes Verständnis moderner evolutionärer Anthropologie zu entwickeln. Abschließend werden kritische Einwände gegenüber dem evolutionären Paradigma diskutiert. Am Ende dieses Kapitels steht klar vor Augen, dass eine empirisch-anthropologische Mikrofundierung sozialwissenschaftlicher Theorien nicht nur möglich, sondern auch statthaft, notwendig und aussichtsreich ist. Im dritten Kapitel ist zu klären, welche anthropologischen Annahmen die Sozialkapitaldebatte derzeit dominieren und in welchem Zusammenhang jene mit den Aporien und Defiziten der wichtigsten Ansätze stehen. Dazu werden zunächst die klassischen Ansätze von Pierre Bourdieu, James Coleman und Robert Putnam rekonstruiert und dabei auf ihre Menschenbilder befragt. Nachdem auch aktuelle Debattenbeiträge vorgestellt und hinsichtlich ihrer Mikrofundierung untersucht worden sind, wird entlang der zentralen Kategorien der Sozialkapitaltheorie (Netzwerke, Vertrauen, Werte und Normen) und der problematischen Aspekte von einschlägigen Erklärungsmodellen aufgezeigt, wie unklare anthropologische Prämissen auf theoretische und konzeptionelle Probleme durchschlagen. Aufs Klarste wird diese kritisch-anthropologische Theorieanalyse zeigen, dass sich die unscharfe und inkonsistente Verbindung von Rational-Choice-Annah­men und behavioristischen Sozialisationsvorstellungen in vielerlei Problemen der Sozialkapitaltheorie niederschlägt, deren Lösung in der einschlägigen Forschung als echtes Desiderat angesehen wird. Kapitel 4 ist das Herzstück der Untersuchung. Hier werden jene Wissensbe­ stände aus dem Bereich der evolutionären Anthropologie in Stellung gebracht, welche für eine handlungstheoretische Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie einschlägig sind. Dies sind jene Theorien samt ihren jeweiligen empirischen Befundlagen in der Natur und bei Menschen, welche die Evolution verschiede-

Fahrplan: Argumentationsgang und Vorgehensweise 27

ner Formen von Kooperation und Prosozialität erklären, nämlich Verwandtenbevorzugung, direkte und indirekte Reziprozität, kompetitiven Altruismus sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt als Folge von Multilevelselektions- und Nischenkonstruktionsprozessen. Ausgehend von den verschiedenen evolutionären Entstehungskontexten und den jeweils typischen psychosozialen Dynamiken werden vier Typen von Sozialkapital entwickelt: nepotistisches, dyadisches, normenbasiertes und kollektives Sozialkapital. Auch können erste Schlussfolgerungen darüber gezogen werden, in welcher Weise angesichts dieser evolutionär-anthropologischen Wissensbestände über die Aporien und Defizite von Sozialkapitaltheorien und den ihnen zugrundeliegenden Handlungstheorien nachzudenken ist. Das fünfte Kapitel widmet sich dieser Aufgabe vertiefend. Es synthetisiert die Befunde der beiden vorherigen Analyseschritte und stellt sie in einen breiteren sozialwissenschaftlichen Kontext. Hier wird vor Augen geführt, wie sich Sozialkapital sinnvoll von seinen psychosozialen Wurzeln her typologisieren und konzeptualisieren lässt – auch und gerade im Hinblick auf das Verhältnis von sozialer Mikro- und Makroebene. Anschließend werden die Implikationen der Befunde für die zentralen Kategorien der Sozialkapitalforschung herauspräpariert. Auf dieser Grundlage können Überlegungen zur Revision der handlungstheoretischen Grundlagen der Sozialkapitaltheorie angestellt werden – also: zur Diagnose des Veränderungsbedarfs von gängigen Rationalitäts- und Sozialisationskonzepten. Zuletzt werden mit Vertrauen, Ethnizität, Herrschaft, Dominanz und Geschlechtlichkeit jene Kategorien zumindest knapp diskutiert, welchen in der Analyse nicht jener Stellenwert eingeräumt wurde, der ihnen eigentlich zukäme. Das Schlusskapitel arbeitet die Befunde der Studie höchst verdichtet in dreier­ lei Hinsicht auf. Erstens finden sich hier die zentralen Einsichten pointiert umrissen. Zweitens werden weiterführende Perspektiven aufgezeigt, indem einesteils die klassischen Ansätze der Sozialkapitaltheorie einer abschließenden Reflexion unterzogen werden und andernteils ein naturhistorischer Blick auf den Kapitalcharakter sozialer Beziehungen gewagt wird. Drittens wird für die evolutionär-​ anthro­ pologische Fundierung auch anderer sozialwissenschaftlicher Theorien plädiert. Denn letztlich wird hier anhand der Sozialkapitaltheorie nur im Wege eines Proof of Concept aufgezeigt, wie nützlich solche interdisziplinäre Theorieintegration sein kann. Bei alldem wird ausschließlich sekundäranalytisch vorgegangen: Die Gegenstände dieser theoretischen Untersuchung sind bestehende wissenschaftliche Befunde und Erklärungen. Angeleitet von der soeben umrissenen Struktur einer analytischen Erzählung werden die verschiedenen Theoriebausteine rekonstruiert und zueinander in Beziehung gesetzt, werden empirische Befunde zu psychologischen und sozialen Prozessen vorgestellt und historische Deutungskontexte auf-

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

gezeigt. Im Unterschied zu rein politikwissenschaftlichen analytischen Narrativen (Bates et al. 1998; Geddes 2003; Levi 2004) wird es sich dabei um naturhistorische Kontexte handeln, die – anders als jene der Geschichtswissenschaft – Bestandteile kausaler Erklärungen der Evolutionstheorie sind. Der Formalisierungsgrad bleibt bei alldem denkbar gering, was vor allem dem Fakt geschuldet ist, dass hier jeweils sehr facettenreiche sozial- und naturwissenschaftliche Theoriegebäude miteinander in Beziehung zu setzen sind. Der Fluchtpunkt der Argumentation ist der politikwissenschaftliche Anwendungskontext der Sozialkapitaltheorie. Letztlich geht es um die Suche nach Antworten auf Fragen etwa nach den Ursachen für sozialen Zusammenhalt, für die Tradierung von Normen und die Stabilisierung von Ordnung. Weil hier aber die Auffassung vertreten, begründet und belegt wird, dass sozialwissenschaftliche Theorien stets einer Mikrofundierung bedürfen, sind die soziologische und psychologische Analyseebene immer zuerst in den Blick zu nehmen. Der Argumentationsgang wird sich deshalb stets „vom Kleinen zum Großen“ bewegen, von der Mikroebene sozialen Handelns bis hinauf zur Makroebene gesellschaftlicher Kohäsion.

1.5 Befunde: Ergebnisse und Grenzen der Untersuchung Es wird sich zeigen, dass die Sozialkapitaltheorie erheblich davon profitiert, wenn sie ihre handlungstheoretischen Grundlagen auf das Fundament der Evolutionstheorie stellt. Grundlegende Probleme der Sozialkapitalforschung lassen sich mithilfe einer evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung lösen oder zumindest neu aufrollen. Die vorliegende Studie macht auf der Faktenebene klar, was intuitiv ohnehin einleuchtet: Ein realistisches Menschenbild ist für Humanwissenschaften unabdingbar. Und weil Homo sapiens eine evolvierte Spezies ist, muss ein realistisches Menschenbild evolutionär sein. Theorien aus Evolutionspsychologie, Soziobiologie, Verhaltensökologie und anderen Life Sciences werden dort nützlich, wo die Sozialkapitaltheorie sich bisher auf wenig überzeugende Postulate zur Natur des Menschen stützen musste. Eine solche evolutionäre Anthropologie liefert die handlungstheoretischen Grundlagen einer sozialwissenschaftlichen Kooperationstheorie, welche von einer einfachen und nach aktuellem Kenntnisstand empirisch robusten Annahme ausgeht: Das menschliche Gehirn ist kein unspezifisches Universalwerkzeug, sondern ein „adaptiver Werkzeugkasten“ (Gigerenzer und Gaissmaier 2011: 456), eine Ansammlung evolvierter psychologischer Module. Weil jene als domänenspezifische Anpassungen an konkrete evolutionäre Herausforderungen entstanden, weisen sie a priori jeweils spezifische Engführungen und normative Verzerrungen bei der

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Aufnahme und Verarbeitung von Informationen auf. Kenntnisse über die Funktionslogik dieser psychologischen Mechanismen bilden die Grundlage für ein vertieftes Verständnis der kausalen Mechanismen hinter interindividueller Kooperation sowie kollektiver Handlungsfähigkeit – also: hinter Sozialkapital. Soziales Handeln wird nur verständlich, wenn neben seinen unmittelbaren situativen und biographischen Wirkursachen (‚proximate Ursachen‘) auch die grundlegenden evolutionären Anpassungsnotwendigkeiten und Entstehungszu­ sammenhänge (‚ultimate Ursachen‘) betrachtet werden. Warum bestimmte soziale Beziehungen und Handlungen Menschen als so wertvoll erscheinen, dass diese normative Aufladung wiederum anderen Individuen oder gar ganzen Gemeinwesen zur Ressource werden können, lässt sich nur mit Blick auf die adaptive Rationalität menschlichen Verhaltens verstehen: Menschliche Intuitionen, Emotionen und Motivationen sind inhärente Bewertungsmechanismen der stammesgeschichtlichen Nützlichkeit von Verhalten, die sich entlang von Anpassungsproblemen ausformten. Eine von diesen Einsichten her konstruierte Handlungstheorie ist eine Theorie der Natur der Werte, eine empirische Erklärung der Herkunft menschlicher Handlungsmotivationen und Präferenzordnungen. Sie ist sozialwissenschaftlichen Verhaltensmodellen aber nicht nur hinsichtlich des empirischen Gehalts überlegen. Die der Sozialkapitaltheorie bisher zugrundeliegende Handlungstheorie ist selbst logisch inkonsistent. In ihr wird versucht, die einander widersprechenden „Als-ob-Anthropologien“ (Bröckling 2003: 17; Bryan D. Jones 2003: 409) des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus zu verbinden. Deutlich wird dies etwa an der empirisch wenig gehaltvollen Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Handlungsmotivationen: Während erstere die ökonomische Rationalität im eigentlichen Sinne adressieren, fungieren letztere als psychologische Residualkategorie. In ihr wird die – weitgehend unverstandene – kausale Wirkung von internalisierten Normen und Sozialisationserfahrungen (also: sozialen Strukturen) sowie anderweitig „irrationalen“ Motivationen (vor allem: Emotionen) zu erfassen versucht. In klassischer Rational-Choice-Perspektive werden solche „Verhaltensanomalien“ (Braun und Voss 2014: 89) zugunsten von theoretischer Sparsamkeit und Eleganz gleich ganz ausgeblendet. In der Sozialkapitaltheorie – welche ja gerade soziale Interaktionen abbildet, die über rein ökonomische Transaktionen hinausgehen – ist das schlechterdings nicht möglich. Das Ergebnis dieser methodologischen Zwangsehe in Form eines behavioristisch-ökonomistischen Verhaltensmodells ist eine ganz inkonsistente und in entscheidenden Fragen zu vage bleibende handlungstheoretische Mikrofundierung. Dessen Konsequenzen lassen sich allenthalben besichtigen, etwa bei der Frage, was die Ursachen von Normenkonformität, geteilten Werten, Vertrauen, sozialer Vernetzung (also letztlich: von Sozialkapital) sind. Auch die durchaus popu­läre

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Unterscheidung von bindendem Sozialkapital, das einzelne Gruppen nur intern stärkt, und brückenbildendem Sozialkapital, welches jene miteinander verbindet und so gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, entbehrt bisher einer soliden theoretischen Basis. Evolutionäre Anthropologie löst dieses Problem auf, indem sie die konkreten Mechanismen hinter Handlungsentscheidungen und Sozialisationsprozessen aufdeckt und mithilfe einer kausalen Theorie ihrer naturgeschichtlichen Nützlichkeit erklärt. Sozialkapital muss so nicht länger ausgehend von seinen Folgen konzeptualisiert und definiert werden: Der proximate Funktionalismus, welcher bisher insbesondere politikwissenschaftliche Konzeptionen kennzeichnet, kann zugunsten eines ultimaten, evolutionär-anthropologischen Funktionalismus überwunden werden. Eine auf Basis dieser allgemeinen Handlungstheorie rekonstruierte Sozialkapitaltheorie entkommt auch der Falle des methodologischen Ethnozentrismus, in die gerade die politikwissenschaftliche Forschung geraten ist: Als Sozialkapital für Gemeinwesen erscheint dann nicht mehr nur, was demokratietheoretisch wünschenswert ist. Diese Mikrofundierung schließt zudem passgenau an den kleinsten gemeinsamen Nenner der meisten sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierungen an: Sozialkapital wurzelt in einer „positiven Kooperationshaltung“ zwischen Personen bzw. von Individuen gegenüber einer Gemeinschaft (Koob 2007: 291). Diese prosoziale Neigung lässt sich nun spezifizieren und differenzieren, denn sie erwächst aus distinkten, evolvierten, in angebbarer Regelhaftigkeit arbeitenden psychologischen Mechanismen. So wird es zum Beispiel möglich, die in der Sozialkapitaltheorie wichtige, aber opake Residualkategorie des – zumal: generalisierten – Vertrauens durch robuste Erkenntnisse darüber zu ersetzen, welche Motivationen kooperativen Handlungen zugrunde liegen. Die evolutionäre Anthropologie belehrt darüber, dass solche kooperativen Handlungsmotivationen nicht auf einer einzigen Rationalität basieren. Stattdessen gab es verschiedene evolutionäre Pfade hin zu prosozialem Verhalten, die sich in unterschiedlichen psychologischen Modulen und Heuristiken niedergeschlagen haben. Ausgehend von diesen ultimaten Ursachen lässt sich eine Typologie von So­ zialkapital entwickeln, die – anders als viele bisher bestehende – nicht an konkrete kulturelle Manifestationen und bestimmte Outcomes geknüpft ist. Vier Typen von Sozialkapital können danach unterschieden werden, auf welchen spezifischen psychosozialen Prozessketten sie basieren. ■■ Nepotistisches Sozialkapital beruht auf der Veranlagung zur Verwandtenbevorzugung. Weil bei Menschen die Verwandtenerkennung (auch) über kulturelle Repräsentationen vermittelt wird, lässt sich diese Disposition auf andere soziale Einheiten (z. B. die „Familie der Gläubigen“ oder das „Vaterland“) um-

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leiten und so pseudo-nepotistisches Sozialkapital erzeugen. Auf diese Weise kann aus der sozial konstruierten Fiktion von Verwandtschaftsverhältnissen eine Handlungsressource für Kollektive werden. ■■ Dyadisches Sozialkapital basiert auf evolvierten Fähigkeiten zum Engagement in Beziehungen des direkten Gebens und Nehmens, also auf reziprokem Altruismus. Es speist sich aus sozialen Emotionen, einem angeborenen Sinn für Fairness sowie unterbewusst arbeitenden kognitiven Modulen der Betrügerund Altruistenerkennung. ■■ Normenbasiertes Sozialkapital erwächst aus Dispositionen zur Maximierung von sozialer Reputation sowie zur Einhaltung und Durchsetzung von Normen. Die Konventionen, entlang derer soziale Reputation bemessen wird, sind dabei ebenso wenig nur sozial konstruiert wie das Streben nach Anerkennung selbst. Beteiligt sind auch evolvierte normative Apriori, die in moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen zum Ausdruck kommen. Ein Effekt der Interaktion dieser individuellen psychologischen Mechanismen in Beziehungsnetzwerken ist soziale Kontrolle, die ihrerseits die Geltung von Normen absichert und so Erwartungssicherheit stiftet. ■■ Kollektives Sozialkapital bezeichnet einen emergenten Zustand der Selbstorganisation von komplexen sozialen Systemen, der sich entlang von (wahrgenommener) Konkurrenz zwischen Gruppen um Ressourcen herausbildet und kollektive Handlungsfähigkeit befördert. Solche routinemäßige Kooperation bleibt stets exklusiv, gebunden an die soziale Konstruktion von Gruppenidentitäten und an die individuelle Empfindung, einer moralischen Gemeinschaft anzugehören. Zum einen basiert dieses „Wir-Gefühl“ auf der Kanalisierung evolutionär älterer psychologischer Mechanismen wie dem der Verwandtenbevorzugung. Zum anderen erwächst solches Sozialkapital aus unter den Bedingungen permanenter Zwischengruppenkonkurrenz evolvierten, genuin gemeinsinnigen Antrieben. Während die ersten drei Formen relationales Sozialkapital darstellen, das aus psychosozialen Prozessen in Dyaden und sozialen Beziehungsnetzwerken resultiert, lässt sich kollektives Sozialkapital nur sinnvoll auf der Ebene von sozialen Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften beschreiben. Es ist ein analytisch von relationalem Sozialkapital zu trennendes, empirisch aber auf ihm basierendes Phänomen. Im Hinblick auf einen zentralen Disput in der Sozialkapitaldebatte lässt sich deshalb schlichtend formulieren: Zwar gibt es diese höchst störanfällige Zielerreichungsressource für Kollektive auf der sozialen Makroebene. Sie emergiert aber aus komplexen Prozessen der Wechselwirkung von individuellen Handlungsmotivationen und an diese anthropologischen Vorbedingungen passgenau anknüpfenden sozialen Konstruktionen.

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

Diese evolutions- und komplexitätstheoretische Modellierung sozialer Makrofigurationen eröffnet neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem. Wie sich zeigen wird, ist jenes kein exklusives theoretisches Problem der Sozialwissenschaften. Es verweist vielmehr auf eine Klasse von empirischen Problemen im Zusammenhang mit sogenannten Systemübergängen: Diese haben sich im Zuge der Evolution von Komplexität immer wieder ereignet und so neue Organisationsebenen des Lebendigen hervorgebracht: bei der Entwicklung von mehrzelligen Organismen aus Einzellern und der Evolution eusozialer Insektenkolonien ebenso wie bei der Entstehung menschlicher Kollektive. Stets waren und sind dabei funktional äquivalente Probleme im Zusammenhang mit dem Gegensatz von Individual- und Kollektivrationalitäten zu lösen. Menschliche Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind nichts anderes als Spezialfälle solcher Systemübergänge. Das Verständnis der evolutionären Hervorbringung solcher Übergänge birgt Implikationen von erheblicher sozialtheoretischer Tragweite, gerade in Bezug auf die Unterscheidung von bindendem und brückenbildendem Sozialkapital und im Hinblick auf die Herstellung sozialer Kohäsion. So ist die Hoffnung auf grenzenlosen Zusammenhalt in beliebig heterogenen Gemeinwesen wohl – leider – unbegründet. Die besondere menschliche Ultrasozialität, gekennzeichnet durch die individualpsychologisch begründete Bereitschaft zur kollektiven Handlungsfähigkeit, ist Ergebnis einer langen Stammesgeschichte der Zwischengruppenkonkurrenz. Der Wirkungsbereich von kollektivem Sozialkapital wird deshalb stets von (sozial konstruierten) Gruppengrenzen und (wahrgenommenen) Ressourcenkonflikten limitiert. Er spannt sich dort auf, wo Menschen in gemeinsamen Sinnkontexten handeln und sich als Teil einer moralischen Gemeinschaft sehen, der sie sich auch emotional zugehörig fühlen. In Durkheims Begriffen reformuliert: Es kann organische nicht ohne mechanische Solidarität geben. Aber nicht nur kommunitaristische Positionen erfahren durch evolutionär-​ anthropologische Fundierung manche Bekräftigung, sondern auch liberale. Denn der gemeinsame Handlungskontext von Kollektiven wird auch über Gerechtigkeit und Fairness hergestellt. Ein zur menschlichen Natur ganz wesentlich gehörendes Egalitarismus-Syndrom lässt moralische Gemeinschaften dort nachhaltig entstehen, wo Ressourcen aus Sicht ihrer Mitglieder gerecht verteilt werden und wo Macht nicht missbraucht wird – wo also kulturell konstruierte Regeln und praktizierte Herrschaft passgenau an evolvierte psychologische Mechanismen anschließen. Vor dem Hintergrund all dieser Einzelbefunde lässt sich auch jene grundlegende Einsicht über den ontologischen Status von Sozialkapital auf den Punkt bringen, welche diese Analyse zutage fördern wird: Sozialkapital ist ein prozessuales Dispositiv, ein Potential individueller und kollektiver Zielerreichung, das aus dem störungsfreien Ablauf von komplexen psychosozialen Prozessketten bei der Inter-

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aktion menschlicher Gehirne resultiert. Die Kausalstruktur dieser Prozessketten ist nur zu begreifen, wenn ihre Historizität in Rechnung gestellt wird – und zwar nicht (nur) ihre kultürliche, sondern zuallererst ihre natürliche. Viele dieser Erkenntnisse sind anschlussfähig an das, was Sozialkapitaltheoretiker und zumal sozialwissenschaftliche Klassiker längst richtig erkannt haben. Jedoch lässt sich mithilfe einer evolutionär fundierten anthropologischen Theorie dieses Erkannte nun auch erklären – und zwar nicht unter Rekurs auf anthropologische Setzungen, sondern mithilfe einer empirischen Handlungstheorie, die Auskunft über die genauen kausalen Mechanismen gibt. Der zentrale Mehrwert dieser Arbeit schlägt sich also auf zwei Ebenen nieder. Erstens ist nun klarer, was Sozialkapital ist, wie es entsteht und welche verschiedenen Typen es gibt. Damit ist – zweitens – auch gezeigt, dass die evolutionäranthropologische Fundierung von sozialwissenschaftlichen Theorien zu deren eigenem Nutzen gelingen kann. Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen natürlichen und kulturellen Tatsachen, der einer theoretischen Integration prinzipiell im Weg stünde. Vielmehr basieren soziale Tatsachen auf biotischen Grundlagen und sind deshalb immer auch natürliche Phänomene. Evolutionäre Anthropologie und sozialwissenschaftliche Theorie lassen sich deshalb konsistent miteinander verbinden – und die Zukunft wird wohl genau in diesem Projekt einer arbeitsteilig organisierten, integrativen Humanwissenschaft liegen. Wenngleich die vorliegende Untersuchung dazu wohl einiges beitragen kann, findet sie ihre Grenzen doch an mindestens zwei Stellen. Zum einen wird den empirischen Befundlagen der Sozialkapitalforschung selbst wenig Beachtung geschenkt. Diese Engführung ist notwendig, weil hier Theoriearbeit zu leisten ist, die sich in erster Linie auf die empirischen Befunde der evolutionären Humanwissenschaften zu stützen hat. Jedoch liegen bedeutende Potentiale darin, die aus dem hier entwickelten theoretischen Rahmen ableitbaren Hypothesen – etwa zu der Unterschiedlichkeit von nepotistischem und normenbasiertem Sozialkapital oder zu den Bedingungen von kollektivem Sozialkapital und mithin von sozialer Kohäsion – in empirischen Theorievergleichen zu überprüfen. Zum anderen ist dieser theoretische Rahmen selbst noch nicht so konsistent, sparsam und exakt, wie das wünschenswert wäre. An einigen Stellen müssen die theoretischen Bezüge zwischen evolutionärer Anthropologie und Sozialkapitaltheorie noch im Detail ausgearbeitet werden. Immer wieder wird es dabei zudem notwendig werden, das hier argumentativ Umrissene in eine formalisierte Theoriesprache zu überführen. Kritiker könnten dieser Studie deshalb entgegenhalten, sie mache nicht klar, was aus den erlangten Erkenntnissen für bestimmte Bereiche der Forschung und für die Lösung spezifischer empirischer Probleme ganz konkret folgt – und sie werden recht damit haben. Jedoch ist dies nur eine Frage der weiteren theoretischen Ausarbeitung, gleichsam also der vollständigen Aus-

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Der blinde Fleck: Sozialkapital und die Natur des Menschen

grabung des mit dem zunächst nötigen Sondierschnitt in seiner grundlegenden Struktur Aufgezeigten. Hier kann nur grundrisshaft freigelegt werden, was soziale Kooperation und gesellschaftlichen Zusammenhalt bedingt – wovon also abhängt, ob Menschen aus sozialen Beziehungen Kapital schlagen können. Dabei geht es darum, die kausale Struktur hinter diesen Phänomenen im Großen und Ganzen aufzuzeigen. Vieles bleibt dabei unvollständig und skizzenhaft, manches wird sich wohl auch als falsch herausstellen. Das ist für einen Forschungsansatz, der sich im kritischen Rationalismus des hypothetischen Realismus gründet, jedoch kein prinzipielles Problem. Zudem steht diese interdisziplinäre Unternehmung ohnehin unter jenem erkenntnistheoretischen Motto, das der Physiker Erwin Schrödinger im Vorwort zu „Was ist Leben ?“ formulierte: „Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg […] geben: daß einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen. Soviel zu meiner Entschuldigung.“ (Schrödinger 1944/1989: 19)

2 Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

2.1 Die Problemstruktur: Menschenbilder in der Politikwissenschaft Die Frage nach der Natur des Menschen war zu allen Zeiten auf das Engste mit dem Nachdenken über gute politische Ordnung und die Ausgestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens verbunden. Die Theoriegebäude der bedeutendsten Klassiker der politischen Ideengeschichte – von Platon und Aristoteles über Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Hume, Mill, Smith, Marx und Kant bis hin zu Nussbaum, Höffe, Taylor, Honneth, Hayek, Habermas u. v. m. – waren stets auf anthropologische Prämissen oder zumindest Reflexionen zur menschlichen Natur gegründet.34 Auch in der zeitgenössischen Politikwissenschaft gelten Menschenbilder als theoriekonstruktiv überaus wichtige Prämissen. Zwar ist diese Aussage im Grunde trivial. Doch zeigt sich immer wieder, dass es notwendig ist, sie engmaschig zu belegen, ihre Konsequenzen vor Augen zu führen – und damit auch den allgemeinen theoretischen Zweck und Wert einer Studie wie dieser klar vor Augen zu führen. Um die politikwissenschaftliche Relevanz von Menschenbildern nachzuweisen, wurden alle aktuellen deutschsprachigen Lehr- und Einführungsbücher einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.35 Ergebnis dieser Erhebung war ein Datensatz, der alle Aussagen über die – insbesondere: theoriekonstruktive – Rolle

34 Siehe dazu einschlägige Überblickswerke der philosophischen und politiktheoretischen Anthropologie (Brown 2013; Jörke 2005; Jörke und Ladwig 2009; Kupperman 2010; Rembold 2007; Stevenson und Haberman 2008; Trigg 2003). 35 Gerade in diesen Texten sind die Grundlagen und das Selbstverständnis der Disziplin aufzufinden. In ihnen werden vor allem jene (Meta-)Theorien thematisiert, denen innerhalb des Faches eine allgemeine Relevanz attestiert wird. Zentrale Konzepte stehen im Mittel-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_2

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

von Menschenbildern in der (deutschen) Politikwissenschaft enthielt und zur Grundlage der im Folgenden präsentierten Gestalterkenntnis über die Rolle von Anthropologie für Politikwissenschaft wurde.36 Ein wenig überraschender Befund dieser Untersuchung ist, dass sich fast alle der siebzehn Werke – wenngleich in sehr unterschiedlichem Umfang und Impetus – mit Menschenbildern in der Politikwissenschaft auseinandersetzen. Nur zwei von siebzehn Büchern enthalten keinerlei explizite einschlägige Aussagen (Frantz und Schubert 2010; Hofmann et al. 2010). Zwei weitere behandeln das Thema ganz oberflächlich (Kevenhörster 2006, 2008). Während unter den restlichen dreizehn Büchern acht das Thema nur streifen (Bernauer et al. 2013; Gerlach

punkt, während abseitige, veraltete und hoch kontroverse Debatten höchstens als solche gekennzeichnet Erwähnung finden. Untersucht wurden alle einschlägigen Werke, die zwischen 2003 und 2013 erschienen sind, und zwar Bellers und Kipke (2006), Berg-Schlosser und Stammen (2013), Bernauer et al. (2013), Frantz und Schubert (2010), Gerlach et al. (2010), Hofmann et al. (2010), Kevenhörster (2006, 2008), Krämer (2011), Lauth und Wagner (2012), Münkler (2006), Naßmacher (2010), Nitschke (2012), Patzelt (2013b), Pelinka und Varwick (2010), Schmidt et al. (2013) sowie Thöndl (2005). 36 Diese qualitative Inhaltsanalyse wurde, vom Verfasser angeleitet, von Ines Köhler durchgeführt und als Abschlussarbeit eingereicht. Eine Veröffentlichung der Studie als Aufsatz ist geplant; Qualifikationsarbeit und Datensatz werden auf Anfrage gern ausgereicht. Hier soll das Design nur knapp vorgestellt werden. Ziel war es herauszufinden, welche Rolle anthropologische Prämissen in der deutschen Politikwissenschaft heute spielen und welche Aussagen über die theoriekonstruktive Rolle von Menschenbildern gemacht werden. Zu diesem Zweck wurde in allen Werken über das Inhaltsverzeichnis auf einschlägige Textpassagen zugegriffen, etwa: zentrale Theorieansätze und Politikbegriffe; Politische Theorie, Ideengeschichte und politische Philosophie; Hervorbringung politischer Ordnung; forschungslogisches Selbstverständnis der Disziplin; interdisziplinäre Bezüge. Ferner wurde im Schlagwortregister und – wenn möglich – mit der Suchfunktion nach relevanten Begriffen gesucht: „anthropolog*“, „conditio humana“, „homo*“, „Natur des Menschen“, „Menschenbild“, „Wesen“, „Sozialität“, „Evolution“. Die gefundenen Passagen wurden dann nach Aussagen über die Rolle von Menschenbildern für die Politikwissenschaft abgesucht. Solche Aussagen wurden anschließend in einen Datensatz überführt, in dem ferner der genaue Findeort (Seitenzahl, Kapitel, Unterkapitel) und der inhaltliche Kontext der Aussage erfasst wurden. Die Erhebung war von einem Analyseleitfaden angeleitet, der genaue Analyseanweisungen, Arbeitsdefinitionen der zentralen Begriffe (Anthropologie, Menschenbild), einschlägige Schlagworte und Ankerbeispiele für aufzufindende Passagen enthielt. Ergebnis war ein Datensatz mit allen relevanten Aussagen in allen untersuchten Werken. Die Reliabilität des Erhebungsinstruments wurde durch Pretests an drei ausgewählten Werken durch zwei unabhängig arbeitende Personen abgesichert. Ferner wurde nachträglich die Validität geprüft, indem zwei weitere Werke von einer dritten Person erneut analysiert und die Befunde abgeglichen wurden. Darüber hinaus prüfte Werner J. Patzelt selbst die Befunde, welche die Analyse seiner „Einführung in die Politikwissenschaft“ erbrachte. Insgesamt zeigte sich, dass das Verfahren eher zu viel als zu wenig Material zutage gefördert hatte und für die Analyse wesentlichen Passagen jeweils von allen Codern aufgefunden wurden.

Die Problemstruktur: Menschenbilder in der Politikwissenschaft 37

et al. 2010; Krämer 2011; Münkler 2006; Naßmacher 2010; Nitschke 2012; Pelinka und Varwick 2010; Thöndl 2005), wird sich in den anderen fünf umfassend und/ oder systematisch damit befasst (Bellers und Kipke 2006; Lauth und Wagner 2012; Patzelt 2013b; Schmidt et al. 2013; Berg-Schlosser und Stammen 2013). Qualitativ und quantitativ stechen dabei besonders die Texte von Patzelt (2013b) sowie in Lauth und Wagner (2012) hervor.37 Das Themenfeld wird innerhalb der Politikwissenschaft durchaus unterschiedlich verortet. Einesteils wird es der Ideengeschichte bzw. der politischen Theorie inklusive der politischen Philosophie zugerechnet, so etwa bei Berg-Schlosser und Stammen, Krämer sowie Patzelt, aber auch in Gerlach et al. sowie Schmidt et al. Andernteils gilt Anthropologie als relevant bei der Beantwortung von empirischen Fragen im Zusammenhang von Akteur-Struktur-Beziehungen, also dem Mikro-Makro-Problem,38 und zwar bei Berg-Schlosser und Stammen, Bernauer et al. sowie Patzelt, in Gerlach et al. sowie Schmidt et al. und in dem Beitrag von Berg-Schlosser in Münklers Band. Auf biologische oder gar evolutionäre Wissensbestände wird dabei nur bei Bellers und Kipke sowie vor allem von Patzelt verwiesen. In Bezug auf die Relevanz anthropologischer Prämissen herrscht trotz der Disparitäten bei Art und Umfang der Behandlung von Menschenbildern in deutschsprachigen Lehr- und Einführungsbüchern vollkommene Einigkeit unter den Autoren. Die folgenden Zitate stehen exemplarisch für eine Reihe ähnlicher Aussagen und bleiben im analysierten Textkorpus unwidersprochen: „Erklärungsgegenstand des Politischen ist die Reflexion über Sinn und Wesen von Mensch und Gesellschaft“ (Naßmacher 2010: 307). „Zu den schon klassisch zu nennenden Streitfragen in der Politik- und in den anderen Sozialwissenschaften gehört die nach den wesentlichen Motiven menschlichen Handelns […]“ (Bellers und Kipke 2006: 198). „Zwar findet die Politikwissenschaft die meisten ihrer Gegenstände in den oberen Schichten […]. Doch die sie dort interessierenden Inhalte, Prozesse und Strukturen entstehen nur durch menschliches Handeln. Dessen Prägefaktoren, Formen und

37 Fünf der Werke (Frantz und Schubert 2010; Gerlach et al. 2010; Lauth und Wagner 2012; Münkler 2006; Schmidt et al. 2013) sind Sammelbände. Im Fließtext ist das nur sprachlich kenntlich gemacht, für die wörtlichen Zitate werden aber die tatsächlichen Autoren benannt. Angemerkt sei, dass zwischen dem Beitrag von Berg-Schlossers eigenem Lehrbuch und seinem Beitrag im Band von Münkler große Überschneidungen bestehen. 38 Zum Mikro-Makro-Problem siehe S. 49 ff., S. 133 ff., S. 162 ff. sowie S. 203 ff.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

(natur-)historischen Erscheinungsweisen kann die Politikwissenschaft offenbar bloß zum eigenen Nachteil ignorieren. […] Deshalb ist die Anthropologie […] für die Po­ litikwissenschaft eine ihrer besonders wichtigen Nachbardisziplinen.“ (Patzelt 2013b: 142) „Politikwissenschaft kommt nicht ohne anthropologische Prämissen aus, d. h. angebbare Überzeugungen über die Natur des Menschen und der Wirkungen der sozialen Bindungen, in denen er steht. […] Eine Politikwissenschaft, die glaubt, anthropologisch neutral bzw. prämissenlos auskommen zu können, betrügt sich selbst.“ (Mols in Lauth und Wagner 2012: 34)

Es gehört offenkundig zu den Selbstverständlichkeiten deutscher Politikwissenschaft, dass Menschenbilder von eminenter Wichtigkeit für die Disziplin sind. Im letzten Zitat werden auch schon die hier noch umfänglich zu elaborierenden Implikationen dieses Faktums für die Sozialkapitaltheorie angedeutet. Es macht darauf aufmerksam, dass auch die Frage nach der Natur sozialer Beziehungen letztlich eine anthropologische ist. Und genau um die Kausalstruktur hinter sozialen Beziehungen geht es in der Sozialkapitaltheorie im Kern. Warum Menschenbilder in politikwissenschaftlichen Theorien so zentral sind, wird aus den folgenden – im Textkorpus ebenfalls häufig ähnlich aufgefundenen, ohne systematisch entfaltete Gegenargumentationen gebliebenen und damit ihrerseits großen Konsens widerspiegelnden – Zitaten leicht ersichtlich: „[Aus der] Frage nach dem Wesen des Menschen […], ergeben sich entscheidende Konsequenzen für die Bestimmung der Prinzipien und Ziele konkreter politischer Ordnungen. So nimmt die philosophische Anthropologie in der politischen Ideengeschichte eine zentrale Stellung ein.“ (Naßmacher 2010: 310) „Die Geschichte der politischen Ideen ist [.] voller Beispiele dafür, dass – wie bei Platon oder Hobbes – die ganz praktische Frage nach den Voraussetzungen stabiler politischer Ordnung […] zu psychologischen Fragestellungen nach den emotionalen und kognitiven Vorbedingungen einer für den Menschen guten, zumindest akzeptablen Ordnung führt“ (Patzelt 2013b: 143). „[P]olitische Ordnung – darin sind sich die politischen Philosophen aller Zeiten prinzipiell einig – muss ihren Grund in der (wie immer interpretierten) Natur des Menschen haben; nur unter dieser Voraussetzung kann sie eine dem Menschen angemessene Ordnung sein und zur Verwirklichung seines (wie immer gedachten) Wesens beitragen. […] Über das, was die Natur des Menschen oder sein Wesen sei, besteht, wie erörtert, indes kein Konsens.“ (Berg-Schlosser und Stammen 2013: 104)

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Die Rolle von anthropologischen Prämissen tritt also besonders klar vor Augen, wenn man das Projekt der Politikwissenschaft – wenigstens teilweise – darin sieht, zur Ausgestaltung guter Ordnung mit wissenschaftlich gewonnenen Aussagen beizutragen. Je nachdem, welches Verständnis von „dem Menschen“ zugrunde gelegt wird, liegen unterschiedliche Schlüsse darüber nahe, unter welchen (politischen) Bedingungen er sich am besten (oder vielleicht auch: am wenigsten schlecht) entfalten kann. Menschenbildern kommt damit in der Politikwissenschaft nicht nur eine theoretische, sondern auch eine wissenschafts- und gesellschaftspolitische Letztbegründungsfunktion zu; und jene erfüllen sie schon so lange, wie es politische Philosophie, also Nachdenken über „gute Ordnung“ gibt. Wie das letzte Zitat von Berg-Schlosser und Stammen schon angedeutet hat, besteht neben dem Konsens über die Wichtigkeit von Menschenbildern vor allem Uneinigkeit über deren Inhalt. Die folgenden, typischen Zitate helfen, die grobe Struktur dieses Zentraldiskurses zu erfassen: „Hinsichtlich der für die philosophischen Staatskonzeptionen zentralen Frage, worin die Natur des Menschen besteht und wie sie zu ergründen sei, bestand und besteht begründeter Dissens“ (Lauth und Wagner 2012: 173). „Aufgrund der Tatsache der Pluralität philosophischer Positionen ergibt sich entsprechend eine Pluralität philosophischer Anthropologien im angegebenen Verständnis oder der Wesensbestimmung des Menschen, von denen sich ebenfalls eine Pluralität verschieden begründeter und unterschiedlich ausgestalteter Konzeptionen politischer Ordnung ergibt, die jeweils für sich aufgrund ihrer systematischen philosophischen Begründung einen Wahrheitsanspruch erheben“ (Berg-Schlosser und Stammen 2013: 101 f.). „Die konkurrierenden normativen Argumente in [demokratietheoretischen] Debatten basieren auf Unterschieden der ihnen zugrunde gelegten Menschenbilder und divergierenden politischen Philosophien, die sich nicht allein mit empirischen oder formalen Argumenten entscheiden lassen“ (Buchstein in Schmidt et al. 2013: 119). „Das moderne Politikverständnis tritt uns in zwei Varianten entgegen, die ich die linke und die rechte nennen möchte. Der Ursprung des Gegensatzes ist ein unterschiedliches Menschenbild. […] Die Politikwissenschaft steht in dieser Auseinandersetzung vor dem Problem, dass sie die Frage nicht beantworten kann, welches Menschenbild das richtige ist.“ (Thöndl 2005: 83)39 39 Diese Auffassung ist wenig hilfreich und deshalb zu Recht überholt. Erstens ist die Politikwissenschaft in ihrem Zugriff auf Politik nicht so eindimensional und – in der Regel – auch

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

Damit ist der Zusammenhang von Menschenbildern und Politikwissenschaft skizzenhaft durchmessen. Zwar gelten Menschenbilder in der Politikwissenschaft als ganz zentral, weil sie für die Konstruktion von Theorien guter Ordnung als Prämissen äußerst folgenreich sind. Welche anthropologischen Prämissen konkreter Theoriebildung aber letztlich zugrunde zu legen sind, ist umstritten. Dass diese Uneinigkeit wiederum mit guten Gründen existiert, gehört offenbar ebenfalls zum weit verbreiteten politikwissenschaftlichen Betriebswissen. Erstaunlich ist, mit wie viel Klarheit die beiden letzten Zitate artikulieren, dass dieser Dissens um den Inhalt von Menschenbildern (also um die empirische Frage nach der Natur des Menschen) nicht entschieden werden kann oder gar überhaupt nicht entscheidbar ist. Wäre dem so, dann würde das die Zielstellung dieses Buches ad absurdum führen. Zu diesem Thema gibt es in den untersuchten Lehrund Einführungsbüchern jedoch keinen Konsens mehr. Ob der Konflikt zwischen konkurrierenden anthropologischen Annahmen entscheidbar ist und wer – wenn dem so sein sollte – dafür zuständig ist, wird in einiger Kontroversität diskutiert, die im Wesentlichen von den folgenden Zitaten abgebildet ist: „In der anthropologischen Begründung, wie sich Menschen untereinander verhalten (sollten), wenn sie wechselseitig zu einem guten (gelingenden) Leben beitragen, liegt der Kern der Politischen Philosophie, die stets in ihren Fragestellungen und Antworten nicht abschließbar ist, sondern vielmehr auch das unsystematische, durchaus willkürliche Kriterium jenseits aller systematischen Vorstellungen sucht“ (Nitschke 2012: 56). „Die Krux der Sache beginnt eigentlich erst mit den Problemen der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der nicht nur analytischen, sondern auch realen Trennung zwischen diesen Dimensionen [Subjekt vs. Objekt, Anm. d. A.], der Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen ihnen und vor allem der Begründung der jeweiligen Wertbasis im normativen Bereich. […] Die metatheoretischen Grundlagen bleiben hierbei, wie angeführt, umstritten und wohl auch letztlich nicht in einem allgemeingültigen Sinn entscheidbar.“ (Berg-Schlosser in Münkler 2006: 56 f.) „Innerhalb einer solchen Ordnungskonzeption der Politischen Philosophie bildet die Frage nach dem Wesen des Menschen eine zentrale Problematik, aus deren Lösung sich entscheidende Konsequenzen für die Bestimmung der Prinzipien und Ziele konkre-

nicht so stark von vorwissenschaftlichen politischen Haltungen strukturiert. Zweitens (und wichtiger) ist es aber falsch zu behaupten, es ließe sich nicht entscheiden, welche Aussagen über die Natur des Menschen mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Das zu widerlegen ist aber ohnehin ein Hauptanliegen dieses Buches.

Die Problemstruktur: Menschenbilder in der Politikwissenschaft 41

ter politischer Ordnungen ergeben. Anders formuliert: im Begründungszusammenhang einer Politischen Philosophie nimmt stets eine philosophische Anthropologie eine wichtige Stelle ein.“ (Berg-Schlosser und Stammen 2013: 101) „In Gestalt der ‚philosophischen Anthropologie‘, die sich […] um ihr empirisches Fundament nicht allzu nachdrücklich kümmert, ist sie [die Anthropologie, Anm. d. A.] denn auch von jeher Bestandteil politischer Theorie und darum ein zentrales Thema in der Geschichte der politischen Theorien gewesen. Das ersetzt allerdings nicht jene Einsichten, welche – vor und nach vielfältiger philosophischer Reflexion – die empirischen Teildisziplinen der Anthropologie stiften.“ (Patzelt 2013b: 142) „Überhaupt kann die gesamte Anthropologie und Politische Philosophie (der Mensch ist gut bzw. böse) mit Hilfe der Biopolitik auf eine empirische Grundlage gestellt werden“ (Bellers und Kipke 2006: 263).

Hier wird nun das ganze Dilemma sichtbar, mit dem sich eine Studie wie die vorliegende konfrontiert sieht: Darüber, wie sich Fragen zur Natur des Menschen klärend genähert werden soll, besteht sogar in Lehr- und Einführungsbüchern große Uneinigkeit. Das Spektrum ist denkbar breit: Am einen Ende wird behauptet, dass anthropologische Prämissen willkürlich und unsystematisch gesetzt werden können oder gar müssen. Letzteres lässt sich dann – vermeintlich – mit dem Verweis darauf begründen, dass solche Annahmen ohnehin nicht als empirisch überprüfbare, also wahrheitsfähige Aussagen anzusehen sind. Eine mittlere Position lässt sich dort erkennen, wo anthropologische als philosophische Fragen behandelt und deshalb genuin geisteswissenschaftliche (und damit zumindest nicht in erster Linie auf empirische Forschung fokussierte) Disziplinen als zuständig erachtet werden. Am anderen Ende werden Annahmen zur menschlichen Natur hingegen als ganz normale empirische Aussagen angesehen – genau so, wie das auch hier geschehen soll. Die Kompetenz zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes solcher empirischen Aussagen liegt dann nicht primär bei der Politikwissenschaft oder der Philosophie, sondern bei den empirisch-anthropologischen Wissenschaften. Angesichts der Pluralität von Positionen in Bezug auf die Begründbarkeit von Annahmen zur Natur des Menschen ist es unerlässlich, einen robusten wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkt für das hier zu Unternehmende zu erarbeiten. Ausgegangen werden kann dabei immerhin vom Konsens darüber, dass Menschenbilder für die Politikwissenschaft von größter Relevanz sind. Es wird aber notwendig sein, die Hintergründe des Dissenses hinsichtlich der Begründbarkeit von Menschenbildern genau aufzuarbeiten. Die Analyse der Lehr- und Einführungswerke hat gezeigt, welche wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen im Zusammenhang mit der anthro-

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

pologischen Fundierung sozialwissenschaftlicher Theorien besondere Beachtung verdienen. Zentral ist fraglos die Rolle von Menschenbildern für die theoretische Modellierung der Beziehung von individuellem Akteurshandeln und sozialen Strukturen, also das sogenannte Mikro-Makro-Problem. Ferner ist der in einschlägigen Diskursen immer wieder in diskreditierender Absicht bemühten Frage nachzugehen, in welchem Verhältnis anthropologische Annahmen mit normativen politischen Positionen stehen. Nicht zuletzt werden in der Debatte grundlegend verschiedene Positionen dazu vertreten, ob es überhaupt erfolgversprechend ist, nach einer empirisch vorfindbaren menschlichen Natur zu suchen. Weil im Hintergrund solcher Denkfiguren oft Kritik an der Vorstellung steht, „empirische Wahrheit“ sei überhaupt eine relevante Kategorie, wird sich auch mit solchen ganz grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Fragen zu befassen sein. Bevor sich aber alldem gewidmet werden kann, wird es nützlich sein, das Feld der politischen Anthropologie abzustecken und die in ihm wichtigen Denktraditionen grob zu umreißen.

2.2 Politische Anthropologie: Forschungsfeld und Denktraditionen Anthropologie, wörtlich die „Kunde vom Menschen“, ist ein für die hier verfolgten Zwecke allzu breites Forschungsfeld. Statt einer umfassenden Wissenschaft vom Menschen zerfällt sie in eine Reihe von „Bindestrichanthropologien“ (Jörke 2005: 10). Politische Anthropologie ist jener Teilbereich, der für politische und politikwissenschaftliche Theorien relevante Erkenntnisse zu universellen menschlichen Eigenschaften zusammenträgt. So verstandene politische Anthropologie will mit Theorien über die Natur des Menschen dazu beitragen, politische Werte und Institutionen zu begründen (Jörke 2005: 11). Das ist nötig, weil politikwissenschaftliche Theorien nicht ohne Anthropologie auskommen: Normative Fragen nach der „guten Ordnung“ sind stets mit empirischen Fragen nach den Charakteristika der Adressaten solcher Ordnung verknüpft.40 Politische Anthropologie erfüllt also eine wichtige aufklärerische Funktion für die Politikwissenschaft. Sie stellt Grundlagenwissen sowohl für die politische Philosophie als auch für die empirische Forschung bereit. Aus dieser Begriffs- und Aufgabenbestimmung ergibt sich ein klarer Anforderungskatalog an gute, also für Politikwissenschaft zweckmäßige, politische

40 Siehe hierzu die Analyse politikwissenschaftlicher Lehr- und Einführungsbücher in Kapitel 2.1.

Politische Anthropologie: Forschungsfeld und Denktraditionen 43

Anthropologie. Erstens sollte sie Informationen zur Verfügung stellen, die für politikwissenschaftliche Theoriebildung relevant sind. Zweitens sollten diese Informationen in Form von empirischen Aussagengefügen vorliegen, deren Teile überprüfbar sind und sich durch Überprüfung als robust genug herausgestellt haben, um auf ihrer Basis stabile Theoriegebäude errichten zu können. Drittens sollten diese Aussagengefüge möglichst sparsam sein und ihren Gegenstand wirklich erklären. Kurzum: Für politische Anthropologie gelten die ganz normalen Spielregeln von Wissenschaft, ergänzt um die grundlagentheoretische Dienstleistungsfunktion für politikwissenschaftliche (und makrosoziologische) Theorien.41

2.2.1 Das Forschungsfeld: Politische Anthropologie und Anthropologiekritik Politische Anthropologie wird in der Regel entweder der Politischen Theorie, genauer noch: der Politischen Philosophie, oder der philosophischen Anthropologie zugerechnet (Czerwinska-Schupp 2003; Jörke 2005). Die Zuständigkeit für einen empirischen Gegenstandsbereich lässt sich aber nicht a priori bestimmen. Sie verdankt sich im vorliegenden Fall ohnehin nur einer pfadabhängigen wissenschaftshistorischen Entwicklung: Weil jahrtausendelang über Empirisches zur Conditio humana nichts Substantielles in Erfahrung zu bringen war, blieb sie Gegenstand des Philosophierens. Zwar verfügt die (politische) Philosophie deshalb über die längste Ahnenreihe von Anthropologen, jedoch lässt sich daraus natürlich kein politisch-anthropologischer Alleinvertretungsanspruch ableiten. Denn die Frage danach, wie die menschliche Natur beschaffen ist, lässt sich nicht (nur) aus der Ideengeschichte heraus, sondern (auch und vor allem) mit dem Blick in die Wirklichkeit beantworten. Trotzdem kommt der genuin geisteswissenschaftlichen Befassung mit dieser Frage in der politischen Anthropologie bis heute eine herausgehobene Rolle zu.42 Neben den typischen sozialwissenschaftlichen Klassikern wurden von der politischen Theorie seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem philosophische Anthropologen wie Helmuth Plessner und Arnold Gehlen aufmerksam rezipiert (Jörke 2005: 35 ff.). Weil diese Autoren wie die meisten Klassiker der Ideengeschichte den Anspruch hatten, zutreffende Menschenbilder zu erarbeiten, gelangen bis heute – freilich veraltete – empirische Aussagen über die Na-

41 Für eine knappe Darstellung und Begründung der „Spielregeln von Wissenschaft“ siehe Patzelt (2013b: 76 ff.). 42 Vgl. hierzu S. 16 ff.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

tur des Menschen gleichsam auf Umwegen in den sozialwissenschaftlichen Mainstream.43 In der jüngeren Geschichte verlor solche empirisch orientierte Anthropologie in den Geistes- und Sozialwissenschaften aber zunehmend an Popularität (vgl. Brown 2013: 438 f.). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde politiktheoretisch relevant gewordene Anthropologie vorrangig im Fahrwasser strukturalistischer, funktionalistischer und marxistischer Theorieansätze betrieben (Thomassen 2008: 263). Der damit oft einhergehende kulturelle und linguistische Relativismus verstellte zunehmend den Blick auf das allen Menschen aufgrund ihrer physiologischen Konstitution Gemeinsame (Brown 1991: 31). Das führte bis hin zu der – durchaus zu einiger Popularität gelangten – postmodernen Annahme, so etwas wie eine empirisch bestimmbare Verfasstheit „des Menschen“ könne es gar nicht geben. Nachdem erst Ludwig Wittgenstein und später Richard Rorty Zweifel an der Korrespondenztheorie der Wahrheit gesät hatten, wurde die Sinnhaftigkeit der Suche nach einer empirisch gehaltvollen Anthropologie immer häufiger ganz infrage gestellt (Brown 2013: 439). Beide Autoren argumentierten, dass sich Erkenntnis stets in Sprache ausdrücke und Sprache als etwas von Menschen Gemachtes keinen objektivierbaren Bezugsrahmen für Erkenntnisse über „die Realität“ abgebe. Mit Sprache könne stets nur ein Teil von Wirklichkeit in einer bestimmten Perspektive beschrieben werden (Rorty 1987, 2000; Wittgenstein 1953/2001). Wie sich noch zeigen wird, ist dieser epistemologischen Einsicht zwar zuzustimmen; nur leitet sich daraus kein prinzipielles Hindernis für das Erkennen der Realität ab, weil Sprache nicht der letzte Kontext menschlichen Erkennens ist.44 Diese linguistische Wende der Erkenntnistheorie wurde zu einem wichtigen Ausgangspunkt für grundsätzliche Anthropologiekritik einesteils der kritischen Theorie etwa von Horkheimer (1935/1988) und Habermas (1958/1973),45 andernteils von postmodernen Theoretikern wie Foucault (1966/2003) und Latour (1995). Im Zentrum stand für sie nicht der empirische Wahrheitsgehalt anthropologischer Aussagen. Vielmehr war es solchen Autoren wichtig, deren legitimierende Funktion in von Macht und Herrschaftsinteressen geprägten Diskursen aufzuzeigen und zu kritisieren. Postkolonialistische und feministische Theorien ziehen zentrale argumentative Kraft aus solcher mal auf Ethnozentrismus, mal auf Positivismus

43 Siehe zur Einführung in die philosophische Anthropologie Arlt (2001), Thies (2009), Wilwert (2009) und Witteriede (2009), im Hinblick auf die Herausforderung der philosophischen Anthropologie durch die modernen Naturwissenschaften insbesondere Illies (2006, 2009). 44 Siehe S. 62 ff. zur hier einschlägigen Evolutionären Erkenntnistheorie. 45 Vgl. auch Jörke (2005: 48 ff.).

Politische Anthropologie: Forschungsfeld und Denktraditionen 45

gerichteten Anthropologiekritik (Brown 2013: 439).46 Anthropologie fiel im Zuge dieser Entwicklung immer stärker unter den Generalverdacht, sozusagen durch die Hintertür verdeckte normative Prämissen in politische Theorien einzuschleusen (Höffe 1992; Jörke 2005: 13). Zwar ist solche Ideologiekritik fraglos eine wichtige und notwendige Leistung politikwissenschaftlicher Theoriearbeit.47 Jedoch geriet mit der Verlagerung anthropologischer Überlegungen in nur noch diskurstheoretische Gefilde die philosophiegeschichtlich so wichtige Einsicht in den Hintergrund, dass menschliches Kommunizieren – und damit auch „der Diskurs“ – seinerseits auf psychischen und physischen Grundlagen beruht, die es zu verstehen gilt. Anders gewendet: Der Versuch der Vermeidung von irgendwelchen substantiellen Annahmen über die Natur des Menschen stellt selbst eine zwar implizite, aber dennoch starke anthropologische Prämisse dar.

2.2.2 Die Denktraditionen: Homo sociologicus vs. Homo oeconomicus Anthropologiekritische Ansätze stehen in der Tradition der Befassung mit Menschen vorrangig als Kulturwesen und mit Kultur als „sozialer Tatsache“, wie sie von Durkheim begründet und von Strukturfunktionalisten wie Talcott Parsons, David Easton und Niklas Luhmann fortgeführt wurde. Dieser Denktradition liegt die Überzeugung zugrunde, dass soziale Phänomene nicht einfach auf naturwissenschaftliche Tatbestände zurückgeführt werden können, sondern einer genuin soziologischen Erklärung durch andere soziale Phänomene bedürfen (Durkheim 1895/1984). Individuen spielen in solchen Kausalmodellen als unabhängige Variable keine nennenswerte Rolle. Dahinter steht die Annahme, individuelles Handeln sei vorrangig von sozialen Tatsachen determiniert und menschliche Eigenschaften hingen primär von Prozessen der Sozialisation und Enkulturation ab. Der Mensch erscheint in dieser Perspektive als ein unbeschriebenes Blatt (‚blank slate‘), als eine leere Tafel (‚tabula rasa‘), die von Kultur beschrieben wird (Pinker 2002). Solche im Detail durchaus unterschiedlich ausgestalteten Anthropologien werden oft unter dem Oberbegriff des Homo sociologicus, des von der Gesellschaft geprägten Menschen, zusammengefasst (Dahrendorf 1958/2006). Die damit verbundene 46 Solche Theorien hat Thöndl (2005: 83) in dem auf S. 39 aufgeführten Zitat im Sinn, wenn er von „linker“ Politikwissenschaft spricht. 47 Zur hier angesprochenen normativen Dimension politischer Anthropologien siehe ausführlich S. 56 f.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

und bis heute sehr einflussreiche erkenntnistheoretische Grundhaltung, nach der soziale Strukturen, also gesellschaftliche Makrofigurationen, die entscheidenden Kausalfaktoren der sozialen Wirklichkeit sind, heißt methodologischer Kollektivismus (Kroneberg 2009). Er ging aus der Opposition zu jenem reduktionistischen Wissenschaftsverständnis hervor, welches sich die Naturwissenschaften zu Durkheims Lebzeiten zu eigen gemacht hatten und das ihnen rasante Erfolge zu bescheren begann. Im Reduktionismus wird versucht, komplexe Phänomene erklärbar zu machen, indem sie analytisch in ihre kleinsten Einheiten zerlegt werden. „Durkheimianer“ vertreten hingegen eine emergentistische Position: Für sie sind soziale Tatsachen gerade nicht auf Mikrophänomene reduzibel.48 Aber auch die reduktionistische Grundhaltung fand in Form des methodologischen Individualismus Eingang in den sozialwissenschaftlichen Theoriekanon. Klassiker wie Adam Smith, Jeremy Bentham und John Stuart Mill machten das Individuum zur zentralen Analyseeinheit und versuchten, gesellschaftliche Wirklichkeit über das Handeln individueller Akteure zu erklären (Kroneberg 2009: 224). Max Weber etablierte später die Ansicht in den modernen Sozialwissenschaften, dass soziale Strukturen von den Handlungsentscheidungen der Individuen determiniert seien – und nicht andersherum. Diese Entscheidungen folgen aus Sicht von „Weberianern“ einer utilitaristischen Logik: Menschen maximieren ihren Nutzen, indem sie jene Handlungsalternativen wählen, bei denen ihre Kosten möglichst gering und/oder ihr Gewinn möglichst groß ist. Sie treffen eine rationale Wahl. Auch der methodologische Individualismus verband sich also mit anthropologischen Annahmen, die sich unter dem Oberbegriff des Homo oeconomicus zusammenfassen lassen und heute vor allem in Form des oben beschriebenen Paradigmas der ökonomisch rationalen Wahlhandlung (‚rational choice‘) verbreitet sind.49 Aus der neoklassischen Ökonomie stammend, hat sich in der Soziologie neben Hartmut Esser (1999a) vor allem James Coleman (1994), einer der Klassiker der Sozialkapitaltheorie, um die systematische Weiterentwicklung und Verbreitung des Ansatzes verdient gemacht. Der Rational-Choice-Forschungsansatz versteht sich zwar nicht als genuin anthropologisch. Vielmehr wird die These von der individuellen Nutzenmaximierung als Modellannahme behandelt (Schimank 2010; vgl. Beyme 2006: 144 ff.) – 48 Zu einem komplexen Emergentismus- und Reduktionismusbegriff siehe S. 67 ff. 49 In der der anglo-amerikanischen Politikwissenschaft ist der Rational-Choice-Ansatz inzwischen nahezu dominant, während der methodologische Kollektivismus in den europäischen Sozialwissenschaften nach wie vor ebenso populär ist (Wullweber 2014: 253; vgl. Kreisky et al. 2012).

Politische Anthropologie: Forschungsfeld und Denktraditionen 47

vor allem dann, wenn sie mit empirischen und anthropologischen Argumenten kritisiert wird.50 Schließlich gehe es bei der Formulierung von Theorien um Komplexitätsreduktion, um die Freilegung nicht aller, sondern der wesentlichen Kausalmechanismen in der sozialen Wirklichkeit. Es ginge deshalb nicht um ein besonders realistisches Menschenbild, sondern darum, auf der Basis von möglichst wenigen klaren Prämissen möglichst viel Varianz in der Realität zu erklären (Becker 1993; vgl. Braun 2013). Tatsächlich bezieht das Paradigma des rationalen Nutzenmaximierers gerade daraus seinen intellektuellen Charme, dass es mit ihm und unter Hinzunahme spieltheoretischer Modelle gelingt, die Logik der Dilemmata kollektiven Handelns in erkenntnisträchtiger Weise zu erfassen (Hardin 1968; Olson 1968) und mithin sparsame Theorien zu formulieren, die Wesentliches an der Wirklichkeit erfassen.51 So verstandener methodologischer Individualismus hat aber eine höchst problematische Gemeinsamkeit mit den anthropologiekritischen Positionen methodologischer Kollektivsten. Indem sich aus methodologischen Gründen auf eine „Als-ob-Anthropologie“ gestützt wird (Bröckling 2003: 17; Bryan D. Jones 2003: 409), gerät die Empirie des Menschseins aus dem Blick. Damit hat sich der reduktionistische Forschungsansatz in den Sozialwissenschaften von dem ursprünglichen Anspruch entfernt, reale Phänomene von ihrer grundlegenden Struktur her zu erfassen und zu erklären. Solcher anthropologische Modellplatonismus führt hinein in manche Sackgasse sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, wie hier an verschiedenen Ansätzen der Sozialkapitaltheorie zu zeigen sein wird.52

2.2.3 Bilanz: Politische Anthropologie ohne empirisches Menschenbild Forschungsfeld und Denktraditionen der politischen Anthropologie sind damit bei weitem nicht vollständig, für die hier verfolgten Zwecke aber hinreichend umrissen. Drei Erkenntnisse sind für den Fortgang der Argumentation wichtig. 50 Zur Kritik an der Rational-Choice-Theorie siehe klassisch Green und Shapiro (1994), ferner Zafirovski (2000b, 2005). Eine knappe Synopse kritischer Perspektiven findet sich in Braun (2013), eine Auseinandersetzung mit jenen in Bezug auf die Sozialtheorie Colemans bei Braun und Voss (2014: 89 ff.). 51 Weil das Rational-Choice-Paradigma in der Sozialkapitaltheorie ohnehin von zentraler Bedeutung ist, wird es hier noch oft im Zentrum des Interesses stehen. Gleiches gilt für den Homo sociologicus der methodologischen Kollektivisten. Auf ausführlichere Analysen wird deshalb an dieser Stelle verzichtet. 52 Das ist Gegenstand des Kapitels 3. Zum anthropologischen Modellplatonismus siehe insbesondere S. 187 ff.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

Erstens ist im Laufe des 20. Jahrhunderts die politische Anthropologie ins sozialwissenschaftliche Abseits geraten und hat in den letzten Jahrzehnten nicht jene Rolle gespielt, die ihr eigentlich zukäme. Bei den Klassikern noch für selbstverständlich gehalten, wurde sie als Teildisziplin der Politikwissenschaft nicht systematisch fortgeführt.53 Anthropologische Diskurse drehen sich heute in der Regel um ideengeschichtliche Klassiker, philosophische Anthropologien, erkenntnistheoretische Aspekte und methodologische Prämissen, nicht um Empirisches. Zweitens unterscheiden sich die zwei dominanten methodologischen Grundpositionen der Sozialwissenschaften – der Individualismus und der Kollektivismus – nicht grundlegend im Hinblick auf ihre mangelnde empirisch-anthropologische Orientierung. Zwar sind die Gründe dafür durchaus sehr verschieden: Unter methodologischen Kollektivisten herrscht verbreitete, teils ideologiekritisch motivierte, teils methodologisch begründete Skepsis gegenüber der Annahme einer manifesten Natur des Menschen. Der methodologische Individualismus hat sich mit dem ökonomischen Paradigma weitgehend dem wissenschaftstheoretischen Charme sparsamer Modelle hingegeben. Im Ergebnis mangelt es aber beiden an empirisch-anthropologischem Tiefgang. Drittens sind aus all diesen Gründen im Folgenden eine ganze Reihe von wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Problemen zu bearbeiten, bevor die empirisch-anthropologische Fundierung einer sozialwissenschaftlichen Theorie angegangen werden kann. Weil aber gerade in der Sozialkapitaltheorie viele dieser grundsätzlichen Probleme wie unter einem Brennglas sichtbar werden, sind solche Erörterungen für die hier verfolgten Ziele von ganz direkter theoretischer Relevanz – insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Akteur und Struktur.

2.3 Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität Wie sich gezeigt hat, drehen sich anthropologische Diskurse heute regelmäßig um drei miteinander zusammenhängende Streitfragen, hinter denen drei analytisch voneinander zu trennende Dimensionen des Anthropologischen stehen (Zafi­ rovski 2000a: 566 f.). Erstens ist unklar, welchen Sitz der Mensch als Kausalfaktor in sozialwissenschaftlichen Theorien hat und was daraus forschungspraktisch folgt (methodologische Dimension). Zweitens und dahinterliegend besteht Dissens darüber, welche Aussagen sich über die Struktur der Realität überhaupt machen lassen, ob es also sinnvoll ist, von einer erkennbaren objektiven Wirklichkeit und 53 Natürlich gibt es von dieser Regel viele Ausnahmen. Besonders die evolutionäre Anthropologie erfährt wachsende Aufmerksamkeit. Für einen Überblick siehe S. 21 ff.

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität 49

damit auch von einer empirisch bestimmbaren Natur des Menschen zu sprechen (ontologische Dimension). Drittens sind Menschenbilder einerseits empirischer Ausgangspunkt normativen Nachdenkens über „gute Ordnung“; andererseits aber können sie selbst Vehikel von politischen Werten sein (normative Dimension). Es wird nützlich sein, diese drei Dimensionen noch einmal einzeln zu entfalten und so für den weiteren Verlauf der Studie handhabbare analytische Ordnung in die bisher vor Augen getretenen Problemstellungen zu bringen.

2.3.1 Methodologische Dimension: Das Mikro-Makro-Problem Das Mikro-Makro-Problem, die Modellierung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Handlung und Struktur, gehört zu den großen Herausforderungen der Sozialwissenschaften (Coleman 1994; Esser 2006, 1999a; Heintz 2004; Heidenreich 1998; Greve et al. 2009; Greve und Schnabel 2011). Nach wie vor besteht auch in der Politikwissenschaft keine Aussicht auf einen weithin akzeptierten, integrativen Untersuchungsansatz, der die Wechselwirkungen zwischen Subjekt- und Objekt-Dimension des Sozialen schlüssig und umfassend abbilden kann (vgl. Berg-Schlosser und Stammen 2013: 28 ff.; List und Spiekermann 2013). In der Folge gibt es in den Sozialwissenschaften keine Einigkeit darüber, welche Perspektive auf „das Soziale“ die dem Gegenstand angemessenste ist. Im methodologischen Kollektivismus wird davon ausgegangen, soziale Makrophänomene seien die vorrangig zu betrachtenden Entitäten, konkrete Einzelmenschen seien hingegen nur „Durchlaufposten“ von Kultur. Im Individualismus sind es hingegen gerade die Menschen, von denen aus alles Soziale begriffen werden muss, weil sie als sinnhaft handelnde Individuen soziale Wirklichkeit hervorbringen. Methodologischer Individualismus und Kollektivismus sind also zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze, die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft zu modellieren und zu erforschen.54 In beiden Fällen nehmen Menschenbilder den Status komplexitätsreduzierender Modellannahmen ein, sind also (mindestens zum Teil) aus methodologischen Gründen eingeführte Prämissen. Empirischer Kritik an diesen Annahmen kann sich deshalb bequem mit dem Verweis darauf entzogen werden, dass allgemeine Theorien unterkomplex bleiben müssen und mithin nicht in einem umfassenden Sinne „wahr“ sein können (Wullweber 2014) – was so auch stimmt. Anhand des methodologischen Individualismus lässt sich leicht zeigen, wie problematisch diese Argumentation dennoch ist. Der Handlungstheorie – also

54 Die dahinterliegenden Argumentationen wurden auf S. 45 ff. vorgestellt.

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Annahmen über die Beschaffenheit von menschlichen Entscheidungsalgorithmen – kommt dort eine zentrale Bedeutung zu (Kroneberg 2009: 237 ff.), denn sie bestimmt, welche Dimensionen sozialer Prozesse überhaupt vom Modell erfasst werden können. Eine empirisch falsche oder (zu) ungenaue Handlungstheorie wird nun spätestens dann problematisch, wenn auf ihrer Grundlage Sozialtheorien errichtet werden, mit deren Hilfe echte empirische Probleme gelöst werden sollen. Soziologische Erklärungen brauchen demnach eine gültige Handlungstheorie. Es ist nicht angemessen, empirisch falsche Annahmen nur deswegen zu verwenden, weil sie sich zur Konstruktion eleganter Theorien eignen. Anders gewendet: Es kann das „Spannungsverhältnis der gleichzeitigen Notwendigkeit realistischer Handlungserklärungen und oftmals stark vereinfachender Annahmen“ (Kroneberg 2009: 231, Hervorh. i. O.) nicht einseitig zugunsten methodologischer Stringenz aufgelöst werden. Deshalb lässt sich, anders als in gängigen Zurückweisungen von Kritik an Rational-Choice-Modellen behauptet, die methodologische Dimension anthropologischer Prämissen forschungspraktisch nicht von der ontologischen Dimension trennen – also davon, was der Fall ist. Gerade von Rational-Choice-Theoretikern kann dieses Argument nicht rundheraus abgelehnt werden, können sie doch selbst zuweilen der Versuchung nicht widerstehen, ihren Ansatz mit der „Konstanz der menschlichen Natur“ zu begründen (Braun und Voss 2014: 71). Das Argument gilt systematisch in gleicher Weise für Erklärungen des methodologischen Kollektivismus. Schwerwiegende Kritik an diesem Forschungsansatz lässt sich auch hier mit mangelnder Mikrofundierung in Form einer robusten Handlungstheorie in Verbindung bringen (Esser 1999b: 5 f.). Erstens ist es Kollektivisten bisher nicht gelungen, eine empirisch robuste Aussage über kausale Zusammenhänge auf der gesellschaftlichen Makroebene zu produzieren. Zweitens beinhalten auf der Makroebene argumentierende Theorien kein theoriehaltiges Konzept dazu, wie Menschen zwischen verfügbaren Handlungsalternativen auswählen und den in jenen liegenden subjektiven Sinn überhaupt erkennen (Joas 2012). Vor diesem Hintergrund ist es ebenso fatal wie erstaunlich, dass die funktionalistische Theorietradition lange kaum Bedarf sah, sich um tragfähige Mikrofundierung zu bemühen (Gilgenmann und Schweitzer 2006: 349; siehe etwa Luhmann 1997b). Obwohl sich beide methodologischen Perspektiven in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt und aufeinander zubewegt haben, bleiben sie aus den genannten Gründen im Kern problematisch (Albert 2007; Esser 2006; Schützeichel 2009). Es hat sich herausgestellt, dass ein einseitiger methodologischer Fokus auf Homo oeconomicus oder Homo sociologicus, auf die soziale Mikro- und Makroebene, keinen theoretischen Fortschritt verspricht. Es wird deshalb allenthalben für

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität 51

Multiperspektivität plädiert. Das ist zwar einerseits zu begrüßen, denn nichts wäre irriger als die Annahme, dass schon allein die Wahl der Methode an sich etwas zur Wahrheitsfindung beitrüge (Zafirovski 2000a: 566 f.). Andernteils ist es aber Symptom dafür, dass eine einigermaßen konsensfähig integrierende Perspektive auf das Mikro-Makro-Problem noch nicht gefunden wurde. Bei Diskussionen über das Mikro-Makro-Problem wird in aller Regel der Tatsache keine Beachtung geschenkt, dass es auch unterhalb der sozialen Mikroebene Phänomene gibt, die zumindest prinzipiell in diesen Debatten relevant sein könnten (vgl. exemplarisch Albert 2007; Esser 2006; Greve et al. 2009; Opp 2014). Im Falle der methodologischen Kollektivisten ist das erwartbar. Dass aber auch die explizit auf Mikrofundierung abzielenden Individualisten diese Ebene nachgerade ausblenden, ist erstaunlich und lässt sich im Grunde nicht rechtfertigen. In beiden Fällen ist es jedenfalls inakzeptabel, diese Ebene(n) nicht zu berücksichtigen. Denn dort – etwa auf der Ebene von Gehirnen, neuronalen Netzen und Genen – lassen sich Informationen darüber vermuten, welche Wahrnehmungsmuster und Entscheidungsalgorithmen menschlichem Handeln tatsächlich zugrunde liegen. Es wird schon aus dieser kurzen Argumentation ersichtlich, dass die Bearbeitung des Mikro-Makro-Problems mithilfe zweier sich diametral gegenüberstehenden methodologischen Ansätze unausweichlich zu Problemen bei Versuchen integrativer Theoriebildung führt. Der Ursprung vieler Aporien wiederum ist in Defiziten bei der handlungstheoretischen bzw. anthropologischen Fundierung zu suchen. Genau diese Problemstruktur wird sich bei der Analyse der Sozialkapitaltheorien von James Coleman und Pierre Bourdieu deutlich zeigen, die beide nach einem dritten Weg zwischen methodologischem Individualismus und Kollektivismus suchten.55

2.3.2 Ontologische Dimension: Relativismus vs. Realismus Die methodologische Entscheidung darüber, wie sich sozialen Gegenständen zu nähern ist, kann nicht von empirischen Fragen darüber getrennt werden, wie der Mensch ist – also von der ontologischen Dimension des Anthropologischen. Damit verknüpft ist stets die epistemologische Frage danach, wie sich das Erkennen der Realität ereignet. Diese Fragen nach dem Sein und Erkennen-Können sind zunächst einmal unabhängig von den eben behandelten Fragen des Betrachtens von Wirklichkeit (vgl. Zafirovski 2000a: 567). Denn es ist ja für die „Welt da draußen“ unerheblich,

55 Siehe dazu die Kapitel 3.2.1 und 3.2.2.

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welche methodologischen Entscheidungen Wissenschaftler bei ihrer Erforschung treffen. Im Grunde kann ein methodologischer Kollektivist der Auffassung sein, dass „in Wirklichkeit“ individuelle ökonomische Rationalität eine entscheidende Rolle spielt, dass aber eine strukturfunktionalistische Theorie die sparsameren und eleganteren Erklärungen für Soziales liefern. Doch sind Wissenschaftler in der Regel davon überzeugt, dass sie die tatsächlich primär relevante Ebene der Wirklichkeit untersuchen – und jene auch erkennen können. Allerdings fällt in der sozialwissenschaftlichen Debatte insgesamt auf, dass die „Ontologie des Individuums“ – also: Anthropologie – einseitig und unterkomplex gehandhabt wird. Selbst dezidiert anthropologische Ansätze in den Sozialwissenschaften stützen sich auf Klassiker der politischen Philosophie, auf die philosophische Anthropologie oder auf eine relativistische Kulturanthropologie (Brown 2013). Zwar gibt es einzelne Versuche, individualistische Ansätze anthropologisch zu unterfüttern (Esser 1999a), doch versteht sich der sozialwissenschaftliche Individualismus in erster Linie als ein methodologischer. Es klafft also im Mainstream der aktuellen Forschung eine theoretische Lücke in Bezug auf anthropologische Wissensbestände, die nicht dezidiert kulturalistisch sind (Meyer 2010). Ferner entzündet sich entlang der ontologischen Dimension der ebenso wichtige wie oft ganz fruchtlos geführte Streit darüber, welcher Stellenwert Begriffen wie „Wahrheit“ und „Realität“ beizumessen ist. Im Zuge der linguistischen Wende in der Erkenntnistheorie wurde die Erkennbarkeit einer objektiven Realität prinzipiell angezweifelt, da jeder Erkenntnisprozess von (sozial) konstruierten Strukturen determiniert sei (Glasersfeld 1987; Luhmann 2005; Maturana und Varela 2009; vgl. Sutter 2011: 41 ff.). Je nach Auslegung führt das dazu, entweder das Erkennenwollen einer objektiven Realität für sinnlos zu halten oder deren Existenz gleich grundsätzlich zu bezweifeln. Selbst die Aussage „Das ist ein Löwe.“ stimmt aus der Sicht radikaler Konstruktivisten nur im Kontext einer taxonomisch vorgenommenen (also wiederum kulturell konstruierten) Unterscheidung zwischen Löwe und Nicht-Löwe. Ob Menschen Produkt einer schon Jahrmilliarden andauernden Evolution des Organischen sind oder von Gott vor ein paar tausend Jahren erschaffen wurden, wird so von einer empirisch entscheidbaren Kontroverse zu einer Konkurrenzsituation zweier Narrative, die je nach Standpunkt unterschiedlich plausibel erscheinen. Der Stammbaum dieses Denkens ist lang und führt von Kant über Ludwig Wittgenstein, Richard Rorty und Hillary Putnam bis hinein in die Verästelungen zeitgenössischer postmoderner Theorien.56 56 Siehe dazu auch S. 44 f. Auch Boghossian (2013) setzt sich ausführlich mit dem philosophiegeschichtlichen Kontext und den verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus auseinander. Einführend zu Wahrheitstheorien siehe ferner Gloy (2004), Künne (2003) und Skirbekk (2012).

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität 53

Auf den Punkt gebracht klingt diese „Gleichwertigkeitsdoktrin“ (Boghossian 2013: 10) wie folgt: „Es lässt sich keine Aussage formulieren, die außerhalb eines epistemischen Bezugsrahmens (seinerseits sozial konstruiert) wahr sein kann“. Boghossian prüft die Stichhaltigkeit dieses relativistischen Wahrheitsbegriffs minutiös. Er zeigt, dass dieser in ein Paradoxon führt. Wenn die Feststellung, dass empirische Aussagen stets nur in Bezug auf ein bestimmtes epistemisches System wahr sein können, stimmt, dann widerlegt sie sich gleichzeitig selbst. Es werden von Boghossian noch viele weitere logische Gründe für eine Zurückweisung des epistemologischen Relativismus zusammentragen, die insgesamt dazu ermutigen, davon auszugehen, dass eine objektive Realität existiert, und dass es „von unseren Praktiken unabhängige Tatsachen darüber gibt, was man unter bestimmten Umständen vernünftigerweise für wahr halten sollte“ (Boghossian 2013: 114). Es sprechen auch allzu viele empirische Beobachtungen gegen eine solche relativistische Auffassung von Wahrheit. Die gezielte und zuverlässige Beeinflussung des menschlichen Körpers durch medizinische Präparate und Eingriffe wird kaum ohne eine so-und-nicht-anders beschaffene Konstitution des Organismus und eine sehr genaue Erkenntnis derselben erfolgreich sein können. Zwar mag es zudem stimmen, dass die Frage, wo der Löwe aufhört und seine Umwelt (also der Nicht-Löwe) beginnt, auf der Ebene von Atomen oder gar Elementarteilchen schwer zu beantworten, vielleicht sogar sinnlos wird. Andererseits wird der Versuch, einen Löwen etwa in Bezug auf sein Gewicht, seinen Appetit oder seine Dressierbarkeit als Nicht-Löwe – zum Beispiel: Hauskatze, Mensch oder einfach „Nichts“ – zu behandeln, schnell über zweierlei belehren: Erstens folgt die objektive Realität nicht beliebig konstruierbaren Regeln. Und zweitens spricht wenig dafür, das Tier nicht als eine reale Entität zu begreifen, die Behauptung seiner Existenz also nicht als wahr, zumindest jedenfalls als wahrheitsfähig zu behandeln. Folglich lässt sich aus erkenntnistheoretischen und empirischen Gründen nichts gegen die Hypothese einwenden, dass es eine menschliche Natur gibt und dass ihre Erforschung lohnt, weil sich über sie mit den Tatsachen übereinstimmende Aussagen formulieren lassen.57 Nicht zu verwechseln ist diese realistische Zurückweisung eines epistemologischen und ontologischen Relativismus übrigens mit einem Angriff auf Theorien der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger und Luckmann 1969; Patzelt 1987). Die Offenlegung der Prozesse, durch welche soziale Wirklichkeit

57 Für eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Herleitung des hier vertretenen (hypothetischen) ontologischen und epistemologischen Realismus siehe die Befassung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie auf S. 62 ff.

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konstruiert wird, kommt ohne konstruktivistische Erkenntnistheorie aus.58 Der Tatbestand sozialer Konstruktionen – etwa in Form von Wissensbeständen, Deutungsroutinen, Werten und Normen – wird hier nicht bestritten, sondern ebenfalls als evolutionär-anthropologisches Explanandum behandelt. Nur leitet sich aus der Tatsache, dass Menschen sich Realitäten konstruieren können, nicht ab, dass konkurrierende Wahrheitsansprüche nicht prinzipiell entscheidbar wären. Denn es ist eine Sache, Vorstellungswelten zu ersinnen und intersubjektiv zu validieren. Kinder schaffen sich im Spiel fiktive Welten, ohne dass diese dadurch in einem materiellen Sinne real würden. Es lassen sich sogar ganze Imperien auf die irrige Annahme gründen, man habe die Gesetzmäßigkeiten und das Telos der Geschichte erkannt – ohne dass etwa der Marxismus-Leninismus dadurch wahrer geworden wäre, dass man ihn als wahr behandelt. Eine andere Sache ist es, dass die Folgen von Handlungen, die auf irrigen Situationsdefinitionen basieren, ihrerseits real sind – ganz unabhängig davon, wie irreal, wie „konstruiert“ diese Situationsdefinition war (Thomas 1928).59 Sich selbst erfüllende Prophezeiungen wie etwa das Herbeireden einer Bankenkrise (vgl. Aschinger 2001; Reinhart und Rogoff 2009) sind deshalb kein Problem für einen ontologischen Realismus. Und ebenso verhält es sich mit der real folgenreichen Vorstellung eines von körperlichen Zwängen gelösten Selbst (Damasio 2011). In all diesen Fällen zeigt sich nicht das Wahr-Werden konstruierter Realitäten, sondern nur das Wahr-Sein realer Konstruktionen. Insgesamt spricht nichts gegen einen ontologischen Realismus. Es lassen sich deshalb auch keine überzeugenden Gründe dagegen finden, die Frage nach den anthropologischen Grundlagen sozialwissenschaftlicher Theorien als empirische Frage zu behandeln, Menschen also als etwas so-und-nicht-anders beschaffenes Seiendes zu begreifen. Zwar müssen in Theorien abstrahierende und komplexitätsreduzierende Annahmen getroffen werden, um zu generalisierbaren Aussagen zu gelangen. Das gilt freilich auch für anthropologische Prämissen. Doch sollten diese abstrahierenden Aussagen auf Basis eines zunächst möglichst korrekten Erkennens und Verstehens des Gegenstandes erfolgen. Politikwissenschaftliche Theorien sollten also schon zur Kenntnis nehmen, wie Menschen wirklich sind, wenn ihre (möglichst allgemeinen und sparsamen) Theorien praktischen Nutzen entfalten sollen. Es wird kaum jemand bestreiten, dass dies der letzte Sinnhorizont wissenschaftlicher Arbeit sein sollte. 58 Es wird folgerichtig auch von dezidierten methodologischen Individualisten der Konstruk­ tionscharakter sozialer Strukturen nicht geleugnet. Das von Rational-Choice-Soziologen entworfene Mikro-Makro-Modell baut ja gerade auf der Einsicht in die praktische Faktizität von sozialen Makrostrukturen auf (Coleman 1994; Esser 1999a). Vgl. dazu S. 137 ff. 59 Diese Denkfigur wird nach ihrem Urheber das „Thomas-Theorem“ genannt. Vgl. auch S. 443 f.

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität 55

Das Fehlen einer empirisch-anthropologischen Handlungstheorie in politik­ wissenschaftlichen Erklärungsansätzen ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen. Man stelle sich einen Physiker vor, der sich zwar für die elementare Struktur der Materie interessiert, jedoch nicht nach empirischen Belegen für ihre Existenz suchen will. Oder einen Biologen, der sich nicht mit Genetik auskennt. Oder einen Maschinenbauer, der nicht allzu viel Genaues über die physikalische und chemische Beschaffenheit von Werkstoffen wissen möchte.60 Das klingt lächerlich. Umso lächerlicher wäre es, wenn dieser Maschinenbauer sagte, er könne mit seinem Wissen etwas zusammenbauen, was wie ein Flugzeug aussieht. Natürlich aber liegt der entscheidende Realitätstest einer Theorie in ihrer Praktikabilität, darin also, ob das Flugzeug fliegt. So trivial diese Argumente daherkommen, sie sind Illustrationen eines entscheidenden Einwandes sowohl gegen den Formalismus von Als-ob-Anthropologien (Bröckling 2003: 17; Bryan D. Jones 2003: 409) als auch gegen die Zurückweisung jeglicher Versuche anthropologischer Fundierung. Sie öffnen den Blick zudem dafür, dass sich auch radikale Konstruktivisten einer impliziten empirisch-anthropologischen Prämisse bedienen – und zwar der ziemlich starken und denkbar unplausiblen, dass menschliches Handeln in keiner Weise von seinen physischen, chemischen, biotischen und psychischen Grundlagen geprägt wird. Soziale Tatsachen erklären zu wollen, heißt also auch, die Natur des Menschen zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die ontologische Dimension politischer Anthropologie stärker zu berücksichtigen, nützt potentiell sowohl dem methodologischen Individualismus als auch dem Kollektivismus. Indem nämlich deren methodologische Prämissen in empirische Hypothesen überführt (oder zumindest auf sie bezogen) werden, stellen sich neue Fragen, welche manchen Konflikt zwischen den beiden Lagern in einem neuen Licht erscheinen lassen.61 Wie diese Untersuchung zeigen wird, bieten gerade die theoriekonstruktiv so wichtigen anthropologischen Annahmen fruchtbare Ansatzpunkte für jene theoretische Integration, nach welcher ohnehin von beiden Seiten gestrebt wird – gerade in der Sozialkapitaltheorie (Bourdieu 1983; Coleman 1994).62 Multiperspektivität und theoretischer Pluralismus sind also zwar keine Makel, sondern im Gegenteil notwendige Forschungsstrategien unter den Bedingungen erkenntnistheoretischer Unsicherheiten.63 Allerdings ist das kein Argument ge60 Die Vergleiche sind angelehnt an Jones (2003: 409). 61 Siehe zu solchen Konflikten exemplarisch den Austausch zwischen Esser (2006) und Albert (2007). 62 Der methodologische Individualist Coleman wollte den Gegensatz zwischen Akteur und Struktur, der sich vom Strukturalismus abwendende Bourdieu jenen zwischen Subjektivismus und Objektivismus auflösen. Siehe S. 125 ff. 63 Es wird auch von Komplexitätsforschern und Biologen für solchen Pluralismus plädiert,

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gen die Korrespondenztheorie der Wahrheit (Popper 1982; Russell 1912/2012; Tarski 1936) zumindest als regulativer Idee eines nicht-naiven und empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses (Kroneberg 2009: 238). Es können sehr wohl (zumindest prinzipiell) Kriterien gefunden werden, die es erlauben, den Wahrheitsgehalt von Aussagen einzuschätzen. Zumindest spricht nach aktuellem Diskussionsstand in der Erkenntnistheorie nichts dafür, das Gegenteil anzunehmen (Bartels und Stöckler 2009; Boghossian 2013; Chalmers 2007; Poser 2012; Schurz 2008). Auch lässt sich wohl schwerlich das Betreiben von Wissenschaft rechtfertigen, wenn der Anspruch aufgegeben wird, dass Wissenschaft Aussagen generieren soll, die dem Alltagsdenken in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt überlegen sind. Der Siegeszug der von einer prinzipiell erkennbaren Wirklichkeit ausgehenden realistischen Wissenschaften in den letzten Jahrhunderten spricht ohnehin Bände. All das heißt natürlich nicht, dass Wissenschaft zwangsläufig wahre Aussagen hervorbringt. Aber es ist möglich, und dies – wie sich zeigen wird – in Bezug auf die Natur des Menschen heute mehr denn je.64

2.3.3 Normative Dimension: Ideologie und Werturteilsfreiheit Während schon der Zusammenhang zwischen methodologischer und ontologischer Dimension immer wieder für Missverständnisse sorgt, erschwert die normative Dimension eine fruchtbare Befassung mit politischer Anthropologie ganz grundsätzlich. Gemeint ist, dass Menschenbilder stets auch Einfallstore von expliziten und impliziten, reflektierten und unreflektierten Werturteilen sein können. Das kann im Wesentlichen auf zwei Arten geschehen (Zafirovski 2000a: 567 ff.): einesteils über die Verknüpfung von deskriptiven Behauptungen darüber, „wie der Mensch ist“, mit politischen Weltanschauungen; andernteils durch explizit normative Menschenbilder, also Vorstellungen darüber, „wie der Mensch sein sollte“. Was die ideologische Instrumentalisierbarkeit von deskriptiven Menschenbildern angeht, lässt sich tatsächlich konstatieren, dass anthropologische Annahmen dazu geeignet sind, theoretische und weltanschauliche Positionen argumentativ abzustützen (Hunt 1999; Stevenson und Haberman 2008; Zafirovski 2000a: 567 ff.; vgl. Brown 2013: 444 f.). Vorstellungen über die menschliche Natur dienen

ohne dass an der Notwendigkeit von Mikrofundierung unterhalb von Individuen gezweifelt würde (Lange 2012: 307 ff.; Mitchell 2008). Vgl. dazu auch S. 72 ff. 64 Siehe dazu auch S. 65 f.

Dimensionen des Anthropologischen: Methodologie, Ontologie, Normativität 57

dann als Letztbegründungen politischer Theorien (Meißelbach 2013). Entlang der so entstehenden Frontlinie verläuft mancher ideologische Streit zwischen „linker“ und „rechter“ Politikwissenschaft (Thöndl 2005: 83).65 So verbinden sich häufig methodologischer mit normativem Individualismus bzw. Kollektivismus (Pfordten 2000).66 Wer Sympathien für normativen Individualismus, also etwa für große individuelle Freiheitsgrade und Deregulierung hegt, wird sich leicht damit tun, die Gesellschaft in erster Linie als eine Interaktion von rationalen Individuen zu verstehen. Und wer als Konservativer skeptisch gegenüber allzu progressiven politischen Experimenten ist, der wird gern darauf verweisen, dass die Grenzen politischer Gestaltbarkeit in den wie-auchimmer gearteten Handlungsrationalitäten von Individuen liegen.67 Analoges lässt sich über normative Kollektivisten sagen, die etwa weniger gesellschaftliche Konkurrenz, mehr Umverteilung und starke Regulierung zugunsten der Herstellung öffentlicher Güter für erstrebenswert halten. Für sie mag der argumentative Ausgangspunkt attraktiv sein, dass Menschen in erster Linie Produkt der sozialen Verhältnisse sind, in denen sie leben – und damit hochgradig erzieh- und veränderbar. Gesellschaftliche Entwicklung ist in dieser Perspektive in hohem Maße kontingent, ihre kulturelle und normative Rahmung vollständig konstruiert – und damit dem Grunde nach auch beliebig gestaltbar. Grob verdichtet lässt sich die Relevanz dieser normativen Dimension wie folgt auf den Punkt bringen: Methodologischer Individualismus ist geeignet, Kapitalismus und Liberalismus als etwas „ganz Natürliches“ zu legitimieren; unter Rückgriff auf „reine“ Rational-Choice-Theorie kann für Deregulierung und Neoliberalismus plädiert werden. Mithilfe eines methodologischen Kollektivismus können solche Positionen angegriffen werden, bis hin zu dem Versuch, mit postmodernen

65 Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Gesamtschau der in den ersten drei Absätzen zitierten Werke. Im Detail wird man ihnen zwar mit guten Gründen widersprechen können. Die Argumentation liegt jedoch genau auf der Linie jenes „anthropologische Meta-Konsens“ über die enge Verbindung von Menschenbildern und politischen Theorien, der auf S. 35 ff. als Betriebswissen der Politikwissenschaft identifiziert wurde. 66 Normativer Individualismus (bzw. Kollektivismus) meint, dass alle politischen Entscheidungen ihre letzte Rechtfertigung in der Zustimmung, den manifesten Interessen oder den Belangen der jeweils betroffenen Individuen (bzw. des politischen Kollektivs) finden (Pfordten 2000: 500). 67 Dieser Zusammenhang von ideologischen Vorannahmen und bevorzugten wissenschaftlichen Perspektiven unterspült zwar das im Folgenden zu behandelnde Postulat der Werturteilsfreiheit. Er lässt sich aber anthropologisch begründen. Aufgrund von selektiver Wahrnehmung und ‚motivated reasoning‘ bevorzugen Menschen solche Sachinformationen und Deutungen, welche mit ihren empirischen Wissensbeständen und normativen Vorannahmen kompatibel sind. Davon sind natürlich auch Wissenschaftler nicht ausgenommen. Siehe dazu S. 375 ff.

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Überspitzungen jede empirische Argumentation in politischen Zusammenhängen in Zweifel zu ziehen und als ganz und gar kontingent zu relativieren.68 Allerdings ist diese Verbindung von Theorieperspektiven und politischen Agenden keineswegs exklusiv und notwendig (Pfordten 2000: 507; Zafirovski 2000a: 568 f.). So liefert etwa Jon Elster (1985, 1991) eine methodologisch-individualistische Mikrofundierung des Marxismus; und auch der Neomarxist Bourdieu hält eine rein strukturfunktionalistisch argumentierende Theorie für nicht zielführend.69 Methodologische Individualisten wie Milton Friedman gaben sich insbesondere in moralischen Zusammenhängen politisch überraschend kollektivistisch; methodologische Kollektivisten wie Talcott Parsons und John Maynard Keynes waren politisch-normative Individualisten (Zafirovski 2000a: 569). Dezidiert normative Menschenbilder stellen die zweite Art wertgebundener Einflüsse auf sozialwissenschaftliche Theorien dar. Sie sind von empirischen Aussagen über die Natur des Menschen streng zu unterscheiden (Führ et al. 2007b: 14). In solchen Anthropologien werden Aussagen darüber gemacht, wie Menschen sein sollten, statt sich damit zu begnügen darzustellen, wie Menschen sind. Solche normativen Anthropologien sind etwa Bestandteil von religiösen Weltanschauungen, die „guten Menschen“ das Befolgen bestimmter Regelkataloge nahelegen (Stevenson und Haberman 2008; vgl. Pinker 2002: 1 f.). Sie sind auch ein letztbegründender Baustein politischer Ideologien und Utopien, die einen „neuen Menschen“ erschaffen wollen und deshalb – wie im Falle von Faschismus und Kommunismus – notwendigerweise in den Totalitarismus abdriften, wenn zu ihrer Umsetzung geschritten wird (Bartov 2002; Seitschek 2005).70 Aber normative Menschenbilder sind auch in politische Positionen eingelassen, die mit viel geringerem Gestaltungsanspruch verbunden sind als Totalitarismen. So kann man sich einfach wünschen, dass Menschen sich (mehr) um das Gemeinwesen sorgen, friedlich zusammenleben oder aufmerksam, mündig und aufgeklärt mit sich selbst und ihren Ressourcen umgehen. Und auch ein materieller Rechtsstaat kommt nicht ohne Festlegungen darüber aus, wie Menschen sein – oder zumindest: sich verhalten – sollten (Gutmann 2011; Häberle 2008). Für die hier verfolgten Zwecke sind weder solche normativen Menschenbilder noch die zuerst diskutierte bloße Funktionalisierung von empirischen Menschenbildern für die Rechtfertigung von politischen Agenden von irgendwelchem Nutzen. Dass Anthropologie hier nicht normativ im Sinne eines „Bild vom wünschenswerten Menschen“ begriffen wird, liegt auf der Hand. Um eine empirische 68 Siehe hierzu die anti-relativistische Argumentation ab S. 51. 69 Vgl. S. 125 ff. 70 Zur hier anschließenden Totalitarismustheorie siehe Linz (2000), Patzelt (1998) sowie Seidel und Jenkner (1974).

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Theorie wie die Sozialkapitaltheorie handlungstheoretisch zu fundieren, bedarf es schließlich einer empirischen Anthropologie, also einer (möglichst zutreffenden) Beschreibung und Erklärung der Natur des Menschen. Und natürlich wäre im Hinblick auf die Mikrofundierung einer sozialwissenschaftlichen Theorie nichts gewonnen, wenn selektiv solche anthropologischen Befunde in Stellung gebracht würden, die eine bestimmte ideologische Position stärkten. Auch bei anthropologischer Forschung kann aber nach dem Postulat der Werturteilsfreiheit verfahren werden (Weber 1917a/1988, 1917b/1988; vgl. Popper 1993) – und so soll es hier auch geschehen:71 Normative Prämissen sollen und werden keine Grundlage des hier verfolgten Projekts sein. Denn einesteils ist das Einstreuen vorwissenschaftlicher Werthaltungen in wissenschaftliche Analysen unzulässig, und andernteils sind Werturteile bei der Erarbeitung empirischer Aussagen ohnehin unnötig.72 Sehr wohl aber können und sollen Werturteile Gegenstand und Zweck einer anthropologischen Fundierung sozialwissenschaftlicher Theorien sein (vgl. Patzelt 2013b: 201 ff.). Sie müssen es sogar, denn nur so können normative Politikwissenschaft und empirische Anthropologie eine fruchtbare Verbindung eingehen. Von Experten des Politischen wird (als Gegenleistung für den Bezug umfangreicher Steuermittel) das Formulieren von Handlungsempfehlungen erwartet – als kritisch-konstruktive Kommentierung des aktuellen Zeitgeschehens, als konkrete wissenschaftliche Politikberatung oder als Visionen guter Ordnung entwerfende politische Philosophie.73 Weil aber sozialwissenschaftliche Theorien nicht ohne anthropologische Annahmen auskommen, hängt die Leistungsfähigkeit normativer Politikwissenschaft ganz zentral von deren Richtigkeit ab (Bizer et al. 2004; Führ et al. 2007a). Es ist also nicht nur möglich, sondern notwendig, politische und politikwissenschaftliche Werturteile und Handlungsanweisungen auf ihre empirisch-anthro­ pologischen Bestandteile hin zu befragen und jene zu prüfen, gegebenenfalls zu verwerfen oder zu verändern. Dafür sind jedoch normative Menschenbilder oder andere ideologische Vorbehalte nicht nur hinderlich, sondern sogar überaus schädlich. 71 Die wesentlichen Eckpunkte eines werturteilsfreien Programms der Politikwissenschaft sind bei Patzelt (2013b: 135 f.) knapp umrissen. Der dort vertretenen Auffassung wird hier gefolgt. 72 Es wird noch zu zeigen sein, dass auch die zur anthropologischen Fundierung der So­ zialkapitaltheorie herangezogenen Disziplinen denselben wissenschaftstheoretischen Prinzipien unterworfen sind. Siehe hierzu S. 113 ff. 73 Zentrale Debatten der Sozialkapitaltheorie drehen sich etwa um den Konflikt zwischen den normativen Theorien des Kommunitarismus und des Liberalismus (Westle et al. 2008a: 15). Ein Projekt wie das hier verfolgte hat ein wichtiges Ziel politikwissenschaftlicher Forschung verfehlt, wenn es nichts zu den Chancen und Grenzen der jeweils angezielten Wertverwirklichung zu sagen hat.

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2.3.4 Bilanz: Politische Anthropologie als empirisches Forschungsprogramm Die anthropologische Fundierung politikwissenschaftlicher Theorien unterliegt also den ganz normalen Anforderungen an Wissenschaft: Einesteils soll sie werturteilsfrei, klar und möglichst sparsam sein. Andernteils muss sie bemüht um empirische und logische Wahrheit bleiben. Nichts anderes kann die regulative Idee von Wissenschaft sein. Die Wahl geeigneter Menschenbilder für sozialwissenschaftlicher Theoriebildung sollte deshalb nicht in erster Linie auf Basis von methodologischen Erwägungen und schon gar nicht von normativen Vorannahmen getroffen werden. Als-ob-Anthropologien wie Homo oeconomicus und Homo sociologicus mit dem Verweis auf ihre Sparsamkeit und ihren Modellcharakter zu verteidigen, ist allein nicht überzeugend. Menschenbilder und daraus gewonnene Handlungstheorien sind zu wichtig für politikwissenschaftliche Theorien, als dass sie nach nur pragmatischen, intradisziplinären Gesichtspunkten festgelegt und trotz widersprechender empirischer Evidenzen aufrechterhalten werden sollten. Es leuchtet auch die prinzipielle Ablehnung von Anthropologien mit der Begründung nicht ein, sie seien stets Einfallstore verdeckter Werturteile. Schließlich ist die Vermeidung von Anthropologie selbst eine Anthropologie. Die Behauptung, es gäbe jenseits von kulturellen Konstruktionen, Sprachspielen, Narrativen und Diskursen keine empirisch bestimmbare Natur des Menschen, stellt selbst eine falsifizierbare (und hier auch zu falsifizierende) empirische Aussage dar. Außerdem spricht schon aus logischen Gründen nichts dafür, dass wissenschaftliche Aussagen (und damit auch anthropologische Theorien) nicht endgültig überprüfbar seien, weil sie jeweils nur in Bezug auf kulturell konstruierte epistemische Systeme wahrheitsfähig sind. Zwar behaupten dies manche postmodernen Theoretiker; doch ist diese Aussage entweder falsch – oder widerlegt sich selbst. Über die menschliche Natur lassen sich empirisch wahre Aussagen formulieren. Genau darum soll es hier gehen. Modellhafte Reduktion eines Menschenbildes auf ein sozialwissenschaftliches Verhaltensmodell ist ein der Übereinstimmung mit den Tatsachen nachgeordnetes Ziel.74 Zwar können Verhaltensmodelle aus forschungslogischen Gründen unterkomplex und in diesem Sinne auch „unwahr“ sein. Politikwissenschaftliche Theo74 Führ et al. (2007b: 14) schlagen die Unterscheidung von „Menschenbild“ und „Verhaltensmodell“ vor. Zwar wollen sie selbst damit normative von empirischen Aussagen über die Natur des Menschen begriff‌lich trennen. Jedoch eignet sich dieses Begriffspaar für eine hier forschungspraktisch viel wichtigere Abgrenzung. Während ein Menschenbild eben ein „Bild vom Menschen“ und damit eine möglichst umfassende empirische Theorie von dessen We-

Klärung der Grundlagen: Erkenntnis, Emergenz und Komplexität 61

rien zum Wahlverhalten, zur Ausübung von kommunikativer Macht in Diskursen oder zu sozialen Bewegungen dürfen (und müssen) sich auf vereinfachte Verhaltensmodelle stützen, welche nur die jeweils relevanten Aspekte eines seinerseits möglichst umfassend mit der Realität übereinstimmenden Menschenbildes beinhalten. Gleiches gilt für Theorien des Sozialkapitals. Allerdings lässt sich nicht von vornherein und nur mit politikwissenschaftlichen Mitteln oder methodologischen Argumenten bestimmen, welche Aspekte dies sind. Was alles das Wahl-, Kommunikations-, Protest-, und Vernetzungsverhalten von Menschen bestimmt und warum – das sind eben empirische Fragen.

2.4 Klärung der Grundlagen: Erkenntnis, Emergenz und Komplexität Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, dass Diskussionen über die Rolle von Menschenbildern in sozialwissenschaftlichen Theorien schnell in allerlei argumentative Sackgassen führen können und geführt haben. Es ist auch deutlich geworden, dass dafür zahlreiche Dualisierungen und sich um deren Verflechtungen rankende Kontroversen verantwortlich sind: Akteur vs. Struktur, Individuum vs. Gesellschaft, Mikro vs. Makro; damit in Verbindung stehend auch methodologischer Individualismus vs. Kollektivismus sowie ontologischer Realismus vs. Relativismus. All diese Dualismen führen im Kontext anthropologischer Argumentationen nachgerade unausweichlich hin zu der Natur-Kultur-Debatte (Bohlken und Thies 2009; Oehler 2010), in deren Kern es um das Leib-Seele-Problem geht (Beckermann 2008; Brüntrup 2008). Der Natur-Kultur- bzw. Leib-Seele-Dualismus wiederum ist in der modernen Wissenschaftskultur im Wesentlichen ein Antagonismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften geworden – und damit auch ein ziemlich dualistischer Konflikt von wissenschaftlichen Stilen und Paradigmen (Daston 2010; Lloyd 2010). Wenig spricht dafür, dass all diese historisch gewachsenen Dualismen den jeweiligen empirischen und theoretischen Problemstrukturen gerecht werden, auf die sie gerichtet sind. Dennoch sind sie von großer Beharrungskraft und gehören nach wie vor zu den gängigen wissenschaftstheoretischen Interpretationsschemata. Interdisziplinäre Argumentationen zur politischen Anthropologie laufen deshalb stets Gefahr, an Vorbehalten zu scheitern, die diesen – oft implizit bleibenden – dualistischen Denkweisen entspringen. sen bezeichnet (ontologische Dimension), stellt ein Verhaltensmodell eine modellhafte Reduktion dieser empirischen Theorie dar, die deren Gehalt für die praktischen Zwecke politikwissenschaftlicher Theorien verdichtet (methodologische Dimension).

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Dieses Kapitel dient dazu, solchem Scheitern vorzubeugen. Sein Zweck ist es, die grundsätzlichen Prämissen dieser Studie offenzulegen und mithin ein epistemologisches und methodologisches Rahmenwerk vorzustellen, das ohne dualistische Frontstellungen auskommt: getragen vom einem in der Evolutionären Erkenntnistheorie gegründeten hypothetischen Realismus, abgestützt von einem komplexen Emergenzbegriff und empirisch-analytisch anschlussfähig gemacht mithilfe der Komplexitätstheorie. Manche argumentativen Pfade scheinen dabei von der unmittelbaren Beantwortung der Forschungsfrage wegzuführen. Wie sich aber zeigen wird, werden die Befunde dieser Studie die Leistungsfähigkeit der im Folgenden zu behandelnden Denkwerkzeuge erfordern und unterstreichen.75

2.4.1 Ausgangspunkt: Evolutionäre Erkenntnistheorie und hypothetischer Realismus Es kann heute nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Erarbeitung eines belastbaren erkenntnistheoretischen Fundaments für Fragestellungen der politischen Anthropologie nur mit geisteswissenschaftlichen Mitteln möglich ist. Eine Theorie des Erkennens, die den Ausgangspunkt einer anthropologischen Fundierung sozialwissenschaftlicher Theorien bilden soll, wird systematisch berücksichtigen müssen, dass Menschen die Welt nicht nur erkennen und erforschen, sondern selbst ein materieller Teil von ihr sind. Die Biologie des Menschlichen muss also in der Erkenntnistheorie Berücksichtigung finden (Poser 2012: 265 ff.).76 Die Philosophie hat zwar mehrfach darauf hingewiesen, dass Geist, Bewusstsein und Erkenntnis mindestens auch natürliche Komponenten haben (Borrmann 2009; Illies 2006, 2009; Quine 1969), konnte bisher jedoch selbst keine in dieser Hinsicht befriedigenden epistemologischen Theorieangebote erarbeiten (Bütterlin 2006: 208).

75 Die folgenden Ausführungen kann getrost überspringen, wer vorerst keine wissenschaftsoder erkenntnistheoretischen Fragen mehr hat oder nun endlich etwas über den Nutzen einer evolutionären Perspektive für die politische Anthropologie erfahren will. Zwar wird das theoretische Instrumentarium ab Kapitel 4.5 auch substantiell gebraucht, wenn es an die konstruktive Bearbeitung des sich in der Sozialkapitaltheorie wie unter dem Brennglas zeigenden Mikro-Makro-Problems geht. An den jeweiligen Stellen werden aber Querverweise hierher zurückführen. 76 Das freilich ist eine Position, die in vielen wissenschaftstheoretischen Lehrbüchern nach wie vor überhaupt nicht systematisch diskutiert wird (Audi 2010; Chalmers 2007; Moser 2005). Zur Philosophie der Evolutionstheorie siehe kritisch Weber (2009), der die hier vertretene Auffassung jedoch auch nicht grundlegend infrage stellt.

Klärung der Grundlagen: Erkenntnis, Emergenz und Komplexität 63

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie hingegen trägt dem Umstand Rechnung, dass sich aus nur philosophischen und logischen Überlegungen heraus kein Bezugsrahmen für das Erkennen der Welt konstituieren lässt.77 Ihr Ausgangspunkt ist das empirische Problem, dass Organismen einige zutreffende Informationen über ihre Umwelt benötigen, in ihr also für sie Relevantes „erkennen“ müssen, um überleben zu können.78 Die sich daraus ergebende zentrale These der Evolutionären Erkenntnistheorie ist ebenso bescheiden wie durchschlagskräftig: „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben sicherte.“ (Vollmer 2002: 102)

Erkennen hat also eine Funktion; und jene lässt sich nur naturgeschichtlich, also evolutionär verstehen. Ein Organismus, der sich zutreffende Informationen über die Umgebung aneignen kann, hat Anderen gegenüber Überlebens- und Reproduktionsvorteile. Es waren also stets jene Individuen innerhalb einer Population bevorteilt, deren Agieren in der Welt hinsichtlich relevanter Aspekte auf besonders nützlichen Informationen beruhte. Über viele Generationen entwickelte sich so immer besser an die Gegebenheiten der Umwelt angepasste Erkenntnisfähigkeit. Sinnesorgane und Gehirn, also die primären Werkzeuge menschlicher Erkenntnisfähigkeit, sind Produkte der Evolution – und mithin in der Körperlichkeit von Organismen begründet.79 Diese „Weltbildapparate“ (Lorenz 1943, 1973) ermöglichen Orientierung und Bewegung in der Umwelt, Flucht und Schutz vor Fressfeinden sowie das Finden von Nahrungsquellen. Was also von Menschen erkannt wird, steht in einer direkten Relation zu dem, was in der Welt da draußen ist. „Zwischen den Denk- und Anschauungsformen und dem an sich Realen [besteht] genau dieselbe Beziehung, die zwischen Organ und Außenwelt, zwischen Auge und Son-

77 Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht zurück auf Konrad Lorenz (1943, 1973) und Karl Popper (1993), wurde weiterentwickelt von Rupert Riedl (1992, 1981), Donald T. Campbell (1974) und Gerhard Vollmer (2002, 2008). Siehe einführend auch Irrgang (2001). 78 Schon eine Pflanze muss „erkennen“, in welche Richtung sie Wurzeln und Blätter zu treiben hat, zu welchen Zeiten sie blüht und Früchte trägt. Einzeller müssen ihrer Umwelt Informationen entnehmen und auf sie reagieren, etwa indem sie sich mithilfe einer Geißel gezielt bewegen. Auch alle anderen Organismen müssen etwas über die Struktur der Realität in Erfahrung bringen, auch Institutionen, Unternehmen – und natürlich Menschen (Patzelt 1996; Riedl 1992). 79 Für eine knappe Einführung in die Evolutionstheorie siehe S. 78 ff.

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ne, zwischen Pferdehuf und Steppenboden, zwischen Fischflosse und Wasser auch sonst besteht […], jenes Verhältnis, das zwischen dem Bild und dem abgebildeten Gegenstand, zwischen vereinfachendem Modellgedanken und wirklichem Tatbestand besteht, das Verhältnis einer mehr oder weniger weit gehenden Analogie“ (Lorenz 1943: 352 f., zitiert nach Vollmer 2002).

Es ist folglich möglich, von der Struktur der Weltbildapparate vorsichtig auf die Struktur der Wirklichkeit zu extrapolieren. Man denke an die funktionale Äquivalenz der Sinnesorgane sehr unterschiedlicher und nur entfernt verwandter Spezies. Sie haben teils ganz unterschiedliche Wege gefunden, dieselben Umweltinformationen zu verarbeiten (Riedl 1992; Vollmer 2002: 37). Es gibt diese Informationen also objektiv in der Welt da draußen.80 Auch für die menschliche Wahrnehmung konstitutive Fähigkeiten wie die Orientierung im dreidimensionalen Raum oder die kausale Kognition, also das Zurückführen von Phänomenen auf angebbare Ursachen, erlauben Rückschlüsse: „To put it crudely but graphically, the monkey who did not have a realistic perception of the tree branch he jumped for was soon a dead monkey – and therefore did not become one of our ancestors“ (Simpson 1963: 84). Gleiches gilt für die implizite Annahme, die Welt sei regelhaft in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen strukturiert. Dieses „Vorurteil“ hat sich gegenüber seinen Alternativen schlicht bewährt (Riedl 1981: 140). „[Der Erkenntnisapparat] lässt uns in allem, was wiederholt aufeinanderfolgt, einen Ursachen-Zusammenhang erwarten, obwohl wir rational oft gar nicht wüßten, worin dieser bestehen sollte. […] Das biologische Wissen enthält ein System vernünftiger Hypothesen, Voraus-Urteile, die uns im Rahmen dessen, wofür sie selektiert wurden, wie mit höchster Weisheit lenken; uns aber an dessen Grenzen vollkommen und niederträchtig in die Irre führen.“ (Riedl 1981: 37)

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie unterstellt nicht, dass erkennende Subjekte die Realität so erkennen, wie sie ist. Sie behauptet nur, dass Organismen die Welt in einer stammesgeschichtlich nützlich gewesenen Weise wahrnehmen. Auch die Verzerrungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit sind also systematischer Natur

80 Schon der Prozess des Erkennens selbst ist also ein Beleg für die Existenz einer bewusstseinsunabhängigen und prinzipiell erkennbaren Realität. Vollmer (2002: 35 ff.) führt weitere Argumente an, etwa die Konvergenz der Messwerte von natürlichen Phänomenen mit unterschiedlichen Messinstrumenten sowie die Kompatibilität von in unterschiedlichen Disziplinen entstandenen wissenschaftlichen Theorien zu den gleichen empirischen Referenten. Siehe hierzu auch die kritische Auseinandersetzung mit dem epistemologischen Konstruk­ tivismus auf S. 51 ff.

Klärung der Grundlagen: Erkenntnis, Emergenz und Komplexität 65

und Ergebnis der Anpassung an einen bestimmten, jeweils überlebensrelevanten Ausschnitt der Wirklichkeit. Das ist der Grund, warum optische Täuschungen wider besseres Wissen „funktionieren“, warum zufällig nacheinander auftretende Ereignisse kausal miteinander in Verbindung gebracht werden („Wenn man vom Teufel spricht…“; „Es gibt keine Zufälle.“) und warum der menschliche Weltbildapparat nur bestimmte Teile des optischen sowie akustischen Frequenzspektrums wahrnehmen kann.81 Menschliches Erkennen und Für-Wahr-Nehmen ist auf das Operieren im Mesokosmos angepasst, auf eine Welt mittlerer Dimensionen, mittlerer Entfernungen und geringer Komplexität (Vollmer 2002: 161 ff.). Die Fehlleistungen unseres Gehirnes beim Erfassen der realen Gestalt etwa des Makrokosmos der Astrophysik und des Mikrokosmos der Quantenphysik – oder auch der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns selbst – werden so begreiflich. Sie lagen im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte schlicht außerhalb der relevanten kognitiven Nische (vgl. Vollmer 2010: 149 ff.). Die Evolutionäre Erkenntnistheorie erklärt also nicht nur den Passungscharakter der Erkenntnisstrukturen, sondern auch deren Einschränkungen und Verzerrungen. Erkenntnis – verstanden einesteils als ein Prozess des Erkennens und andernteils als erlangtes Wissen – wird in dieser allgemeinen, nicht anthropozentrischen Perspektive als eine Beziehung verstanden, in der ein Subjekt ein Objekt als etwas dem Subjekt so Erscheinendes erkennt. Dieser Beziehungscharakter und die damit verbundene Perspektivität und Selektivität des Erkennens führen dazu, dass Erkenntnis niemals absolut sein kann, sondern an Voraussetzungen geknüpft ist, fehlbar bleibt und mithin als hypothetisch behandelt werden muss (Vollmer 2002: 41 f.). Aus alldem lässt sich ableiten, dass wissenschaftlicher Erkenntnis ein hypothetischer Realismus als epistemologisches Prinzip zugrunde zu legen ist (Vollmer 2002: 34). Es ist zweckmäßig und plausibel, die Existenz einer objektiven und bewusstseinsunabhängigen Realität zu postulieren (‚ontologischer Realismus‘), welche regelhaft strukturiert ist und menschlicher Erkenntnis prinzipiell mindestens teilweise zugänglich ist (‚epistemologischer Realismus‘). Allerdings steht dem objektiven Erkennen der Wirklichkeit auch in der Wissenschaft im Wege, dass sie von Menschen und ihren nicht-objektiven Weltbildapparaten betrieben wird. Auch der wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist also fehlbar, seine Produkte sind nur als „hypothetisch wahr“ anzusehen. Auch die Postulate des hypothetischen Realismus selbst bleiben vorläufig und haben sich an ihrer Praktikabilität messen

81 Über diese Illustrationen hinausgehend siehe ausführlich Riedl (1992: 135 ff.) und Vollmer (2002: 45 ff.).

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zu lassen. Andererseits braucht es das Konzept der Wahrheit als zentrale regulative Idee der Wissenschaft (‚methodologischer Realismus‘).82 Diese regulative Idee der Korrespondenztheorie der Wahrheit – also die Übereinstimmung von empirischen Aussagen mit ihrem empirischen Referenten – hat sich als ein praktisch äußerst erfolgreiches erkenntnistheoretisches Prinzip erwiesen, während der Relativismus keine nennenswerten wissenschaftlichen Erfolge aufzuweisen hat (Boghossian 2013; Bütterlin 2006; Illies 2006).83 Falsche oder unzweckmäßige Erkenntnisse sollten, sobald sie in empirischen Tests als solche erkannt worden sind, (vorerst) verworfen werden. Nicht in dieser Weise falsifizierte Aussagen über die Wirklichkeit sollen (vorläufig) als wahr angesehen werden.84 Diese wissenschaftliche Erkenntnislogik ist im Grunde nur die Fortführung des von der Evolutionären Erkenntnistheorie beschriebenen ubiquitären Prozesses des Erkennens: Die Apparaturen, mit denen wir der Welt Informationen entnehmen (das menschliche Sensorium ebenso wie die wissenschaftlichen Theorien und Methoden) entwickeln sich entlang ihrer praktischen Tauglichkeit weiter. Was sich bewährt, das wird behalten und optimiert; was nicht funktioniert, wird ausgesondert. Praktische Tauglichkeit meint dabei, dass Bewegungen und soziale Handlungen, die auf Basis des Erkannten ausgeführt werden, zum Erfolg führen. Genau wie sich wissenschaftliche Theorien in der Praxis auf diese Weise bewähren können müssen, war und ist Praktikabilität letztlich die evolutionäre Funktion allen Erkennens. Hypothetischer Realismus und Evolutionäre Erkenntnistheorie nützen bei der Arbeit mit und an sozialwissenschaftlichen Theorien mindestens auf zwei im Fortgang der Studie zum Tragen kommende Arten (Kappelhoff 2003; Patzelt 1996): Erstens liefern sie einen tragfähigen wissenschaftstheoretischen Rahmen mit einem bescheidenen Wahrheitsbegriff, einer monistischen Weltsicht und plausiblen Annahmen über die Realität und deren Erkennbarkeit. All das ermöglicht die robuste Begründung der weithin akzeptierten Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs.

82 Siehe für eine Diskussion der Unterteilung von ontologischem, methodologischem und epistemologischem Realismus Vollmer (1991: 130 ff., 2013: 22 ff.). 83 Mehr noch: konstruktivistische und anti-realistische Theoriebildung stärkt eine dualistische erkenntnistheoretische Position, für die es eigentlich längst keine Grundlage mehr gibt (Kappelhoff 2003). Sie reproduziert einen Natur-Kultur-Dualismus, der eine eigenständige, von der Welt des Organischen losgelöste Seinsebene postuliert, ohne dafür überzeugende Argumente vorlegen zu können. 84 Der hypothetische Realismus hat seine Wurzeln erkennbar im kritischen Rationalismus (Popper 1982, 1993).

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Zweitens ist die Einsicht, dass die Struktur menschlicher Weltbildapparate nur in evolutionärer Perspektive verstanden werden kann, von höchster sozialtheoretischer Relevanz. Schließlich basieren soziales Handeln und soziale Beziehungen nach Max Weber (1921/1980) gerade auf der intersubjektiven Erkennbarkeit der Sinnhaftigkeit menschlichen Verhaltens (vgl. Abels 2009: 191 ff.; Schäfers 2013: 73 ff.). Evolutionäre Erkenntnistheorie macht klar, dass jede Interaktion mit der Welt – auch mit der sozialen – auf evolvierten anthropologischen Vorbedingungen basiert. Dass diese Erkenntnis für die Sozialkapitaltheorie als einer Theorie sozialer Beziehungsnetzwerke höchst folgenreich ist, wird sich hier in vielfältiger Weise zeigen.

2.4.2 Emergenz: Ontologie, Methodologie und Epistemologie des Reduktionismus Nachdem nun für alle praktischen Zwecke klar ist, dass die Welt uns als objektive, bewusstseinsunabhängige, regelhaft strukturierte und prinzipiell erkennbare Realität begegnet, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, mit welchen Forschungsstrategien ihre Beschaffenheit und kausale Struktur zu untersuchen ist. Sie berührt den Kern der Kontroverse um die Möglichkeit und Notwendigkeit anthropologischer Fundierung. In ihrer Beantwortung tritt nämlich die Frontstellung zwischen Reduktionisten und Emergentisten zutage, zwischen methodologischen Individualisten und Kollektivisten. Methodologische Individualisten vertreten die auch in den Naturwissenschaften dominierende reduktionistische Auffassung, dass sich komplexe gesellschaftliche Makrophänomene am besten durch Zerlegung in ihre Mikrobestandteile begreifen ließen. Methodologische Kollektivisten gehen hingegen davon aus, dass soziale Tatsachen wie Gesellschaften und Institutionen selbst Entitäten mit Eigenschaften sui generis seien. Dieser emergentistische Ansatz behauptet grob gesagt, dass das Ganze stets mehr sei als die Summe seiner Teile. Die Erforschung sozialer Tatsachen müsse sich deshalb von der reduktionistischen Betrachtung ihrer Einzelteile lösen.85 Reduktionismus und Emergentismus sind zwei Denkfiguren, die sich nicht komplementär, sondern antagonistisch gegenüberstehen.86 Der „Methodenstreit“ zwischen reduktionistischen Weberianern und emergentistischen Durkheimia-

85 Vgl. zu alldem S. 45 ff. 86 In der deutschsprachigen Emergenzdebatte werden beide Paradigmen ausführlich behandelt (siehe vor allem Albert 2005, 2007; Bütterlin 2006; Esser 2006; Greve et al. 2009; Greve und

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nern reicht weit über anthropologische Fragen hinaus.87 Relevant ist die Diskussion für diese Arbeit, weil auch in der Sozialkapitaldebatte reduktionistischen Ansätzen wie der Colemansche emergentistische Makrotheorien gegenüberstehen, wie sie vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung verbreitet sind.88 Konkret macht etwa die evolutions- und komplexitätstheoretische Befassung mit kollektivem Sozialkapital ein grundlegendes Verständnis dieser Zusammenhänge nötig.89 Das zentrale Problem der Emergenzdebatte lässt sich mit einer provokanten Frage verdeutlichen: Ist es nicht unsinnig, wenn methodologische Individualisten behaupten, reduktionistische Erklärungen müssten auf der sozialen Individualebene angesiedelt sein ? Schließlich bieten Psychologen, Hirnforscher, Neurowissenschaftler, Biologen, Chemiker und Physiker Theorien an, die eine Mikrofundierung weit unterhalb der Individualebene ermöglichen. Der sozialwissenschaftliche Reduktionismus erscheint vor diesem Hintergrund unvollständig und hinsichtlich seiner methodologischen Prämissen nachgerade willkürlich. Überhaupt scheinen sich in der Emergenzdebatte pfadabhängig gewachsenen Fächergrenzen niederzuschlagen: Der emergentistische Biologe ist dem Soziologen ein biologischer Reduktionist; und der politikwissenschaftliche Reduktionist ist dem Hirnforscher ein Emergentist, weil der erstere zu den vom letzteren als relevant erkannten Ebenen gar nicht vordringt. Viele der Debatten um die Zulässigkeit reduktionistischer und emergentistischer Forschungsansätze entpuppen sich vor diesem – zugegebenermaßen recht pragmatischen – Deutungsschema als Gefechte um Deutungshoheiten, die dem eigentlichen theoretischen Dilemma nicht gerecht werden. Vielversprechender ist es, dieses Dilemma wissenschaftstheoretisch zu bearbeiten. In der Regel werden drei Arten von Reduktionismen unterschieden (Ayala 1974; vgl. auch Hoyningen-Huene 1985: 272): ontologischer, methodologischer und epistemologischer Reduktionismus. Und weil Emergentismus als Lehre von

Schnabel 2011; Hartig-Perschke 2009; Heintz 2004; Schützeichel 2009). Siehe ferner Sawyer (2001, 2004, 2005). Hier soll es nur um die für den Fortgang der Argumentation erkenntnisträchtigen Aspekte gehen. 87 Ob sich die Struktur der Realität mit Blick auf ihre Einzelteile oder auf das jeweils als Ganzes Erscheinende besser erschließen lässt, wird auch in vielen anderen Disziplinen diskutiert und gehört zu den wissenschaftstheoretischen Kernfragen. Einschlägige Debatten finden sich u. a. in Psychologie und Neurowissenschaft (Bunge 1977; Damasio 2010, 2011; Franks 2013), in der Biologie (Hoyningen-Huene 1985; Lange 2012), der Chemie (Balaban und Klein 2006; Luisi 2002), aber auch in der Physik (Hartmann 1997) und in der Informatik (Abbott 2006). 88 Siehe hierzu S. 203 ff. 89 Zu kollektivem Sozialkapital siehe S. 434 ff.

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der Irreduzibilität von Eigenschaften und Phänomenen das Gegenprogramm zum Reduktionismus ist, lässt auch er sich in dieser Weise aufgliedern (Bütterlin 2006; Heintz 2004).90 Ontologischer Reduktionismus meint nichts anderes als einen materiellen Substanzmonismus, also die Annahme, dass die belebte und unbelebte Natur grundsätzlich aus den gleichen Grundstoffen der Materie besteht und denselben Naturgesetzen unterliegt. Nach derzeitigem Kenntnisstand sprechen keine vernünftigen Gründe gegen diese Position. Ontologischer Emergentismus behauptet hingegen, dass höhere Ebenen der Wirklichkeit eigenständigen Regeln folgen und kausal unabhängig von unteren Ebenen sind. Ohne eine mindestens implizite Abkehr vom materiellen Monismus lässt sich diese Behauptung nicht durchhalten. Deshalb spielt solche „starke Emergenz“ in den empirischen Wissenschaften keine nennenswerte Rolle. Obwohl die stark emergentistische Vorstellung einer von der physikalischen Materie losgelösten Substanz der Seele (der sogenannte cartesianische Leib-SeeleDualismus) gemeinhin als überwunden gilt, prägt sie doch nach wie vor als subtile Hintergrundannahme die Debatte um die Reduzierbarkeit kultureller Phänomene.91 Auch heute noch gilt manchen die „introspektive Evidenz“ des von physiologischen Grundlagen als unabhängig erlebten Selbst als Beleg für ontologische Emergenz (Natterer 2011: 252). Das ist eine denkbar schwache Position. Ausgerechnet das subjektive Erleben eines angeblich nicht auf neuronale Prozesse rückführbaren Selbst hält den sich elaborierenden, in empirischer Forschung gegründeten Theorien der Neurowissenschaften nicht stand (Damasio 2011). Deshalb wird man in der wissenschaftlichen Welt mit gutem Grund kaum noch jemanden finden, der mit Verve und guten Gründen die Position des ontologischen Reduktionismus, also des Substanzmonismus ablehnt.92 Auch hier wird von einer ontologischen Reduzibilität alles Seienden auf physikalische Grundbestandteile ausgegangen. Methodologischer (auch: explanatorischer) Reduktionismus behauptet darüber hinaus, dass Erklärungen nur auf der Ebene dieser Grundstoffe angesiedelt sein dürfen, dass also alle Theorien auf höheren Ebenen explanatorisch defizitär sind. Welche als diese unterste Ebene der Wirklichkeit gilt, hat sich aber mit fortschrei-

90 Die folgende Gegenüberstellung berücksichtigt die wesentlichen Argumente der verschiedenen in der Literatur zu findenden Typologien (siehe etwa Bütterlin 2006; Clayton 2008; Greve und Schnabel 2011; Heintz 2004; Opp 2014; Sawyer 2004, 2005). 91 René Descartes (1637/1997, 1644/2005) vertrat die Auffassung, dass Geist und Materie über die Zirbeldrüse im Gehirn miteinander verbunden sind. 92 Einführend zu den sich hier anschließenden Debatten in der Philosophie des Geistes siehe Searle (2007) und Beckermann (2008, 2012).

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tendem wissenschaftlichen Kenntnisstand immer wieder verschoben. Auch leuchtet diese Forderung schon deshalb nicht ein, weil etwa eine Theorie von Finanzkrisen, die rein quantentheoretisch argumentiert, wenig praktischen Wert aufweisen dürfte. Und auch über die Wirkung einer Symphonie von Beethoven auf seine Zuhörer wird man so wenig Relevantes in Erfahrung bringen. Methodologischer Emergentismus behauptet deshalb, dass manche Phänomene erst auf höheren Ebenen der Wirklichkeit fassbar und begreiflich werden. Diese Position der „schwacher Emergenz“ ist mit dem materialistischen Monismus des ontologischen Reduktionismus kompatibel. Sie leugnet nicht, dass Makrophänomene aus Mikroelementen bestehen. Jedoch geht sie davon aus, dass Interaktionen dieser Bestandteile emergente Eigenschaften hervorbringen können, die in wissenschaftliche Betrachtungen einbezogen werden sollten. Auch sozialwissenschaftliche Reduktionisten räumen ein, dass es Phänomene wie Gesellschaften, politische Systeme oder Institutionen gibt, die Träger von Eigenschaften – etwa: Arbeitslosenquote, Kohäsion, Legitimität – sein können (Bütterlin 2006; Esser 2006; Opp 2014). Allerdings gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten darüber, wie solche emergenten Eigenschaften zustande kommen und ob sie kausale Rückwirkungen auf die unteren Ebenen haben können. Hier wird die Auffassung vertreten, dass dies eine empirische Frage ist, die für den Fall des Sozialkapitals auch Gegenstand der Prüfung sein wird.93 Jedenfalls ist es nicht überzeugend, von vornherein festlegen zu wollen, auf welcher Erklärungsebene eine Theorie anzusiedeln ist. Daraus resultiert aber kein „Blankoscheck“ für emergentistische Ansätze. Denn in einer ontologisch reduziblen Welt ist die Hervorbringung emergenter Eigenschaften höchst erklärungsbedürftig; und die beteiligten Kausalmechanismen werden (auch) auf den darunterliegenden Ebenen zu suchen sein. Eine Quantentheorie von gesellschaftlichem Zusammenhalt mag wenig Praxisnützliches zutage fördern; eine (auch) individualpsychologische Erklärung hingegen wird einer (rein) institutionalistischen Theorie wahrscheinlich überlegen sein. Epistemologischer (auch: theoretischer) Reduktionismus bezieht sich auf das damit angesprochene Verhältnis von Theorien zueinander. Er fordert, dass Theorien, die auf verschiedenen Wirklichkeits- bzw. Komplexitätsniveaus Aussagen über denselben empirischen Referenten machen, nicht im Widerspruch zueinander stehen sollen. Makrotheorien müssen also im Prinzip aus jeweils „darunter“ liegenden Mikrotheorien herleitbar und folglich in deren Sprache formulierbar sein. Anders als der methodologische verlangt der epistemologische Reduktionismus also „nur“ die externe Konsistenz von Theorien. Epistemologischer Emergen-

93 Vgl. auch die Ausführungen zur Komplexitätstheorie im nächsten Abschnitt.

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tismus geht hingegen davon aus, dass die Beschreibung und Erklärung emergenter Ebenen der Wirklichkeit eine eigene Theoriesprache notwendig machen. Es wird etwa bestritten, dass es – wenigstens im Prinzip – möglich und notwendig ist, Gesellschaftstheorien in rein biologischen (oder gar physikalischen) Kategorien zu formulieren.94 Zwar ist die Position wohl allzu optimistisch, dass letztlich alle wissenschaftlichen Unternehmungen denselben empirischen Referenten (nämlich die „Welt da draußen“) haben und deshalb im Grunde in einer Art reduktionistischer „Einheitswissenschaft“ zu integrieren sein müssten (Mayr 1991; Oppenheim und Putnam 1958; Wilson 2000). Kuhn (1967) hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Wissenschaft nicht „ideal“ im Sinne eines kumulativen Erkenntnisgewinns durch Versuch und Irrtum abläuft. Stattdessen ist sie auch ein sozialer Prozess, in dem intellektuelle Unbeweglichkeit und das Streben nach akademischer Besitzstandswahrung als starke Beharrungskräfte vorherrschender wissenschaftlicher Denkschulen (‚Paradigmen‘) wirken. Die davon bedingte praktische Unvereinbarkeit solcher Paradigmen taugt aber nicht, um auf deren prinzipielle Unver­ einbarkeit (‚Inkommensurabilität‘) zu schließen.95 Es ist deshalb allzu bequem, sich mit Verweis auf die Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen dem Anspruch externer Konsistenz entziehen zu wollen (vgl. Bütterlin 2006: 87 ff.). Wer als naturalistischer Monist die soziale Welt für ontologisch reduzibel hält, wird vielmehr auch der Forderung zustimmen, dass reduktionistische Theorien und emergentistische Erklärungen einander nicht widersprechen sollten. Mithin werden Theorien über Gesellschaften mit psychologischen Theorien zusammenpassen müssen, jene wiederum mit biologischen, diese dann mit chemischen und so weiter. Besonders gut bekräftigte Theorien wie die Evolutionstheorie sind dabei (vorläufig) als wahr zu behandeln und mithin sinnvollerweise zum Ausgangspunkt theoretischer Integrationsbemühungen zu machen. Kurzum: Genuin sozialwissenschaftliche Theorien zu formulieren ist zwar sinnvoll und notwendig; sie müssen aber kompatibel mit evolutionär-anthropo­ logischen Wissensbeständen sein.

94 Vertreter dieser emergentistischen Position sind Jerry Fodor (1974) und Ernest Nagel (1961). 95 Kuhn selbst hatte das auch nicht insinuiert, wie er später klarstellte (Kuhn 1976).

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2.4.3 Komplexität: Deterministisches Chaos und emergente Selbstorganisation Ein wesentlicher Aspekt der Emergenzdebatte ist damit aber noch nicht geklärt: Wie kommen emergente Phänomene überhaupt in die Welt ? Sind ihre Eigenschaften durch die Charakteristika ihrer „Bauteile“ determiniert ? Oder waltet bei ihrer Hervorbringung so etwas wie unvorhersehbarer Zufall ? Das entzöge dem Argumentieren für eine unhintergehbare kausale Rolle anthropologischer Grundlagen den Boden – und stärkte postmoderne, relativistische Positionen (Nash 2001; Weber 1998; vgl. Schurz 2011: 198 f.).96 Wie sich zeigen wird, lässt sich dieser Konflikt zwischen Determinismus und Indeterminismus mithilfe der Komplexitätstheorie zufriedenstellend auflösen. Ausgangspunkt dieses Konfliktes ist die Frage, ob ein Laplacescher Dämon, ein hypothetisches, allwissendes Wesen, das die Naturgesetze und die Ausgangsbedingungen aller Bestandteile des Universums kennt, auch dessen Zukunft vorhersagen könnte – weil schließlich alles Seiende den Naturgesetzen gehorcht, also determiniert und niemals zufällig ist (Schurz 2008: 95 f.). Der Ausgang eines Würfelwurfs beispielsweise ist nicht im eigentlichen Sinne zufällig: Ließen sich für jeden Wurf exakt gleiche Bedingungen schaffen, würde immer die gleiche Zahl fallen. Dass demgegenüber Menschen in ihrem Verhalten gerade nicht determiniert sind, wird oft mit dem Verweis auf die Willensfreiheit zu belegen versucht. Aber Willensfreiheit meint ja, dass man nicht einfach nur zufällig anders handeln oder entscheiden könnte, sondern aus angebbaren Gründen. In diesem Sinne setzt Willensfreiheit den Determinismus sogar voraus (Goschke und Walter 2005: 88) und basiert gerade nicht auf echtem physikalischem Zufall. Zudem ist ausgehend vom materialistischen Monismus kaum zu erklären, wie Zufall überhaupt in die Welt kommen könnte. Wenn alles Organische und überhaupt Existierende aus der gleichen Materie besteht und deshalb auf physiko-chemische Prozesse zurückzuführen ist, wenn außerdem auf dieser Ebene die Naturgesetze zweifelsfrei gelten, dann ist echte Zufälligkeit nur schwer vorstellbar. Popper (1993), Riedl (1990) und andere rekurrieren auf die Quantentheorie, die oft als klar indeterministisch angesehen wird. Aber erstens gibt es zu jener auch deterministische Deutungen; und zweitens bleibt das Verhalten von Quanten trotzdem in seinem Möglichkeitsraum vorhersagbar, ist also offenbar durch quantenmechanische Gesetze determiniert (Griffiths 2012). Oberhalb der Ebene von Elementarteilchen gibt es bisher ohnehin keinen Nachweis und keine Erklärung für echten Zufall.

96 Siehe zum Relativismus auch S. 43 ff. und S. 51 ff.

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Mithilfe der Komplexitätstheorie ist es jedoch möglich, das Auftreten unvorhersagbarer Ereignisse auch in einer vollständig deterministischen Welt zu erklären (Gleick 1990; Mitchell 2008, 2009). Aus Sicht dieser Theorie können sie durch komplexe Wechselwirkungen von physikalisch determinierten einzelnen Elementen hervorgebracht werden. Aus zunächst ganz einfachen und chaotischen Interaktionen können Zustände spontaner Selbstorganisation komplexer Systeme erwachsen, die sich manchmal auch selbst stabilisieren und dann die weiteren Interaktionen seiner Elemente strukturieren. Aus deterministischem Chaos emergiert dann selbstorganisierte und selbststabilisierende Ordnung. Dokumentierte Beispiele für solche Phänomene gibt es in der Natur zuhauf: Wolken und deren umbettende meteorologische Systeme, Strömungen aller Art, Nervensysteme und Gehirne, Organismen und die sich in ihnen vollziehenden Regelkreisläufe, Ameisenkolonien, Bienenstaaten – und menschliche Gesellschaften (Füllsack 2011; Kappelhoff 2000; Sawyer 2005). Komplexe Systeme haben emergente Eigenschaften, die nicht einfach Charakteristika ihrer Elemente sind bzw. sich bei deren isolierter Analyse beobachten lassen. Karl Popper (1993) hat das in seinem Aufsatz „Über Uhren und Wolken“ wie folgt illustriert: Systeme wie Uhrwerke sind linear determiniert und lassen sich ganz reduktionistisch erforschen. Kennt man die Funktionsweise der einzelnen Bauteile und deren direkte Interaktion, hat man das gesamte System begriffen und kann seine Zustände zuverlässig prognostizieren. Anders verhält es sich mit wolkenähnlichen Systemen: Im Wissen um Zustände und Interaktion ihrer Teile erschöpft sich längst nicht, was es an ihnen zu beobachten, zu verstehen und zu erklären gibt. Systeme wie Gehirne, Bienenschwärme und Gesellschaften weisen einen Komplexitätsgrad auf, der den von einzelnen Nervenzellen, Bienen und Menschen sowie der sich zwischen ihnen ereignen direkten Interaktionen weit übersteigt. Solche Systeme kennzeichnen sich weiterhin durch rekursive Kausalität. Die Ergebnisse einer Wirkungskette hin zur Selbstorganisation (etwa in Form von Wasserstrudeln, Ameisenrouten oder sozialen Protesten)97 wirken auf die Konfiguration der Ausgangsbedingungen (also die Bewegung der Wassermoleküle sowie das Verhalten der einzelnen Insekten und Protestierer) zurück. Für diese selbstorganisierte Ordnung gibt es keine „Blaupause“ auf der Ebene der einzelnen Elemente, aus welcher man auf die Eigenschaften des Ganzen schon schließen könnte. Dennoch entsteht das „Ganze“ aus nichts anderem als der chaotischen, aber physikalisch determinierten Interaktion der „Teile“ – und kann sich dann stabilisieren, indem es den Möglichkeitsraum für das Verhalten dieser Teile ver97 Siehe zur Selbstorganisation bei eusozialen Insekten S. 333 ff., zu kollektivem Sozialkapital als dazu funktional äquivalentem Zustand kollektiver Handlungsfähigkeit S. 434 ff.

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engt. Diese nichtlinearen Rückkopplungsdynamiken sind zwar aus im Folgenden zu erörternden Gründen schwer zu prognostizieren, aber nur scheinbar im engeren Sinne zufällig. Komplexe Systeme weisen nämlich eine hohe Sensitivität gegenüber ihren Ausgangsbedingungen auf. Kleinste Veränderungen können die selbstorganisierte Ordnung verändern oder durchbrechen (‚butterfly effect‘). Aus diesem Grund ist das Verhalten solcher Systeme in der Realität kaum vorhersagbar. Sie interagieren mit so vielen anderen Systemen auf so unterschiedliche Weise, dass es oft schlicht nicht möglich ist, alle relevanten Faktoren und Parameter zu messen. Außerdem bedeutet Messen immer auch eine Komplexitätsreduktion, weil dadurch kontinuierliche Phänomene auf Skalen abgetragen und mithin in Segmente unterteilt werden. Egal, wie genau man etwa die Geschwindigkeit oder das Gewicht eines Objektes bestimmen möchte – auf irgendeine Nachkommastelle wird man stets runden müssen. Gerade die nächste Dezimalstelle könnte aber die für das Verhalten des Systems entscheidende sein. Die Frage nach dem Laplaceschen Dämon hat deshalb auch in einer deterministischen Welt im Grunde keinen praktischen Wert. Denn die prinzipielle Unvorhersagbarkeit komplexer Systeme führt dazu, dass allem Erkennenden im Kosmos die Welt zumindest in Teilen als zufällig erscheint. Der Ausgang mag vorherbestimmt sein, aber er bleibt doch praktisch ungewiss. Eine weitere folgenreiche Eigenschaft komplexer Systeme ist deren Selbstähnlichkeit. „Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Baumrinde ist nicht glatt – und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade“ (Mandelbrot 1987: 13). Stattdessen sind sie zerklüftet und sich darin selbst ähnlich: Im Großen wiederholen sich genau jene Formen, die auch im Kleinen zu beobachten sind – so zu beobachten etwa bei Blutgefäßen, Farnen und Bäumen. Auch hieraus ergibt sich wieder ein Problem für die Vermessung solcher Systeme (Mandelbrot 1967): Je nachdem, ob man etwa die Länge eines Küstenabschnittes auf einem Globus, ihn überfliegend oder händisch mit einem Messrad ermittelt, erhält man sehr unterschiedliche Werte. Aufgrund der Selbstähnlichkeit des Objektes ändert sich dessen Gestalt je nach Maßstab. Man könnte gar zu der Einsicht gelangen, dass ein Konzept wie die „Länge“ einer Küste im Grunde sinnlos sei; doch hat es offenkundig großen praktischen Wert etwa für Seeleute, Militärs und Grundbesitzer. Exakte Messungen mancher Eigenschaft und darauf aufsetzende präzise Prognosen sind dennoch aus den dargelegten prinzipiellen Gründen oft nicht möglich.98 Angesichts all dieser chaotischen Nichtvorhersagbarkeit komplexer Systeme wirkt es zunächst erstaunlich, dass sich die aus vielerlei komplexen Systemen be98 Siehe zu alldem ausführlich und für den sozialwissenschaftlichen Anwendungskontext aufbereitet Füllsack (2011).

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stehende Wirklichkeit doch einigermaßen regelhaft verhält. Bei genauerer Betrachtung ist die Welt gar in hohem Maße von Ordnung und Vorhersagbarkeit geprägt. Sonst hätte in ihr auch kaum nachhaltig Lebensfähiges entstehen und sich zu noch Komplexerem entwickeln können. Der Grund dafür liegt darin, dass sich eben auch komplexe Systeme regelhaft verhalten. Diese Regelhaftigkeit hängt einesteils mit der Beschaffenheit rekursiver, sich selbst stabilisierender Systeme als solcher zusammen; andernteils aber mit der Beschaffenheit ihrer Elemente. Von den allen komplexen Systemen gemeinsamen Eigenschaften (Selbstorganisation, Rekursivität, Selbstähnlichkeit, Sensitivität gegenüber Ausgangsbedingungen) erschließt sich vor allem über die vierte deren jeweils spezifische Funktionslogik. Zur Sensitivität gegenüber den Ausgangsbedingungen gehört fraglos ganz zentral die Beschaffenheit ihrer Elemente. Wolken verhalten sich in angebbarer Weise anders als Wasserströme, Ameisenkolonien, Gehirne und Menschengesellschaften, weil sie aus anderen Materialien bestehen. Es ist deshalb auch aus dieser empirisch-komplexitätsanalytischen Perspektive ein – ohnehin fast nur von Anhängern des Intelligent Designs und Theologen vertretener – Irrtum, von einer prinzipiellen ontologischen Nichtreduzierbarkeit von emergenten Phänomenen auszugehen (Behe 2007; Clayton 2008). Im Gegenteil: Begreift man die spezifischen Funktionsprinzipien der Bestandteile einer komplexen Figuration und versteht man ferner, aus welchen konkreten Interaktionsmustern die Selbstorganisation emergiert, dann lässt sich auch das Verhalten des gesamten Systems wenn schon nicht prognostizieren, so doch zumindest rekonstruierend erklären (Buss und Duntley 2008: 33). Hier nun liegt die für den weiteren Argumentationsgang höchst wichtige Schnittstelle zwischen Komplexität und Evolution. Da die Evolution die Komplexität des Lebendigen – und damit auch den Menschen und seine Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen – hervorgebracht hat, wird das reduktionistische Erforschen seiner Bestandteile und ihrer naturgeschichtlichen Entstehung keine vollkommen fehlgeleitete Forschungsstrategie sein. Und genauso braucht es Theorien, die das Verhalten und Interagieren von komplexen Systemen auf höheren Organisationsebenen betrachten. „Notwendig ist eine pluralistische Sichtweise: Wir müssen anerkennen, dass kontingente Verallgemeinerungen ein zuverlässiger Bestandteil der Wissenschaft sind […]. Der integrative Pluralismus […] beinhaltet die Vielfalt der Natur, die dynamische Stabilität und Instabilität der Kausalprozesse und eine nicht zu beseitigende tiefgreifende Unsicherheit. Wenn man so tut, als gäbe es das alles nicht, bestätigt man zwar eine vorgefasste Vorstellung von Ordnung in der Welt, aber man übersieht völlig, was wir genau vor Augen haben: ein in dynamischem Wandel begriffenes, kompliziertes, komplexes, chaotisches und dennoch verständliches Universum.“ (Mitchell 2008: 151)

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2.4.4 Bilanz: Anthropologische Mikrofundierung und „guter Reduktionismus“ Wie können diese wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu Erkenntnistheorie, Emergenz und Komplexität für das hier verfolgte Ziel nutzbar gemacht werden, die Sozialkapitaltheorie anthropologisch zu fundieren ? Zunächst ist festzuhalten, dass sich gegen einen Substanzmonismus keine stichhaltigen Argumente vorbringen lassen und dass sozialwissenschaftliche Theorien deshalb von der ontologischen Reduzierbarkeit ihrer Gegenstände ausgehen sollten. Abgesehen von einigen postmodernen Theoretikern, die sich zu diesem Punkt mindestens indifferent positionieren, dürfte es dazu ohnehin wenig Dissens geben. Alle Wirklichkeit, auch die soziale, besteht aus den grundlegenden Bausteinen der Materie. Begreift man „Natur“ als die Gesamtheit dieser elementaren Grundbestandteile des Kosmos und ihre regelhafte Strukturierung, ist einer Natur-Kultur-Dualisierung der Grund entzogen. Und weil sich nach allem, was wir wissen, das Universum vom Einfachen zum Komplexen entwickelt, weil also im Laufe der Evolution höhere Ebenen von Komplexität aus elementaren Bestandteilen des Kosmos entstanden, leitet sich aus dem ontologischen Reduktionismus auch die Forderung nach Mikrofundierung von sozialwissenschaftlichen Theorien ab. Ebenso aber gibt es in der Welt emergente Phänomene. Sie sind Träger von Eigenschaften, welche deren „Bauteile“ noch nicht aufweisen. Wenn ein Individuum „gemeinsinnig“ oder „eigensinnig“ handelt, dann lässt sich das dahinterliegende Kausalgefüge psychologisch, biologisch und neurowissenschaftlich formulieren und erklären. Die soziale Handlung erwächst aus der Interaktion von Neuronen und wird also nicht von einer Instanz wie der Seele initiiert, die unabhängig vom physischen Kosmos ist (ontologischer Reduktionismus). Man wird die Eigenschaften „gemeinsinnig“ und „eigensinnig“ in einem komplexen Sinne aber auf der Ebene von Neuronen so nicht wiederfinden. Es braucht vielmehr eine dezidierte Betrachtung individuellen Handelns und sozialer Wirklichkeit, um gemeinsinniges Handeln überhaupt sinnvoll benennen und zum Gegenstand von Erklärung machen zu können (methodologischer Emergentismus).99 Dennoch kann eine Theorie, die solche Zusammenhänge auf „höheren Wirklichkeitsebenen“ anzielt, nicht ohne ein Verständnis der sich darunter ereignenden Wirkungs-

99 Solchen methodologischen Emergentismus zu betreiben und damit von der Annahme auszugehen, dass es in der Realität Figurationen gibt, deren Eigenschaften und Funktionen man am besten als Ganzes begreift, ist unter „Reduktionisten“ eine akzeptierte Einsicht (vgl. Esser 2006). Sie führte ja erst dazu, dass unter methodologischen Individualisten der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Makrophänomenen und der Mikroebene sozialer Wirklichkeit systematisch ausgearbeitet wurde (Coleman 1994; Esser 1999a). Siehe dazu S. 132 ff.

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zusammenhänge auskommen (epistemologischer Reduktionismus). Ohne eine Mikrotheorie über die Bedingungen menschlicher Handlungsentscheidungen wird sich wenig Gehaltvolles über die kausale Verbindung etwa von kollektivem Handeln und demokratischer Performanz sagen lassen.100 Denn beide Makrophänomene ergeben sich erst aus den komplexen Wechselwirkungen der Handlungen von Individuen; und diese Handlungen wiederum basieren auf komplexen Wechselwirkungen auf tieferliegenden Schichten. Mikrofundierung in den Sozialwissenschaften kann demnach nicht einfach auf der Ebene des Individuums und in Gestalt von nur geisteswissenschaftlichen Anthropologien oder von Handlungstheorien erfolgen, die ihrerseits „das Anthropologische“ auf methodologische Prämissen reduzieren – wie es etwa die Rational-Choice-Theorie tut.101 Deshalb sollten sozialwissenschaftliche Reduktionisten die eigenen Disziplinengrenzen nicht als die Untergrenzen der notwendigen Mikrofundierung behandeln. Methodologische Kollektivisten wiederum sichern das kausale Primat gesellschaftlicher Makrostrukturen meist über die Prämisse kultureller Determiniertheit menschlichen Handelns ab. Solches explizite Ablehnen oder implizite Unterlassen einer anthropologischen Mikrofundierung emergentistischer Theorien ist aber ebenfalls nicht akzeptabel. Auf einen Missstand deutet es ferner hin, wenn Theorien verschiedener Disziplinen nicht zueinander passen. Da alle Wirklichkeitsebenen materiell und kausal miteinander verbunden sind (wogegen es keine überzeugenden Argumente gibt), sind Konflikte darüber, was in der „Welt da draußen“ der Fall ist, prinzipiell entscheidbar. Solche Unvereinbarkeit ist deshalb häufig ein Indiz für mangelnde externe Konsistenz von Theorien – oder für das Fehlen eines plausiblen überwölbenden Paradigmas. Keine guten wissenschaftstheoretischen Gründe gibt es aber für ein relativistisches „anything goes“ – also dafür, den Anspruch auf Wahrheit als regulative Idee und als substantielle Anforderung an praktische Theorien aufzugeben. Überhaupt ist es recht fruchtlos, Kontroversen über die kausale Struktur der Realität nur in philosophischen Meta-Diskursen zu behandeln. Letztlich geht es um bessere empirische Erklärungs- und Vorhersagekraft von Theorien – und damit ist auch die Frage nach der „richtigen“ Beschreibungs- und Erklärungsebene mindestens zum Teil eine empirische (Opp 2014). Und solange es begründeten Dissens über Reduzibilität und Kausalität gibt, ist es sinnvoll, einen erkenntnistheoretischen Pluralismus zuzulassen, hinter dem aber ein materialistischer Monismus steht (Bütterlin 2006; Mitchell 2008; vgl. auch Lange 2012: 307 ff.). Auch wenn der gesamte Kosmos aus ein und derselben Materie besteht, hängt es von der 100 Vgl. S. 49 f. 101 Siehe dazu S. 49 f.

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Fragestellung und dem Anwendungskontext der Ergebnisse ab, in welcher Weise die in ihr wirkenden komplexen Muster der Interaktion und emergenten Selbstorganisation zweckmäßigerweise beschrieben und erklärt werden sollten. Für die dezidiert reduktionistische Unternehmung einer anthropologischen Mikrofundierung sozialwissenschaftlicher Theorien sind also sorgfältig die „guten“ von den „schlechten“ Aspekten des Reduktionismus zu trennen (Dennett 1997; Slingerland 2008): „Guter Reduktionismus“ geht von ontologischer Reduzibilität aus, nimmt aber ein arbeitsteiliges Verhältnis der Wissenschaften an. Die Physik ist unzweifelhaft grundlegend für die Chemie, die Chemie wiederum für die Biologie, die Biologie ihrerseits für Psychologie und Sozialwissenschaften. Und gleichzeitig werden Sozialwissenschaften ebenso wenig durch Mikrofundierung gegenstandslos wie Biologie und Chemie von der Physik schon deshalb nicht überflüssig gemacht werden konnten, weil die systemischen Eigenschaften von organischen Molekülen und erst recht von Organismen mit rein physikalischen Theorien nicht für praktische Zwecke befriedigend erfasst werden können. „Schlechter Reduktionismus“ übersieht dieses Faktum und steht damit der transdisziplinären Integration von Theorien über Menschen und ihr Sozialverhalten genauso im Weg wie überzogener Emergentismus. „Guter Reduktionismus“ akzeptiert die Existenz schwacher Emergenz, ohne die Forderung nach durchgängiger Mikrofundierung aufzugeben. Er billigt jeder Disziplin eine Legitimation für das Erforschen ihrer Gegenstände aus ihren eigenen Perspektiven zu, ohne das Ziel einer – auch und gerade im Bereich der Humanwissenschaften – so wichtigen interdisziplinären Theorieintegration aus den Augen zu verlieren.

2.5 Evolutionäre Anthropologie: Einführung und theoretische Grundlagen Dass Soziales mit der Natur des Menschen in Beziehung steht, gehört zum allgemein anerkannten Betriebswissen der Politikwissenschaft.102 Dass gerade die evolutionäre Perspektive besonders geeignet ist, um anthropologischen Fragen nachzugehen, ist hingegen eine weit weniger akzeptierte Ansicht. Sie soll deshalb im Folgenden sorgsam begründet werden. Warum, so die Leitfrage, soll ausgerechnet die Evolutionstheorie die am besten geeigneten Wissensbestände und Erklärungsmuster für eine anthropologische Fundierung sozialwissenschaftlicher Theorien bereitstellen ? Im Grunde ist diese Frage schnell beantwortet: Der Mensch ist ein Produkt der Evolution. Dieser Aussage wird unter Wissenschaftlern kaum jemand widerspre102 Vgl. S. 35 ff.

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chen. Sie impliziert aber, dass das menschliche Gehirn ebenfalls ein Produkt der Evolution ist – und damit jenes Organ, welches die Bewegung des menschlichen Körpers koordiniert, also auch Sprechen und soziales Handeln. Das menschliche Sozialverhalten ist also ein Ergebnis von seit Jahrmilliarden andauernden naturhistorischen Prozessen, und deshalb muss dieses Handeln vor dem Hintergrund dieser evolutionären Geschichte untersucht werden. Bevor die Nützlichkeit dieses Forschungsansatzes anhand der Sozialkapitaltheorie konkret nachgewiesen wird, soll er zunächst systematisch hergeleitet, erklärt und plausibilisiert werden.

2.5.1 Evolutionstheorie: Annäherung an eine anthropologische Geschichtstheorie Zwar sind die Mechanismen der Evolution hinlänglich bekannt, doch gibt es immer wieder Missverständnisse über den Nutzen der Evolutionstheorie für die Sozialwissenschaften. Deshalb ist es für das hier verfolgte Projekt unabdingbar, auch die Grundlagen noch einmal darzulegen. Dabei soll es zunächst nicht nur um die Evolution der Spezies Homo sapiens gehen, sondern um den universellen Algorithmus der Evolution, dann um die genaue Mechanik der biologischen Evolution und schließlich um die Einbettung dieser Wissensbestände in ein komplexes Verständnis der Interaktion von Genen und Umwelt. So wird deutlich werden, dass die Evolutionstheorie nichts anderes als eine anthropologische Geschichtstheorie ist, die das Sein der menschlichen Natur aus ihrem Gewordensein heraus erklären kann. Der Algorithmus: Variation, Selektion und Reproduktion Der Algorithmus der Evolution in der Natur wurde erstmals von Charles Darwin (1859) beschrieben.103 Er besteht aus drei Prozessmodulen: Reproduktion, Variation, Selektion.104 Wenn sich Organismen reproduzieren, entsteht manchmal 103 Tatsächlich war die Ideengeschichte der Evolutionstheorie komplexer. So veröffentlichte zeitgleich mit Darwin der Naturforscher Alfred Russel Wallace eine eigene Version der Evolutionstheorie. Auch waren wesentliche Argumente und Begriffe schon vorher entwickelt worden. Diese Theoriegeschichte ist hier aber unerheblich – und außerdem bereits bestens dokumentiert (Grasshoff 2014; Junker und Hoßfeld 2009; Riedl 2003; Wuketits 2001). 104 Inhaltlich identische Erläuterungen des Evolutionsprozesses lassen sich an vielen Stellen finden. Diese Ausführungen folgen dem inzwischen klassischen Text von Mayr (2005: 99 ff.), ferner Voland (2013: 2 f.) und Schurz (2011: 131 ff.), speisen sich also aus den Perspektiven eines Biologen, eines Soziobiologen und eines Philosophen.

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Variation von physiologischen Merkmalen, die wiederum weiter vererbt werden kann. Eine Variation kann in der jeweiligen Umwelt des Organismus, seiner Nische, für ihn günstig oder ungünstig sein. Sie mag etwa dabei helfen, sich vor Fressfeinden zu schützen, Ressourcen aus der Umwelt zu beziehen, sich zu reproduzieren – oder eben keinen positiven bzw. gar einen negativen Effekt zeitigen. Variation kann also Einfluss auf den Überlebens- und Reproduktionserfolg haben. Einige Variationen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit in die nächste Generation weitergegeben als andere. Der Grund für diese Selektion liegt in der Endlichkeit von überlebensnotwendigen Ressourcen wie etwa Nahrung und Brutstätten, aber auch von sozialer Unterstützung und Fortpflanzungspartnern. Diese Knappheit mündet notwendigerweise in Konkurrenzsituationen, in denen manche Individuen aufgrund ihrer Merkmale bevorteilt sind und sich deshalb erfolgreicher fortpflanzen als andere. Die Selektion bewirkt also differentiellen Reproduktionserfolg und führt so dazu, dass sich bestimmte Merkmale in einer Population ausbreiten und andere nicht. Im Ergebnis verengt sich die Varianz der Merkmale innerhalb dieser Population über Generationen hinweg hin zu einem (vorläufigen) lokalen Optimum der Passung zu den Eigenschaften des (seinerseits dynamischen) Lebensraums. Es ereignet sich Adaptation, also evolutionäre Anpassung an Umweltbedingungen. Merkmale setzen sich durch, weil sie erfolgreich sind.105 Der Erfolg dieser Merkmale bemisst sich daran, wie gut es deren Trägern mit ihrer Hilfe gelingt, adaptive Probleme zu lösen. Damit sind jene Herausforderungen gemeint, die sich Organismen in ihrer Umwelt im Zusammenhang mit ihrem Überleben, der Fortpflanzung und der Konkurrenz um knappe Ressourcen stellen. Organismen müssen ihre Homöostase gewährleisten – das Fortbestehen der überlebensnotwendigen Funktionskreisläufe innerhalb des Organismus, aber auch im Austausch mit der Umwelt. Jene Organismen, die gut an ihre Umwelt angepasst sind, schaffen es, mehr oder überlebensfähigere Nachkommen zu produzieren als andere – und das bewirkt in der beschriebenen Weise evolutionäre Anpassung. Die ganz konkrete Angepasstheit von Organismen an adaptive Probleme zeigt sich dann in ihren genetischen Bauplänen, ihrer Physiologie, ihren Lebenszyklen und deren konkreten Abläufen sowie in ihren Antriebsstrukturen (Voland 2013: 3).106 Aussagen zu „Nützlichkeit“, „Erfolg“, „Angepasstheit“ und der „Lösung von Problemen“ – also: zum adaptiven Wert bestimmter Merkmale – beziehen sich

105 Wie sich zeigen wird, ist dies nicht etwa eine Tautologie, sondern die rekursive und funktionale Erklärung dafür, wie Wandel und Gerichtetheit in (natur-)geschichtliche Prozesse kommen. Diese Gerichtetheit folgt aber keinem Telos, sondern ist teleonom: Die „Richtung“ evolutionärer Entwicklung verstetigt sich nur wegen des autokatalytisch-rekursiven Charakters des Evolutionsprozesses. Siehe dazu Mayr (1979) und S. 85 ff. 106 Nicht jedes Merkmal ist allerdings eine Adaptation. Siehe hierzu S. 111 ff.

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im Kontext der Evolutionstheorie stets nur auf die Logik von Variation, Selektion und Reproduktion. Der zugrundeliegende biologische Wertmaßstab leitet sich aus dem Imperativ des Überlebens ab: Nur jener Organismus, der erfolgreich adaptive Probleme löst, kommt im Spiel der Evolution eine Runde weiter. Die Währung der Evolution ist der differentielle Reproduktionserfolg, also die relativ zu anderen Individuen unterschiedliche Menge und/oder Qualität von produzierten Kopien der eigenen Gene, nämlich: Nachkommen. Dieser Kennwert für evolutionären Erfolg heißt Fitness. Evolutionär-anthropologische Mikrofundierung besteht nun nicht darin, diesen Wertmaßstab in sozialwissenschaftliche Theorien hineinzutragen. Sie besteht darin anzuerkennen, dass die simple und unhintergehbare Logik der Evolution zu jedem Zeitpunkt die Genese des Menschen geprägt hat – von der Entstehung erster reproduktionsfähiger Moleküle über Ein- und Mehrzeller bis hin zu Wirbeltieren, Säugetieren, Primaten und schließlich Homo sapiens.107 Die Mechanik: Genetischer Egoismus und das Problem des Altruismus Darwin formulierte seine Theorie ohne Wissen über die genauen kausalen Mechanismen, also darüber, wie sich Evolution konkret vollzieht. Die Entdeckung erst der Vererbungsgesetze durch Gregor Mendel und dann der DNA durch die moderne Genetik erlaubte es, auch den genauen Mechanismus der Weitergabe von Merkmalen zu verstehen (Dobzhansky 1937; Huxley 1942; Mayr 1942). Indem Darwins Theorie so mit der Populationsgenetik verbunden wurde, entstand jene synthetische Evolutionstheorie, die das seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Paradigma in der Evolutionsbiologie darstellt und auch unter den Namen „Neodarwinismus“ und „moderne Synthese“ firmiert.108

107 Die Welt aus der Perspektive der biologischen Evolutionstheorie zu sehen, hat aber noch weit darüber hinausgehenden Nutzen auch für die Sozialwissenschaften. Der evolutionäre Algorithmus aus Reproduktion, Variation und Selektion stellt ein universelles Prinzip dar und ist zum Kern einer allgemeinen Evolutionstheorie geworden (Riedl 1990), die genutzt werden kann, um den pfadabhängig gerichteten Wandel aller sich dynamisch entwickelnden und reproduzierenden Systeme nicht nur zu erfassen, sondern auch zu erklären (vgl. Oehler 2010). Das gilt unter anderem für Gegenstandsbereiche wie Institutionen und andere kulturelle Muster (Blackmore 2005; Mesoudi 2011; Patzelt 2007a; Richerson und Boyd 2005; vgl. Schurz 2011). Prozesse kultureller Evolution stehen zwar nicht im Fokus dieser Studie. Es wird an den geeigneten Stellen aber immer wieder darauf hingewiesen, wie die Evolutionstheorie für die Erklärung kulturellen Wandels nützlich werden kann. 108 Detailinformationen sind in einschlägiger Grundlagenliteratur zu finden (Dawkins 1976b; Kutschera 2015; Lange 2012; Storch et al. 2013; siehe auch Workman und Reader 2010).

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Gene enthalten die Informationen zum Aufbau eines Organismus und sind die Vererbungseinheiten, über die biologische Merkmale weitergegeben werden. Ihre Gesamtheit innerhalb eines Individuums heißt Genotyp. Der auf Basis der darin enthaltenen Informationen aufgebaute Organismus heißt Phänotyp. Während der Phänotyp mit der Umwelt interagiert, sind Gene – im Wesentlichen Bauanleitungen zur Proteinherstellung – nicht „lernfähig“: Es gibt keinen direkten informationellen Rückfluss von den Proteinen zum Erbgut. Dieses „zentrale Dogma der Molekulargenetik“ (Crick 1970) bedeutet, dass sich nicht Phänotypen, sondern Genotypen an ihre Umwelt anpassen.109 Zwar greift die Selektion, also die „Bewährungsprobe“ in der Realität, stets am Phänotyp an. Phänotypische Variation entsteht aber durch die Rekombination genetischen Materials bei der zweigeschlechtlichen Reproduktion oder durch „Kopierfehler“ bei der Zellteilung. Und evolutionärer Wandel ereignet sich dann durch die Verschiebung von Genfrequenzen in der Population, also durch die Veränderung der relativen Häufigkeit einer individuellen Gensequenz über alle Individuen hinweg. Ein bestimmtes Gen kann sich nur in der Population durchsetzen, wenn das von ihm bewirkte Merkmal seiner eigenen Verbreitung nicht schadet, dem auf Basis dieser Erbinformationen aufgebauten Phänotyp also keine Nachteile entstehen.110 Diese Einsicht brachte Richard Dawkins (1976b) auf die allzu oft missverstandene Formel vom „egoistischen Gen“. Es ist nicht gemeint, dass Gene irgendeinen Eigensinn hätten, den sie aktiv verfolgten. Evolutionärer Wandel findet nur niemals zum Wohle der Art statt, nicht einmal zum Wohle des Individuums. Entscheidend für den Erfolg von Genen ist allein, wie fit ein Phänotyp ist, wie viele ihrerseits reproduktive Träger von Kopien der eigenen Gene er also produzieren kann. Nicht, weil das in irgendjemandes Interesse läge oder in irgendeiner Weise zu begrüßen wäre, sondern nur, weil der Algorithmus der Evolution eben so arbeitet. Für den Fortgang der Argumentation ist das sich hier auftuende Problem des Altruismus zentral: Schon Darwin hatte auf die Schwierigkeit hingewiesen, die Evolution von selbstlosem Verhalten zu erklären.111 Schließlich haben solche Gene, die ihre Träger dazu bringen, sich selbst beim Lösen adaptiver Probleme zu benachteiligen, keine Chance auf evolutionären Erfolg. Und Altruismus ist ja gerade das Bevorteilen Anderer unter Inkaufnahme eigener Nachteile. Die Evolu­ 109 Siehe aber den nächsten Abschnitt, ferner S. 102 sowie S. 311 ff. 110 Zur Verdeutlichung: Gene, die bewirken, dass ein Organismus adaptive Probleme (Nahrungs- und Partnersuche, Flucht, Tarnung, Brutpflege usw.) nicht besser als andere löst, benachteiligen diesen Organismus gegenüber anderen. Deswegen wird dieser Organismus wahrscheinlich weniger Kopien seiner Gene in die nächste Generation bringen können. Die relative Häufigkeit des nachteiligen Merkmals in der Population nimmt ab. 111 Siehe hierzu S. 216 ff.

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tionswissenschaften haben inzwischen einige Lösungen für dieses Problem gefunden. Sie werden im Zentrum der evolutionär-anthropologischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie stehen, liegt in ihnen doch der Schlüssel für das Verständnis von deren Kernkategorie: Kooperation. Diese Lösungen für das Problem des Altruismus zielen darauf ab, dass altru­ istisches Verhalten eines Phänotyps durchaus in genetischer Hinsicht egoistisch sein kann – wie etwa im Fall der Verwandtenbevorteilung, die ja der Verbreitung der eigenen Gene nützt. In evolutionärer Perspektive ist die Unterscheidung von Altruismus und Egoismus also zu ungenau. Deshalb ist es präziser, für das gemeinte Verhalten den Begriff der Prosozialität zu benutzen. Er meint nur die handelnde Hinwendung zu anderen Individuen und zur Gemeinschaft, impliziert aber nicht uneigennützige Selbstaufopferung (Wilson et al. 2009: 192). Die Erweiterung: Interaktionen von Genen und Umwelt Die Gen-Zentrierung des Neodarwinismus stand schon früh in der Kritik (Gould 1977, 1981; Gould und Lewontin 1979; Lewontin 1970, 1980). Auch in den letzten Jahren wurde immer wieder angemerkt, dass die Fokussierung einesteils auf Gene sowie andernteils auf Variation, Selektion und Adaptation wichtige Aspekte rekursiver Gen-Umwelt-Interaktionen außer Acht ließe. Der Neodarwinismus könne diese gar nicht erfassen, weil er auf der Annahme linearer und unidirektionaler Kausalzusammenhängen basiere (vgl. Lange 2012; Pigliucci und Müller 2010).112 Inzwischen hat insbesondere die Disziplin der evolutionären Entwicklungsbiologie (‚evolutionary developmental biology‘, kurz: ‚EvoDevo‘) vielerlei Befunde zusammengetragen und theoretisch fassbar gemacht, die zeigen, dass – anders als von strikt neodarwinisch argumentierenden Autoren behauptet – Mutation und Selektion nicht die einzigen treibenden Kräfte in der Evolution sind (Carroll 2008; Lange 2012; Riedl 2006). Die Befassung mit der Entstehung biologischer Formen (‚Morphologie‘) hat vor Augen geführt, dass sich die konkrete Gestalt von biologischen Organismen nur als eine Resultante der Interaktion von genetischen Informationen und Umweltfaktoren verstehen lässt. Informationen können überdies auch oberhalb der Ebene von Genen (‚epigenetisch‘) an die nächste Generation weitergegeben werden (Jablonka und Lamb 2005), etwa über die Blutbahn im Mutterleib oder durch symbolische Repräsentationen. Organismen werden zudem nicht nur von Nischen beeinflusst, sondern verändern diese auch aktiv (Day et al. 2003; Laland et al. 2008) und können gar selbst Nischen konstruieren, 112 Allerdings hatte die teils massive Kritik am Neodarwinismus stets auch eine politisch-ideologische Dimension (Dusek 1999; Prindle 2006; Segerstråle 2000).

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die – wie die menschliche Kultur – zu Zwischenwelten werden, welche ihrerseits evolutionäre Selektionsdrücke abpuffern, verändern oder erzeugen (Eibl 2009). Auch solche Prozesse beeinflussen die Richtung von evolutionärem Wandel und werden auf diese Weise selbst zu Evolutionsfaktoren.113 Allerdings bringen diese Einsichten die Evolutionstheorie nicht grundsätzlich in Bedrängnis, sondern bereichern und ergänzen sie. Denn all das Geschilderte entzieht sich nicht dem Primat der evolutionären Logik: Selbstorganisation, Nischenkonstruktion, Epigenetik und andere von EvoDevo beschriebene Phänomene basieren auf genetischen Grundlagen. Und deshalb bleibt das Prinzip des genetischen Egoismus von diesen Erweiterungen der Evolutionstheorie unberührt. Es verliert lediglich der stark reduktionistische Ansatz des Neodarwinismus zugunsten eines stärker pluralistischen evolutionstheoretischen Forschungsprogramms an Bedeutung (Lange 2012: 301 ff.). Auch diese aktuellen Entwicklungen in der Biologie laufen also nicht auf eine grundsätzliche Revision oder gar ein Verwerfen des Darwinismus hinaus, sondern auf eine erweiterte Synthese (Lange 2012; Pigliucci 2007, 2009; Pigliucci und Müller 2010), die vollkommen in Einklang mit den Annahmen der Evolutionstheorie bleibt (vgl. Lange 2012: 335 ff.). Auch wenn die Kontroverse über die Vorteile einer erweiterten Synthese der Evolutionstheorie andauert, hat sich mit der Forschung zu Epigenetik, Morphologie und Komplexität das Bild der Evolution gewandelt. Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt sind längst in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt (Laland 2009; Wilson 2009; Wilson und Wilson 2007b; vgl. auch Voland 2013). Ohnehin ist es ein Kernanliegen der evolutionären Humanwissenschaften, die Regelhaftigkeit der Interaktion der überaus verhaltensflexiblen Spezies Mensch mit ihren dynamischen Umwelten zu verstehen und zu erklären (Buss 2012: 47 ff.; Voland 2013: 12 ff.). Festzuhalten bleibt deshalb Folgendes: Evolutionstheorie – schon in Gestalt des Neodarwinismus, erst recht aber als „erweiterte Synthese“ – leugnet nicht den Einfluss von Umwelt und Kultur auf Verhalten. Mit ihrer Hilfe ist es vielmehr möglich, die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt, also auch zwischen Genen und Kultur, nicht als das Aufeinandertreffen zweier ontologisch distinkter Sphären zu begreifen, sondern als komplexes System aus Rekursionsschleifen zwischen verschiedenen Organisationsebenen des Lebendigen (Riedl 1990).114 113 In Kapitel 4.5. wird im Zuge der evolutionstheoretischen Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie an vielen Beispielen konkret deutlich, was inhaltlich hinter dem hier knapp Vorgestellten steht. 114 Dieses Forschungsprogramm entspricht genau jenem komplexitätstheoretisch informierten „guten Reduktionismus“, der die wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlage dieser Studie darstellt (vgl. S. 72 ff.).

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Die Einsicht: Anpassung und Gerichtetheit ohne Ziel Evolution ist nicht einfach ein Kampf um das Überleben, kein reiner Wettbewerb um das „survival of the fittest“.115 Evolution ist vielmehr jener Prozess, welcher trotz der Unhintergehbarkeit des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik – also des Strebens des Universums zur Unordnung – die Ordnung des Lebendigen in die Welt bringt (vgl. Riedl 1990: 28 f.): Erfolgreiches setzt sich durch und bildet den Ausgangspunkt für weitere Experimente. So schlicht dieser Grundgedanke der Evolutionstheorie ist, so enorm ist seine Reichweite. Dieser Prozess ereignet sich auf Basis eines ziel- und geistlosen rekursiven Algorithmus, in dem die evolutionäre Geschichtlichkeit des Status quo stets den Möglichkeitsraum weiterer Entwicklung vorgibt (Dennett 1997). Denn nicht jede Variation hat die gleiche Chance, in einem funktionierenden und angepassten Organismus zu münden. Vielmehr müssen Veränderungen zu den schon vorhandenen Strukturen und den Umweltanforderungen passen, müssen also inneren und äußeren Funktionsanforderungen genügen. Evolutionäre Entwicklung verstetigt sich dergestalt autokatalytisch selbst. Der Prozess scheint auf ein Ziel hinzustreben; seine „Richtung“ resultiert aber nur aus den Zweckmäßigkeiten, die sich der eigenen Historizität verdanken. Diese ziellose (also gerade nicht teleologische) pfadabhängige Gerichtetheit bezeichnet der Begriff der Teleonomie (Pittendrigh 1958; vgl. Mayr 1979, 1998). Evolution bringt Angepasstheit hervor, ohne dass der zugrundeliegende Algorithmus irgendwie sinnhaft darauf ausgelegt wäre oder die Organismen selbst aktiv und intentional auf lokale und vorläufige Anpassungsoptima hinstreben würden. Vorläufig und lokal sind diese Optima deshalb, weil sich Organismen in dynamischen Umwelten bewegen. Art und Grad der Selektionsdrücke bleiben über Raum und Zeit hinweg nicht konstant. Veränderungen in der Umwelt bewirken evolutive Richtungswechsel, deren Freiheitsgrade aber von den Kontinuitätsanforderungen bereits evolvierter Strukturen abhängen. So ist etwa die Skelettstruktur bei Wirbeltieren so stark funktional bebürdet, dass genetische Variationen, die den Skelettaufbau betreffen, schon deshalb keinen positiven Effekt gegenüber externen Selektionsbedingungen zeitigen können, weil der von solchen Änderungen in den genetischen Bauplänen betroffene Organismus schlicht nicht richtig funktioniert (Riedl 1990).116

115 Der Ausdruck stammt nicht von Darwin, sondern von Herbert Spencer (1864/2011: 444). Siehe dazu S. 104 ff. 116 Siehe zu den anthropologisch besonders relevanten Aspekten von alldem sowie zum hier einschlägigen Konzept der „Fitnesslandschaften“ ausführlicher und mit Beispielen S. 107 ff.

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So kontraintuitiv es auch ist: Alles Leben – auch das menschliche – verdankt sich dem Werk eines „blinden Uhrmachers“ (Dawkins 1996), einem formalen Prozess des Lösens von Anpassungsproblemen über eine lange Generationenfolge von nicht-intentionalem Versuch und Irrtum. Es gibt derzeit keine ernstzunehmende explanatorische Alternative zu dieser Theorie der Entstehung und des Wandels biologischer Formen und Funktionsweisen.

2.5.2 Evolutionäre Humanwissenschaften: Neue Perspektiven auf die Conditio humana Die menschliche Natur ist ein Produkt der Evolution. Alle Aspekte des Menschseins – von der Physiologie über Wahrnehmung und Empfindungen bis hin zur Informationsverarbeitung – können deshalb zum Gegenstand von evolutionstheoretischen Erklärungsversuchen gemacht werden. Das betrifft auch das Sozialverhalten in allen Facetten. Dieser naturalistischen und evolutionären Perspektive auf die Conditio humana haben sich in den letzten Jahrzehnten empirische Wissenschaften mit wachsendem Erfolg bedient.117 Evolutionäre Humanwissenschaften wie Ethologie, Verhaltensökologie, Soziobiologie und Evolutionspsychologie bieten eine Fülle von analytischen Werkzeugen, um menschliches Verhalten in evolutionärer Perspektive verständlich zu machen. Mit ihrer Hilfe kann es gelingen, jene Regelhaftigkeit menschlicher Verhaltensflexibilität nun auch zu erklären, die Sozialwissenschaftler dem Grunde nach längst erkannt haben und von der sie in ihren Verhaltensmodellen – auf die eine oder andere Art – ohnehin ausgehen. Der nackte Affe: Vier Warum-Fragen, proximate und ultimate Ursachen Den Menschen nicht dem Tierreich gegenüberzustellen, sondern ihn im Rahmen vergleichender Verhaltensforschung als ein Tier unter vielen anzusehen, machte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Ethologie zur Aufgabe (Eibl-Eibesfeldt 1984/2004, 1967/2004; Lorenz 1943, 1954, 1973; Tinbergen 1963). Sie sah den Men-

117 Natürlich hat diese Forschungsstrategie eine viel längere Geschichte, doch sind historische Reflexionen hier wenig ergiebig und an anderer Stelle schon erschöpfend zusammengetragen (Buss 2012; Hampton 2010; Riedl 2003; Workman und Reader 2010). Deshalb wird sich im Folgenden auf die unmittelbar für die Beantwortung der Forschungsfrage relevanten Entwicklungen konzentriert.

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schen erstmals in seiner Eigenschaft als „nackten Affen“ (Morris 1​967).118 Zwar gelten die Wissensbestände der klassischen Ethologie (auch: Verhaltensbiologie), welche ihren Weg in den psychologischen Behaviorismus und von da aus auch in die Sozialwissenschaften fanden,119 inzwischen als überholt. Doch über Menschen als biologische Spezies nachzudenken, die zumindest teilweise evolviertes Instinktverhalten zeigt und mit angeborenen Reaktionsmechanismen auf Schlüsselreize aus der Umwelt reagiert, ist auch das grundlegende Prinzip von modernen evolutionären Humanwissenschaften wie der Soziobiologie und der Evolutionären Psychologie (Hampton 2010: 21 f.; Buss 2012: 10 ff.). Der Ethologe Nikolaas Tinbergen steckte die analytische Landkarte der evolutionär-anthropologisch orientierten Wissenschaften nachhaltig ab, indem er vier Warum-Fragen aufwarf, die zu stellen sind, wenn Verhalten wirklich umfassend verstanden werden soll (Tinbergen 1963): 1) Was ist die unmittelbare Ursache für das Verhalten ? Was geht ihm voraus bzw. welche Stimuli lösen es aus ? 2) Wie bildet sich das Verhalten in der Entwicklung eines Individuums (‚Ontogenese‘) heraus ? Welche zeitlichen Abfolgen und Umwelteinflüsse sind dabei wichtig ? 3) Worin liegt die Funktion eines bestimmten Verhaltens ? In welcher Weise trägt es zur Lösung von Problemen bei, die sich bei Reproduktion und Überleben stellen ? 4) Wie kam es zur evolutionären Entwicklung (‚Phylogenese‘) des Verhaltens ? Warum wurde es selektiert; wie konnte es in der Spezies evolvieren ? Unschwer ist die inhaltliche Verbindung zur aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre zu erkennen – und damit die auch für Sozialwissenschaftler einleuchtende Einsicht, dass es zu kurz greift, die Erklärung für Verhalten und soziales Handeln ausschließlich auf der Ebene kultureller und situativer Faktoren zu suchen.120 Viel118 Homo sapiens hat nicht nur gemeinsame Vorfahren mit anderen Primaten, sondern ist selbst ein Primat und wird von einigen Zoologen sogar als eine Unterart des Schimpansen angesehen (Diamond 2006b). Die Trennung der Abstammungslinien von heutigen Schimpansen und Menschen erfolgte vor etwa 6 bis 8 Millionen Jahren (Harrison 2010; Langergraber et al. 2012; Lovejoy et al. 2009; Wilkinson et al. 2011). 119 Zur Rolle des Behaviorismus in der Sozialkapitaltheorie siehe S. 189 ff. 120 Tinbergens Perspektive ist jedoch – anders als die von Aristoteles – dezidiert evolutiv und teleonomisch. Trotzdem gibt es große Schnittmengen, deutlich sichtbar bei der Nähe von ‚Ursache‘ zur causa efficientis und von ‚Funktion‘ zur causa finalis. Auch ‚Phylogenese‘ und causa formalis verweisen auf den gleichen Sachverhalt in der Wirklichkeit; nur ist Aristoteles’ Weltbild statisch, während Tinbergen die Dynamik der Evolution berücksichtigt. Gleiches gilt für ‚Ontogenese‘ und causa materialis. Siehe dazu ausführlich Hladký und Havlíček (2013).

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mehr müssen dahinterliegende Ursachen in die Analyse einbezogen werden. Zwei Faktorenbündel sind dabei analytisch voneinander zu trennen, nämlich jene der ultimaten und der proximaten Ursachen (Tinbergen 1951, 1963; vgl. auch Voland 2013: 10 f.). Die ersten beiden von Tinbergens Fragen zielen auf proximate Ursachen, also auf jene unmittelbaren kausalen Wirkursachen, die ein bestimmtes Verhalten auslösen. So lassen sich etwa der Vogelzug, das Quaken von Fröschen im Frühjahr, menschliche Sinneswahrnehmungen und das Fällen moralischer Urteile bei Menschen proximat erklären. Vögel verspüren als Reaktion auf Umweltfaktoren eine hormonell bedingte Zugunruhe, die sie dazu bringt, sich auf den Weg zu machen. Männliche Frösche bringen Veränderungen in der Umwelt und ein erhöhter Hormonspiegel dazu, Paarungsrufe auszustoßen. Menschliche Wahrnehmungen entstehen durch die Reaktion der Sinnesorgane auf Stimuli in der Umwelt und deren neuronale Verarbeitung. Moralische Urteile werden aufgrund von Informationen über die Situation, Überlegungen über den Kontext und moralischen Intuitionen gefällt. Und all diese Reaktionsmuster sind erst ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Ontogenese voll entwickelt. Die dritte und vierte Frage nehmen die ultimaten Ursachen eines Verhaltens in den Blick, also jene funktionellen Zweckursachen, die sich aus dem adaptiven Wert und dem daraus hervorgehenden Selektionsvorteil eines Verhaltens ergeben. Das Quaken des Frosches entpuppt sich dann als evolviertes Werben um Fortpflanzungspartnerinnen. Das Zugverhalten der Vögel lässt sich als evolutionäre Anpassung an schwankende Klimabedingungen und Ressourcenverfügbarkeiten verstehen. Was die ultimaten Ursachen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit angeht, so wurde hier schon vor Augen geführt, dass unsere „Weltbildapparate“ entlang von funktionalen Anforderungen evolvierten.121 Und wie sich zeigen wird, sind auch in Bezug auf tiefsitzende moralische Intuitionen und Urteile Fragen danach sinnvoll und notwendig, worin der adaptive Wert und die evolutionäre Geschichte solcher „Bauchgefühle“ liegen.122 Oft wird das im Grunde schon von der klassischen Ethologie abgesteckte Projekt evolutionärer Erklärungsansätze menschlichen Verhaltens dahingehend missverstanden, dass proximate Erklärungen zugunsten von ultimaten zurückgedrängt und vernachlässigt werden. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr geht es darum, Theorien zu formulieren, die proximate Faktoren (Umweltbedingungen, Kultur, Sozialisation) und ultimate Ursachen (adaptive Funktion und Evolutionsgeschichte) zu stimmigen Erklärungen verbinden (Voland 2013: 11).

121 Vgl. dazu S. 62 ff. 122 Zu moralischen Intuitionen siehe S. 282 ff.

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Der evolvierte Mensch: Produkt vergangener Selektionsumwelten Mit den Publikationen „Sociobiology: The New Synthesis“ (Wilson 1975) und „The Selfish Gene“ (Dawkins 1976b) wurde der Grundstein für die Disziplin der Soziobiologie gelegt, die sich als Wissenschaft von der biologischen Angepasstheit des tierlichen und menschlichen Sozialverhaltens versteht (Voland 2013: 2; vgl. Alcock 2003; Wuketits 2013). Deren zentrale Annahme leitet sich aus der „ganz normalen“ Evolutionsbiologie ab. Wenn Sozialverhalten den Reproduktionserfolg von Individuen in einer vorhersagbaren Weise beeinflusst und wenn darüber hinaus bestimmte Verhaltensweisen von Genen beeinflusst werden, dann hat die natürliche Selektion auch menschliches Sozialverhalten zumindest zu einem gewissen Grade geformt. Diese These stieß auf massive Kritik von Fachkollegen (Gould 1981; Gould und Lewontin 1979; Lewontin 1980; Sahlins 1977) und aus dem politisch linken Lager – dem sich freilich auch die kritischen Biologen zurechneten (vgl. Losco 2011: 80; Workman und Reader 2010: 18 ff.).123 Ungeachtet dessen hat die Soziobiologie viele grundlegende Perspektiven auf menschliches Sozialverhalten zutage gefördert und dauerhaft etabliert, die hier an vielen Stellen eine zentrale Rolle spielen werden (Voland 2013; Alcock 2003). Die Evolutionspsychologie (auch: Evolutionäre Psychologie) hat das Erbe der Soziobiologie angetreten und sich zu einer ausdifferenzierten Disziplin entwickelt (Barkow et al. 1992; Buss 2005, 2012; Dunbar und Barrett 2009; Swami 2011). Sie konzentriert sich stärker als die Soziobiologie auf die Rolle des Gehirns für menschliches Sozialverhalten, weshalb ihr der Anschluss an die etablierte Psychologie etwas besser gelungen ist (Workman und Reader 2010: 20 f.).124 Die Begriffe, Theorien und Forschungsansätze beider Disziplinen weisen große Schnittmengen auf (Voland 2013: 15). Auch hier werden sie deshalb nicht strikt getrennt, sondern in ihrer Gemeinsamkeit als Forschungszweige behandelt, die sich – mit wachsendem Erfolg – um evolutionär fundierte Wissensbestände zur Natur des Menschen bemühen. In der Evolutionspsychologie werden die Einsichten der Evolutionstheorie konsequent auf die menschliche Psyche und ihre Rolle für das Sozialverhalten an123 Obwohl Wilsons Buch nur ein Kapitel über Menschen enthielt, wurde er Ziel nicht nur kritischer Rezeption, sondern auch wüster Beschimpfungen und einer Attacke mit kaltem Wasser. Wilson äußert in einem Interview nicht ohne Stolz, er sei der einzige Wissenschaftler der Moderne, der für eine Idee tätlich angegriffen wurde (vgl. Dugan 2008). Die ideologische Kontroverse um die Soziobiologie zeichnet Segerstråle (2000) unter dem vielsagenden Titel „Defenders of the Truth“ nach. Siehe auch Hunt (1999). 124 Zur Geschichte naturalistischen und kulturalistischen Denkens in der Psychologie siehe Buss (2012: 23 ff.).

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gewendet. Sie versteht sich als evolutionäre Wissenschaft vom menschlichen Gehirn und Verhalten – und tut damit im Grunde nicht mehr, als der Beantwortung von Tinbergens vier Fragen zur Erklärung von Verhalten im Bereich der Humanwissenschaften nachzugehen (Buss 2012). Weil das menschliche Gehirn genau wie der Rest des menschlichen Körpers ein Produkt der Evolution ist, muss es – so die Grundannahme der Evolutionspsychologie – zumindest teilweise als ein Konglomerat funktionaler Anpassungen verstanden werden. Weder kann das Gehirn schließlich „von Anfang an“ so etwas wie eine unspezifische Intelligenz ermöglicht haben, noch wird es ohne spezifische Funktionen gewachsen sein. Das wäre schon deshalb unplausibel, weil ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs des menschlichen Organismus auf das Gehirn entfällt (Clarke und Sokoloff 1998). Ein solches auch im Vergleich zu anderen Primaten enormes somatisches Investment (Dunbar 1998) kann sich ein Organismus nicht „einfach so“ leisten. Es ist demzufolge plausibel anzunehmen, dass das Gehirn kein funktional ganz und gar unspezifiziertes Universalwerkzeug ist, mit dem Menschen in völlig beliebiger Weise mit ihren kulturellen Umgebungen in Verbindung treten. Kultur in ihrer heutigen Form ist ohnehin ein evolutionär sehr junges Phänomen, während das menschliche Gehirn nicht nur eine lange Evolution als Primatenorgan hinter sich hat, sondern sich im Stammbaum des Lebens noch viel weiter zurückverfolgen lässt. Das für grundlegende Prozesse wie Herzschlag, Atmung und Reflexe zuständige Stammhirn (auch: „Reptilienhirn“) ist mit etwa 500 Millionen Jahren phylogenetisch so alt, dass es auf gemeinsame Vorfahren mit Echsen zurückgeht, mit denen wir es in der Grundstruktur bis heute teilen. Darüber schichtete sich vor etwa 200 bis 300 Millionen Jahren das limbische System. Dieses „Säugerhirn“ ist zum Beispiel für Emotionen, Lernen und Gedächtnis zuständig. Erst das 50 Millionen Jahre alte Großhirn, das „Denkhirn“, machte dann jene komplexen kognitiven Leistungen möglich, die uns subjektiv so selbstverständlich erscheinen. Besonders der Neocortex, die Großhirnrinde, wird für die besondere Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns verantwortlich gemacht. Er ist auch im Vergleich zu anderen Primaten beim Menschen deutlich vergrößert, was aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Leben in komplexer werdenden Sozialverbänden in Zusammenhang steht (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007).125

125 Diese knappe Schilderung der Hirnanatomie folgt der einschlägigen Grundlagenliteratur (Nieuwenhuys et al. 2007; Pritzel et al. 2003). Der Hypothese, dass das Gehirn in erster Linie ein soziales Organ ist, wird hier noch an vielen Stellen nachgegangen; siehe etwa S. 282 ff. und S. 343 ff.

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Die gemeinsamen Vorfahren von modernen Menschen und Schimpansen, unseren nächsten Verwandten, lebten vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren in Afrika; aufrecht gehende Primaten tauchen vor vier bis sechs Millionen Jahren auf. Das Auftreten der ersten Exemplare der Gattung Homo und mit ihm der ersten Steinwerkzeuge liegt ca. zwei Millionen Jahre zurück. Die Hominiden – Homo erectus, Homo habilis, Homo ergaster – entwickelten sich in der afrikanischen Savanne und breiteten sich in der Folgezeit über Afrika aus. Das enorme Hirnwachstum setzte vor ca. einer Million Jahren ein und erreicht vor 500 000 bis 100 000 Jahren seinen Höhepunkt. Vor etwa 100 000 Jahren entstanden anatomisch moderne Menschen, die gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Menschen. Danach folgte eine große Zunahme der Verschiedenartigkeit der benutzten Werkzeuge, ferner die Ankunft in Europa vor ca. 40 000 Jahren und schließlich die Sesshaftwerdung vor etwa 10 000 bis 16 000 Jahren.126 Die typisch menschliche Natur entstand also in den letzten 2 Millionen Jahren und basiert auf Grundlagen, die noch viel älter sind. Heutige Charakteristika unserer Spezies sind Ergebnisse von Anpassungsprozessen an die Umwelten dieser vergangenen Zeiten, an das Environment of Evolutionary Adaptedness (EEA) (Bowlby 1969; Tooby und Cosmides 1992b, 1990). Damit sind nicht etwa nur die afrikanischen Savannen des Pleistozäns in der Zeitspanne zwischen den ersten Hominiden und Homo sapiens gemeint (vgl. Hampton 2010: 29 f.). Das EEA bezeichnet vielmehr ein statistisches Mittel aus vergangenen Selektionsumwelten und ist raum-zeitlich nicht eindeutig zu verorten (Buss 2012: 39). So entstand etwa der aufrechte Gang unter anderen Umständen als das große Gehirn. Genauso verhält es sich auch mit kognitiven Anpassungen auf verschiedene adaptive Probleme zu unterschiedlichen Zeiten. Besser ist es deshalb, das EEA für jede Anpassung einzeln zu bestimmen, sich also zu fragen, wann und als Reaktion auf welche adaptiven Probleme es entstand. Auch wenn über jene vergangenen Umwelten, an die moderne Menschen hauptsächlich angepasst sind, längst nicht alles bekannt ist und wohl auch nie bekannt sein wird (Foley 1995; Richardson 2007), so ist das Konzept des EEA doch mindestens eine nützliche Heuristik. Sie liefert plausible Hypothesen dazu, warum psychologische Mechanismen in einer bestimmten Weise ausgestaltet sind. 126 Siehe dazu knapp einführend etwa Buss (2012: 19 ff.) Diamond (2006b: 25 ff.), Hampton (2010: 37 ff.) und Klein (2000), ausführlich Boyd und Silk (2003) sowie Stanford et al. (2009). Zeit und Ort der Trennung der Abstammungslinien von Menschen und Schimpansen sind noch nicht abschließend erforscht; aber auch eine neue Studie, welche die Wiege der Menschheit nicht in Afrika, sondern in Europa vermutet (Fuss et al. 2017), stellt nicht grundsätzlich die Stichhaltigkeit der folgenden Argumentationen zu den Bedingungen der Menschwerdung infrage. So gab es etwa auch in Europa in den fraglichen Zeiträumen ausgedehnte Savannenlandschaften.

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Und jene sind durchaus überprüfbar – etwa anhand von archäologischen Funden und ethnologischen Studien zeitgenössischer Jäger-und-Sammler-Gesellschaften.127 Dennoch wird die Angepasstheit an das EEA in den evolutionären Humanwissenschaften nicht als Dogma behandelt (Laland und Brown 2005, 2011). Inzwischen gilt nämlich als erwiesen, dass sich evolutionäre Anpassung doch wesentlich schneller vollziehen kann, als man das lange angenommen hatte.128 Zentral für die hier verfolgten Zwecke ist ohnehin nur die Einsicht, dass die Natur des Menschen ein (Zwischen-)Ergebnis pfadabhängiger naturhistorischer Entwicklungsprozesse ist. Eine anthropologische Fundierung sozialwissenschaftlicher Theorien zu erarbeiten heißt also, sich mit Tinbergens Fragen nach den ultimaten Ursachen zu befassen. Diese Ursachen sind in der evolutionären Anpassung an adaptive Probleme zu suchen, die sich in der vorzivilisatorischen Vergangenheit stellten. Sie sind heute möglicherweise längst verschwunden – etwa weil die menschliche Fähigkeit zur Umgestaltung der Umwelt und zur Konstruktion kultureller Nischen solche adaptiven Probleme hat obsolet werden lassen. All das gilt nicht nur für die menschliche Physis; es gilt ebenso für die mit jener untrennbar verbundenen Psyche. Der Schlüssel zum Sozialverhalten heutiger Menschen liegt in der Evolutionsgeschichte des menschlichen Organismus und Gehirns. Deren Funktionsweise verdankt sich den Selektionsdrücken vergangener Umwelten. Die Kausalstruktur proximater Verursachungszusammenhänge kann deshalb nur begreifen, wer die ultimaten Entstehungszusammenhänge berücksichtigt. Das evolvierte Gehirn: Psychologische Mechanismen und konditionale Strategien Solche Einsichten sind in das Menschenbild des Homo oeconomicus ebenso wenig eingeflossen wie in das des Homo sociologicus. John Tooby und Leda Cosmides, die Mitbegründer der modernen Evolutionspsychologie, haben nachgerade eine Gründungsakt ihrer Disziplin daraus gemacht, dieses Defizit der Sozialwissenschaften anzuprangern. Zwar meinen sie mit „Sozialwissenschaften“ in erster Linie die (Sozial-)Psychologie und die Sozialanthropologie; jedoch wird die Auseinandersetzung mit der Sozialkapitaltheorie zeigen, dass ihre Kritik den Kern des Problems mangelhafter anthropologischer Mikrofundierung von sozialwissenschaftlichen Theorien trifft.129 127 Siehe dazu S. 118 ff. 128 So ist etwa die Laktosetoleranz offenbar eine Anpassung an die Milchwirtschaft. Siehe dazu S. 341. 129 Siehe dazu S. 206 ff.

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An dem, was sie das „standard social science model“ (SSSM) nennen, kritisieren sie fünf Punkte (Tooby und Cosmides 1992b; Cosmides und Tooby 1997: 24 ff.): Erstens werde das Gehirn als ein unspezifisches Universalwerkzeug zur Informationsverarbeitung begriffen. Zweitens werde davon ausgegangen, dass Menschen als „unbeschriebenes Blatt“ zur Welt kommen und nur von Sozialisation und ihrem kulturellen Umfeld geprägt und beschrieben werden. Drittens gebe es keine objektiven Einschränkungen für die Vielgestaltigkeit menschlicher Kulturen, weil Kultur als autonomer Faktor gedacht wird. Viertens werde Biologie insgesamt als nicht wichtig für die Erklärung menschlichen Verhaltens erachtet. Es werde also gerade nicht in Rechnung gestellt, dass der Mensch – und damit sein Gehirn – ein Produkt der Evolution ist. Tooby und Cosmides bieten eine für die Evolutionäre Psychologie maßgeblich gewordene anthropologische Gegenposition zu diesem SSSM an. Dieses „integrierte kausale Modell“ lässt sich auf folgende Punkte verdichten (Cosmides und Tooby 1997: 22 ff.):130 1) Das Gehirn ist ein physisches System, das wie ein Computer arbeitet. Es erbringt für den Organismus die Funktion, den Umständen angemessenes Verhalten zu produzieren. 2) Das Gehirn wurde (und wird) von der Evolution geformt und ist somit dafür optimiert, Probleme zu lösen, denen Menschen und ihre Vorfahren ausgesetzt waren. 3) Bewusstsein ist nur die Spitze des Eisbergs. Ein großer Teil der Prozesse im Gehirn läuft unterhalb der Ebene des bewusst Wahrnehmbaren ab. Deshalb führt die subjektive Alltagserfahrung in die Irre, das Gehirn funktioniere im Grunde ganz einfach und mühelos. In Wirklichkeit sind die ablaufenden neuronalen Prozesse höchst komplex. 4) Verschiedene neuronale Schaltkreise (die allerdings nicht notwendigerweise auch räumlich separiert im Hirn vorzufinden sein müssen) sind spezialisiert auf die Lösung verschiedener adaptiver Probleme. 5) Diese Problemlösungsmechanismen sind angepasst an die Herausforderungen, mit denen sich unsere Vorfahren während der Stammesgeschichte konfrontiert sahen – also an das EEA. Die Prinzipien 1 und 5 ergeben sich aus den Annahmen der Evolutionstheorie; die Prinzipien 2 und 3 gehören zu den Standardannahmen moderner Psychologie

130 Die Auflistung folgt der Kondensierung bei Workman/Reader (2010: 22), die Übersetzung ist teils wörtlich übernommen aus Meißelbach (2013: 437).

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(Workman und Reader 2010: 22). Sie alle münden in das vierte Prinzip, in dem ein wesentlicher Kern des evolutionspsychologischen Denkens steckt. Dieser Kern liegt in der Annahme der evolutionär bedingten Modularität des Gehirnes.131 Die Nützlichkeit des Gehirns hing stets davon ab, wie angemessen seine Reaktionen auf bestimmten Input waren. Deshalb wurde das Gehirn zu einer „Problemlösungsmaschine“, die für spezifische adaptive Probleme auch spezifische Lösungen bereithält. Damit ist nicht gemeint, dass diese Module wie Organe physisch existierten. Vielmehr geht es um funktionale Module, also neuronale Verschaltungen, die Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und schließlich Verhaltenssteuerung realisieren (Causey und Bjorklund 2011: 35). Auch sind einzelne Module nicht als funktional separiert und voneinander unabhängig zu betrachten. Sie bilden integrierte Ketten; und Meta-Module können wiederum neue Funktionen realisieren, indem sie basale Schaltkreise miteinander verbinden (Buss 2012: 55). Das Gehirn kann folglich als ein ausdifferenziertes Verrechnungssystem verstanden werden, das jeweils spezialisierte Lösungen für adaptive Probleme bereitstellt – sogenannte evolvierte psychologische Mechanismen (EPM) (Buss 2012: 48 ff.). Weil sie auf spezifische Anpassungsprobleme zugeschnitten sind, reagieren diese Mechanismen jeweils nur auf bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit.132 Sie generieren dann auf die Lösung dieses Problems gerichteten Output in Form von physiologischer Aktivität, Informationsweitergabe an andere psychologische Mechanismen oder Verhalten. Das heißt nicht, dass EPM auch jederzeit passende Lösungen produzieren und wirklich Probleme lösen. Sie sind ja gerade nicht an die jeweils aktuelle Situation angepasst, sondern das Ergebnis eines Selektionsprozesses, der eine Anpassung an vergangene Umwelten bewirkte. Menschen und andere Tiere können als eine Ansammlung von Adaptationen in Form von problemspezifischen Lösungsmechanismen begriffen werden. Und Gehirne beinhalten einen großen Teil dieser Mechanismen. Aber wie viele solcher Mechanismen sind plausiblerweise im Gehirn zu vermuten ? Die Anzahl von adaptiven Problemen, die sich im Laufe der menschlichen Evolution gestellt haben, ist riesig: Körperfunktionen müssen reguliert, Feinde gemieden, soziale Konflikte bewältigt, Fortpflanzungspartner gefunden, geworben (und ggf. behalten) werden; Fortbewegung muss gesteuert, Nahrung beschafft, Verwandtschaft umsorgt, Nachwuchs aufgezogen, klimatischen Veränderungen begegnet werden. Und hinter all diesen Problemkomplexen stehen wiederum vielerlei Detailproble131 Diese wurde erstmals systematisch von Fodor (1983) beschrieben. 132 Das beginnt schon mit den Sinneswahrnehmungen, die nur jene Bereiche des akustischen und optischen Wellenspektrums erfahrbar machen, die für unser Überleben relevant waren. Siehe dazu S. 62 ff.

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me, die (fast) alle Tiere in unterschiedlicher Komplexität zu bewältigen haben. Evolutionspsychologen gehen deshalb davon aus, dass Menschen über Hunderte oder gar Tausende dieser EPM verfügen (Buss 2012: 53).133 Welcher Output von EPM generiert wird, hängt von evolvierten Reaktionsnormen bzw. Entscheidungsregeln in Form von impliziten „Wenn-Dann“-Konventionen ab, mit denen unterbewusst auf Stimuli aus der Umwelt reagiert wird (Voland 2013: 11; Buss 2012: 49). Sie legen die Wahrscheinlichkeit für ein spezifisches Verhalten unter bestimmten Bedingungen fest. So mag etwa in Konfliktsituationen die Regel Anwendung finden, dass vor physisch überlegenen Gegnern zu fliehen ist, während unterlegene angegriffen werden. Je nach Umwelteinfluss wird also eine andere Reaktion ausgelöst. Über solche evolvierten Entscheidungsregeln wird es dem Organismus möglich, konditionale Strategien zu verfolgen, also unterschiedliche Verhaltensoptionen in Abhängigkeit von situativen Erfordernissen auszuwählen (Voland 2013: 12). Solche Reaktionsnormen und die auf ihrer Basis arbeitenden EPM sind der Schlüssel zum Verständnis der Interaktion von Genen und Umwelt.134 Sie ermöglichen strategische Flexibilität, die umweltsensitiv und genetisch fixiert ist. Mehr noch: Die Umweltsensitivität des Verhaltens kommt überhaupt erst durch die genetisch bedingte Fähigkeit zur (selektiven) Informationsaufnahme und zur Entscheidung zwischen (verfügbaren) Verhaltensalternativen zustande (Buss 2012: 53 f.): „Kämpfen oder fliehen ?“; „Essen oder meiden ?“; „Egoistisch oder altruistisch sein ?“; „Kooperieren oder defektieren ?“.135 Diese Flexibilität ist limitiert. Denn sowohl Wahrnehmungsfilter als auch Entscheidungsregeln unterliegen nicht beliebigen, sondern angebbaren Verzerrungen, die ihrerseits Ergebnisse der Anpassung an evolutionäre Selektionsdrücke sind. Weil psychologische Mechanismen jeweils entlang ihrer adaptiven Funktion evolviert sind, filtern sie Informationen im Hinblick auf genau diese funktionalen Anforderungen. Handlungsentscheidungen basieren also auf einem „adaptiven

133 Dies mag der Intuition eines integrierten Selbst widersprechen, und es mag sich auch unwahrscheinlich anfühlen, dass die Evolution so etwas hervorbringen könnte. Blickt man aber auf die Komplexität, die überall in der Natur von der Evolution hervorgebracht wurde und schaut man allein auf solche diffizilen Sinnesorgane wie das Auge, wird man schnell erkennen, dass die Evolution wahrlich genug Zeit hatte, um ein erstaunlich komplexes und ausdifferenziertes Organ voller domänenspezifischer Problemlösungsmechanismen hervorzubringen. 134 Dabei geht es in letzter Konsequenz auch um das Verhältnis von „Natur“ und „Kultur“. Zur kritischen Diskussion der Natur-Kultur-Dualisierung siehe S. 101 ff. 135 Gerade die beiden letztgenannten Entscheidungen gehören zu den individualpsychologisch hier wichtigsten. Von ihrer Beantwortung durch ALTER hängt ab, ob EGO über Sozialkapital verfügt.

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Werkzeugkasten“ aus vereinfachenden Heuristiken und nicht auf einer elaborierten Abwägung aller prinzipiell verfügbaren Informationen (Gigerenzer und Gaissmaier 2011; vgl. auch Kahneman 2012; Kahneman und Tversky 1979).136 Das Gehirn eröffnet und begrenzt – im engen Wechselspiel mit dem Rest des Organismus (Damasio 2010) – über evolvierte psychologische Mechanismen einen Möglichkeitsraum für menschliches Handeln. Die theoretische Kontroverse: Diskussionen um Komputationalität und Modularität Die Brauchbarkeit einesteils der Vorstellung, das Gehirn arbeite wie ein Computer, und andernteils der Annahme von Modularität sowie Domänenspezifität psychologischer Mechanismen wird in den Life Sciences kontrovers diskutiert. Diese Debatten nachzuvollziehen, hilft dabei, den theoretischen Gebrauchswert der Evolu­ tionspsychologie besser einordnen zu können. Erstens wurde das Konzept der domänenspezifischen Modularität kritisiert (Barrett et al. 2014; Stulp et al. 2015; siehe aber Sperber 2001). Allerdings spricht wenig dafür, dass das Gehirn überhaupt nicht funktional ausdifferenziert ist (vgl. hierzu Buss 2012: 54). Zwar weist es eine noch nicht restlos verstandene Plastizität auf (Green und Bavelier 2008; Kolb und Whishaw 1998), jedoch ist kaum anzunehmen, dass das Gehirn seine mannigfaltigen Aufgaben ohne jede Spezialisierung und nur auf Basis solcher Plastizität erledigt. Auch ist diese Annahme theoretisch nicht fruchtbar. Ihr explanatorischer Wert unterscheidet sich nicht von jenem der Aussage, das Gehirn erbringe seine funktionalen Anforderungen „mit Magie“ (Pinker 2002: 75). In Opposition zur Lehrmeinung der Evolutionspsychologie wird ferner verschiedentlich die Annahme vertreten, das Gehirn verfüge über einige allgemeine, nicht-domänenspezifische Mechanismen (Chiappe und MacDonald 2005; Geary und Huffman 2002; Premack 2010; Shettleworth 2012). Allerdings widerspricht dies weder der Modularitätshypothese noch der Annahme der evolutionä-

136 Das von Gigerenzer popularisierte Konzept der einfachen Heuristiken meint nichts anderes als konditionale Strategien, realisiert von evolvierten psychologischen Mechanismen. Entscheidend auch in Gigerenzers Konzeption ist, dass die Heuristiken nur in ultimater Perspektive verstanden werden können, weil die Nutzenfunktion hinter diesen Entscheidungsmechanismen sich aus deren adaptivem Wert ergibt. Diese „adaptive Rationalität“ stellt eine theoretische Schnittstelle zwischen dem sozialwissenschaftlichen Konzept der ‚bounded rationality‘ (Simon 1957, 2000, 1955) und den evolutionären Humanwissenschaften dar. Siehe dazu Gigerenzer (2000), Gigerenzer und Selten (2002) sowie S. 484.

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ren Pfadabhängigkeit von Hirnstrukturen. Selbst „generelle Intelligenz“ lässt sich als ein domänenspezifisches Modul auffassen, das zunächst „nur“ die Leistung erbrachte, kurzfristig auftretende und evolutionär neue Probleme zu lösen und sich später „generalisierte“ (Kanazawa 2004).137 Insgesamt bleibt die Annahme der Modularität daher plausibel, denn sie trägt der zentralen evolutionstheoretischen Annahme der Passung zwischen funktionalen Anforderungen und evolvierten Formen Rechnung. Sie ist also mindestens eine robuste wissenschaftliche Heuristik. Es wird sich außerdem zeigen, dass sie hilft, die in vielerlei empirischen Daten aufgefundenen Muster schlüssig zu erklären. Zweitens hat sich eine engagierte Kontroverse um die Annahme entsponnen, das Gehirn sei komputational beschaffen, arbeite also wie ein Computer (Barrett et al. 2014; Fodor 2001, 2005; Klasios 2014; Pinker 2005a, 2005b; Stulp et al. 2015). Auch hier lassen sich vermittelnde Positionen finden. Zunächst einmal ist „Computer“ im weitesten Sinne des Wortes als „Berechner“ zu verstehen. Es wird nicht behauptet, das Hirn funktioniere technisch konkret wie ein digitaler Computer. Vielmehr ist gemeint, dass ein „verrechnendes System“ Informationseinheiten in Mustern aus physischen Elementen repräsentiert (Pinker 2005b: 2). Das aber ist keine Annahme zur konkreten Funktionsweise dieser Vorgänge, sondern nur eine funktionale „Meta-Prämisse“ darüber, dass Gehirne Output generieren, indem sie Input prozessieren (Klasios 2014: 1348). Untersuchungen an der Schnittstelle zwischen Informatik und Hirnforschung zeigen zudem durchaus, dass es plausibel ist, von dem Gehirn auch ganz konkret als einem Verrechnungssystem auszugehen (vgl. Churchland und Sejnowski 1997; Gallistel und King 2011). Hervorzuheben ist, dass sich in der Kritik vor allem grundsätzliche Vorbehalte gegen reduktionistische Forschungsansätze und das in dieser Hinsicht klare Programm der „Santa-Barbara-Schule“ um Tooby und Cosmides artikulieren, nicht jedoch gegen den ultimat funktionalistischen Kern der Evolutionstheorie insge­ samt. Es wird befürchtet, durch die Konzentration auf die individuelle Ebene und die des Gehirns könnten die Effekte von Kultur zu wenig Beachtung finden (Stulp et al. 2015: 419 f.). Allerdings stellt die sich entwickelnde erweiterte Synthese der Evolutionstheorie inzwischen theoretische Mittel zur Verfügung, die solche Konflikte produktiv aufzulösen helfen (Stephen et al. 2014): Epigenetik, Gen-​KulturKoevolution, Multilevelselektionstheorie.138 137 Kanazawa (2004) liefert Hinweise darauf, dass intelligentere Menschen nur beim Lösen von evolutionär neuen Problemen Vorteile haben, während sie keine Vorteile bei solchen Problemen haben, welche über die Stammesgeschichte hinweg relativ stabil blieben, etwa im Hinblick auf Brutpflege und Partnerwahl. 138 Siehe hierzu einführend S. 83 ff. und substantiell das gesamte Kapitel 4.5 ab S. 300.

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Grundlegende Zweifel am Nutzen der Evolutionspsychologie für die Sozialwissenschaften nähren diese theoretischen Kontroversen ohnehin nicht. In keinem der vorgestellten naturwissenschaftlichen Debattenbeiträge wird die Relevanz der evolutionären Perspektive für das Verstehen menschlichen Verhaltens grundsätzlich bestritten. Letztlich handelt es sich bei Fragen zu domänenspezifischer Modularität – sowie dahinterliegend zu Reduktionismus und Emergentismus im Zusammenhang mit den Ursachen und Wirkungen von Kultur – ohnehin um empirische Fragen; und als solche sollen sie hier auch behandelt werden.139 Der explanatorische Nutzen: Warum Zucker süß ist Auf die Frage, warum Kinder Zucker mögen, wird man antworten wollen: Weil er süß ist! Allerdings ist „süß“ eben keine Eigenschaft dieser chemischen Verbindung selbst, sondern eine als Wahrnehmung empfundene Bewertung, die das menschliche Gehirn vornimmt. Der tiefere Grund für diese selbstbelohnende Empfindung kann nur in ihrer evolutionären Funktionsgeschichte liegen: Zucker schmeckt süß, weil er eine wichtige Energiequelle für unsere Vorfahren darstellte, die sich von Früchten ernährten. Unter ihnen waren jene Individuen bevorteilt, welche eine Präferenz für die reifen und energiehaltigen Exemplare hatten. Erst durch die Suche nach Antworten auf Tinbergens Frage nach dem adaptiven Wert wird also verständlich,140 warum Zucker für Menschen süß schmeckt, aber längst nicht für alle anderen Tiere.141 Die Präferenzen, Motivationen und Antriebe von Menschen lassen sich also nur mit Blick auf ihre ultimaten Ursachen wirklich verstehen. Die evolutionäre Perspektive auf menschliches Verhalten und seine mentale Verursachung lenkt den Blick auf diese „Gründe hinter Gründen“, auf die evolutionären (‚ultimaten‘) Zweckursachen (Zucker ist energiehaltig) hinter unmittelbaren (‚proximaten‘) Verursachungszusammenhängen (Zucker schmeckt süß). Spätestens bei der Entwicklung von Handlungsanweisungen wird selbst bei diesem Trivialbeispiel die Perspektivverschiebung hin zu den ultimaten Ursachen auch sozialwissenschaftlich relevant. Jene gesundheitlichen und in der Folge auch fiskalischen Probleme, die von Übergewicht in Überflussgesellschaften hervorgerufen werden, lassen sich kaum sinnvoll in den Griff bekommen, wenn die ul139 Vgl. S. 76 ff. 140 Zu Tinbergens Fragen sowie der folgenden Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen siehe S. 86 ff. 141 Dieses Lehrbuchbeispiel geht zurück auf Barash (1982).

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timaten Gründe ignoriert oder gar Falsches über sie angenommen wird. So lässt sich Süßes nicht einfach kulturell als nicht verlockend umdeuten. Solches politische Agieren vorbei an der Realität unseres evolutionären Erbes wäre demnach abwegig. Wer jedoch den „biologischen Wert“ eines Verhaltens kennt, wird sich leichter tun, das sich sozial Ereignende zu verstehen – und darauf gestaltend Einfluss zu nehmen. Nicht anders verhält es sich mit dem „Wert des Sozialen“, um den es in der Sozialkapitaltheorie geht. Dass soziale Beziehungen für Menschen überhaupt einen Wert haben können, ist selbst schon ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Genau wie Nahrungspräferenzen und Wahrnehmungsfilter sind auch unsere sozialen Fähigkeiten Produkte der Evolution. Kooperation, Prosozialität, soziale Bindung und Vernetzung, Vertrauen, Gruppenzugehörigkeit, Konformität, Prestige, Sanktionen und soziale Ausgrenzung – all diese mit Sozialkapital in Verbindung stehenden Phänomene können mit psychischen Motivations- und Antriebssystemen in Zusammenhang gebracht werden, die – wie in diesem Kapitel zu zeigen war – am besten in evolutionärer Perspektive zu untersuchen sind.

2.6 Diskussion: Kritische Einwände gegen evolutionäre Anthropologie Im Grunde könnte ein Rückbezug politikwissenschaftlicher Theorien auf evolutionär-anthropologische Wissensbestände längst üblich sein. Erstens ist unstrittig, dass Menschenbilder für politikwissenschaftliche Theorien von zentraler Bedeutung sind. Zweitens ist Verhalten nur unter Berücksichtigung seiner evolutionären Entstehungszusammenhänge wirklich tiefgreifend zu verstehen. Und drittens sprechen auch keine wissenschafts- oder erkenntnistheoretischen Gründe a priori gegen ein solches Unterfangen. Die Naturgeschichte des Menschen spielt jedoch in den Sozialwissenschaften bisher keine nennenswerte Rolle (Thayer 2004; Meyer 2010; Schnettler 2016; Wortmann 2010). Das gilt insbesondere für die Politikwissenschaft (Hibbing und Smith 2007; Losco 2011; Johnson 2011).142 Stattdessen ist unter Sozialwissenschaftlern nach wie vor eine grundsätzliche Skepsis gegenüber evolutionär-anthropologischen Ansätzen durchaus verbreitet (siehe etwa Bell 2006; Dupré 2000; Mayntz 2006; Richter 2005). Inhaltlich artikuliert sie sich immer wieder in der Ablehnung von biologischem Reduktionismus und genetischem Determinismus sowie in der Sorge vor Sozialdarwinismus und struktureller Status-quo-Orientierung. Auch

142 Siehe hierzu S. 21 ff.

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sind nicht selten Vorbehalte hinsichtlich der Methoden und Datenquellen evolutionärer Humanwissenschaften zu vernehmen.143 Allerdings bringt keiner dieser Kritikpunkte das Projekt einer anthropologischen Mikrofundierung grundsätzlich in Bedrängnis. Zu großen Teilen basieren sie nämlich auf Missverständnissen und Fehlwahrnehmungen, die sich leicht ausräumen lassen – und zum Zwecke interdisziplinärer Verständigung in den Humanwissenschaften auch unbedingt auszuräumen sind.

2.6.1 Grundsätzliches: Die Ablehnung einer evolutionären Perspektive auf den Menschen Viele Wissenschaftler geben an, dass sie „an Evolution glauben“, evolutionär-anthropologische Ansätze wie die Evolutionspsychologie hingegen ablehnen (Geher und Gambacorta 2010).144 Das ist aber keine schlüssige Position. Evolutionäre Perspektiven auf Verhalten abzulehnen heißt letztlich, die Evolutionstheorie abzulehnen. Soll Evolutionstheorie die Entwicklung der Arten erklären können, nicht aber ihr Verhalten ? Oder kann sie nur zur Erklärung des Verhaltens anderer Tiere herangezogen werden, nicht aber für jenes des Menschen ? Oder soll das komplexe Nervensystem des Menschen in irgendeiner Weise nicht das Ergebnis der Evolution sein ? Für keine dieser Positionen gibt es gute Gründe. „Evolution does not stop at the neck“ (Geher 2015). Da das menschliche Gehirn ganz wie der Rest des Organismus in seiner heutigen Form Ergebnis eines langen naturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses ist, muss auch menschliches (Sozial-)Verhalten mindestens zum Teil als Resultat dieses Gewordenseins angesehen werden. Es ist also nicht zu erkennen, worauf sich eine Ablehnung der Anwendung evolutionärer Ansätze auf menschliches Verhalten stützen könnte (vgl. Geher 2015).

143 Nicht für alle Vorbehalte lassen sich übrigens Belege in der Literatur finden. In Diskussionen mit Skeptikern wird man ihnen aber schnell begegnen und sie sind überdies umfassend dokumentiert (Buss und Duntley 2008; Confer et al. 2010; Dahlgrün 2015; Sanderson 2007; Segerstråle 2000; Thayer 2004). Die üblichen Kritikpunkte werden in fast jedem evolutionär-anthropologischen Lehrbuch gründlich durchgearbeitet (vgl. Buss 2012: 17 ff.; Hampton 2010: 195 ff.; Laland und Brown 2011; Voland 2013: 15 ff.; Workman und Reader 2010: 25 ff.). Auch wurden sie in sozialwissenschaftlichen Theorie-Diskussionen über den Stellenwert evolutionären Denkens immer wieder angeführt und kontrovers diskutiert (siehe exemplarisch Brown 2013; Corning 2008). Auf diesem Diskussionsstand bauen die folgenden Ausführungen auf. 144 Diese Position ist beispielsweise in der Geschlechterforschung verbreitet. Vgl. dazu auch S. 506 ff.

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Die Tauglichkeit von evolutionären Ansätzen wird ferner oft anhand von spezifischen Studien, Themenschwerpunkten oder Methoden kritisiert (vgl. Dahlgrün 2015: 27 ff.). Solche selektive Rezeption der Evolutionspsychologie und anderer evolutionärer Humanwissenschaften wird aber der Breite ihrer theoretischen und methodischen Ansätze sowie ihrer inhaltlichen Vielfalt nicht gerecht. Für keine wissenschaftliche Disziplin kann zudem wohl der Anspruch erhoben werden, dass in ihrem Namen keine schlechten Studien publiziert, keine methodischen Fehler begangen und keine theoretischen Irrwege eingeschlagen werden. Es gibt keine empirischen Evidenzen für die Annahme, die evolutionären Humanwissenschaften würden in diesen Belangen eine herausragend schlechte Position einnehmen (vgl. Buss und Duntley 2008; Dahlgrün 2015). Wichtig ist, dass solche Defizite nicht aus vorwissenschaftlichen Gründen strukturell bestehen. Weder legt die evolutionäre Perspektive irgendeine inhaltliche Festlegung nahe, noch ist zu beobachten, dass sich in der Evolutionspsychologie und Soziobiologie nur selektiv bestimmter Methoden und Theorien bedient würde. Vielmehr herrscht eine Vielfalt an Methoden; und wie etwa die Diskussionen um Modularität und die Ebenen der Selektion zeigen, gibt es vitale Theoriedebatten.145

2.6.2 Reduktionismus: Genetischer Determinismus und kulturelle Kontingenz Immer wieder wird behauptet, in den evolutionären Humanwissenschaften würde die Auffassung vertreten, menschliches Verhalten sei allein von den Erbanlagen bestimmt, also genetisch determiniert. Daraus wiederum wird der Vorwurf eines unzulässigen biologischen Reduktionismus abgeleitet, der Kultur als Kausalfaktor ausblendet. Tatsächlich aber geht es gerade darum, die Interaktionen zwischen Genen und (auch: kultureller) Umwelt zu verstehen. Gene werden in den Life Sciences nicht als Gründe für Verhalten betrachtet, sondern als Gründe für Prädispositionen (Buss 2012: 17 f.; Workman und Reader 2010: 26 f.). Evolutionstheorie bestreitet nicht die Relevanz etwa von Sozialisation, kulturspezifischen Deutungsroutinen und sozial konstruierten Anreizstrukturen – also von proximaten Faktoren. Natürlich hat die Neigung zu Gewalt ebenso lebensgeschichtliche und situative Gründe wie die Präferenz für egoistische oder prosoziale Verhaltensmuster. Die evolutionäre Perspektive fügt der Analyse von Verhalten jedoch die zentrale Frage danach hinzu, welche evolvierten Informa­ 145 Zur Debatte um Modularität siehe S. 96 ff.; zur Diskussion um die Multilevelselektionstheorie siehe v. a. die Fußnote 405 auf S. 304. Auf Methoden der evolutionären Humanwissenschaften wird ab S. 113 eingegangen.

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tionsverarbeitungsstrukturen solche proximaten Wirkungsketten ins Werk setzen. Sie fragt nach den ultimaten Ursachen dafür, dass situative oder biographische Umweltstimuli zu einem bestimmten Verhalten führen. Die Hypothese ist also nicht, dass Gene statt Kultur als zentrale Kausalfaktoren angesehen werden müssen. Vielmehr wird einesteils behauptet und empirisch gezeigt, dass die Wirkweise kultureller Faktoren entscheidend durch die evolvierte menschliche Psyche geprägt ist. So werden etwa Sozialisationsprozesse von dahinterliegenden genetischen Faktoren bestimmt (Kaplan und Gangestad 2005; Voland und Störmer 2014).146 Beispielsweise sind Kinder in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich sensibel für bestimmte Arten von Erfahrungen; und soziale Bindungs- sowie Persönlichkeitstypen prägen sich auf der Basis von genetisch codierten, umweltsensiblen Reaktionsnormen aus. Andernteils umfasst die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie eine Reihe von Konzepten, welche die Wechselwirkungen von Genen und Umwelt analytisch fassbar machen.147 Wie ihre Anwendung auf zentrale Fragen der Sozialkapitaltheorie auch praktisch zeigen wird, vernachlässigen diese Ansätze die Rolle von Kultur nicht, sondern integrieren sie in evolutionäre Kausalmodelle. Überhaupt ist aus evolutionärer Perspektive insbesondere die genetisch bedingte Flexibilität menschlichen Verhaltens interessant. Gerade diese Reaktionsfähigkeit auf das umgebende Milieu gilt es zu erklären (Voland 2013: 15) – und mithin zu verstehen, in welcher Weise evolvierte Reaktionsnormen mit Umweltinformationen interagieren (Buss 2012: 18). Wenn sich zeigt, dass Gewalt, Mord, Vergewaltigung oder – hier einschlägiger – Opportunismus, Egoismus und Betrug auf biologischen Grundlagen basiert, dann impliziert das nicht, dass solche Verhaltensweisen sich zwangsläufig oder gar legitimerweise Bahn brechen würden (vgl. Buss 2012). Längst ist auch die Zeit vorbei, in denen in den evolutionären Humanwissenschaften nach „Gewalttäter-Genen“ oder „Betrüger-Genen“ gesucht wurde. Stattdessen wird versucht, die evolvierten kognitiven Tiefenstrukturen freizulegen, welche solches Verhalten unter angebbaren Bedingungen zutage treten lassen. „Die Natur des Menschen besteht in den ererbten Regelmäßigkeiten der mentalen Entwicklung, die für unsere Art typisch ist. Gemeint sind damit die ‚epigenetischen Regeln‘, die über einen langen Zeitraum der frühen Vorgeschichte durch die Wechselwirkung der genetischen und der kulturellen Evolution entstanden sind. Diese Regeln benennen die genetischen Vorlieben dafür, wie unsere Sinne die Welt wahrnehmen, die symbolische Codierung, in der wir die Welt darstellen, die Handlungsmöglichkei146 Siehe zu alldem S. 379 ff. Einen für Sozialwissenschaftler gut zugänglichen Einblick in die Vorteile einer „evolutionären Sozialisationstheorie“ bietet Scheunpflug (2015). 147 Vgl. mit weiteren Verweisen S. 83 ff.

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ten, die wir uns automatisch eröffnen, und die Reaktionen, die uns am einfachsten und lohnendsten erscheinen. […] Verhaltensformen, die auf epigenetischen Regeln beruhen, sind nicht fest programmiert wie Reflexe. Vorangelegt sind vielmehr die epigenetischen Regeln, und genau sie stellen den wahren Kern der menschlichen Natur dar. Diese Verhaltensformen werden erlernt, aber der Lernprozess ist, wie es in der Psychologie heißt, ‚vorbereitet‘.“ (Wilson 2013: 234 f.)

Kultureller Kontingenz wird in evolutionären Theorien also durchaus Rechnung getragen. Nur beinhalten sie (mit sozialwissenschaftlichen Theorien über proximate Gründe durchaus kompatible) ultimate Erklärungen dafür, warum manches möglich ist und anderes nicht – und warum Mögliches in einem Fall geschieht und im anderen ausbleibt. Es geht also darum, jene kausalen Mechanismen zu ergründen, welche den Möglichkeitsraum menschlichen Sozialverhaltens und kultureller Figurationen erlauben und begrenzen. Evolutionäre Anthropologie ist also nicht per se gen-deterministisch, sondern erlaubt es vielmehr, den kulturellen Determinismus sozialwissenschaftliche Verhaltensmodellen zu überwinden, welcher seinerseits biologische Faktoren systematisch ausblendet. Die Life Sciences bieten eine in den Daten gegründete Gegenposition zum in dieser Hinsicht selbst reduktionistischen sozialwissenschaftlichen Standardmodell des Menschen (Pinker 2002; Tooby und Cosmides 1992b).148 Der Vorwurf des biologischen Reduktionismus geht folglich am Kern der Sache vorbei. Zwar sind die evolutionären Humanwissenschaften tatsächlich ein zum Teil reduktionistisches Projekt dergestalt, dass versucht wird, die Eigenschaften oder das Verhalten von Individuen durch das „Zerlegen“ in ihre organischen und funktionalen Bestandteile zu verstehen (Hampton 2010: 182; Workman und Reader 2010: 27). Allerdings wird nicht behauptet, dass sich Phänomene durch diese Reduktion vollständig erklären ließen (Corning 2008; Stephen et al. 2014).149 Selbst stark reduktionistisch orientierte Teile der Life Sciences stellen vielmehr die kausale Relevanz von emergenten Phänomenen wie Gehirnen und kulturellen Makrophänomenen nicht in Abrede (vgl. Voland 2013: 21).150 Richtig ist zwar schon, dass sich Soziobiologen und Evolutionspsychologen mit der Eigenlogik von sozialen Figurationen ebenso wie mit politisch-philosophischen Debatten nicht allzu gut auskennen und deshalb sicher auch die gesellschaftspolitischen Implikationen ihrer Forschung nicht immer perfekt abschätzen. 148 Siehe hierzu S. 92 ff. 149 Wie sich zeigen wird, geht gerade die in Zusammenhang mit der Erklärung von kollektivem Sozialkapital so wichtige Theorie der Nischenkonstruktion und der kulturellen Gruppenselektion von „Abwärtskausation“ (Campbell 1990; Sperry 1991) aus, also von der kausalen Kraft kultureller Konstruktionen. Vgl. dazu S. 92 ff. 150 Zu dem hier zur Anwendung kommenden Emergenzbegriff siehe grundlegend S. 67 ff.

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Das aber sollten ohnehin die Kernkompetenzen der Sozialwissenschaften bleiben. Einander kulturellen bzw. biologischen Reduktionismus vorzuwerfen, führt jedenfalls keinen Schritt weiter. Besser wäre es, sozialwissenschaftliche an evolutionär-anthropologische Theorien anschlussfähig zu machen und so im Sinne eines „guten Reduktionismus“ interdisziplinär und arbeitsteilig an durchgängigen Erklärungen des Sozialen zu arbeiten.151 Dass das gelingen kann, wird hier anhand der Sozialkapitaltheorie zu zeigen sein.

2.6.3 Normativität: Sozialdarwinismus und Wertverwirklichung Skepsis gegenüber evolutionsbiologisch fundierten humanwissenschaftlichen Ansätzen rührt auch daher, dass ihnen eine Verbindung zum Sozialdarwinismus unterstellt wird. Nachdem jener in Verbindung mit Haeckels Rassenlehre und Galtons Eugenik zum ideologischen Rüstzeug der grausamen faschistischen Systeme des 20. Jahrhunderts geworden war (Arendt 1951/2004; Klingemann 1987; Weingart et al. 2003), galt der Darwinismus besonders in Deutschland als diskreditiert (Zmarzlik 1963). Die Ideengeschichte des Sozialdarwinismus ist aber eine genuin sozialwissen­ schaftliche (Hawkins 1997; Klingemann 1987). Der Soziologe Herbert Spencer (1851/​2011, 1864/2011), einer der geistigen Väter sozialdarwinistischen Denkens, hatte die Evolutionstheorie – ganz unsachgemäß – um normativ-teleologische Züge ergänzt (Schurz 2011: 175). Konkurrenzbasierte Auslese erschien ihm als ein Motor wünschenswerten Fortschritts und gesellschaftlichen Wandels. Für Spencer war das „survival of the fittest“ im „struggle for life“ ein Prinzip, das dazu diente, höhere und bessere zivilisatorische Daseinsformen zu erreichen. Beide Begriffe hat Spencer selbst geprägt.152 Diese normative und teleologische Aufladung findet sich nicht bei Darwin, nicht im Neodarwinismus und nicht in der erweiterten Synthese. Die Evolu­ tionstheorie ist eine empirische Theorie, die Evolution als einen Prozess ohne Ziel und Zweck beschreibt und darauf aufbauend äußerst erfolgreich die Entstehung und den Wandel biologischer Formen erklären kann.153 Solcher Wandel ist weder 151 „Guter Reduktionismus“ meint eine im Hinblick auf „praktische Theorien“ ausgewogene Balance von disziplinärer Spezialisierung und interdisziplinär übergreifenden Erkenntniszielen (Dennett 1997; Slingerland 2008). Siehe dazu S. 76 ff. 152 Er schrieb in seinen „Principles of Biology“ (Spencer 1864/2011: 444): „This survival of the fittest, which I have here sought to express in mechanical terms, is that which Mr. Darwin has called ‚natural selection‘, or the preservation of favoured races in the struggle for life.“ 153 Zum rein empirischen und nicht teleologischen Charakter der Evolutionstheorie siehe S. 85 ff.

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wünschenswert noch fortschrittlich. Die Evolutionstheorie ist agnostisch gegenüber dem normativen Wert der Vergangenheit und der Zukunft (Hampton 2010: 183). Auch bietet sie nicht jene Rechtfertigung für Egoismus und Gewalt, zu der sie von Spenceristen und Sozialdarwinisten gemacht wurde (Voland 2013: 21 f.). Es folgt aus ihr nicht, dass Kampf und egoistische Nutzenmaximierung die „besten“ Modi im Wettbewerb um objektiv knappe Ressourcen sein müssen.154 Die Evolutionstheorie liefert also keinen Maßstab zur normativen Bewertung von gesellschaftlichen Verhältnissen; und genauso wenig werden biologische Phänomene schon dadurch gerechtfertigt, dass sie mithilfe der evolutionären Perspektive untersucht und erklärt werden können (Curry 2006; Voland 2004). So gibt es Hinweise darauf, dass sich Gewalt, Mord und Vergewaltigung als Antworten auf adaptive Probleme entwickelt haben könnten (Daly und Wilson 1988; Thornhill und Palmer 2001; Wrangham und Peterson 1997). Das ändert aber nichts daran, dass diese Phänomene allen vernünftigen normativen Maßstäben nach zu verurteilen sind. Auch impliziert die wissenschaftliche Befassung mit diesen düsteren Potentialen unserer Spezies nicht ihre Aufwertung oder Legitimierung durch die Forscher. Manch andere ethisch und normativ geprägte Vorbehalte speisen sich – das kann nicht verschwiegen werden – aus kaum elaborierten Hintergrundannahmen (vgl. Schurz 2011: 171 ff.). So ist der Darwinismus für zwei fundamentale „narzisstische Kränkungen der Menschheit“ mitverantwortlich (Freud 1917), die noch immer dessen aufgeschlossene Rezeption behindern. Erstens widersprechen Darwins Abstammungslehre und die damit einhergehende Widerlegung anthropozentrischer Weltbilder der menschlichen Selbstwahrnehmung. Zweitens hatte schon Freud (1917: 7) beschrieben, dass „das Ich nicht Herr sei im seinem eigenen Haus“. Diese Einsicht in die zahlreichen, von den modernen Life Sciences inzwischen bestens belegten und erklärten Verzerrungen und Begrenzungen der menschlichen Vernunft ist subjektiv nur schwer nachvollziehbar und wird deshalb häufig als unplausibel empfunden. Die sich aus solchen Erkenntnissen ergebenden Begrenzungen von politischen Machbarkeitsspielräumen werden darüber hinaus von politisch progressiv Eingestellten erst recht nicht goutiert. Nicht zuletzt laufen Aussagen darüber, in welchen Zeiträumen und in welcher Weise sich Evolution ereignet, der menschlichen Intuition zuwider.155 Dass die Forschungsarbeit der evolutionären Humanwissenschaften schwer zugänglich ist oder für po154 Die Natur ist voller Beispiele dafür, dass gerade Altruismus und Vergemeinschaftung evolutionär erfolgreiche Strategien sind – und hier wird eine Fülle von ihnen zu behandelt sein. 155 Das allerdings ist ein mithilfe der Evolutionären Erkenntnistheorie erklärbares Phänomen: Evolutive Prozesse gehören nicht zu jenem Mesokosmos, der sich uns intuitiv erschließt, weil unser Erkenntnisapparat auf ihn angepasst ist. Siehe hierzu S. 62 ff.

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litisch unkorrekt gehalten wird, weil ihre Themen unbequem sind, ihre Befunde nicht in weltanschauliche Raster passen oder ideologisch zweckentfremdet werden können, sagt jedoch nichts über deren explanatorischen Wert (Voland 2013: 21 f.; Workman und Reader 2010: 27 f.). Evolutionstheoretische Ansätze sind also nicht sozialdarwinistisch, teleologisch oder normativ. Sie können normative sozialwissenschaftliche Forschung aber auf mindestens zwei Arten bereichern. Erstens liefert die einschlägige Forschung zu sozialen Emotionen und moralischen Intuitionen neue Erkenntnis zur Herkunft von menschlichen Werten und Normen (Boehm 2012; Haidt 2013; Hauser 2009).156 Auf ihrer Basis lässt sich der schon von David Hume unternommene Versuch mit naturwissenschaftlichen Mitteln fortsetzen, kulturelle Normensysteme auf biologische Apriori zurückzuführen, ohne einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen (Curry 2006; Teehan und DiCarlo 2004; Voland 2004).157 Hier noch wichtiger ist aber – zweitens – die Tatsache, dass evolutionäre Erklärungen bei der Wertverwirklichung nützlich sein können. Schließlich ist die Chance, dass eine Handlungsanweisung auch zum angestrebten Ziel führt, dann besonders hoch, wenn sie auf zutreffenden Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit basiert (Bizer et al. 2004; Führ et al. 2007a). Ein Mediziner braucht als Grundlage einer zielführenden Therapie zutreffende Kenntnisse über das Funktionieren des menschlichen Organismus. Und Politikwissenschaftler, die an der Verwirklichung vernünftigerweise zu verfolgender Ziele mitwirken wollen, dürfen nichts grundsätzlich Falsches darüber annehmen, worauf sich ihre Handlungsanweisungen beziehen. Egal ob eine vitale und von Legitimität getragene Demokratie, eine ebenso performante wie soziale Volkswirtschaft oder gesellschaftlicher Zusammenhalt bei gewahrtem friedlichen Interessenpluralismus – stets geht es im Kern um: menschliches Handeln. Und weil Menschen evolvierte Wesen sind und eine nur proximate Betrachtung ihrer Handlungsmotivationen und Entscheidungsrationalitäten deshalb zu kurz greift, können Sozialwissenschaften als Instanzen des Verstehens, Erklärens und Mitgestaltens gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht auf eine evolutionär-anthropologische Mikrofundierung verzichten.158

156 Zu diesen für die Sozialkapitaltheorie zentralen Befunden zum „Wert des Sozialen“ siehe S. 282 ff. sowie S. 462 ff. 157 Die hier angesprochene Evolutionäre Ethik bietet vielversprechende Ansätze dafür, ethische Fragen aus evolutionärer Perspektive zu beantworten (Matteo 2004; Mohr 2014; Neumann et al. 1999; Nitecki und Nitecki 1993; Ruse 1986). Siehe dazu die Fußnote 398 auf S. 299. 158 Zur normativen Dimension des Anthropologischen siehe auch S. 56 ff.

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2.6.4 Adaptionismus: Historizität und die Angepasstheit an den Status quo Hat die Evolution dafür gesorgt, dass Menschen optimal angepasst sind ? Wie kann es dann sein, dass Menschen so viele Fehler machen und dass soziale Wirklichkeit von derart vielen Friktionen und Problemen gekennzeichnet ist ? Und steckt in der Annahme, dass alles ist, wie es ist, weil es sich bewährt hat, nicht eine implizite Rechtfertigung für abgründige Facetten menschlichen Verhaltens und soziale Missstände ? Hinter diesen Fragen stehen zwei voneinander zu trennende Missverständnis­ se darüber, ob der Fokus auf evolutionäre Anpassung nicht zu verengt und deshalb irreführend sowie für sozialwissenschaftliche Zwecke unpraktisch ist. Einesteils geht es um die Annahme, Evolution generiere optimale Ergebnisse; andernteils ist darüber zu reflektieren, ob es wirklich nützlich ist, die menschliche Natur als eine Anpassung an vergangene Umwelten zu betrachten. Zur Aufklärung dieser Missverständnisse ist im Grunde schon alles zusammengetragen. Sie sind aber zu verbreitet und deshalb zu wichtig, um nicht gesondert behandelt zu werden. Außerdem lässt sich im Zuge dessen noch manches für die weitere Argumentation Relevante vor Augen führen. Status quo und optimales Design: Über Historizität, Zielkonflikte und Fitnesslandschaften Das erste Missverständnis schlägt sich in dem Vorwurf nieder, Evolutionstheorien würden aus politischen Gründen benutzt, um den Status quo zu legitimieren und zu zementieren. Schließlich berufe man sich darauf, so die Kritik weiter, dass Menschen optimal angepasst seien und dass sich zudem nicht ändern ließe, was in Genen festgeschrieben ist. Allerdings wird die Auffassung, dass Menschen in irgendeiner Weise „optimal designt“ seien, von evolutionären Anthropologen nicht vertreten (Buss 2012: 18 f.). Gerade die Einsicht in die Evolutionsgeschichte des Menschen liefert indes neue und stichhaltige Erklärungen dafür, warum Menschen oft nicht zu optimalen Entscheidungen gelangen und warum auch die aufgeklärte und zivilisierte Welt voller Irrationalitäten und Irrwege ist (vgl. etwa Dawkins 2007; Dennett 1997; Haidt 2013; Pinker 2002; Riedl 2004). Menschen – und überhaupt alle Organismen – sind nämlich nicht an das Leben im Hier und Jetzt angepasst. Der Status quo ist das Ergebnis der Anpassung an vergangene Umwelten; denn die Angepasstheit an das gerade bewohnte Habitat zeigt sich ja erst in der Anzahl an Genen, die in die Zukunft weitergegeben wer-

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den können. In der natürlichen Umgebung afrikanischer Savannen und unter den Bedingungen des Lebens in kleinen Gruppen evolvierte psychologische Mechanismen können in den durch Kultur rasant veränderten heutigen Umwelten ganz dysfunktional sein: etwa wenn Menschen sich in sozialen Medien gehen lassen, weil sie sich unbeobachtet fühlen, oder wenn sie Zucker und Fett in gesundheitsschädigendem Ausmaß konsumieren.159 Zwischen ehemals adaptiven Lösungen und aktuellen Umweltzuständen können also Passungslücken entstehen, die zu dysfunktionalem Verhalten führen (Sperber 1996; Sperber und Hirschfeld 2004). In diesen Fällen spricht man von Fehlanpassungen (‚maladaptations‘) (Richerson und Boyd 1985, 2005).160 Auch aus der pfadabhängigen Historizität von evolvierten Strukturen folgt, dass Anpassungen meist längst nicht „optimal“ nach den Vorstellungen eines Konstrukteurs oder Ingenieurs funktionieren (Riedl 2000, 2004: 113 ff.). Viele Funktionsketten eines Organismus sind hochgradig bebürdet, ihr korrektes Arbeiten ist für dessen Lebensfähigkeit notwendig. Evolution kanalisiert sich also schon deshalb, weil Mutationen, die wichtige Teile des Bauplans betreffen, kaum Erfolgsaussichten haben (Riedl 1990: 138). Neues kann sich in der Evolution nur entlang von Bestehendem entwickeln. „Man kann nur adaptieren, was man hat“ (Riedl 2004: 110). Alle Wirbeltiere haben sieben Halswirbel, obwohl Giraffen sicher mehr und Delfine weniger gebrauchen könnten. Für letztere wären ferner Kiemen praktischer als die Lungenatmung eines Säugetiers. Auch die energetische Investition von Schildkröten in den Aufbau des im Grunde überflüssig gewordenen Innenskeletts ist alles andere als „optimal“. Diese Eigenschaften verdanken sich nur der Stammesgeschichte des Organismus. Sie sind fortwirkende Ergebnisse der Anpassung an adaptive Probleme einer Vergangenheit, die zwar im Hier und Jetzt keine Rolle mehr spielt, den Möglichkeitsraum zukünftiger Entwicklungen aber eingeengt hat.161 159 Vgl. auch die Ausführungen zum Environment of Evolutionary Adaptedness auf S. 91 f. Zu unterbewusster Verhaltensregulierung auf der Basis des Gefühls, beobachtet zu werden, sie­ he S. 280 f.; zur evolvierten Präferenz für energiereiche Nahrung siehe illustrierend S. 98 ff. 160 Vgl. auch S. 377 f. 161 Ein illustratives Beispiel ist die Bewegungssteuerung der menschlichen Finger. Grob verdichtet funktioniert sie wie folgt (vgl. Schieber und Santello 2004): Wenn bei ausgestreckter Hand nur ein Finger angewinkelt werden soll, sendet das Gehirn zunächst den Befehl, dass sich die Hand zur Faust ballen soll – und danach einen „Aufhebungsbefehl“ für die nicht betroffenen Finger. Das Bewegungsmuster des Greifens der ganzen Hand ist evolutionär älter; die für Menschen so typische Feinmotorik der Finger entstand erst später. Eine „Neuerfindung“ war aus den angeführten Gründen zu unwahrscheinlich, weshalb sich eine – alles andere als optimale – Lösung auf Basis des bestehenden Systems entwickelte. Dieser Umstand macht unabhängige Bewegung besonders der hinteren Finger zu einem so diffizilen Unterfangen.

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Des Weiteren sind „optimale Ergebnisse“ angesichts fortwährender Zielkonflikte in der Evolution nicht zu erwarten. Anpassungen an spezifische adaptive Probleme sind stets mit Kosten in anderen Bereichen verbunden (Buss 2012: 19). Eine Panzerung bietet Schutz vor Räubern, behindert aber bei der Flucht. Die Größe des menschlichen Gehirns findet ihre Grenzen in der Größe des weiblichen Geburtskanals, ihrerseits bebürdet mit den anatomischen Notwendigkeiten, die sich aus dem aufrechten Gang ergeben. Ein im Zusammenhang mit der hier zu beantwortenden Frage nach den anthropologischen Grundlagen des Sozialkapitals wichtiger Zielkonflikt ist jener zwischen Egoismus und Altruismus. Freigiebigkeit und Hilfsbereitschaft konnten nur in dem Maße evolvieren, wie sie ihre Merkmalsträger nicht in die maladaptive Selbstaufgabe trieben.162 Gleichzeitig aber bricht sich „optimaler“ Egoismus an den Erfordernissen einer sozialen Welt, die Trittbrettfahrer und Regelbrecher sanktioniert. In sogenannten Fitnesslandschaften lässt sich die Struktur von evolutionären Zielkonflikten ebenso wie deren pfadabhängige Historizität analytisch fruchtbar veranschaulichen. In ihnen wird dargestellt, in welcher Weise sich bestimmte Merkmale bzw. Kombinationen von Genen auf die evolutionäre Fitness von Phänotypen auswirken (Simpson 1945, 1953; Wright 1932, 1945; vgl. Arnold et al. 2001).163 Zwar mag es in solchen „Eignungslandschaften“ mehrere verschiedene Lösung für adaptive Probleme wie das der Atmung bei Meerestieren geben; und von jenen mag die Kiemenatmung die praktisch beste, also das globale Optimum sein. Der evolutive Weg von einem anderen „Fitnesshügel“ – also von einem lokalen Optimum wie der Lungenatmung durch die Kopfoberseite – zum globalen oder einem anderen lokalen Optimum führt aber durch „Fitnesstäler“. Dass evolutionärer Wandel tatsächlich von einem Fitnessoptimum zum nächsten führt, ist deshalb sehr unwahrscheinlich. Delfine werden wohl keine Kiemen mehr entwickeln, denn genetisch fitte Zwischenformen sind kaum denkbar. Die Spezies bleibt gleichsam auf ihrem Fitnesshügel gefangen (Lange 2012: 238). Eine Möglichkeit der Anpassung an Zielkonflikte und dynamische Umwelten besteht freilich in Verhaltensflexibilität. Bei deren Evolution stellt sich jedoch das Problem, dass nicht alle potentiell nützlichen Informationen verarbeitet werden können. Stattdessen werden Organismen ihre knappen somatischen (also 162 Zu diesem sogenannten „Problem des Altruismus“ siehe S. 81 ff. sowie S. 216 ff. 163 Die x-Achse (und ggf. z-Achse) repräsentiert verschiedene phänotypische Ausprägungen oder Kombinationen von Genen. Auf der y-Achse wird die Fitness abgetragen, die sie aus der Passung der Merkmals- bzw. Gen-Kombinationen zur jeweiligen Nische ergibt. So entsteht im Modell eine stilisierte Landschaft aus Bergen und Tälern. Prinzipiell können beliebig viele Merkmalskombinationen in n-dimensionalen Merkmalsräumen abgebildet werden; und solche Landschaften sind natürlich dynamisch, weil die Fitness in sich wandelnden Umwelten Schwankungen unterworfen ist. Zum Konzept der evolutionären Fitness siehe S. 80.

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auch: neuronalen) Ressourcen auf die wesentlichen Umweltstimuli konzentrieren und deshalb verhältnismäßig grobe Heuristiken ausbilden. Auch evolvierte psychologische Mechanismen arbeiten deshalb selektiv und verzerrt, realisieren also konditionale Strategien im Hinblick nicht auf globale, sondern lokale Optima.164 Leicht ist aus alldem auch ersichtlich, dass Evolutionstheorie nicht das Geringste mit der Wahrung oder gar der Rechtfertigung des naturgeschichtlichen Status quo zu tun hat. Das ist schon deshalb Unsinn, weil Evolution ja gerade die ständige nachholende Anpassung an dynamische Umwelten bedeutet. Schon Darwin hatte formuliert: „It’s not the strongest of the species that survives, not the most intelligent, but the one most responsive to change“ (Darwin 1859, Hervorh. d. A.). Wie im Zusammenhang mit dem Sozialdarwinismus-Vorwurf schon gezeigt wurde, ist die Evolutionstheorie als empirische Theorie zudem agnostisch gegenüber der Bewertung der Ergebnisse von Evolutionsprozessen. Deshalb lässt sich mit ihrer Hilfe auch nicht argumentieren, dass etwas objektiv so sein sollte, wie es geworden ist. So bleibt der Kampf für die rechtliche und faktische Gleichstellung von Männern und Frauen ein erstrebenswertes Ziel, ganz unabhängig davon, dass sich Geschlechtsunterschiede evolutionär erklären lassen. Die Chance auf Verwirklichung dieser Ziele wird durch die Berücksichtigung solcher Erkenntnisse sogar steigen (vgl. Buss und Schmitt 2011). Ebenso kann man beklagen, dass Menschen die Welt in „Wir und die Anderen“ kartieren, wird zur effektiven Vermeidung von daraus folgenden gesellschaftlichen Missständen die Funktionsweise der dahinterstehenden evolvierten psychologischen Mechanismen aber begreifen müssen. Es geht an der Sache vorbei zu behaupten, mit evolutionären Erklärungen legitimiere man oder fördere gar die Anfälligkeit für Xenophobie.165 Der anthropologische Status quo ist aus evolutionärer Sicht nur Gegenstand von Beschreibungs- und Erklärungsversuchen, nicht von Bewertung. Evolutionäre Humanwissenschaften können aber helfen, Aporien und Defizite im Hinblick auf die Verwirklichung wünschenswerter Ziele besser zu erkennen und zu erklären. Sozialwissenschaftlich interessant ist also nicht nur das explanatorische, sondern auch und gerade das kritische Potential der Evolutionstheorie.

164 Siehe hierzu S. 94 f. 165 Zur Kategorie des Geschlechts siehe S. 506 ff., zur Gruppensozialität des Menschen und ihrer Implikationen für die Bedingungen von Sozialkapital siehe S. 454 ff.

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Adaptationen und Nebenprodukte: Nicht alles ist eine Anpassung Erschwert wird die interdisziplinäre Verständigung weiterhin durch die verbreitete Vermutung, in den evolutionären Humanwissenschaften würde alles als eine Anpassung behandelt. Offenkundig unnütze Merkmale (wie etwa der Wurmfortsatz am menschlichen Blinddarm) verwiesen deshalb auf grundsätzliche Lücken solcher Erklärungsansätze.166 Anpassung ist zwar in der Tat eine zentrale Kategorie evolutorischer Analysen. Schließlich steht in deren Zentrum die Frage, welche genetisch codierten Merkmale (auch in Form von umweltsensitiven Reaktionsnormen) differentielle Reproduktionsvorteile zur Folge haben – also Fitnessvorteile bewirken bzw. bewirkt haben. Allerdings impliziert das nicht, dass jede Facette eines Organismus als Anpassung anzusehen ist. Vielmehr wird zwischen Adaptationen und funktionslosen Nebenprodukten unterschieden (Tooby und Cosmides 1990, 1992a). Adaptationen sind vererbte Charakteristika, die von der natürlichen Selektion geformt wurden, weil sie besser als andere bei der Lösung von spezifischen Problemen im Zusammenhang mit dem Überleben und der Reproduktion halfen – und sich so in der Population durchsetzen konnten.167 Nebenprodukte lösen keine adaptiven Probleme und haben kein funktionales Design. Sie sind einfach Konsequenzen anderer evolutionärer Apriori und haben keinen eigenständigen fitnessrelevanten Nutzen. Während zum Beispiel die Nabelschnur eine Anpassung darstellt, ist der Bauchnabel ein Nebenprodukt ohne Funktion. Kritiker des adaptationistischen Programms führten mit dem Konzept der Exaptation eine weitere Alternative zu Adaptationen und Nebenprodukten ein (Gould und Lewontin 1979; Gould und Vrba 1982). Exaptationen sind Charakteristika, die ursprünglich für einen anderen Zweck evolvierten, nun aber neue Funktionen übernehmen. Der Nützlichkeit dieser Unterscheidung wird aber von vielen Autoren bestritten (vgl. Thornhill 2003; Voland 2009). Für im evolutionären Denken Ungeübte hat sie wohl zumindest heuristischen Wert. Sie führt vor Augen, dass ein Phänomen wie etwa Religiosität evolutionär adaptiv sein kann und trotzdem niemals direkt „zu diesem Zweck“ evolvierte.168 Allerdings ist es 166 Zum sogenannten Environment of Evolutionary Adaptedness siehe S. 91 f.; zur Prüfung evolutionstheoretischer Hypothesen siehe S. 113 ff. 167 Vgl. S. 79 f. 168 Es spricht zwar vieles dafür, dass Religiosität – verstanden als die mentale Fähigkeit, religiös zu sein – eine Anpassung ist. Trotzdem wird sie als „Meta-Modul“ von zunächst unabhängig voneinander evolvierten psychologischen Mechanismen entstanden sein: die Fähigkeit zum Erkennen von intentionalen Agenten in der Welt; Denken in Ursache-Wirkungs-Zusam­ menhängen; Moralität; Identität; Spiritualität u. v. m. (vgl. Bulbulia 2009; Voland 2009). Zur Evolution von Religiosität siehe S. 390 ff.

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ohnehin wenig hilfreich, die Ergebnisse der Evolution von ihren „ursprünglichen“ Funktionen her zu denken. Kein Merkmal ist wirklich für einen bestimmten Zweck entstanden, sondern immer nur nachträglich selektiert worden (vgl. Buss et al. 1998). Wenn ein Merkmal deshalb eine funktionale Lösung für ein adaptives Problem darstellt, ist es eine Anpassung – unabhängig davon, ob es in einem anderen funktionalen oder naturhistorischen Zusammenhang entstand. Ob Phänomene wie Religiosität Anpassungen oder Nebenprodukte der Evolution sind, wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Pyysiäinen und Hauser 2010; Sosis 2009; Voland und Schiefenhövel 2009). Sogar die beiden Autoren einer einflussreichen Studie zur Naturgeschichte der Vergewaltigung sind uneins darüber, ob diese Verhaltensweise als männliche Fortpflanzungsstrategie adaptiv war oder ein Nebenprodukt darstellt (Thornhill und Palmer 2001). Solche Diskussionen gibt es noch in vielen anderen Bereichen, beispielsweise in Bezug auf „indirekte Reziprozität“ (Fehr und Henrich 2003; Hagen und Hammerstein 2006) und Moralität (Fraser 2010; Haidt und Kesebir 2010).169 Allerdings werden diese Auseinandersetzungen flankiert von einem breiten Konsens darüber, dass es sich bei einer langen Liste von psychologischen Mechanismen um Anpassungen handelt (Workman und Reader 2010: 26). Adaptionisten gehen also nicht davon aus, dass alle (menschlichen) Eigenschaften evolvierte Anpassungen sind.170 Es gehört vielmehr zu deren zentralen Fragestellungen herauszufinden, was eine Anpassung ist und was ein Nebenprodukt. Dass dies im Einzelfall nicht einfach oder gar unmöglich ist, macht Konzepte wie das des evolvierten psychologischen Mechanismus nicht weniger nützlich. Denn die Konsequenzen der Merkmale des Organismus für menschliches Verhalten sind unabhängig von deren Entstehungskontext real (Lange 2012: 338 ff.; Wilson 2012). Nicht alles ist eine Anpassung – aber alles ist Produkt der Evolution. Kognitive und behaviorale Fähigkeiten als über die Stammesgeschichte hinweg evolvierte Merkmale zu betrachten, bleibt deshalb eine hochgradig plausible Hypothese, die jeder sozialwissenschaftlichen anthropologischen Prämisse im Hinblick auf empirische und theoretische Robustheit überlegen ist. Sie lenkt die Aufmerksamkeit in erkenntnisträchtiger Weise auf das domänenspezifische und

169 Zur indirekten Reziprozität und Moralität siehe vertiefend S. 254 ff., S.  270 ff. sowie S. 282 ff. 170 Zudem hat sich mit der erweiterten Synthese der Evolutionstheorie ein komplexeres Verständnis davon entwickelt, wie sich evolutive Anpassungsprozesse ereignen. So passen manche Spezies – darunter Menschen – durch aktive Konstruktionsleistungen die Umwelt an die eigenen Bedürfnisse an. Die Fähigkeit dazu ist freilich selbst wieder adaptiv, weil sie Anpassungsprobleme „indirekt“ löst (Day et al. 2003; Laland 2009).Siehe dazu S. 318 ff., S. 333 ff. und S. 340 ff.

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funktionale Design von kognitiven Modulen, die für menschliches Sozialverhalten – hier insbesondere für soziale Bindungen und Kooperation – zuständig sind.

2.6.5 Methoden und Datenquellen: Zur Prüfung vermeintlicher „Just-so“-Stories Hartnäckig hält sich der Vorwurf, evolutionäre Theorien entzögen sich ernstgemeinten Versuchen der Falsifizierung. Evolutionisten würden zur Plausibilisierung adaptionistischer Erklärungen letztlich nur phantasievolles Storytelling über Beschaffenheit und Konsequenzen längst vergangener Umwelten zu betreiben. Weil über diese stammesgeschichtliche Vergangenheit aber ebenso wenig belastbare Erkenntnisse existierten wie über die Art und Weise angeblicher Anpassungsprozesse, seien evolutionstheoretische Erklärungen letztlich „Just-so“-Stories. In ihnen würden Geschichten erzählt, die sich so ereignet haben könnten – aber eben auch anders (Buller 2006: 86 f.; Gould und Lewontin 1979). Dieser Vorwurf dient auch Sozialwissenschaftlern immer wieder dazu, sich gegen evolutionäre Theoriebestände abzuschotten (Jervis 2004). Evolutionstheoretische Hypothesen sind jedoch sehr wohl überprüfbar – und werden mit einem breiten Methoden- und Datenarsenal auch überprüft (Simpson und Campbell 2005; vgl. Buss 2012: 57 ff.; Workman und Reader 2010: 23 ff.). Es wird sinnvoll sein, über die insbesondere in der evolutionären Anthropologie zur Anwendung kommenden Methoden und Daten einen knappen Überblick zu geben. Schließlich sind dies die Werkzeuge, mit deren Hilfe das bei der anthropologischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie in Stellung zu bringende Befundmaterial gewonnen wird. Wie sich zeigt, gibt es keinen Grund, in empirischen Daten gegründeten evolutionären Theorien menschlichen Verhaltens weniger zu trauen als den Befunden anderer Disziplinen. Interspezies-Vergleiche Im Vergleich zwischen Spezies können funktionale Hypothesen überprüft werden (Buss 2012: 57 f.; Fraley et al. 2005). Stellt sich heraus, dass Merkmale in Physiologie oder Verhalten über Spezies hinweg systematisch mit Umwelteigenschaften kovariieren, so bekräftigt dies eine adaptionistische Erklärung – also die Rückführung von Merkmalen auf natürliche Selektion entlang von Nischenbedingungen. Anthropologisch besonders erhellend sind Vergleiche zwischen Menschen und unseren nächsten stammesgeschichtlichen Verwandten. In vergleichenden Untersuchungen zwischen Menschen und Schimpansen bzw. Bonobos lässt sich

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das spezifisch Menschliche leicht sichtbar machen, weil alle Unterschiede auf die jeweils spezifischen adaptiven Probleme nach der Spaltung der beiden Stammeslinien vor etwa 6 Millionen Jahren zurückzuführen sein müssen (vgl. etwa Tomasello und Vaish 2013). Mindestens ebenso wichtig sind aber die Ähnlichkeiten zwischen diesen Spezies. Entdeckt man bei Schimpansen die Fähigkeit zu Prosozialität und Empathie (Silk 2009), dann handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine homologe Ähnlichkeit, also um eine Gemeinsamkeit, die auf die gemeinsame Abstammung und mithin auf geteilte genetische Informationen zurückgeht.171 So lassen sich die Spuren unserer Vorfahren entdecken, die bis heute in uns fortwirken (Voland 2013: 19). Da Menschen viele adaptive Probleme mit den meisten anderen Tieren teilen – Bezug von Nährstoffen, Fortpflanzung, Aufzucht der Nachkommenschaft u. v. m. – eröffnen Vergleiche mit Nicht-Primaten und sogar mit Ameisen, Fruchtfliegen oder Einzellern zudem Einsichten in konvergierende, funktional äquivalente Lösungen für adaptive Probleme – also in analoge Ähnlichkeiten, die nicht auf gemeinsame Vorfahren zurückgehen. Hier werden sich etwa Studien dazu als nützlich erweisen, wie unterschiedliche Spezies die sich überall in der Natur stellenden Trittbrettfahrerprobleme und Gefangenendilemmata lösen.172 Verschiedene Spezies zu vergleichen, ermöglicht es also, Hypothesen über die adaptive Funktion von physiologischen und kognitiven Merkmalen zu generieren und zu testen. Interkulturelle Vergleiche Der Vergleich zwischen Kulturen ist in zweierlei Hinsicht ein nützliches Mittel zur Überprüfung evolutionstheoretischer Hypothesen (Buss 2012: 58 f.; Voland 2013: 20). Einesteils kann angenommen werden, dass theoriegeleitet bestimmte Merkmale tatsächlich zur evolvierten Natur des Menschen gehören, wenn sie über alle Kulturen hinweg auf‌fi ndbar sind. Zu solchen interkulturellen Universalien unter den im Zusammenhang mit Sozialkapital relevanten Phänomenen gehören etwa Klatsch und Tratsch (Dunbar 2004), Emotionen (Ekman und Friesen 1971), Moralität (Haidt und Kesebir 2010), Kooperativität (Tooby und Cosmides 1992a) und Gerechtigkeitssinn (Henrich et al. 2001), aber etwa auch Spiritualität (Bulbulia

171 Vgl. hierzu S. 268 ff. sowie S. 353 ff. 172 Siehe dazu S. 243 ff., zum theoretischen Kontext auch S. 239 f. Mithilfe von weitgreifenden Inter-Spezies-Vergleichen lässt sich zum Beispiel auch zeigen, dass Geschlechtsunterschieden im Paarungsverhalten im Großen und Ganzen genau jenem Muster folgen, das die evolutionäre Theorie der sexuellen Selektion vorhersagt (vgl. Voland 2013: 93 ff.). Vgl. dazu S. 508 f. sowie die Fußnote 303 auf S. 223.

Diskussion: Kritische Einwände gegen evolutionäre Anthropologie 115

2009) und hinter alldem liegende Kulturfähigkeit im weitesten Sinne (Antweiler 2009; Eibl-Eibesfeldt 1967/2004).173 Besonders aufschlussreich sind dabei Studien, die auch zeitgenössische und prähistorische Jäger-und-Sammler-Gesellschaften in die Analyse einbeziehen (Boehm 2001, 2012). Schließlich kommt deren Lebensweise jener der Vorfahren aller Menschen am nächsten, weswegen sie auch Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der adaptiven Probleme zulassen, mit denen diese sich konfrontiert sahen.174 Andernteils ist die Analyse von kulturellen Unterschieden von besonderem Interesse. Evolutionäre Humanwissenschaftler versuchen ja gerade, die Konditionalität menschlichen Verhaltens, ihre umweltsensitive Verhaltensflexibilität zu erklären (Buss 1995; Wilson 2013). Die zentrale Hypothese ist dabei, dass die große Variabilität zwischen Gesellschaften nicht einfach kulturell determiniert bzw. historisch kontingent ist, sondern ein Ausdruck von „konditionalen Universalien“ (Gaulin 1997), die sich in Reaktionsnormen des Organismus auf Umwelteinflüsse zeigen. In interkulturellen Vergleichen lässt sich testen, ob Unterschiede in Kultur und Verhalten jenem Muster folgen, das evolutionäre Theorien der Funktionsweise evolvierter psychologischer Mechanismen und konditionaler Strategien vorhersagen.175 Interkulturell vergleichende Forschungsdesigns ermöglichen nicht zuletzt auch empirische Theorievergleiche, in denen die Hypothesen konkurrierender Theorien gegeneinander getestet werden können (Buss 2005: 58). So lassen sich sozial­ wissenschaftliche Ansätze, die Kultur als von Natur losgelöst betrachten, gegen evolutionäre Theorien testen, für die kulturelle Figurationen kontingent-pfadabhängig auf biologischen Grundlagen aufbauen und selbst Lösungen für adaptive Probleme darstellen (Eibl 2009; Laland 2009; Wilson und Sober 1998).176 Inter- und intraindividuelle Vergleiche Evolutionäre Theorien menschlichen Verhaltens machen Voraussagen darüber, wie die umweltsensitiven Reaktionsnormen psychologischer Mechanismen ausgestaltet sein müssten, damit sie als evolvierte Lösungen für Anpassungsprobleme gelten können. Diese sind widerlegt, wenn die empirische Varianz im Ver-

173 Mit all diesen Phänomenen wird sich im Kapitel 4 ausführlich befasst. 174 Vgl. S. 118 f. 175 Einmal mehr wird hier deutlich, dass die Suche nach der Natur des Menschen theoretisch und methodisch nicht auf starre Universalien fixiert bleibt. Zu konditionalen Strategien, Reaktionsnormen und evolvierten psychologischen Mechanismen siehe S. 92 ff. 176 Zur hier angesprochenen Nischenkonstruktionstheorie siehe S. 318 ff.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

halten zwischen Individuen einer Population und innerhalb eines Individuums zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kontexten diesen Vorhersagen nicht entspricht. So kann man beispielsweise untersuchen, ob die Herausbildung von Persönlichkeitstypen systematisch mit Umweltbedingungen und dem Auftreten bestimmter biographischer Ereignisse kovariiert (Figueredo et al. 2005). Auch lässt sich überprüfen, ob das Paarungsverhalten tatsächlich so von Geschlecht (Buss 2013; Schützwohl 2008) und Alter (Chisholm et al. 1993) beeinflusst wird, wie das die Evolutionstheorie nahelegt. Im Zusammenhang mit der hier verfolgten Fragestellung wichtiger sind freilich Untersuchungen zur Abhängigkeit sozialen Vernetzungs- und Kooperationsstrategien etwa von frühen Bindungserfahrungen, dem Verwandtschaftsgrad, Gruppenzugehörigkeit und Zwischengruppenkonflikten. Mit Experimental- und Zwillingsstudien kann getestet werden, ob psycholo­ gische Anpassungen tatsächlich so funktionieren wie theoretisch angenommen. In experimentellen Designs werden – genau wie in klassischen psychologischen, pharmakologischen und sozialwissenschaftlichen Experimenten – Probanden in Experimental- und Kontrollgruppen aufgeteilt, um unter kontrollierten Bedingungen die Wirkung des Stimulus auf den erwarteten Outcome zu untersuchen. So lassen sich etwa die Bedingungen von kooperativer Eigengruppenbevorzugung (vgl. Brewer 1999) oder von prosozialem Verhalten bei Kindern (Warneken und Tomasello 2007, 2008) im Labor testen. In verhaltensgenetischen Zwillingsstudien wird sich der Umstand zunutze gemacht, dass eineiige Zwillinge genetisch vollkommen identisch sind, alle Unterschiede sich also Umwelteinflüssen verdanken müssen. Indem in vergleichenden Designs unter anderem die Unterschiede zwischen getrennt und zusammen aufgewachsenen eineiigen Zwillingen oder zwischen Zwillingen, normalen und adoptierten Geschwister untersucht werden, treten die Effekte von Genen, geteilter und nicht geteilter Umwelt zutage (Plomin et al. 2013; Segal 2012). Mit molekulargenetischen und bildgebenden Verfahren können ferner die dahinterliegenden neuronalen und genetischen Korrelate ermittelt werden. Molekulargenetische Studien erlauben es nämlich, vorher mit anderen Methoden ermittelte Variationen mit konkreten Genen in Verbindung bringen. Mit bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (f MRT), mit physiologischen Tests etwa von Erregungszuständen sowie mit anderen neurowissenschaftlichen Methoden können unter kontrollierten Bedingungen körperliche Zustände auch jenseits von Selbstauskünften mit gezielt gesetzten Stimuli in Verbindung gebracht werden (Damasio 2010; Purves et al. 2012). So können Belege dafür geliefert werden, dass mentale Zustände sich physiologisch manifestieren und dass phänotypische Unterschiede auf genetische Ursachen zurückzuführen sind.

Diskussion: Kritische Einwände gegen evolutionäre Anthropologie 117

Mit all diesen Techniken lässt sich in empirischen Theorievergleichen überprüfen, ob psychologische Anpassungen tatsächlich so funktionieren wie theoretisch angenommen. Aus evolutionär-anthropologische Theorien abgeleitete Hypothesen stehen dabei oft klar in Opposition zu alternativen kulturalistischen oder ökonomistischen Theorien.177 Auch Verhaltensvarianz zwischen Individuen und innerhalb eines Individuums sind also Gegenstand evolutionärer Erklärung; und diese sind mit den geschilderten Methoden falsifizierbar sowie auf ihre Leistungsfähigkeit gegenüber alternativen Erklärungen überprüfbar. Simulationen Auch in der künstlichen Umgebung computersimulierter mathematischer Modelle lassen sich evolutionäre Hypothesen testen. In solchen Simulationen werden eine Anzahl von „Agenten“ mit parametrisierten Merkmalen, Entscheidungsheuristiken und/oder Reproduktionsregeln in abstrakten Welten platziert. So kann unter mathematisch exakt bestimmten Bedingungen getestet werden, ob unter klar definierten Konkurrenzsituationen tatsächlich jene Merkmale vorteilhaft sind, von denen man vermutet, dass sie in der realen Welt als adaptiv evolviert sind. Auf diese Weise können zum Beispiel mathematische Modelle kultureller Evolution hergeleitet und getestet werden (Cavalli-Sforza und Feldman 1981; Richerson und Boyd 1985, 2005). So kann mithilfe von Simulationen gezeigt werden, dass sich die konformistische Übernahme von Verhaltensweisen als adaptiv erweist, solange sich die Umwelt nicht allzu stark ändert (Henrich und Boyd 1998).178 Die unter Sozialwissenschaftlern bekannteste evolutionstheoretisch fundierte Simulationsstudie resultierte aus einer Zusammenarbeit des Politikwissenschaftlers Robert Axelrod mit dem Evolutionsbiologen William Hamilton. Sie ließen in einem Computerturnier verschiedene Kooperationsstrategien gegeneinander antreten und konnten zeigen, dass Tit-for-Tat die überlegene Strategie ist (Axelrod und Hamilton 1981; Axelrod 1987).179 Mit solchen und ähnlichen Simulationen kann 177 So kann entweder stimmen, dass Menschen stets nach ökonomischer Nutzenmaximierung streben, oder sie treffen Entscheidungen auf Basis domänenspezifischer Heuristiken. Kinder können entweder passiv sozialisiert und so kulturell determiniert werden, oder es zeigt sich, dass sie in unterschiedlichen Lebensphasen jeweils selektiv empfänglich für bestimmte Informationen sind, sich also nach einem genetisch programmierten Muster aktiv die Welt erschließen. Zur evolutionären Perspektive auf Rationalität siehe S. 476 ff.; zu Sozialisation siehe S. 379 ff. sowie S. 470 ff. 178 Zur konformistischen kulturellen Transmission siehe S. 322 ff. (Theorie) sowie S. 372 ff. (Empirie). 179 Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass Menschen über unterbewusste psychologische Mechanismen für Tit-for-Tat-Strategien verfügen. Siehe dazu S. 240 ff.

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

den evolutionären Entwicklungspfaden und Konsequenzen von Entscheidungsheuristiken nachgegangen. Agentenbasierte Simulationen erfreuen sich auch in den Sozialwissenschaften wachsender Beliebtheit (Joseph et al. 2014; Macy und Willer 2002). Die evolutionär-anthropologische Perspektive ist auch hier von großem Wert, liefert sie doch Informationen (oder anders gewendet: testbare Hypothesen) über sinnvollerweise zu verwendende „Agenten-Parameter“ – also über Prädispositionen und Entscheidungsheuristiken, die das soziale Handeln von Menschen in der realen Welt prägen. Datenquellen Man könnte vermuten, dass Wissenschaften, welche die längst vergangene Naturgeschichte des Menschen untersuchen, unter einem Mangel an empirischem Material leiden. Ganz im Gegenteil basiert die Entwicklung und Überprüfung evolutionär-anthropologischer Theorien jedoch auf einer breiten Palette von Daten (vgl. Buss 2012: 62 ff.). Viele dieser Datenquellen sind schon bei der Vorstellung der Methoden benannt worden; drei sind aber wegen ihrer besonderen Erkenntnisträchtigkeit herauszustellen. Erstens sind dies archäologische und paläoanthropologische Funde aus der ganzen Welt. Knochen, versteinerte Magen- und Darminhalte, aber auch kulturelle Artefakte wie Siedlungsstätten und Höhlenmalereien lassen sich mit der Radiokarbonmethode recht genau datieren und so zueinander und zu anderen Daten in Beziehung setzen. So entsteht ein immer dichter werdendes Bild über die Stammesgeschichte des Menschen (Mayr 2005: 285 ff.). Besonders Schädel und Skelette erlauben es, die evolutionäre Entwicklung der Physiologie – etwa hin zum aufrechten Gang (Harcourt-Smith und Aiello 2004; Hunt 1994) oder zu einem großen Gehirn – zu rekonstruieren. In Verbindung mit Artefaktfunden (Faustkeile, Speerspitzen, Feuerstellen, Kultobjekte) lassen sich zudem Rückschlüsse auf die Evolution von kognitiven Fähigkeiten ziehen (Klein 2000; vgl. Diamond 2006b: 25 ff.; Wilson 2013: 23 ff.). Zweitens kann die Analyse von zeitgenössischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ein „Fenster in die Vergangenheit“ aufstoßen (Miller und Fishkin 1997: 218). Anhand ihrer Lebensweise wird ersichtlich, welchen adaptiven Problemen unsere Spezies in ihrer Stammesgeschichte ausgesetzt war – und wie sie gelöst wurden. Zwar gibt es Zweifel an der Validität dieser Daten, weil auch diese Gesellschaften sich in den letzten Jahrhundertausenden weiterentwickelt haben (vgl. Hampton 2010: 195 ff.; Laland und Brown 2011: 347 ff.). Allerdings eignen sich Daten aus solchen Untersuchungen mindestens dazu, evolutionäre und konkurrie-

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rende Hypothesen über Kulturen hinweg zu testen – und davon ausgehend vor dem Hintergrund anderer Befunde in die Vergangenheit zu extrapolieren. Studien zu Gesellschaften wie den Yanomamö (Chagnon 2013), den !Kung San (Lee 1979) und den Ache (Hill und Kaplan 1988; Hill 2002) sowie einschlägige Metastudien (Boehm 2001) liefern deshalb wichtige Daten für evolutionäre Forschung – und somit auch für diese Studie. Drittens sind Daten aus Feldforschung in westlichen Gesellschaften nützlich. So kann etwa mithilfe von öffentlichen Aufzeichnungen wie den weit in die Vergangenheit zurückreichenden Kirchenbüchern schwedischer, kanadischer und ostfriesischer Populationen untersucht werden, von welchen sozialen Faktoren dort dokumentierte Variablen wie Sterbealter und Nachkommenzahl abhängen (Beise und Voland 2002, 2008; Low 1991; vgl. Voland 2000). Auch andere der üblichen Werkzeuge empirischer Sozialforschung kommen zur Anwendung: Befragungen, Beobachtungen und Inhaltsanalysen von Texten und anderen Quellen (Buss 2012: 63 f.). Sie weisen die für alle Produkte empirischer Forschung üblichen Probleme und Verzerrungen auf – was aber augenscheinlich kein exklusives Problem evolutionärer Forschung ist (vgl. Atteslander und Cromm 2010; Diekmann 2014). Evolutionäre Anthropologie: Ganz normale Wissenschaft Evolutionär-anthropologische Forschung ist keinesfalls schon aus methodischen Gründen dazu verurteilt, „Just-so“-Stories zu erzählen. Ein breites Arsenal an Methoden der Primärforschung und ein großer Fundus an sekundäranalytisch verwertbaren Daten aus anderen Disziplinen ermöglichen es, ihre Theorien solide in empirischen Daten zu gründen. Zwar sind Zweifel an Erhebungsinstrumenten, Analyseverfahren und theore­ tischen Schlüssen natürlich statthaft und gelegentlich auch begründet (vgl. Buller 2006; Laland und Brown 2011; Simpson und Campbell 2005). Der breite Mix von Methoden und Daten erlaubt es aber, Theorien durch konvergierende Befunde aus unterschiedlichen Designs abzusichern. Auch arbeiten die evolutionären Humanwissenschaften genauso hermeneutisch an der Weiterentwicklung ihrer Theorien wie andere Disziplinen. Empirische Daten werden einerseits zur induktiven Theoriebildung herangezogen, andererseits zum Test von bestehenden Erklärungen. Ganz wie in der Politikwissenschaft wird dieser „Dialog zwischen Theorie und Daten“ (Gschwend und Schimmelfennig 2007) moderiert von kontroversen Fachdiskussionen und Peer-Review-Verfahren. Forscher in den Life Sciences sind sich zudem der Notwendigkeit besonderer methodischer Sorgfalt durchaus bewusst, da evolutionäre Theorien menschlichen Verhaltens immer noch einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, nicht nur

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Grundlagen: Zur Metatheorie der politischen Anthropologie

aus wissenschaftlichen Gründen skeptisch betrachtet und abgelehnt zu werden (Simpson und Campbell 2005: 141). Es gibt also keinen Grund, Disziplinen wie Soziobiologie, Evolutionspsychologie und Verhaltensökologie nicht als ganz normale Wissenschaften zu betrachten und zu behandeln: als um die nachvollziehbare Erarbeitung empirisch wahrer Aussagen bemüht – und dabei ebenso seriös wie fehlbar. Die Qualitätsstandards in diesen Disziplinen sind nicht niedriger als anderswo. Natürlich werden dort auch Theorien formuliert, die falsch sein könnten und sich dann auch als falsch herausstellen. Das aber ist doch nichts anderes als der ganz normale Modus, in dem Wissenschaft Fortschritt generiert. Deshalb muss auch im Bereich der Anthropologie gelten: Wenn evolutionäre Erklärungen gegenüber anderen Theorien besonders allgemein, sparsam, konsistent sowie empirisch unterfüttert sind und sich bei der Lösung von realweltlichen Problemen als praxisnützlich herausstellen, spricht nichts dagegen, sie solange als wahr anzunehmen, bis sie widerlegt oder durch noch bessere Theorien ersetzt sind.

2.7 Bilanz: Die Natur des Menschen in evolutionärer Perspektive Sozialwissenschaft ohne anthropologische Prämissen kann es nicht geben. Gerade Politikwissenschaft ist als praktische Wissenschaft darauf angewiesen, ihre Theorien auf realistische Annahmen zur Natur des Menschen zu gründen. Dies gilt für empirische Theorien ebenso wie für normative. Nur wer zutreffende Annahmen über die Struktur der Wirklichkeit trifft, wird Erfolg bei dem Versuch haben, sie zu erklären und mitzugestalten. Es ist deshalb ein unbefriedigender Zustand, dass weite Teile der Sozialwissenschaften an dieser theoriekonstruktiv so wichtigen Stelle auf methodologische Prämissen wie die des Homo oeconomicus sowie des Homo sociologicus zurückgreifen müssen. Theodosius Dobzhansky (1973) überschrieb ein berühmtes Essay mit dem Titel „Nothing in biology makes sense except in the light of evolution“. Weil menschliches Verhalten von biotischen Strukturen realisiert wird, weil Organismus und Gehirn Produkte der biologischen Evolution sind, werden die Regelhaftigkeiten menschlichen Verhaltens nur in evolutionärer Perspektive wirklich begreiflich. Der Schlüssel zum Verständnis sozialen Handelns liegt darin, seinen naturhistorischen Entstehungszusammenhang und seinen evolutionären Anpassungsvorteil freizulegen. Konkret heißt das für sozialwissenschaftliche Handlungstheorie, die Befassung mit den situativen und biographischen, also proximaten Verursachungszusammenhängen sozialen Handelns um die Analyse der evolutionär-funktionalen, also

Bilanz: Die Natur des Menschen in evolutionärer Perspektive 121

ultimaten Ursachen zu ergänzen. Dann aber ist es unplausibel, menschliche Handlungsentscheidungen pauschal als „ökonomisch rational“ oder „kulturell determiniert“ anzusehen. Vielmehr basieren diese auf den evolvierten Funktionsketten des Gehirns und des gesamten Organismus, auf einer Sammlung von evolvierten psychologischen Mechanismen, die als Lösungen für adaptive Problemen entstanden und deshalb von jeweils spezifischen Wahrnehmungsfiltern und Entscheidungsheuristiken geprägt sind. Evolutionär-anthropologische Disziplinen wie Evolutionspsychologie und Soziobiologie stellen robuste Wissensbestände zur Beschaffenheit dieser Mechanismen zur Verfügung und erlauben es so, das Menschenbild der Sozialwissenschaften auf eine empirische Grundlage zu stellen. Gegen eine solche anthropologische Mikrofundierung lassen sich keine prinzipiellen Einwände ins Feld führen. Zwar haben komplexe Phänomene wie Gesellschaften und ihre sozialen Konstruktionen durchaus emergente Eigenschaften, die genuin sozialwissenschaftliche Theorieperspektive nötig machen. Jene aber werden von den Life Sciences auch gar nicht geleugnet. Außerdem müssen Theorien über Emergentes nichtsdestoweniger mit Erkenntnissen über die Funktionslogiken der darunterliegenden Schichten der Wirklichkeit zusammenpassen. Anders als dies in den Sozialwissenschaften oft wahrgenommen wird, basiert evolutionäre Anthropologie auch nicht auf problematischen normativen Prämissen, die solcher theoretischen Integration irgendwie im Weg stünden. Im Gegenteil: Sie bietet die Möglichkeit, sozialwissenschaftliche Theorien in Einklang mit einer der erfolgreichsten Theorien der Neuzeit zu bringen: der Evolutionstheorie – einer kausalen Geschichtstheorie der Conditio humana.

3 Sozialkapital: Eine kritisch-​ anthropologische Theorieanalyse

3.1 Der Fokus: Anthropologische Grundlagen und theoretische Defizite Das Ziel dieser Arbeit ist die handlungstheoretische Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie mithilfe von Wissensbeständen aus den evolutionären Humanwissenschaften. Zu diesem Zweck ist es nötig, Sozialkapitaltheorien auf ihre anthropologischen Prämissen und die mit jenen in Verbindung stehenden theoretischen Aporien und Defiziten hin zu analysieren. Nur so lassen sich die adressierte Problemstruktur präzise erfassen und Ansatzpunkte für deren Lösung ausfindig machen. Als Ausgangspunkt dieser Theorieanalyse bieten sich die drei Klassiker der Sozialkapitaltheorie an: Pierre Bourdieu, James Coleman und Robert Putnam. Weil sie nach wie vor die wichtigsten theoretischen Referenzpunkte der Sozialkapitaldebatte darstellen, sind zuerst ihre Ansätze unter besonderer Berücksichtigung der anthropologischen, methodologischen sowie normativen Grundlagen knapp zu rekonstruieren und zu kritisieren. Darauf aufbauend werden einige der wichtigsten neueren konzeptionellen Beiträge im Hinblick auf relevante Erweiterungen der klassischen Modelle diskutiert. Vor dem Hintergrund dieser Theorielandschaft werden dann die zentralen Kategorien der Sozialkapitalforschung (Netzwerke, Werte und Normen, Vertrauen) und die wichtigsten mit ihnen verbundenen Kausalhypothesen in den Blick genommen. Wie sich zeigen wird, fehlt der Sozialkapitaltheorie eine robuste anthropologische Fundierung. Der mit dem Sozialkapitalkonzept unternommene Versuch einer Verbindung von Akteurs- und Strukturtheorien mündet stattdessen in einer logisch inkonsistenten Kombination von Rational-Choice-Ökonomismus und behavioristischen Sozialisationstheorien. Auf diese „methodologische Zwangsehe“ ist eine Fülle von theoretischen Schwächen zurückzuführen, welche in der So­ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_3

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

zialkapitalforschung zwar wohlbekannt sind, doch nach wie vor als ungelöst gelten. Auch dass nicht einmal klar ist, was Sozialkapital überhaupt genau ist und wie es wirkt, ist letztlich der Tatsache geschuldet, dass die Theorie nicht in einer empirisch-anthropologischen Handlungstheorie wurzelt, sondern in diesen überholten Verhaltensmodellen.

3.2 Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam Pierre Bourdieu und James Coleman gelten gemeinhin als die Begründer der wichtigsten Denktraditionen in der Sozialkapitalforschung (Adam und Rončević 2003: 158; Woolcock 2010: 472).180 Ihre anthropologischen und methodologischen Grundannahmen unterscheiden sich schon deshalb stark, weil sie in ganz verschiedenen ideengeschichtlichen Traditionen standen: Bourdieu hatte einen kulturanthropologisch-strukturalistischen und kritisch-marxistischen Hintergrund; James Coleman arbeitete hingegen eher akteurszentriert, war von der sozialen Tauschtheorie beeinflusst und wendete sich später der Rational-Choice-Theorie zu.181 In dreierlei Hinsicht sind sich die beiden Sozialkapitalkonzeptionen aber auch sehr ähnlich. Erstens gehen beide von derselben Intuition mit langer Tradition in der sozialwissenschaftlichen Theoriegeschichte aus: „Soziale Beziehungen sind für das Verständnis gesellschaftlicher und politischer Phänomene wichtig.“ Dieser Gedanke gehört zu den Insignien der modernen Sozialwissenschaften und findet sich schon bei Klassikern wie Max Weber und Émile Durkheim. Er fand so Eingang sowohl in die akteurszentrierten Mikrotheorien der methodologischen Individualisten („Weberianer“) als auch in die strukturzentrierten Makrotheorien der methodologischen Kollektivisten („Durkheimianer“).182 Zweitens sind Coleman und Bourdieu gleichermaßen auf der Suche nach einem dritten Weg zur Lösung des Mikro-Makro-Problems – also nach einer Ver180 Allerdings werden vereinzelt auch andere Autoren wie etwa Glenn Loury oder Gary Becker als klassisch benannt (vgl. Fine 2010; Portes 1998; Woolcock 2010). Sie finden hier keine gesonderte Berücksichtigung, weil sich Coleman selbst auf Loury und Becker stützt. Vgl. S. 132 ff. 181 Auf Ausführungen zur Ideengeschichte des Sozialkapitalkonzepts wird hier mangels Relevanz für die vorliegende Untersuchung verzichtet. Sie ist aber bestens erschlossen und vielfach dokumentiert (siehe etwa Bhandari und Yasunobu 2009; Farr 2004; Field 2008; Kriesi 2007; Portes 1998; Rogers und Jarema 2015; Westle et al. 2008a; Woolcock 1998). 182 Zur Ideengeschichte von methodologischem Individualismus und Kollektivismus siehe S. 45 ff.

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 125

bindung von Akteurs- und Strukturtheorien (Fine 2010: 205 ff., 2001). Während der methodologische Individualismus das Soziale nur auf wirtschaftliche Tauschbeziehungen rational handelnder Individuen reduziert und der Kollektivismus die Prägung interindividueller Interaktionen durch soziale Strukturen einseitig betont, stellen sowohl Pierre Bourdieu als auch James Coleman – von ganz unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten her kommend – in Aussicht, das ökonomische Paradigma mit der Rolle „des Sozialen“ zu verbinden (Fine 2010: 36 ff., 2007; vgl. Franzen und Freitag 2007a: 8).183 Drittens liegt der Preis für diesen dritten Weg in einer entscheidenden Inkonsistenz, welche die Sozialkapitalforschung bis heute zu ihrem Nachteil prägt und auch auf die Arbeiten deren dritten Klassikers, Robert Putnam, durchschlägt. Letztlich gelingt es weder Bourdieu noch Coleman, die Verhaltensmodelle des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus zu einer überzeugenden Theorie darüber zu verbinden, warum Menschen sich Gemeinschaften und anderen Individuen gegenüber unterstützend verhalten. Gerade darum geht es aber im Kern bei Sozialkapital. Eine empirisch robuste und logisch konsistente handlungstheoretische Mikrofundierung fehlt den klassischen Sozialkapitalkonzepten also. Provokant könnte man also formulieren: „Sozialkapital“ ist nicht mehr als eine leicht verdauliche, soziologisch und anthropologisch unterkomplexe Heuristik (Fine 2010: 158 ff., 185 ff.). Wie sich zeigen wird, ist diese überspitzte Kritik nicht vollständig auszuräumen. Die dafür ursächliche handlungstheoretische Unschärfe ist schon in den klassischen Konzeptionen angelegt.

3.2.1 Pierre Bourdieu: Die Reproduktion von Ungleichheiten Pierre Bourdieu war der erste Autor, der „Sozialkapital“ nicht nur metaphorisch, sondern systematisch benutzte (vgl. Woolcock 2010: 472). Er entfaltete seine Konzeptualisierung in „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“ (Bourdieu 1983), in welchem er das in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) bereits verwendete Kapitalkonzept weiter ausarbeitete (vgl. Westle et al. 2008a: 27). Obwohl dieser kurze Aufsatz nur wie die holzschnittartige Skizze einer später zu explizierenden Theorie wirkt, gilt Bourdieus Sozialkapitalkonzept im Vergleich zu den anderen klassischen Konzeptionen als verhältnismäßig klar umrissen und theoriehaltig (Portes 1998: 3; Field 2008: 20; Fine 2001: 53 ff.). Es wird deutlich, was genau Sozialkapital ist, wie es zustande kommt und wozu es dient. Diese Klarheit lassen viele nachfolgende Konzepte vermissen.

183 Zum Mikro-Makro-Problem siehe grundlegend S. 49 ff.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

Bourdieus Ansatz wird in der Literatur stets pflichtschuldig als ein klassischer genannt, in den folgenden Jahrzehnten aber weder theoretisch elaboriert, noch in nennenswertem Umfang in empirischer Forschung verwendet. Kritiker weisen hingegen darauf hin, dass die Sozialkapitalforschung heute wohl viel weniger theoretische und methodische Probleme hätte, wenn der von Bourdieu vorgezeichnete konzeptionelle Weg weiterverfolgt worden wäre (Cheong et al. 2007; Fine 2010: 89; Portes 1998: 3). Dass dies unterblieb, mag einesteils dem Fakt geschuldet sein, dass Bourdieu eine weitere Ausarbeitung des Konzepts unterließ. Andernteils wird es daran liegen, dass seine „(neo-)marxistische und daher sozialkritische Betrachtungsweise [.] nicht zu einem Zeitgeist [passte], der Sozialkapital gern als Lösung aller Übel moderner Gesellschaften betrachtet“ (Westle et al. 2008a: 27). Bourdieus pessimistische Kernaussage ist nämlich, dass erfolgreiche Menschen ihre herausgehobene Stellung dadurch verteidigen können, dass sie sich in exklusive Unterstützungsbeziehungen mit anderen Privilegierten begeben (Field 2008: 31). Definition und Konzeptualisierung Als (neo-)marxistischem Analytiker in europäischer Denktradition geht es Bourdieu darum, die Reproduktion ökonomischer Ungleichheiten zu erklären und zu kritisieren. Sein Kapitalkonzept erlaubt es ihm nicht nur aufzuzeigen, wie sich Individuen durch soziale Beziehungen und Gruppenzugehörigkeiten (Adel, elitäre Clubs, besonders auch: Familie) komparative Vorteile sichern (Field 2008: 16; Adam und Rončević 2003: 158 f.). Anders als der klassische Marxismus kann es auch abbilden, dass soziale Ungleichheiten sich nicht in der ökonomischen Dimension erschöpfen: Er unterscheidet ökonomisches Kapital (materieller Reichtum), kulturelles Kapital (Besitztümer wie Bücher und Gemälde, Bildung sowie Wissen um Sitten und Gebräuche), symbolisches Kapital (Anerkennung und Prestige) und eben soziales Kapital (Bourdieu 1983; vgl. Bohn und Hahn 2007). Sozialkapital definiert er als … „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190 f.).

Bourdieu begreift Sozialkapital – lesbar auch als „Kreditwürdigkeit“ im weitesten Sinne des Wortes (Bourdieu 1983: 191) – als ein Potential für Individuen, sich über

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 127

soziale Vernetzung und Gruppenmitgliedschaften ökonomische und soziale Vorteile zu verschaffen (Westle et al. 2008a: 25). Diese Konzeption kommt der Alltagsvorstellung von guten sozialen Beziehungen als „Vitamin B“ sehr nahe und verweist auf die instrumentelle Dimension von sozialer Eingebundenheit. Soziale Gruppen sind zur Erreichung individueller Ziele nützliche Beziehungsnetzwerke (Fulkerson und Thompson 2008: 554), Vergemeinschaftung eine institutionalisierte und mithin langfristige Quelle von Sozialkapital: „Die Profite, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben, sind zugleich Grundlage für die Solidarität, die diese Profite ermöglicht. Das bedeutet nicht, daß sie bewußt angestrebt werden – nicht einmal in den Fällen, wo bestimmte Gruppen, z. B. exklusive Clubs, offen darauf ausgerichtet sind, Sozialkapital zu konzentrieren und dadurch den Multiplikatoreffekt voll auszunützen, der sich aus dieser Konzentration ergibt. Aus der Zugehörigkeit zu einer derartigen Gruppe ergeben sich materielle Pro­fite, wie etwa die vielfältigen mit nützlichen Beziehungen verbundenen ‚Gefälligkeiten‘ und symbolische Profite, die z. B. aus der Mitgliedschaft in einer erlesenen und angesehenen Gruppe entstehen.“ (Bourdieu 1983: 192)

In die „Produktion und Reproduktion der dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu materiellen oder symbolischen Profiten verschaffen“ (Bourdieu 1983: 192) muss aber fortwährend Beziehungsarbeit und Institutionalisierungsarbeit investiert werden. Beziehungsarbeit zeigt sich in materiellen oder symbolischen Austauschakten von Gefälligkeiten oder Freundlichkeitsgesten (Portes 1998: 3; Häuberer 2010: 38). In so herbeigeführtem gegenseitigen Kennen und Anerkennen manifestiert sich die implizite Anerkennung von Gruppenzugehörigkeiten, und so wird die Reputation der Einzelnen ebenso (re-)produziert wie die Gruppe (samt ihren Grenzen) selbst (Bourdieu 1983: 192). Institutionalisierungsarbeit fällt vor allem beim Vollzug von Institutionalisierungsriten an. In ihnen wird sich elaborierter Symbolisierungen und Ritualisierungen bedient, die zu kennen ein Individuum als kompetentes Mitglied der Gruppe ausweist. Auch auf diese Weise werden Gruppen verstetigt sowie deren Nutzen privatisiert und vor Ausbeutung durch Dritte geschützt. Bei Beziehungs- und Institutionalisierungsarbeit geht es also darum, die eigene Position in der Sozialstruktur zu signalisieren und zu konstituieren. Institutionalisierte Riten sowie kulturelle Symbole dienen dabei als (ziemlich fälschungssichere) Signale der Zugehörigkeit und der Distinktion (Field 2008: 16).184

184 Zur besonderen Anschlussfähigkeit dieser und vieler weiterer handlungstheoretischer Argumente Bourdieus an die evolutionäre Anthropologie vgl. S. 524 ff.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

Von Sozialkapital profitieren folglich jene, die ohnehin schon privilegiert sind. Denn den mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen verbundenen „Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital“ (Bourdieu 1983: 191) kann sich nur erschließen, wer in der Gruppe anerkannt ist (symbolisches Kapital), deren spezifische Gepflogenheiten routiniert beherrscht (kulturelles Kapital) und beides wiederum mit ökonomischem Kapital aufbauen kann – etwa durch Geschenke, Einladungen oder die Anschaffung von in der Gruppe angesehenen Statussymbolen (Portes 2000: 2). Aus diesen Verknüpfungen der verschiedenen Kapitalformen folgt eine zentrale Pointe von Bourdieus im Folgenden noch genauer zu betrachtenden kritischneomarxistischem Ansatz: Sozialkapital ist vor allem ein Mittel der Mächtigen und Besitzenden, um – letztlich ökonomische – Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen zu reproduzieren. Zwar sind nicht alle Kapitalformen einfach auf ökonomisches Kapital zu reduzieren, weil sie durch spezifische Eigenschaften, Eigendynamiken und Kontexte charakterisiert sind – wie etwa die Sinnzusammenhänge des kulturellen Kapitals oder die emotionale Komponente des symbolischen Kapitals (Bourdieu 1983: 193). Dennoch liegen dahinter stets materielle Interessen und objektive ökonomische Verhältnisse. Die anderen Kapitalformen helfen nur dabei, jene abzusichern und zu euphemisieren (Bourdieu 1983: 184 ff.; siehe auch Portes 1998: 3 f.). Schon anhand dieser Differenzierung des Kapitalbegriffs wird deutlich, dass Bourdieus Sozialkapitalkonzept sowohl eine strukturalistische als auch eine utili­ taristische Dimension hat (Bohn und Hahn 2007). Einesteils wird betont, dass zwischenmenschliche Beziehungen von kulturellen und sozialen Faktoren geprägt sind, die nicht komplett auf die ökonomische Dimension reduzierbar sind (Bourdieu 1983: 196). Als Neomarxist hält Bourdieu andernteils die ökonomische Dimension bei der Analyse sozialer Prozesse für besonders wichtig (vgl. Free 1996). Mehr noch: Im Grunde dienen die anderen Kapitalformen nur dazu, die Verstetigung ökonomischer Ungleichheiten durch Kapitalübertragung kunstvoll zu verschleiern (Bourdieu 1983: 197) – wie etwa bei der Weitergabe kulturellen und symbolischen Kapitals in einer Familie. Die ökonomische Ressourcenkalkulation ist für Bourdieu letztlich die zentrale Kategorie des Sozialen. Theoretischer Hintergrund und anthropologische Annahmen Zwei anthropologische Prämissen lassen sich leicht destillieren. Einerseits wird individuelles Handeln von sozialen Konstruktionen wie Symbolen, Konventionen, Riten und Institutionen beeinflusst. Andererseits sind Menschen fühlende, einander sozial bewertende und von ökonomischen Interessen geleitete Akteure. Wie

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diese Interaktion von kulturellen Mustern und individuellen Rationalitäten von Bourdieu gedacht wird, erschließt sich erst mit einem breiteren Blick auf die dahinterliegende Theorie der Praxis. Es zeigt sich aber, dass beide Aspekte dort nicht in einem restlos schlüssigen handlungstheoretischen Modell verbunden werden. Bourdieus Sozialkapitalkonzept ist Teil des Versuchs, die theoretische Frontstellung zwischen „Ökonomismus“ und „Soziologismus“ aufzubrechen. Er grenzt sich von der seiner Ansicht nach verengten Annahme von Rational-Choice-Theorien ab, nach der sich im Grunde jede soziale Beziehung als ökonomische Tauschbeziehung modellieren lässt (Bourdieu 1983: 185 f.). Aber ebenso scharf kritisiert er die allzu starke analytische Fokussierung auf soziale Konstruktionen, auf Kommunikation und Sprache, so wie sie etwa im symbolischen Interaktionismus zu beobachten ist (Bourdieu 1983: 196). Er sucht stattdessen einen dritten Weg zwischen Ökonomismus und Soziologismus, zwischen Akteurszentrierung und Strukturalismus. Diesen dritten Weg findet Bourdieu in der Habitus-Feld-Theorie (vgl. Bohn und Hahn 2007: 295 ff.).185 Der Habitus steht bei Bourdieu für ein individuelles Dispositionssystem für Wahrnehmen, Denken und Handeln, das seinen Niederschlag in der Gesamtheit von individuellen Fähigkeiten und Gewohnheiten sowie in Haltung, Erscheinungsbild und Stil einer Person findet. Es wird durch Enkulturation und Sozialisation geformt – etwa über Erziehung sowie implizite und explizite Rollenerwartungen, denen Individuen ausgesetzt sind. Soziale Felder sind jene Gesamtheiten institutioneller und sozialer Kontexte, aus denen solche habitusformierenden Erwartungen und Anforderungen entspringen. Das Konzept bildet also ähnliches ab wie die „Sinnprovinzen“ von Alfred Schütz, die „Wertsphären“ von Max Weber sowie die „Rahmen“ von Ervin Goffman – nämlich die sozial konstruierten Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen für individuelles Handeln (Bohn und Hahn 2007: 298). Der argumentative Kern des Vermittlungsversuches zwischen Akteurs- und Strukturtheorien liegt nun in der Wechselbeziehung von Habitus und Feld. Aus ihrer rekursiven Interaktion erwächst die Gerichtetheit und Strukturiertheit sozialer Prozesse: Individuen sehen sich objektiven strukturellen Bedingungen gegenüber, die sie sodann reproduzieren und freilich auch prägen, indem sie versuchen, ihnen subjektiv-praktisch gerecht zu werden. Der Habitus formt sich also entlang des sozialen Feldes – und verstetigt es damit. Habitus und soziales Feld sind also gleichermaßen Ursache und Folge der Historizität sozialer Wirklichkeit, sind „Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte“ (Bourdieu 1985: 69).

185 Zu den Begriffen „Habitus“ und „soziales Feld“ siehe ausführlich die Sammelbände von Shusterman (1999) und Lenger et al. (2013) sowie ferner Fröhlich (1994).

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Dem Habituskonzept liegt unverkennbar die Annahme des Homo sociologicus zugrunde. Es kennt nur kulturelle Prägung, nicht aber eine irgendwie geartete Natur des Menschen. Bourdieu will statt einer substantialistischen Auffassung vom Menschen nur eine „minimale Anthropologie“ zum Ausgangspunkt seiner soziologischen Untersuchungen machen (Bongaerts 2011). Denn auch Anthropologien sind seiner Ansicht nach nichts anderes als soziale Konstruktionen, deren Inhalt sich in erster Linie ihrer Historizität verdankt. Zwar lehnte er den einseitigen Strukturalismus also ab, sein Denken blieb diesem philosophischen Hintergrund aber letztlich gerade im Hinblick auf anthropologische Fragen doch verhaftet (Adam und Rončević 2003: 157). Das dürfte auch damit zu tun haben, dass Bourdieu seine wissenschaftliche Laufbahn in der Kulturanthropologie begonnen hatte, wo die von Claude Lévi-Strauss und Marcel Mauss prominent vertretenen relativistische Auffassungen nicht nur damals zum normalen Betriebswissen gehörten.186 Diese „minimale Anthropologie“ weist aber Brüche und Inkonsistenzen auf. So finden sich immer wieder Verweise darauf, dass es letztlich ökonomische Rationalitäten sind, die menschliches Handeln prägen (Bongaerts 2011; Free 1996). Diese Denkfigur einer irgendwie gearteten „grundlegenden Ökonomie“, in der Sozialkapital letztlich nur eine Ersatzwährung ist, unterminiert sein kulturalistisches Habituskonzept. Sie lässt sich kaum ohne die Annahme einer gerade nicht nur kulturell determinierten, sondern schon a priori vorhandenen ökonomischen Rationalität des Menschen durchhalten – also ohne das Menschenbild des Homo oeconomicus. Auch zitiert Bourdieu Leibnitz mit den Worten, dass wir „in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind“, und räumt ein, dass damit auch so etwas wie „erste und ursprüngliche Dispositionen des Körpers“ einhergehen (Bourdieu 1982: 740). Welchen Einfluss diese nicht näher bestimmten Dispositionen aber auf Habitusformierung, soziale Beziehungen und die Hervorbringung von Sozialkapital haben, wird nicht gründlich theoretisch reflektiert. Es fehlt also eine psychologisch begründete und konsistente Theorie der Kausalmechanismen hinter Sozialisation, Enkulturation und den Antrieben zur Prosozialität. Von einer durchgängigen und konsistenten anthropologischen Fundierung kann deshalb keine Rede sein. Einerseits lehnt Bourdieu substantielle anthropologische Aussagen aus theoretischen Gründen ab, andererseits ist sein Werk durchsetzt von Anklängen an die menschliche Natur und tentativ bleibenden Annahmen über deren Ausgestaltung und Wirkweisen.

186 Vgl. dazu. S. 42 ff.

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 131

Bilanz: Nur auf den ersten Blick eine minimale Anthropologie Bourdieus Sozialkapitalkonzept ist unter den klassischen Ansätzen derjenige, der „am konsequentesten auf der Mikroebene operiert“ (Westle et al. 2008a: 23). Bei ihm ist Sozialkapital eine relationale Ressource für Individuen, sie resultiert aus deren Eingebundenheit in soziale Gruppen – also aus sozialer Vernetzung. Allerdings spielen auch eine ganze Reihe emergenter Gebilde und kulturelle Artefakte eine kausale Rolle: die Gruppen selbst, ihre sozial konstruierten Institutionalisierungen und Symbolisierungen, Regeln und Riten – sowie alle weiteren Elemente sozialer Felder. Zwar sind es nicht diese Gruppen oder sozialen Strukturen selbst, sondern eben die ihnen angehörenden Individuen, die aus Sozialkapital einen direkten instrumentellen Nutzen ziehen. Es ist aber – so der gesellschaftskritische Fluchtpunkt der Argumentation – ein Medium der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Segmenten, ein Werkzeug in den Händen privilegierter sozialer Schichten und Klassen. Der Mensch ist in Bourdieus Sozialkapitalkonzept ein Wesen, das durch die Pflege sozialer Beziehungen komparative Vorteile sucht. Er investiert in den Erhalt dieser Beziehungen, indem er sich – etwa durch kleine Gefälligkeiten und Geschenke – prosozial zeigt sowie den in seiner Bezugsgruppe geltenden Konventionen entsprechend lebt und handelt. Im Zentrum stehen dabei einesteils interindividuelle Anerkennungsverhältnisse (also: sozialer Status) und andernteils die (Re-)Produktion einer auch symbolisch und ritualisiert zum Ausdruck gebrachten Gruppenidentität zur Sicherung von Binnenkohäsion und Abgrenzung nach außen. Pointiert ließe sich sagen, Menschen passten sich aus egoistischen Motiven und als solchen verspürten praktischen Notwendigkeiten heraus unter den Bedingungen der Konkurrenz gesellschaftlicher Gruppen in die eigene Bezugsgruppe und deren Sinnzusammenhänge opportunistisch ein. Die handlungstheoretische Fundierung all dessen ist trotz dieser klar utilitaristischen Komponente durch die Habitus-Feld-Theorie vor allem strukturalistisch ausgerichtet. Untereinander sind diese beiden Elemente aber nur lose verbunden; und die Verweise auf vorkulturelle – also wohl: in der Natur des Menschen liegende – Verhaltensaspekte wie Gefühle und Affekte bleiben heuristisch. Inhaltlich ist das durchaus keine minimale Anthropologie. Minimal ist sie allenfalls im Hinblick auf ihre logische Konsistenz und ihre psychologisch-handlungstheoretische Mikrofundierung. Wie sich zeigen wird, weist dieses praxeologische Mikro-Makro-Modell von allen klassischen Sozialkapitaltheorien dennoch die meisten und am besten ausgearbeiteten Schnittstellen zu Wissensbeständen der evolutionären Humanwissenschaften auf. Die anthropologische Leerstelle hinter dem Habituskonzept bietet zudem einen konkreten Ansatzpunkt für anthropologische Fundierung. Die Inte-

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gration von Bourdieus Sozialkapitaltheorie mit der evolutionären Anthropologie ist also entgegen jeder wissenssoziologischen Intuition ein theoretisch durchaus aussichtsreiches Unterfangen. Mit Blick auf mögliche Rezeption und forschungspraktischen Konsequenzen bleibt es mindestens ambivalent. Denn zwar genießt der theoretische Rahmen in weiten Teilen der Sozialwissenschaften großes Ansehen. Erstens findet das Konzept jedoch in der empirischen Sozialkapitalforschung kaum Anwendung, und zweitens ist gerade in Bourdieu-affinen sozialwissenschaftlichen Milieus die Skepsis gegenüber naturalistischen Ansätzen und zumal Anthropologien besonders ausgeprägt.187

3.2.2 James Coleman: Sozialkapital als Lösung des Trittbrettfahrerproblems Nur wenige Jahre nach Bourdieu und mit oft unterschlagenem, vagen Bezug auf ihn (Coleman 1994: 300; vgl. Portes 1998: 5) entwarf James Coleman seine Konzeption von Sozialkapital. Zuerst geschah das in dem vielzitierten Aufsatz „Social Capital in the Creation of Human Capital“ (Coleman 1988a), danach in „Foundations of Social Theory“ (Coleman 1994), das zu den wichtigsten Werken der Soziologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts zählt. Erst Colemans Verwendung des Sozialkapitalkonzeptes machte es in den englischsprachigen Sozialwissenschaften bekannt (Portes 1998: 6), und bis heute wird seinem Ansatz in der Sozialkapitalforschung große Aufmerksamkeit geschenkt. Mit ihm bereicherte er das damals auf dem Vormarsch befindliche Rational-​ Choice-Konzept nachhaltig um die Vorstellung, dass ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle in soziale Kontexte eingebettet sind. Gleichzeitig aber bereitete er mit seiner im Vergleich zu Bourdieu vagen und heuristisch bleibenden Konzeptualisierung der weiteren konzeptuellen Aufweichung des Begriffs „Sozialkapital“ den Weg. Für die politikwissenschaftliche Befassung mit Sozialkapital im Allgemeinen und diese Studie im Besonderen ist Colemans Konzeption aus zwei Gründen zentral. Erstens ist Sozialkapital für ihn ein wesentlicher Faktor im Zusammenhang mit der (Re-)Produktion von funktionierender Sozialorganisation und kollektivem Handeln. Zweitens schließt der politikwissenschaftlich besonders wichtige Ansatz von Putnam explizit an Colemans sozialtheoretisches Fundament an – und erbt deshalb auch viele schon bei Coleman angelegte Probleme. 187 Das sind auch die Gründe, warum Bourdieus Gesamtwerk hier angesichts der zentralen Ziele dieser Studie nicht annähernd so gründlich analysiert wird, wie das eigentlich wünschenswert und nötig wäre. Siehe vertiefend aber S. 524 ff.

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 133

Definition und Konzeptualisierung Eine klare Definition von Sozialkapital im klassischen Sinne liefert Coleman nicht. Vielmehr streut er immer wieder Hinweise und Annäherungen an das Konzept in seine Texte ein.188 Häufig wird aber die folgende, verhältnismäßig konzise Formulierung als Definition zitiert (vgl. Westle et al. 2008a: 28): „Social capital is defined by its functions. It is not a single entity, but a variety of different entities, with two elements in common: they all consist of some aspect of social structures, and they facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors – within the structure. Like other forms of capital, social capital is productive, making possible the achievement of certain ends that in its absence would not be possible. Like physical capital and human capital, social capital is not completely fungible but may be specific to certain activities. A given form of social capital that is valuable in facilitating certain actions may be useless or even harmful for others. Unlike other forms of capital, social capital inheres in the structure of relations between actors and among actors. It is not lodged either in the actors themselves or in physical implements of production.“ (Coleman 1988a: 98)

Coleman modelliert Sozialkapital grundsätzlich ganz ähnlich wie Bourdieu. Zum einen hat es auch bei ihm relationalen Charakter, ist also eine Ressource, die aus Beziehungen zwischen Akteuren erwächst (Westle et al. 2008a: 28). Zum anderen hat diese Ressource zielerreichende Funktionen für diese Akteure. Das Akteurskonzept in Colemans Sozialtheorie schließt zwar neben natürlichen Personen (individuelle Akteure) auch formale Organisationen wie Firmen oder Institutionen (kollektive Akteure) ein (Scharpf 2000; vgl. Schimank 2010).189 Wenn es konkret um Sozialkapital und seine Funktionen geht, sind jedoch zunächst die Zielverwirklichungspotentiale von Individuen gemeint (Portes 2000: 2). Wie es dazu kommen kann, dass auch Kollektive zu handlungsfähigen Akteuren werden können, ist zwar das zentrale Explanandum in Colemans Sozialkapitalkonzept, erschließt sich in diesem auf handlungstheoretische Mikrofundierung abzielenden Ansatz aber nur über die kausalen Mechanismen auf der Mikroebene der Individuen und der Mesoebene sozialer Netzwerke (Marsden 2005: 12 f.). 188 Siehe dazu Coleman (1988b), wo man das Ringen um eine Definition von Sozialkapital nur als „Herumeiern“ bezeichnen kann. 189 Unter den Akteursbegriff fällt in dieser Konzeptualisierung jede Einheit, auf deren Ebene empirische Phänomene zum Zwecke einer zielführenden Erklärung sinnvollerweise zu reduzieren sind. Folglich können in diesem Ansatz auch Haushalte, Parlamente, Fußballclubs, Clans, Staaten oder eben Individuen die (rationalen) Akteure auf der Mikroebene darstellen (vgl. Braun und Voss 2014: 72).

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

Sozialkapital bezeichnet bei Coleman kein konkretes Phänomen, sondern ein funktionales Potential. In einem Fall ist Sozialkapital etwa mit Familiennetzwerken und der Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften verbunden, in einem anderen Kontext mag es hingegen ganz andere Formen annehmen.190 Fünf Aspekte von sozialen Netzwerken sind dabei stets relevant (Coleman 1988a: 102 ff., 1994: 306 ff.). Erstens verbreiten sich über Beziehungsnetzwerke Informationen. Dies können schlicht individuell nützliche Sachinformationen sein, etwa über Stellenausschreibungen und deren Hintergründe. In sozialen Netzwerken verbreitet sich aber auch Klatsch und Tratsch über das Ansehen von Personen; und die Antizipation dieses Umstandes setzt Anreize für das Unterlassen prestigeschädigender Handlungen (Coleman 1994: 286), fördert also prosoziales Verhalten. Zweitens wird in sozialen Netzwerken Erwartungssicherheit dadurch gestiftet, dass Normen als gemeinhin akzeptiert gelten und aufgrund von effektiven Sanktionen auch eingehalten werden. Drittens können vor allem ranghöhere Individuen von hierarchischen Beziehungen profitieren. Viertens können Organisationen wie Firmen und Freiwilligenorganisationen nützliche Ressourcen zur Verfügung stellen und zu diesem Zwecke auch neu gegründet werden. Fünftens sorgt ein Amalgam aus gegenseitigen Erwartungen, Verpflichtungen und Vertrauenswürdigkeit dafür, dass Akteure aus Beziehungen Vorteile ziehen können. In konkreten Situationen hängt die Verfügbarkeit von Sozialkapital freilich oft von mehreren dieser Aspekte ab, wie etwa im Fall eines Kongressabgeordneten, der eine Mehrheit für ein Gesetz organisieren will und dafür die Stimmen von Abgeordneten braucht, die ihm einen Gefallen schulden (Coleman 1988a: 102): Erstens hängt die Menge des verfügbaren Sozialkapitals schlicht davon ab, von wie vielen Abgeordneten er solche „uneingelösten Schuldscheine“ hält; zweitens von der spezifischen Vertrauenswürdigkeit dieser Abgeordneten; drittens von der „allgemeinen Vertrauenswürdigkeit“ (Kriesi 2007: 26) des sozialen Umfelds. Beide Arten von Vertrauenswürdigkeit sind wiederum durch die Verbreitung von Reziprozitätsnormen und die mit ihrer Verletzung verbundenen Kosten bedingt. Einesteils hängt die handlungsleitende Geltung solcher Normen von der Glaubwürdigkeit des dahinterstehenden Sanktionspotentials ab. Andernteils kann der Verstoß gegen eine geltende Kooperationsnorm zu Ansehensverlust und geringeren Aussichten auf künftige Hilfeleistungen führen; und Informationen dar-

190 Den Nutzen von Sozialkapital demonstrierte Coleman erstmals an der Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruchs von der Belastbarkeit der familiären Bindungen des Kindes (allein vs. gemeinsam erziehende Eltern) sowie der Vernetzung der Familie in (insbesondere: religiöse) Gemeinschaften. Er konnte zeigen, dass eine bessere soziale Einbindung die Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruches senkt (Coleman 1988a, 1988b), dass die Kinder also offenbar von sozialen Beziehungen profitieren.

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 135

über verbreiten sich potentiell in einem sozialen Netzwerk weit über die Beteiligten hinaus. Das geschieht umso zuverlässiger, je geschlossener die soziale Struktur ist, je dichter und konsistenter also die Vernetzungsstrukturen unter den Akteuren sind (Coleman 1988a: 105 ff.). Die Antizipation dieser sozialen Folgekosten von Normverstößen ist die Wurzel von sozialer Kontrolle. In ihr sieht Coleman einen der wichtigsten positiven Effekte von Sozialkapital (Portes 2000: 2 f.). Hier tritt der entscheidende Unterschied zu Bourdieus Konzept zutage: Während es jenem vor allem um die theoretische Modellierung der Reproduktion sozialer Ungleichheiten geht, will Coleman die kausale Mechanik der Hervorbringung von Erwartungssicherheit und kollektivem Handeln ergründen. Er zeigt auf, wie diese als Netzwerkeffekte aus dem strukturell interdependenten Handeln einzelner Akteure emergieren, dann ihrerseits wieder auf das Akteurshandeln rückwirken und so rekursiv zur Reproduktion von Sozialkapital beitragen. Der Clou liegt dann darin, dass die positiven Effekte dieses selbstverstärkenden Prozesses nicht nur den unmittelbar beteiligten Individuen zugutekommen, sondern dem gesamten Netzwerk. Anders als Bourdieu schreibt Coleman Sozialkapital nämlich Aspekte eines öffentlichen Gutes zu (Coleman 1988a: 116 ff.). Normen und soziale Kontrolle machen es unwahrscheinlicher, dass Trittbrettfahrer die Kooperationsbereitschaft in einem Netzwerk ausnutzen können (Coleman 1988a: 104 f.). Von diesem positiven Effekt profitieren dann auch solche Mitglieder des Netzwerkes, die selbst nichts zur In-Geltung-Haltung der Normen beigetragen haben. Als Nebenprodukt der Prozesse auf der Mikroebene entsteht so ein Gut, von dem ganze Kollektive bzw. Kollektivakteure profitieren können. Sozialkapital kann auf diese Weise helfen, die Dilemmata kollektiven Handelns zu überwinden.191 Zwar entsteht im Zuge dessen ein Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung, weil nun die wirksame Sanktionierung von Normverstößen ihrerseits ein öffentliches Gut darstellt. Zur verlässlichen Auslösung von Sanktionsmechanismen kann einesteils wiederum soziale Kontrolle beitragen. Andernteils kann solches Sanktionieren – ebenso

191 Ein Trittbrettfahrer (auch: Schwarzfahrer) ist ein Individuum, das von den Kooperationsgewinnen einer Gruppe profitiert, ohne selbst einen kooperativen Beitrag zu leisten. Das Trittbrettfahrerproblem stellt sich im Zusammenhang mit öffentlichen Gütern (Bsp.: Umweltschutz, öffentliche Sicherheit) und Allmendegütern (Sauberkeit in Parks, Weidegründe), von deren Nutzung niemand effektiv ausgeschlossen werden kann. Es bieten sich in solchen Situationen Anreize für Akteure, ihren Beitrag (umweltschonender Lebensstil, Steuern zahlen, den eigenen Müll wegräumen, …) nicht zu leisten, das Gut aber zu konsumieren. Es kommt dann bei öffentlichen Gütern zu einem Bereitstellungsproblem, weil die Ressourcen zur Reproduktion des Gutes knapp werden können. Allmendegütern droht die „tragedy of the commons“, die Verödung durch Übernutzung. Die Szenarien gehören zu den klassischen Dilemmata kollektiven Handelns (Hardin 1968; Nowak 2006; Olson 1968; Ostrom 1999).

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wie regelkonformes Handeln selbst – von intrinsischen Motivationen geleitet sein, die ihrerseits das Ergebnis von Prozessen der Norminternalisierung sind (Coleman 1994: 271 ff.; vgl. Elster 2003). Während die Verstetigung von Sozialkapital als autokatalytischer Prozess dergestalt plausibel modelliert ist, kann Coleman seine ursprüngliche Verursachung nur unbefriedigend erklären. Viele Formen von Sozialkapital – etwa freiwilliges Helfen von Eltern in Schulen oder soziale Kontrolle in Familien oder Nachbarschaften – haben positive Konsequenzen für die gesamte umbettende soziale Struktur. Folglich können jene Individuen, welche mit ihrem prosozialen Handeln in die Bildung sozialen Kapitals investieren, die daraus erwachsenden positiven Effekte nicht privatisieren. Ausgehend von Colemans im Folgenden näher zu betrachtenden Annahme egoistisch handelnder Akteure ist dann nicht einleuchtend, warum es überhaupt zu Sozialkapitalbildung kommt, wenn den Handelnden der komparative Nutzen ihres Tuns ganz oder teilweise entgeht. Dieses Theorieproblem wird auch nicht aus der Welt geschafft, wenn man solches gemeinsinnige Handeln etwa mit Blick auf indirekte Effekte selbst als rational auffasst. Es wird im Gegenteil noch virulenter, denn dann leitet sich aus der Annahme rationaler Akteure die Unwahrscheinlichkeit kollektiven Handelns aufgrund von Trittbrettfahrer- und Kollektivgutproblemen ebenso ab wie die Überwindung dieser Dilemmata. Coleman löst dieses Problem, indem er es umgeht: Sozialkapital als öffentliches Gut und Eigenschaft von Kollektiven entsteht bei ihm nur als ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt von bilateralen Interaktionen rationaler Akteure auf der Mikroebene, die in soziale Netzwerke eingebunden und deshalb interdependent sind (Coleman 1988a: 118; vgl. Field 2008: 28). Um die Struktur dieses so nur notdürftig überdeckten handlungstheoretischen Problems zu durchdringen, ist es notwendig, den theoretischen Kontext dieser Argumentation und dessen grundlegende Prämissen kritisch in den Blick zu nehmen. Theoretischer Hintergrund und anthropologische Prämissen Colemans Sozialkapital-Konzeption ist wie die Bourdieusche Teil eines hinsichtlich der Fortentwicklung der Sozialwissenschaften ambitionierten theoretischen Gesamtprojekts. Auch er beklagt die in den Sozialwissenschaften vorherrschende Dualität zwischen ökonomischen Theorien rationaler Wahlhandlung einerseits und dem klassisch soziologischen Ansatz andererseits, in dem die explanatorische Rolle von kulturellen Normen und Sozialisation im Vordergrund steht (Coleman 1988a: 95 ff.). Coleman betont unter Rekurs auf Loury (1977, 1987) und besonders Granovetter (1973, 1985) die Einbettung individuellen Handelns in soziale Zusam-

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menhänge – und gründet auf diese Einsicht einen eigenen Versuch, einen dritten Weg zwischen reinen Akteurs- und Strukturtheorien zu finden. Das Ergebnis ist sein sogenanntes Makro-Mikro-Makro-Modell, eines der wenigen expliziten Modelle zur Überwindung dieses sozialwissenschaftlichen Mikro-Makro-Problems. Dieses landläufig als „Coleman-Badewanne“ bezeichnete Theorem unterstellt einen rekursiven Zusammenhang zwischen sozialer Makround Mikroebene. Es verortet kausale Prozesse dabei aber konsequent auf der Individualebene und modelliert soziale Makrostrukturen als Aggregationen von Systemen individuellen sozialen Handelns (Field 2008: 24; Marsden 2005: 12 f.). Daraus folgt, dass theoretische Argumentationen zu Zusammenhängen von Makrophänomenen (wie z. B. Modernisierung und Demokratie) stets überprüfbare Aussagen über die kausalen Mechanismen auf der Mikroebene – also eine präzise Handlungstheorie – enthalten müssen (Coleman 1994; Esser 1999a; vgl. BergSchlosser und Stammen 2003: 23).192 Welche Handlungstheorie das sein sollte, ist für Coleman ganz klar: „My aim is […] to import the economists’ principle of rational action for use in the analysis of social systems proper, including but not limited to economic systems, and to do so without discarding social organization in the process“ (Coleman 1988a: 97).

Colemans anthropologische Prämisse ist mithin schnell bestimmt: Er legt seiner Theorie explizit die Annahme des Homo oeconomicus zugrunde und unterstellt damit Akteuren, ihre Handlungsentscheidungen intentional, bewusst, vernunftgeleitet und zielgerichtet mit Blick auf die Mehrung des eigenen wirtschaftlichen Nutzens zu treffen.193 Coleman gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Köpfe hinter der Verbreitung dieses neoklassischen ökonomischen Rational-​ Choice-Paradigmas in den Sozialwissenschaften (vgl. Field 2008: 23). So wie Bourdieu auf seinem „dritten Weg“ letztlich doch seiner strukturalistischen Provenienz verhaftet blieb, findet das integrative Potential des Colemanschen Ansat192 Zum Mikro-Makro-Problem und seinen Schnittstellen zur methodologischen und ontologischen Dimension des Anthropologischen siehe S. 49 ff. 193 Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Rational-Choice-Prämissen nicht als psychologische Postulate missverstanden werden sollten, sondern vielmehr als sparsame und deshalb forschungspraktisch leicht handhabbare Annahmen fungieren, welche die formale Modellbildung sowie die Ableitung überprüfbarer Hypothesen erleichtern (Schimank 2010; vgl. Beyme 2006: 144 ff.). Dem ist schon so, nur lassen sich solche methodologischen Setzungen nicht vollständig von empirischen Fragen trennen. Das wird spätestens dann zum Problem, wenn auf Basis von Theorien politische Handlungsanweisungen formuliert werden. Deshalb sollen die methodologischen Prämissen Colemans hier als das behandelt werden, was sie de facto (auch) sind: Annahmen zur Natur des Menschen. Siehe dazu auch S. 45 f. und S. 48 ff.

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zes seine Grenzen in der Annahme des ökonomischen Nutzenmaximierungsstrebens rationaler Akteure. In Colemans empirischer und theoretischer Forschung standen aber ausge­ rechnet Phänomene wie Sozialisation und Norminternalisierung im Zentrum, die gerade nicht primäre Bestandteile des Rational-Choice-Paradigmas sind. In empirischen Studien befasste er sich mit der kognitiven Entwicklung und dem Aufwachsen von Kindern;194 und in seiner Sozialtheorie kommt Familie als primärer Sozialisationsinstanz und Religionsgemeinschaft als Hort von Normen und Wertvorstellungen eine herausgehobene Rolle zu. Im gesellschaftlichen Bedeutungsverlust solcher „primordialen“ (also: ursprünglichen) gegenüber „konstruierten“ (also: künstlich erschaffenen) Formen sozialer Organisation sah Coleman einen wichtigen Grund für die Erosion sozialer Normen in modernen Gesellschaften (Coleman 1993).195 Auch im Zusammenhang mit Sozialkapital weist Coleman darauf hin, dass Internalisierungsprozesse neben sozialer Kontrolle und glaubhaftem Sanktionspotential einen zentralen Beitrag dafür leisten, dass Normen in Geltung bleiben (Coleman 1994: 271 ff.; vgl. Elster 2003). Wurde eine Norm einmal internalisiert, wird sie sodann aus einer intrinsischen Motivation heraus befolgt und gegenüber anderen durchgesetzt. Coleman räumt unumwunden ein, dass die Modellierung von Prozessen der Norminternalisierung im Rahmen einer Rational-Choice-Theorie besonders heikel ist (Coleman 1994: 292 ff.). Schließlich erfüllt der Internalisierungsprozess selbst (etwa im Zuge familiärer Primärsozialisation) das Kriterium der rationalen Nutzenmaximierung nicht. Und auch prosoziales und mithin per Definition gerade nicht ökonomisch rationales Handeln auf Basis intrinsischer Motivationen zur Befolgung internalisierter Normen setzt die Theorie unter Stress. Dieses Problem kann Coleman nicht im Sinne einer robusten handlungstheoretischen Mikrofundierung lösen: Überprüfbare Aussagen über konkrete psychologische Vorgänge der Norminternalisierung sind kaum zu finden. Um die Empirie der umfassenden menschlichen Prosozialität erklären zu können, verlässt er den Boden formaler Modellbildung teilweise sogar ganz. So postuliert er mit Blick auf die sich in zivilgesellschaftlichem und militärischen Freiwilligendienst sowie anonymen Spenden zeigende altruistische Opferbereitschaft einen „starken Drang“ und „Eifer“, eine dezidiert nicht-rationale Triebkraft (Coleman 1994: 273 ff.; vgl. Portes 1998: 8). 194 Wie im letzten Abschnitt geschildert, entfaltete er sein Sozialkapitalkonzept erstmals im Kontext der Erforschung der Erfolgsbedingungen schulischer Ausbildung (Coleman 1988b). 195 Das brachte ihm den Ruf eines Erzkonservativen ein, ist aber wohl vor allem ein Rekurs auf Tönnies’ und Durkheims kritische Gedanken zu den Quellen von sozialer Kohäsion im Übergang von traditionellen Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften (Field 2008: 29 ff.). Vgl. dazu auch die Fußnoten 598 (S. 433) und 628 (S. 447).

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Colemans Sozialkapitalkonzept baut also auf einer handlungstheoretischen Inkonsistenz auf: Einesteils liegt seiner Sozialtheorie die Prämisse des Homo oeco­ nomicus zugrunde; und Coleman hat in einigen formalen Modellen belegt, dass es ihm ernst mit solcherart realisierter konsequenter Mikrofundierung ist (Braun und Voss 2014). Andernteils braucht er zur Erklärung des sich real Ereignenden immer wieder Verweise auf nicht näher spezifizierte Prozesse der Sozialisation und Norminternalisierung, die ihrerseits eine nebulös bleibende anthropologische Dimension haben, jedenfalls aber auf die Annahme des Homo sociologicus rekurrieren. Und weil selbst mithilfe dieser beiden Annahmen das Wesentliche an sozialem Handeln nicht vollständig greifbar wird, kommt er auch um erratisch wirkende Hinweise auf in der Natur des Menschen liegende prosoziale Triebkräfte nicht herum. Diese Problemstruktur ähnelt der bei Bourdieu identifizierten sehr. Erklärlich werden diese Inkonsistenzen angesichts der Tatsache, dass Colemans intellektuelle Wurzeln in der soziologischen Tauschtheorie liegen (Coleman 1988a: 98, 1994: 37, 543).196 Nach deren Scheitern wendete er sich der RationalChoice-Theorie zu, ohne sich aber ganz von dem behavioristischen Menschenbild der Tauschtheorie zu lösen (Beyme 2006: 143; vgl. Fine 2010: 40).197 Dass Konzepte wie „Rationalität“ und „Norminternalisierung“ nicht von anthropologischen Fragen losgelöst betrachtet werden können, war Coleman also dem Grunde nach klar. Eine konsistente handlungstheoretische Antwort auf diese Herausforderung konnte er aber nicht anbieten. Auch und gerade im Zusammenhang mit dem Sozialkapitalkonzept wird deutlich, dass das behavioristische Artefakt der Norminternalisierung bei Coleman nicht schlüssig mit der Prämisse bewusster Rationalität verbunden ist. Es wird darauf hier noch des Öfteren zurückzukommen sein. Bilanz: Nur auf den ersten Blick rationale Akteure Sozialkapital bildet einen zentralen argumentativen Baustein in Colemans Sozial­ theorie. Nur mit dem Rekurs auf Sozialkapital und seine positiven Netzwerkef­ fekten lässt sich in einer Rational-Choice-Theorie die allenthalben empirisch zu beobachtende weitreichende Kooperativität auch in modernen Gesellschaften überhaupt erklären (vgl. Field 2008: 24 f.): Weil Akteure Nachteile durch Sanktionen, den Verlust der Vertrauenswürdigkeit oder die Beschädigung des sozialen 196 Siehe hierzu S. 161 f. 197 Vgl. zur intellektuellen Biographie von Coleman auch Swedberg (1990). Dort wird auch deutlich, dass insbesondere Homans’ Tauschtheorie für die Entwicklung der Colemanschen Rational-Choice-Soziologie wichtig war. Zur Rolle der Handlungstheorie von Homans in der Sozialkapitaltheorie vgl. auch S. 161 f.

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Prestiges befürchten, verhalten sie sich prosozial und regelkonform. Alle funktionalen Aspekte sozialer Netzwerkstrukturen, die auf diese Weise Individuen bei zielverwirklichendem Handeln nützen, können für Coleman Sozialkapital sein. Sozialkapital kann aber als unbeabsichtigter Nebeneffekt auch zu einem öffentlichen Gut werden, wenn nämlich Sanktionsinstitutionen und soziale Kontrolle effektiv dazu beitragen, kollektives Handeln zu ermöglichen. Sozialkapital ist bei Coleman also eher eine Summenformel für „nützliche Formen der Sozialorganisation“ als eine klar identifizierbare Variable (Marsden 2005: 15). Das Konzept fungiert bei Coleman als analytisches Bindeglied zwischen individuellem Handeln und der Hervorbringung sozialer Makrophänomene. Im Grunde ist Sozialkapital das theoretische Werkzeug, mit dem Coleman plausibel zu machen versucht, wie aus den Beziehungen zwischen egoistischen Individuen soziale Kontrolle, Ordnung und letztlich kollektive Handlungsfähigkeit entstehen – wie also soziale Strukturen aus interdependenten Akteursinteraktionen in Netzwerken emergieren und dann ihrerseits soziales Handeln strukturieren können (Kriesi 2007: 42). Der methodologische Individualist Coleman nimmt so eine streng reduktionistische Perspektive auf soziale Mikro-Makro-Interaktionen ein: Die kausale Wirkung gesellschaftlicher Strukturen sind für ihn auf Mikrophänomene rückführbar. Seine handlungstheoretische Mikrofundierung findet dieser methodologische Reduktionismus in der seiner gesamten Sozialtheorie zugrundeliegenden Rational-Choice-Theorie, die er de facto wie eine anthropologische Theorie behandelt. Seine Konzeptualisierung von Sozialkapital ist jedoch nur auf den ersten Blick im Einklang mit der Prämisse des Homo oeconomicus (Field 2008: 28 f.). Tatsächlich führt Coleman mit dem Konzept der Norminternalisierung gleichsam durch die Hintertür eine zweite anthropologische Prämisse ein. Er braucht diesen Rekurs auf den Homo sociologicus, um die kausale Wirkung von sozialen Strukturen besser erklären zu können, legt aber nicht präzise dar, in welchem Verhältnis beide Prämissen zueinander stehen. Sie werden zudem flankiert von ad hoc in Stellung gebrachten Bezügen auf tiefliegende menschliche Handlungsmotivationen. Letztlich bleibt deshalb unklar, ob Akteurshandeln das Ergebnis eines rationalen Kalküls ist, auf Norminternalisierung und Sozialisation zurückgeht oder einer irgendwie anders gelagerten intrinsischen Motivation geschuldet ist. Auch Coleman gelingt der dritte Weg zwischen Akteurs- und Strukturtheorien also nur unvollständig. Der Versuch einer Integration von Mikro- und Makroansätzen mündet – wie bei Bourdieu – in theoretischen Inkonsistenzen bei der Modellierung menschlichen Handelns. Die Folgen dieser inkonsistenten handlungstheoretischen Fundierung zeigen sich prominent in den widersprüchlichen Argumentationen zu Sozialkapital als Kollektivgut: Einerseits sollen rationale Akteure die Ursache der Dilemmata kol-

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lektiven Handelns sein, weil ihre Interaktionen – ceteris paribus – stets Trittbrettfahrerprobleme mit sich bringen. Andererseits emergiert mit Sozialkapital aus genau diesen interdependenten Interaktionen das Mittel zur Überwindung dieser Dilemmata. Kollektiven Nutzen von Sozialkapital als mehr oder weniger zufälliges Nebenprodukt von egoistischem Handeln anzusehen, löst dieses Theorieproblem nicht befriedigend. Es wird wohl auch mit diesen Schwierigkeiten zusammenhängen, dass die Definition von Sozialkapital bei Coleman unscharf und funktionalistisch bleibt.198 Aufgrund dieser konzeptuellen Unschärfe lassen sich eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher und teilweise gar gegenläufiger Prozesse als Sozialkapital behandeln. Weil Sozialkapital per Definition nur sein kann, was zielerreichende Funktionen für Individuen und Kollektive erfüllt, ist diese Konzeptualisierung ferner anfällig für normative Verzerrungen. Coleman verwischt zudem die für Bourdieu noch wichtige Trennung zwischen den Zielerreichungsressourcen selbst und der Möglichkeit, zu diesen Ressourcen durch Mitgliedschaft in sozialen Strukturen Zugang zu erlangen (Portes 1998: 5). Unterm Strich bleibt unklar, was mit der Summenformel „Sozialkapital“ eigentlich genau gemeint ist und wie es in der Wirklichkeit funktioniert. Bei Coleman erfährt Sozialkapital ferner eine folgenreiche normative Aufladung als etwas für soziale Ordnung Nützliches und folglich „Gutes“.199 Vor dem Hintergrund einer insgesamt pessimistischen Gegenwartsdiagnose erscheint Sozialkapital bei ihm als eine Antwort auf das Problem der Gefährdung gesellschaftlichen Zusammenhalts in modernen Gesellschaften aufgrund des schrumpfenden Einflusses primordialer sozialer Strukturen wie Kirchen und Familien (Häuberer 2010: 48 f; Field 2008: 31 f.). Schließlich verschiebt er die Aufmerksamkeit von der bei Bourdieu noch im Fokus stehenden Mikroebene hin zur Meso- und Makroebene sozialer Wirklichkeit (Gruppen, Organisationen und Gesellschaften), die bei Putnam dann ganz ins Zentrum rückt (Adam und Rončević 2003: 159). Hervorzuheben ist aber, dass Coleman mit seinem reduktionistischen Forschungsansatz, der das Bestehen emergenter Figurationen zwar zugesteht, bei allen kausalen Argumentationen aber nach einer durchgängigen handlungstheoretischen Mikrofundierung trachtet, allen wesentlichen wissenschaftstheoretischen Anforderungen genügt, die auch für das hier verfolgte Projekt als sinnvoll anzusehen sind.200 Zudem wird sich zeigen, dass Coleman viele Prozesse im 198 Zu den problematischen Aspekten funktionalistischer Definitionen von Sozialkapital siehe S. 184 ff. 199 Allerdings weist er auch auf mögliche negative Konsequenzen von Sozialkapital hin (Coleman 1988a: 98). 200 Siehe hierzu S. 61 ff.

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Zusammenhang mit der Hervorbringung emergenter sozialer Ordnung zutreffend beschrieben hat. Ihm fehlte nur die angemessene Handlungstheorie, um sie ohne theoretische Inkonsistenzen erklären zu können.

3.2.3 Robert Putnam: Die Zivilgesellschaft als Motor der Demokratie Der Politikwissenschaftler Robert D. Putnam entfaltete seine Konzeption von Sozialkapital erstmals in dem einflussreichen Buch „Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy“ (1993) und entwickelte sie in der ebenfalls breit rezipierten Studie „Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Communities“ (2000) weiter. Obwohl Putnams Sozialkapitalkonzept heftiger Kritik ausgesetzt war und ist (vgl. Fine 2010; Portes 2000; Portes und Vickstrom 2015), hat es Unmengen von empirischen Forschungsarbeiten in Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften inspiriert (vgl. Castiglione et al. 2008; Franzen und Freitag 2007b; Svendsen und Svendsen 2009; Woolcock 2010). Sozialkapital in der Putnamschen Lesart ist zu einer etablierten Kategorie der politischen Soziologie geworden, die sich bis heute großer Popularität erfreut, obwohl bisher keine überzeugenden Lösungen für die im Folgenden zu behandelnden konzeptionellen Probleme gefunden wurden (siehe etwa Beyme 2015; Halstead und Deller 2015; Newton 2015).201 Dieses „Putnam-Phänomen“ (Fine 2010: 159) ist mit rein wissenschaftstheoretischen Argumenten kaum plausibel zu machen. Ein Grund dürfte die Suggestivkraft seiner Kernidee sein, dass Sozialkapital zur Lösung von Funktionsproblemen moderner Demokratien beitragen kann. Putnams Fähigkeit, dieses Argument in griffige Formulierungen und anschauliche Bilder zu verpacken, machte das Konzept auch für Journalisten und Politiker interessant.202 „Making Democracy Work“ war eine Verheißung, die Anfang der 1990er Jahre nicht nur in den sozialwissenschaftlichen Departments der mit Demokratie-Export befassten 201 Die Kritik an Putnams Sozialkapitalkonzept ist bereits verschiedentlich aufgearbeitet worden (Field 2008: 41 f.; Fine 2001: 82 – ​96, 2010: 158 – ​170; Häuberer 2010: 58 ff.; Portes 2000; Westle et al. 2008c: 157 ff.). Sie betrifft die theoretische Unterspezifikation des Konzeptes, die mangelnde externe Validität, die Methoden, die Interpretation der Befunde sowie die normativen Vorannahmen. Hier werden nur jene kritischen Argumente genutzt, die dem Fortgang der Analyse dienlich sind. 202 So wurde Putnam von Bill Clinton nach Camp David eingeladen, beriet auch die nachfolgende Bush-Administration und schaffte es in das People Magazine (Woolcock 2010: 474; Portes 1998: 18 f.).

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Großmächte Anklang fand. Und die Metapher des einsamen Bowlers brachte ein sich um die Jahrtausendwende verbreitendes Unbehagen über zunehmende Vereinzelung und Desintegration in der amerikanischen Gesellschaft auf den Punkt. Diese Popularisierung ging jedoch mit der weitgehenden Aufgabe der theoriehaltigen soziologischen Fundierung des Konzepts bei Coleman und Bourdieu einher (Portes und Vickstrom 2011: 473). Überhaupt gilt Putnam als fleißiger Empiriker und paradigmatisch wenig festgelegter theoretischer Generalist. Die Entwicklung formaler Modelle und konsistenter Großtheorien ist seine Sache nicht; immer wieder stellt er stattdessen tentative Bezüge zwischen seinen eigenen Erklärungen und anderen Theorien her. Ihm wird deshalb nicht selten Eklektizismus vorgeworfen (Field 2008: 36; Misztal 2002: 119), also das inkonsistente Argumentieren mit theoretischen Versatzstücken unterschiedlichster Provenienz. Putnams Ansatz dominiert bis heute sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sozialkapital. Auch die Kritiker des Konzepts arbeiten sich vorrangig an ihm ab. Er selbst verwendet die Kategorie zwar ebenfalls weiter, trägt dabei aber zur Lösung der kritisierten Probleme wenig bei (Sander und Putnam 2010; Putnam 2007). Zwar konstatierte er noch um die Jahrtausendwende, dass die „Entwicklung einer theoretisch kohärenten und empirisch zuverlässigen Typologie [der] verschiedenen Formen und Dimensionen [von Sozialkapital] höchste Priorität“ hat (Putnam und Goss 2001: 25). Einige Jahre später nutzt er „Sozialkapital“ aber nur noch als heuristisches Kürzel (‚shorthand‘) für demokratieförderliche zivilgesellschaftliche Netzwerke und die in ihnen geborgenen Reziprozitätsnormen und Vertrauensbeziehungen (Sander und Putnam 2010: 9). Definition und Konzeptualisierung Wie Coleman tastet sich Putnam an seine Definition von Sozialkapital zunächst mit vage bleibenden Bezügen heran. In „Making Democracy Work“ gibt er erst im letzten Drittel des Buches Hinweise darauf, was unter Sozialkapital zu verstehen ist. Der Anschluss an die Colemansche Konzeption ist dabei augenfällig: „Social Capital here refers to features of social organization, such as trust, norms and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions“ (Putnam 1993: 167).

Eine systematische Ausarbeitung sucht man in „Making Democracy Work“ vergebens. Zwar konkretisiert Putnam in „Bowling Alone“ das Konzept in Reaktion auf

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die mannigfache Kritik am ersten Versuch, jedoch wird es auch dort nicht klar definiert, sondern nur durch Verweise grob umrissen: „[The] core idea of social capital theory is that social networks have value. […] Whereas physical capital refers to physical objects and human capital refers to properties of individuals, social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them.“ (Putnam 2000: 18 – ​19)

Putnams Sozialkapital ist eine „wertvolle“ Eigenschaft von sozialen Netzwerken, ist also auch hier ein relationales Phänomen. Wie bei Coleman liegt der Nutzen von Sozialkapital insbesondere in den in solchen sozialen Strukturen bestehenden Vertrauensbeziehungen und Kooperationsnormen. Anders als jener und Bourdieu interessiert sich Putnam aber nicht mehr für den individuellen Nutzwert von Sozialkapital, sondern nur noch für dessen kausalen Effekt auf die politische und ökonomische Performanz von Kollektiven wie Gruppen, Gemeinschaften, Kommunen und Gesellschaften (vgl. Kriesi 2007: 27). Auch sein Ansatz dreht sich also um das Colemansche Kernargument, dass mit Sozialkapital die strukturellen Hindernisse für kollektives Handelns überwunden werden können (Putnam 1993: 169). Bei Putnam rückt der Charakter eines öffentlichen Gutes analytisch endgültig in den Vordergrund. Der direkte individuelle Nutzen von Sozialkapital entfaltet sich überhaupt nur dort voll, wo das umbettende Gemeinwesen einen hohen Bestand an Sozialkapital aufweist (vgl. Putnam 2000: 20). Zum öffentlichen Gut wird Sozialkapital wie bei Coleman wegen und trotz der egoistischen Verhaltensdispositionen der Mitglieder eines Gemeinwesens (Putnam 1993: 170). Auch Putnam kann den theoretischen Widerspruch nicht auflösen, dass in der Interaktion egoistischer Individuen sowohl der Grund für die Dilemmata kollektiven Handelns liegt als auch – sozusagen als zufälliger Nebeneffekt – die Ursache für deren Überwindung.203 „Ein Grund dafür, dass soziale Netzwerke externe Effekte haben können, liegt darin, dass dichte soziale Interaktionen offenbar zur Entstehung robuster Normen einer verallgemeinerten Gegenseitigkeit beitragen können – ich tue das für dich, auch wenn ich keine unmittelbare Gegenleistung erhalte, weil du (oder jemand anders) irgendwann meinen guten Willen erwidern wirst. Mit anderen Worten: Soziale Interaktion hilft bei der Lösung von Dilemmata des kollektiven Handelns – sie ermutigt die Menschen, sich selbst dann vertrauensvoll zu verhalten, wenn sie sich sonst nicht so verhalten würden.“ (Putnam und Goss 2001: 21) 203 Vgl. S. 136 f.

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Wie Coleman weist er darauf hin, dass Sozialkapital in konkreten Kontexten sehr unterschiedlich ausgeformt sein kann, weshalb es von seinen Zwecken und Effekten her verstanden werden muss (Putnam und Goss 2001: 22 f.). Da Putnam aber mit dem Funktionieren moderner Demokratien eine speziellere abhängige Variable hat, kann er das Konzept im Vergleich zu dem abstrakt sozialtheoretisch argumentierenden Coleman jedoch stärker konkretisieren. Er benennt präzise die Arten von Netzwerken, die unter Sozialkapital zu fassen sind (Kriesi 2007: 27): Es sind dies Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements (‚networks of civic engagement‘) wie Vereine und Verbände – also Strukturen des vorpolitischen Raums bzw. der Zivilgesellschaft.204 Die Menge solcher zivilgesellschaftlicher Strukturen, die Anzahl der Mitglieder und der Grad ihres Engagements zeigten an, wie groß der „Vorrat“ an Sozialkapital in einer Gesellschaft ist. Viel Sozialkapital führe dann zu geringeren Kriminalitätsraten, zu weniger Korruption, zu effizienterer Verwaltung und zu besseren Politikergebnissen, kurzum: zu positiven Effekten auf der Aggregatebene (Portes 2000: 3). Die Gründe dafür liegen laut Putnam darin, dass diese Netzwerke als „Schulen der Demokratie“ fungieren (Putnam 2000: 338). „Good government […] is a byproduct of singing groups and soccer clubs“ (Putnam 1993: 176). In solchen zivilgesellschaftlichen Strukturen werden demokratische Verfahren eingeübt und gemeinsinnige Tugenden (‚civic virtues‘) kultiviert. Außerdem tragen positive Kooperationserfahrungen und gegenseitige Verpflichtungen (‚obligations‘) dazu bei, dass sich zunächst spezifische (also an konkrete Individuen gebundene) und später allgemeine Reziprozitätsnormen verstetigen. Dies alles führt zu einem grundlegenden Vertrauen in der Gesellschaft, weil Individuen davon ausgehen können, dass die meisten Mitglieder des Gemeinwesens sich normalerweise gemeinsinnig und normenkonform verhalten. Dieser Zustand der vertrauensvollen und wertgebundenen Bürgerschaftlichkeit ist dann eine Ressource für das gesamte Gemeinwesen, weil sie Erwartungssicherheit und kollektive Handlungsfähigkeit schafft (vgl. Putnam und Goss 2001). Vertrauen kommt in Putnams Sozialkapitalkonzept eine zentrale Rolle als essentielles „Gleitmittel“ gesellschaftlicher Kooperation und Performanz zu (Putnam und Goss 2001: 21; Putnam 1993: 171). Seine Stellung in dessen Theorie ist je-

204 Allerdings weicht er diese Präzisierung später wieder auf, wenn er formuliert, dass „die Sonntagsschule, die Pendler, die im Zug regelmäßig miteinander Karten spielen, der Zimmernachbar im Studentenwohnheim, die Vereine, in denen man Mitglied ist, die Chatgroups im Internet, an denen man sich beteiligt [sowie] das Netzwerk beruflicher Kontakte im Adressbuch“ ebenfalls Sozialkapital sind (Putnam und Goss 2001: 22). Augenscheinlich sind dies aber Formen des außerhalb seines analytischen Fokus liegenden individuellen Sozialkapitals.

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doch nicht ganz eindeutig. In „Making Democracy Work“ ist Vertrauen noch ein Bestandteil von Sozialkapital (Putnam 1993: 170 f.). In späteren Konzeptualisierungen erwächst Vertrauenswürdigkeit (und in der Folge wohl auch Vertrauen) hingegen aus Netzwerken und Normen, ist dann also eine Folge von Sozialkapital, die ihrerseits zu gelingender gesellschaftlicher Kooperation beiträgt. Der dort geschilderte rekursive Wirkungszusammenhang zwischen Sozialkapital und Vertrauen ist dabei erkennbar an Colemans Überlegungen zur sozialen Kontrolle angelehnt: Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements machen das Abweichen von gemeinsinnigen Normen teurer, weil sich in ihnen Informationen über die Vertrauenswürdigkeit von Akteuren ausbreiten. Dadurch entsteht für Defekteure die Gefahr von Reputationsverlust, der sich in zukünftig geringerer Hilfsbereitschaft anderer niederschlagen kann. Von Vertrauen getragene Beziehungsnetzwerke und die in ihnen wirksam werdende soziale Kontrolle tragen wiederum dazu bei, Normen in Geltung zu halten (Putnam 1993: 173 f.; vgl. Kriesi 2007: 28). Die wohl wichtigste konzeptionelle Innovation Putnams ist die Unterscheidung zwischen bindendem (‚bonding‘) und brückenbildendem (‚bridging‘) Sozialkapital.205 Bindendes Sozialkapital findet sich dort, wo gesellschaftliche Gruppen (Ethnien, Parteien, Vereinen, Interessengruppen, Clubs) intern gut vernetzt und nach außen klar abgegrenzt sind. Putnam weist darauf hin, dass solches Sozialkapital nützlich ist, um Identität und Solidarität zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig aber stellt es einen Quell des Organisationsvorteils einiger Gruppen gegenüber anderen beim Erreichen von exklusiven politischen Zielen dar (vgl. Olson 1968).206 Brückenbildendes Sozialkapital hingegen ist inklusiv und verbindet soziale Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, wie etwa im Fall der religiösen Ökumene oder mancher sozialen Bewegungen. Solche im Vergleich zu bindendem Sozialkapital eher losen Verbindungen sorgen dafür, dass nützliche Informationen und innovative Handlungsmöglichkeiten in verschiedenste gesellschaftliche Teilsegmente diffundieren. „Bonding social capital constitutes a kind of sociological superglue, whereas bridging social capital provides a sociological WD-40. Bonding social capital by creating strong in-group loyalty may also create strong out-group antagonism […] and for that reason we might expect negative external effects to be more common with this form of social capital. Nevertheless, under many circumstances both bridging and bonding social capital can have powerful positive social effects.“ (Putnam 2000: 23) 205 Das Konzept geht zurück auf Gittell und Vidal (1998). 206 Putnam will offenkundig mit bindendem Sozialkapital abbilden, was für Bourdieu im Zentrum der Konzeptualisierung von Sozialkapital überhaupt stand und bei Coleman aus dem Fokus geriet.

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Putnam räumt intensiven und emotionalen Beziehungen traditioneller Prägung (‚strong ties‘) innerhalb von Gruppen, etwa zwischen Freunden und in Familien, eine weit weniger wichtige Rolle ein als Coleman. Er betont in Anschluss an Granovetters Studie zur „strength of weak ties“ (1973) insbesondere die Relevanz von loseren sozialen Beziehungen.207 Gerade diese flüchtigen und weniger intensiven Verbindungen würden die wichtige Funktion erbringen, Teile der Gesellschaft miteinander zu vernetzen, die sonst abgeschottet voneinander blieben – und so zu brückenbildendem Sozialkapital werden (Putnam 1993: 175; vgl. Kriesi 2007: 38 ff.). Für Putnam sind es im Gegensatz zu Coleman also gerade die über primordiale Formen der Sozialorganisation hinausgehenden Vernetzungsstrukturen, die in modernen Gesellschaften ein Klima allgemeiner Vertrauenswürdigkeit schaffen können (Field 2008: 34). Der Nutzen von bindendem Sozialkapital liegt im „Zurechtkommen“ (‚getting by‘) einzelner Gruppen, während brückenbildendes Sozialkapital beim „Vorankommen“ (‚getting ahead‘) der Gesellschaft hilft (Putnam 2000: 22 f; vgl. Briggs 1998). Die Unterscheidung „bridging vs. bonding“ ist aber nur ex post möglich, und Putnam macht keine Aussagen darüber, was die Kausalmechanismen hinter der Entstehung solcher Typen von Sozialkapital sind. Der Wert dieser Typologie ist deshalb eher heuristischer als analytischer Natur. Putnam weist darauf hin, dass bestimmten Formen von Sozialkapital (wie etwa das bindende) negative Konsequenzen haben können (Putnam 2000: 350 ff.; Putnam und Goss 2001). Theoretisch ausgearbeitet werden diese Argumentationen aber nicht. Die positive Konnotation von Sozialkapital überwiegt zudem überdeutlich. Ein Grund dafür dürfte sein wohl durchaus auch normativ motivierter Optimismus hinsichtlich der demokratiefördernden Rolle von wertgebundener Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement sein (Misztal 2002: 121; Portes 1998: 1). Putnam ist skeptisch gegenüber Hierarchien sowie der vertikalen Integration von Gesellschaft und schaut mit allzu pauschalem Enthusiasmus auf die zivilgesellschaftliche Sphäre. Anders als etwa Tocqueville versäumt er dabei, die Gefahren von Despotismus, Populismus und Mehrheitstyrannei zu reflektieren (Field 2008: 36 f.; Kriesi 2007: 31).208 Auch das für Demokratien so wichtige 207 Granovetter (1973) hatte darauf hingewiesen, dass sich soziale Beziehungen nicht nur im Hinblick auf Art und Umfang der Reziprozität unterscheiden, sondern auch in der Menge an in sie investierter Zeit, der emotionalen Intensität und der Intimität bzw. Vertrautheit. Während ‚strong ties‘ innerhalb von Familien sowie zwischen Freunden bestehen und transitiven Charakter haben, sind ‚weak ties‘ eher nicht transitiv und überbrücken Löcher zwischen Netzwerken (Granovetter 1995). 208 Auf die demokratiefeindliche Seite des von Putnam in diesem Zusammenhang regelrecht idealisierten Vereinswesens haben neben Tocqueville auch andere sozialwissenschaftliche Klassiker hingewiesen. Max Weber attestierte deutschen Vereinen vor allem Gehor-

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kompetitive Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Gruppen kann Putnam nicht in demokratietheoretisch konstruktiver Weise absorbieren (vgl. Portes und Vickstrom 2015). Vielmehr spürt er in seinen empirischen Studien konsequent den positiven Effekten einer gut vernetzten, gemeinschaftsorientierten und weltanschaulich homogenen Zivilgesellschaft nach (Portes 2014). In „Making Democracy Work“ führt er in detailreicher empirischer Arbeit Performanzunterschiede von italienischen Regionalverwaltungen auf die Verbreitung bürgerschaftlicher Tugenden (‚civic virtues‘) zurück: Ehrlichkeit, vertrauenswürdiges Verhalten etwa im Zusammenhang mit Reziprozität, überhaupt Normenkonformität bzw. Gesetzestreue und schließlich bürgerschaftliches Engagement (Putnam 1993: 109 ff.). Solche soziale Vernetzungen und ein hohes gesellschaftliches Grundvertrauen ermöglichen es, Kollektivgutprobleme zu überwinden und somit gemeinsame politische Ziele besser zu verwirklichen.209 In der Folgestudie „Bowling Alone“ warnt er dann vor Gefahren für die amerikanische Demokratie, die aus einem von ihm umfänglich empirisch belegten Erodieren zivilgesellschaftlicher Tugenden und Beteiligungsformen resultieren können (vgl. Putnam 2000: 287 ff.). Theoretischer Hintergrund und anthropologische Prämissen Putnams Arbeiten sind erkennbar von den Ideen Alexis de Tocquevilles beeinflusst, besonders von dessen Amerika-Studie (Tocqueville 1835/2011). Wie Tocqueville sieht auch Putnam in einer vitalen Zivilgesellschaft eine wichtige Bedingung für das Funktionieren von Demokratie. In aktivem Vereinsleben und mannigfaltigem bürgerschaftlichen Engagement entsteht, so Tocqueville und Putnam, ein Bewusstsein für das Aufeinander-Angewiesen-Sein, verbreiten sich Bürgertugenden und entsteht letztlich die Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. So können staatliche Strukturen entlastet und mithin soziale Kosten gesenkt werden. sam und Untertanentum – nicht ohne freilich auch auf die legitimitätsstiftenden Effekte solcher „Vereinsmeierei“ hinzuweisen (vgl. dazu Westle et al. 2008c: 173 f.). Und Robert Michels (1911/1989) hatte anhand der SPD den Hang von Sozialorganisationen zu oligarchischen Strukturen demonstriert. Es gibt also ganz offensichtlich keine einfache kausale Verbindung von Vereinsstrukturen und demokratischen Einstellungen und Handlungen. 209 Im Falle Italiens führt er die strukturellen Unterschiede zwischen dem relativ performanten Norden und dem strukturschwachen Süden übrigens letztendlich auf langfristige, pfadabhängige, historische Entwicklungen zurück (vgl. Putnam 1993: 63 – ​82, 121 – ​162; siehe auch Westle et al. 2008a: 31 ff.). Der Untertitel von „Making Democracy Work“ lautete „Civic Traditions in Italy“.

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Seine Plädoyers für Bürgertugenden und stärkere Wertbindung rücken Putnam in die Nähe des Kommunitarismus (Etzioni 1995, 2014; Sandel 1995, 1998; Taylor 2016; Walzer 1993, 2006). Putnam ist selbst kein politischer Philosoph, der eine elaborierte Kommunitarismustheorie vorgelegt hätte. Jedoch lassen sich mit seinen Befunden kommunitaristische gegenüber liberalen Positionen stärken. Bei alldem steht er der Moderne nicht so skeptisch gegenüber wie Coleman. Jener hatte vor allem in traditionellen Werten und Sozialstrukturen eine Lösung für das Problem der Erhöhung von sozialen Fliehkräften beim Übergang von traditionellen Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften gesehen.210 „Contemporary social thought has borrowed from the nineteenth-century German sociologist Ferdinand Tönnies the distinction between Gemeinschaft and Gesellschaft […]. This perspective leads readily to the view that […] [m]odernity is the enemy of civility. Quite the contrary, our study suggests.“ (Putnam 1993: 114)

Den Ansatz methodologisch und anthropologisch präzise zu verorten, ist nicht einfach. Putnam greift nicht deduktiv von einer konzisen allgemeinen Theorie aus auf die Wirklichkeit zu; vielmehr verarbeitet er große Mengen empirischer Daten, um sich Erklärungen von den Gegenständen ausgehend induktiv zu erschließen. Deshalb fehlen klar artikulierte Axiome und Auskünfte über grundlegende Theoreme (Häuberer 2010: 58). Seine Sozialkapitaltheorie ist mithin gegenstandsbezogen, eklektizistisch und wenig formalisiert. Einerseits wird er häufig als Neo-Durkheimianer bezeichnet (Kriesi 2007: 32), weil er versucht, Zusammenhänge zwischen Makrovariablen (Sozialkapital und Performanz) herzustellen, ohne eine in allen Teilen schlüssige Mikrotheorie vorzulegen (Portes 2000: 3 ff.). Andererseits wird in zahlreichen Verweisen auf Coleman, Loury, Olson, Axelrod und anderen Rational-Choice- bzw. Spieltheoretiker seine akteurstheoretische Provenienz ebenso deutlich wie in seiner gründlichen Befassung mit der Rolle von rationalen Akteuren in Dilemmata kollektiven Handelns (Field 2008: 36; vgl. Putnam 1993: 163 ff.). Ein methodologischer Kollektivist im engeren Sinne ist Putnam also sicher nicht. Dennoch fehlt seiner Argumentation zu Kausalbeziehungen zwischen Makrovariablen eine konsequente handlungstheoretische Mikrofundierung.211 210 Der Zusammenhang von Wertbindung und sozialer Kohäsion wurde schon von soziologischen Klassikern wie Weber, Durkheim, Simmel und Tönnies behandelt (vgl. die Fußnote 598 auf S. 433). Er wird in der Politikwissenschaft auch unter Pluralismustheoretikern und in der Forschung zur politischen Kultur behandelt. Siehe zur Schnittstelle zwischen Sozial­ kapitaltheorie, Kommunitarismus und anderen Theorien mit weiteren Literaturangaben Kriesi (2007: 28 ff.) und Westle et al. (2008a: 33 f.). 211 Fine (2010: 37 ff.) behauptet, bei Putnam fehle das klare Bekenntnis zum Rational-Choice-

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Ohne Frage sind Menschen für Putnam in irgendeiner Weise rationale Akteure, die ihren eigenen Nutzen zu maximieren versuchen. Es fehlt zwar ein klarer Bezug zum Rational-Choice-Modell; auf ein alternatives Verhaltensmodell wird aber auch nicht rekurriert. Die theoretischen Argumentationen zum Zusammenspiel von Vertrauen, Netzwerken und Reziprozitätsnormen, zur sozialen Kontrolle durch die Vorauswirkung der Verbreitung von sozialen Informationen in Bezug auf Reputation und Vertrauenswürdigkeit sowie zur Rolle von glaubhaften Sanktionsandrohungen sind zudem mit denen von Coleman inhaltlich deckungsgleich. Anders als jener vermeidet Putnam in seinen Hauptwerken dabei – bis auf eine Ausnahme (Putnam 2000: 236) – explizite Bezugnahmen auf Prozesse der Norminternalisierung und Sozialisation, und das, obwohl Sozialkapital bei ihm mit dem Einüben demokratischer Verfahren und der Verinnerlichung von Bürgertugenden kausal eng in Verbindung steht. Die so entstehende Erklärungslücke schließt er aber nicht. Auch er geht demnach offenbar implizit von Norminternalisierungsprozessen aus – und hält mithin die Rational-Choice-Annahme ebenfalls nicht durch. Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass Putnam keines der bei Coleman identifizierten Probleme hinsichtlich der handlungstheoretischen Prämissen löst und die meisten von ihnen schlicht importiert. Weil bei Putnam Aussagen über die kausalen Mechanismen auf der Mikroebene aber oft ganz fehlen, tritt dieser Umstand nur nicht so deutlich zutage wie bei Coleman. Auch hinter der Unterscheidung von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital steht eine anthropologische Inkonsistenz. Eine der Annahmen der dahinterstehenden Theorie starker und schwacher Bindungen ist, dass sich soziale Beziehungen nach ihrer emotionalen Intensität und ihrer Intimität unterscheiden (Granovetter 1973: 1361). Weder wird aber von Granovetter oder Putnam der Widerspruch zum Modell des Homo oeconomicus thematisiert oder gar aufgelöst, noch wird präzis vor Augen geführt, mittels welcher kausaler Mechanismen Emotionalität die Bildung sozialer Netzwerke beeinflusst. Überhaupt bleiben die Ursachen hinter der Verschiedenartigkeit von starken und schwachen Bindungen ebenso opak wie jene zwischen brückenbildendem und bindendem Sozialkapital. Angesichts des großen Stellenwerts, den diese Typologie in der politischen Soziologie erlangt hat, ist es unbefriedigend, dass keine explizite Handlungstheorie zur Hervorbringung der beiden Typen vorliegt. Kurzum: Putnam bricht mit der schon bei Coleman nicht durchgehaltenen Annahme des rationalen Eigennutzmaximierers deutlich, aber unvollständig

Modell, weil er den sich in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts abzeichnenden intellektuellen Mentalitätswandel weg vom Neoliberalismus nicht verpassen wollte.

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(Fine 2010: 47). Er formuliert keine eigenen handlungstheoretischen Prämissen – ganz zu schweigen von einem expliziten Modell der menschlichen Natur und deren Wechselwirkungen mit Gesellschaft. Sein Sozialkapitalkonzept ist deshalb das unter den drei klassischen Ansätzen am wenigsten anthropologisch spezifizierte. Bilanz: Eine funktionalistische Makrotheorie ohne echte Mikrofundierung Putnam stellt in seiner Sozialkapitaltheorie eine kausale Verbindung zwischen Phänomenen auf der sozialen Makroebene her. Sozialkapital in Form von zivilgesellschaftlichen Netzwerken, gemeinsinnigen Normen und generalisiertem Vertrauen ist bei ihm eine Eigenschaft von demokratischen Gemeinwesen. Ein großer Vorrat an solchem Sozialkapital erhöht die politische Performanz des Kollektivs, weil er die Transaktionskosten kollektiven Handelns senkt. Häufig wird kritisiert, dass Putnams Konzeptualisierung es nicht möglich mache, Sozialkapital von seinen Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden. Seine theoretischen Aussagen werden immer wieder als tautologisch zurückgewiesen: „Gelingende Kooperation führt zu gelingender Kooperation“; „Eine aktive Zivilgesellschaft hat zivilgesellschaftliches Handeln zur Folge“ (Misztal 2002: 120 f.; Häuberer 2010: 59 f.). Sie lassen sich auch als Binsenweisheiten lesen: „Es sind jene Gemeinwesen performanter, in deren Zivilgesellschaft Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn verbreitet sind.“ – So auf den Punkt gebracht erscheint Putnams Kernthese banal (Portes 2000: 4). Angelegt ist sie aber durchaus als rekursive Erklärung des autokatalytischen Effektes von verbreiteter Gemeinsinnigkeit. Aussagen über rekursive Kausalität unterscheiden sich von Tautologien und Trivialitäten in der klaren Kenntlichmachung von Ursache-Wirkungszusammenhängen durch präzise Begriffe sowie Aussagen über konkrete Prozessketten und die dabei wirksam werdenden kausalen Mechanismen. So ist die Kernaussage der biologischen Evolutionstheorie („Was funktioniert, setzt sich durch.“) gerade nicht tautologisch oder trivial.212 In ihr werden präzis die Prozesse und Kausalzusammenhänge benannt. Deshalb entpuppen sich vermeintliche Zirkelschlüsse dort als leistungsfähige Erklärungen. In Putnams Sozialkapitaltheorie sind jedoch viele zentrale Konzepte – nicht zuletzt Sozialkapital selbst – nur grob umrissen, und kausale Mechanismen im Zusammenhang mit menschlichem Sozialverhalten im Allgemeinen und Kooperationsentscheidungen im Besonderen bleiben weitgehend im Dunkeln. Zwar ließe sich angesichts der einschlägigen Bezüge sagen, Putnams Konzeptualisierung von Sozialkapital sei weitgehend identisch mit der

212 Vgl. S. 79 ff.

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von Coleman – samt den dort gelegten handlungstheoretischen Grundlagen. Bei Putnam selbst ist aber keine durchgängige Mikrofundierung mehr zu erkennen. Nicht von der Hand zu weisen ist ferner der Vorwurf, Putnams Konzeptualisierung weise grundlegende Verzerrungen auf, die auf implizite normative Prämissen zurückzuführen seien (Portes 2014; Portes und Vickstrom 2015). Immer wieder scheint bei ihm ein kommunitaristisches Sujet auf, wenn er Überlegungen darüber anstellt, welche Arten von sozialen Bindungen und Netzwerken „gut“ und welche „schlecht“ sind. Gut sind solche Netzwerke, die zu sozialer Kohäsion, zu generalisiertem Vertrauen und zu einem breiten Konsens über geltende Normen beitragen – und nur jene sind dann auch Sozialkapital. Wie schon bei Coleman lässt sich Sozialkapital nur von seinen Funktionen her bestimmen, und jene wiederum verdanken sich hier einer bestimmten normativen Vorstellung von Demokratie. Was für Demokratien nützlich ist, würde man aus einer liberalen oder pluralistischen demokratietheoretischen Perspektive jedenfalls anders akzentuieren. Darüber hinaus ist Putnams Theorie nur für Demokratien gültig, obwohl doch politische und wirtschaftliche Performanz ebenso wie soziale Kohäsion keine auf Demokratien beschränkten Phänomene sind. Die Ursachen und Schwächen eines solchen funktionalistischen – also sich von den (unterstellten) Auswirkungen her erschließendenden – Verständnisses von Sozialkapital werden im Fortgang der Argumentation noch eine wichtige Rolle spielen.213 Solcher Funktionalismus deutet nämlich darauf hin, dass eine Erklärung dazu fehlt, worin Wert und Funktion von Sozialkapital ganz allgemein für Individuen sowie für alle Arten von Kollektiven liegen. Festzuhalten bleibt, dass Putnam zu einer allgemeinen politikwissenschaftlichen Theorie des Sozialkapitals solche handlungstheoretischen Bausteine offenbar fehlen. Weil Putnam keine allgemeine Theorie menschlicher Sozialität hat und sich zudem auf deren besondere Erscheinungsformen in westlichen Demokratien beschränkt, muss er sich den berechtigten Vorwurf gefallen lassen, einem theoretischen und methodischen Ethnozentrismus aufzusitzen (Appel et al. 2014: 399; vgl. Arneil 2006; Cheong et al. 2007).214

213 Siehe vor allem S. 184 ff. 214 Zum Ethnozentrismus und Funktionalismus in der Sozialkapitaltheorie siehe auch S. 173 f. sowie S. 184 ff.

Die Klassiker der Sozialkapitaltheorie: Bourdieu, Coleman, Putnam 153

3.2.4 Sozialtheorie ohne Anthropologie: Drei Klassiker, ein Problem Die knappe Rekonstruktion der klassischen Ansätze der Sozialkapitalforschung hat erstaunliche Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die anthropologischen Grundlagen und deren theoriekonstruktive Auswirkungen zutage gefördert.215 Zwar unterscheiden sich die Konzeptualisierungen ohne Frage ganz grundsätzlich (Tronca 2011): Der gesellschaftskritische Neomarxist Bourdieu siedelt Sozialkapital konsequent auf der Mikroebene an und nutzt es zur Erklärung der Beharrlichkeit sozialer Ungleichheiten; der eher konservative Rational-Choice-Soziologe Coleman fokussiert vor allem auf die Mesoebene sozialer Netzwerke und erklärt mit Sozial­ kapital das Emergieren von kollektivem Handeln sowie sozialer Ordnung; der kommunitaristisch inspirierte Politikwissenschaftler Putnam schreibt Sozialkapital ganzen Gemeinwesen zu und unterstellt einen demokratieförderlichen Effekt. Obwohl keiner der Klassiker sein Sozialkapitalkonzept wirklich ausgearbeitet hat, ist dennoch ersichtlich, dass es bei allen drei Autoren letztlich ganz ähnliche explanatorische Zwecke erfüllt: Es fungiert als Chiffre für ein Potential, das in der ausgeprägten menschlichen Prosozialität und Kooperativität begründet liegt. Logisch widerspruchsfreie und empirisch robuste Erklärungen für diese „positive Kooperationshaltung“ (Koob 2007: 291) – also: eine überzeugende Handlungstheorie – bieten aber selbst Coleman und Bourdieu nicht an, und das, obwohl Sozialkapital in ihren ansonsten überaus elaborierten Sozialtheorien eine nicht unwichtige Rolle spielt. Putnam belässt es ohnehin bei spieltheoretischen Anklängen und Verweisen auf Coleman. Was sind die Gründe für diese theoretische Unterspezifikation selbst bei so gründlich argumentierenden Sozialtheoretikern wie Coleman und Bourdieu ? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass beide vorrangig mit sozialwissenschaftlichen Denkwerkzeugen an die Natur des Menschen herantreten. Dabei versuchen sie, der empirischen Beobachtung theoretisch gerecht zu werden, dass sich die Erklärung menschlichen Verhaltens und seiner Konsequenzen weder vollständig auf ökonomische Rationalität noch auf die Einflüsse sozialer Strukturen reduzieren lässt, also weder mit dem Modell des Homo oeconomicus noch mit dem des Homo sociologicus vernünftig erfasst werden kann. Der von beiden unternommene Versuch, diese als unzureichend erkannten Grundannahmen von Akteurs- bzw. Strukturtheorien zu verbinden, führt aber in einige logische Inkonsistenzen und wirft neue Fragen auf. 215 Über die anthropologischen Prämissen und deren Implikationen weit hinausgehende Gegenüberstellungen der drei Theorien sind in einer Reihe einschlägiger Texte nachzulesen (Coradini 2010; Field 2008: 44 ff.; Fine 2001: 97 ff.; Häuberer 2010: 50 ff., 85 f.; Portes 2000; Westle et al. 2008c).

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Coleman entwirft zwar prima facie eine konsistente Rational-Choice-Theorie des Sozialkapitals, reichert sie aber immer wieder mit sozialisationstheoretischen Versatzstücken an, um die empirische Passung der Theorie zu erhöhen. Auch kann er das Paradoxon nicht auflösen, nach dem bewusst-rationale Akteure nicht nur die Verursacher von kollektiven Handlungsdilemmata sind, sondern – eingebettet in soziale Strukturen – gleichzeitig auch deren Überwindung ermöglichen. Wie aus seinem Mikro-Makro-Modell leicht ersichtlich wird, löst er dieses Problem, indem er das Vorhandensein sozialer Strukturen schlicht voraussetzt. Das kaschiert aber nur den Umstand, dass seine Theorie die ursprüngliche Hervorbringung solcher Strukturen nicht schlüssig erklären kann. Dafür nämlich bräuchte es eine dezidiert empirisch-anthropologische Geschichtstheorie. Die handlungstheoretische Fundierung der Colemanschen Sozialtheorie muss sich hingegen auf drei ebenso starke wie problematische Annahmen stützen: Erstens verfügen Menschen (aus welchen Gründen auch immer) über eine stabile Natur, die sie zu egoistischen Nutzenmaximierern macht; zweitens können sie dennoch (in welcher Weise auch immer) durch kulturelle Prägung mit prosozialen Handlungsmotivationen ausgestattet werden; drittens leben sie (ganz so als hätte Kulturgeschichte keine Vorgeschichte) schon immer eingebettet in soziale Makrostrukturen. Bourdieu hat ein ähnliches Problem aus ganz anderen Gründen. Er will den Rational-Choice-Ökonomismus ebenso vermeiden wie einen kulturdeterministischen Strukturalismus. Zwar entwirft er mit der Habitus-Feld-Theorie eine elaborierte Erklärung der Interaktion von Individuen und sozialen Strukturen, aber auch diese kommt ohne die Setzung eines kulturgeschichtlichen Ist-Zustands nicht aus. Bourdieu versucht, substantialistische Annahmen über die menschliche Natur zu vermeiden, weil er als kulturanthropologisch geprägter Soziologe von der Historizität aller Anthropologien ausgeht. Diese Vermeidung gelingt ihm aber nicht; und sie kann ihm auch nicht gelingen, weil seine Unternehmung einer Handlungstheorie bedarf, er also dem Menschen einige grundlegende Dispositionen, Antriebe und Entscheidungsregeln unterstellen muss. Und obwohl für Bourdieu in der (kulturellen) Historizität des Sozialen der Schlüssel zu dessen Verständnis sieht, macht er sich ausgerechnet die (natürliche) Historizität der grundlegenden menschlichen Antriebsstrukturen nicht bewusst. Anders gewendet: Er bettet seine proximate Sozialtheorie nicht in eine ultimate Handlungstheorie ein. Die Kritik von Tooby und Cosmides (1992b; 1997) am anthropologischen Standardmodell der Sozialwissenschaften trifft also auch die klassischen Ansätze der Sozialkapitaltheorie.216 Dass der Mensch eine evolvierte Spezies ist und dass des-

216 Vgl. S. 92 ff.

Neuere Konzeptualisierungen: Sozialkapital auf allen Ebenen 155

halb menschliches Handeln nur durch naturgeschichtliche Perspektiven auf den menschlichen Organismus im Allgemeinen und das Gehirn im Besonderen verstehbar wird, spielt bei allen drei Autoren keine Rolle. Stattdessen werden Individuen gleichsam als „vom Himmel gefallene“ Entitäten angesehen, deren Gehirne wie Universalwerkzeuge funktionieren, die einesteils auf den eigenen ökonomischen Vorteil ausgerichtet sind und andernteils nahezu beliebig von Kultur beeinflusst werden können. Ein Bemühen um eine konsistente Rückbindung an zumal evolutionspsychologische und soziobiologische Wissensbestände ist nicht zu erkennen; überhaupt gibt es keine Bezüge zu naturwissenschaftlich-anthropologischen Perspektiven. Man mag das mit einem intellektuellen Klima in den Geisteswissenschaften der 1980er und 90er Jahre erklären wollen, in dem sich eine generelle Skepsis gegenüber anthropologischen Setzungen weitgehend durchgesetzt hatte – und man wird wohl recht damit haben.217 Wie sich im Folgenden zeigen wird, hat sich aber seither an dieser Situation zum Nachteil für die Sozialkapitalforschung nichts verändert.218

3.3 Neuere Konzeptualisierungen: Sozialkapital auf allen Ebenen Um einen handlungstheoretischen Beitrag zum aktuellen Stand der Sozialkapitalforschung in der hier angezielten Weise zu leisten, ist es notwendig, die neueren theoretischen Entwicklungen in der Sozialkapitalforschung zu reflektieren und dort nach weiteren Fehlstellen und Ansatzpunkten für eine evolutionär-anthropologische Fundierung zu suchen. Wie sich zeigen wird, hat sich diese Debatte zwar weiterentwickelt und ausdifferenziert, jedoch ist dabei vor allem klarer geworden, was unklar ist. Die schon bei den Klassikern diagnostizierten Aporien setzen sich fort; und es wird noch deutlicher, wie eng sie mit der Vernachlässigung von empirischen Fragen zur Natur des Menschen zusammenhängen. In den neueren Theoriediskussionen wird immer wieder zwischen jenen zwei Bedeutungen von Sozialkapital – mit noch unklarem Verhältnis zueinander – unterschieden (Portes 2000; Esser 2008), welche sich auch schon bei der Analyse der Klassiker als zentral herausgestellt haben. In der einen Perspektive ist Sozialkapital vorrangig ein Merkmal von Netzwerken aus Individuen, residiert also auf der sozialen Mikro- und Mesoebene. Diesem relationalen Charakter spürt die soziologische Netzwerktheorie des Sozialkapitals nach. Eine andere Perspektive wur217 Vgl. S. 43 ff. 218 Zu den ganz wenigen Ausnahmen, die fast alle von Naturwissenschaftlern stammen, siehe S. 9 ff.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

de vor allem von Politikwissenschaftlern und Ökonomen weiterverfolgt. Für sie ist Sozialkapital insbesondere als Phänomen auf der sozialen Makroebene interessant, also als ein Kollektivgut für Gemeinschaften und Gesellschaften.

3.3.1 Relationales Sozialkapital: Netzwerke, Handlungsmotivationen und Homophilie Sowohl Bourdieu als auch Coleman hatten darauf hingewiesen, dass Sozialkapital in den Relationen zwischen Individuen, also in sozialen Netzwerken zu verorten ist. In dieser Tradition hat die Sozialkapitalforschung eine Schnittstelle zur sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung herausgebildet. Zwar wurde diese nie voll entwickelt und gilt bis heute vor allem als fruchtbare Weiterentwicklungsmöglichkeit (Tronca 2011: 137 ff.). Dennoch sorgten gerade die Netzwerkforscher Ronald Burt (1982, 1992, 2004) und Nan Lin für einigen Theorietransfer, der zu einer eigenständigen Theorietradition geführt hat und unter anthropologischen Gesichtspunkten höchst aufschlussreich ist.219 Burt (1992: 8 ff.) verdankt die Sozialkapitalforschung vor allem den Hinweis darauf, dass im Zusammenhang mit Sozialkapital neben der Stärke von Verbindungen (Granovetter 1973) auch die Position der Akteure in der Netzwerkstruktur wichtig ist. Soziale Netzwerke sind nicht nach regelmäßigen Mustern aufgebaut, sondern weisen Ballungen enger Vernetzungen (etwa in Familien, Freundes- und Kollegenkreisen) auf, zwischen denen sogenannte strukturelle Löcher (‚structural holes‘) klaffen. Es haben deshalb solche Akteure komparative Vorteile, die mit ihren sozialen Beziehungen solche strukturellen Löcher überbrücken. Sie können als Makler zwischen den verschiedenen Netzwerken auftreten (‚brokerage‘) und ihre Steuerungs-, Kontroll- und Informationsvorteile strategisch zur Erreichung individueller Ziele nutzen. Über Sozialkapital verfügen demnach Akteure, für die sich Vorteile gegenüber anderen Akteuren aus ihrer (Makler-)Position im Netzwerk ergeben. Es ist eine Ressource, die (individuellen und kollektiven) Akteuren beim zielverwirklichenden Handeln nützlich ist. Allerdings attestiert Burt diesem relationalen Sozialkapital auch positive Externalitäten für die umbettende Struktur. Schließlich liegt der besondere Vorteil von Maklern ja gerade darin, dass sie helfen können, für kollektive Problemlösungen nützliche Wissensbestände und Deutungsroutinen zu verbreiten.

219 Zur Einführung in die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung siehe Stegbauer und Häußling (2010).

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Burt beschreibt damit offenkundig die Mikrologik hinter Putnams brückenbil­ dendem und bindendem Sozialkapital.220 Makler generieren brückenbildendes Sozialkapital und weichen so vom Normalfall des bindenden Sozialkapitals in geschlossenen Netzwerken ab. Auch bei ihm erschließt sich die kausale Logik aber nicht vollends. Es ist nämlich noch nichts darüber gesagt, warum Menschen zu Maklern werden, was sie also anders als alle anderen dazu veranlasst, der Schließung von sozialen Netzwerken entgegenzuwirken. Burt verweist auf strukturell bedingte ökonomische Anreize und konkretisiert diese im Zusammenhang mit dem Vernetzungsverhalten von Managern mit der Aussicht auf bessere Gehälter und Beförderungen (Burt 2004: 369 ff.). Eine allgemeine Mikrotheorie der menschlichen Prosozialität, welche die Unterschiede im sozialen Bindungs- und Vernetzungsverhalten über die ökonomische Sphäre hinaus plausibel machen würde, fehlt aber auch beim ihm. Auf diese Fragen bietet die Netzwerktheorie von Nan Lin (1999, 2002, 2008) beachtenswerte und für den Fortgang der Argumentation wichtige Antworten.221 Lin definiert Sozialkapital als „resources embedded in one’s social networks, resources that can be accessed or mobilized through ties in the networks“ (Lin 2008: 51). Er verortet es also klar in den Relationen zwischen Akteuren und grenzt sich so von Konzepten ab, die es als öffentliches Gut modellieren (Häuberer 2010: 119 ff.). Phänomene wie generalisiertes Vertrauen und allgemein akzeptierte Normen sind laut dieser Definition kein Sozialkapital (Häuberer 2010: 119 ff.). Die zentrale Analyseebene ist für Lin die der (zunächst einmal: individuellen) Akteursnetzwerke, weil sich dort die tatsächlichen Prozesse des Investierens und des Profitierens ereignen (Lin 1999: 32). Nicht die Netzwerke selbst machen dabei den Kapitalcharakter aus, sondern die über solche sozialen Strukturen verfügbar werdenden Ressourcen.222 Lin stimmt Coleman und Bourdieu zwar darin zu, dass die Dichte und Geschlossenheit dieser Netzwerke Einfluss auf Qualität und Quantität dieser Ressourcen haben (Lin 2008: 58 f.). Er widerspricht ihnen aber unter Rekurs auf Granovetter und Burt darin, dass Sozialkapital vorrangig in dichten und geschlossenen Netzwerken urbar gemacht werden könne (Lin 1999: 34). Die Begründung dieser Behauptung wurzelt in einer entscheidenden handlungstheoretischen Akzentverschiebung, die Lin von den Klassikern abhebt. 220 Vgl. S. 146 f. 221 Lin arbeitet sich kritisch an bestehenden Sozialkapitalansätzen ab (Lin 1999: 32 ff.) und entwickelt darauf aufbauend eine eigene Sozialkapitaltheorie, die in klassisch marxistischen und neo-kapitalistischen Kapitalkonzepten wie denen von Gary Becker und Pierre Bourdieu wurzelt (Lin 2002: 4 ff.) und manchen als eine der am besten ausgearbeiteten überhaupt gilt (Tronca 2011: 138). 222 Das entspricht Bourdieus Lesart, nicht aber denen von Putnam und Coleman.

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Statt den Nutzen von Sozialkapital nämlich anhand der objektiven Konsequen­ zen zu bestimmen, koppelt er ihn an den individuellen Sinn und Zweck, den die Akteure ihrem Handeln selbst zugrunde legen. Er nutzt hierfür die in der Rational-Choice-Theorie verbreitete Unterscheidung zwischen instrumentellen und expressiven Handlungen (Lin 1999: 34, 2002: 41 ff.).223 Instrumentelle Handlungen dienen als Mittel zum Erreichen von Zielen, die meist in einem Zugewinn an Ressourcen liegen: Reichtum anhäufen, einen Job finden, einen Partner gewinnen. Sie lassen sich mit offenen, weit verzweigten und über strukturelle Löcher hinweg reichenden Netzwerken besser verwirklichen. Expressive Handlungen – in der Sozialkapitalforschung meist konsumatorische Handlungen genannt und deshalb im Folgenden so bezeichnet –224 sind hingegen solche, deren Zweck im Ausführen der Handlung selbst liegt, die also auf das Bewahren und Sichern existierender Ressourcen abzielen. Beispiele sind Schutzverhalten, Identitätsbildung, das Herstellen von Verbundenheit oder auch persönlicher Integrität. Für sie sind dichte und geschlossene Netzwerke besonders nützlich. Lin hat später darauf hingewiesen, dass diese Mikrotheorie logisch bruchlos und ohne Zugeständnisse bei den theoretischen Fundamenten auf die Makroebene skaliert werden kann (Lin 2008: 62 ff.). So verfügen Kollektivakteure – verstanden als stark verdichtete und geschlossene Netzwerke von Individuen – über internes Sozialkapital, mit dem sie konsumatorische Ziele (Solidarität, Kohäsion) realisieren können. Für instrumentelle Ziele brauchen sie hingegen Zugriff auf externes Sozialkapital, also Vernetzungen mit anderen individuellen und kollektiven Akteuren. Positive Effekte auf der Makroebene lassen sich so erklären, ohne Sozialkapital den Charakter eines öffentlichen Gutes unterstellen zu müssen. In den Beziehungsstrukturen solcher Makro-Netzwerke vermutet Lin dann dieselben Handlungslogiken wie in Netzwerken aus Individuen.225 223 Zur Bedeutung der Typologie in der Sozialkapitaltheorie siehe S. 178 f. Ihre Ideengeschichte ist lang (vgl. etwa Luhmann 1987: 315 f., v. a. FN 49 – ​51), in den modernen Sozialwissenschaften verankert wurde sie aber durch Talcott Parsons (vgl. Parsons 1951/1991; Parsons und Shils 1951). Zu ihrer Rolle in seiner Handlungstheorie und seinem strukturfunktionalistischen AGIL-Schema siehe einführend Esser (1999a: 384 ff.). Parsons hatte zuerst den Begriff „expressiv“ verwendet, ihn später aber durch den synonym zu verstehenden Begriff „konsumatorisch“ ersetzt (vgl. Runkel 2012: 109). Siehe zum Sprachgebrauch in dieser Studie die nachstehende Fußnote. 224 Obwohl Lin selbst nur das Begriffswort „expressiv“ verwendet, wird dem synonymen Begriff „konsumatorisch“ hier der Vorzug gegeben, weil er präziser, trennschärfer, weniger missverständlich und zudem in der Literatur insgesamt verbreiteter ist. Vgl. dazu die vorstehende Fußnote. 225 Siehe zum alldem auch Häuberer (2010: 119 f., 127). Da hier Anthropologisches im Fokus der Aufmerksamkeit steht, geht es im Folgenden zunächst vorrangig um Lins (handlungs-)theoretische Argumentationen auf der sozialen Mikroebene. Übrigens weist diese Mikro-Makro-

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Dabei liegen seine vier zentralen Erklärungen zur subjektiven Nützlichkeit von sozialen Netzwerkstrukturen nahe bei denen der Klassiker. Erstens können Akteure über Netzwerke Informationen beziehen, die für das Erreichen ökonomischer Ziele von Wert sind. Zweitens kann über Beziehungen auf (zum Beispiel politische) Entscheidungen Einfluss genommen werden, die das eigene Wohlergehen beeinflussen. Drittens gibt das Netzwerk, über das ein Akteur verfügt, Auskunft über seine kooperationsbezogene „Kreditwürdigkeit“ (‚social credentials‘). Viertens geben Netzwerke Individuen Bestätigung über ihre Identität, ihr Prestige und ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die Akteure profitieren von alldem einesteils in Form von emotionaler Unterstützung und mentaler Gesundheit (konsumatorisch), andernteils durch Anerkennung des Anspruchs auf Ressourcen sowie der Möglichkeit, auf sie zuzugreifen (instrumentell). Diese handlungstheoretische Erklärung des Zustandekommens und der Folgen von brückenbildendem (‚getting ahead‘) und bindendem (‚getting by‘) Sozial­ kapital ist zweifellos um einiges theoriehaltiger und überzeugender als die von Burt lancierte.226 Mit ihr ist es möglich, ökonomisch nicht unmittelbar rational erscheinendes Bindungs- und Kooperationsverhalten in das formale Modell des egoistischen Nutzenmaximierers zu integrieren: Handlungsentscheidungen sind dann eine Funktion der instrumentellen und konsumatorischen Motivationen. Die anthropologisch relevante Pointe liegt nun darin, dass konsumatorische Motivationen hier wie in vielen anderen einschlägigen soziologischen Theorien mit dem Streben nach emotional empfundener Befriedigung verbunden werden.227 Das Rational-Choice-Konzept wird so freilich nur scheinbar durchgehalten: Ohne eine robuste Emotionstheorie läuft das Rationalitätskonzept Gefahr, der Beliebigkeit preisgegeben zu werden, zumindest aber im Kern aufzuweichen. Die

Perspektive mit dem Rekurs auf die Selbstähnlichkeit sozialer Netzwerkstrukturen einen an (hier noch umfänglich zu diskutierende) komplexitätstheoretische Argumentationen anschlussfähigen Weg aus der in vielen Hinsichten problematischen sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Sozialkapital als Makrophänomen. Zur Selbstähnlichkeit komplexer Systeme siehe einführend S. 72 ff.; die Aporien des Konzepts des kollektiven Sozialkapitals werden im nächsten Abschnitt diskutiert. 226 Lin legt aber Wert auf die Feststellung, dass die bindenden und brückenbildenden Vernetzungsstrukturen selbst kein Sozialkapital sind, sondern die über sie zugänglichen und mobilisierbaren Ressourcen (Lin 2008: 61 f.). Zu Putnams Konzeptualisierung siehe S. 146. 227 So geschieht das etwa in Studien zu politischen Einstellungen und Partizipation (Fiorina 1976; Hamlin und Jennings 2011; Stark 2015), zur Straflust (Hirtenlehner 2010), zu Geschlechterrollen (Belansky und Boggiano 1994; Cottingham et al. 2014; Spence und Buckner 2000), zu Vertrauen (Buchan und Croson 2004; Dunning und Fetchenhauer 2010; Sun et al. 2014) – und prominent auch in Luhmanns Rechtssoziologie (Luhmann 1987: 315 f.). Zu den hier vertretenen Lösungsansätzen für dieses grundlegende handlungstheoretische Problem siehe S. 476 ff.

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Vorstellung, dass Menschen emotionale Kalküle in gleicher Weise anstellen wie instrumentell-ökonomische Abwägungen, gehört ferner zu jenen in sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien populären Standardannahmen über die Natur des Menschen, für die empirisch wenig spricht und die in krassem Wider­spruch zu den evolutionär-anthropologischen Theorien der Life Sciences stehen.228 Lin selbst vermeidet direkte Verweise auf die emotionale Komponente von Handlungsentscheidungen zwar weitgehend, führt die weiche Prämisse aber durch die Hintertür ein: Er sichert sein Argument durch einen knappen Verweis auf Lazarsfeld und Merton (1954) sowie Homans (1950, 1968) und das „in der Soziologie etablierte“ Prinzip der Homophilie ab (Lin 2008: 60, 2002: 58). Homophilie bedeutet, dass Menschen dazu neigen, mit solchen Individuen intensiver zu interagieren, die ihnen in Bezug auf sozioökonomischen Status, Lebensstil und Weltanschauung ähnlich sind. Konsumatorische Handlungen zielen deshalb vor allem auf strong ties in dichten und relativ geschlossenen Netzwerken: Akteure finden dort die Empathie, die geteilten Weltsichten und die notwendigen Ressourcen, welche sie für die Aufrechterhaltung ihrer materiellen oder psychologischen Integrität benötigen (Lin 2002: 58). Hier also wird das implizite Theorieproblem mit einer pseudo-rationalistischen Residualkategorie überdeckt, unter der sich vieles subsummieren lässt, was nicht ökonomisch rational ist.229 Lazarsfeld und Merton weisen in dem zitierten Text explizit darauf hin, dass sie zu den noch längst nicht erschlossenen Kausalprozessen hinter Homophilie und Heterophilie nur „tentative Formulierungen“ und „hypothetische Annahmen“ treffen können, die noch durch ein echtes theoretisches Modell zu ersetzen sind, das sowohl soziale als auch psychologische Faktoren einbezieht (Lazarsfeld und Merton 1954: 29, 33, 36 f.). Von einer (zumal aus heutiger Sicht) belastbaren Theorie fehlt in diesem Text jede Spur. Der Anspruch auf eine solche wird auch gar nicht erhoben. Stattdessen wird bestenfalls anthropologisch spekuliert: Es ist von „befriedigenden Interaktionserfahrungen“, „warmen persönlichen Verbindungen“, „tief verwurzelten Gefühlen“ und vielerlei psychosozialen Prozessen die Rede, die nicht handlungstheoretisch konzeptualisiert werden (vgl. Lazarsfeld und Merton 1954: 31 ff., 36). 228 Vgl. dazu vor allem S. 287 ff. und S. 476 ff. 229 Für instrumentelle Handlungen birgt das Homophilie-Prinzip zudem komplexere Implikationen: In solchen Netzwerken, in denen sich Ressourcenvorkommen und die Fähigkeit zu deren Mobilisierung ballen, machen instrumentelle Handlungen nicht unbedingt die Überbrückung von strukturellen Löchern über weak ties notwendig. Demgegenüber sind Akteure aus ressourcenschwachen Netzwerken auf heterophile Strategien (also Interaktionen mit sozioökonomisch und weltanschaulich unähnlichen Individuen) angewiesen, weil allzu geschlossene Netzwerkstrukturen unter den gegebenen Bedingungen keine positiven oder gar dysfunktionale Effekte zeitigen können (Lin 2008: 61).

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Auch Homans liefert eine solche anthropologische Theorie nicht. Zwar sah er in der Natur des Menschen jene überzeitlich gültigen Antezedenzbedingungen sozialer Wirklichkeit, die Sozialwissenschaften ihren Theorien zugrunde legen sollten. Er plädierte deshalb mit Nachdruck für eine Mikrofundierung der Soziologie in der Psychologie und gilt noch heute als erster verhaltenstheoretischer Soziologe (vgl. Opp und Wippler 2007; Treibel 2000: 96 ff.). Homans war allerdings vertrauter Kollege des radikalen Behavioristen B. F. Skinner und bezeichnete ihn in seinem Grundlagenwerk zu den „Elementarformen sozialen Verhaltens“ als seinen „Lieblings-Experimentalpsychologen“, auf dessen Verhaltenspsychologie seine Soziologie basiere (Homans 1968: 15 ff.).230 Seine Tauschtheorie hat ihre Wurzeln also theoretisch und methodisch im radikalen Behaviorismus (Zafirovski 2005). Diese Theorie gilt jedoch bereits seit der kognitiven Wende der Psychologie in den 1950er Jahren als nicht mehr zeitgemäß (Chomsky 1959; Mahoney 1989; Marr 2011; vgl. Laland und Brown 2011: 344 f.). Insofern ist Homans’ Erklärung der Homophilie in den „Elementarformen“, nach der im Zuge von erfolgreichen Tausch-Interaktionen Sympathiegefühle und Zuneigung erst geweckt und dann über Belohnungserfahrung verstärkt werden, heute nicht mehr als tragfähige psychologische Mikrofundierung zu gebrauchen. Der Befassung mit diesen handlungstheoretisch so zentralen psychischen Tiefenstrukturen widmet Lin in allen einschlägigen Schriften insgesamt kaum mehr als zwei Seiten – und er kommt dabei ohne Literaturverweise aus, welche über die „üblichen Verdächtigen“ der Sozialkapitaldebatte hinausgehen (Lin 1999: 31 f., 2002: 20 f.). Obschon diese Aussagen fraglos erfahrungsgesättigt, evidenzbasiert, plausibel und bei Lin im Unterschied zu anderen Autoren wenigstens klar expliziert sind, so bleiben sie doch alltagstheoretisch. Auch die Rekurse auf Lazarsfeld und Merton (1954) sowie Homans (1950, 1968) im Zusammenhang mit den Prinzipien der Homophilie und Heterophilie sind anthropologisch keinesfalls ‚state of the art‘. Gerade vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen der Life Sciences in den vergangenen Jahrzehnten überzeugt es nicht, anthropologische Annahmen über den Verweis auf soziologische Klassiker abzusichern. Dass hinter den so legitimierten anthropologischen Prämissen wenig theoretisch Belastbares steht, zeigt sich bei Lin deutlich – was aber vor allem daran liegt, dass er überhaupt explizite und mithin nachverfolgbare sowie überprüfbare anthropologische Aussagen macht. In anderen Schriften zum Sozialkapital sucht man diese indes meist ver230 Zwar erwähnt Homans an dieser Stelle das Wort „Behaviorismus“ nicht, sehr wohl aber den synonym verwendeten Begriff „Verhaltenspsychologie“. Jedenfalls wird „Behaviorismus“ im Register geführt, und von dort aus wird genau auf jene Textstellen verwiesen (vgl. Homans 1968: 345).

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gebens. Lin liefert also neben Bourdieu noch die elaborierteste anthropologische Fundierung; und trotzdem reicht sie als tragfähige Handlungstheorie längst nicht hin. Über seinen Fall hinaus sind damit noch zwei weitere Dinge festzuhalten: Erstens erbringen Verweise auf klassisch-sozialtheoretische Autoritäten nicht per se einen explanatorischen Zugewinn. Und zweitens liegt der Verdacht nahe, dass sich die überholten Denkmuster des radikalen Behaviorismus tief im anthropologischen Betriebswissen der (akteurszentrierten) Sozialwissenschaften und der Sozialkapitaltheorie eingenistet haben.231

3.3.2 Kollektives Sozialkapital: Das Putnam-Problem Anknüpfend an Putnam wird in der Literatur immer wieder von dem „Vorrat an“ (‚stock of…‘) Sozialkapital gesprochen, über den Gemeinwesen verfügen können.232 Solchem kollektiven Sozialkapital – gesellschaftlicher Vernetzung, verbreiteten gemeinsinnigen Werten und Normen, generalisiertem Vertrauen – werden allerlei positive Wirkungen zugeschrieben: von der Armutsbekämpfung (Narayan-Parker 1999; Narayan und Shah 2000) über Wirtschaftswachstum und Modernisierung (Knack und Keefer 1997; Woolcock 2001; Woolcock und Narayan 2000) bis hin zu politischer Performanz (Putnam 1993). Für die politikwissenschaftliche Diskussion um den Zusammenhang von Sozialkapital, gesellschaftlichem Zusammenhalt, Demokratie und Wohlstand ist diese Makroperspektive besonders relevant (Ackermann und Freitag 2016: 272).233 Im Kern geht es in diesem Forschungsstrang um Institutionen und ihre Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Strukturen wie der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft. Staatliche Institutionen geben die Spielregeln vor, die in ökonomischen und sozialen Transaktionen von Akteuren antizipiert werden 231 So rekurriert etwa auch Coleman auf Homans’ Tauschtheorie (vgl. S. 139); dieser anthropologischen Suchspur wird aber auch im Folgenden weiter nachgegangen. 232 So etwa im Fall von genuin an Makrophänomenen interessierten Politikwissenschaftlern (Freitag 2006; Putnam 2007; Rothstein 2001; Valdivieso und Villena-Roldán 2014), andernteils aber auch bei Volkswirten besonders im Umfeld der Weltbank (Glaeser et al. 2002; Knack 2002; Knack und Keefer 1997; Woolcock und Narayan 2000), die in Sozialkapital ein zentrales Instrument zur Mehrung des globalen Wohlstands vermuten (Svendsen und Svendsen 2009; vgl. auch Fine 2008). 233 Ein wichtiger Fluchtpunkt der Debatte ist etwa der Dissens zwischen Liberalen und Kommunitaristen zu der normativen Frage, in welchem Mischungsverhältnis aufgeklärter Individualismus und wertgebundene Kohäsion stehen sollten (Kriesi 2007: 28 ff., 41; Westle et al. 2008a: 15 f., 33 f.). Siehe dazu etwa Etzioni (2014) und die Beiträge von Sandel, Taylor, Rawls sowie Guttman in Matravers und Pike (2003), zum Bezug zur Sozialkapitaldebatte auch Portes und Vickstrom (2015).

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(North 1990), stellen also den Rahmen für gesellschaftliche Kooperation und zivilgesellschaftliches Engagement bereit (Skocpol 2008). Sie liefern im besten Falle die Erwartungssicherheit und das gesellschaftliche Klima, in dem der private Sektor prosperieren und Politik sachgerechte Lösungen implementieren kann. Insbesondere brückenbildendes Sozialkapital erfüllt dabei eine vermittelnde Funktion, weil es verhindern kann, dass allzu starke Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen die Dividende einer gelingenden Interaktion von öffentlichem und privatem Sektor aufzehren (Woolcock und Narayan 2000: 225 – ​226, 235 ff.). Nicht zuletzt sind historisch gewachsene Strukturen wie religiöse Institutionen die Vehikel von tradierten Moralvorstellungen, die in der Regel mit der Stabilisierung von gesellschaftlicher Kooperation zu tun haben (Fukuyama 1995, 2001). Sozialkapital wird folglich (auch) von historischen Pfadabhängigkeiten geprägt, vom Fortwirken der im Verlaufe der Geschichte gemachten Erfahrungen mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Stabilität geltender Normen.234 Auffällig ist, dass handlungstheoretische Argumente auf der sozialen Mikroebene in diesen Argumentationen in der Regel keine nennenswerte Rolle spielen. Das ist unbefriedigend, weil auch Theorien zu emergenten Makrofigurationen im Sinne eines wissenschaftstheoretisch robusten „guten Reduktionismus“ nicht ohne Mikrofundierung auskommen.235 Mindestens also muss die externe Konsistenz von Theorien des kollektiven Sozialkapitals mit empirisch robusten Handlungstheorien gewährleistet sein. Konkret ist das auch völlig einsichtig: Schließlich haben soziale Beziehungen, (generalisiertes) Vertrauen und die Geltung von Normen offensichtlich individualpsychologische Komponenten. Gerade in Bezug auf die kausale Rolle von Institutionen stellt sich die Frage, welche Mechanismen etwa der Tradierung von Moralvorstellungen und der Befolgung von institutionalisierten Regeln genau zugrunde liegen. Institutionenforscher wie Fukuyama haben durchaus erkannt, dass eine rein ökonomische Erklärung hier wenig zielführend und zu reduktionistisch wäre. Sie gelangen bisher aber über das sozialwissenschaftliche Alternativkonzept des Homo sociologicus nicht hinaus (vgl. Fukuyama 2001: 16 f.). Aber auch die Behauptung, dass Menschen Normen eben internalisieren oder aus „irrationalen“ Gründen zu befolgen bereit sind, bedarf doch einer psychologischen Erklärung.

234 Genau darin liegt der Kern von Putnams Erklärung der Performanzunterschiede Nord- und Süditaliens (Putnam 1993). Vgl. dazu die Fußnote 209 auf S. 148. Aber auch die HabitusFeld-Theorie von Bourdieu, in der soziale Felder „Ding gewordene Geschichte“ sind, läuft auf dieses Argument hinaus (vgl. S. 128 ff.). 235 Zu den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Hintergründen dieses Arguments siehe S. 61 ff.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

Anthropologische Rückbezüge sucht man jedoch in der Regel vergebens; und wenn man sie findet, bleiben sie unsystematisch und eklektisch.236 Die theoretische Tiefenstruktur dieser handlungstheoretischen Leerstelle wird im Fortgang des Kapitels noch detailliert herauszupräparieren sein.237 An dieser Stelle soll es deshalb genügen aufzuzeigen, dass die vier zentralen theoretischen Kritikpunkte an der Forschung zu kollektivem Sozialkapital allesamt mit diesem schon bei Putnam identifizierten Problem mangelnder Mikrofundierung in Verbindung stehen. Erstens ist der ontologische Status von kollektivem Sozialkapital höchst umstritten. Mit anderen Worten: Es besteht nach wie vor konzeptionelle Unklarheit darüber, was solches Sozialkapital überhaupt ist (Glanville und Bienenstock 2009: 1515 f.). Dazu bräuchte es eine allgemein anerkannte Erklärung der Entstehung solcher emergenten Effekte, die ihrerseits auf einer plausiblen Theorien der Mikroprozesse aufbauen müsste (Bankston und Zhou 2002). Weil den Prozessen auf der Mikroebene bei der Erforschung von gesellschaftlichen Makrophänomenen aber in der Regel kaum Beachtung geschenkt wird, gerät die eigentlich zentrale Frage aus dem Blick, warum es überhaupt zur Sozialkapitalbildung in interindividuellen Beziehungen kommt (vgl. Astone et al. 1999). Aber selbst wenn zufriedenstellend geklärt (oder ausgeklammert) wird, wie es zu Sozialkapital als Eigenschaft von Kollektiven kommt: Ob und in welcher Weise dieses Makrophänomen seinerseits kausale Wirkung etwa auf Demokratiequalität hat, ist – zweitens – theoretisch umstritten und empirisch unklar (Diekmann 2007: 56). Bei Putnam erscheint die positive Wirkung von Sozialkapital auf demokratische Performanz zwar geradezu zwingend, und auch einige (Makro-)Befunde deuten darauf hin, dass tatsächlich ein Zusammenhang besteht (Gabriel et al. 2002: 217 ff.; Knack und Keefer 1997; Putnam 1993: 83 ff.). Bisher konnte jedoch noch keine Mikrotheorie formuliert werden, die solche systematische Kovariation zwischen Makrophänomenen wirklich erklärt. Putnam liefert diese Theorie jedenfalls nicht. Dennoch wird nach wie vor intensiv zu solchen Makro-Makro236 So sprechen etwa Ahn und Ostrom (2008: 77 ff.) zwar von einer zweiten Generation von Sozialkapitalforschern, die sich des Problems der mangelnden handlungstheoretischen Fundierung bewusst seien. Sie zitieren namhafte Autoren aus dem Bereich der evolutionären Anthropologie und der Verhaltensökonomik, bringen dann aber keine anthropologischen Argumente mit erkennbaren systematischen Konsequenzen für ihre Theoriebildung in Stellung. Auch Glanville und Bienenstock (2009: 1519 ff.) verweisen im Zusammenhang mit der Evolution von indirekter Reziprozität auf evolutionär-anthropologische Schriften von Biologen und Anthropologen. Sie führen allerdings eine agentenbasierte Simulationsstudie durch; und wenngleich ihr Ansatz dem hier verfolgten noch am nächsten kommt, spielt in ihren spieltheoretischen Modellen eine dezidiert anthropologische Perspektive keine Rolle. 237 Den zentralen Kategorien der Sozialkapitalforschung, ihrer anthropologischen Dimension und den Defiziten ihrer Konzeptualisierung widmet sich ausführlich das Kapitel 3.4 ab S. 172.

Neuere Konzeptualisierungen: Sozialkapital auf allen Ebenen 165

Kausalitäten im Zusammenhang mit kollektivem Sozialkapital geforscht (vgl. Halstead und Deller 2015).238 Drittens wird dem makrotheoretischen Ansatz vorgeworfen, weitgehend blind für negative Auswirkungen von Sozialkapital zu sein (Portes und Landolt 1996; Portes 2014). Es wurde schon bei der Befassung mit den Ansätzen von Coleman und Putnam gezeigt, dass diese normative Verzerrung ebenso wie eine Reihe anderer Folgeprobleme darin begründet liegt, dass Sozialkapital funktionalistisch definiert wird, also von seinen Auswirkungen her. Ließe sich Sozialkapital aber ausgehend von seinen behavioralen Ursachen konzeptualisieren, bliebe das Konzept agnostisch gegenüber der Bewertung der Folgen des Phänomens.239 Viertens wird kritisiert, dass die Kausalaussagen der methodologisch-kollektivistischen Sozialkapitalforschung letztlich selbstevident und tautologisch sind (Portes 2000: 3):240 „Wenn in Kollektiven sowohl die Eliten als auch das Volk verantwortungsbewusst und gemeinnützig agieren, werden diese besser und effektiver zu regieren sein“, oder „Wenn in einer Gesellschaft moralische Werte und Normen, die auf Kooperation abzielen, von starken Institutionen in Geltung gehalten werden, sind diese Regeln in der Gesellschaft verbreitet und sorgen für gesellschaftliche Kooperation.“ – Solche Aussagen mögen intuitiv einleuchtend, für politische Diskussionen anregend und wohl auch nicht schlicht falsch sein. Sie sind aber solange Zirkelschlüsse ohne echten explanatorischen Wert, wie klare und überprüfbare Annahmen über die (rekursiven) Kausalmechanismen fehlen. In der Forschung zu kollektivem Sozialkapital potenzieren sich also die Probleme mit der Mikrofundierung noch, die schon in der Netzwerktheorie des Sozialkapitals zutage traten. Eine tragfähige handlungstheoretische Fundierung fehlt hier erst recht. Die Folgeprobleme sind denn auch umso gravierender. Echte theoretische Weiterentwicklungen, welche die Probleme des Putnamschen Ansatzes lösen, sind nicht in Sicht. Letztlich bleiben Makrotheorien des Sozialkapitals deshalb ihre primäre Leistung schuldig: die Erklärung. Es werden plausible funktionalistische Narrative zu Zusammenhängen in Aggregatdaten entwickelt; die sich tatsächlich ereignenden Kausalmechanismen auf der Individualebene bleiben jedoch weitgehend im Dunkeln.241 238 Solche Studien untersuchen kollektives Sozialkapital in Zusammenhang mit anderen Makrophänomenen wie zum Beispiel Migration, ethnischer Heterogenität und deren Einfluss auf gesellschaftliche Integration (Cheong et al. 2007; Putnam 2007; vgl. Portes und Vickstrom 2015), den Folgen des Klimawandels (Adger 2010) sowie gesellschaftlicher und politischer Transformation (Puntscher et al. 2014; Radnitz et al. 2009; Sander und Putnam 2010; Yee 2015). 239 Diesem Kritikpunkt wird sich später im Detail zu widmen sein (siehe S. 184 ff.). 240 Dieses Problem wurde auch schon im Zusammenhang mit Putnam erörtert (siehe S. 151 f.). 241 Siehe hierzu auch S. 170 ff. sowie S. 203 ff.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

3.3.3 Multilevel-Sozialkapital: Theoretische und empirische Perspektiven Netzwerk- und Makrotheorien des Sozialkapitals werden gemeinhin als konkurrierende Ansätze aufgefasst; und Vertreter der erstgenannten behaupten mit einigem Recht, über die besser konzeptualisierten sowie stärker mikrofundierten Ansätze zu verfügen (Fulkerson und Thompson 2008). Nichtsdestoweniger stimmen auch sie Coleman gemeinhin darin zu, dass relationales und kollektives Sozialkapitals letztlich zwei Aspekte desselben Phänomens sind: Netzwerktheoretiker wie Burt und Lin bestreiten nicht, dass Sozialkapital auch eine Ressource für Gemeinwesen bzw. Sozialstrukturen – in deren Diktion: für Kollektivakteure – sein kann. Sie erkennen ferner an, dass sich selbst individuelle Potentiale nicht vollständig auf interdependentes Akteurshandeln reduzieren lassen. Sie ergäben sich vielmehr auch aus emergenten Eigenschaften der umbettenden sozialen Struktur – mit Bourdieu: des sozialen Feldes – wie etwa geltenden Konventionen und damit verbundenen Sanktionsmöglichkeiten. Sozialkapital hat also relationale und strukturelle Komponenten. Diese Einsicht angemessen zu würdigen, gehört zu den zentralen Herausforderungen der Sozialkapitalforschung. Es ist deshalb nötig, zumindest einen knappen Überblick darüber zu erlangen, wie sich diese gegenstandsspezifische Konkretisierung des Mikro-Makro-Problems in der theoretischen und der empirischen Sozialkapitalforschung niederschlägt. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, wird sich in der theoretischen Sozialkapitalforschung seit den Klassikern damit auseinandergesetzt, in welchem Verhältnis die Mikro- und Makrokomponente von Sozialkapital zueinander stehen. Eine überzeugende und allgemein akzeptierte Lösung für dieses Problem ist zwar nach wie vor nicht gefunden; mit den konzeptionellen Vorschlägen von Hartmut Esser und Carl Bankston gibt es aber immerhin zwei konkrete Ansatzpunkte. Bankstons Argumentation geht von der Überlegung aus, dass Sozialkapital als ein Prozess und nicht als ein Ding angesehen werden sollte (Bankston 2014; Bankston und Zhou 2002). Die metaphorische Rede von der „Menge von Sozialkapital“ führt in die Irre, weil sie eine Quantität suggeriert. Tatsächlich aber resultiert Sozialkapital aus komplexen Interaktionsmustern von Individuen und sozialen Strukturen. Daraus ergeben sich drei Anforderungen an die Weiterentwicklung von Sozialkapitaltheorien. Erstens kann Sozialkapital nicht einfach einer Analyseebene zugeordnet werden. Es ist eine Erscheinungsform der rekursiven Wechselwirkungen zwischen Institutionen, Umwelten, sozialen Netzwerken und normativen individuellen Orientierungen, also von Phänomenen auf der sozialen Mikro- und Makroebene (Bankston und Zhou 2002: 290 f.). Zweitens muss

Neuere Konzeptualisierungen: Sozialkapital auf allen Ebenen 167

dieser Prozess zwar von seinen zielerreichenden Funktionen her verstanden werden. Diese Funktionen dürfen aber nicht a priori aus einer normativen Theorieposition abgeleitet werden, wie das etwa in der Putnamschen Forschungstradition häufig vorkommt. Denn weil individuelle und kollektive Ziele überaus vielgestaltig sind und ihre Realisierung kulturell kontingent ist, werden auch die Erscheinungsformen der zu ihrer Erreichung nützlichen sozialen Ressourcen sehr unterschiedlich sein (Bankston und Zhou 2002: 314). Analytisch im Fokus zu stehen hat deshalb – drittens – primär das funktional Äquivalente an kulturell sehr verschieden ausgeformten Sozialkapital-Prozessen. Den letzten Schritt geht Bankston indes noch nicht: Er erkennt die funktionale Äquivalenz sozialer Prozesse in verschiedenen Kulturen nicht als homologe Ähnlichkeit, welche auf die Natur der menschlichen Sozialität zurückgeht. Seine Überlegungen können aber als konzeptionelles Gerüst für eine solche Mikrofundierung von Sozialkapital fungieren.242 Esser (2008, vgl. auch 2002a: 235 ff.) unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Netzwerkressourcen: Beziehungskapital und Systemkapital. Beziehungskapital ist Individuen beim Erreichen von Zielen nützlich und zergliedert sich in Positionskapital (informationelle Vorteile durch Maklerposition zwischen Netzwerken), Vertrauenskapital (Hilfe bei riskanten Unternehmen aufgrund von Verlässlichkeit und kooperativer Reputation) und Verpflichtungskapital (Unterstützungsleistung auf Basis noch ausstehender Gefälligkeiten und Verbindlichkeiten). Beziehungskapital ist in zweifacher Weise an individuelle Intentionen gekoppelt: Erstens muss willentlich in solches Kapital investiert werden; zweitens hängt der Wirkungsgrad (auch) von den Intentionen der anderen Akteure ab. Systemkapital umfasst Systemkontrolle (Verfügbarkeit sozialer Kontrolle durch Antizipation der Verbreitung sozialer Informationen), Systemvertrauen (generalisiertes Vertrauen auf Basis der Einschätzung der Performanz der umbettenden Struktur) und Systemmoral (Gültigkeit von Werten, Normen und Moralvorstellungen) – allesamt kollektive Güter, die nicht allein durch intentionales Individualhandeln realisiert werden können. Sie sind emergente Effekte der komplexen Interaktionen in Beziehungsnetzwerken und hängen von der Dichte, Geschlossenheit, Stabilität sowie der Abhängigkeit der Akteure vom Netzwerk ab (Esser 2008: 41). Dieses Modell absorbiert alle wesentlichen Aspekte der Ansätze von Putnam, Coleman, Burt sowie Lin; und selbst Bourdieus Konzept lässt sich dem Grunde nach in diese Sprache übersetzten.243 Es bietet einen integrativen Analyserahmen, 242 Vgl. hierzu mit weiteren Verweisen die S. 414. 243 Bourdieus sozialtheoretischem Kontext wird Essers Konzept freilich nicht vollständig gerecht: Bourdieu rekurriert mit der Habitus-Feld-Relation auf eine ganz andere Handlungstheorie als der Rational-Choice-Theoretiker Esser. Vor allem aber fällt der für Bourdieu zen-

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liefert aber keine für die hier verfolgten Zwecke hilfreichen handlungstheoretischen Innovationen. Esser hatte sich bei der anthropologischen Begründung seiner Rational-Choice-Soziologie mit den evolutionären Grundlagen menschlicher Sozialität befasst (vgl. Esser 1999a: 11, 12 & 13). In seinem Sozialkapital-Modell greift er darauf jedoch nicht zurück, sondern geht von nutzenmaximierenden Akteuren aus. Es wird indes nicht ausgearbeitet, was das für eine Theorie konkret heißt, die ja gerade den Versuch einer sozialtheoretischen Einbettung des ökonomischen Paradigmas darstellt.244 Esser sieht folgerichtig das zentrale handlungstheoretische Desiderat der Sozial(kapital)forschung darin, „to engage in the important task of explaining the specific mechanisms through which one or the other form of social capital is formed“ (Esser 2008: 47 f.). Einmal mehr zeigt sich hier, dass mit der längst nicht abgeschlossenen Suche nach einem dritten Weg zwischen Mikround Makrotheorien in den Sozialwissenschaften immer auch empirisch-anthropologische Grundsatzfragen nach den psychosozialen Kausalmechanismen verbunden sind. In der empirischen Sozialkapitalforschung hat sich mit der Unterscheidung der kulturellen und strukturellen Dimension von Sozialkapital ebenfalls eine Forschungsperspektive etabliert, die kollektive und relationale Aspekte abbildet (Gabriel et al. 2002; vgl. Van Deth 2003; Westle et al. 2008b). Die strukturelle Dimension umfasst die sozialen Beziehungen eines Akteurs, die ihm bei zielerreichendem Handeln durch Senkung von Transaktionskosten oder durch Zugang zu Informationen helfen. Unter die kulturelle Dimension fallen generalisiertes Vertrauen, geteilte Vorstellungen, Einstellungen und Werte sowie geltende Normen. Dabei wird gelegentlich weiter zwischen einer relationalen und einer kognitiven Dimension unterschieden (Nahapiet und Ghoshal 1998; Vera-Toscano et al. 2013). Die – vom hier verwendeten Begriff des relationalen Sozialkapitals zu unterscheidende – relationale Dimension bildet mit Vertrauen, Normen und Sanktionsmechanismen all jene Phänomene ab, die für Erwartungssicherheit sorgen. Die kognitive Dimension umfasst jene Werte und Einstellungsmuster, die für eine kooperative Prädisposition sorgen. Diese Dimensionen werden als Achsen eines

trale Aspekt der Konkurrenzdynamik gesellschaftlicher Teilgruppen unter den Tisch, weil eine entsprechende analytische Mesoebene fehlt. Dieser Aspekt lässt sich aber mit dem Konzept des Organisationskapitals auffangen (Seubert 2009a). Jenes bezeichnet die Verfügbarkeit von Weltanschauungen, Praktiken und Institutionen, die es Gruppen ermöglichen, sich gegen andere abzugrenzen und daraus komparative Vorteile zu ziehen. 244 „The introduction of the concept of social capital was an important stage in ‚socializing‘ the notion of resources, capital, and investment and in emphasizing the peculiar value of social relations, social control, trust, and the existence of an entire system of ‚generalized‘ exchanges as a kind of capital“ (Esser 2008: 47).

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Merkmalsraums gedacht, in dem sich Realtypen sozialer Figurationen abbilden lassen (vgl. Vera-Toscano et al. 2013: 1333 ff.). Ob und wie diese Dimensionen in der Realität miteinander wechselwirken, ist nach wie vor strittig. Während sich auf der Makroebene in zwischenstaatlichen Vergleichen immer wieder stark positive Zusammenhänge zwischen struktureller und kultureller Dimension zeigen, lässt sich ein solcher auf der Mikroebene nicht überzeugend nachweisen (Westle et al. 2008c: 169). In welchem Verhältnis relationales und kollektives Sozialkapital also stehen, ist noch ganz unklar: „Die Diskrepanz zwischen Mikro- und Makroanalysen ist [.] nach wie vor eines der größten ungelösten Rätsel in der empirischen Anwendung des Sozialkapitalkonzeptes“ (ebd.). In welcher kausalen Beziehung die „großen Drei“ der Sozialkapitalforschung – Netzwerke, Vertrauen sowie Normen und Werte – miteinander stehen, ist in diesem Zusammenhang eine weitere virulente Frage. In der Debatte um sie zeigen sich deutlich die Schwierigkeiten, die es noch immer bereitet, Sozialkapital von seinen Ursachen und Wirkungen analytisch zu trennen. So sind etwa Vertrauen und die soziomoralischen Grundlagen eines Gemeinwesens (also: Normen und Werte) gleichermaßen Vorbedingung und Folge der konkreten sozialen Interaktionsprozesse. Einerseits könnte man sie deshalb als Sozialkapital bezeichnen; schließlich ermöglichen sie Kooperation. Andererseits kann in Normen und Werte nicht ohne weiteres individuell und intentional investiert werden, was sie für manche als Kapital disqualifiziert (Häuberer 2010: 249 ff.; vgl. Franzen und Pointner 2007). In solchen grundsätzlichen Unklarheiten zeigt sich auf das Deutlichste, wie hinderlich das Fehlen einer wirklich robusten Mikrotheorie auch in der empirischen Forschung ist.245 Die Modellbildung hängt gleichsam in der Luft. Weil die genauen Kausalmechanismen als „bisher noch nicht entdeckt“ gelten (Häuberer 2010: 148, Übers. d. Verf.), fehlt es an echten explanatorischen Argumenten. Diese Probleme setzen sich in der konkreten empirischen Arbeit mit dem Konzept und seinen Dimensionen fort. Eine große Herausforderung für das Forschungsfeld stellt der Umstand dar, dass sich die große Diversität von meist wenig präzisen Definitionen und Konzeptualisierungen in einer Vielzahl von Operationalisierungen und Messinstrumenten niederschlägt (Appel et al. 2014; Häuberer 2010; Sabatini 2009b). Dass Sozialwissenschaftler „nicht immer über die feinen Instrumente [verfügen], um die jeweils vorliegenden Anreizkonstellationen und 245 Gleiches gilt für die Frage, ob die angeblichen Effekte von Sozialkapital nicht eigentlich auf das Homophilie-Prinzip zurückgehen (Mouw 2006; vgl. Kwon und Adler 2014). Ganz abgesehen davon, was hier der Fall ist: Auch das Homophilie-Prinzip bietet keine überzeugende theoretische Basis (siehe S. 160 ff.).

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ihre Folgen präzise zu untersuchen“ (Diekmann 2007: 63), ist einerseits gewiss der Komplexität ihrer Gegenstände geschuldet und mithin kein Spezifikum der Sozialkapitaltheorie. Andererseits sind Messinstrumente nur so gut wie die theoretischen Perspektiven, entlang derer sie auf Phänomene gerichtet und mit deren Hilfe die Messergebnisse interpretiert werden. Wüsste man mehr über das Zustandekommen der Anreizkonstellationen und ihrer Folgen, als es die genutzten Verhaltensmodelle erlauben, ließe sich Sozialkapital wohl auch zielführender empirisch untersuchen. Zur Besserung dieser Situation trägt nicht bei, dass in den theoretischen Argumentationen empirischer Studien immer wieder auf die klassischen Konzeptualisierungen zurückgegriffen wird, die – wie gezeigt wurde – selbst in vielen relevanten Hinsichten zu vage bleiben (Van Deth 2003: 81).246 „However, research is to some extent hampered by a lack of consensus regarding definition and measurement strategy. Although there is some agreement on central characteristics, social capital is construed in a variety of ways. This is an almost inevitable consequence of social capital usually being theoretically postulated rather than empirically demonstrated. That is, research is often conducted based on assumptions of what social capital is, rather than on a demonstration of an actual empirical correlate.“ (Lillbacka 2006: 205)

In den Ansätzen von Bourdieu und Coleman verband sich mit dem Sozialkapitalkonzept der Anspruch, einen dritten Weg zwischen Mikro- und Makrotheorien zu gehen.247 Zwar wurde dieser Anspruch schon dort nur scheinbar eingelöst; aber es entbehrt dennoch nicht einer gewissen Ironie, dass noch heute eine der größten Konfliktlinien in der Sozialkapitalforschung entlang des Mikro-MakroProblems verläuft. Zwar ist man sich im Großen und Ganzen einig, dass Sozial­ kapital auf der Mikroebene entsteht – es herrscht aber keine konzeptionelle Klarheit darüber, ob es auch ein Makrophänomen sein kann. Ob Gemeinwesen überhaupt als Entitäten begriffen werden sollten, die über solche Eigenschaften verfügen können, ist zudem ganz grundsätzlich umstritten. Unklar ist ferner, ob

246 Aufgrund solcher explanatorischer Fehlstellen wird versucht, den umgekehrten Weg zu gehen und mit induktiven statistischen Methoden kausale Zusammenhänge in den Daten aufzuspüren (Bjørnskov und Sønderskov 2013; Lillbacka 2006; Sabatini 2009a; Vyncke 2012). Dagegen ist dem Grunde nach wenig einzuwenden. Allerdings muten die Ergebnisse oft doch allzu positivistisch und „datenfixiert“ an; die „Erklärungen“ verharren meist auf der Ebene von nur korrelativen Aussagen und bleiben ohne echte theoretische Interpretation. 247 Zu Bourdieus Konzeption siehe S. 125ff, zu Colemans Versuch eines dritten Weges siehe S. 132 ff.

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und wie individuelle Eigenschaften wie Vertrauen tatsächlich als „generalisiertes Vertrauen“ auf die Makroebene durchschlagen (Sabatini 2009a: 432). Eine allgemein akzeptierte Theorie zum Zusammenhang von Mikro- und Makroebene, welche diese theoretischen und empirischen Probleme überzeugend löst, ist jedoch nicht in Sicht. All diese grundsätzlichen Probleme in der empirischen und theoretischen Sozialkapitalforschung führen deutlich vor Augen, warum „Sozialkapital“ trotz enormen Forschungsaufwandes bis heute ein grundsätzlich umstrittenes Konzept ist (Castiglione 2008). Zwar herrscht verbreiteter Konsens hinsichtlich der Kernintuition, dass soziale Beziehungen relevant für individuelles und kollektives Wohlergehen sind. Auch haben sich Modelle und Typologien etabliert, die das gemeinhin für wesentlich Gehaltene gliedern und zueinander in Beziehung setzen: offene und geschlossene Netzwerkstrukturen, interindividuelles und generalisiertes Vertrauen, spezifische Kooperationsnormen sowie gemeinsinnige Moralsysteme – und einiges mehr. Mithilfe dieser Kategorien lassen sich die funktional äquivalenten, in ihrer konkreten Ausformung aber stark vom jeweiligen kulturellen Kontext abhängenden Bedingungen von interindividueller Kooperation und gesellschaftlicher Kohäsion in einer abstrakten Beschreibungssprache darstellen (Vera-Toscano et al. 2013). Allerdings fehlen bisher noch ebenso abstrakte Erklärungen für das Beschriebene. Es gibt keine allgemein akzeptierten Ansichten darüber, wie die verschiedenen Elemente, Dimensionen und Ebenen kausal miteinander zusammenhängen (Häuberer 2010; Vera-Toscano et al. 2013). Die Wurzel dieses Problems liegt schon in der großen Uneinigkeit darüber begründet, was überhaupt eine angemessene Konzeptualisierung von Sozialkapital ist.248 Noch nicht einmal gibt es eine verbreitete Definition, welche über die kaum ausgearbeiteten Versionen der Klassiker hinausgeht (Appel et al. 2014; Sabatini 2009a). Es ist dann wenig überraschend, dass es nicht gelingt, allgemeine Aussagen über die relevanten Wirkungsketten in einer formalen Theorie des Sozialkapitals zusammenzuführen, von der ausgehend sich dann Operationalisierungen und Messverfahren plausibilisieren ließen. Nötig dafür wäre eine integrierende Metatheorie, die klar macht, in welcher Weise die einzelnen Kategorien, Dimensionen und Ebenen miteinander in Verbindung stehen (Adler und Kwon 2002: 34). An diese Grenzen der von ihr leistbaren Theoriebildung ist die Sozialkapitalforschung wohl deshalb gestoßen, weil sie die damit verbundenen handlungstheo248 Diese Aussage ist in nahezu jedem Text zu lesen, der sich systematisch mit der Theorie oder der Methodologie des Konzeptes auseinandersetzt (siehe exemplarisch Appel et al. 2014; Edwards 2010; Esser 2008; Gehmacher 2009; Mouw 2006; Raub et al. 2013; Sabatini 2009a; Vyncke 2012; Woolcock 2010; Zmerli 2010).

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retischen und anthropologischen Fragen nicht selbst zu beantworten vermag. Im Grunde geht es schließlich um empirische Fragen nach den konkreten psychosozialen Mechanismen bei der Erzeugung von Kooperation und Gemeinsinn, um die Rolle etwa von subjektiv und emotional erlebtem Vertrauen, um Norminternalisierung und wertorientiertes Verhalten, um das Streben nach Anerkennung und die Angst vor dem Verlust von Identität und Gruppenzugehörigkeit. Individuen als rationale Blackbox zu behandeln und mit dem Verweis auf konsumatorische Handlungsmotivationen alles gleichsam wegzuerklären, was nicht in dieses Modell passt, verstellt aber gerade den Blick auf diese Prozesse.

3.4 Netzwerke, Normen und Vertrauen: Kategorien und Kausalhypothesen Nachdem die wichtigsten Sozialkapitaltheorien rekonstruiert wurden, wird es nun zielführend sein, die handlungstheoretische Fundierung ihrer wichtigsten Kategorien und Hypothesen vergleichend in den Blick zu nehmen. Dies sind vor allem Netzwerke, Vertrauen, Normen und Werte, ferner kausale Aussagen über deren Wechselwirkungen sowie über Sozialkapital als unabhängige und abhängige Variable. Diese metaanalytische Draufsicht ermöglicht es, die bisherigen Befunde zu handlungstheoretischen Defiziten sowie konzeptionellen Problemen der So­ zialkapitalforschung zu kondensieren, zu konkretisieren und zu ergänzen.249 Aufbauend darauf lässt sich präzis aufzeigen, wo die Anschlussstellen für eine empirisch-anthropologische Mikrofundierung liegen und welchen Mehrwert jene dort erbringen sollte. Wie sich zeigen wird, besteht größte Uneinigkeit darüber, was unter den wichtigsten Kategorien der Sozialkapitaltheorie – soziale Netzwerke, Normen und Werte, Vertrauen – zu verstehen ist und wie sie kausal miteinander zusammenhängen. Ebenso verhält es sich mit den Ursachen und Folgen von Sozialkapital. Beim Blick auf die Gründe bietet sich regelmäßig das gleiche Bild: Selbst bei Phänomenen, die ganz augenscheinlich eine affektive Dimension haben (z. B. Norminternalisierung, soziales Bindungsverhalten, Vertrauen usw.), fallen Bezüge auf eine empirisch robuste Handlungstheorie höchstens tentativ aus. In der Regel wird stattdessen an überholten sozialwissenschaftlichen Verhaltensmodellen 249 Da hier die theoretischen Grundlagen der Sozialkapitaltheorie im Vordergrund stehen, spielen im Folgenden die ebenfalls mannigfaltigen Probleme der empirischen Sozialkapitalforschung mit Messinstrumenten und der Interpretation von empirischen Befunden etwa der Putnam-Studien nur eine nachgeordnete Rolle (siehe dazu Kriesi 2007: 27 ff.; Portes und Vickstrom 2015; Westle et al. 2008c: 159 ff.).

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festgehalten. Das erschwert jedoch die überzeugende Modellierung von menschlichem Sozialverhalten und seiner Konsequenzen augenscheinlich erheblich.

3.4.1 Netzwerke: Von guten und schlechten Beziehungen Soziale Beziehungsnetzwerke sind die Kernkategorie aller Sozialkapitaltheorien. Sie sind Bestandteil jeder Definition und auch der zugrundeliegenden Intuition, dass soziale Bindungen für Menschen über ein ökonomisch quantifizierbares Maß hinaus wertvoll sind. Doch schon die Konzeptualisierung dieser vermeintlich „einfachen“ Kategorie offenbart einige Unklarheiten und Friktionen innerhalb der Theoriedebatte. So gelten in der politikwissenschaftlichen Forschung zu kollektivem Sozialkapital im Anschluss an Putnam vor allem soziale Vernetzungsstrukturen wie Vereine und Verbände aufgrund ihrer demokratieförderlichen Funktion als So­ zialkapital par excellence. Diese Verengung der Analyseperspektive auf zivilgesellschaftliche Strukturen von westlichen Demokratien ist aber ethnozentrisch und deshalb problematisch. Sie impliziert eine Höherbewertung von individualistisch ausgerichteten gegenüber kollektivistisch geprägten Sozialorganisationen, wie sie im Einzugsbereich des Konfuzianismus verbreitet sind (Chung et al. 2014; Yee 2015). Schon die Festlegung auf die Untersuchung des Effekts von Sozialkapital auf demokratische Performanz ist im Grunde nicht zu rechtfertigen. Eine allgemeine Theorie des Sozialkapitals muss auch erklären können, welchen Einfluss soziale Netzwerke in autoritären Regimen haben. Zielführender dürfte es deshalb sein, eine abstrakte sozialtheoretische Perspektive auf die Funktionen von sozialen Netzwerken einzunehmen. In diese Richtung weisen auch die Argumente mancher der hier behandelten Sozialkapitaltheoretiker. So weist Lin darauf hin, dass die Vorstellung in die Irre führe, schon das schiere Vorhandensein von Beziehungsnetzwerken könne – sozusagen „aus sich heraus“ – positive Effekte zeitigen. Auch Bourdieu und Coleman sehen soziale Beziehungsstrukturen eher als den „Nährboden für Sozialkapital“ (Diekmann 2007), gewissermaßen als Trägerstruktur für soziale Ressourcen. Wie diese Trägerstrukturen beschaffen sein müssen, um ihr zielerreichendes Potential zu entfalten, ist jedoch strittig (vgl. Westle et al. 2008c: 168). So schreibt Coleman vor allem primordialen Organisationen wie Familien und Glaubensgemeinschaften nützliche Konsequenzen zu. In solch dichten und geschlossenen Netzwerken sorge intensive soziale Kontrolle für einen hohen Grad an Normenkonformität; zudem vereinfachten gemeinsame Wissensbestände und Deutungsroutinen die Anbahnung kollektiven Handelns (Kriesi 2007: 40). Für Bourdieu hingegen ist genau diese soziale Mechanik höchst problematisch, komme sie doch

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vor allem privilegierten Gruppen zugute, die ihre Vorteile absichern wollen und somit gesellschaftliche Ungleichheiten verstetigen. Auch Putnam betont die problematischen Aspekte solcher engen Vernetzungen innerhalb von Gruppen – also von bindendem Sozialkapital. Nur brückenbildendes Sozialkapital integriere die gesellschaftlichen Teilsegmente, senke die Transaktionskosten für politische Prozesse und fördere so die Performanz einer Gesellschaft. Was „gute“ von „schlechten“ Netzwerken unterscheidet, ist also längst nicht geklärt. Diese Uneinigkeit ist in Teilen darauf zurückzuführen, auf welche Ebene der sozialen Wirklichkeit und welches Explanandum sich die Aufmerksamkeit richtet. Natürlich hängt die normative Beurteilung der Effekte von Sozialkapital von der Analyseebene ab: Was Individuen nützt, kann Gruppen schaden; was jene voranbringt, kann für Gesellschaften nachteilig sein – und umgekehrt (Portes 1998: 15 ff., 2014). Und je nachdem, ob die abhängige Variable das Emergieren von kollektiver Handlungsfähigkeit in sozialen Gruppen (Coleman), die Persistenz gesellschaftlicher Ungleichheiten (Bourdieu) oder demokratische Performanz (Putnam) ist, geraten ganz unterschiedliche Aspekte und Konsequenzen sozialer Vernetzung in den Blick. Wünschenswert wäre eine Sozialkapitaltheorie, die alle diese Ebenen und Effekte in einem schlüssigen Gesamtmodell verbindet. Dass diese nach wie vor nicht in Sicht ist, liegt auch daran, dass eine elaborierte Grundlagentheorie des menschlichen Sozialverhaltens fehlt. Im Grunde ist bisher nichts anthropologisch Belastbares über die kausalen Mechanismen hinter der Bildung sozialer Netzwerke bekannt (Patulny und Svendsen 2007). Zwar erklärt etwa Portes (1998: 15 ff.) diese mit Prozessen der sozialen Schließung, mit Konformitätsdruck und der Notwendigkeit der Abgrenzung nach außen zur Wahrung der Binnensolidarität. Er kann aber keine theoretische Fundierung dazu liefern. Auch Bourdieus Argumente weisen in diese Richtung, ohne dass er sich besonders für die Regelhaftigkeit der dabei ablaufenden psychischen Vorgänge zu interessieren scheint. Fukuyama (2001: 8) spricht gar davon, dass es in der Natur des Menschen liege, andere als Freunde oder Feinde einzuordnen, ohne diese Behauptung jedoch zu belegen oder so auszuführen, dass daraus ein robustes Argument würde. Solche wenig elaborierten Bezüge auf die psychische Dimension sozialer Handlung sind auch bei der Erklärung der Tatsache nicht unüblich, dass manche Bindungen stärker sind als andere. So wird die Entstehung enger Vernetzungsstrukturen verschiedentlich mit der menschlichen Neigung dazu begründet, sich eng an andere Individuen mit ähnlichen Einstellungen und Verhaltensweisen zu binden (Mouw 2006: 81 ff.). In den klassischen soziologischen Arbeiten zu solcher Homophilie von Homans (1950, 1968) sowie Lazarsfeld und Merton (1954) wird zwar ausdrücklich auf die anthropologische Dimension des menschlichen Bindungsverhaltens hingewiesen; die deshalb notwendige psychologische Mikrofun-

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dierung können sie selbst aber nicht liefern, sondern nur einfordern. Und auch das Modell der instrumentellen und konsumatorischen (bzw. expressiven) Motivation (Lin 1999, 2002) ist ein wenig überzeugender Versuch, das menschliche Bindungsverhalten als rational-nutzenmaximierend darzustellen.250 Die fehlende theoretische Fundierung der Unterscheidung von starken und schwachen Bindungen ist besonders problematisch angesichts der Tatsache, dass sie den einzigen nennenswerten Referenzpunkt für eine Erklärung von brückenbildendem sowie bindendem Sozialkapital darstellt. Die Aussage, es gebe keine robuste Erklärung sozialen Vernetzungsverhaltens innerhalb der Sozialkapitaltheorie, ist also keineswegs nur eine überspitzte Pointe. Tatsächlich liegt darin eines ihrer zentralen handlungstheoretischen Desiderate. Eine solche Theorie muss anthropologisch und evolutionär sein. Anthropologisch deshalb, weil „der Mensch“ in sozialen Beziehungsnetzwerken das entscheidende Element ist. Zwar mögen Menschen und ihre Netzwerke abhängig vom kulturellen Kontext sehr unterschiedlich anmuten. Abgesehen davon aber, dass Menschen sich im Großen und Ganzen mehr ähneln als sie sich unterscheiden, liegt in dem schieren Fakt, dass sie – anders als andere Tiere – allesamt in elaborierte soziale Beziehungsnetzwerke eingebunden sind, eine hinreichende Plausibilisierung der Vermutung, dass dahinter manifeste Gemeinsamkeiten stehen.251 Außerdem unterstellen auch sozialwissenschaftliche Postulate des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus raumzeitlich invariante Eigenschaften. Evolutionär muss diese Anthropologie der sozialen Beziehungen sein, weil es – wie sich nahezu alle Autoren einig sind – zu den grundlegenden menschlichen Antrieben gehört, miteinander in soziale Beziehungen treten zu wollen. Es gilt also zu begreifen, warum und unter welchen Bedingungen Menschen soziale Bindung für wertvoll halten (Kanazawa und Savage 2004, 2009b) – im übertragenen Sinne also danach zu fragen, warum Zucker süß schmeckt: Wer die Regelhaftigkeit menschlichen Handelns verstehen will, muss auch die naturgeschichtliche Herkunft der dahinterliegenden Antriebe ergründen. Deshalb gehören die ultimate Erklärungsperspektive und mit ihr die evolvierte Struktur von psychologischen Mechanismen in das Zentrum des handlungstheoretischen Interesses an sozialen Netzwerken.252 250 Siehe zu alldem S. 160 ff.; auf die besonderen Probleme der Unterscheidung von konsumatorischen und instrumentellen Handlungen wird im Folgenden immer wieder eingegangen, unter anderem im nächsten Abschnitt. 251 Außerdem wird sich im Kapitel 4 ganz praktisch zeigen, dass hinter unterschiedlichen Erscheinungsformen gleiche konditionale Mechanismen stecken können. Vgl. hierzu auch die nächste Fußnote. 252 Zum Zucker-Argument siehe S. 98 f., zu evolvierten psychologischen Mechanismen vgl. S. 94 f.

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3.4.2 Werte und Normen: Rationalität und Norminternalisierung Werte und Normen, die auf kooperative Gegenseitigkeit und gemeinsinniges Handeln abzielen, gelten als die zentralen inhaltlichen Komponenten von Sozialkapital. Angesichts dieser wichtigen Rolle in Sozialkapitaltheorien ist es erstaunlich, dass Werten und Normen in der einschlägigen theoretischen und empirischen Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt wurde (Ackermann und Freitag 2016). Zumindest rudimentäre Ansatzpunkte für konzeptionelle Weiterentwicklungen sind aber vorhanden: Zwar gebe es empirisch „keine eindeutige moralische Dimension des Sozialkapitals“, doch sei analytisch zwischen gesellschaftlichen Normen und gemeinsinnigen Werten zu trennen – wobei „zur Zeit noch völlig unklar“ sei, was daraus für das Konzept folge (Westle et al. 2008c: 165). Gemeinsinnige Werte – also individuelle normative Überzeugungen etwa in Bezug auf die positiven Aspekte von Gemeinschaft und Solidarität – sind vor allem für kollektives Sozialkapital als öffentliches Gut wichtig (vgl. Westle et al. 2008c: 165). Coleman sieht im mit dem Bedeutungsverlust traditioneller Vergemeinschaftungsformen einhergehenden Schwund solcher Werte eine Gefahr für die Stabilität sozialer Ordnung. Putnam hingegen vertritt die Überzeugung, dass Gemeinsinn gerade nicht in traditionellen und hierarchisch strukturierten, sondern in modernen, demokratisch-zivilgesellschaftlichen Sozialorganisationen tradiert, vermittelt und eingeübt wird. Gemeinsinnige Werte werden dabei in rekursiver kausaler Verbindung zu gesellschaftlichen Normen gebracht: Die Akzeptanz von allgemeinen Normen wird durch Einsicht in den Wert der Gemeinschaft erst möglich; aber ohne gesellschaftliche Normen lässt sich andererseits auf Dauer kein solidarisches Sozialgefüge stabilisieren. Gesellschaftliche Normen – also allgemeine und verbindliche Verhaltensregeln – begünstigen ihrerseits nämlich vertrauensvolle Kooperation und Erwartungssicherheit. Solche Verhaltensregeln sind beispielsweise die Normen, gewährte Gefälligkeiten zu erwidern (Reziprozität), sich an Gesetze zu halten (Konformität) und im Sinne der Gemeinschaft zu handeln (Kollektivität). Spezifische Verhaltensregeln wie Reziprozitätsnormen bleiben auf konkrete interpersonelle Beziehungen beschränkt („Wie du mir, so ich dir“), während generalisierte Regeln wie Konformitäts- und Kollektivitätsnormen allgemeine Gültigkeit beanspruchen (etwa: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ – und andere Versionen des kategorischen Imperativs). Wenn es gelingt, generalisierte Normen in sozialen Netzwerkstrukturen nachhaltig zu etablieren, erleichtert das letztlich effektives kollektives Handeln und die Produktion von Kollektivgütern. In der aktuellen Forschung weniger Beachtung findet Bourdieus Hinweis darauf, dass solche Normen samt ihrer Institutionalisierung und Ritualisierung auch der Abgrenzung und der Absicherung der Kooperationsdividende nach außen dienen.

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Es drängt sich aber die Frage auf, bis zu welchem Grad der Institutionalisierung gesellschaftliche Normen noch als Sozialkapital gelten können. Begreift man nämlich Institutionen als stabilisierte Normengefüge, so mag man auch sie unter Sozialkapital subsummieren (vgl. Ahn und Ostrom 2008). Gerade auf informelle Institutionen, also nicht rechtlich verankerte Regeln wie Tabus und Gepflogenheiten (North 1990), trifft das sicher zu – besonders wenn sie kollektivem Handeln zuträglich sind. Aber auch die Institution der Pfandschlösser an Einkaufswagen könnte dann als Sozialkapital gelten, löst sie doch ebenfalls ein Kooperationsdilemma (Diekmann 2007: 52 f.). Spätestens wenn formelle Institutionen wie der Staat zu Sozialkapital gezählt werden, ist das Konzept bis zur Unkenntlichkeit überdehnt und Theorien zum Einfluss von kollektivem Sozialkapital auf institutionelle Performanz haben ein veritables Tautologie-Problem. Wo genau aber die Grenze zwischen als exogen anzusehenden Institutionen und nach Coleman und Putnam als endogen zu behandelnden Normen verläuft, ist eine ganz offene konzeptionelle Frage.253 Zudem ist der kausale Zusammenhang zwischen Normen und den Dilemmata kollektiven Handelns keineswegs so eindeutig, wie das in der Sozialkapitalforschung unterstellt wird. In der Realität zeigt sich ebenso wie in Simulationen (Centola et al. 2005) immer wieder, dass Normen – ganz wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern – als allgemein akzeptiert erscheinen können, obwohl kaum jemand wirklich von ihnen überzeugt ist und sie folglich auch nicht berechenbar seinem eigenen Handeln zugrunde legt (Kriesi 2007: 41). Die Beziehung zwischen individuellen Werten und gesellschaftlichen Normen scheint also komplexer zu sein, als das in der Sozialkapitalforschung üblicherweise abgebildet wird. In diese Richtung weist auch Alvin Gouldner in seinem klassischen Aufsatz zu Reziprozitätsnormen: „Contrary to some cultural relativists, it can be hypothesized that a norm of reciprocity is universal. […] A norm of reciprocity is, I suspect, no less universal and important an element of culture than the incest taboo, although, similarly, its concrete formulations may vary with time and place.“ (Gouldner 1960: 171). 253 An dieser Stelle dürfte das Konzept des institutionellen Mechanismus nützlich sein. Institutionelle Mechanismen sind verlässlich auslösbare Handlungsketten, die sich aus den Wechselwirkungen von sozialen Positionen samt der damit verbundenen Ressourcen, den geltenden formellen und informellen Regeln sowie den Interessen der Positionsinhaber ergeben (Patzelt 2003: 66 ff.). Diese Perspektive zeigt klar die Bringschuld anthropologischer Theorien auf, welche die Rolle des „Faktors Mensch“ in solchen Handlungsketten zu klären haben; und sie betont überdies die Prozesshaftigkeit von Institutionalität und der Herstellung von Erwartungssicherheit, um die es bei Sozialkapital doch im Kern geht (vgl. Bankston und Zhou 2002).

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Diese in der Natur des Menschen verankerte Gegenseitigkeitsnorm sei ferner nicht weniger als ein Startmechanismus (‚starting mechanism‘) der menschlichen Vergemeinschaftung (Gouldner 1960: 176 f.). In welcher Weise die menschliche Psyche mit sozialen Normen interagiert, hält er daher für eine mithilfe des ökonomischen Paradigmas nur unbefriedigend ausgeleuchtete empirische Frage (Gouldner 1960: 171 ff.). Wohlgemerkt wendet sich diese Argumente sowohl gegen strukturalistische als auch gegen individualistische Handlungstheorien der Norminternalisierung und -befolgung. Obwohl der Text in der Sozialkapitalforschung vielzitiert ist, wird alldem dort keine nennenswerte Beachtung geschenkt. Die Frage, ob und wie in der menschlichen Natur verankerte Prädispositionen die Etablierung und Aufrechterhaltung von Normen der Gegenseitigkeit beeinflussen, wird in der Sozialkapitalforschung demnach offenkundig nicht als sonderlich relevant erachtet. Das muss auch nicht verwundern, wurzeln ihre einschlägigen Argumentationen doch letztlich ausnahmslos in Tabula-rasa-​Hand­ lungstheorien: Rational-Choice-Theoretiker bauen auf den behavioristischen Tauschtheorien von George Caspar Homans und Peter Blau auf. Strukturalisten und Neomarxisten wiederum stützen sich mindestens implizit auf funktionalistisch-relativistische Ansätze von Kulturanthropologen wie Bronislaw Malinowski und Marcel Mauss. Beide Erklärungen laufen hinsichtlich einer empirischanthropologischen Mikrofundierung von Reziprozität jedoch buchstäblich ins Leere.254 Überhaupt sind die handlungstheoretischen Grundlagen des in den meisten Sozialkapitaltheorien zentralen Erklärungsterms zur Befolgung von Normen und zur Wertorientierung sozialen Handelns überaus dünn. Sie erschöpfen sich letztlich im Verweis auf Norminternalisierung und die Ergänzung des Rational-​ Choice-Paradigmas um konsumatorische Handlungen (vgl. Portes 1998: 7): Während instrumentelle Handlungen der Maximierung des eigenen ökonomischen Nutzens dienen, werden konsumatorische Handlungen als dahingehend rational aufgefasst, dass sie der Befriedigung eines inneren Bedürfnisses dienen. Diese in den Sozialwissenschaften weit über die Sozialkapitalforschung hinaus verbreitete Erweiterung des neoklassischen Rationalitätsbegriffs erlaubt es, die Befolgung von Regeln auch dann rational erscheinen zu lassen, wenn sie ohne erkennbaren Nutzen erfolgt. Wurde nämlich im Zuge von Sozialisationsprozessen eine Norm internalisiert, dann verbindet sich mit ihrer Befolgung ein positives Gefühl, mit ihrer Verletzung aber ein negatives. Folglich wird regelkonformes soziales Handeln

254 Vgl. zu alldem die nachfolgenden Argumente und Verweise, insbesondere die Fußnote 256. Zur Anthropologie von Reziprozität und Tausch siehe auch S. 238 ff.

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von konsumatorischen Motivationen mit dem rationalen Ziel ausgelöst, den eigenen emotionalen Nutzen zu maximieren.255 An dieser Argumentation zeigt sich wie unter dem Brennglas eine der zentralen Einsichten der bisherigen Analyse: Das Sozialkapitalkonzept war bei methodologischen Individualisten wie Coleman gerade die Reaktion auf die nicht nur von Gouldner artikulierte Einsicht, dass das „undersocialized concept of man“ (Granovetter 1985) des egoistisch-nutzenmaximierenden Homo oeconomicus der Realität sozialen Handelns nicht gerecht wird (Coleman 1994: 302). In der Konsequenz wurde diese Prämisse aber schlicht mit dem Konzept des kulturell determinierten Homo sociologicus kombiniert – seinerseits ein „oversocialized concept of man“ (Wrong 1961) ohne echte Mikrofundierung. Auch Bourdieu bietet hier keine brauchbare handlungstheoretische Alternative, bleibt bei ihm doch das Verhältnis von ökonomischen Rationalitäten und kultureller Prägung ebenso unbestimmt.256 Diese Vermischung von zwei allzu reduktionistischen anthropologischen Prämissen löst die handlungstheoretischen Probleme nur scheinbar und wirft letztlich mehr Fragen auf als sie beantwortet. So scheint die Verhaltensregel der egoistischen Nutzenmaximierung einerseits auch im Hinblick auf Normenkonformität zur Natur des Menschen zu gehören und sozialen Tatsachen noch vorgängig zu sein (Braun und Voss 2014: 71). Andererseits können Algorithmen individueller Entscheidungsfindung offenbar durch Enkulturationsprozesse in die Persönlichkeit eingeschrieben werden. Erstens gibt es jedoch keine explizite Theorie davon, nach welchen Regeln und unter welchen Bedingungen sich Norminternalisierung vollzieht. Zweitens und damit in Verbindung stehend ist das Verhältnis von Nutzenmaximierungsregel und Norminternalisierung theoretisch unterspezifiziert. Drittens bleibt der Verweis auf Emotionen als handlungsregulierende Mechanismen hinter konsumatorischen Motivationen ganz eklektisch und unsystematisch. Viertens machen diese Aufweichungen des Rationalitätsparadigmas elaborierte Antworten auf die Frage nötig, welche Präferenzordnung menschlichem Handeln zugrunde liegt. Das alles sind Fragen, die mit sozialwissenschaftlichen Mitteln allein offenkundig nicht beantwortet werden können. Im Zusammenhang mit Normen und

255 Siehe zu alldem auch die Ausführungen zu Lins Unterscheidung von instrumentellen und expressiven Handlungen auf S. 158 ff. samt der Fußnoten 223 bis 227. Hier wird der Begriff „konsumatorisch“ dem synonymen „expressiv“ vorgezogen, wenn von nicht-instrumentellen Motivationen und Handlungen die Rede ist. 256 Zu den Verhaltensmodellen des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus siehe grundlegend S. 45 – 56, zu den anthropologischen Grundlagen bei Bourdieu und Coleman siehe S. 128 ff. bzw. S. 136 ff.

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Werten zweifellos wichtige sozialtheoretische und institutionenanalytische Perspektiven sollten dabei aber nicht in grundsätzlicher Opposition zu empirisch-​ anthro­pologischen Ansätzen gesehen werden. Stattdessen dürfte es vielversprechend sein, der von Gouldner ausgelegten Suchspur zu folgen und zu fragen, inwiefern schon in der Natur des Menschen manche normativen Dispositionen angelegt sind und in welcher Weise diese mit kulturellen Konstruktionen wie Institutionen und Moralsystemen wechselwirken.

3.4.3 Vertrauen: Von strategischen Zielen und apriorischer Moral Vertrauensfragen stellen sich überall dort, wo Menschen kooperieren wollen oder müssen. Weil Vertrauen deshalb eine der wichtigsten Kategorien der Sozialwissenschaften ist, mangelt es nicht an sehr unterschiedlichen Konzeptualisierungsvorschlägen und kontroversen Diskussionsbeiträgen (Hardin 2001, 2002; Fukuyama 1995; Luhmann 1968/2000, 2001; Offe und Hartmann 2001; Uslaner 2008b). Diese Heterogenität schlägt sich auch in der Sozialkapitaldebatte nieder. So besteht grundsätzlicher Dissens hinsichtlich der Frage, ob Vertrauen eine Vorbedingung, eine Folge oder eine Dimension von Sozialkapital ist (Adam und Rončević 2003: 167; Lin 2008: 64). Putnam bezeichnet es in „Making Democracy Work“ als eine Form von Sozialkapital; Fukuyama (1995: 26, 2001: 8 f.) setzt So­ zialkapital gar mit (generalisiertem) Vertrauen gleich. Woolcock (2001: 9) vertritt die Auffassung, dass Vertrauen eine direkte Folge von Sozialkapital sei, und auch für Coleman ist nicht Vertrauen selbst die soziale Ressource, sondern in sozialen Netzwerken verbreitete Vertrauenswürdigkeit – eine Position, der sich Putnam in „Bowling alone“ anschließt. Auch in der aktuellen empirischen Forschung wird Vertrauen überwiegend getrennt von Sozialkapital erfasst; die Verbindung zwischen Vertrauen und Sozialkapital gilt aber als theoretisch unterspezifiziert (Kwon und Adler 2014: 417; Vera-Toscano et al. 2013: 1333): Einerseits hängt Vertrauen offenbar von den in sozialen Netzwerken verbreiteten Normen und Werten ab; andererseits kann es aber den Aufbau sozialer Netzwerke bedingen (vgl. dazu Sabatini 2009b). Fortschritte bei der Konzeptualisierung von Vertrauen wären angesichts dieser grundsätzlichen Probleme höchst willkommen. Bisher sind in der Sozialkapitalforschung zwei Konzeptualisierungen von Vertrauen verbreitet (vgl. Westle et al. 2008c: 166 f.). In der Rational-Choice-Perspektive wird Vertrauen als rationale Reaktion auf vertrauenswürdiges Verhalten anderer und somit als Mittel zur individuellen Nutzenmaximierung aufgefasst. Es ist wissensbasiert, gründet also auf kooperativen Vorerfahrungen und sozialen Informationen (Yamagishi und Yamagishi 1994; Hardin 2002: 36 ff.). Dies antizipierend setzt der „Schatten der Zukunft“ (Axelrod 1987) den Akteuren unter

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den Bedingungen wiederholter Interaktion Anreize zu kooperativem Verhalten (Frings 2010: 181; Wiens 2013: 293 ff.). Wer sich als vertrauenswürdig herausstellt, verbessert seine Aussichten auf Kooperationsgewinne in der Zukunft. In die eigene Vertrauenswürdigkeit wird also strategisch investiert, weshalb sie in dieser Perspektive analytisch wichtiger ist als das Vertrauen selbst (Hardin 2002: 55 f.). In kulturalistischer Perspektive ist Vertrauen hingegen eine moralische Wertvorstellung, die über Sozialisationsprozesse internalisiert wird (Uslaner 2008b, 2002). Sie wird individuell handlungsleitend, wenn ein als allgemeingültig angesehenes Moralsystem die Vorstellung erzeugt, es sei richtig, sich aufrichtig und ehrlich zu verhalten (Fukuyama 1995: 153). Solche Normensysteme fungieren in dieser Theorieperspektive als Quell einer grundsätzlichen Zuversicht in die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen und führen dazu, dass sich Menschen a priori gegenseitig so behandeln, als ob sie einander vertrauen könnten (Uslaner 2008b: 102).257 Anders als bei der Erklärung von Normenkonformität sind die Verhaltensmodelle des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus hier noch in ihrer Reinform zu besichtigen.258 Deutlicher noch als dort tritt deshalb vor Augen, wie einseitig, realitätsfern und mithin handlungstheoretisch unbefriedigend beide Annahmen sind. Es überrascht dann auch nicht, dass für viele grundsätzliche Probleme bei der Konzeptualisierung von Vertrauen keine Lösungen in Sicht sind. So fehlt Wissen darüber, welche Arten von Vertrauen es gibt und welche Rolle sie für Sozialkapital spielen. So wird zwar gelegentlich zwischen „thick trust“ in Familien- und Freundesbeziehungen und „thin trust“ in losen Verbindungen unterschieden (vgl. Hardin 2001), die kausalen Argumentationen laufen aber wie schon bei der analogen Diskussion um strong ties und weak ties ins Leere; und es kann kein überzeugender theoretischer Bezug zur Verursachung von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital hergestellt werden. In der Forschung zu kollektivem Sozialkapital kommt ferner dem generalisierten Vertrauen eine wichtige Rolle als einem gesellschaftlichen Aggregatzustand zu, der Auskunft über das durchschnittliche Niveau der individuell wahrgenommenen Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen gibt (Ahn und Ostrom 2008: 88) – und damit auch über die Menge an Sozialkapital in einem Gemeinwesen. Der Zusammenhang zwischen interindividuellem Vertrauen auf der Mikroebene und generalisiertem Vertrauen ist aber ebenso ungeklärt wie jener zwischen relationalem und kollektivem Sozialkapital (Westle et al. 2008c). Wie dort wird 257 Für Luhmann (1968/2000) ermöglicht solche apriorische Zuversicht in die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen überhaupt erst, trotz der Unübersichtlichkeit und Nicht-Kontrollierbarkeit sozialer Wirklichkeit in Kooperationsbeziehungen zu treten. 258 Zwar hat Frings (2010) eine Integration beider Perspektiven vorgelegt, diese bleibt aber ohne Bezüge zur Sozialkapitaltheorie und zur empirischen Anthropologie.

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durchaus grundsätzlich hinterfragt, wie sinnvoll es überhaupt ist, von so etwas wie Vertrauen gegenüber einem Kollektiv oder einer sozialen Struktur zu sprechen (Paxton 1999; Uslaner 2008b). Zudem hat sich Vertrauen – wohl nicht zuletzt auch infolge der defizitären Konzeptualisierungen – als ein schwer messbares Phänomen erwiesen; und das Zusammenfassen individueller Wahrnehmungen zu kollektiven Eigenschaften bringt dann noch zusätzliche theoretische und methodische Probleme mit sich (Glaeser et al. 2000; Lillbacka 2006; Vyncke 2012). Immerhin kommt in den engagierten Kontroversen um Vertrauen die Rolle der Natur des Menschen gelegentlich sogar explizit zur Sprache. Anders als bei Normen und Netzwerken gilt es als offenkundig und unstrittig, dass Vertrauen etwas subjektiv Erlebtes und Empfundenes ist und folglich eine „mentale“ Komponente hat (Vera-Toscano et al. 2013: 1336). Selbst Fragen danach, ob Ver­trauen „eine tieferliegende Neigung und/oder einen Wert an sich darstellt“ (Westle et al. 2008c: 166) und möglicherweise gar auf genetische Dispositionen zurückgeht (Häuberer 2010: 82), werden mitunter aufgeworfen. In diesem Zusammenhang wird häufig eine Studie zitiert, die dem differentiellen Effekt von genetischen Grundlagen und sozialen Einflüssen nachspürt – und deren Befunde der verbreiteten Vorstellung widersprechen, dass Vertrauen nur kulturelle Ursachen hat (Sturgis et al. 2010). Uslaner (2008b: 104) stellt unter Verweis auf (ziemlich veraltete) evolutionäranthropologische Literatur fest, dass Menschen eine Prädisposition dafür haben, Fremden weniger zu vertrauen als ihresgleichen, führt den Gedanken aber nicht systematisch weiter. Überhaupt wird diesen Bezügen in keinem der genannten Texte weiter nachgegangen. Woolcock (2010: 480) behauptet hingegen ohne Belege oder plausibilisierende Argumente, dass Vertrauen eine soziale Konstruktion sei und nicht auf genetischen Prädispositionen beruhe, dass weiterhin aber methodologische und theoretische Fragen zur Rolle von Vertrauen im Grunde müßig seien, weil sie sich ohnehin nicht klären ließen.259 Solches Kapitulieren der Sozialwissenschaften vor einem vorgeblich genuin sozialen Phänomen trägt zur Lösung der konzeptionellen Probleme mit der Kategorie Vertrauen aber ebenso wenig bei wie das unsystematische „Herumstochern“ in anthropologischen Wissensbeständen. Auch ist die Vorstellung verfehlt, Aspekte menschlichen Handelns seien entweder biologisch oder kulturell.260 Analytisch fruchtbar wird es hingegen auch hier sein, den empirischen Wechselwirkungen zwischen sozialen Konstruktionen und den biologischen Grundlagen des Verhaltens nachzuspüren. 259 Im selben Text heißt es übrigens, die Sozialkapitalforschung könne von interdisziplinären Bezügen zu den Naturwissenschaften enorm profitieren. 260 Siehe hierzu S. 101 ff. sowie S. 205 ff.

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3.4.4 Sozialkapital in Erklärungsmodellen: Kausalstruktur und Handlungstheorie Die Blackbox: Wechselwirkungen von Netzwerken, Vertrauen, Normen und Werten Die Effekte von Sozialkapital entstehen nach gängiger Ansicht (auch) aus der Interaktion seiner Komponenten bzw. Dimensionen (vgl. Westle et al. 2008b: 46 f.). Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, gibt es über Art der kausalen Zusammenhänge aber sehr unterschiedliche Ansichten:261 Für Putnam sind zivilgesellschaftliche Netzwerke als „Schulen der Demokratie“ die Brutstätte von Werten, Normen und Vertrauen. Aber auch die Auffassung, dass Netzwerke durch Vertrauensbeziehungen erst möglich werden, wird verschiedentlich vertreten: „The trusting join“ (Newton 1999: 15). Für andere ist die Beziehung rekursiv und selbstverstärkend: Enge Beziehungsstrukturen begünstigen die Verbreitung von Vertrauen, gemeinschaftsorientierten Werten und Reziprozitätsnormen, welche dann ihrerseits gelingende Interaktion in sozialen Netzwerken ermöglichen (Adam und Rončević 2003: 166; Woolcock 2010: 480). Wieder andere betonen, dass auch negative Interaktionseffekte denkbar sind: Die Bereitschaft zu politischer Partizipation und die Akzeptanz von staatlich durchgesetzten Normen können sich auch aus Misstrauen gegenüber den Mitmenschen speisen – also gerade nicht aus einem vertrauensvollen gesellschaftlichen Klima (Zmerli 2010: 657 – ​662; vgl. Gabriel et al. 2002; Westle et al. 2008c: 170 ff.). Portes (1998: 8) hat ferner auf das mit Bourdieu erklärbare Phänomen der „bounded solidarity“ hingewiesen: Der Geltungsbereich gemeinsinniger und prosozialer Normen endet häufig an den Außengrenzen von Gruppen bzw. geschlossenen sozialen Netzwerken. Wie sich herausgestellt hat, bleiben die einschlägigen handlungstheoretischen Erklärungen meist illustrativer Natur und gründen sich entweder auf Klassiker oder plausible Intuitionen. Mal stützen sie sich auf die Annahme des rationalen Nutzenmaximierers, mal auf die des kulturell determinierten Norminternalisierers, dann wieder auf nicht weiter konzeptualisierte „kraftvolle Motivationen“ (Portes 1998: 8), auf einen opak bleibenden „Eifer“ (Coleman 1994: 273 ff.), auf konsumatorische Rationalitäten, Homophilie oder die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. All diese Verweise enthalten starke anthropologische Annahmen, 261 Das liegt auch daran, dass die einzelnen Komponenten in den verschiedenen Ansätzen auch unterschiedlich konzeptualisiert und operationalisiert werden, wie in den letzten Kapiteln gezeigt wurde. Die uneinheitliche Befundlage zu den Beziehungen zwischen den Komponenten hat wohl auch damit zu tun (Westle et al. 2008c: 168 f.).

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ohne dass das erkennbar reflektiert oder gar in einen integrierenden handlungstheoretischen Rahmen eingeordnet würde. Es fehlen systematische Verknüpfungen zu Theorien auf darunterliegenden – psychologischen, neurologischen und biologischen – Analyseebenen. Und so werden auch die methodologischen Individualisten unter den Sozialkapitaltheoretikern dem selbst gesetzten Anspruch konsequenter Mikrofundierung nicht gerecht. Proximater Funktionalismus: Sozialkapital als unabhängige Variable Das zentrale Argument aller relevanten Ansätze ist es, dass Sozialkapital positive Auswirkungen auf allerlei individuelle und kollektive Outcomes hat.262 In dieser Betonung der Zielerreichungsfunktion von sozialen Beziehungen liegt ja gerade der genuine analytische Mehrwert des Konzeptes (Bankston und Zhou 2002). Gleichzeitig wird Sozialkapital oft nicht über seine Merkmale oder Ursachen, sondern eben diese Funktionen definiert – und folglich der kausale Zusammenhang schon vorausgesetzt (Adam und Rončević 2003: 168; Woolcock 2001: 9). Solche funktionalistischen Definitionen sind freilich höchst anfällig gegenüber ungeeigneten Bewertungsmaßstäben für erfolgreiche Zielerreichung. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die in Konzeptualisierungen eingelassene Wahl der Analyseebene ebenso wie Ethnozentrismus und andere normative Setzungen die Ergebnisse empirischer Analysen stark verzerren können. Wenn als Sozialkapital definiert ist, was der Erreichung von über diese Definition a priori bestimmten Zielen dient, dann werden empirische Studien nur zu dem Ergebnis kommen können, dass Sozialkapital einen positiven Einfluss auf die jeweilige abhängige Variable hat (Sabatini 2009a: 432). Man sitzt aus konzeptionellen Gründen einer Tautologie auf, in der Sozialkapital nicht von seinen Folgen zu trennen ist (Portes 1998: 19 ff.). Negative Konsequenzen von Sozialkapital können mithilfe solcher analytischen Kategorien gar nicht erst beobachtet und folglich auch nicht erklärt werden (Portes und Landolt 1996; Portes 2014). Und so suggerieren regelmäßig Anführungszeichen bei der Rede von der „dunklen Seite“ von Sozialkapital (CamposMatos et al. 2015; Zmerli 2010), dass eine Verbindung von Sozialkapital mit gesellschaftspolitisch positiven Outcomes der Normalfall ist (siehe auch Ackermann und Freitag 2016: 279 f.). Dies ist aber gerade angesichts der Tatsache, dass inzwischen viele Gegenbelege vorliegen (Portes und Vickstrom 2015), nicht mehr als reiner Modellplatonismus, der sich aus der populären Konzeptualisierung von

262 Vgl. S. 162 ff.

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Sozialkapital von seinen aus sozialtheoretischer Sicht wünschenswerten Folgen her ableitet.263 Die Frage ist dann freilich, welchen explanatorischen Wert das Konzept wirklich hat. Sie wird umso virulenter, wenn man bedenkt, dass sich die vermeintlichen Folgen von Sozialkapital letztlich oft auf seine einzelnen Komponenten zurückführen lassen (Diekmann 2007). So steigert etwa Vertrauen allein die Kooperationsbereitschaft ebenso, wie es entsprechende Normen tun. Wenn aber die Sozialkapitaltheorie nur eine Theorie der Effekte der einzelnen Dimensionen des Sozialkapitals ist, dann steht grundsätzlich infrage, wozu es den Begriff braucht. So würde die Beschreibung und Erklärung des Befundes, dass gesellschaftliches Vertrauen wirtschaftliche Performanz begünstigt, streng genommen auch ohne das Konzept des Sozialkapitals auskommen (Knack und Keefer 1997). In einer Studie zu den Auswirkungen von Sozialkapital auf die Qualität des Regierens hat sich sogar gezeigt, dass das Konstrukt die Daten nicht besser erklärt als seine einzelnen Dimensionen (Knack 2002). Sozialkapital erscheint angesichts dessen nur noch als heuristisches Sammelkonzept für Phänomene, die gesellschaftliche Kooperation begünstigen (Diekmann 2007: 55 f., 63; vgl. auch Woolcock 2010). Ganz gleich ob die Mobilisierung von individuellen Vorteilen aus sozialen Beziehungen, die Überwindung von Kooperationsdilemmata, die Produktion von Kollektivgütern, ökonomische Performanz oder gutes Regieren die abhängige Variable ist: In der Regel wird Sozialkapital als unabhängige Variable einer wie auch immer gearteten Kooperationstheorie gehandhabt (Diekmann 2007: 54). Aber selbst Fürsprecher des Konzeptes gestehen ein, dass die Sozialkapitaltheorie derzeit nicht über den Status einer „Proto-Theorie der Kooperation“ hinauskommt (Woolcock 2010: 476). Schon den klassischen Ansätzen fehlt es ebenso wie aktuellen Konzeptualisierungen an wirklich theoriehaltigen Aussagen über die Vorbedingungen für Sozialkapital und die Wirkungsketten bei der Hervorbringung von Kooperation und kollektivem Handeln. Empirisch-anthropologisch fundierte Auskünfte zu psychosozialen Ursachen und Kausalmechanismen sucht man vergebens. Stattdessen stützen sich die Erklärungen von Kooperation auf anthropologische Setzungen von zweifelhaftem methodologischen und explanatorischen Wert. In Ermangelung einer konsistenten Handlungstheorie wird versucht, die Handlungsmotivationen der beteiligten Akteure gleichsam per ‚reverse engineering‘ so zu rekonstruieren, dass ein plausibles Narrativ entsteht. Im Großen und Ganzen wird sich dabei der zwei üblichen Verhaltensmodelle bedient. Einesteils wird dabei mithilfe von Rational-Choice-Modellen die unmittel-

263 Siehe hierzu S. 187 ff.

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bare Verursachungsstruktur von Handlungsentscheidungen ins Visier genommen. Andernteils wird über behavioristische Annahmen die Wirkung von Sozialisa­ tionserfahrungen erfasst. In der Sozialkapitaltheorie werden folglich zwei der vier Fragen systematisch ausgeblendet, die aus empirisch-anthropologischer Sicht für die Erklärung menschlichen Verhaltens wichtig sind. Beachtet werden die proximaten, also unmittelbaren kausalen Wirkursachen, nämlich einesteils die konkreten Auslöser und andernteils die in der ontogenetischen Entwicklung liegende Gründe. Außen vor bleiben jedoch die ultimaten, also die funktionellen Zweckursachen, die im adaptiven Wert und den Bedingungen der phylogenetischen Hervorbringung bestimmter Verhaltensweisen liegen.264 Die Analyse dieser evolutionären Ursachen würde aber offenlegen, welche Funktionen menschliche Verhaltensprädispositionen zur Produktion von Sozialkapital in der Stammesgeschichte tatsächlich erbracht haben. Die evolutionäre Anthropologie eröffnet also einen Ausweg aus dem proximaten Funktionalismus der Sozialkapitaltheorie. Weil auf Basis nur sozialwissenschaftlicher Wissensbestände nicht analytisch fassbar wird, was Sozialkapital ist, wie es verursacht wird und wie es funktioniert, bleibt nicht viel übrig, als es über seine (unterstellte) direkte Funktion her zu konzeptualisieren: den zielerreichenden Nutzen für Individuen und Kollektive. Anders stellte es sich dar, wenn man seinen evolutionären Nutzen und die entlang dieses adaptiven Werts evolutionär geformten psychologischen Mechanismen mit in die Analyse einbezöge. Dann ließe sich Sozialkapital genau mit dem Fokus auf diese psychischen Antriebsstrukturen konzeptualisieren und in der Realität aufsuchen – und zwar ganz unabhängig davon, ob es in einem konkreten kulturellen Kontext und auf einer bestimmten Analyseebene tatsächlich als nützlich erscheint oder eben negative Folgen hat. Mit anderen Worten: Der theoretische Kern des Konzepts wäre dann tatsächlich die kausale Struktur hinter jener positiven Kooperationshaltung, die ohnehin den kleinsten gemeinsamen Nenner nahezu aller Konzeptualisierungen von So­ zialkapital ist (Koob 2007: 291). Dass sich dieser Anspruch auch einlösen lässt, wird die eingehende Befassung mit diesen ultimaten Ursachen von Kooperation – und mithin von Sozialkapital – demonstrieren.

264 Zu Tinbergens vier Fragen sowie der Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen siehe S. 86 ff.

Netzwerke, Normen und Vertrauen: Kategorien und Kausalhypothesen 187

Anthropologischer Modellplatonismus: Sozialkapital als abhängige Variable Spieltheoretisch lässt sich relationales Sozialkapital als spontanes Produkt in iterierten Gefangenendilemma-Situationen sparsam erklären (Ahn und Ostrom 2008; Brehm und Rahn 1997):265 Wenn Homines oeconomici wiederholt aufeinandertreffen und es deshalb rational für sie ist, die Folgen ihrer Handlungen für zukünftige Interaktionen zu kalkulieren, entwickeln sie einen Sinn für eigene und fremde Reputation, achten auf Normenkonformität, Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Deshalb werden selbst Kants „rationale Teufel“ unter den Bedingungen wiederholter Kooperationsversuche zu prosozialem Verhalten neigen, also: Sozialkapital hervorbringen (vgl. Fukuyama 2001: 16). Solche Aussagen sind voller anthropologischer Implikationen und offener Fragen: Gelten sie für alle Arten von sozialen Beziehungen – zwischen Bekannten, Freunden, Verwandten, Paaren ? Bei Coleman sind etwa Familien als primordiale Sozialorganisationen besonders effektive Lieferanten von Sozialkapital; er stellt für diesen Sonderstatus aber keine explizite Rational-Choice-Erklärung bereit. Basieren die Kooperationsentscheidungen von Familienmitgliedern dennoch auf bewusst kalkulierender ökonomischer Rationalität ? Folgt daraus, dass Sozialkapital in der menschlichen Stammesgeschichte erst dann recht plötzlich entstand, als die kognitiven Fähigkeiten des Menschen den dafür nötigen Schwellenwert überschritten ? Hat all das folglich nichts mit dem Kooperationsverhalten anderer Spezies wie dem von Primaten zu tun ? Vor allem aber: Warum handeln Menschen auch über dieses rationale Maß hinaus immer wieder altruistisch – etwa gegenüber Fremden oder in anonymen Situationen ? Die Sozialkapitaltheorie hält keine aus anthropologischer Perspektive befriedigenden Antworten auf all diese Fragen bereit. Aber darf eine Theorie gerade an einer so zentralen Stelle – der Produktion ihrer zentralen Kategorie – so „schmalfüßig“ sein ? Auch die Erklärung der Hervorbringung von kollektivem Sozialkapital als öffentlichem Gut ist mit Blick auf die anthropologischen Argumente alles andere als überzeugend. Für Coleman und Putnam ist kollektives Sozialkapital ein „zufäl265 Die Dilemmata kollektiven Handelns sind auch für evolutionär-anthropologische Theorien der Kooperation (etwa im Zusammenhang mit der evolutionären Spieltheorie) von entscheidender Bedeutung. Das Gefangenendilemma wird deshalb dort ausführlicher behandelt (siehe S. 239 f.). Im Kern geht es bei diesem mathematischen Spiel um Folgendes (Chammah und Rapoport 1965; Axelrod 1987): Zwei aufeinandertreffende Akteure stehen jeweils vor der Entscheidung, ob sie mit dem Gegenüber kooperieren oder ihn betrügen. Die Spieltheorie zeigt, warum es in dieser idealtypischen Situation nicht zu Kooperation kommt, obwohl dies insgesamt die beste Option wäre: Aus Angst vor dem Betrug des Anderen oder in Erwartung der Ausbeute des Betruges entscheiden sich beide für das Betrügen – erreichen so aber das schlechteste aller möglichen Ergebnisse des „Spiels“.

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

liges“, also nicht intendiertes Nebenprodukt des intentionalen Handelns rationaler Nutzenmaximierer. In der zugrundeliegenden Rational-Choice-Theorie kann es prosoziales Verhalten, das dem Individuum keine egoistischen Vorteile in Aussicht stellt, schließlich nicht geben. Allerdings hat sich gezeigt, dass diese methodologische Fundierung mit dem Rückgriff auf „konsumatorische Motivationen“ regelrecht zurechtgebogen wird. Jener soll letztlich die Nebenprodukt-Hypothese mit der allenthalben zu besichtigenden sozialen Realität in Einklang bringen, dass sich Menschen immer wieder ganz gezielt und ökonomisch irrational an kollektivem und gemeinsinnigem Handeln beteiligen. Dass kollektives Sozialkapital als Explanandum noch längst nicht durch eine konsistente Handlungstheorie schlüssig auf seine Ursachen zurückgeführt werden kann, dürfte aber ohnehin längst klargeworden sein. Auch der institutionentheoretische Verweis auf die kausale Kraft von sozialen Makrostrukturen schafft hier nur wenig Abhilfe. Zwar stimmt es wohl, dass gesellschaftliche Normen und gemeinsinnige Werte in Institutionen konserviert werden und so durch die Zeit transportiert – vulgo: tradiert – werden können. Dennoch ist der entscheidende handlungstheoretische Aspekt hieran, welche Rolle die menschliche Psyche bei der Antizipation, der Internalisierung und der Reproduktion solcher Normen spielt. Damit verbunden ist auch die Frage danach, welche Rolle die Evolution der menschlichen Kulturfähigkeit in der Stammesgeschichte bei der ursprünglichen Genese von Institutionen gespielt hat und was das für ihre Funktionsweise bedeutet. Selbst der Verweis auf die kausale Rolle von kulturellen Figurationen für menschliche Prosozialität und mithin für Sozialkapital bedarf deshalb evolutionär-anthropologischer Fundierung. Bei der Erklärung des Zustandekommens von Sozialkapital wird bisher jedoch die proximate Erklärungsebene nicht verlassen. Stattdessen grassiert im Bereich der anthropologischen Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie der Modellplatonismus (Albert 1963, 1998: 114 ff.): Mithilfe konventionalistischer Immunisierungsstrategien wird versucht, Modelle gegen Erfahrungstatsachen abzusichern. Man hält an den Als-ob-Anthropologien des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus fest, ohne sie im Hinblick auf ihre interne und externe Konsistenz sowie auf ihren explanatorischen Nutzwert grundsätzlich zu hinterfragen. Vielmehr werden sie so behandelt, als müsse man die konzeptionellen Probleme mit ihrer Hilfe lösen. Abweichungen werden durch unsystematische Aufweichungen und Uminterpretationen in das Modell inkorporiert – wie etwa im Fall der konsumatorische Motivationen, mit deren Hilfe auch alles Irrationale als irgendwie rational modelliert werden kann. Der Bildung einer brauchbaren Kooperations- und Sozialkapitaltheorie steht solches Vorgehen aber offensichtlich im Wege.

Gesamtschau: Das anthropologische Dilemma der Sozialkapitaltheorie 189

3.4.5 Bilanz: Eine Proto-Theorie der Kooperation Die Sozialkapitaltheorie ist zurzeit noch nicht mehr als eine Proto-Theorie der Kooperation (Woolcock 2010: 476). Zwar bildet sie einleuchtende Vermutungen ab und bündelt wichtige, miteinander verknüpfte soziopolitische Kategorien in einem Rahmenkonzept. Jedoch bleibt die Theorie ihre zentrale Leistung schuldig: eine fassbare Erklärung – hier: der kausalen Mechanismen hinter Kooperation und kollektivem Handeln auf der Mikroebene. Als Gründe dafür haben sich funktionalistische Definitionen, unklare Konzeptualisierungen der zentralen Kategorien sowie fehlendes Wissen über die Zusammenhänge von sozialer Mikro- und Makroebene erwiesen. Hinter diesen Aporien und Defiziten stehen grundsätzliche anthropologische Unklarheiten. Die dem Konzept zugrundeliegende Einsicht, dass Menschen soziale Wesen sind und ihre Beziehungen als Ressourcen einsetzen können, bleibt konzeptionell auf der Ebene einer plausiblen Intuition stecken. Sie wird nicht in eine empirisch robuste und logisch konsistente Handlungstheorie überführt. Stattdessen werden Rational-Choice-Theoreme mit sozialisationstheoretischen Versatzstücken kombiniert. Einesteils ist das ein weiterer Beleg für jene Feststellung, welche für Coleman und Bourdieu der Ausgangspunkt ihrer theoretischen Überlegungen war: Die soziale Wirklichkeit lässt sich allein auf der Basis der methodologischen Prämissen des Homo oeconomicus und des Homo sociologicus nicht angemessen erfassen. Bei der Betrachtung aller zentralen Kategorien und Kausalhypothesen der Sozialkapitaltheorie ist andernteils aber deutlich geworden, dass die Lösung dieses Problems auch nicht in deren einfacher Kombination liegt.

3.5 Gesamtschau: Das anthropologische Dilemma der Sozialkapitaltheorie Dem Konzept Sozialkapital liegt die implizite Annahme zugrunde, dass soziale Beziehungen für Menschen etwas Wertvolles sind, dass also Sozialität nicht weniger ist als ein Bestandteil der menschlichen Natur. In konkreten Konzeptualisierungen wird diese anthropologische Dimension dann aber nur ungenügend berücksichtigt. Wie gezeigt wurde, stehen die zentralen Probleme, auf die von Kritikern und Protagonisten der Sozialkapitaldebatte hingewiesen wird, mit dieser grundlegenden theoretischen Schwäche in Verbindung. Wie aber lassen sich all die bisher herauspräparierten Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung des Konzepts so zusammenfassen, dass präzis deutlich wird, wo genau eine systematische handlungstheoretische Mikrofundierung anzusetzen hat ? Anders formuliert: Was ist

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die überwölbende Struktur der anthropologischen Defizite, wie also ist jene interdisziplinäre Schnittstelle beschaffen, an welche Erkenntnisse zur Natur des Menschen zur weiteren Verbesserung des Sozialkapitalkonzepts anschließen können ?

3.5.1 Der Konstruktionsfehler: Ein behavioristisch-​ ökonomistisches Menschenbild Schon in den klassischen Konzeptionen der Sozialkapitaltheorie steckt ein Konstruktionsfehler. Er liegt in der „additiven Zwangsehe“ zweier nicht nur ganz unterschiedlicher, sondern einander ausschließender Verhaltensmodelle: Homo oeconomicus und Homo sociologicus. Begründet liegt dieses Problem in dem allen klassischen Ansätzen gemeinsamen Versuch, einen dritten Weg zwischen methodologischem Individualismus und Kollektivismus zu finden – und so das MikroMakro-Problem einer Lösung zuzuführen. Eine theoretisch gehaltvolle Auflösung des Antagonismus individualistischer und kollektivistischer Ansätze – etwa mithilfe einer (anthropologischen) Metatheorie – wurde von den Klassikern jedoch nicht unternommen. Stattdessen fußt die Sozialkapitaltheorie schlicht auf beiden Postulaten. Das führt geradewegs in ein Paradox: Der methodologische Individualismus geht nämlich davon aus, dass soziales Handeln und in der Folge soziale Makrophänomene Resultanten von – mehr oder weniger begrenzt – rationalen Entscheidungen von Menschen sind. Der methodologische Kollektivismus hingegen sieht das Ergebnis von individuellen Entscheidungsprozessen (und damit soziales Handeln) determiniert durch soziale Makrophänomene, also durch Kultur. Soziales Handeln kann aber nicht zugleich vollständig kulturell determiniert sein und unhintergehbaren individuellen Rationalitäten folgen. Dass beide Positionen ihre Berechtigung haben und die „Wahrheit wohl irgendwo dazwischen liegt“, entspricht ganz zweifellos dem gesunden Menschenverstand. Für eine integrative Sozialtheorie ist dies aber keine tragfähige Grundlage. Zwar erwächst der Wunsch nach einem differenzierten und ganzheitlichen Blick auf soziale Wirklichkeit sowohl bei Bourdieu als auch bei Coleman aus der Einsicht, dass die methodologischen Prämissen sowohl des Kollektivismus als auch des Individualismus defizitär sind. Menschliches Verhalten lässt sich ebenso wenig nur auf ökonomische Rationalität reduzieren wie auf kulturelle Kontingenz. Beide Autoren schaffen es aber nicht, über diese Defizite hinauszugehen. Vielmehr unternehmen sie wenig mehr als eine additive Kombination der beiden als mängelbehaftetet erkannten Perspektiven. Dies kommt dem Versuch gleich, aus zwei veralteten, defekten Computern einen performanten Hochleistungsrechner bauen zu wollen. Nun ist es zwar nicht per se zum Scheitern ver-

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urteilt, aus funktionierenden Versatzstücken verworfener Theorien eine neue forschungsleitende Perspektive zu kreieren. Der Versuch einer solchen Integration zu einem dritten Weg wird aber gerade dann gelingen können, wenn er angeleitet ist von einer Metaperspektive, die Orientierung dazu gibt, welche der Teile der zu kombinierenden Theorien sinnvollerweise in welcher Weise miteinander zu verbinden wären – und welche zusätzlichen Bauteile das so entstehende Konstrukt beinhalten sollte. Weil diese Metaperspektive fehlt und zumal die anthropologische Dimension nicht im notwendigen Umfang systematisch berücksichtigt wird, entsteht eine problematische Ausgangslage für die Sozialkapitaltheorie, die durchaus archety­ pisch für viele sozialwissenschaftliche Theorien ist. Coleman schleust den Behaviorismus der sozialen Tauschtheorie in die Rational-Choice-Theorie ein, um Prozesse der Sozialisation und Norminternalisierung abbilden zu können. Bourdieu versucht das Problem zu lösen, indem er auf starke anthropologische Prämissen verzichtet. Das gelingt ihm aber nur scheinbar, denn er kann „letzte und ursprüngliche Dispositionen“ wie Emotionen und andere physiologische Verhaltensursachen nicht vollständig kulturalistisch erklären. Und so bleibt Sozialkapital ein auf unterkomplexen und inkonsistenten anthropologischen Prämissen basierendes Konzept, als es – von Putnam popularisiert – Gegenstand umfänglicher empirischer Forschung wird. Ein überragend großer Anteil der Probleme, die hier freigelegt wurden, ist mindestens zum Teil eine Folge davon. Besonders deutlich zeigt sich das grundlegende Dilemma etwa in der (nicht nur in der Sozialkapitaltheorie verbreiteten) Unterscheidung von instrumentellem und konsumatorischen Handlungsmotivationen: Entweder sind Menschen bewusst-rationale Nutzenmaximierer; dann kann der Zweck von Investitionen in soziale Beziehungen nur darin liegen, instrumentellen (also: zielerreichenden) Nutzen daraus zu ziehen. Oder aber individuelle Handlungsentscheidungen sind Ergebnis von – in aller Regel behavioristisch gedachten – Internalisierungsprozessen und motivieren zu konsumatorischen (also: um ihrer selbst willen ausgeführten) Handlungen, mit denen diese internalisierten Bedürfnisse befriedigt werden. Diese behavioristisch-ökonomistische Konzeptualisierung von Handlungsmotivationen spiegelt den Burgfrieden im Methodenstreit zwischen methodologischen Kollektivisten und Individualisten, zwischen Utilitarismus und Strukturalismus, nachgerade prototypisch wider.266 Das Ergebnis ist keine konstruktive Synthese, sondern ein eklektischer Prämissen-Mix aus den handlungstheoretischen Modellen des ökonomistischen Utilitarismus und des kulturalistischen Behavioris266 Vgl. dazu Portes (1998: 7), der die theoriekonstruktiv zentrale Rolle von Annahmen über die Natur des Menschen in diesem Diskurs vor Augen führt.

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mus. Es ist freilich nicht unplausibel, menschliches Handeln in dieser Weise zu typisieren. Es entspricht sowohl dem ‚educated guess‘ von Experten als auch dem Selbstwissen handelnder Individuen. Und dennoch kann alle Plausibilität nicht darüber hinwegtäuschen, dass dahinter keine Theorie steht, die den logischen Widerspruch zwischen beiden anthropologischen Grundpositionen auflöst. Natürlich ist ein Verhaltensmodell denkbar, das beide Argumentationsstränge widerspruchsfrei sowie empirisch robust kombiniert – und im Rest dieses Buches wird es genau um ein solches gehen. In der Sozialkapitaldebatte besteht der dritte Weg jedoch bisher darin, die beiden Prämissen nebeneinander zu akzeptieren, ohne dass es zu einer systematischen Auseinandersetzung mit der damit einhergehenden methodologischen Inkonsistenz sowie mit der deshalb notwendig werdenden anthropologischen Neuausrichtung käme.

3.5.2 Das Problem: Unterkomplexe Perspektiven auf den Wert sozialer Beziehungen Anthropologisch ist das methodologische Dilemma der additiven Zwangsehe zwischen Kulturalismus und ökonomischem Paradigma deshalb, weil es von Grundfragen zur menschlichen Natur handelt. Welches Menschenbild in den Sozialwissenschaften theoriekonstruktiv wirkmächtig sein sollte, ist nicht nur eine forschungslogische, sondern auch und gerade eine empirische Frage. Und wenn sich, wie im Folgenden noch einmal zusammenfassend vor Augen geführt wird, die anthropologische Indifferenz in der Sozialkapitalforschung an verschiedenen neuralgischen Punkten in der Theoriebildung und der empirischen Forschung nachteilig auswirkt, dann werden sich gegen die Befassung mit empirischen Theorien zur Natur des Menschen keine guten Gründe vorbringen lassen. Schon in jenem Markenkern des Sozialkapitalkonzeptes, welcher in der Literatur immer wieder herausgearbeitet wird und auch hier freigelegt werden konnte, sind solche problematischen Auswirkungen erkennbar: „Soziale Beziehungen stellen eine Ressource für Menschen dar.“ Die Sozialkapitalforschung baut auf der empirischen Prämisse auf, dass soziale Vernetzung für Menschen einen Wert hat – denn nur dann kann sie sinnvollerweise als Ressource bezeichnet werden. Es fehlt aber eine die Argumentation an dieser Stelle saturierende Theorie der „Natur der Werte“ von Menschen, also eine überzeugende Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen soziale Beziehungen in welcher Weise von handlungsmotivierendem Wert sind – und warum dies alles so ist.267

267 Vgl. S. 176 ff.

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Auf den rein ökonomischen Nutzen möchten Sozialkapitalforscher den Wert von sozialer Vernetzung nicht reduziert sehen, und so differenzieren sie zwischen instrumentellen und konsumatorischen Handlungsmotivationen – also: subjektiven Wertigkeiten von Handlungsoptionen. Modelltheoretisch bleibt diese Strategie ungenügend, weil die dahinterliegenden Prämissen einander widersprechen. Empirisch ist sie unbefriedigend, weil sowohl Behaviorismus (‚oversocialized‘) als auch Rational-Choice-Theorien (‚undersocialized‘) wegen ihrer unterkomplexen Pointierung inzwischen als wenig praktikable Verhaltensmodelle für die Erklärung tatsächlichen sozialen Verhaltens gelten. Nicht zuletzt wurde ja gerade mit den Sozialkapitalkonzepten Colemans und Bourdieus deren Überwindung angestrebt. Es fehlt also eine empirische Theorie, welche Fragen zur Natur der Werte und zur Herkunft der Motivationen beantwortet. Wer den Ressourcencharakter von Sozialkapital wirklich verstehen will, wird es bei der Suche nach dieser Natur der Werte nicht bei methodologischen Überlegungen zu sparsamen und intradisziplinär anschlussfähigen Prämissen bewenden lassen können. Bis auf wenige Ausnahmen wird aber weder in der empirischen noch in der (meta)theoretischen Literatur zum Sozialkapital darüber hinausgegangen. Vielmehr ist allenthalben die Vorstellung forschungsleitend geworden, der Wert von Sozialkapital läge einzig darin, eine Dividende auf gelingende Kooperation zu erlangen: Menschen (oder Kollektive) zögen Nutzen aus den aktivierbaren Kooperationspotentialen, die in ihren sozialen Netzwerken steckten. Allerdings ersetzt solches ganz proximat-funktionalistische Argumentieren nicht eine explizite anthropologische Fundierung. Es bleibt den unmittelbaren Wirkursachen verhaftet und lässt dabei genau jene Aspekte des Sozialen als Kapital erscheinen, die sich in der Analyse als nützlich herausstellen. Die ultimate Perspektive auf die evolutionären Zweckursachen der Handlungsmotivationen hinter menschlicher Sozialität und mithin auf den handlungsleitenden Wert des Sozialen bleibt unberücksichtigt. Sie könnte jedoch begreiflich machen, warum und nach welchem Muster Menschen soziale Beziehungen eingehen, was die dafür verantwortlichen psychologischen Mechanismen sind und wie sie arbeiten. So würde sich ausgehend vom Phänomen selbst und seinen Ursachen erschließen, was eine positive Kooperationshaltung kennzeichnet und warum sie sich auf manche Individuen bzw. Kollektive richtet, auf andere aber nicht.268 Die menschliche Neigung zur sozialen Vernetzung als selbstevidente, theoretisch nicht weiter zu unterfütternde Prämisse einzuführen, lässt indes kaum anderes zu, als Sozialkapital „vom Ergebnis her“ zu bestimmen und somit normati-

268 Zur Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachenkomplexen siehe S. 86 ff.

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ve und potentiell ethnozentrische Verzerrungen in Kauf zu nehmen. Schließlich ist das, wofür Sozialkapital nützlich sein kann, kulturell hochgradig kontingent. Möglichkeiten zu einer allgemeineren Mustererkennung werden mit rein proximaten theoretischen Werkzeugen deshalb nicht ausgeschöpft. Anthropologische Unterspezifikation führt so zu virulenten – und deshalb auch zu Recht vielfach beklagten – Folgeproblemen.

3.5.3 Die Folgen: Normative Verzerrungen und typologische Unschärfen Die Probleme mit normativen Verzerrungen in der Sozialkapitalforschung betreffen zum einen den handlungsmotivierenden Wert von Kooperation und sozialen Beziehungen sowie zum anderen die Bestimmung der Konsequenzen von Sozialkapital. Letztere können aus dieser Theorieperspektive nur positive Outcomes für Individuen und Kollektive sein, weil genau dies in funktionalistischen Definitionen als ein Merkmal von Sozialkapital festgelegt wird. So aber werden starke normative Vorannahmen über Sozialkapital in dessen empirische Erfassung eingelassen. Die verbreitete Kritik an der analytischen Unterbelichtung der (nach wie vor bezeichnenderweise meist in Anführungszeichen gesetzten) „dunklen Seite“ des Sozialkapitals gibt Zeugnis über dieses ernsthafte theoretische Dilemma.269 Ohne besseres Handwerkszeug bleibt wenig anderes übrig, als die Bewertungsmaßstäbe dafür, was ein positiver Outcome ist, aus mindestens implizit normativen Prämissen abzuleiten. So ist für das Individuum gut bzw. von Nutzen, was ihm instrumentelle Vorteile sichert oder – auf anthropologisch nicht näher spezifizierte Weise – konsumatorische Motivationen befriedigt. Es werden also Maßstäbe angelegt, die sich entweder aus einer funktionalistischen Ex-post-Betrachtung der Auszahlungsmatrix oder aus psychologisch nicht systematisch fundierten Annahmen über menschliche Bedürfnisse ergeben. Und auf der Makroebene wird Sozialkapital meist solchen sozialen Netzwerken und Prozessen zugeschrieben, die Gemeinwesen oder gar Gesellschaften helfen, sich in Richtung westlicher Demokratieideale zu entwickeln, deren gesellschaftliche Integration befördern oder für wirtschaftliche Performanz sorgen. Diese Konzeptualisierung basiert aber auf ethnozentrischen Vorannahmen über das, was optimiert werden sollte. Zudem gehen mit solchen Operationalisierungen problematische Setzungen über die relevante Analyseebene einher: Sozialkapital kann nur sein, was bestimmten sozialen Figurationen auf bestimmten Ebenen der Wirklichkeit nützt.

269 Vgl. zu alldem S. 184 ff.

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In der wissenschaftlichen Beobachtung der sozialen Wirklichkeit wird so von vornherein festgelegt, dass kollektives Sozialkapital einer Volkswirtschaft, einer Gesellschaft, einer Stadt, einer Gruppe oder einer Nachbarschaft letztlich stets von Nutzen ist. Zwar gehen mit jedem beobachtenden Zugriff auf die Realität solche perspektivischen Eingrenzungen einher.270 Jedoch ist das in diesem Fall besonders problematisch, weil noch nicht einmal eine eindeutige Theorie darüber existiert, was Sozialkapital ist, wie es entsteht und wie es wirkt. Unter diesen Bedingungen kann Sozialkapital überhaupt nur erkannt werden, wenn die Wirklichkeit sich tatsächlich so verhält, wie es diese parochialen und prototheoretischen Annahmen festlegen. Die Ursachen für menschliches Sozialverhalten liegen aber nicht nur in den proximaten Funktionsanforderungen der sozialen Wirklichkeit. Sozialkapital muss schon in der Stammesgeschichte des Menschen eine Rolle gespielt haben. In der Sozialkapitaltheorie ist bisher aber noch ganz unverstanden, was die ultimaten Ursachen dafür sind, dass unsere Spezies psychologische Mechanismen entwickelt hat, die es ihr erlauben, derart produktiven Gebrauch von sozialer Vernetzung zu machen. Auf Basis einer solchen evolutionär-anthropologisch fundierten empirischen Theorie ließe sich die Bewertung strikt von Beschreibung und Erklärung der Entstehung, Erscheinungsformen und Folgen von Sozialkapital trennen. Außerdem würde klarer vor Augen stehen, wie das aus normativer Sicht Wünschenswerte mithilfe von Sozialkapital erreicht werden kann und wann Sozialkapital im Hinblick auf manche Ziele dysfunktional wirkt. Exemplarisch deutlich wird dieses theoretische Desiderat anhand der prominenten Debatte über brückenbildendes und bindendes Sozialkapital. Recht einig sind sich auf relationales Sozialkapital ausgerichtete Netzwerktheoretiker und Vertreter der kollektivistischen Sichtweise darin, dass bindendes Sozialkapital etwas Schlechtes oder zumindest nichts sonderlich Gutes ist (‚getting by‘). Brückenbildendes Sozialkapital wird hingegen gemeinhin als erstrebenswert angesehen (‚getting ahead‘). Die noch elaborierteste handlungstheoretische Erklärung solcher positiven Effekte geht so: Wenn sich aus der exklusiven Makler-Position als einzige Verbindung zwischen zwei Netzwerken große Dividenden erzielen lassen, sorgen manche Individuen durch die Besetzung solcher Positionen dafür, dass gesellschaftliche Teilsegmente gut vernetzt sind, was wiederum dem gesamten Gemeinwesen zugutekommt.271 „Gutes“ kollektives Sozialkapital entspringt in dieser Lesart den besonders egoistischen und kompetitiven Strategien einzelner Individuen. Die brückenbildenden Akteure wenden sich aus instrumentellen Motiven von den Interessen 270 Siehe dazu S. 62 ff. 271 Siehe hierzu S. 146 ff. und S. 156 ff.

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und Ressourcen ihrer unmittelbaren sozialen Bezugsgruppe ab und gehen eigene Wege. Sind aus kollektivistischer Perspektive demnach gerade die Egoisten die wahren Produzenten des Gemeinwohls ? Und richten im Umkehrschluss gerade vorgebliche Altruisten, die sich innerhalb einer sozialen Gruppe intensiv einbringen und keine soziale Rückfallversicherung in Form von externen Unterstützungsnetzwerken unterhalten, gesellschaftlich den größeren Schaden an, indem sie zur Partikularisierung des Gemeinwesens beitragen ? Und folgt aus alldem, dass die Internalisierung von Kooperations- und Reziprozitätsnormen der primären sozialen Bezugsgruppen eher unterbunden werden sollte ? Dies jedenfalls läge durchaus auf Bourdieus argumentativer Linie: Sozialkapital ist für ihn ohnehin kein gesellschaftlich produktiver Faktor, sondern ein Instrument von sich in exklusiven Gruppen abschottenden Privilegierten. Die kommunitaristische Theorie hingegen wäre ad absurdum geführt, wenn sich gesellschaftliche Kohäsion und soziomoralische Integration gleichsam nur „mit liberalen Mitteln“ realisieren ließen. Weil die Unterscheidung in „bindend“ und „brückenbildend“ aber nicht von einer konsistenten Theorie getragen wird, ist es ohnehin nur eine Frage der Analyseebene, ob Sozialkapital als bindend (etwa: in Gesellschaften, in Kommunen, in Parteien) oder brückenbildend (zwischen gesellschaftlichen Gruppen, zwischen sozialen Milieus, zwischen Parteiflügeln) anzusehen ist. Dieses Beispiel macht einen zentralen Befund dieser Analyse wie unter dem Brennglas sichtbar: Normative Verzerrungen der Sozialkapitaltheorie basieren auf theoretischen Unklarheiten und Inkonsistenzen; und jene sind zurückzuführen auf mangelndes Wissen über die reale kausale Mechanik hinter Kooperation und Konkurrenz, über Egoismus, Kollektivismus, Rationalität sowie die Internalisierung sozialer Normen – und darüber, wie all dies miteinander in Verbindung steht. Die anthropologische Dimension tritt besonders deutlich in der Netzwerktheorie von Lin zutage, weil jener sich den kausalen Prozessen hinter brückenbildenden und bindenden sozialen Interaktionen wenigstens explizit widmet, während darüber sonst meist geschwiegen wird.272 Für ihn liegt die Ursache der Hervorbringung beider Arten von Sozialkapital in den Prinzipien der Homophilie bzw. der Heterophilie, also in der Neigung, mit hinsichtlich sozialer Merkmale ähnlichen bzw. verschiedenen Menschen in soziale Beziehungen zu treten. Homophilie und Heterophilie haben sich aber in ihrer derzeitigen Form als theoretisch wenig gehaltvolle und aus anthropologischer Perspektive unbrauch272 Da für Lin nicht Sozialkapital „bridging“ oder „bonding“ ist, sondern dies Eigenschaften von sozialen Netzwerken sind, ist hier von „sozialen Interaktionen“ im weiteren Sinne die Rede. Für das vorgebrachte Argument ist diese letztlich definitorische Unterscheidung jedoch unerheblich, da auch Lin nicht leugnet, dass Binde- und Überbrückungskräfte mit Sozialkapital in systematischer Beziehung stehen (vgl. S. 158).

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bare Konzepte entpuppt. In den einschlägigen klassischen Schriften werden die zugrundeliegenden Mechanismen entweder gar nicht systematisch (Lazarsfeld und Merton 1954) oder mithilfe der als überholt geltenden radikal-behavioristischen Tauschtheorie (Homans 1968) begründet.273 Immerhin verträgt sich das Heterophilie-Argument noch recht gut mit Lins Rational-Choice-Prämisse, denn in heterogenen Netzwerken werden Konstellationen für lohnende Tauschgeschäfte wahrscheinlicher. Für die mit Homophilie in Verbindung gebrachten sozialen Prozesse lässt sich das jedoch nicht sagen: Gelingende Interaktion und schließlich Freundschaft unter Ähnlichen wird in den klassischen Texten auf Nähe, Sympathie und andere emotionale Phänomene zurückgeführt. Selbst auf skrupulöse Mikrofundierung bedachte Rational-Choice-Sozialkapitalforscher wie Nan Lin brauchen also tentative Rückgriffe auf psychologische Proto-Theorien und den Homo sociologicus der methodologischen Kollektivisten, um Aporien ihrer Theorie mit „sozialwissenschaftlichen Bordmitteln“ einzuhegen. Eine überzeugende Theorie, die das Zustandekommen von brückenbildendem und bindendem So­ zialkapital tatsächlich erklärt, liefert Lin nicht. Nun kann die Sozialkapitalforschung freilich nicht für Lins Argumentation in Sippenhaft genommen werden. Allerdings war an keiner anderen Stelle in der gesichteten Literatur eine gehaltvollere handlungstheoretische Argumentation zu finden. Sehr wohl stößt man jedoch immer wieder auf das gleiche Muster: Brückenbildendes Sozialkapital wird auf rationales Handeln ökonomischer Akteure zurückgeführt, welche auf eine Dividende aus ihrer exponierten Stellung im Netzwerk hoffen. Bindendes Sozialkapital basiert hingegen auf sozialen Kohäsionskräften und konsumatorischen Handlungsmotivationen. So hängt selbst in den theoriehaltigeren Versionen die in der Forschung so wichtige Typologie von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital im Hinblick auf die verursachenden Prozesse und daraus ableitbare Unterscheidungsmerkmale in der Luft. Folgerichtig ist normativen Aussagen, die auf solcher Grundlage formuliert werden, wenig zu trauen. Welche Arten von Sozialkapital gut sind und welche schlecht, welche nützlich und welche schädlich, lässt sich wohl erst sagen, wenn klarer vor Augen steht, von welchen psychosozialen Dynamiken genau die Rede ist, wenn von Sozialkapital gesprochen wird. Auch wird sich auf gesellschaftspolitisch erwünschte Wirkungen (etwa: mehr brückenbildendes, weniger bindendes Sozialkapital) effektiver hinwirken lassen, wenn über die dafür in Bewegung zu setzenden kausalen Mechanismen mehr Klarheit herrscht.

273 Vgl. S. 160 ff.

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3.5.4 Das Desiderat: Eine robuste Theorie der Kooperation Im Kern geht es in der Sozialkapitalforschung darum, Kooperation und deren positive Folgen zu erklären. Ob als Quell von individueller Zielerreichung (wie in den Mikrotheorien) oder von gesellschaftlichem Nutzen (in Makrotheorien) – stets wird Sozialkapital als Ressource aufgefasst, die zum Herbeiführen von Kooperation dient. Nur bieten Sozialkapitalkonzeptionen selbst nicht mehr als Proto-Theorien der Kooperation. Aussagen über die genauen Kausalmechanismen bleiben sie in aller Regel schuldig. Die Analyse der angebotenen Erklärungen für Kooperation hat allenthalten anthropologische Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten offenbart. Es sind dies nicht nur lässliche Schönheitsfehler, sondern die Ursachen zentraler explanatorischer Schwächen. Denn um die Triebkräfte hinter Kooperation erfassen zu können, bedarf es anthropologischer Hintergrundargumentationen. Deutlich wird dies etwa bei Coleman, der vor dem Problem steht, mit dem Konzept des So­ zialkapitals kollektives Handeln zu erklären, das auf der Grundlage der von ihm vertretenen Annahme egoistisch-rationaler Akteure höchst unwahrscheinlich erscheint. Er behilft sich mit der Vorstellung der Einbettung ökonomischer Rationalität in soziale Bezüge, weicht auf irrationale Handlungsmotivationen sowie Prozesse der Norminternalisierung aus – und löst mit diesem inkonsistenten Amalgam aus Ökonomismus und Behaviorismus das Theorieproblem eben nur scheinbar. Und auch bei Bourdieu ergibt sich Kooperation aus einem in seiner Feinmechanik opak bleibenden Wechselspiel aus kulturellen Konstruktionen, ökonomischen Interessen und einem Streben nach Anerkennung. Worin aber liegt die Lösung ? Eine „postmoderne Rückbesinnung“ auf das Primat kultureller Determination würde weder irgendwelche praktischen Probleme lösen noch dem Bourdieuschen Anspruch eines dritten Weges gerecht werden. Und auch eine Bereinigung des Rational-Choice-Paradigmas von den radikalbehavioristischen Versatzstücken der Tauschtheorien von Homans und Blau verspricht die Theorie nicht leistungsfähiger zu machen (vgl. Zafirovski 2005). Rational Choice kann Kooperation allenfalls auf proximater Ebene erklärbar machen – und das auf Basis der wenig plausiblen Annahme des bewusst-rationalen Nutzenmaximierers. Selbst wenn man sich auf das Argument einlässt, dass wiederholte soziale Interaktion rationale Antizipationsschleifen zur Folge hat (vgl. Ahn und Ostrom 2008; Putnam 2000), bleibt doch die Frage offen, wie es zu Kooperation über den Kreis der regelmäßig Interagierenden hinaus kommt. Wird dann auf Lern- und Internalisierungseffekte verwiesen, so steuert die Theorie geradewegs zurück in das Inkonsistenz-Dilemma des behavioristischen Ökonomismus. Es braucht eine anthropologisch besser fundierte Theorie menschlicher Kooperation. Aus evolutionär-anthropologischer Perspektive muss eine solche

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Theorie Auskunft darüber geben, welche Kausalmechanismen hinter Prozessen des Handelns, Entscheidens und Norminternalisierens stehen – also: auf welchen biologischen, neurologischen und psychologischen Mechanismen sie beruhen und warum. Mit den proximaten Perspektiven der Sozialwissenschaften allein lässt sich das zu erklärende Phänomen nicht vollständig ausleuchten. Erst die ultimate Perspektive der naturgeschichtlichen Entstehung menschlicher Kooperation ermöglicht zu verstehen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass Menschen komplexe Systeme der Gegenseitigkeit, des Kennens und Anerkennens, der gemeinsamen Unternehmung und schließlich der Kanalisierung individueller Handlungsspielräume durch soziale Strukturen ausgebildet haben.

3.5.5 Die Schnittstellen: Ansatzpunkte für eine empirisch-​ anthropologische Fundierung Die hier herausgearbeiteten Schwächen der Sozialkapitaltheorie wurzeln in methodologischen Inkonsistenzen, die ihrerseits großenteils auf anthropologische Unklarheiten zurückgehen. Vielerlei in konzeptionellen Diskussionen um Sozial­ kapital benannte Spezialprobleme sind direkte Konsequenzen dieser allgemeinen Strukturschwäche. Selbst die zentralen Kategorien bleiben unterspezifiziert; es gibt kaum Einigkeit über deren richtige Messung; das Verhältnis von Mikround Makroebene ist unklar; viele andere sozialwissenschaftlich wichtige Kategorien werden ausgeblendet oder nur lose mit Sozialkapital in Verbindung gebracht. Genau in diesen Problemzonen der Sozialkapitaltheorie liegen die Schnittstellen, an denen eine handlungstheoretische Mikrofundierung ansetzen kann und ihren Mehrwert für die Sozialkapitalforschung unter Beweis stellen muss. Unterspezifizierte Zentralkategorien: Netzwerke, Vertrauen, Werte und Normen Dass die Strukturmerkmale sozialer Beziehungsnetzwerke im Zusammenhang mit Sozialkapital, seinen Ursachen und seinen Folgen eine wichtige Rolle spielen, ist im Großen und Ganzen unumstritten. Putnam, Coleman, Lin und viele andere methodologische Individualisten haben die wichtigsten Eigenschaften solcher Netzwerke herausgearbeitet: Sie können vertikal und horizontal, formell und informell, offen und geschlossen strukturiert sowie traditionellen (‚primordial‘) oder modernen Typs sein, aus starken und schwachen Bindungen (‚ties‘) bestehen und verschiedene Funktionen erbringen. Wie diese strukturellen Charakteristika zustande kommen, wird immer wieder unter Verweis auf anthropologische und methodologische Prämissen erklärt. So spricht etwa Fukuyama (2001: 8) davon, dass

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

die Unterscheidung von Freund und Feind zur Natur des Menschen gehört. Lin wiederum verleiht seiner Theorie mit den Konzepten der Homophilie und Heterophilie immerhin den Anschein einer anthropologischen Fundierung. Solche Einlassungen bleiben jedoch ohne empirisches Fundament und konsistente Verzahnung mit dem Rest der jeweiligen Theorie. Systematisch betrieben wird solche offenbar als notwendig erachtete anthropologische Fundierung ohnehin nicht. Wenn aber fast nichts dazu in Stellung gebracht wird, warum und in welcher Weise Menschen soziale Netzwerke formen, und jenes Wenige dann noch widersprüchlich ist, wundert es nicht, dass konzeptionelle Debatten über die Kategorie der Netzwerke unbefriedigende Ergebnisse zeitigen. Noch wenig kann etwa dem normativen Bias entgegengesetzt werden, das sich aus einer rein proximat-funktionalistischen Konzeption von Sozialkapital geradezu zwangsläufig ergibt. Und auch der Ethnozentrismus bei der Bewertung von „guten“ und „schlechten“ Netzwerken – also solchen, die Demokratie und ökonomische Prosperität fördern – rührt zu einem nicht unerheblichen Teil daher, dass zu wenig über die beteiligten psychologischen Mechanismen und ihre evolutionäre Herkunft bekannt ist. Die Kernfrage einer anthropologischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie muss also die ultimate Frage danach sein, warum Menschen soziale Beziehungen als wertvoll erachten und empfinden. Noch einmal: Es braucht eine tragfähige Theorie zur Natur menschlicher Werte als wichtige theoretische und methodologische Säule der Sozialkapitaltheorie.274 Anthropologische Fragen stellen sich aber auch in Bezug auf jene normativen Wissensbestände, Deutungsroutinen und Normen, die den Konstruktionsprozessen sozialer Netze und Strukturen nicht vorgängig, sondern deren Ergebnis sind: In welcher Weise interagieren Individuen mit kulturellen Normengefügen sowie sozial konstruierten und tradierten Wertvorstellungen ? In welchem ganz konkreten kausalen Zusammenhang stehen individuelle Entscheidungsalgorithmen und jene sozialen Strukturen oder „Frames“, welche die Wirklichkeit des Kulturwesens Homo sapiens nicht nur prägen, sondern nachgerade ausmachen ? „An die Forderung, Reziprozität mit Blick auf die Beziehung zwischen BürgerInnen im demokratischen Rechtsstaat zu bestimmen, schließt sich freilich die weitreichende Frage an, welche gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sein müssen, damit BürgerInnen „von gleich zu gleich“ verkehren können – als Voraussetzung dafür, dass sie das auch im gesellschaftlichen Feld freiwilliger Assoziationen können. Darüber ist durch das Sozialkapital-Konzept für sich genommen noch nichts ausgesagt. Damit aber bleibt offen, worauf sich die eingängige demokratietheoretische These eines Zusammenhangs

274 Vgl. S. 192 ff.

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von sozialer Vernetzung und (demokratieförderlicher) Normerzeugung letztlich stützen kann.“ (Seubert 2009b: 103)

Solche theoretischen Probleme spielen in der Debatte zwar eine große Rolle, die Lösungsansätze sind aber nach wie vor unterentwickelt. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sie nicht über das sozialwissenschaftliche Standardmodell des Menschen hinauskommen, welches seinerseits nichts Theoriehaltiges über die Arbeitsweise unseres Gehirnes und mithin die kausale Mechanik menschlicher Handlungssteuerung aussagt.275 Sucht man nach Motivationen zur Regelbefolgung und zum In-Geltung-Halten gesellschaftlicher Normen, stößt man auf behavioristische (‚konsumatorische Motivationen‘) und/oder utilitaristische (‚instrumentelle Motivationen‘) Argumentationslinien, die nicht empirisch unterfüttert, theoretisch ausgearbeitet oder wenigstens als folgenreiche (und prinzipiell überprüfbare) anthropologische Annahmen ausgewiesen sind. Obwohl ein Problembewusstsein angesichts solcher Schwachstellen durchaus festzustellen ist,276 bleiben dahinterliegende Fragen weitgehend unbeachtet: Wenn der Nutzen instrumenteller Regelbefolgung nicht nur ökonomisch ist, welche Maßstäbe legen Menschen dann zusätzlich an, um Nützliches von Unnützem, Wertvolles von Wertlosem zu unterscheiden ? Und welcher Bewertungsmaßstab sollte in interkulturell vergleichenden Studien herangezogen werden, um zwischen „guten“ und „schlechten“ Normen und Werten unterscheiden zu können ? Auch verbirgt sich hinter der Annahme, dass Normen einesteils über Belohnung und Strafe durchgesetzt sowie andernteils im Zuge von Sozialisationserfahrungen internalisiert werden, ein ganzes Feld von anthropologisch relevanten Fragestellungen. Wie genau sich Internalisierung von Normen, Sozialisation und Enkulturation ereignet, welche Kausalmechanismen dabei am Werke sind und wie all das mit der Natur des Menschen zusammenhängt, wird in der Sozialkapitaldebatte noch nicht systematisch reflektiert. Vielmehr ist ein Verständnis verbreitet, das (mindestens implizit) von Internalisierung und Sozialisation als vollständig kulturell kontingenten Prozessen ausgeht – und damit ganz unverkennbar das Menschenbild des Homo sociologicus dort bemüht, wo eine Lücke in der handlungstheoretischen Mikrofundierung klafft. Ein ganz ähnliches Bild bietet sich im Hinblick auf die dritte der Kernkategorien der Sozialkapitaltheorie: Vertrauen. Fukuyama begreift Vertrauen als das Ergebnis von Norminternalisierungs- und Sozialisationsprozessen und stellt somit die Relevanz von Religionen und anderen sozial konstruierten Moralsystemen in den Vordergrund. Mit einer ähnlichen methodologischen Stoßrichtung wird im275 Zur Kritik an diesem Standardmodell siehe S. 92 ff. 276 Vgl. S. 176.

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mer wieder auch Luhmanns Argument angeführt, Vertrauen diene der Bewältigung kultureller Kontingenz, sei also eine das soziale Dasein erst ermöglichende, mithin sozusagen selbstzweckartige (also: konsumatorische) Empfindung. Utilitaristen legen hingegen Wert darauf, Vertrauen als eine rationale, wissensbasierte und strategisch eingesetzte Reaktion auf vertrauenswürdiges Verhalten anderer zu modellieren. Und nicht selten stellen einschlägige Argumentationen einfach theoretisch und methodologisch unbefriedigende Mixturen aus diesen Standpunkten dar. Das alles schlägt sich dann folgerichtig in großer Uneinigkeit und Unsicherheit über die Rolle von Vertrauen in der Sozialkapitaltheorie nieder. Ob Vertrauen Indikator, Vorbedingung oder Effekt von Sozialkapital ist, ob es also als endogener oder exogener Faktor behandelt werden sollte, bleibt ebenso unklar wie die Frage, in welcher Weise Vertrauen auch eine Eigenschaft von Kollektiven sein und somit auf die soziale Makroebene durchschlagen kann. Welche Rolle die Natur des Menschen spielt, wird selten systematisch auf der Höhe des Forschungsstandes in den Blick genommen. Woolcock ist sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen sicher, dass Vertrauen nicht auf genetischen Prädispositionen beruht, andere haben daran Zweifel.277 Nachgegangen wird solchen starken anthropologischen Prämissen dann nicht. Wie aber kann sozialwissenschaftliche Theoriebildung vor grundlegenden theoriekonstruktiven Fehlern bewahrt werden, wenn Vertrauen nur ganz proximat als Ergebnis sozialer Interaktion verstanden wird, ohne auch die ultimaten Ursachen der Hervorbringung von Vertrauen im Zuge der evolutionären Menschwerdung in Betracht zu ziehen ? Dass die Wurzeln dessen, was wir als Vertrauen empfinden und ansehen, nichts mit dieser Stammesgeschichte zu tun haben, ist keine besonders plausible Prämisse. Vielmehr scheint zu gelten, was auch für alle Zentralkategorien der Sozialkapitalforschung belegt wurde: dass sich die vielen offenen Fragen über die Rolle im Kausalgefüge der Sozialkapitaltheorie mit rein sozialwissenschaftlichen Mitteln nicht beantworten lassen. „[Selbst] wenn Kollektive die Träger von Sozialkapital sind, glauben wir, dass die bisherige Sozialkapitaltheorie zur Bedeutung sozialer Interaktionen für die Entwicklung von Reziprozitätsnormen und generalisiertem Vertrauen um eine Mikrologik erweitert werden muss. Zwei Dinge sind dafür nötig: einerseits eine Theorie darüber, auf welche Weise soziale Interaktionen auf der individuellen Ebene soziales Vertrauen erzeugen, andererseits empirische Evidenz, die eine solche Theorie unterstützt. […] Bislang existiert jedoch keine zwingende Mikrotheorie der Sozialkapitalbildung, da unklar bleibt, wie das zwischen Mitgliedern einer Gruppe oder von Netzwerken erzeugte Vertrauen in die Außenwelt transferiert wird.“ (Stolle und Rothstein 2007: 116) 277 Vgl. S. 182.

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Mangelnde Mikrofundierung: Kollektives Sozialkapital und das Mikro-Makro-Problem Auch beim Blick auf das Mikro-Makro-Problem, um das sich die Vorstöße der Sozialkapital-Klassiker in Richtung eines dritten Weges zwischen akteurs- und strukturzentrierten Theorien drehen, lässt sich diese strukturelle Schwäche in prototypischer Weise erkennen. Das Mikro-Makro-Problem gründet nicht nur in einem Konflikt zwischen individualistischen und kollektivistischen Ansätzen, ist nicht nur Schauplatz einer Konkurrenz von verschiedenen Annahmen über die Kausalrichtung zwischen sozialen Strukturen und Individuen. In seinem Kern steckt ein Streit um Menschenbilder.278 Die Sozialkapitaltheorie konnte dem Anspruch Colemans und Bourdieus bisher nicht gerecht werden, Akteurs- und Strukturtheorien miteinander zu verbinden. Stattdessen stehen sich auch in dieser Forschungslandschaft Individualisten und Kollektivisten gegenüber – „Weberianer“ und „Durkheimianer“ (vgl. Fulkerson und Thompson 2008; Woolcock 1998). Nach wie vor wurde kein überzeugender Weg gefunden, Mikro- und MakroKonzeptionen von Sozialkapital konsistent miteinander zu verbinden. In dieser Hinsicht noch am vielversprechendsten sind in der Forschung allerdings kaum beachtete Ansätze wie die von Bankston, in denen Sozialkapital als komplexer Mehrebenenprozess aufgefasst wird. Zwar war schon in den beiden klassischen Entwürfen angelegt, dass (individuelles und kollektives) Sozialkapital gerade in seiner komplexen Prozesshaftigkeit begriffen werden muss. Diese analytische Arbeitshypothese rückte aber mit der Popularisierung des Konzepts aus dem Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. Bankston 2014; Bankston und Zhou 2002; Sabatini 2015). Legt man die hier vertretene Vorstellung von Emergenz und Komplexität zugrunde, so liegt die Lösung dieses Problems mindestens teilweise in einer irgendwie gearteten Mikrofundierung.279 So verlangt das Makro-Mikro-Makro-Modell von Coleman ebenso wie das von Esser nach einer Mikrofundierung dergestalt, dass Brückenhypothesen über die genauen kausalen Mechanismen bei Ebenenübergängen zu formulieren sind. Kausale Aussagen über die Art und Weise, wie Menschen Handlungsentscheidungen auf Basis von Umweltinformationen treffen (Makro-Mikro), müssen jedoch anthropologisch sachgerecht begründet werden. Schließlich stecken in ihnen zwangsläufig Annahmen zur Natur des Menschen. Und auch eine Erklärung des Emergierens sozialer Strukturen aus Wechselwirkungen menschlichen Handelns (Mikro-Makro) muss auf belastbaren anthropologischen Annahmen basieren. Denn die Form der (Selbst-)Organisation kom-

278 Siehe dazu S. 49 ff. 279 Vgl. S. 67 ff.

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plexer Systeme ist abhängig von deren Ausgangsbedingungen. Es macht einen Unterschied, ob Wassermoleküle in Wolken interagieren, Neuronen in Gehirnen oder Menschen in Gesellschaften; und dieser Unterschied liegt in den Eigenschaften der jeweiligen Mikroelemente begründet. Mikrofundierung im Mikro-Makro-Modell kann demnach nichts anderes meinen als eine belastbare Handlungstheorie (Kroneberg 2009: 237 ff.).280 Eine Handlungstheorie, die den Ansprüchen einer integrativen humanwissenschaftlichen Forschungsstrategie genügt, muss wiederum eine psychologisch begründete Theorie sein, welche Aussagen über die handlungsgenerierenden Prozesse im menschlichen Organismus beinhaltet. Die politikwissenschaftlich so relevante Frage danach, wie die Natur des Menschen mit kulturellen Mustern interagiert, erfordert deshalb eine empirisch-anthropologisch informierte Antwort. Wer „Mikrofundierung“ wörtlich versteht und systematisch ernst nimmt, wird nicht stichhaltig begründen können, warum die Individualebene für alle sozialwissenschaftlichen Zwecke als nicht weiter reduzibel anzusehen sein sollte. Die Prämisse des „rationalen Akteurs“ postuliert aber irreduzible Entitäten und gerät so in das Fahrwasser eines starken Emergentismus. Im Grunde unterscheidet sich diese methodologische Position damit nicht von jener kollektivistischen, welche soziale Makrophänomene wie wirtschaftliche Performanz, gutes Regieren und kollektives Sozialkapital kausal direkt miteinander in Verbindung bringt, ohne präzise Aussagen über die ermöglichenden Mikroprozesse zu treffen. Ein Ausweg besteht im Rückbezug sozialwissenschaftlicher Erklärungen auf evolutionär-​ anthro­pologische Theoriebestände: In Menschen arbeiten verschiedene evolvierte psychologische Mechanismen, ihrerseits aufbauend auf genetischen Programmen, die in chemischen und physikalischen Prozessen gründen usw. Obschon sich also die Vertreter des relationalen Sozialkapitalansatzes auf dünnem Eis bewegen, wenn sie Theorien des kollektiven Sozialkapitals für mangelnde Mikrofundierung kritisieren, lässt sich nicht bestreiten, dass die so adressierten Probleme real und virulent sind. Während etwa von Coleman, Lin und Esser wenigstens der ernstgemeinte Versuch methodologisch konsistenter Fundierung unternommen wird, bleiben Makro-Theorien wie die von Putnam in dieser Hinsicht besonders vage und unbestimmt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist jedoch gerade die theoretische Integration von solchen Makrotheorien des kollektiven Sozialkapitals mit anthropologischen Erkenntnissen wünschenswert. Denn für viele ganz reale Mikro-MakroProbleme fehlt es noch an guten Lösungsansätzen, etwa im Zusammenhang mit Kollektivgutproblemen sowie den soziomoralischen Grundlagen von sozialem

280 Siehe hierzu S. 49 ff.

Gesamtschau: Das anthropologische Dilemma der Sozialkapitaltheorie 205

Zusammenhalt und gesellschaftlicher Integration. Eine evolutionär-anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie kann deshalb nur als geglückt angesehen werden, wenn es gelingt, die Interaktion von Gehirnen und sozialen Strukturen theoretisch besser fassbar zu machen – und zwar mit erkennbarem Mehrwert für die Lösung solcher realweltlichen Probleme. Konkret muss es dabei um die Wechselwirkungen von Moralsystemen, Netzwerkstrukturen und kulturellen Drittvariablen mit individuellem Handeln gehen, also genau um jene Mikro-​ Makro-​Inter­aktionsprozesse, über welche Bourdieu und Coleman mit ihren So­ zialtheorien ganz explizit Auskunft zu geben beabsichtigten. Zwei Kategorienfehler: Hypostasierung und starker Emergentismus In der Sozialkapitalforschung sind zwei Kategorienfehler verbreitet.281 Der erste liegt in der Reifikation bzw. Hypostasierung von Sozialkapital. Gemeint ist damit die Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung von sozialen Zielerreichungsressourcen, die eigentlich keine manifesten Objekte sind, sondern in sozialen Interaktionsprozessen geborgene Potentiale.282 Zwar kann es schon sinnvoll sein, solche Prozesse gleichsam in einer Summenformel zusammenzuziehen und mit einem Begriffswort zu versehen. Doch führt es die Analyse in die Irre, wenn dieser Begriff dann im Sprach- und Denkgebrauch der Theorie so gehandhabt wird, als bezeichne er eine manifeste Substanz. Genau so wird mit Sozialkapital aber immer wieder verfahren; und es erfordert einige intellektuelle Mühe, diesen Fehler nachhaltig zu vermeiden. Bei dem zweiten Kategorienfehler handelt es sich um die von Weberianern und Durkheimianern gleichermaßen mindestens implizit vertretene Auffassung, dass sich Akteure bzw. soziale Strukturen als ontologisch und epistemisch irreduzible Entitäten betrachten lassen, die von den evolvierten biologischen Tiefenstrukturen unbeeinflusst bleiben (vgl. Voland 2013: 215 f.). Es gibt für diese stark emergentistische Annahme aber keine stichhaltigen empirischen oder erkenntnistheoretischen Gründe. Zugrunde liegt dieser Position die ihrerseits verfehl281 Einen Kategorienfehler begeht, wer in einer Aussage der Form „x ist ein φ“ Kategorien miteinander verknüpft, die nicht zu der gleichen logischen Klasse gehören (Ryle 1969; vgl. Kempermann 2004). 282 Talcott Parsons (1968) hat – einer Formulierung von Alfred Whitehead (1925/1997) folgend – diesen „Irrtum der unangebrachten Konkretheit“ als ein bei der Analyse sozialer Tatsachen immer wieder auftretendes Problem benannt. Zum Konzept der Reifikation siehe Berger und Luckmann (1969); zum synonym zu verstehenden Konzept der Hypostasierung am Beispiel des Natur-Kultur-Dualismus und der ihm zugrundeliegenden Vergegenständlichung der Kategorie „Kultur“ siehe Eibl (2009).

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Sozialkapital: Eine kritisch-anthropologische Theorieanalyse

te Vorstellung, dass Kultur und Natur zwei gegensätzliche und voneinander unabhängige Dinge sind.283 Beide Kategorienfehler bringen Politikwissenschaft um die Möglichkeit, die verschiedenen Analyseebenen in gehaltvoller Weise zu verbinden und so den Zusammenhang zwischen sozialen, psychischen und biologischen Strukturen besser zu verstehen. Aussagen wie „Sozialkapital hilft bei der Erreichung von Zielen“, „Gesellschaftliches Vertrauen ist eine Bedingung für gelingende Kooperation“ oder „Reziprozitätsnormen und gemeinschaftsorientierte Werte sind soziale Konstruktionen“ bleiben kategorial fragwürdig, solange keine leistungsfähige Theorie der psychologischen Mechanismen (und letztlich auch: der biochemischen Prozesse) hinter dem Konzept Sozialkapital sowie Phänomenen wie Kooperation, Ver­ trauen, Beziehungen, Werten und Normen steht. Im Umkehrschluss verspricht jedoch eine sorgsame Reformulierung anthropologischer Grundlagen auch Lösungen für solcherlei Probleme. Dass dies mithilfe der evolutionären Perspektive möglich ist, ohne in Biologismen zu verfallen, wurde theoretisch schon gezeigt;284 und im Rest des Buches soll der Beweis auch praktisch erfolgen.

3.6 Die Mission: „Bringing human nature back in“ Zwar findet eine evolutionär-anthropologische Neuorientierung in der Sozialkapitalforschung derzeit noch kaum Interesse und Fürsprecher. Jedoch birgt der Rückbezug auf eine empirisch robuste Handlungstheorie großes Potential für die Bearbeitung zentraler Probleme der Sozialkapitaltheorie. Die Analyse hat mannigfaltige Ansatzpunkte für solche interdisziplinäre Theorieintegration zutage gefördert, die bislang weitgehend brachliegen. In der Regel wird in der einschlägigen Literatur nämlich noch nicht (an-)erkannt, dass den Aporien und Defiziten der Sozial­kapitaltheorie mit sozialwissenschaftlichen Mitteln allein nicht beizukommen ist. Die Sozialkapitaltheorie hat sich als durchaus anschlussfähig an empirischanthropologische Ansätze entpuppt. Der Anspruch einer handlungstheoretischen Mikrofundierung auch von gesellschaftlichen Makrophänomenen gehört schließlich nachgerade zu ihrem Markenkern, soll doch „das Soziale“ (auch) von der Analyse individueller Handlungen und Entscheidungen her fassbar gemacht werden. Zudem ist in der Debatte ein Trend dahingehend erkennbar, dass jene Aspekte menschlichen Sozialverhaltens wieder stärker berücksichtigt werden sollen, welche der „McDonaldisierung der Sozialtheorie“ durch die Reduktion auf 283 Siehe hierzu S. 101 ff. 284 Siehe ebd.

Die Mission: „Bringing human nature back in“ 207

ein behavioristisch-ökonomistisches Menschenbild zum Opfer gefallen sind (Fine 2010: 19, siehe auch 12 ff.; vgl. Zafirovski 2005). Im Zuge dessen wird vereinzelt sogar eingefordert, solches „bringing back in“ eines umfassenden Verständnisses sozialen Handelns (Fine 2010: 60 ff.) auf empirisch-anthropologische Forschung aufzubauen:285 „[Research] based in the natural sciences and experimental economics has sought to demonstrate and understand just how fundamental, in a neurological and anthropological sense, cooperation and other-regarding behavior is for human decision making. This work only occasionally deploys the concept of social capital per se, but its central thrust is entirely consistent with it and exemplifies the ways in which findings from otherwise very separate fields are both converging and mutually informing one another, appropriating the language of social capital as needed.“ (Woolcock 2010: 477)

Tatsächlich erfordert um Mikrofundierung bemühte Theoriebildung zuallererst Aufgeschlossenheit gegenüber anthropologischen Wissensbeständen und Befundlagen. Bislang ist diese von Homans formulierte Grundhaltung verhaltenstheoretischer Sozialwissenschaft allerdings für die Sozialkapitaltheorie kaum von praktischer Relevanz.286 Zwar wird nicht grundsätzlich geleugnet, dass menschliche Kooperationsentscheidungen auch und gerade von psychischen Faktoren abhängen, dass also soziales Handeln im Hinblick auf Beziehungsnetzwerke, Vertrauen, Werte und Normen irgendwie von der Konstitution des menschlichen Gehirns abhängt. Jedoch ist es nicht Gegenstand systematischer Theoriebildung, in welcher Weise diese Natur des Menschen diesen kausalen Nexus aus kulturellen Faktoren und individuellen Handlungsentscheidungen prägt. Kurzum: Der Sozialkapitaltheorie fehlen Kenntnisse über die Funktionsweise jener psychologischen Mechanismen, welche die für Homo sapiens so typische Kooperation, soziale Vernetzung und normative Verregelung des Sozialen bedingen, herbeiführen oder verhindern. Noch also trifft die Kritik von Tooby und Cosmides am sozialwissenschaftlichen Standardmodell des Menschen auch die Sozialkapitaltheorie:287 Die Bemühungen um Mikrofundierung werden regelmäßig auf der Ebene des Individuums eingestellt; das menschliche Gehirn wird mithin als ein unspezifisches Universalwerkzeug ohne funktionelle Ausdifferenzierung aufgefasst. Biologische Faktoren finden keine systematische Berücksichtigung; soziales Handeln wird ausschließ285 Menschenbildern kommt in politik- und sozialwissenschaftlichen Theorien ohnehin eine zentrale Rolle zu. Siehe dazu S. 35 ff. Zur Diskussion des Mehrwerts empirisch-anthropologischer Wissensbestände in der Sozialkapitalliteratur vgl. S. 9 ff. 286 Vgl. S. 161 f. 287 Siehe hierzu S. 92 f.

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lich auf Rationalität und kulturelle Ursachen zurückgeführt. Solche Annahmen werden als methodologische Setzung der weiteren Theoriebildung zugrunde gelegt und in der Folge entweder für alle praktischen Zwecke als empirisch zutreffend behandelt oder als kulturell kontingente soziale Konstruktion aufgefasst, über deren empirischen Wahrheitsgehalt nachzudenken letztlich nicht lohnt. Keine Rolle spielen hingegen evolutionär-anthropologische Perspektiven, die soziales Handeln nicht nur aus seiner kulturellen Historizität, sondern auch aus seiner psychologischen Feinmechanik und dessen Naturgeschichte heraus erklärbar machen. Diese handlungstheoretische Fehlstelle mündet in allerlei Folgeprobleme, die sich in grob in drei miteinander zusammenhängenden Problemkomplexen zusammenfassen lassen. Erstens ist es eine noch nicht befriedigend bewältigte Herausforderung, überhaupt beschreiben zu können, was Sozialkapital und in welche Typen es sich gliedern lässt. Weil die kausalen Mechanismen der Hervorbringung von Sozialkapital weitgehend unverstanden sind, wird es deshalb einesteils als ein „Ding“ vergegenständlichst statt als psychosozialer Prozess gedacht und andernteils von seinen Funktionen her definiert – also seinen positiven Konsequenzen. Zweitens und darauf aufbauend erschweren normative bzw. ethnozentrische Verzerrungen die Verallgemeinerung von Sozialkapitaltheorien über westliche Demokratien hinaus erheblich.288 Denn nicht nur die Ausgestaltung von sozialen Netzwerken, Institutionen und Normen ist kulturell hochgradig kontingent, auch die Funktionen von Sozialkapital werden sich abhängig von den jeweils als erstrebenswert erachteten Zielen unterscheiden. Um aber das Allgemeine hinter dem jeweils kulturspezifisch Ausgeformten freilegen zu können, braucht es Einblicke in die Beschaffenheit der aller Kultur noch vorgängigen Fähigkeit zur interindividuellen Kooperation und zu gemeinsinnigem Verhalten überhaupt. Drittens sind relationale und kollektive Sozialkapitaltheorien bisher noch schlecht miteinander verbunden. Nach wie vor ist es nicht gelungen, in überzeugender Weise zu modellieren, in welchem Zusammenhang individuelle Handlungsmotivationen mit sozial konstruierten gesellschaftlichen Makrophänomenen stehen. Theorieentwürfe mit diesem Anspruch bedienen sich eines inkonsistenten Verhaltensmodells aus Rational-Choice-Ökonomismus und behavioristischem Strukturalismus und sind deshalb keine Lösungen, sondern Fortschreibungen des zugrundeliegenden Dilemmas. All das wurde in diesem Kapitel an klassischen Theorieentwürfen, neueren Konzeptualisierungen sowie Zentralkategorien und Kausalhypothesen vor Augen 288 Siehe dazu S. 194 ff. Insbesondere in Theorien des kollektiven Sozialkapitals ist dieses Problem virulent, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass koreanische Sozialwissenschaftler versuchen, ein Messinstrument exklusiv für die Messung koreanischen Sozialkapitals zu konstruieren (Chung et al. 2014: 46 ff.).

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geführt. Überdeutlich wurde dabei, dass die Sozialkapitaltheorie gleichsam anthropologisch in der Luft hängt. Um dieser grundlegenden Unterspezifikation mithilfe von Wissensbeständen aus den Life Sciences zu begegnen, haben sich einige Ansatzpunkte als besonders vielversprechend erwiesen. Sie adressieren zentrale Aporien und Defizite der Sozialkapitaltheorie und stellen deshalb genau jene Schnittstellen dar, an denen die in den nächsten Kapiteln zu unternehmende handlungstheoretische Fundierung anzusetzen hat. Zusammenfassend stark verdichtet sind dies … ■■ die Widersprüchlichkeit des behavioristisch-ökonomistischen Verhaltensmodells, ■■ die tatsächlichen psychologischen Mechanismen hinter Prosozialität und Kooperation, ■■ dahinterliegend der sich in der menschlichen Neigung zur Sozialität manifestierende (ultimate) Wert von sozialen Beziehungen für Menschen, ■■ die psychosoziale Dynamik hinter der Struktur sozialer Netzwerke, besonders in Bezug auf die Prinzipien von Homophilie und Heterophilie, ■■ damit zusammenhängend die Natur von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital und mithin die Frage nach der Herstellung gesellschaftlicher Kohäsion sowie ■■ die kausale Rolle und der ontologische Status von relationalem und vor allem kollektivem Sozialkapital. Zu gewinnen ist bei diesem Projekt viel. Die Abkehr von einem anthropologischen Modellplatonismus, der als empirisch gegeben betrachtet, was er selbst postuliert, eröffnet neue Perspektiven auf alte Probleme der Sozialkapitaltheorie – und zwar definitorische, theoretische und methodische. Mehr noch, die wohl größte Stärke des Sozialkapitalkonzepts kann gar ausgebaut werden: Schon jetzt gilt es als ein integratives Konzept, unter dessen Schirm interdisziplinäre Verständigung zwischen Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaft und einigen anderen Disziplinen in vorher nur selten erreichter Weise möglich geworden ist (Woolcock 2010). Wenn die Sozialkapitalforschung nun auch noch Schnittstellen zu empirisch-anthropologischen Disziplinen kultiviert, entsteht nicht weniger als der Nukleus einer komplexen, integrativen humanwissenschaftlichen Gesellschaftstheorie, die soziale Bindekräfte und gesellschaftliche Kooperation samt deren Mikro-Makro-Interaktionen in den Fokus stellt. So würde exakt jener dritte Weg konsequent beschritten, den die Klassiker der Sozialkapitaltheorie einschlugen, letzten Endes aber nicht zu gehen vermochten. Die Sozialkapitaltheorie eignet sich für solche theoretischen Integrationsbe­ strebungen besonders gut. Sie bietet eine abstrakte, interdisziplinär anschlussfähige Theoriesprache, die es erlaubt, menschliches Sozialverhalten von der sozialen

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Mikro- bis zur Makroebene zu studieren. Manche Evolutionspsychologen und -biologen haben immerhin den heuristischen Wert des Konzepts schon erkannt und nutzen es in ihren Argumentationen zu gesellschaftlicher Kohäsion und Kooperation (vgl. Haidt et al. 2008; Kanazawa und Savage 2004, 2009a, 2009b; Silk et al. 2009; Wilson et al. 2009). Wenn es gelänge, solche Suchbewegungen aus Nachbardisziplinen mit systematischen Theorieschnittstellen aufzufangen, würde die Sozialkapitalforschung als einer der ersten sozialwissenschaftlichen Teilbereiche damit beginnen, seine veralteten anthropologischen Grundlagen zu aktualisieren – und damit ganz im Geiste von James Coleman und Pierre Bourdieu zur Avantgarde der Sozialtheorie werden.

4 Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

4.1 Die Suchspur: Sozialkapital und das Problem des Altruismus Wo die erstaunliche menschliche Fähigkeit herrührt, in komplexen Kooperationsbeziehungen auf individuelle und kollektive Ziele hinzuwirken, ist eine Frage, die sich mit sozialwissenschaftlichen Mitteln allein offenbar nicht befriedigend beantworten lässt. Wie die Analyse der Sozialkapitaltheorien im letzten Kapitel gezeigt hat, fehlt es deshalb an einer logisch konsistenten und empirisch robusten handlungstheoretischen Mikrofundierung einschlägiger politikwissenschaftlicher und soziologischer Erklärungsansätze. Das wiederum zieht vielerlei in empirischer und theoretischer Forschung zutage tretende Probleme nach sich, die das analytische Potential solcher Theorien erheblich schmälern. Deshalb wird es sinnvoll sein, jenen größeren Kontext menschlicher Prosozialität – also: der handelnden Hinwendung zu anderen Individuen und zur Gemeinschaft –289 in den Blick zu nehmen, welcher über den Zuständigkeitsbereich der Sozialwissenschaften weit hinausreicht. Im Fokus steht dabei nicht mehr nur die Entstehung von Kooperation unter den Bedingungen rationaler Akteure. Auch Sozialisation, institutionelle Anreizstrukturen, Handlungsmotivationen oder gar Emotionen sind dann nur Teilaspekte eines viel größeren und viel tiefergehenden kausalen und naturgeschichtlichen Rätsels. Es geht nicht einmal primär darum, was den Menschen zum Menschen macht. Es geht – viel allgemeiner – um die Evolution der Kooperation (Axelrod und Hamilton 1981; Voland 2013).

289 Weil der Begriff „Prosozialität“ uneigennützige Selbstaufopferung nicht schon impliziert, ist er dem in dieser Hinsicht engeren Begriff „Altruismus“ dann vorzuziehen (vgl. S 82 f.).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_4

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Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

Die Ursachen von Kooperation: zwei alte und zwei neue Fragen Bisher handelt es sich bei allen von der Sozialkapitaltheorie systematisch berücksichtigten Variablen letztlich um soziale Tatbestände, also um kulturelle Faktoren. Einzig der „bewusst-rationale Entscheidungsalgorithmus“ gilt als solchen kulturellen Tatbeständen mindestens teilweise noch vorgängig, werden Individuen doch in der Sozialkapitalforschung zumindest in modellhafter Abstraktion gemeinhin als egoistische Nutzenmaximierer gleichsam „von Natur aus“ aufgefasst. Allerdings können im Laufe der Sozialisation von dieser Logik abweichende handlungsleitende Normen und Werte anerzogen werden – so die angesichts des oft wenig ökonomisch-rationalen Kooperationsverhaltens realer Menschen nötige Weiterung dieses Modells. Diese behavioristisch-ökonomistische Vorstellung der Natur des Menschen führt in einen kulturalistischer Reduktionismus, der nur die unmittelbaren Verursachungszusammenhänge von menschlichem Handeln sowie den Einfluss von Kultur im Zuge der biographischen Entwicklung eines Individuums (‚Ontogenese‘) erfasst. Damit werden nur zwei von Tinbergens vier Fragen nach den Gründen für Verhalten überhaupt gestellt, nämliche jene nach den proximaten Ursachen. Eine allgemeine Theorie des Sozialkapitals wird jedoch auch die noch hinter diesen proximaten Faktoren liegenden ultimaten Ursachen für Kooperation in den Blick nehmen müssen: Zu fragen ist dann einesteils nach der Naturgeschichte der Hervorbringung des Verhaltens (‚Phylogenese‘) sowie andernteils nach dessen adaptivem Wert, also jenem funktionalen Vorteil im Hinblick auf Überleben und Reproduktion, welcher die Verbreitung des Merkmals in der Population über Generationen hinweg beförderte.290 Eines nämlich ist unabweisbar: Die Natur des Menschen – ihrerseits Grundlage jeder Gemeinschaft, jeder Gesellschaft, überhaupt jeder interindividuellen und kollektiven Kooperationsbeziehung – ist ein Produkt der Evolution. Die biologische und psychologische Konstitution unserer Spezies ist mindestens teilweise eine Ansammlung evolvierter Lösungen für adaptive Probleme. Es gilt also, die Evolution des Sozialkapitals zu verstehen – oder präziser: die Evolution jener kognitiven und sozialen Fähigkeiten, welche Menschen in die Lage versetzen, soziale Beziehungsnetzwerke als Ressource nutzen zu können. Dazu ist erstens herauszufinden, auf welchen menschlichen Bedürfnissen und Handlungsmotivationen Sozialkapital basiert. Zweitens ist zu ergründen, als Bestandteile welcher evolvierten psychologischen Mechanismen diese Antriebe wie ausgelöst werden und funktionieren.

290 Siehe zu alldem S. 86 ff.

Die Suchspur: Sozialkapital und das Problem des Altruismus 213

Menschen haben Wahrnehmungen, Antriebe und Empfindungen, weil sie sich im Verlauf der Evolution als nützlich herausgestellt haben. Sie hatten einen „biologischen Wert“ (Damasio 2010), der mit der Überwindung von Problemen des Überlebens und der Fortpflanzung zu tun hatte. Ganz so, wie Zucker nicht ‚an sich‘ süß und die Farbe Rot nicht ‚an sich‘ auffällig ist, sind soziale Anerkennung oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht ‚an sich‘ etwas Erstrebenswertes.291 Und wie Sozialwissenschaftlern ohnehin bekannt ist (vgl. Patzelt 2013b: 96 ff.), gibt es auch für Normen und Werte keine ‚an sich‘ gültige Begründung. Dass Menschen soziale Beziehungen überhaupt als Wert-voll ansehen und mithin als Kapital behandeln können (Kanazawa und Savage 2004), ist folglich seinerseits ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt. Ihm muss eine allgemeine Theorie menschlicher Kooperation Rechnung tragen. Evolutionspsychologie und Soziobiologie halten Erklärungen für den biologischen Wert prosozialer Handlungsmotivationen bereit. Wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, lässt sich mit ihrer Hilfe die Tiefenstruktur der menschlichen Sozialität sichtbar machen und so mittels einer evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung ein komplexes Bild jener „positiven Kooperationshaltung“ (Koob 2007: 291) zeichnen, in welcher Sozialkapital wurzelt. Eine solche Analyse der ultimaten Ursachen von Sozialkapital ist zudem mitnichten gleichbedeutend mit einer Vernachlässigung proximater Kausalzusammenhänge. Denn der Möglichkeitsraum, in dem Sozialisation und kulturelle Anreizstrukturen ganz vielgestaltige (pro-)soziales Handeln auslösen können, ist von evolvierten Fähigkeiten und Prädispositionen grundsätzlich präfiguriert. Gerade mithilfe der evolutionären Perspektive lässt sich demnach jene funktionelle Mechanik der kulturellen und sozialen Verursachungsstrukturen hinter menschlicher Kooperation besser verstehen, welche zwar im Zentrum von Sozialkapitaltheorien steht, dort aber noch nicht in analytisch befriedigender modelliert werden kann, wie das letzte Kapitel gezeigt hat. Auf ein solches Fundament gestellt, muss die Sozialkapitaltheorie nicht länger nur eine „Proto-Theorie der Kooperation“ bleiben (Woolcock 2010: 476; vgl. Diekmann 2007: 55 f.). Der Forschungsansatz: Evolutionär-anthropologische Mikrofundierung Um diese handlungstheoretische Fundierung der Sozialkapitaltheorie leisten zu können, ist ein tiefgreifender Perspektivenwechsel notwendig. In evolutionärer Perspektive erscheint „der Mensch“ nicht als etwas Gegebenes, als das, was er ist –

291 Siehe dazu S. 98 f.

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Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

sondern vor allem als das, was er geworden ist. Es ist deshalb für das Nachvollziehen der folgenden Argumentationen sinnvoll, einen zentralen Kategorienfehler der Sozialkapitaltheorie (und weiter Teile der Sozialwissenschaften überhaupt) zunächst anzunehmen – und dann auch zu belegen: dass nämlich der ontologische Status von Phänomenen wie „Individuum“ und „Bewusstsein“ im Großen und Ganzen falsch eingeschätzt wird. In der Sozialkapitalforschung wird Individuen der Status von nicht weiter reduziblen Einheiten zugeschrieben, die über ein (mehr oder weniger rationales) Bewusstsein verfügen. Wer so auf die Welt blickt, für den erschöpft sich Mikrofundierung in der Analyse der Mikroebene sozialer Wirklichkeit, der Ebene von Individuen. Stellt man allerdings das Gewordensein des Menschen in Rechnung, verlängert man also die Zeitachse sozialwissenschaftlicher Anthropologie über die Spanne dokumentierter Kulturgeschichte hinaus weiter in die Vergangenheit, stellt sich der ontologische Status von bewussten Individuen ganz anders dar. Führt man sich vor Augen, dass letztlich alle Lebensformen auf der Erde gemeinsame Wurzeln bei Einzellern und letztlich gar bei reproduktiven Molekülen haben, dann drängen Fragen darüber in den Vordergrund, wann und wie Phänomene wie Individualität und Bewusstsein entstanden sind. Weiterhin fällt dann auf, dass auch andere Spezies in sozialen Gruppen leben, denen wir nicht zusprechen würden (bzw. die längste Zeit nicht zugesprochen haben)292, über ein Bewusstsein zu verfügen: Ameisen, Bienen, Pinguine, Elefanten, Löwen, Primaten usw. Offenbar sind vielerlei ein Gruppenleben ermöglichende soziale Praxen auch ohne genuin menschliche kognitive Fähigkeiten möglich. Wenn dem so ist, könnten dann nicht auch Vorfahren des modernen Menschen schon über Vorstufen solcher psychologischen Mechanismen verfügt haben, die wir gemeinhin mit jenem rationalen Bewusstsein assoziieren, über das wir unsere Ganzheit, unsere Abgegrenztheit von der Umwelt – kurzum: unsere Individualität – erleben ? Wie weit lassen jene sich wohl in der Evolutionsgeschichte zurückverfolgen; und was folgt daraus für das Verständnis der Fähigkeit, Soziales als Kapital zu handhaben ?

292 Die hier relevanten kognitiven Fähigkeiten von anderen Tieren werden in diesem Kapitel ausführlich dargestellt. Vorerst soll der Verweis auf eine Erklärung renommierter Neurowissenschaftler aus dem Jahre 2012 genügen: „The absence of a neocortex does not appear to preclude an organism from experiencing affective states. Convergent evidence indicates that non-human animals have the neuroanatomical, neurochemical, and neurophysiologi­ cal substrates of conscious states along with the capacity to exhibit intentional behaviors. Consequently, the weight of evidence indicates that humans are not unique in possessing the neurological substrates that generate consciousness. Nonhuman animals, including all mammals and birds, and many other creatures, including octopuses, also possess these neurological substrates“ (Low et al. 2012). Siehe dazu auch S. 265 ff.

Die Suchspur: Sozialkapital und das Problem des Altruismus 215

Es zeigen schon diese noch ganz unsystematischen Vorüberlegungen, dass die evolutionäre Perspektive der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung eine neue Art der Mikrofundierung abverlangt. Zwar wird schon heute kaum noch von jemandem ernsthaft bestritten, dass sozialwissenschaftliche Anthropologie auch eine biologische, mindestens aber psychologische Dimension haben sollte. Der entscheidende Perspektivenwechsel besteht nun jedoch darin, „den Menschen“ als einen von der Evolution geformten komplexen Organismus anzusehen, der aus vielerlei ineinandergreifenden Subsystemen besteht. Einige dieser Subsysteme sind psychologische Mechanismen, deren Zweck es ist, angemessenes (Sozial-) Verhalten zu produzieren.293 Diese Herangehensweise ist dem Mainstream der Sozialkapitalforschung derzeit noch fremd.294 Dass gegen sie aber keine guten Gründe in Stellung zu bringen sind, wurde schon im zweiten Kapitel dargelegt;295 und dass ein Bedarf an anthropologischer Mikrofundierung besteht, hat die Analyse der Sozialkapitaltheorie im dritten Kapitel deutlich gezeigt. Der Rückbezug zu den Life Sciences ist folglich eine längst überfällige Verbindung von Forschungszweigen verschiedener Disziplinen, die allesamt den gleichen empirischen Referenten haben: den Menschen und sein Sozialverhalten. Das Ziel einer solchen theoretischen Integration ist nicht ein explanatorischer Reduktionismus, der versucht, alles Soziale nur in biologischen Theorien auszudrücken. Vielmehr geht es darum, die externe Konsistenz der Sozialkapitaltheorie dergestalt zu verbessern, dass sie zu empirischen Erkenntnissen zur Natur des Menschen passt. Dieser Forschungsansatz zwingt nachgerade dazu, einen für die Erschließung der komplexen Realität physikalischer, biologischer und sozialer Systeme ohnehin notwendigen Methoden- und Theorienpluralismus zu praktizieren – und zwar nicht einfach in Gestalt selbstzweckhafter Multiperspektivität, sondern mit dem Ziel, Sozialkapital von seinen biologischen Grundlagen her besser verstehen und erklären zu können.

293 Siehe hierzu S. 94. 294 Mehrfach wurde im Kapitel 3 darauf hingewiesen, dass es zwar durchaus entsprechende Denkansätze gibt, jene aber noch nicht ausgearbeitet sind und keine systematische Berücksichtigung in der Breite der Sozialkapitalforschung finden (siehe etwa Ahn und Ostrom 2008; Glanville und Bienenstock 2009; Woolcock und Radin 2007). 295 Vgl. S. 99 ff.

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Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

Das Problem des Altruismus: Empirische Rätsel und Lösungswege Was also ist die Natur des Sozialkapitals ? Um diese Frage zu beantworten, widmet sich dieses Kapitel den Erkenntnissen aus Soziobiologie, Evolutionspsychologie und evolutionärer Anthropologie. Denn ein zentrales Erkenntnisinteresse solcher Life Sciences dreht sich genau um das handlungstheoretische Desiderat der So­zialkapitaltheorie (vgl. etwa Buss 2012; Nowak und Highfield 2011; Price 2011; Tomasello 2010b; Wilson 2013; Workman und Reader 2010): Wann und unter welchen Bedingungen formte sich die menschliche soziale Lebensweise ? Warum begannen Menschen, in Gruppen zusammenzuleben, die nicht (nur) durch Verwandtschaftsverhältnisse zusammengehalten wurden ? Mithilfe welcher psychischen Funktionsketten und wie genau wird dieses Verhalten realisiert und stabilisiert ? Was bedingt die menschliche „Ultrasozialität“ (Richerson und Boyd 1998), also die beispiellose Fähigkeit und Neigung zu kooperieren, sich sozial zu vernetzen, in stabilen Gemeinschaften zusammenzufinden – und aus alldem einen Mehrwert zu generieren ? Anders gewendet: Was sind und wie arbeiten die evolvierten psychologischen Mechanismen, die es Menschen erlauben, soziale Beziehungen als zielerreichende Ressourcen – also: als Sozial-Kapital – urbar machen zu können ? Die in evolutionärer Perspektive zentrale Frage ist aber noch grundsätzlicherer Natur: Wie und warum konnte sich prosoziales und altruistisches, jedenfalls auf soziale Vernetzung hinauslaufendes Verhalten überhaupt evolutionär durchsetzen ? „Evolution is based on a fierce competition between individuals and should therefore reward only selfish behavior. […] Yet we observe cooperation on many levels of biologi­ cal organization. Genes cooperate in genomes. Chromosomes cooperate in eukaryotic cells. Cells cooperate in multicellular organisms. There are many examples of cooperation among animals. Humans are the champions of cooperation: From hunter-gatherer societies to nation-states, cooperation is the decisive organizing principle of human society.“ (Nowak 2006: 1560)

Die unhintergehbare Logik des Selektionsmechanismus gebietet, dass der evolutionäre Erfolg, also die Fitness, von Lebensformen letztlich nur auf eine Weise zu messen ist: anhand der Menge an solchen Kopien der eigenen Gene, die sich ihrerseits ebenfalls erfolgreich reproduzieren können (Mayr 2005). Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, was die (viele Sozialwissenschaftler zu Unrecht verstörende) Rede vom „egoistischen Gen“ (Dawkins 1976b) in ihrer einfachsten Version meint: Die Natur bringt Egoisten hervor, denn nur egoistische Verhaltensstrategien sorgen dafür, dass differentielle reproduktive Vorteile entstehen können, die

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ihrerseits eine Verbreitung solcher Strategien in der Population bewirken. Präziser muss man sagen: Der Zweck von Genen kann nur sein, Organismen als Vehikel aufzubauen, mithilfe derer es gelingt, Kopien ihrer selbst in die Welt zu setzen.296 Die der Sozialkapitalforschung zugrundeliegende Annahme des egoistischen Nutzenmaximierers steht also scheinbar ganz im Einklang mit evolutionsbiologischen Grundlagen – und gilt bei weitem nicht nur für Menschen, sondern letztlich für alle Lebensformen. Altruistisches und auch einfaches prosoziales Verhalten stellt aus dieser theoretischen Perspektive prima facie ein erklärungsbedürftiges Abweichen von einer plausiblerweise anzunehmenden Norm dar. Empirisch bietet sich jedoch ein anderes Bild: In der Natur ist die Bereitschaft für das Investment in soziale Ressourcen und die Organisation in ausgedehnten Sozialverbänden nämlich durchaus häufig anzutreffen.297 Der evolutionäre Entwicklungspfad hin zur Kooperation und zum Leben in Sozialverbänden wurde an mehreren Stellen im Tierreich beschritten. Allerdings haben nur verhältnismäßig wenige Spezies die Grenze zu einer wirklich umfassenden Sozialität überschritten. Und das, obwohl jene – einmal realisiert – doch so erfolgreich ist, wie der evolutionäre Erfolg eusozialer Insekten und des Menschen belegen (Wilson 2013). Das umfangreiche und ausdifferenzierte Repertoire von menschlichen sozialen Praxen sucht ohnehin seinesgleichen. „Cooperation is needed for evolution to construct new levels of organization. Genomes, cells, multicellular organisms, social insects, and human society are all based on cooperation. Cooperation means that selfish replicators forgo some of their reproductive potential to help one another. But natural selection implies competition and therefore opposes cooperation unless a specific mechanism is at work.“ (Nowak 2006: 1560)

Wie also kann Kooperation überhaupt entstehen, wenn die Evolution doch zum Verfolgen egoistischer Reproduktionsstrategien zwingt ? Darin liegt das Problem des Altruismus (Buss 2012: 268; vgl. Carter 2005), das die Evolution praktisch offenbar löste, die Wissenschaft aber theoretisch noch nicht vollständig aufgeklärt hat. Die Sozialkapitaltheorie beantwortet diese Frage wie folgt: Kooperation kann entstehen, wo sie den beteiligten Individuen nützlich ist. Dieser Nutzen kann einerseits instrumenteller und andererseits konsumatorischer Natur sein. Der konsumatorische, also selbstbelohnende Nutzen liegt in der inneren Befriedigung, die aus der Einhaltung von im Laufe der Sozialisation erlernten kulturellen Normen 296 Vgl. S. 79 ff. 297 Ein einführender Überblick zu kooperativen Lebensweisen im Tierreich findet sich in Voland (2013); aber auch im Folgenden wird eine Fülle einschlägigen Befundmaterials vorgestellt.

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und Werten resultiert.298 Es dürfte an dieser Stelle schon klar vor Augen stehen, dass diese Argumentation viel zu kurz greift. In den Life Sciences fällt die Antwortstrategie wesentlich komplexer aus. Sie gehen nicht von den starken Prämissen individueller Rationalität und kultureller Determination aus, denn wie es sich mit der Natur des Menschen verhält, ist dort eine empirische Frage. Auch wird versucht, menschliches Verhalten nicht nur in seiner Einzigartigkeit, sondern in seiner Ähnlichkeit zum Verhalten anderer Spezies zu betrachten. Der Anspruch ist deshalb, das Zustandekommen von Kooperation nicht nur bei Menschen, sondern auch ganz allgemein zu erklären. Die Evolution von Altruismus, Prosozialität und Kooperation gilt zwar auch dort noch nicht als restlos verstanden; es besteht aber dennoch viel Einigkeit über Erklärungsmodelle, welche für die Sozialkapitalforschung höchst einschlägig sind. Strittig ist nämlich nicht, ob menschliches Sozialverhalten Ergebnis von Evolution ist und damit seinen Niederschlag in spezifischen psychologischen Mechanismen findet. Das gilt als gesichertes Wissen (Lange 2012: 335 f.) und wird von sehr vielen Befunden gestützt, die im Folgenden aufzuarbeiten sind. Uneinigkeit gibt es vielmehr zu der Frage, wie und warum dies geschehen ist. Die klassische Perspektive der Individualselektion lässt nur Theorien als gültig zu, in denen Individuen mithilfe „egoistischer Gene“ Vorteile aus prosozialem Verhalten in Konkurrenz mit anderen Individuen ziehen. Dazu gehören nach derzeitiger Lehrmeinung in Soziobiologie und Evolutionspsychologie vor allem folgende Erklärungsmuster: nepotistischer Altruismus, reziproker Altruismus, Mutualismus, biologischen Märkte, indirekte Reziprozität und Handicap-Altruismus (Buss 2012: 268 – ​282; Hampton 2010: 81 – ​95; Price 2011; Voland 2013: 63 – ​84; Workman und Reader 2010: 182 – ​228). Diese grundlegenden Erklärungen der Evolution von Kooperation samt den dahinterliegenden Befundlagen erlauben es, die ultimaten und proximaten Ursachengefüge hinter relationalem Sozialkapital in viel theoriehaltigerer und empirisch robusterer Weise zu erschließen, als das bisher möglich war. Die Multilevelselektionstheorie lässt einen weiteren Typ von Erklärungen zu, der zwar auf individualselektionistischen Ansätzen aufbaut, über diese aber hinausgeht (Wilson 2013; Wilson und Sober 1994): Gemeinsinnige Verhaltensdispositionen werden sich in Populationen durchsetzen, wenn von Altruisten geprägte Kollektive in der Konkurrenz mit Gruppen von Egoisten erfolgreicher sind. Auf diese Weise können sich zudem Systemübergänge von Gruppen aus Individuen hin zu integrierten und ausdifferenzierten Kollektiven ereignen – und zwar überall in der belebten Natur in funktional äquivalenter Weise. Diese in der Evolu­

298 Siehe hierzu S. 178 f.

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tionsbiologie leidenschaftlich diskutierte und sozialtheoretisch höchst anschlussfähige Sicht auf Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung liefert plausible evolutionär-anthropologisch fundierte Erklärungen für kollektives Sozialkapital. Um die Gestalt der Natur des Mehrebenenphänomens Sozialkapital möglichst vollständig sichtbar zu machen, werden im Folgenden erst die einzelnen individualselektionistischen Erklärungen der Evolution der Kooperation und dann die multilevelselektionistische Deutung der Naturgeschichte sozialer Kohäsion vorgestellt und für die Sozialkapitaltheorie urbar gemacht. Dabei wird stets zuerst die theoretische Argumentation rekonstruiert, bevor erst Befunde aus dem Tierreich und dann aus der humanwissenschaftlichen Forschung vorgestellt werden. Abschließend sind die jeweiligen Implikationen für die Sozialkapitaltheorie herauszuarbeiten. Es wird sich zeigen, dass prosoziale Verhaltensdispositionen auf unterschiedliche ultimate Ursachen zurückgehen. Weil sie Anpassungen an verschiedene evolutionäre Probleme sind, werden sie nur in Reaktion auf jeweils spezifische proximate Verursachungsmuster ausgelöst. Vier Formen von Sozialkapital lassen sich deshalb analytisch trennen: Nepotistisches Sozialkapital ist eine Konsequenz der im Tierreich weit verbreiteten evolvierten Prädisposition zur Verwandtenbevorteilung. Dyadisches Sozialkapital basiert auf psychologischen Anpassungen an die Herausforderungen von Reziprozitätsbeziehungen und sozialem Tausch. Normenbasiertes Sozialkapital spiegelt Anpassungen unserer Spezies an das Leben in komplexen Sozialverbänden wider und wird getragen vom Streben nach sozialer Anerkennung. Kollektives Sozialkapital schließlich ist mehr als nur die Summe dieser Formen von relationalem Sozialkapital. Es beschreibt einen Zustand der Selbstorganisation von sozialen Einheiten, ein höchst störanfälliges Resultat von komplexen Wechselwirkungen zwischen evolvierten individuellen Handlungsmotivationen und sozial konstruierten Nischen. Sozialkapital lässt sich auf der Grundlage des aktuellen Kenntnisstandes der Life Sciences also ausgehend von seinen Ursachen verstehen, konzeptualisieren und kategorisieren. Zudem eröffnen sich dank des analytischen Instrumentariums der evolutionsbiologischen Multilevelselektions- und Nischenkonstruktions­ theorie ganz neue Perspektiven auf das sozialwissenschaftliche Mikro-MakroProblem. Diese Einsichten werden im Folgenden als das Fundament einer im nächsten Kapitel zu leistenden grundsätzlichen Revision der Sozialkapitaltheorie ausgearbeitet.

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Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

4.2 La familia es todo: Nepotistischer Altruismus Dass Familien ein wichtiges Reservoir für Sozialkapital sind, grenzt wohl für die meisten Sozialkapitalforscher an eine Binsenweisheit. Bei Coleman ist Unterstützung innerhalb von Verwandtschaftsnetzwerken ein Standardbeispiel für die segensreichen Effekte sozialer Beziehungen. Bourdieu hat minutiös vor Augen geführt, wie nützlich die Zugehörigkeit zu so exklusiven sozialen Gruppen wie Familien sein kann: Nicht nur sichert das Hineingeborenwerden in wohlhabende Familien den Zugriff auf ökonomische Ressourcen, auch kulturelles und symbolisches Kapital wird in ihnen bereitwillig weitergegeben. Andere Theoretiker wiederum sehen Familien als Ballungen enger sozialer Vernetzung, deren „strong ties“ von „thick trust“ gekennzeichnet und mithin besonders belastbar sind. Kurzum: Familie ist Sozialkapital par excellence. Aber warum ist das so ? Diese Frage mag naiv anmuten, leuchtet doch jedem schon intuitiv ein, dass man unter Verwandten füreinander da ist. Diese Intuition ist viel weniger eine belastbare Grundlage für ein sozialwissenschaftliches Argument als ein Hinweis darauf, wie tief die normative Motivation zur Verwandtenunterstützung in die Natur des Menschen eingelassen ist. Wie sich zeigen wird, kommt Coleman der evolutionsbiologischen Antwort auf die Frage nach den Wurzeln der Verwandtenunterstützung noch am nächsten. Denn er betont, dass Familien – neben Religionsgemeinschaften – die ursprünglichsten Formen sozialer Organisation sind. Und er wird auch recht damit behalten, dass solche primordialen Strukturen wichtige Quellen für gesellschaftlichen Zusammenhalt sein können.

4.2.1 Theorie: Verwandtenselektion und inklusive Fitness Tatsächlich ist Nepotismus wahrscheinlich der grundlegendste Mechanismus hinter der Kooperationsneigung unter den Bedingungen der Konkurrenz um Ressourcen und Reproduktionsvorteile bei Menschen und anderen Tieren. Er basiert auf der von William D. Hamilton (1964) und John Maynard-Smith (1964) formulierten Theorie der Verwandtenselektion bzw. der inklusiven Fitness.299 Jene besagt, dass es eine fitnessmaximierende Strategie sein kann, sich Verwandten gegenüber uneigennützig zu verhalten. Schließlich tragen sie zum Teil die gleichen Gensequenzen in sich, und solches „selbstschädigende“ Verhalten trägt dazu bei, 299 Siehe zur Verwandtenselektion verschiedene Einführungen in Evolutionspsychologie und Soziobiologie (etwa Buss 2012: 238 ff.; Hampton 2010: 12 f.; Voland 2013: 4 ff.; Workman und Reader 2010: 50 ff.).

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jene in der Population zu verbreiten. Unterstützungsverhalten gegenüber Verwandten befördernde Gene begünstigen also ihre eigene Ausbreitung und sind letztlich doch „egoistisch“. Anders gewendet: Prosozialität unter Verwandten kann sich gegenüber individualistischem Egoismus als die evolutionär überlegene Verhaltensstrategie herausstellen. In der klassischen Hamilton-Regel formuliert klingt das so: Es ist dann aufopferndes Verhalten eines Akteurs gegenüber Verwandten zu erwarten, wenn der Nutzen (N) für den Empfänger höher ist als die Kosten (K) für den Akteur (Hamilton 1964). In der ebenso berühmten Hamilton-Ungleichung ausgedrückt: K < rN Der Faktor r stellt den sogenannten Verwandtschaftskoeffizienten dar. Er gibt an, wie groß der Anteil abstammungsidentischer Genreplikate ist (Voland 2013: 5; vgl. weiterführend Tooby und Cosmides 1989). Bei eineiigen, also das gleiche Erbgut teilenden, Zwillingen beträgt r genau 1; bei Eltern, Kindern und Geschwistern einer gegebenen Person ist r = 0,5; für deren Enkel, Nichten, Tanten und Halbgeschwister gilt r = 0,25 und so weiter.300 Aus evolutionstheoretischer Sicht ist es also vollkommen „rational“, in den eigenen Nachwuchs zu investieren. Schließlich trägt er zum Teil das eigene Erbgut in sich. Nur scheinbar wird dabei von jenem rationalen Nutzenmaximierer ausgegangen, der das handlungstheoretische Fundament weiter Teile der Sozialkapi300 Ein illustratives Lehrbuchbeispiel für die Leistungsfähigkeit dieser Theorie ist die Erklärung des Phänomens steriler Arbeiterinnen in eusozialen Insektenarten (Voland 2013: 6, 46 f.; vgl. Hamilton 1964): Solche Spezies sind haplodiploid, d. h. die Königin trägt einen doppelten Chromosomensatz in sich (‚diploid‘), die Männchen haben aber nur einen Chromosomensatz (‚haploid‘). Die Königin verpaart sich jeweils mit nur einem Männchen, ihre weiblichen Nachkommen tragen folglich Kopien der Hälfte des mütterlichen und des gesamten väterlichen Erbgutes in sich. Deshalb sind sie im statistischen Mittel untereinander enger verwandt (r = 0,75), als sie es mit eigenen Kindern sein könnten (r = 0,5). Laut der Hamilton-Ungleichung maximiert sich ihre genetische Fitness demnach stärker, wenn sie sich an der Brutpflege ihrer eigenen Schwestern beteiligen, als wenn sie sich selbst fortpflanzen würden. Anders formuliert: Die genetische Veranlagung zur ersten Strategie kann (bzw.: konnte) sich leichter in der Population ausbreiten und stabilisieren als die zweite; sie war und ist ‚fitter‘. Dass die Königinnen eusozialer Insektenstaaten unfruchtbare Töchter mit entsprechenden Brutpflegeinstinkten hervorbringen, ist also eine Anpassung an diese spezifischen Gegebenheiten. Ganz konsistent mit dieser Erklärung ist auch die Beobachtung, dass die Arbeiterinnen ihre haploiden Brüder hinsichtlich des Brutpflegeaufwandes gegenüber den Schwestern benachteiligen: Die Männchen schlüpfen aus unbefruchteten Eiern, teilen mit den Arbeiterinnen also nur ein Viertel des Erbguts (Trivers und Hare 1976). Zur durchaus kontroversen Diskussion der Rolle der Verwandtenselektion bei der Evolution von Eusozialität siehe aber S. 307 f.

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taltheorie bildet. Vielmehr bemisst sich der Nutzen solcher Prosozialität nicht in proximaten ökonomischen Maßstäben, sondern in der ultimaten Währung der Evolution, nämlich der Zunahme der relativen Häufigkeit der Replikate (von Teilen) des Genoms von EGO über mehrere Generationen hinweg in einer gegebenen Population. In diesem Sinne rational, nämlich die genetische Fitness maximierend, ist jene Verhaltensdisposition, die ihre eigene Verbreitung begünstigt – was im Falle der Verwandtenbevorzugung offenkundig der Fall ist. Das gilt auch für andere Verwandtschaftsverhältnisse, dann aber mit anderen, vom jeweiligen Verwandtschaftskoeffizienten abhängenden evolutionären Kosten-Nutzen-Bilanzen. Die reproduktive Gesamtfitness, genannt inklusive Fitness (Hamilton 1964), ergibt sich deshalb nicht nur aus der direkten Fitness, also dem unmittelbaren Reproduktionserfolg eines Individuums. Zu ihr gehört auch die indirekte Fitness, die sich aus der Tatsache ergibt, dass auch andere Verwandte als nur direkte Nachkommen Kopien von Teilen des eigenen Genoms verbreiten können. Inklusive Fitness hat folglich – ebenso wie evolutionäre Fitness überhaupt – keine präskriptive Dimension in dem Sinne, dass Verwandtenbevorzugung „etwas Gutes“ sei. Sie bildet ganz deskriptiv den realen evolutionären Erfolg ab. Auch wird von der Theorie der Verwandtenselektion nicht behauptet, dass nepotistische Strategien oder Präferenzordnungen zwangsläufig entstehen müssen (Buss 2012: 239). Folgerichtig wird die Theorie auch nicht dadurch widerlegt, dass viele Spezies nicht in Verwandtschaftsverhältnissen leben bzw. ihr Verhalten nicht erkennbar an jenen ausrichten. Sie macht lediglich begreiflich, worin der adaptive Wert, der evolutionäre Anpassungsnutzen von nepotistischer Prosozialität liegt: Es verbreitet sich schlicht jener Genotyp mit höherer Wahrscheinlichkeit, der zu solchen Strategien neigt. Dabei ist es nicht nötig, dass individuelle Phänotypen diesen Wert selbst kalkulieren oder gar bewusst als Nutzen verstehen – was die meisten Spezies ganz sicher auch nicht tun, die Brutpflege und sonstige Verwandtenbevorzugung betreiben. Die handlungsleitende Rationalität hinter (pro-)sozialen Handlungsent­ scheidungen erfasst also nur unzureichend, wer die relevante Kosten-Nutzen-​ Bilanzierung allein auf der Ebene des Individuums vermutet. Die Evolution prämiert auch Verhaltensdispositionen und aus ihnen resultierende soziale Handlungen, die im Lichte von traditionellen sozialwissenschaftlichen Menschenbildern unlogisch, irrational oder „unwirtschaftlich“ erscheinen. Die Realitätsprobe für die Nützlichkeit individuellen Verhaltens liegt nach evolutionären Maßstäben nämlich in der Gesamtfitnessbilanz. Aber auch die Annahme der nur kulturellen Determination sozialen Handelns erfährt durch diese evolutionsbiologische Perspektive auf Prosozialität eine nicht unerhebliche Schwächung. Denn offenbar braucht es kein Bewusstsein und kei-

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ne Kultur, um den Nutzen von Fitnessmaximierung zu „erkennen“. Vielmehr organisiert sich dieser Erkenntnisprozess entlang der Logik der Evolution selbst.301 Er schlägt sich nieder in genetisch bedingten Verhaltensdispositionen von Lebewesen, die um deren Zweck durchaus nicht explizit wissen (müssen). Es ergibt sich dann freilich die sozialtheoretisch höchst relevante Frage, inwiefern kulturelle Konstruktionen solche evolvierten Prozessketten stabilisieren oder destabilisieren können – und vice versa. Geht man von der universellen Gültigkeit der Theorie der inklusiven Fitness aus, lassen sich einige überprüfbare Hypothesen zu solchen kulturellen Mustern ableiten (Daly et al. 1997; siehe auch Buss 2012: 241 f.):302 1) EGO-zentrierte Terminologien in Bezug auf Verwandtschaft sind universell, ebenso wie das Artikulieren von genealogischen Bezügen. Dies folgt aus der Relevanz des Verwandtschaftskoeffizienten für die jeweils eigene inklusive Fitness. („Dein Bruder ist ein anderer als mein Bruder“ oder „Meine Eltern sind andere Personen als deine Eltern“.) Zwar wäre im Prinzip auch eine Gesellschaft denkbar, in der Nachkommenschaft nur in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe – etwa: Sachse, Politikwissenschaftler, BVB-Fan – gedacht wird. Allerdings ist das aus evolutionstheoretischer Sicht ganz unplausibel, und der Forschung sind auch keine solchen Gesellschaften bekannt (Daly et al. 1997: 281). Hierin liegt die Begründung für die Relevanz familiärer Bezüge für Sozialkapital. 2) In allen Verwandtschaftssystemen existiert eine klare terminologische und praktische Unterscheidung zwischen Geschlechtern. Während Mutterschaft fälschungssicher ist, können Männchen aus leicht ersichtlichen Gründen keine Gewissheit darüber erlangen, dass es wirklich die eigenen Gene sind, zu deren Fortbestand sie mit väterlicher Fürsorge beitragen. Die adaptiven Probleme unterscheiden sich also in Abhängigkeit vom Geschlecht und dem damit zusammenhängendem „Elterninvestment“ (Trivers 1972, 1985).303 301 Diese Denkfigur entstammt der Evolutionären Erkenntnistheorie, welche die Phylogenese als einen Prozess des Erkennens der (Um-)Welt betrachtet. In dieser Perspektive spiegelt die Form eines Fisches das verkörperte Wissen um die Strömungsdynamik des Wassers wider; und nepotistischer Altruismus ist eben Ausdruck des ganz realen Prozesses impliziten Erkennens der nützlichsten gen-egoistischen Strategien. Vgl. dazu S. 62 ff. 302 Diese Liste ist eine den Zwecken dieser Studie folgende Aufbereitung der ursprünglichen Aufzählung von 13 Punkten (Daly et al. 1997) unter Berücksichtigung der sinnvollen Kondensierung auf 9 Punkte bei Buss (2012). 303 Auf eine Rekonstruktion der Theorie des Elterninvestments und der sexuellen Selektion (Darwin 1871; Trivers 1972, 1985) wird hier zugunsten von noch einschlägigeren Theoriebeständen verzichtet. Eigentlich ist sie aber für eine anthropologische Fundierung der Kategorie „Geschlecht“ bzw. „Gender“ gerade im Zusammenhang mit Sozialkapital unverzicht-

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3) Alle Verwandtschaftssysteme beinhalten eine terminologische und praktische Unterscheidung nach Generationen. Denn Nachkommen werden umso „wertvoller“ für ihre Eltern, je älter sie sind und je mehr Ressourcen in sie investiert wurden. Genau umgekehrt stellt sich dieses Verhältnis für die Nachkommen dar. In dieser asymmetrischen Beziehung sind zudem Eltern-Kind-Konflikte (Trivers 1974) vorprogrammiert.304 4) Verwandtschaftsverhältnisse werden sich stets entlang der Dimension „verwandtschaftliche Nähe“ (‚closeness‘) strukturieren, wobei die Korrelation zwischen Verwandtschaft und Nähe positiv ist. Da der Verwandtschaftsgrad und dessen korrekte Dekodierung relevant für die inklusive Fitness sind, sollte sich die Relevanz solcher Nähe sowohl emotional als auch kulturell niederschlagen. Je höher der Verwandtschaftsgrad ist, desto „näher“ sehen und stehen sich die Individuen. Hierin gründet, was in der Sozialkapitaltheorie wohl „konsumatorische Motivation für Nepotismus“ zu nennen wäre. 5) Der Grad an Kooperation und Solidarität korreliert positiv mit dem Grad der genetischen Verwandtschaft. Die Kooperationsneigung gegenüber engen Verwandten ist höher als gegenüber entfernteren Verwandten, denn schließlich teilen sie – im statistischen Mittel – größere Teile der eigenen Gene. Da der fitnesssteigernde Effekt mit abnehmendem Verwandtschaftskoeffizienten exponentiell schrumpft, ist nepotistischer Altruismus vor allem zwischen nahen Verwandten zu erwarten (vgl. Price 2011: 79) – eine denkbar präzise Vorhersage über das aus Familiennetzwerken aktivierbare Sozialkapital. bar (vgl. Kanazawa und Savage 2004). Das zentrale Argument sei deshalb kurz umrissen: Die unterschiedlichen Kosten und Risiken, welche für die Geschlechter einer sexuell dimorphen Spezies mit der Investition in Nachwuchs verbunden sind, bewirken die Evolution von Geschlechterunterschieden im Verhalten. So hat das viel höhere Elterninvestment des austragenden und aufziehenden Geschlechts in vielen Spezies zu Unterschieden etwa im Partnerwahlverhalten geführt. Und auch die strukturelle Unsicherheit über die eigene Elternschaft (und die damit verbundene Gefahr von „Fehlinvestitionen“) stellt eben einen Selektionsdruck dar, dem nicht in allen Spezies beide Geschlechter gleichermaßen ausgesetzt sind. – Die Theorie des Elterninvestments gelangt auf diese Weise zu klaren Vorhersagen über die Ausgestaltung und Konditionalität von Geschlechterrollen sowie über deren Abhängigkeit von weiteren Faktoren, die von empirischen Evidenzen auf breiter Front gestützt werden. Siehe hierzu auch S. 508 ff. und systematisch einführend Buss (2012: 105 ff.) sowie Voland (2013: 127 ff.). 304 Für weitere einführende Erläuterungen und Literaturhinweise zu Eltern-Kind-Konflikten siehe Workman und Reader (2010: 196 ff.). Voland und Voland (2014) argumentieren, dass Eltern-Kind-Konflikte der Ausgangspunkt der Evolution des Gewissens und damit von moralisch motiviertem Altruismus sind. Grob verdichtet lautet die Hypothese, dass Eltern ihre Kinder über Schuld- und Pflichtgefühle zu „Helfern am Nest“ machen können – und sie somit dazu bringen, ihre direkten Fitnessmaximierungsstrategien gegenüber jenen der Eltern zurückzustellen.

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6) In allen Gesellschaften wird es Menschen geben, die Verwandtschaftsverhältnisse untersuchen und (insbesondere ihre eigenen Verwandten) darüber informieren, in welcher Weise genau sie miteinander verwandt sind. So haben ältere Verwandte Anreize dazu, Verwandtschaftsnetzwerke aufzubauen, in denen sich direkte und indirekte Nachkommen gegenseitig unterstützen. Cousins und Cousinen (r = 0.125) können wenig Nutzen für ihre Gesamtfitness daraus ziehen, sich zueinander prosozial zu verhalten. Ihre gemeinsame Großmutter ist jedoch mit beiden näher verwandt (r = 0.25) und hat somit ein größeres reproduktives Interesse an beider Wohlergehen. Sie wird ihre Verwandtschaft also betonen und auf unterstützendes Verhalten hinwirken wollen. Unschwer sind hierin die individuellen Ursachen für kollektive Phänomene wie Familien­clans zu erkennen. 7) Selbst wenn die Terminologie tatsächliche Verwandtschaftsverhältnisse verschleiert, wissen Menschen, wer ihre „wahren“ – nämlich: nahen – Verwandten sind. So wird der Begriff „Cousin“ gelegentlich für Großcousins verwendet, und im (Ost-)Deutschen lernen Kinder die Worte „Tante“ und „Onkel“ auch als Bezeichnungen für Fremde. Beim Volk der Yanomamö gibt es überhaupt nur ein Wort („abawa“) für „Bruder“ und „Cousin“. Dennoch halten die Yanomamö diese Differenzierung faktisch in handlungsleitender Weise aufrecht (Daly et al. 1997: 285 f.; Chagnon 1981; Chagnon und Bugos 1979). 8) In allen Gesellschaften wird die eigene Position im Verwandtennetzwerk eine Kernkomponente des eigenen Selbstkonzepts sein. Die „Tochter von X“, der „Bruder von Y“ oder ein „Nachkomme von Z“ zu sein, prägt also die Vorstellung davon, wer man selbst ist. 9) In allen Gesellschaften finden Terminologien im Zusammenhang mit Verwandtschaft über ihren originären Bedeutungsbereich hinaus auch metaphorisch Verwendung, um Menschen zu beeinflussen und dadurch Ziele zu erreichen. Die Plausibilität dieser Hypothese ergibt sich aus dem bisher Dargelegten, und es lassen sich hierfür vielerlei anekdotische Evidenzen anführen. „Bruder“ und „Schwester“ nennen sich nicht nur Angehörige von Glaubensgemeinschaften und religiösen Orden, sondern auch Mitglieder von Subkulturen und von sexuellen, ethnischen und politischen Minderheiten. Und auch „Vater“ und „Mutter“ sind gerade in religiösen und spirituellen, aber auch in politischen Kontexten oft gebrauchte Zuschreibungen. Es wird auf das kooperationsfördernde Potential solcher „virtuellen Verwandtschaft“ (Hampton 2010: 92) noch an vielen Stellen zurückzukommen sein. Wie in jedem Lehrbuch der evolutionären Humanwissenschaften nachzulesen (und im nächsten Abschnitt auch nachzuvollziehen) ist, haben viele empirische Studien an Menschen und anderen Tieren immer wieder gezeigt, dass diese ver-

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muteten Zusammenhänge so auch in der Realität zu beobachten sind (siehe exemplarisch Buss 2012; Hampton 2010; Workman und Reader 2010). „Verwandtenbevorzugung hat in der Primatenevolution viele soziale Phänomene und Strategien hervorgebracht. Er ist zwar nicht der einzige, aber möglicherweise der stärkste soziale Kitt, der Primatengesellschaften zusammenhält, und deshalb eine der entscheidenden Prädispositionen in der sozialen Evolution des Menschen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass es zu den kulturübergreifenden Kennzeichen aller menschlichen Lebensgemeinschaften gehört, verwandtschaftliche Beziehungen zu erkennen, sie differenziert zu benennen und zu bewerten und sie im alltäglichen Leben zu berücksichtigen. […] Das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz innerhalb einer Bevölkerungsgruppe wird ganz entscheidend von den verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Mitglieder geprägt.“ (Voland 2013: 83)

Was aber folgt für die Sozialkapitaltheorie aus alledem ? Coleman weist selbst nachdrücklich auf die herausgehobene Rolle von Familien als primordiale soziale Netzwerke hin; und auch Bourdieu erkennt in Familien wichtige Quellen von kulturellem, symbolischem und sozialem Kapital. Die Life Sciences führen vor Augen, wie primordial, wie im Wortsinne „ursprünglich“, die Rolle von Verwandtenunterstützung für die Evolution von Kooperation ist – und was die Gründe dafür sind. Die Logik der Verwandtenselektion begünstigt, dass sich ganz grundlegende Voraussetzungen im Laufe der Evolution genetisch fixieren. Vieles spricht deshalb dafür, nepotistischen Altruismus nicht nur als die Keimzelle anderer Formen von Prosozialität zu begreifen. Verwandtenbevorzugung mag sogar eine der stärksten Triebkräfte hinter der Evolution von (Pro-)Sozialität und der Entstehung auch menschlicher sozialer Strukturen sein (vgl. auch Rusch und Voland 2016).305 Nepotistischer Altruismus braucht aber kein menschliches Eigeninteresse, keine bewusste Intentionalität oder Rationalität. Die Theorie der Verwandtenselektion liefert ein erstes robustes Argument dafür, dass sich Verhaltensmerkmale evolutionär durchsetzen können, die Handlungsentscheidungen begünstigen, welche 305 Natürlich reicht die Theorie des nepotistischen Altruismus nicht aus, um die umfassende Ultrasozialität unserer Spezies samt all der aus ihr folgenden kulturellen Hervorbringungen zu erklären. Schließlich werden christliche Orden, Sportmannschaften, Firmen und politische Parteien nicht von der Verwandtschaft ihrer Mitglieder zusammengehalten. Offenkundig kann es – wie Bourdieu bemerkt – mithilfe von Symbolisierungen und Institutionalisierungen gelingen, Sozialorganisationen auch nachhaltig zu stabilisieren, wenn ihre Mitglieder nicht verwandt sind. Für Durkheim (1912/2007) war der totemistische Clankult die elementarste Form menschlicher Sozialität – und ihn ihm vereinigt sich der Rekurs auf gemeinsame Abstammung mit ritualisierter und symbolisierender Institutionalität.

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aus der Perspektive des methodologischen Individualismus nachgerade selbstschädigend erscheinen. Dennoch lassen sich diese Einsichten in einem sparsamen Verhaltensmodell abbilden, das darüber hinaus noch dem Rational-​Choice-Postu­ lat nicht nur im Hinblick auf seine theoretische Fundierung um Längen überlegen ist, sondern – wie im Folgenden deutlich werden wird – auch empirischen Tests auf breiter Front standhält. Über die Einsichten in die Rolle von Verwandtschaft für Sozialkapital hinaus lehrt die Theorie der inklusiven Fitness also vor allem eines: In ultimater Analyse der evolutionären Entstehungsbedingungen entpuppt sich manches Verhalten doch als (gen-)egoistisch, das auf der proximaten Ebene unmittelbarer sozialer Ursachengefüge als altruistisch erscheint (Workman und Reader 2010: 186).

4.2.2 Empirische Befunde: Erkennung und Bevorzugung von Verwandten Eine Fülle von belastbaren empirischen Befunden aus dem Tierreich bekräftigt die Verwandtenselektionstheorie.306 Sie vorzustellen, lehrt aber allein noch wenig über den Zusammenhang von Verwandtschaftsverhältnissen und Sozialkapital. Um jenes besser verstehen zu können, ist deshalb darüber hinaus zu betrachten, welche konkreten konditionalen Strategien von Menschen verfolgt und auf Basis welcher psychologischen Prozessketten sie realisiert werden. Wie sich zeigen wird, liegt die Neigung zur Verwandtenbevorzugung in der Natur des Menschen; und sie gehört zu den ursprünglichsten und sozialtheoretisch höchst wichtigen Formen sozialer Zielerreichungsressourcen. Solches nepotistisches Sozialkapital unterscheidet sich durch seine spezifische kausale Mechanik von anderen Formen des Sozialkapitals. So lassen sich nicht nur evolvierte Prädispositionen für Verwandtenbevorteilung nachweisen. Menschen verfügen zudem über unbewusste Mechanismen der Verwandtenerkennung – und damit über die zentrale notwendige Bedingung für nepotistischen Altruismus. Mehr noch: Nepotistischer Altruismus kann auch dadurch ausgelöst werden, dass Menschen sich nur als verwandt wahrnehmen. Die von Sozialkapitaltheoretikern formulierte Intuition über die Relevanz von Verwandtschaftsbeziehungen und deren kultureller Überformung lässt sich auf Basis dieser Erkenntnisse zu einem robusten theoretischen Argument fortentwickeln.

306 Siehe ausführlich Buss (2012: 242 ff.), vgl. aber auch Workman & Reader (2010: 187 ff.). Weitere Verweise zu empirischen Studien finden sich bei Voland (2013: 87 ff.). Überall dort werden auch methodische Schwierigkeiten diskutiert.

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Anthropologie: Die Natur des Sozialkapitals

Zunächst ist es nützlich, sich klarzumachen, dass Verwandtenbevorteilung ein in der belebten Natur weit verbreitetes Phänomen ist. So kooperieren etwa Meersenfpflanzen (Dudley und File 2007) und Schleimpilze (Mehdiabadi et al. 2006) mit höherer Wahrscheinlichkeit miteinander (bzw. konkurrieren weniger heftig um Ressourcen), wenn sie verwandt sind. Bei einigen Vogelarten ist zu beobachten, wie verwandte Tiere kooperativ um Sexualpartner werben, obwohl dabei einige der Kooperierenden leer ausgehen (Krakauer 2005). Auch kooperative Brutpflege mithilfe von „Helfern am Nest“, die selbst auf Nachwuchs verzichten und bei der Aufzucht verwandter Jungtiere helfen, wird nicht nur unter Vögeln immer wieder beobachtet (Reyer 1990; einführend dazu Voland 2013: 28 ff.). Auch bei Säugetieren ist nepotistischer Altruismus nachgewiesen worden. So konnten etwa die Alarmrufe von Zieseln zur Warnung von Artgenossen vor Fressfeinden auf die Logik der inklusiven Fitness zurückgeführt werden (Sherman 1977, 1981). Rational im (neo-)klassischen Sinne ist dieses Verhalten nicht, denn die Tiere bringen sich mit den Rufen in überdurchschnittliche Gefahr, selbst von Angreifern getötet zu werden. Männliche Ziesel, die nach Erlangen der Geschlechtsreife die Gruppe verlassen und sich nichtverwandten Artgenossen anschließen, stoßen Alarmrufe zudem seltener aus als die bei den Verwandten verbleibenden Weibchen. Für die Theorie der inklusiven Fitness spricht ferner, dass die Tiere nichtverwandten Artgenossen die Unterstützung bei Revierkämpfen eher verweigern (Holmes und Sherman 1982; vgl. auch Buss 2012: 243). Auch bei verschiedenen Primatenarten konnte Verwandtenunterstützung in Form von Brutpflege, Nahrungstoleranz, gegenseitiger Fellpflege sowie Unterstützung in Rangstreitigkeiten ebenso beobachtet werden wie die Unterdrückung aggressiver Konkurrenz unter Verwandten (Silk 2006). Dass es Bevorteilung von (engen) Verwandten zur Maximierung der inklusiven Fitness im Tierreich gibt, gilt unter Evolutionsbiologen als unstrittig.307 Solchem Nepotismus muss logischerweise eine Verwandtenerkennung vorausgehen, die im Folgenden nur für den Fall Homo sapiens genauer betrachtet wird. Dass im Tierreich Verwandte anhand von Geruch, Ähnlichkeit, Vertrautheit und anderen Merkmalen erkannt werden, ist jedoch umfassend belegt (vgl. Grafen 1990b; Hepper 2005; Holmes und Sherman 1983; Sherman et al. 1997). Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Verwandtschaft offenkundig auch in anderen Spezies ein Quell von Ressourcen ist, die dem Erreichen von Zielen, we307 Diskutiert wird jedoch über die Reichweite der Verwandtenselektionstheorie und darüber, was der tatsächlich zugrundeliegende Mechanismus ist (van Veelen 2007, 2009). So wird etwa argumentiert, dass Verwandtenselektion in Wirklichkeit nicht ein streng individualselektionistischer Mechanismus, sondern ein Spezialfall für Gruppenselektion im Rahmen von Multilevelselektion ist (Wilson 2009, 2012). Siehe dazu auch S. 307 f.

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nigstens jedenfalls von Zwecken dienen. An dieser Stelle wird praktisch klar, in welchem Zusammenhang proximate und ultimate Ursachen stehen: In ultimater Hinsicht geht es um die Maximierung inklusiver Fitness – nicht etwa als individuell verfolgtes Ziel, sondern als (Selbst-)Zweck egoistischer Gene. Wer einfach behauptet, dass Familiennetzwerke soziales Kapital darstellen, weil diese starken Bande Individuen bei der Erreichung ihrer Ziele nützlich sind, argumentiert nur proximat-funktionalistisch und bleibt handlungstheoretisch spekulativ und deskriptiv. Wer die Theorie der inklusiven Fitness hinzuzieht, kann auch erklären, warum Familiennetzwerke eine Ressource für Individuen darstellen: Der ultimate Zweck der genetischen Fitnessmaximierung findet seinen Niederschlag in proximaten Mitteln, nämlich in nepotistischen Motivationen, die das ausgelöste Verhalten subjektiv nachgerade als ein „Ziel an sich“ erscheinen lassen. Für die Adressaten ist genau diese Kooperationsneigung eine Ressource: Sozialkapital. Wie aber realisiert und manifestiert sich dieses kooperative Potential bei Menschen ? Welches sind die kognitiven Grundlagen für die Tatsache, dass ALTER bereit ist, sich dem mit ihm Verwandten EGO gegenüber prosozial bzw. kooperativ zu verhalten ? Wie schon ausgeführt wurde, braucht es dazu zwei Komponenten: Verwandtenerkennung und Verwandtenbevorzugung. Verwandtenerkennung ist für zielgerichteten Nepotismus unerlässlich, weil Verwandtschaftsverhältnisse nicht selbstevident sind. Schon gar nicht „wissen“ Gene, ob sich Kopien ihrer selbst in einem anderen Körper befinden. Um Fehlinvestitionen zu vermeiden, braucht es also Detektionsmechanismen, mit deren Hilfe von direkt verfügbaren Informationen auf mögliche Verwandtschaft geschlossen wird.308 Verwandtenerkennung geschieht bei Menschen auf vier Arten (Buss 2012: 244 f.): Erstens scheint das (Wieder-)Erkennen von Verwandtschaft bei Menschen auf psychischer Vertrautheit, also z. B. auf einschlägigen Erfahrungen in der Kindheit zu basieren (Lieberman et al. 2007). Zweitens wird Verwandtschaft offenbar am Geruch, also über die Prüfung genetischer Marker (wieder-)erkannt. Mütter, Väter, Großeltern, Tanten und Onkel erkennen ein von einem neugeborenen Verwandten getragenes Kleidungsstück am Geruch, wobei Frauen besser abschneiden als Männer (Porter et al. 1986). Neugeborene, die gestillt werden, bevorzugen den Geruch ihrer Mutter, nicht aber den ihres Vaters (Cernoch und Porter 1985). Kinder können zudem ihre Vollgeschwister am Geruch erkennen (Weisfeld et al. 2003). Es konnte – drittens – nachgewiesen werden, dass Menschen 308 Zur Verwandtenerkennung in der belebten Natur siehe einführend Voland (2013: 190 f.) und Workman & Reader (2010: 191 f.), vertiefend ferner Hepper (2005), Bressan und Kramer (2015) sowie Mateo (2015).

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kulturübergreifend eine universelle Grammatik benutzen, um Verwandtschaftssysteme gedanklich zu fassen und sprachlich zu artikulieren (Doug Jones 2003a, 2003b). Viertens dient optische Ähnlichkeit (etwa der Gesichtszüge) Menschen als Hinweis auf Verwandtschaft (Bressan und Zucchi 2009; Park et al. 2008; Platek und Kemp 2009). Selbst Verwandtschaft von Dritten wird anhand von Ähnlichkeiten ihrer Gesichter überzufällig häufig erkannt (Alvergne et al. 2010) – was Sozialforscher mit gesundem Menschenverstand und Beobachtungsgabe kaum überraschen dürfte. Kurzum: Menschen erkennen Verwandtschaft (Bressan und Kramer 2015; Mateo 2015). Diese psychologischen Mechanismen zur Verwandtenerkennung (‚kin detection mechanisms‘) sind aber anfällig für systematische Fehler: Sie werden durch Kontextfaktoren und situative Bedingungen gestört und neigen dazu, sogenannte ‚false positives‘ zu produzieren, Personen also fälschlicherweise als Verwandte zu klassifizieren (Park et al. 2008). Dieses „Rauchmelderprinzip“ ist unter den Bedingungen von imperfekter und verzerrter Information (‚noise‘) immer dann eine gewinnbringende Strategie, wenn der Schaden eines ausgebliebenen „Alarms“ größer ist als ein Fehlalarm.309 Nichtverwandten auf Basis einer fehlerhaften Verwandtenerkennung zu unterstützen, ist evolutionär weniger nachteilig, als solche Hilfe einem tatsächlichen Verwandten zu verweigern (vgl. Hampton 2010: 90 f.). Deswegen werden sich evolutionär eher übersensible Verwandtschaftserkennungs­ mechanismen bewähren. Aus dieser Übersensibilität entstehen Spielräume für die kulturell vermittelte Instrumentalisierung von Verwandtschaftskonzepten. Es kann nämlich gezielt versucht werden, solches Sozialkapital auch in anderen sozialen Beziehungen zu mobilisieren, das eigentlich auf Dispositionen zur Verwandtenbevorzugung basiert. Genau das geschieht, wenn Rekurse auf enge Verwandtschaftsverhältnisse genutzt werden, um Kooperation in sozialen Gefügen dauerhaft zu stabilisieren – etwa unter „Waffenbrüdern“ und „Ordensschwestern“ sowie in „Vaterländern“. Warum das so ist, erschließt sich nur in ultimater Perspektive. Die vorbewussten Heuristiken der Verwandtenerkennung arbeiten nicht rational im sozialwissenschaftlichen Sinne des Wortes. Ihre Funktionslogik, ihre „adaptive Rationalität“ (Gigerenzer 2000; Haselton et al. 2009; Kappelhoff 2004), formte sich in den Jahrmillionen unserer Stammesgeschichte und erwies sich als fitnessmaximierend, lange bevor Menschen in der Lage waren, Verwandtschaftsverhältnisse mittels sozialer Konstruktionen vorzublenden. Es wird zudem später zu betrachten sein, ob 309 Dahinter steht die ‚error management theory‘ (Green und Swets 1966), die beispielsweise auch die evolutionären Hintergründe die männliche Neigung zu verstehen hilft, weibliches sexuelles Interesse eher zu überschätzen (‚sexual overperception bias‘) (Haselton und Buss 2000; Haselton 2003; Haselton und Nettle 2006).

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solche „virtuellen Verwandtschaften“ nicht ihrerseits einen adaptiven Wert für so zu einer kooperativen Gemeinschaft gewordene Individuen darstellt(en).310 Verwandtenbevorzugung wiederum basiert genau auf solchen Mechanismen der Verwandtenerkennung, wie viele empirische Befunde nahelegen. Abermals sei nur eine Auswahl vorgestellt, wie sie auch in Lehrbüchern genutzt wird, um dieses Argument zu belegen.311 In einer klassischen Studie mit 300 Frauen in Los Angeles wurden insgesamt 2520 Fälle empfangener und 2651 Fälle geleisteter Hilfe per Fragebogen erhoben (Essock-Vitale und McGuire 1985). Unter den Fällen, die sich zwischen Verwandten ereigneten (etwa ein Drittel der Stichprobe), war der Verwandtschaftskoeffizient ein klarer Prädiktor für die Hilfsbereitschaft: Nahen Verwandten wurde häufiger geholfen. Diese Ergebnisse konnten in anderen Kulturen, mit Frauen und Männern sowie in anderen methodischen Designs bekräftigt werden, so etwa in Studien mit über zehntausend Südafrikanern (Anderson 2005) und in einem agrarisch lebenden Stamm in Tansania (Hadley 2004).312 Das menschliche Phänomen der Adoption stellt nur scheinbar ein Problem für die Theorie des nepotistischen Altruismus dar (Voland 2013: 193). Zwar zeigen Adoptionen, dass Menschen auch in nicht verwandte Kinder Ressourcen investieren. Schaut man allerdings genauer hin, offenbart sich Überraschendes: Etwa 60 Prozent der Adoptionen in elf ozeanischen Kulturen gingen auf das Konto von Tanten, Onkeln, Großeltern und Cousins (r = 0,25), also von nahen Verwandten (Silk 1980, 1990). Auch diese Form prosozialen Verhaltens ist folglich zu einem nicht unerheblichen Teil als Erscheinungsform der genetischen Fitnessmaximierung durch nepotistischen Altruismus zu deuten (vgl. auch Alcock 2003). Ferner sind Adoptiveltern selbst üblicherweise unfreiwillig kinderlos; solche Adoptionen bringen das Argument der Verwandtenbevorzugung also ebenfalls nicht in Bedrängnis.313 Verwandtenbevorzugung wird aber nicht nur vom „erkannten“ Grad der Verwandtschaft beeinflusst. In einer weiteren klassischen Studie wurden Befragte mit hypothetischen Szenarien konfrontiert, in denen sie entscheiden sollten, ob sie Verwandten und anderen Menschen einerseits im Alltag und andererseits in lebensbedrohlichen Situationen helfen würden (Burnstein et al. 1994). Unter in viel310 Siehe zum Phänomen der virtuellen Verwandtschaft auch S. 235, S. 419 ff. und S. 435 ff. 311 Für weiterführende Literaturhinweisen siehe die Fußnote 308. 312 Auch in kulturellen Vererbungssystemen (Judge 1995; Smith et al. 1987; Webster et al. 2008) und im Hilfsverhalten von Großeltern (Coall und Hertwig 2010, 2011; Coall et al. 2014; Euler und Weitzel 1996) schlägt sich das Muster der Bevorteilung naher Verwandter nieder. Siehe dazu prägnant einführend und mit weiteren Verweisen in die empirische Literatur Buss (2012: 249 ff.). 313 Für eine weiterführende Diskussion auch kritischer Argumente vgl. Workman und Reader (2010: 188 ff.).

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fältiger Weise manipulierten Bedingungen gaben die Probanden an, wem sie einen kleineren Gefallen tun bzw. wen sie aus einem brennenden Haus retten würden. Das Resümee des Autors offenbart eine spezifische Konditionalität des Nepotismus, eine Form von Sozialkapital also, deren Funktionslogik sich mit evolutionstheoretischem Denkwerkzeug nach derzeitigem Kenntnisstand konkurrenzlos gut erklären und verstehen lässt: „Hence, inclusive fitness predicts that under life-or-death conditions, if a choice has to be made, people pay a lot of attention to relatedness so as to benefit close kin ahead of distant kin; in addition, people help the young over the old (when the environment is benign), the healthy over the sick, the wealthy over the poor (when potential recipients are distant kin), and the premenopausal over the postmenopausal female, whereas under everyday conditions, conscience and politesse encourage people to help either the young or the old over those of intermediate age, the sick over the healthy, the poor over the wealthy, and females over males. The studies presented in this article support these ideas.“ (Burnstein et al. 1994: 785)

Diese Ergebnisse konnten in anderen Studien reproduziert werden, und einige von ihnen lieferten noch einen weiteren Befund (Korchmaros und Kenny 2001, 2006; Kruger 2003; Neyer und Lang 2003): Verwandtschaftsgrad und Koopera­ tionsneigung korrelieren auch mit Selbstauskünften über emotionale Nähe. Genetische Verwandtschaft ist also ein wichtiger Prädiktor für empfundene Nähe in sozialen Beziehungen. Die hohe Korrelation von 0.5 verschwindet auch nicht, wenn auf Variablen wie räumliche Nähe und Kontaktfrequenz kontrolliert wird. Das Empfinden von emotionaler Nähe ist also wohl einer der konditional verhaltenssteuernden psychologischen Mechanismen, die dazu führen, dass Verwandte untereinander – ceteris paribus – zu prosozialem Verhalten neigen (Buss 2012: 248). Diese scheinbare Trivialität zu betonen, ist deshalb so wichtig, weil an ihr etwas Entscheidendes an den kausalen Mechanismen hinter Sozialkapital deutlich wird: Weder kalkulieren Menschen die Nutzenfunktionen ihrer Handlungsentscheidungen nur in einer behavioristisch-ökonomistischen Art und Weise, noch verrechnen sie Verwandtschaftskoeffizienten oder Gesamtfitnessbilanzen. Vielmehr arbeiten evolvierte psychologische Mechanismen so, als ob sie genetische Fitnessmaximierung anstreben würden (Voland 2013: 15). Zwar konnten jene sich in Populationen ausbreiten und dergestalt als Merkmal der Natur des Menschen evolutionär durchsetzen, weil sie diesen fitnessmaximierenden Effekt ultimat tatsächlich hatten. Die proximate kausale Mechanik solcher Entscheidungen basiert aber auf einem sich weitgehend unterbewusst ereignenden Zusammenspiel von Emotionen, Intuitionen und selektiver Wahrnehmung (hier: von Hinweisen auf Verwandtschaftsverhältnisse).

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Blut ist also wirklich dicker als Wasser. Die evolutionäre Erklärung dieser vermeintlichen Binsenweisheit hat sich in einem halben Jahrhundert der Forschung in vielen Labor- und Feldstudien an Menschen und anderen Tieren als robust erwiesen. Verwandtschaft ist ein wichtiger Prädiktor für altruistisches Verhalten nicht nur in weiten Teilen des restlichen Tierreiches, sondern auch bei Menschen. Diese Kooperationsneigung wird über flexible psychologische Mechanismen realisiert. Es sind konditionale Strategien am Werk, die sensibel auf angebbare Reize und Umwelteinflüsse reagieren (Verwandtschaftsgrad, Ressourcenknappheit, Verlustrisiken usw.). Die in Hamiltons Theorie der Verwandtenselektion beschriebene Funktionslogik dieser Konditionalität ist damit hinsichtlich ihrer grundlegenden Einsichten und Implikationen für die Sozialkapitaltheorie umrissen, ihr Potential für deren weitere Präzisierung aber längst nicht ausgeschöpft. So hilft sie auch, die konfliktiven Aspekte von Verwandtschaftskonstellationen analytisch zu fassen (Parker et al. 2002): Geschwister konkurrieren um elterliche Zuwendung und Nahrung; Eltern konkurrieren auch mit ihren Kindern um Ressourcen; und auch Eltern tragen untereinander Konflikte um das Verhältnis des elterlichen Investments und seiner Allokation in den Nachwuchs aus (vgl. Buss 2012: 260 ff.). Spätestens an dieser Stelle ist endgültig klar, dass die Evolutionstheorie kein „Weichzeichner“ gesellschaftlicher Verhältnisse ist, mit der traditionelle Familienstrukturen als etwas Gutes dargestellt werden sollen. Die evolutionäre Perspektive macht schlicht verständlich, warum Familien der zentrale gesellschaftliche Nukleus, die vorrangige „primordiale“ Vergemeinschaftungsform im Colemanschen Sinne sind. Weil die Förderung von Nachkommen und anderen engen Verwandten im genetischen Eigeninteresse von Individuen liegt, verfügen jene über nepotistisches Sozialkapital, die von ihnen als solche erkannt werden.

4.2.3 Bilanz: Nepotistisches Sozialkapital und virtuelle Verwandtschaft Für die Sozialkapitaltheorie hat dieser erste und grundlegende Baustein einer Evolutionstheorie der Kooperation weitreichende Konsequenzen. Er liefert die theoretische Mikrofundierung für die Konzeptualisierung eines Typs von Sozialkapital, der zwar schon von Bourdieu und Coleman als wichtig erkannt, bisher aber noch nicht vollständig verstanden worden ist. Nepotistisches Sozialkapital ist die Gesamtheit aller Ressourcen, die von Individuen aufgrund von (wahrgenommener) Verwandtschaft aus sozialen Netzwerken mobilisiert werden können. Diese Art des Sozialkapitals basiert auf psychologischen Mechanismen der Verwandtenerkennung und Verwandtenbevorzugung,

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die Ergebnisse eines evolutionären Anpassungsprozesses sind. Dieser Prozess bevorteilte in der Stammesgeschichte jene Gene, die zur Maximierung der inklusiven Fitness beitrugen (also: zur Erhöhung der relativen Häufigkeit von Kopien der eigenen Gene in der Population). Mithilfe dieses schlüssigen und sparsamen evolutionstheoretischen Erklärungsmusters können Aussagen über konkrete Prozessketten und Kausalmechanismen gemacht werden. Die Menge von nepotistischem Sozialkapital, die einer gegebenen Person zur Verfügung steht, hängt einesteils von der Anzahl genetisch Verwandter ab, andernteils vom Verwandtschaftskoeffizienten r, also vom Grad der genetischen Verwandtschaft: je mehr nahe Verwandte, desto mehr Investment ist zu erwarten. In der Realität überlagert sich nepotistisches Sozialkapital in konkreten sozialen Beziehungen freilich mit anderen, im Folgenden zu betrachtenden sozialen Kapitalformen. Die Theorie der Verwandtenselektion erlaubt es aber vorauszusagen, dass der Nutzen, den EGO aus bestimmten verwandten Personen (bzw. den von ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen) ziehen kann, auch eine Funktion des Verwandtschaftsgrades ist. Und auf der Aggregatebene ist zu erwarten, dass die Kooperationsneigung in familiären Netzwerken insgesamt höher ist als in Netzwerken von Personen, die nicht genetisch verwandt sind. Die Theorie macht ferner Aussagen über den Einfluss proximater Faktoren, also unmittelbarer Verursachungszusammenhänge. Ist EGO im reproduktionsfähigen Alter und in gutem Gesundheitszustand, erhöht sich die auf ihn gerichtete verwandtschaftliche Kooperationsneigung; ferner fließt nepotistisches So­ zialkapital eher „abwärts“, also von Eltern auf Nachkommen. Ein moderierender Faktor ist der (wahrgenommene) Grad der Krisenhaftigkeit der konkreten Situation: Familien sind nicht nur die evolutionäre Keimzelle von Prosozialität, sie sind offenbar auch ihre letzte Bastion – ganz so wie man das in zerfallenden Staaten beobachten kann, die nach dem Versagen institutioneller Strukturen wieder in familiäre Clanstrukturen zurückfallen (vgl. Bochmann 2018). Familiäre Ko­ operationsbereitschaft wird zudem von vielerlei Konflikten überlagert: ElternKind-Konflikte, Geschwisterkonflikte, Konflikte um differentielles elterliches Investment. Eine solche evolutionär-anthropologisch fundierte Konzeptualisierung offen­ bart die Prozesshaftigkeit von Sozialkapital. Es ist nepotistisches Sozialkapital kein „Ding“, das sich in Vernetzungsstrukturen niederschlägt oder „anlagert“.314 Vielmehr handelt es sich um einen psychosozialen Mechanismus, eine durch angebbare Faktoren auslösbare Kette von ineinandergreifenden Prozessen, in der 314 Die in kritischer Absicht paraphrasierte Position basiert nämlich auf einer Hypostasierung, auf einem „Irrtum der unangebrachten Konkretheit“ von sozialen Tatsachen. Siehe dazu S. 205.

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psychologische Mechanismen auf Umweltinformationen reagieren (hier: Verwandtenerkennung) und – moderiert von anderen Faktoren – zuverlässig entsprechendes Verhalten generieren (nämlich: Verwandtenbevorzugung). Diese Betrachtungsweise geht über das vorherrschende proximat-funktionalistische Verständnis von Sozialkapital weit hinaus. Sie erschließt das Phänomen nicht von seinen Ergebnissen her, sondern von seinen Ursachen. Ferner wird das Verhältnis von proximaten und ultimaten Faktoren geklärt: Die Auswirkungen unmittelbarer Umstände (Verwandtschaftsgrad, kulturelle „Frames“, situative Bedingungen, …) sind bestimmt durch die Funktionslogik konditionaler Strategie der Fitnessmaximierung („Kooperiere, wenn …“). Deren genaue Ausgestaltung ist wiederum eine Folge von Anpassungsproblemen und Selektionsfaktoren, welche mithilfe der Theorie der Verwandtenselektion rekonstruiert und überprüft werden können. Nepotistisches Sozialkapital so zu konzeptualisieren, eröffnet neue Perspektiven auf ungelöste Probleme der Sozialkapitaltheorie. So scheinen die Differenzen zwischen Coleman und Bourdieu einerseits sowie Putnam andererseits bezüglich der Relevanz von familiären Netzwerken nun entscheidbar zu sein. Putnam meint, dass in modernen Gesellschaften erodierende familiäre Netzwerke durch funktional äquivalente gesellschaftliche Strukturen kompensiert werden können. Dem kann nicht ohne Einschränkungen zustimmen, wer sich vergegenwärtigt, dass das evolutionäre Erfolgsprinzip des Nepotismus darin liegt, zumindest zu weit überwiegenden Teilen tatsächlich Verwandten zuteil zu werden.315 Auf diesem Prinzip basierendes Sozialkapital ist genau aus diesem Grund ganz grundlegend an Verwandtenerkennung geknüpft. Vielmehr hat Coleman Recht, wenn er Familien einen besonderen qualitativen Status zuschreibt. Bourdieu ist ohnehin zuzustimmen: Familien sind exklusive Netzwerke, welche auf die Sicherung des eigenen Vorteils eben dieser Gruppen ausgelegt sind. Weil die Mechanismen der Verwandtenerkennung jedoch übersensibel wie Rauchmelder ausgestaltet sind, lässt sich auch in anderen sozialen Beziehungsnetzwerken pseudo-nepotistisches Sozialkapital induzieren. Hier liegt gleichsam eine in die menschliche Natur eingebaute Hintertür, durch welche sich auch unter Nichtverwandten Zugang zu den positiven Effekten nepotistischer Verhaltensdispositionen verschafft werden kann. Weil Menschen Sprache und andere kulturelle Artefakte zum Anzeigen und Feststellen von Verwandtschaft benutzen, kann unsere Spezies mithilfe von symbolischen Repräsentationen und kulturellen Mar-

315 Andernfalls würde er nämlich den Zweck der Maximierung inklusiver Fitness nicht erfüllen können und sich deshalb nicht gegenüber individuell egoistischen Fitnessmaximierungsstrategien durchsetzen.

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kern virtuelle Verwandtschaften konstruieren.316 So lässt sich die evolvierte Veranlagung der Verwandtenbevorteilung etwa auf „Vaterländer“, „Bruderschaften“ oder eine „Familie der Gläubigen“ hin ausrichten – kurzum: auf sozial konstruierte Sinn- und Ordnungszusammenhänge. Die von Putnam postulierte funktionale Äquivalenz sozialer Strukturen in modernen Gesellschaften müsste demnach darin bestehen, auf die Mechanismen der Verwandtenerkennung so einzuwirken, dass sie ‚false positives‘ generieren. Die Hymne der EU („Alle Menschen werden Brüder“) bietet solche Signale aber ebenso wie die Redeweise vom „heiligen Vater“ oder vom „großen Bruder“. Wie viel Aufwand für die nachhaltige Aufrechterhaltung solcher Wirklichkeitskonstruktionen betrieben werden muss und ob der dafür einzuschlagende Weg wirklich begrüßenswert ist, lässt sich vor diesem Hintergrund zweifellos differenzierter diskutieren als zuvor. Was also bedeutet all dies mit Blick auf die normativen und epistemologischen Verzerrungen der Sozialkapitaltheorie ?317 Ist nepotistisches Sozialkapital „gut“ oder hat es im Kontext moderner Gesellschaften eher „dunkle Seiten“ ? Zunächst einmal: Nepotistisches Sozialkapital ist exklusiv. Die prosozialen Potentiale richten sich stets auf einen angebbaren und exklusiven Personenkreis von als verwandt Erkannten – auch im Falle von virtueller Verwandtschaft. Sie lassen sich nicht beliebig „brückenbildend“ streuen, sondern wirken „bindend“ zwischen (engen) Verwandten bzw. sich als verwandt und mithin sozial nahestehend Empfindenden. Akteurszentriert betrachtet ist das Vorhandensein von nepotistischem Sozialkapital fraglos positiv für jene, welchen es als Ressource zur Verfügung steht. Ein demokratietheoretisch begrüßenswertes Instrument der Herstellung gesellschaftlicher Kohäsion ist nepotistisches Sozialkapital hingegen wohl nicht. Die zu seiner Aktivierung zu konstruierenden Sinnzusammenhänge müssen auf Geschlossenheit und genealogische Hierarchisierung abzielen. Mit praktiziertem Pluralismus ist das nur schwer vereinbar. Es verwundert daher nicht, dass insbesondere hierarchische und undemokratische soziale Strukturen sich zu allen Zeiten politisch folgenreich des pseudo-nepotistischen Sozialkapitals bedient haben: Militärs, Religionsgemeinschaften, autoritäre und nationalistische Bewegungen. Nepotistische Korruption und pseudo-familial organisierte Kriminalität unterminieren zudem nicht nur demokratische Gemeinwesen, sondern staatliche Strukturen überhaupt. Wenngleich gerade pseudo-nepotistisches Sozialkapital also in Demokratien wenig „nützt“, ist es politiktheoretisch höchst wichtig, seine Funktionsweise zu kennen und zu verstehen.

316 Zu kulturellen Markern siehe ausführlich S. 367 ff. 317 Vgl. hierzu S. 194 ff.

La familia es todo: Nepotistischer Altruismus 237

Muss Sozialkapital ferner weiterhin ausgehend von seinen Folgen bestimmt werden ? Der hier aufgezeigte Ausweg aus dem proximaten Funktionalismus der Sozialkapitalkonzeption macht es möglich, begründete Vermutungen über sein Vorhandensein aufzustellen, schon bevor eine ex-post-Bewertung seines Out­ comes möglich ist. Weil die Theorie der Verwandtenselektion konkrete Mechanismen und Ausgangsbedingungen benennt und erklärt, wird es möglich, Sozialkapital zu beobachten, ohne idiosynkratische Prämissen über seine Konsequenzen aufstellen zu müssen. So hilft evolutionär-anthropologische Fundierung also auch bei der Korrektur dieser zentralen epistemologischen Schwachstelle der Sozialkapitaltheorie. Eine noch tieferliegende Erkenntnis betrifft die zugrundeliegende adaptive Rationalität. Da auch Spezies mit viel primitiveren Nervensystemen Verwandtenbevorzugung praktizieren, ist menschliches Bewusstsein dafür offenkundig keine notwendige Bedingung. Die beteiligten psychologischen Mechanismen arbeiten – mindestens zum großen Teil – unterhalb der Ebene bewusster Rationalitätserwägungen. Trotzdem ist das so generierte Verhalten regelhaft. Die dahinterliegende Funktionslogik ist jedoch nicht proximat-rational im Sinne des behavioristischen Ökonomismus, sondern eben nach den Maßstäben der Evolution adaptiv und mithin in ultimater Hinsicht funktional.318 Schon die Analyse dieses ersten Erklärungsansatzes für menschliche Prosozialität macht deutlich: Die evolutionäre Anthropologie liefert tatsächlich eine Metatheorie für sozialwissenschaftliche Erklärungen. Sie erklärt in theoriehaltiger und empirisch robuster Weise jene flexiblen menschlichen Verhaltensdispositionen, jene konditionalen Strategien, die bisher meist in psychologischen Residualkategorien wie jener der „konsumatorischen Motivationen“ verborgen und stets an behavioristische Vorstellungen von Norminternalisierung geknüpft bleiben. Warum Menschen unter bestimmten Bedingungen innere Befriedigung beim Ausführen von Handlungen verspüren, warum ihnen manches in ganz irrationaler Weise wertvoll erscheint, lässt sich in ultimater Perspektive offenkundig am besten verstehen. Nepotistisches Sozialkapital entspringt jedenfalls keinem schlicht ökonomischen Interesse an egoistischer Nutzenmaximierung und ist auch nicht einfach etwas nur sozial Konstruiertes. Es wurzelt in der evolvierten Natur des Menschen – ebenso wie die anderen Formen sozialen Kapitals.

318 Siehe dazu die einschlägigen Befunde dieser Studie systematisierend S. 476 ff.

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4.3 Quid pro quo: Reziproker Altruismus und sozialer Austausch Menschliche Sozialität erschöpft sich nicht in Verwandtenbevorteilung. Täglich ereignen sich prosoziale Handlungen zwischen Menschen, die sich nicht als verwandt ansehen. Ein großer Teil solcher sozialen Interaktionen zwischen Nichtverwandten lässt sich auf den Begriff der Gegenseitigkeit bringen. Es wundert deshalb nicht, dass solche Reziprozität im Zentrum zumindest des netzwerktheoretischen Zweigs der Sozialkapitaltheorie steht. Gegenseitigkeit in Dyaden ist nicht nur für Coleman nachgerade der Nukleus von relationalem Sozialkapital: Weil Menschen sich in einem Prozess wiederholter Interaktionen des Gebens und Nehmens immer wieder in implizite Verpflichtungsverhältnisse zueinander bringen, entstehen „uneingelöste Reziprozitätsschulden“: Sozialkapital. Was aber sind die anthropologischen Grundlagen dieses Funktionszusammenhangs ? Sozialwissenschaftler, Evolutionspsychologen und (Sozio-)Biologen sind sich im Großen und Ganzen darüber einig, dass es Reziprozität – also: die Kooperation zwischen zwei oder mehr Individuen zum Zwecke des gegenseitigen Vorteils – gibt (Esser 1999a: 200; Mayr 2005: 315; Stegbauer 2013: 18). Viel weniger Einigkeit besteht darüber, warum es diese Form der kooperativen Gegenseitigkeit gibt. In den Sozialwissenschaften wird Reziprozität regelmäßig durch Rückgriffe auf kulturanthropologische und ethnologische Klassiker (z. B. Malinowski, Mauss) sowie die soziologische Tauschtheorie (v. a. Homans, Blau) begründet und damit zwar in der Regel als anthropologische Konstante behandelt, als solche jedoch nicht auf ihre ultimaten Ursachen hin befragt (vgl. Adloff und Mau 2005; Stegbauer 2013).319 Gerade dies wiederum wird in den Life Sciences aus der Perspektive der Evolutionstheorie getan. Mithilfe der Theorie des reziproken Altruismus wird zu erklären versucht, warum und in welcher Weise sich solche kooperativen Strategien der Gegenseitigkeit entwickeln konnten. Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, dass solche direkte Gegenseitigkeit auch an anderen Stellen im Tierreich zu finden sei. Inzwischen mehren sich aber Zweifel daran, dass reziproker Altruismus außer­ halb der sozialen Evolution von Primaten und Menschen eine allzu große Rolle gespielt hat (vgl. Price 2011: 83; Voland 2013: 69 ff.). Es wird auch vereinzelt die Ansicht vertreten, echten reziproken Altruismus gebe es nur bei Menschen (Slater 1994). Dort aber spielt er offensichtlich eine bedeutende Rolle. Insofern geht es bei

319 Vgl. zu diesen ideengeschichtlichen Wurzeln auch der Sozialkapitalforschung grundlegend und mit weiteren Verweisen zu Coleman S. 139, zu Bourdieu S. 128 ff. sowie weiterführend S. 160 ff. und S. 177 f.

Quid pro quo: Reziproker Altruismus und sozialer Austausch 239

der Frage nach der Bedeutung von reziprokem Altruismus für die menschliche Lebensweise tatsächlich um die Natur des Menschen im engsten Sinne.

4.3.1 Theorie: Die Evolution der Gegenseitigkeit und des Tausches Aus evolutionärer Perspektive besteht die grundlegende Herausforderung für Erklärungen von Prosozialität außerhalb von Familien in der Theorie des egoistischen Gens und der inklusiven Fitness. Da natürliche Selektion nur die Verbreitung von Kopien der eigenen Gene prämiert (und nur prämieren kann!), bleibt nämlich unklar, wie sich eine Verhaltensstrategie evolutionär durchsetzen könnte, die Nichtverwandten nützt und dabei selbstschädigend ist. Robert Trivers (1971) hat mit der Theorie des reziproken Altruismus eine Lösung für dieses Rätsel vorgelegt: Die genetische Disposition für altruistisches Verhalten kann sich in einer Population ausbreiten, wenn der Nutzen für den Empfänger größer ist als der Schaden für den Altruisten – und das Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt zuverlässig erwidert wird. Das Verhalten ist dann adaptiv, weil die Fitnessbilanz für beide besser ist als in einem Szenario ohne prosozialen Austausch. Ein Standardbeispiel für diese Form des Altruismus handelt von zwei Jägern in einer Steinzeitkultur (Buss 2012: 269): Bei beiden schwankt der Jagderfolg unvorhersehbar. In einer Woche ist nur der eine Jäger erfolgreich, in einer anderen dann der zweite. In diesem Szenario müssen beide Hunger leiden oder gar verhungern, wenn sie nicht in Erwägung ziehen, miteinander in Austausch zu treten. Reziproker Altruismus löst dieses Problem elegant. Das Fleisch zu teilen ist für beide in der Woche ihres jeweiligen Jagderfolges nur mit geringen Kosten verbunden. Wahrscheinlich haben sie dann ohnehin mehr Fleisch, als sie selbst bis zu dessen Verderben verzehren können. Der Nutzen für den glücklosen Jäger ist indes riesig. Er entgeht unter Umständen dem Hungertod. Reziprozität sichert beiden nachhaltig ihr Auskommen. Allerdings hat dieses Szenario seine Tücken, denn es ist anfällig für einseitiges Ausnutzungsverhalten. Das spieltheoretische Gefangenendilemma (GD) modelliert diese schwierige Ausgangslage für reziproken Altruismus – und führt damit auch die Unwahrscheinlichkeit seines Auftretens vor Augen.320 Zwar ist beider320 Im klassischen Gedankenexperiment des Gefangenendilemmas (Chammah und Rapoport 1965; vgl. Axelrod 1987) werden zwei Verbrecher getrennt voneinander inhaftiert. Ihnen bleibt die Wahl, ihre gemeinsame Tat nicht zu gestehen (Kooperation) oder als Kronzeuge auszusagen (Defektion). Wenn beide schweigen und somit kooperieren, können sie mangels Beweislast nur zu einer kurzen Haftstrafe für kleinere Delikte verurteilt werden. Sie ha-

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seitiges Kooperieren auf der Aggregatebene das beste und nachhaltigste Ergebnis. Allerdings kann von der Bereitschaft zur Reziprozität des Interaktionspartners nicht jederzeit ausgegangen werden. Wer also in Vorleistung geht, begibt sich in die Gefahr, Kosten auf sich zu nehmen, ohne später eine Rückzahlung dafür zu erhalten. Es bleibt deshalb eine durchaus fitnessmaximierende Strategie, altru­ istisches Verhalten selbst gar nicht erst zu riskieren – zumindest in einem „Naturzustand“ ohne geltende soziale Normen samt glaubhaftem Sanktionspotential. Aufgrund der strukturellen Unsicherheit in GD-Situationen streben subjektiv rationale Akteure also hin zu einer Entscheidung, die letztlich zum ungünstigsten Ausgang führt: Im Beispielszenario verhungern beide Jäger über kurz oder lang, weil sie kurzfristige Engpässe nicht kompensieren können. Reziproker Altruismus ist also stets durch ein GD-Szenario bedroht, in dem Kooperation keine adaptive Strategie darstellt. Bei einem einmaligen Zusammentreffen ist es deshalb wegen der hohen Gefahr der Ausbeutung letztlich die vernünftigste Option, nicht zu kooperieren – wenngleich Menschen in solchen Situationen tatsächlich viel häufiger kooperieren, als man das annehmen würde (Chammah und Rapoport 1965). Wird ein solches „Spiel“ jedoch, wie im JägerBeispiel, mehrfach wiederholt (also: iteriert), bieten sich Möglichkeiten für komplexere Kooperationsstrategien. Hamilton und Axelrod (1981) haben in einer berühmten Simulationsstudie die erfolgreichste Strategie im iterierten GD zutage gefördert.321 Sie heißt „Tit for Tat“ (TFT) und besteht aus zwei einfachen Regeln. (1) Kooperiere in der ersten Runde und (2) imitiere danach jeweils das Verhalten des Gegenübers aus der Vorrunde. Man beginnt also freundlich und bleibt dabei, solange auch das Gegenüber kooperiert. Sobald jenes aber die Gegenseitigkeit verweigert, tut man es ihm im nächsten Zug gleich. Laut Axelrod (1987) ist TFT aus drei Gründen so erfolgreich: (1) Die Strategie ist freundlich, denn sie beginnt kooperativ; (2) unkoopeben aber nicht die Möglichkeit, sich abzustimmen. Das Dilemma besteht nun darin, dass einseitige Kooperation zur schlechtesten Bilanz für jeden der beiden Gefangenen führen würde. Der andere käme als Kronzeuge frei, man selbst müsste eine harte Strafe erwarten. Deshalb besteht in solchen Spielen eine Tendenz hin zu suboptimalen Ergebnissen. Beide gestehen, bringen sich so um die Kronzeugen-Belohnung und bekommen eine ziemlich hohe Strafe. Vgl. auch S. 135 f., dort für das hier einschlägige Allmendeproblem besonders die Fußnote 191. 321 Sie ist in den Sozialwissenschaften wohlbekannt, weil an ihr der Politikwissenschaftler Robert Axelrod beteiligt war (vgl. Axelrod 1987). Schon viel weniger bekannt ist, dass Axelrod die Evolution der Kooperation in iterierten GD-Spielen zusammen mit dem Evolutionsbiologen William D. Hamilton erforschte, dem Urheber der Theorie der inklusiven Fitness. Das aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangene klassische Paper (Axelrod und Hamilton 1981) war der Startschuss für die Verwendung der in der Ökonomie bekannt gewordenen Spieltheorie in der biologischen Verhaltensforschung (vgl. Voland 2013: 77).

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ratives Verhalten des Gegenübers wird von ihr unmittelbar bestraft; (3) sie ist versöhnlich und verhindert so unnötiges Festfahren in suboptimalen Spielverläufen. TFT-​Reziprozität verbinden also elegant die Möglichkeit der Kooperation mit dem Schutz vor Ausbeutung. Angesichts einer so simplen Lösung wäre nun wiederum zu erwarten, dass sich reziproker Altruismus in der belebten Natur im Laufe der Evolution weit verbreitet hat. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein. Verständlich wird dies angesichts der kognitiven Voraussetzungen, die nötig sind, damit sich solche Reziprozität in realen sozialen Interaktionen überhaupt etablieren kann. Nur auf Basis der folgenden fünf Bedingungen kann nämlich entstehen, was Tooby und Cosmides (1992a) einen „sozialen Vertrag“ nennen und was für Putnam ebenso wie für Coleman ein zentraler Aspekt von Sozialkapital ist: eine (durchaus auch nur implizite) Verständigung auf die Gültigkeit einer Norm der direkten Gegenseitigkeit:322 1) Die Individuen müssen dazu in der Lage sein, (viele) verschiedene andere Individuen wiederzuerkennen und als intentional handelnde Entitäten zu begreifen. 2) Es braucht die Fähigkeit, sich an den bisherigen Hergang einer Interaktionsbeziehung erinnern und mithin Kooperateure sowie Defekteure nachhaltig voneinander unterscheiden zu können. 3) Da Gebende und Empfangende zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Dinge wertschätzen werden, müssen Individuen fähig sein, eigene Bedürfnisse zu kommunizieren. 4) Es braucht ferner die kognitive Fähigkeit, diese Bedürfnisse bei anderen erkennen und so eine für das Gegenüber nützliche altruistische Handlung begehen zu können. 5) Die Akteure müssen Kosten und Nutzen von unterschiedlichen Gütern abstrahieren und gegeneinander abwägen können. Festzuhalten ist also, dass reziproker Altruismus eine überaus voraussetzungsreiche Form bedingter Kooperation darstellt. Erstens braucht es einen riskanten altruistischen Vorschuss, bevor die Dividende in Form einer kooperativen Erwi­ derung eingestrichen werden kann. Zweitens sind einige komplexe kognitive Fähigkeiten nötig, damit sich eine solche Handlungskette überhaupt ereignen kann. 322 In der folgenden Aufzählung wird der Verdichtung von Buss (2012: 275 f.) gefolgt. Voland (2013: 78) weist u. a. darauf hin, dass es zudem einer gewissen Langlebigkeit bedarf, damit es überhaupt zu wiederholten Interaktionen kommen kann, ferner Vertrauen in die Koopera­ tionsbereitschaft des Gegenübers und relative Sicherheit darüber, dass es weitere „Spielrunden“ miteinander geben wird (vgl. dazu Trivers 1971: 37 f.).

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Von solcher Reziprozität sind mindestens zwei weniger anspruchsvolle kausale Mechanismen der Kooperation analytisch zu trennen: Mutualismus und Tauschhandel. Mutualismus ist eine unbedingte Form der Kooperation, von der alle Beteiligten direkt profitieren (Boucher 1988; vgl. Voland 2013: 65 ff.). Lehrbuchbeispiele sind neben Schwarmbildung auch Symbiosen, wie sie etwa Putzerfische eingehen: Sie sind für beide Tiere unmittelbar nützlich, denn die Säuberung des einen ist die Nahrungsaufnahme des anderen. Dieses Konzept ist jedoch für das Verständnis komplexer sozialer Systeme, in denen intentionale Agenten divergierende Interessen verfolgen, nur von geringem Nutzen. Vor allem aber nützt es nichts bei der analytischen Erfassung von Sozialkapital: Mutualismus vollzieht sich ohne die Notwendigkeit irgendwelcher sozialer Anschlusspraxen und erlaubt keine kapitalförmige Investition oder Diskontierung. Von Reziprozität weniger klar zu unterscheiden ist hingegen der Tauschhandel. Gemeinsam ist beiden Arten der Kooperation, dass alle beteiligten Individuen Nutzen aus einer erfolgreichen Transaktion ziehen. Tausch unterscheidet sich jedoch vom Mutualismus durch die gegebenen Anreize für Betrügen und Trittbrettfahren: Tauschgeschäfte können unfair sein; Leistungen können verweigert werden. Dennoch wird nicht nur unter Menschen getauscht und gehandelt, sondern auch an vielen anderen Stellen im Tierreich (vgl. Barclay 2013) – bei Primaten etwa gegenseitige Unterstützung in Konkurrenzsituationen (Schino 2007) oder Fellpflege gegen Futtertoleranz (De Waal 1997). Die Hervorbringung dieser Art der Kooperation als evolutionär stabile Strategie lässt sich von der Theorie der biologischen Märkte erklären (Noë und Hammerstein 1994; Noë 2006; siehe Voland 2013: 68 f.). Anders als die die Theorie des reziproken Altruismus stellt sie nicht die Dynamik der sozialen Interaktion zwischen den potentiellen Kooperationspartnern in den Vordergrund. Vielmehr lenkt sie das Interesse auf die genuin ökonomische Dimension der Interaktionen, also vor allem auf die Präferenzordnungen der einzelnen Individuen sowie auf das schwankende Verhältnis von Angebot und Nachfrage – ganz so, wie das auch in der für die Sozialkapitaltheorie so wichtigen soziale Tauschtheorie vor allem von Homans geschieht (Zafirovski 2005; Fine 2010). Zwischen Tausch und reziprokem Altruismus besteht jedoch ein entscheidender Unterschied: Eine direkte Tauschsituation ist für beide Seiten sofort (mehr oder weniger) profitabel. Das Zustandekommen eines – freilich dennoch betrugsanfälligen – Tauschhandels bedarf also keines initialen prosozialen Aktes eines Akteurs und kommt folglich ohne einschlägige Verhaltensdispositionen aus. Bei Tausch geht es also nicht um Sozialkapital, das ja gerade auf einem wie auch immer gearteten Antrieb zu sozialen Handlungen beruht, der sich nicht in dem Versuch der Herstellung unmittelbar ausgleichender Gerechtigkeit erschöpft. In der breiteren sozialwissenschaftlichen Literatur und zumal in der Sozial-

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kapitalforschung wird diese Differenzierung in der Regel nicht gekannt. Stattdessen werden diese unterschiedlichen Formen der Kooperation meist unter „direkter Reziprozität“ oder „sozialem Tausch“ subsummiert (siehe etwa Cropanzano und Mitchell 2005; Esser 2000: 353 ff.; Stegbauer 2013: 33 ff.). Die analytische Trennung von Tausch und Reziprozität ist aber nötig, weil deren Voraussetzungen sich so stark unterscheiden, dass auch verschiedene psychologische Vorbedingungen dafür nötig sind. Reziproker Altruismus scheint also der evolutionäre Kern des soziologischen Konzepts der Reziprozität zu sein. Er soll deshalb bei der Ergründung des empirischen Forschungsstandes im Fokus stehen. Tausch und Mutualismus haben hingegen mit Sozialkapital im engeren Sinne nichts zu tun. In beiden Fällen bleibt es bei einem direkten Ressourcenaustausch, prosoziale Investitionen sind dafür nicht notwendig. Es geht um direkte ökonomische Transaktionen im weitesten Sinne – und damit gerade nicht um das Erreichen von Zielen durch in soziale Beziehungen eingelagerte Kooperationsressourcen.

4.3.2 Empirische Befunde: Tit-for-Tat und Betrügererkennung Die empirische Forschungsliteratur offenbart einige Tücken der Theorie des reziproken Altruismus. Dennoch hält sie für die Ergründung der Wurzeln des Sozialkapitals relevante Befunde bereit. In der Sozialkapitalforschung wird schließlich immer wieder auf die von Gouldner (1960) postulierte Universalität von Reziprozitätsnormen verwiesen, ohne aber die von ihm im gleichen Atemzuge geforderten anthropologischen Belege und Erklärungen zu liefern (Levin et al. 2015: 9; Woolcock 1998: 13; siehe aber Esser 2000: 353 – ​376; Lubell und Scholz 2001).323 Die evolutionstheoretisch orientierte Forschung liefert indes grundlegende Einblicke in die psychologischen Mechanismen hinter dem Entstehen von Gegenseitigkeit sowie sozialer Kontrolle. Sie trägt deshalb entscheidend zum Verständnis der kausalen Mechanik hinter der Geltung von sozialen Reziprozitätsnormen bei. Das bekannteste Lehrbuchbeispiel für reziproken Altruismus im Tierreich ist das Nahrungsteilen der Vampirfledermäuse (Wilkinson 1984; Carter und Wilkinson 2013). Von deren Beutezügen kehrt meist nur ein Drittel der Tiere erfolgreich zurück, würgt die Nahrung (Wie der Name des Tieres erahnen lässt, ist es Blut.) dann hoch und teilt sie mit nichtverwandten Angehörigen ihres Verbandes. Die Einsatzbereitschaft von einzelnen Stichlingen eines Schwarmes bei der Abwehr von Raubfischen deutet ebenfalls auf Tit-for-Tat-Strategien hin (Milinski 1987, 1990). Auch unter Delphinen ist prosoziales Verhalten dokumentiert, das 323 Siehe zu Gouldner Argumentation S. 177 f., vgl. ferner S. 424 f.

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mit Verwandtenbevorteilung nur unzureichend erklärbar ist – etwa Hilfe für verletzte Artgenossen (Trivers 1985) und Angehörige anderer Spezies (Holmes und Neil 2012) sowie die Bildung kooperativer Allianzen zwischen männlichen Tieren (Wiszniewski et al. 2012). Gehäuft finden sich Indizien für reziproken Altruismus unter Primaten (vgl. De Waal et al. 2008). Bei Schimpansen dokumentiert sind reziproke Verhältnisse beim Teilen von Nahrung (De Waal 1989) und anderen Zuwendungen wie der Fellpflege (De Waal 1997) sowie zwischen Männchen, die Schutz gewähren, und Weibchen, die dafür statussichernde Unterstützung leisten (De Waal 1982). Nicht zuletzt praktizieren Schimpansen negative Reziprozität – also: Vergeltungsaktionen etwa nach Futterdiebstahl (Jensen et al. 2007). Auch Bonobos werden immer wieder bei Verhalten beobachtet, das jedenfalls nicht einfach mit nepotistischem Altruismus oder Mutualismus zu erklären ist. Sie tauschen Sex gegen Nahrung (Hohmann und Fruth 2000; Parish 1994) und pflegen auch mit Artgenossen außerhalb ihres Verbands prosoziale Interaktionen (Tan und Hare 2013). Angesichts der hohen kognitiven und affektiven Anforderungen überrascht es jedoch nicht, dass Hinweise auf reziproken Altruismus im Tierreich insgesamt relativ selten bleiben. Schließlich bedarf es vieler aufeinander aufbauender evolutionärer Innovationen zur Überwindung der drohenden Kooperationsdilemmata (Ramseyer et al. 2006; Stevens et al. 2005), wie im letzten Abschnitt aufgezeigt wurde. Schimpansen, die engsten Verwandten des Menschen, scheinen immerhin einige dieser psychologischen Vorbedingungen zu erfüllen (Melis et al. 2008). So haben sie offenbar ein soziales Langzeitgedächtnis entwickelt und zeigen „moralistische Aggressionen“ (Trivers 1971), also strafendes Verhalten, wenn die Erwiderung in einer auf Reziprozität angelegten Interaktion dauerhaft ausbleibt (vgl. De Waal 1989).324 Der theoretische Wert dieser Befundlage zum reziproken Altruismus ist umstritten (Price 2011: 83; Silk 2013; Voland 2013: 69 ff.). Die Ergebnisse können oft nicht repliziert werden; und längst nicht immer lassen sich alternative Erklärungen wie Verwandtenselektion, Mutualismus oder Tausch ausschließen (CluttonBrock 2009; Russell und Wright 2009; siehe Stevens et al. 2005: 504 f.). Ferner ist es methodisch anspruchsvoll, einen altruistischen Akt von EGO gegenüber ALTER zweifelsfrei auf vorhergegangenes prosoziales Verhalten von ALTER gegenüber EGO zurückzuführen (Silk 2005). Die Theorie des reziproken Altruismus ist deshalb nur als ein Erklärungsansatz für prosoziales Verhalten unter Nichtverwandten im Tierreich zu verstehen, der um andere – hier später zu behandelnde – Ansätze ergänzt werden muss. Nach

324 Siehe dazu ausführlicher S. 267 f.

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wie vor aber gilt er nicht als verworfen; und ohnehin sollte das Fehlen unzweifelhafter Beweise nicht mit dem Beweis für das Fehlen von reziprokem Altruismus verwechselt werden (Fehr und Fischbacher 2003; Silk 2013). Zudem betrifft diese Kontroverse „nur“ die Frage, warum prosoziale Handlungsdispositionen evolvieren konnten, deren Existenz und evolutionäre Herkunft in der Sache nicht bestritten werden. Das aber ist eine interne Theoriedebatte der Life Sciences, die im Zusammenhang mit der hier behandelten Frage nicht von vorrangiger Relevanz ist. Für eine anthropologische Fundierung des Sozialkapitalkonzeptes sind vor allem die sich in der Natur des Menschen niederschlagenden ontogenetischen Konsequenzen der (menschlichen) Evolutionsgeschichte relevant. Die Existenz einschlägiger Verhaltensweisen bei anderen Tieren stützt immerhin die hier zentrale und im Folgenden zu belegende Hypothese, dass die Fähigkeit zur Überwindung des Gefangenendilemmas durch Reziprozitätsnormen keine Ausgeburt der „vernünftigen Kalküle“ von rationalen Akteuren ist, sondern schon in der Natur des Menschen liegt. Bei Menschen lassen sich nämlich eine ganze Reihe der psychologischen Vorbedingungen für reziproken Altruismus tatsächlich nachweisen. Dazu gehört die Fähigkeit, andere Menschen wiedererkennen zu können. Selbst Menschen, die einander 35 Jahre lang nicht gesehen haben, erkennen sich mit einer Zuverlässigkeit von 90 Prozent (Bahrick et al. 1975). Überhaupt spielt Gesichtserkennung für Menschen eine zentrale Rolle. Schon Neugeborene haben eine Präferenz für gesichtsartige Stimuli (Fantz 1961), die sich in den ersten Lebenswochen schnell konkretisiert und präzisiert (Johnson und Morton 1991).325 Menschen erkennen einander aber auch an anderen Merkmalen wie etwa dem Gang wieder (Cutting et al. 1978). Menschen verfügen obendrein offenbar über ein spezialisiertes Betrüger-Erken­ nungs-Modul, das sie gegen die Ausbeutung ihrer auf Gegenseitigkeit abzielenden Prosozialität schützt. Tooby und Cosmides (1992a) haben mithilfe von Kartenauswahlaufgaben gezeigt, dass logische Denkaufgaben in Bezug auf Regelverletzungen zuverlässiger gelöst werden, wenn sie in „Sachaufgaben“ stecken, die von sozialen Situationen handeln.326 In der klassischen Versuchsanordnung liegen vier Karten auf einem Tisch.327 Jede hat eine Zahl auf der einen und einen Buchstaben 325 Die Mechanismen menschlicher Gesichtserkennung sind zudem starke Belege für die Modularität des Gehirns (Workman und Reader 2010: 123 ff.). Vgl. dazu S. 92 ff. 326 Auf die Hypothese, das Gehirn sei nicht vorrangig ein rationales, sondern ein soziales Organ, wird im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein. Siehe etwa S. 247 und dort vor allem die Fußnote 331. 327 Die folgenden Ausführungen zu diesen ursprünglich von Peter Wason (1966, 1968) entwickelten Karten-Experimenten stützen sich auf Tooby und Cosmides (1992a: 181 ff.) sowie Buss (2012: 276 ff.).

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auf der anderen Seite. Probanden sollen nun jene Karten umdrehen, die notwendig sind, um folgende Regel auf ihre Gültigkeit zu testen: „Wenn die Karte einen Vokal auf der einen Seite hat, dann hat sie eine gerade Nummer auf der anderen Seite.“

A

B

2

3

Die meisten Menschen wählen in diesem Fall die Karte „A“ oder die Karten „2“ und „A“ aus. Zwar ist die Wahl der Karte „A“ durchaus richtig, denn sie falsifiziert die Regel, wenn sich auf der Rückseite eine ungerade Zahl befindet. Die Karte „2“ ist hingegen nutzlos, denn die Regel besagt nicht, dass auf allen Karten mit geraden Zahlen ein Vokal stehen muss. Auch „B“ ist zum Testen der Regel wertlos. Mit den Karten „A“ und „3“ lässt sie sich hingegen zweifelsfrei prüfen. Die Studie von Tooby und Cosmides hat zusammen mit vielen vorherigen Wason-​SelectionTasks deutlich gemacht, dass Menschen überraschend schlecht darin sind, solche einfachen logischen Aufgaben zu lösen: Nur 25 Prozent finden die korrekte Lösung. Diese Erfolgsrate lässt sich jedoch verdreifachen, wenn die Aufgabe in logisch identischer Form auf eine soziale Situation bezogen wird. Die Frage lautet dann etwa: „Welche der folgenden vier Personen würden Sie in einer Bar kontrollieren, um sicherzustellen, dass nur Personen über 18 Jahren Alkohol konsumieren ?“

trinkt Saft

trinkt Bier

25 Jahre alt

16 Jahre alt

Den meisten Menschen leuchtet unmittelbar ein, dass sie sich den Ausweis der Bier trinkenden und das Getränk der sechzehnjährigen Person zeigen lassen müssen, um Regelverletzungen aufdecken zu können – so auch rund 75 Prozent der Probanden in den Experimenten von Tooby und Cosmides (1992a: 182). Noch einmal: die logische Struktur der Aufgaben ist genau gleich. Nur geht es im zweiten Fall darum, soziale Regelverstöße zu enttarnen. Die enormen Performanzunter-

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schiede zwischen beiden Aufgaben konnten auch von anderen Forschergruppen und in anderen Kulturen repliziert werden (Sugiyama et al. 2002).328 Die Entlarvung von sozialen Regelverstößen und das Erkennen von Gesichtern gehören offenbar zu jenen Fähigkeiten, die uns gerade keine bewusst-rationalen Kalküle abverlangen. Vielmehr scheinen sie zur psychologischen Grundausstattung einer hochgradig sozialen Spezies zu gehören. So lässt sich etwa auch eine systematische unterbewusste Aufmerksamkeitsverzerrung (‚attention bias‘) dahingehend nachweisen, dass wir Gesichtern von Regelbrechern besondere Beachtung schenken (Vanneste et al. 2007). Auch erinnern sich Menschen an diese besser als an Gesichter von Menschen, mit denen wir positive Erfahrungen gemacht haben (Chiappe et al. 2004; Mealey et al. 1996; Oda 1997).329 Ebenso aber können wir anderen Menschen buchstäblich „an der Nasenspitze ansehen“ bzw. am Lächeln „erkennen“, ob von ihnen Kooperation zu erwarten ist – selbst wenn wir mit ihnen in dieser Hinsicht noch keine direkten Erfahrung gemacht haben (Fetchenhauer et al. 2010; Oda et al. 2009; Yamagishi et al. 2003). Auf eine Fähigkeit zur Altruistenerkennung deutet also ebenfalls manches hin.330 Das menschliche Gehirn ist demnach vielmehr ein „soziales Kontrollorgan“ (Voland 2013: 74) als ein rationales Universalwerkzeug.331 Bewusste Vernunftkalküle und allgemeine Intelligenz spielen im Zusammenhang mit reziprokem Altruismus nur eine nachgeordnete Rolle. Stattdessen sind anscheinend funktional spezialisierte psychologische Mechanismen am Werk, die sich am besten als evolvierte Lösungen auf adaptive Probleme im Zusammenhang mit dem Leben in sozialen Verbänden verstehen lassen. Zweck dieser unterbewusst arbeitenden 328 Ein abgewandelter Wason-Test hat ferner gezeigt, dass auch das Erkennen von Regelbefolgung für Menschen einfacher ist als das Lösen logisch gleichartiger abstrakter Aufgaben (Brown und Moore 2000). Der Erfolg in diesem Test hängt jedoch nicht mit Erfolg im Wason-Test zur Betrüger-Erkennung zusammen. Das deutet darauf hin, dass beide Mechanismen zwar in der alltäglichen sozialen Wirklichkeit – und damit auch bei der Hervorbringung von Sozialkapital – ineinandergreifen, im Gehirn aber über getrennte Mechanismen realisiert werden (Oda et al. 2006). 329 Allerdings konnten diese Ergebnisse nicht immer repliziert werden (Mehl und Buchner 2008; Buchner et al. 2009). 330 Vgl. dazu auch Buss (2012: 280 f.). 331 Die „social brain hypothesis“ (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007) macht die Opposition der evolutionären Perspektive zum „standard social science model“ (vgl. Tooby und Cosmides 1992b) besonders deutlich (vgl. S. 92). Das Gehirn ist nicht als Universalcomputer zu begreifen, sondern als ein modular aufgebauter „Werkzeugkasten“ von evolutionären Adaptationen. Beim Menschen sind viele dieser Module Anpassungen an das Leben in sozialen Gruppen. Es lässt sich zeigen, dass die Größe des Gehirns bei Primaten positiv mit der Gruppengröße korreliert. Das menschliche Gehirn kann also als eine Sozialverhalten generierende Antwort auf die Herausforderungen des Gruppenlebens aufgefasst werden (Dunbar und Shultz 2007). Siehe dazu auch S. 344.

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Mechanismen ist es, eine Verhaltensflexibilität dergestalt zu realisieren, dass Entscheidungsalternativen abgewogen und davon ausgehend adaptive Handlungsantriebe generiert werden.332 Festzuhalten ist also: Konditionale Strategien, die reziproken Altruismus in einer sozialen Gruppe zu stabilisieren helfen, gehören offenkundig zur Natur des Menschen. Das menschliche Gehirn verfügt über Module, welche zur Überwindung von Kooperationsdilemmata notwendig sind. Es ist in der Lage, Tit-forTat-Strategien zu realisieren und so die Gefahr wiederholter Ausbeutung eigener Prosozialität durch unterlassene Erwiderung zu minimieren. Ins Werk gesetzt werden diese Fähigkeiten mithilfe von Mechanismen der Altruisten- und Betrügererkennung, ferner durch selektive Aufmerksamkeitsverzerrungen, ein soziales Gedächtnis und somatische Rückmeldungen über das Prozessierte in Form von Emotionen. Jene wiederum führen dann zur Anpassung des eigenen Verhaltens – etwa in Form von strafender Aggression oder der Verweigerung zukünftiger Kooperation.333 Obwohl aufgrund der (evolutions-)theoretischen Kontroversen sowie der zumindest im Interspeziesvergleich nicht eindeutigen Befundlage durchaus einige Vorsicht bei der Interpretation geboten ist, hilft die evolutionäre Perspektive doch, die anthropologischen Grundlagen von Reziprozitätsnormen besser zu verstehen. Einerseits spricht etwa der Mechanismus der Betrügererkennung nicht allein für die Theorie des reziproken Altruismus. Er kann auch als Anpassung an die Bedingungen biologischer Märkte – also an Tauschhandel im engeren Sinne – verstanden werden. Welche Erklärung überlegen ist, wird vielleicht nie abschließend geklärt werden können. Eine evolvierte Antwort auf das adaptive Problem der Ausbeutungsgefahr in sozialen Transaktionen ist vorbewusste Betrügererkennung jedoch wohlgemerkt aus der Sicht beider Theorien. Andererseits profitieren sozialwissenschaftliche Handlungstheorien auch ohne definitive Klarheit über die ultimaten Ursachen von diesen theoretischen und empirischen Erkenntnissen. Denn sie machen für alle praktischen Zwecke klar, dass kaum etwas für eine Anthropologie spricht, die Menschen nur als bewusst rational kalkulierende und/oder behavioristisch sozialisierte Wesen auffasst. Zugespitzt formuliert: Gleich zwei sparsame evolutionäre Theorien erklären das empirisch Beobachtbare – statt wie zuvor: keine. 332 Zur Erinnerung: Adaptiv, also fitnessmaximierend, sind die geschilderten Disposition der Theorie nach, weil reziproker Altruismus die Widerstandsfähigkeit gegenüber Ressourcenengpässen genau dann erhöht, wenn es den beteiligten Akteuren gelingt, sich gegen Ausbeutung zu schützen. 333 Die hier nur angedeutete, wichtige verhaltenssteuernde Rolle von Intuitionen und emotionalen körperlichen Empfindungen wie etwa dem sprichwörtlichen „Bauchgefühl“ wird an anderer Stelle ausführlich behandelt. Siehe dazu S. 282 ff.

Quid pro quo: Reziproker Altruismus und sozialer Austausch 249

4.3.3 Bilanz: Dyadisches Sozialkapital und die Probleme mit „Reziprozität“ Der erste Befund hinsichtlich einer theoretischen Integration von evolutionärer Anthropologie und Sozialkapitaltheorie ist ein überraschender: Es gibt viele Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Denkmuster und Theoriesprachen. Ökonomische und spieltheoretische Modelle werden hier und dort verwendet, die Anzahl der Schnittstellen ist potentiell riesig.334 Und war nicht ohnehin längst klar, dass Reziprozität eine ganz zentrale Rolle im Zusammenhang mit Sozialkapital spielt ? Mancher Sozialforscher könnte also fragen: „So what ? Wird hier nicht einfach in anderem Jargon reformuliert, was wir längst erkannt hatten ?“ Allerdings bietet der hier verfolgte Ansatz nicht nur eine neue Interpretationsfolie für einschlägige Befunde, sondern auch konkrete Ansatzpunkte für Kritik an der Sozialkapitaltheorie gerade hinsichtlich ihrer starken Fokussierung auf (Normen der) Reziprozität. Theorie und Empirie des reziproken Altruismus machen klar, dass es sich bei auf Gegenseitigkeit in Zweierbeziehungen (‚Dyaden‘) basierenden Handlungsressourcen um einen ganz spezifischen Typus von Sozialkapital handelt. Sie offenbaren darüber hinaus die kausale Mechanik hinter solchem dyadischen Sozialkapital, also jene psychosoziale Prozessdynamik, welche überhaupt dazu führt, dass Gegenseitigkeitserwartungen in Dyaden erfüllt werden. Dyadisches Sozialkapital bezeichnet die Gesamtheit aller Ressourcen, die für Individuen aus dem Vorhandensein direkter Gegenseitigkeitserwartungen resul­ tieren. Es basiert auf evolvierten psychologischen Mechanismen, die für dyadische Kooperationsbeziehungen auf Basis einer Tit-for-Tat-Strategien optimiert sind: Betrüger- und Altruistenerkennung sowie die Fähigkeit, Personen wiederzuerkennen und sich an kooperative Vorerfahrungen mit ihnen zu erinnern. Gegenseitigkeitserwartung werden über den „Schatten der Zukunft“ (Axelrod 1987) stabilisiert, über die Antizipation der Konsequenzen von Defektion für weitere Spielrunden.335 Der zentrale Mehrwert der evolutionären Perspektive liegt in der Ergänzung der proximaten um eine ultimate Erklärungsebene. Die spieltheoretischen Modelle der Sozialkapitalforschung erlauben bisher vor allem Rückschlüsse auf unmittelbare kulturelle Einflussfaktoren, also proximate Ursachen. Soziobiologie

334 Tatsächlich bearbeitet wird diese Schnittstelle aber vor allem im Bereich der evolutionären Ökonomik – und auch dort wird eine gründliche anthropologische Reflexion oft zugunsten von mathematischer Modellierbarkeit zurückgestellt (siehe etwa Ahn und Ostrom 2008; Ahn und Esarey 2008; Bowles und Gintis 2002; Courtois und Tazdaït 2012; Glanville und Bienenstock 2009; Jackson 2013; vgl. aber Lubell und Scholz 2001). 335 Zur dabei zentralen Funktion von Emotionen siehe S. 287 ff.

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und Evolutionspsychologie begreifen Kooperation hingegen als ein weit über die menschliche Spezies hinaus verbreitetes Phänomen und machen klar, dass die Überwindung von Kooperationsdilemmata keine Herausforderung ist (bzw.: war), die sich nur Menschen stellt(e). Szenarien wie das Gefangenendilemma modellieren folglich adaptive Probleme, die all jene Spezies im Laufe ihrer Stammesgeschichte gelöst haben, welche Prosozialität über den Verwandtenkreis hinaus ausbilden. Die ultimate Analyseebene führt vor Augen, dass die Historizität iterierter Dilemmasituationen noch weit über die menschliche Kulturgeschichte hinausgeht. Die prosozialen Verhaltensdispositionen haben sich über viele Generationen von „Gefangenen“ hinweg an die Selektionsdrücke dieser strukturellen Dilemmata angepasst. Konkret heißt das: Unser Gehirn kann Lösungen für Kooperationsdilemmata nicht nur hervorbringen; einige seiner funktionellen Mechanismen (v. a. Gesichts-, Betrüger- und Altruistenerkennung) sind selbst schon solche Lösungen. Hervorgebracht wurden sie von den Ausleseprozessen der Evolution. In einer Population waren nämlich jene gegenüber anderen bevorteilt, welchen es gelang, Normen der Gegenseitigkeit faktisch zu etablieren. Die inklusive Fitness der beiden Jäger aus dem Eingangsbeispiel dürfte höher gewesen sein als die ihrer asozialen evolutionären Mitbewerber, denn sie konnten sich und ihre Verwandten auch unter schwankenden Umweltbedingungen zuverlässiger mit Nahrung versorgen. Die Konsequenzen dieser Einsicht für das Sozialkapitalkonzept sind weitreichend. Warum Menschen kooperative Interaktionen miteinander eingehen, wen sie dabei unter welchen Bedingungen bevorzugen und wen sie meiden – all das ist im Lichte evolutionär-anthropologischer Einsichten neu zu bedenken. So scheint die populäre Unterscheidung zwischen konsumatorischen und instrumentellen Motivationen in ihrer heutigen Form den Kern der Sache nicht zu treffen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass vorbewusste psychologische Mechanismen gleichsam instrumentelle Zwecke mit konsumatorischen Mitteln realisieren: Bei Reziprozität geht es zweifellos um instrumentelle Zweckrationalitäten; deren handlungsleitende somatische Vermittlung erfolgt aber unter anderem über Intuitionen und Emotionen. Jene aber werden in der Sozialkapitalforschung bisher mit selbstzweckhafter Bedürfnisbefriedigung assoziiert und deshalb der opaken Residualkategorie der konsumatorischen Motivation zugerechnet. Noch gar nicht kann mit konventionellem handlungstheoretischen Werkzeug der – ausweislich der Befundlage wichtige – Fakt abgebildet werden, dass Teile der Entscheidungsfindung für oder gegen prosoziales Verhalten nicht einmal wahrnehmbar werden, sondern in subtilen, aber systematischen Aufmerksamkeitsverzerrungen gründen. Auf die Notwendigkeit der Überwindung dieses impliziten Leib-Seele-​ Dualismus in der Modellierung von Handlungsmotivationen wird zurückzukommen sein.

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Wichtiges hat sich auch in Bezug auf Normen der Gegenseitigkeit gezeigt. Sie sind schon in den klassischen Konzeptionen von Putnam und Coleman zentrale Aspekte von Sozialkapital, und auch in der neueren Sozialkapitalforschung spielen sie eine wichtige Rolle. In der Regel werden sie dort als kulturell kontingente soziale Konstruktionen behandelt. Der Vermutung Alvin Gouldners, eine Norm der Gegenseitigkeit sei der in der Natur des Menschen verankerter Startmechanismus der menschlichen Vergemeinschaftung, wird indes viel seltener nachgegangen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass Menschen im Zuge von einschlägigen Handlungsentscheidungen schon vorbewusst Einordnungen vornehmen: Betrüger vs. Altruist; in der Vergangenheit bewährter Kooperationspartner vs. Fremder. Diese psychologischen Mechanismen lassen sich durchaus als Manifestationen einer evolvierten impliziten Reziprozitätsnorm verstehen. Die Erfüllung von Gegenseitigkeitserwartungen stellt für Menschen offenbar einen zwar vielfach nicht bewusst reflektieren, aber dennoch faktisch handlungsleitenden Wert an sich dar. Er muss nicht per Normenintrojektion kulturell aufgeprägt werden, wie es das in der Sozialkapitalforschung weit verbreitete behavioristisch-rationalistische Menschenbild impliziert. Reziprozität gehört vielmehr zu unserem evolvierten Repertoire konditionaler Kooperationsstrategien. Die zentrale Frage lautet demnach nicht, wie entsprechende kulturelle Regeln „ansozialisiert“ werden können, sondern wie die sozial konstruierten Bedingungen menschlicher Interaktion beschaffen sein müssen, damit die Dispositionen zu reziprokem Altruismus zuverlässig ausgelöst werden. Damit ist eine neue Perspektive auf Reziprozitätsnormen und soziale Normen überhaupt aufgezeigt, die nur auf Basis der Theorie des reziproken Altruismus noch nicht ausgearbeitet werden kann. Um ein umfassendes Verständnis des Zusammenhangs von Normen und Sozialkapital zu entwickeln, sind noch Fragen nach der Rolle von Normdurchsetzung und Gruppenzugehörigkeit zu klären, die von ihr nicht erfasst werden.336 So ist für über reine Tit-for-Tat-Gegenseitigkeit hinausgehende Sanktionierung von ausbleibender Prosozialität in diesem Modell kein Platz. Denn Bestrafung von Normverletzungen ist kostenintensiv und wäre deshalb für den – ohnehin schon um die Dividende seiner Kooperativität betrogenen – Ausgenutzten mit weiteren Investitionen verbunden. Als Sanktionsinstanz infrage kommende Dritte bleiben beim Fokus auf Dyaden aber außen vor. Auch Netzwerkeffekte sind in der Theorie des reziproken Altruismus nicht abbildbar, weswegen sie es auch nicht erlaubt, eine „Generalisierung“ von Reziprozität zu modellieren. Der Sozialkapitaltheorie geht es aber gerade darum, die Einbettung von Handeln in soziale Strukturen abzubilden.

336 Siehe zu alldem S. 282 ff., S.  353 ff. sowie S. 462 ff.

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Eine wichtige Lehre aus der Befassung mit reziprokem Altruismus muss ohnehin lauten, dass das in der Sozialkapitaltheorie so beliebte Konzept der Gegenseitigkeit nicht als basale Erklärung für Kooperation taugt. Zu klein ist der von der Theorie erfasste Phänomenbereich, zu schwierig ist die Abgrenzung zu anderen Formen der Kooperation, zu uneinheitlich ist die Befundlage. Aber obwohl „die Rolle des reziproken Altruismus in der sozialen Evolution massiv überschätzt worden“ ist (Voland 2013: 70; vgl. Clutton-Brock 2009), stellen prominente Vertreter der Sozialkapitaltheorie immer wieder explizit darauf ab, dass sich direkte Reziprozität in sozialen Netzwerken generalisieren lässt (vgl. Ahn und Ostrom 2008; Coleman 1988a; Esser 2000: 364 ff.; Ostrom und Walker 2005). Auch die soziale Tauschtheorie, ihrerseits vielen Konzeptionen von Sozialkapital mehr oder weniger explizit zugrundeliegend, reflektiert weder die theoretischen Probleme noch die neueren biologischen und anthropologischen Befundlagen. Nicht zuletzt gibt sich Bourdieu hinsichtlich der Ursachen für Sozialkapital mit einer proximaten Theorie des reziproken Altruismus zufrieden: „Sozialkapital [ist] ein Kapital von langfristig nützlichen Verpflichtungen [.], das durch gegenseitige Geschenke, Gefälligkeiten, Besuche u. ä. produziert und reproduziert wird – durch Tauschbeziehungen also, die Kalküle und Garantien explizit ausschließen und damit das Risiko der ‚Undankbarkeit‘ heraufbeschwören; denn es besteht immer die Gefahr, daß die Anerkennung einer Schuldverpflichtung, die angeblich aus einer derartigen vertragslosen Austauschbeziehung entstanden ist, verweigert wird“ (Bourdieu 1983: 198).

Mit dem Wissen um Betrügererkennung und weitere Anpassungen an soziale Kooperationsdilemmata lässt sich nun immerhin besser begreifen, was konkret sich in den von Bourdieu geschilderten Situationen ereignet. Die beteiligten Mechanismen könnten ihre Wurzeln allerdings sowohl im sozialen Tauschhandel als auch im reziproken Altruismus haben. Es gilt also, bei der Anwendung der Theorie des reziproken Altruismus Vorsicht walten zu lassen. Noch einmal sei jedoch zu bedenken gegeben, dass es für die praktischen Zwecke der Sozialkapitaltheorie vor allem relevant ist, die Konsequenzen der Evolu­ tionsgeschichte des Menschen zu kennen, nicht aber primär ihren genauen Verlauf. Sowohl die Theorie der biologischen Märkte als auch die des reziproken Altruismus sagen voraus, dass die Entstehung von dauerhaften kooperativen sozialen Beziehungen mit der Evolution bestimmter psychologischer Vorbedingungen einhergehen muss. Genau für diese psychologischen Mechanismen finden sich in der Empirie auch vielerlei Belege – und das so entstehende Bild der Natur des Menschen ist obendrein viel plausibler als das vom Gehirn als leerem Gefäß oder einer allzeit rationalen Allzweckwaffe.

Tue Gutes und rede darüber: Indirekte Reziprozität und teure Signale 253

4.4 Tue Gutes und rede darüber: Indirekte Reziprozität und teure Signale Die bisher erörterten evolutionären Kooperationstheorien können für die Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie im Bereich von (pseudo-)familiären Netzwerken und iterierten Gefangenendilemma-Situationen hilfreich sein. In diesen Konstellationen kann die nachhaltige Stabilisierung von Kooperation gelingen, weil die Interagierenden in einer Beziehung zueinander stehen, welche über die konkrete Entscheidungssituation hinausgeht. Im Falle des nepotistischen Sozialkapitals ist es der (wahrgenommene) Verwandtschaftsgrad und im Falle des dyadischen Sozialkapitals der „Schatten der Zukunft“, also die Antizipation künftiger Interaktionen, welcher prosoziales Verhalten von ALTER begünstigst – und so eine Handlungsressource für EGO verfügbar macht. Jedoch weist das menschliche Sozialverhalten einige Eigentümlichkeiten auf, die mit diesen Theoriescheinwerfern nur ungenügend ausgeleuchtet werden können. Viele soziale Alltagssituationen sind asymmetrisch und flüchtig. Selbstlose Hilfe gegenüber Bedürftigen, anonyme Spenden – zumal in andere geographische und soziale Regionen hinein – und allenthalben zu besichtigende Kooperation zwischen Fremden sind Beispiele dafür, dass sich menschlicher Altruismus nicht in Verwandtenbevorteilung und Tit-for-Tat-Strategien erschöpft. Der So­ zialkapitalforschung geht es meist gerade darum, die Mikro- und Makroebene von Kooperation in sozialen Netzwerken unter den Bedingungen moderner Massengesellschaften zu verstehen – und mithin Phänomene wie generalisierte Reziprozität, generalisiertes Vertrauen, Kooperationsnormen und gemeinsinnige Werte. Wenn also die evolutionäre Perspektive wirklich zur Mikrofundierung der Sozialkapitalforschung taugen soll, muss sie Antworten auf die Frage liefern, wie so viel nicht-direkte und nicht-nepotistische Prosozialität möglich ist. In Theorien des Sozialkapitals läuft die Erklärung in der Regel auf Normenkonformität hinaus, ihrerseits zurückgeführt auf effektive Normdurchsetzung, Norminternalisierung durch Sozialisation sowie soziale Kontrolle. Letztere wiederum erwächst aus Wechselwirkungen von in Beziehungsnetzwerken diffundierenden Informationen und der Sorge um das eigene Sozialprestige. Intuitiv einleuchtend sind solche Ausführungen bei Coleman ebenso wie Bourdieus Begründung von Sozialkapital in Beziehungen des „Kennens und Anerkennens“ allemal. Wie aufgezeigt wurde, fehlt diesen theoretischen Argumentationen eine empirisch robuste sowie logisch konsistente Mikrofundierung. Sie mäandern zwischen Erklärungsmustern des ökonomischen Rationalismus und des radikalen Behaviorismus hin und her, anstatt in einen interdisziplinären anthropologischen Zusammenhang gestellt zu werden. Ausgerechnet bei den handlungstheoretischen Grundlagen besteht ein Desiderat, das mithilfe von Wis-

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sensbeständen aus den Life Sciences zu erfüllen einen echten Mehrwert für die Sozialkapitaltheorie erbringen würde.337

4.4.1 Theorie: Indirekte Reziprozität und kompetitiver Altruismus Evolutionär-anthropologischen Erklärungen für Kooperation und Prosozialität bekräftigen Bourdieus und Colemans Verweis auf die grundsätzliche Rolle von Prestige und Normen für soziales Handelns. Die Life Sciences zeigen hierfür zwei evolutionäre Entwicklungspfade in der Naturgeschichte menschlichen Sozialverhalten auf: einesteils den der indirekten Reziprozität, andernteils jenen des kompetitiven Altruismus, hinter dem die Theorie der teuren Signale steht. Beide Ansätze machen unterschiedliche Vorhersagen darüber, wie sich Prosozialität in großen Gruppen von nichtverwandten Individuen stabilisieren kann. Sie bieten zwei Erklärungen dazu, warum es offenbar zur Natur des Menschen gehört, Fremden gegenüber zuvorkommend zu sein, Hilfe anzubieten, Trinkgeld zu geben und auf so viele andere Arten einseitig zu kooperieren, ohne auf Gegenleistung hoffen zu können (Nowak 2006). In der Rekonstruktion ihrer Argumente und der Sichtung der einschlägigen empirischen Befunde wird deutlich, dass komplexe kognitive Vorbedingungen nötig sind, damit die von Bourdieu und Coleman skizzierten proximaten Regelkreise der Anerkennung und der sozialen Kontrolle überhaupt in Gang kommen können. Bis für Menschen der Satz „Tue Gutes und rede darüber!“ zu einer handlungsleitenden Maxime werden konnte, musste die Evolution eine ganze Reihe anspruchsvoller psychologischer Mechanismen hervorbringen, wie etwa einen Sinn für Gerechtigkeit und Prestige sowie einen Drang zu Strafen – und zu Prahlen. Indirekte Reziprozität: Kooperieren im Netzwerk Indirekte Reziprozität (im Bereich der evolutionären Ökonomik oft auch „starke Reziprozität“ genannt) ist eine Prädisposition dazu, auf eigene Kosten prosozial gegenüber anderen zu agieren und Regelbrecher zu bestrafen, selbst wenn nicht damit zu rechnen ist, dass diese Kosten direkt zurückgezahlt werden (Alexander 1987; Fehr et al. 2002; vgl. Gintis et al. 2009). Unterstützungsbereitschaft – also: Sozialkapital – entsteht hier ohne direkte Gegenseitigkeitserfahrung zwischen zwei Akteuren; die Zuversicht hinsichtlich der eigenen Vorteile sowie die Motiva-

337 Vgl. S. 189 ff.

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tion zu eigenem prosozialen Handeln müssen sich also aus anderen Quellen speisen. Das theoretische Kernargument ist hier nun, dass Ressourcen, die man in ein Beziehungsnetzwerk investiert, auf indirektem Wege zurückfließen können, weshalb sich solches Verhalten im Hinblick auf die eigene Fitness lohnen kann. Das Konzept hat Schnittmengen mit dem sozialwissenschaftlichen Begriff der generalisierten Reziprozität (vgl. Stegbauer 2013: 67 ff.): Von generalisierter Reziprozität spricht man, wenn Leistungen nicht mehr direkt in dyadischen Beziehungen ausgetauscht werden, sondern von der Vorstellung getragen sind, dass in der Gesamtbilanz alle Mitglieder eines sozialen Netzwerkes ungefähr gleich viele Ressourcen investieren. Tauschbeziehungen werden also in dieser (auf Lévi-Strauss zurückgehenden) Konzeption über Dritte vermittelt, die bilaterale Verrechnung der ausgetauschten Leistungen ist – anders als bei direkter Reziprozität – nicht notwendig. Als Beispiel für solche Beziehungssysteme werden in der sozialwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Literatur oft Familien benannt. Es wurde hier aber gezeigt, dass die Neigung zum Nepotismus analytisch von generalisierter Reziprozität im gemeinten Sinn zu trennen ist. Das von vielen Sozialkapitaltheoretikern verwendete Konzept hat aus evolutionär-anthropologischer Sicht noch einen weiteren entscheidenden Nachteil: Es hält keine naturhistorisch-kausale Erklärung dafür bereit, wie eine solche Generalisierung entstehen kann, was also die konkreten psychosozialen Kausalmechanismen bei der Überwindung von kollektiven Handlungsdilemmata sind. Diese Leerstellen werden mit proximaten Plausibilitätserwägungen gefüllt, die zwar intuitiv einleuchten, bei näherem Hinsehen aber auf allzu vagen Annahmen über das Zusammenspiel von Rationalität und Sozialisation basieren. Dabei wird stets davon ausgegangen, dass Menschen immer schon rationale Nutzenmaximierer und Norminternalisierer gewesen sind. Evolutionäre Anthropologie kann sich damit nicht zufriedengeben. Sie will ergründen, wie und warum Menschen zu jenen komplexen Wesen geworden sind, welche offenbar Netzwerke indirekter Reziprozität aufbauen können. Denn angesichts der Tatsache, dass Menschen gemeinsame Vorfahren nicht nur mit Primaten, sondern auch mit allen anderen Säugetieren, Wirbeltieren und letztlich allen Lebensformen auf der Erde haben, wirkt die Annahme nicht sonderlich überzeugend, dass generalisierte Reziprozität ausschließlich in bewusster Einsicht und kulturellen Konventionen wurzelt. Die entscheidende Frage ist also, welche individuellen Eigenschaften das Investment in nicht auf direkter Gegenseitigkeit basierende Beziehungsnetzwerke begünstigen und bedingen. Der Begriff der indirekten Reziprozität ist deshalb dem der generalisierten Reziprozität vorzuziehen. Er verweist auf die analytische Notwendigkeit, den Entwicklungspfad von den Akteuren her zu rekonstruieren (‚indirekt‘) und nicht als emergenten Aggregatzustand zu betrachten (‚generalisiert‘).

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Es gilt folglich einmal mehr, jene psychologischen Mechanismen aufzuspüren, welche die Besonderheiten der menschlichen Sozialität wirklich zu verstehen helfen. Dazu ist es auch hier notwendig, nach den ultimaten Ursachen von Verhalten zu suchen. Auf diesem Wege lässt sich ergründen, welche evolvierten Entscheidungsheuristiken an der Hervorbringung von indirekter Reziprozität beteiligt sein könnten. Dabei drängt sich die genaue Analyse handlungsleitenden Aspekte zweier sozialer Situationen auf, die in der Sozialkapitaltheorie für soziale Kontrolle als wichtig erachtet, aber handlungstheoretisch nicht konsistent modelliert werden: einesteils in Aussicht stehende Bestrafungen, andernteils antizipierte Prestigeverluste und -gewinne. Die entscheidende Besonderheit von Szenarien indirekter Reziprozität im Vergleich zu direkten Tit-for-Tat-Interaktionen besteht in der Notwendigkeit von Normenkontrolle durch Dritte. Da prosoziales Handeln nicht direkt erwidert werden muss, sondern sich im Mittel die Waage halten soll, braucht es die Fähigkeit und Bereitschaft, abweichendes Verhalten auch dann zu ahnden, wenn es nicht die eigenen Belange betrifft. Aber wie und warum sollte es dazu kommen ? Zwar können moralistische Aggressionen im Grunde schon im Zusammenhang mit reziprokem Altruismus evolviert sein, würden sich dann aber auf die eigenen Interaktionspartner richten. Im Unterschied dazu stellt das Strafen hier selbst einen altruistischen Akt dar, weil es keinen direkten Vorteil für jenen bedeutet, der die Norm durchsetzt (Voland 2013: 75). Solches altruistisches Strafen (‚altruistic punisment‘) ist also teuer (Fehr und Gächter 2002). Es ist ferner anfällig für Trittbrettfahrerprobleme dergestalt, dass Individuen ihren Beitrag zum Kollektivgut – die faktische Geltung einer Norm nämlich – durch das Unterlassen einer Bestrafung nicht leisten könnten. Für Coleman sind es unter anderem intrinsische Motivationen, die bei der Überwindung dieses Trittbrettfahrerproblems zweiter Ordnung helfen.338 Diese proximate Erklärung kann jedoch aus evolutionstheoretischer Sicht nicht überzeugen, weil sie das Vorhandensein entsprechender kognitiver Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen schon voraussetzt. Woher aber kommt, was auch Sozialwissenschaftler als „Straflust“ kennen (Hirtenlehner 2010) ? Theorien der indirekten Reziprozität und des Sozialkapitals gehen gleichermaßen davon aus, dass hierbei die Motivation eine wichtige Rolle spielt, die eigene soziale Reputation aufzubessern. Demnach wird in der einer Situation bzw. Konstellation altruistisch gehandelt, um in einer anderen selbst mit Unterstützung rechnen zu können. Wenn sich nämlich Informationen über die Prosozialität von so agierenden Individuen in sozialen Netzwerken verbreiten, werden sie zu beliebten Kooperationspartnern. Menschen mit schlechtem Ansehen haben hingegen 338 Vgl. S. 135.

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unter einem Mangel an Kooperationspartnern zu leiden. Das soziale Prestige einer Person kann demnach als ein zuverlässiger Hinweis auf die Summe der mit ihr gemachten kooperativer Vorerfahrungen angesehen werden. Reputation wird so zu einer „bändigenden Kraft“ (Nowak und Highfield 2011: 51 ff.; vgl. Nowak 2006), durch die jene massive Kooperation in riesigen Sozialverbänden möglich wird, welche wir heute als ganz normal erachten. So kann sich altruistisches Strafen letztlich doch in Fitnessvorteilen für den Strafenden auszahlen. Allerdings ist diese Verhaltensstrategie offenkundig nur zweckmäßig, wenn die Individuen der relevanten Bezugsgruppe über die kognitive Fähigkeit verfügen, Reputation zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. Nur dann ist solche Prosozialität fitnesssteigernd; nur dann werden hilfsbereite Menschen nicht einfach ausgenutzt. Nicht zuletzt ist auch die zur Stabilisierung von auf al­ truistischer Normdurchsetzung basierenden indirekten Reziprozitätsnetzwerken notwendige handlungsleitende Antizipation von Bestrafung durch potentielle Regelbrecher ein durchaus nicht anspruchsloser psychologischer Prozess. Ist es wirklich denkbar, dass solch voraussetzungsreiche Verhaltensweisen einem rationalen und kulturell geprägten Bewusstsein noch vorgängig sind ? Schon Darwin hatte in „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ betont, dass gelingendes Interagieren in komplexen sozialen Systemen erst durch ein individuelles Gerechtigkeitsempfinden möglich wird, das seinerseits von sozialen Emotionen untersetzt ist (Darwin 1872). Tatsächlich ist es vor dem Hintergrund der angestellten theoretischen Erwägungen plausibel, solche Anteile des menschlichen Wesens genauer zu betrachten, die sich gerade nicht mit den in den Sozialwissenschaften üblichen Anthropologien erfassen lassen: Erstens sind dies moralische Intuitionen, etwa in Bezug auf Fairness, Loyalität, Hilfsbereitschaft und Autorität. Damit hängen – zweitens – soziale Emotionen wie Scham, Schuld, Ärger, Stolz und Neid zusammen, die wie innere Belohnungs- und Bestrafungssysteme permanent für den Organismus spürbare Bewertungen von Handlungsalternativen vornehmen.339 Sie sind bewussten Kalkülen noch vorgelagert und unternehmen für jene eine Vor-Filterung der relevanten Umweltinformationen (Damasio 2010). Unterstützungsverhalten kann dann aus Angst vor Ansehensverlust (‚Scham‘) oder als Wiedergutmachung (‚Schuld‘) erfolgen, altruistisches Strafen hingegen aus Ärger oder Wut. Intuitionen und Emotionen können also genau jene „irrationalen“ Handlungsmotivationen sein, die es braucht, um die für indirekte Reziprozität notwendigen Wirkungsketten hervorzurufen.340 339 Einführend und mit Literaturverweisen zur Evolution von Moral und Emotionen siehe Workman und Reader (2010: 169 ff., 299 – ​326). Zu hier einschlägigen Befunden siehe S. 282 ff. 340 Rein proximaten Kalkülen würden solche Handlungsentscheidungen oft nicht standhalten, denn wegen eines schlechten Gefühls eine Dividende zu verpassen, ist wohl nicht „rational“.

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Indirekte Reziprozität ist kognitiv wesentlich voraussetzungsreicher als direkte Reziprozität oder nepotistischer Altruismus. Anders als bei jenen ist es nämlich notwendig, in der Lage zu sein, das eigene soziale Handeln in größere zeitliche und soziale Kontexte stellen zu können. Der Schatten der Zukunft ist gleichsam länger und breiter. Es müssen Auswirkungen des eigenen Handelns auf Dritte und deren Wahrnehmung kalkuliert werden, die mit der gerade relevanten Interaktion in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Bei direkter Reziprozität erhält das Individuum unmittelbare „Rückmeldung“ über das eigene Handeln vom Interaktionspartner. In Szenarien indirekter Reziprozität kommt es aber zu Effekten „über Bande“ – und damit auch zu der Notwendigkeit, jene mit dem eigenen Verhalten in Verbindung bringen zu können. Für indirekte Reziprozität werden also leistungsfähige Gehirne benötigt (Nowak und Highfield 2011: 54 ff.). Insbesondere müssen diese Gehirne über eine hoch entwickelte „Theory of Mind“ verfügen (Wellman 2014; vgl. Workman und Reader 2010: 128 ff.). Gemeint ist damit die Fähigkeit, andere Individuen als belebte und intentional handelnde Agenten zu begreifen und sich ihre Perspektive auf die Welt vorstellen zu können. Erst solches „Gedankenlesen“ ermöglicht die Bewertung von sozialer Interaktion, an der man nicht selbst beteiligt ist, hinsichtlich ihrer Passung zu geltenden Normen. Auch wird es mithilfe dieser Fähigkeit möglich zu erkennen, in welchen Kontexten welches Handeln „angebracht“ ist, wann etwa Defektion sich lohnt und wann sie zu hohe Kosten in Form von Reputationsverlust oder Bestrafung nach sich zieht.341 Von all diesen Voraussetzungen für die Möglichkeit von Normdurchsetzung und sozialer Kontrolle war nicht eine einzige „schon immer da“. Sie mussten von der Evolution erst hervorgebracht werden und mithin zur Lösung adaptiver Probleme beitragen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass sie domänenspezifisch und vorbewusst regelhaft funktionieren. Wie die Befundlage zeigen wird, basiert indirekte Reziprozität tatsächlich auf solchen evolvierten psychologischen Modulen – und nicht etwa auf einem „Gesamtkunstwerk unspezifischer Intelligenz“ (Gintis et al. 2009: 614 f.).

341 Eine Theory of Mind ermöglicht einerseits Empathie, andererseits aber auch „machiavellistische Intelligenz“, also die Fähigkeit, Menschen effektiv zu täuschen und zu manipulieren (Byrne und Whiten 1988).

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Kompetitiver Altruismus: Öffentliche Güter als Ergebnis von Prahlerei Die Theorie des kompetitiven Altruismus (Roberts 1998; Van Vugt et al. 2009) argumentiert auf der proximaten Ebene ganz ähnlich wie die der indirekten Reziprozität. Sie handelt ebenfalls von der Rolle von Reputation, altruistischem Strafen für Prosozialität ohne die Erwartung einer Gegenleistung und ist somit gleichermaßen relevant als mikrofundierende Erklärung von sozialer Kontrolle und generalisierter Reziprozität. Sie fußt aber auf der ungleich robusteren ultimaten Theorie der teuren Signale, die im Zuge der Erforschung von Vögeln entwickelt wurde und zunächst gar nichts mit der Erklärung von Altruismus zu tun hatte (Grafen 1990a; Zahavi 1975; Zahavi und Zahavi 1998). Der Ausgangspunkt des zentralen Arguments liegt im Paarungsverhalten: Weil in zweigeschlechtlichen Spezies oft für ein Geschlecht höhere Kosten mit der Reproduktion verbunden sind als für das andere, werden sich Mitglieder des jeweils anderen Geschlechts bei diesem zur Paarung „bewerben“ müssen.342 Das auswählende Geschlecht wird so zu einem evolutionären Selektionsfaktor, gegenüber welchem die Mitglieder des werbenden Geschlechts ihre Vorzüge als Paarungspartner (also: ihre „guten Gene“) effektiv anzeigen können müssen.343 Einesteils mündet dies in Wettbewerb und Konkurrenzgebaren innerhalb des werbenden Geschlechts mit dem Ziel, sich komparative Vorteile bei der Balz zu verschaffen. Andernteils sind allerlei selbstinszenierende Verhaltensweisen zu erwarten – und mithin auch zu dem Versuch, potentielle Sexualpartner über den eigenen reproduktiven Wert zu täuschen. Solches Signalisieren des eigenen Wertes ist freilich auch immer wieder Realitätsproben unterworfen. Denn letzten Endes werden sich nicht solche Gene in der Population ausbreiten, welche Fitness nur effektiv simulieren, sondern jene, welche den Nachwuchs tatsächlich zur relativ besseren Lösung relevanter adaptiver Probleme befähigen. Deshalb werden sich auf der Seite der Auswählenden (in der Regel, aber nicht immer: Weibchen) Präferenzen für solche Signale durchsetzen, die fälschungssicher sind – also wirklich Rückschlüsse auf „gute Gene“ erlauben (Maynard Smith und Harper 2003). Dass gerade teure Signale besonders fälschungssicher sind, wird am Beispiel des Pfauenrades deutlich: Es erfüllt nämlich keinen unmittelbaren Zweck in Be-

342 Zum hier einschlägigen Konzept des Elterninvestments siehe S. 508 f. 343 Diesen Mechanismus der sexuellen Selektion hatte Darwin in „The Descent of Man: Selection in Relation to Sex“ beschrieben (Darwin 1871). Die Auslese entsteht durch den differentiellen Reproduktionserfolg zwischen Mitgliedern des gleichen Geschlechts. Müssen etwa Männchen mit Rangkämpfen um Weibchen konkurrieren, so wird der Erfolg in diesen Kämpfen zu einem Fitnessvorteil, der durch die Weibchen selektiert wird.

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zug auf die natürliche Selektion. Ganz im Gegenteil behindert es sogar bei Tarnung und Flucht. Allerdings bezeugt das prächtige Pfauenrad eines (lebendig gebliebenen) Hahnes, dass selbst dieses Handicap ihn nicht am erfolgreichen Aufwachsen hindern konnte. Das Merkmal ist also ein teures Signal, ein ehrliches Kommunikationsmittel über den eigenen reproduktiven Wert. Es steigert deshalb wiederum die genetische Fitness des anderen Geschlechts, wenn das eigene Auswahlverhalten auf die Erkennung dieses Signals zielt (Workman und Reader 2010: 63 ff.). Auch prosoziales Handeln eignet sich als teures Signal nicht nur beim Werben um Fortpflanzungspartner, sondern ebenfalls im Wettbewerb um sozialen Rang und andere Ressourcen (Van Vugt et al. 2009; vgl. Hardy und Van Vugt 2006).344 Durch soziale Unterstützung und Kooperationsbereitschaft lassen sich verschiedene „innere Werte“ signalisieren, die in menschlichen Sozialverbänden vorteilhaft sind: Selbstkontrolle, moralische Integrität und Intelligenz (Van Vugt et al. 2009: 534), aber auch politische Macht und Durchsetzungsstärke (Uhl und Voland 2002: 95 ff.). Um das Bestehen solcher verborgenen Qualitäten möglichst zweifelsfrei (‚teuer‘) zu beglaubigen, bietet sich altruistisches Verhalten deshalb an, weil es mit unmittelbaren und offensichtlichen Kosten einhergeht, für die keine direkte Rückerstattung erwartet werden kann. Dies gilt für freigiebige Unterstützungsleistungen ebenso wie für uneigennütziges Durchsetzen von geltenden Regeln (‚altruistic punishment‘) und moralischen Normen (‚virtue signalling‘) gerechtfertigt. Bei solchem „Handicap-Altruismus“ (Zahavi 1995) wird eine selbst auferlegte Benachteiligung sichtbar gemacht und so als strategisches Mittel im ökonomischen oder sozialen Wettbewerb eingesetzt. Die prosoziale Handlung zielt nicht auf einen unmittelbaren Effekt auf der Seite des Empfängers ab, sondern fungiert als kommunikativer Akt mit breiterem Adressatenkreis (Van Vugt et al. 2009: 535). Die Botschaft kann dabei lauten: „Seht her, ich helfe, weil ich hilfsbereit bin und es mir leisten kann!“ Oder auch: „Ich bestrafe Fehlverhalten; ich bin moralisch integer, durchsetzungsstark und vertrauenswürdig.“ Und nicht zuletzt: „Ich dulde keine Regelverstöße in meinem Einflussbereich.“ Wenn und nur wenn es gelingt, diese Signale einem möglichst großen Publikum in möglichst eindrücklicher Form zur Schau zu stellen, hat kompetitiver Al­ truismus dieser Logik mindestens drei Vorteile (Buss 2012: 281 f.). Erstens können solche Individuen in zukünftigen Interaktionen bevorzugt als Kooperationspart-

344 Prosozialität signalisiert sich auch selbst, indem potentiellen Kooperationspartner mit al­ truistischem Handeln die eigene Vertrauenswürdigkeit angezeigt wird. Allerdings ist das Erklärungsmuster hinter solchem „selbstbezüglichen Signalisieren“ von Kooperationsbereitschaft durch Kooperationsbereitschaft redundant zu den in diesem Kapitel vorgestellten Reziprozitätstheorien. Hinter dem Signalisieren teurer Signale steht hingegen der hier geschilderte, qualitativ ganz verschiedene Mechanismus (Price 2011: 85 f.).

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ner ausgewählt werden. Zweitens wird in diesen Interaktionen dann potentiell ein höherer Grad von Kooperation erreicht, weil die positiven Vorab-Signale das Informationsdefizit im Gefangenendilemma abschwächen.345 Und drittens führt solches Verhalten zu einer allgemeinen Steigerung der eigenen Reputation, was sich in einer Reihe weiterer Vorteile niederschlagen kann – zum Beispiel in Konkurrenzsituationen, wie sie etwa beim Werben um (Sexual-)Partner oder in Rang­ rivalitäten regelmäßig entstehen. Zusätzlich zu diesen individuellen Vorteilen produzieren Handicap-Altruisten zudem öffentliche Güter. Der Grund dafür liegt schon in der Handlungsmotivation selbst begründet: Es wird nicht einfach billigend in Kauf genommen, dass das eigene Engagement für Wohlfahrt, Regeltreue oder sonstige gemeinnützige Ziele durch Trittbrettfahrer ausgebeutet werden könnte. Gerade in der Übernahme dieses Risikos liegt ja der (versuchte) Nachweis der eigenen verborgenen Qualitäten. In diesem Punkt unterscheidet sich die Theorie der teuren Signale von Reziprozitätsmodellen (Smith und Bliege Bird 2005; vgl. Voland 2013: 78 f.). Jene bringen prosoziales Verhalten stets mit einer direkten oder indirekten Rückerstattung der getätigten Investition in Verbindung. Zwar können auch in Szenarien indirekter Reziprozität öffentliche Güter entstehen. Jedoch sind diese dann nur emergente Effekte der Wechselwirkungen von Handlungen auf Basis von (indirekten) Gegenseitigkeitserwartungen und nicht – wie hier – in strategischer Absicht intentional hervorgebracht. Die Theorie des Handicap-Altruismus kann also das Streben nach sozialer Reputation und die Durchsetzung von Normen in einer Weise erklären, welche für die Sozialkapitaltheorie bisher fremd ist. Die Reichweite der dahinterstehenden Theorie der teuren Signale geht dabei – wie die der Verwandtenselektion – weit über den Bereich von Menschen und anderen Primaten hinaus. Sie bettet so das Verständnis des bei Coleman zentralen Mechanismus der sozialen Kontrolle sowie des Bourdieuschen „Kennens und Anerkennens“ ein in eine ultimate Erklärung der Evolution des Sozialen. So lässt sich das Zustandekommen von Sozialkapital in Beziehungsnetzwerken von Nichtverwandten nicht mehr nur erklären, indem eine behavioristisch-ökonomistisch gedachte Natur des Menschen ebenso wie die Existenz von sozialen Strukturen einfach a priori angenommen werden. Diese Theorieperspektive gibt – ebenso wie die der indirekten Reziprozität – den Blick frei auf die Stammesgeschichte unserer Spezies, in der die Erschließung von (öffentlichen und privaten) Gütern aus und mit sozialen Netzwerken zu einem wichtigen adaptiven Vorteil wurde.

345 Vgl. hierzu S. 239.

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4.4.2 Empirische Befunde: Wechselwirkungen von Reputation und Normen Um ein genaues Bild davon zu zeichnen, was die referierten Ansätze für eine evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals konkret bedeuten, ist es nötig, eine große Fülle empirischen Materials in Augenschein zu nehmen. Die von den Theorien der indirekten Reziprozität sowie des kompetitiven Altruismus benannten Voraussetzungen für Unterstützung und Kooperation in sozialen Beziehungsnetzwerken sind komplex; und das Ziel dieser Studie liegt ja gerade darin, ihr Bestehen nicht einfach zu postulieren, sondern sie wirklich nachzuweisen und in ihrer Wirkungsweise zu verstehen. Wie schon bei der Behandlung von Nepotismus und direkter Reziprozität wird es sinnvoll sein, zunächst auf die Ergebnisse empirischer Forschung im Tierreich zu schauen, bevor die humanwissenschaftliche Befundlage in Augenschein genommen wird. Wenn die von den Theorien unterstellten Mechanismen nämlich auch an anderen Stellen der Natur zu besichtigen sind, ist das ein starker Beleg dafür, dass entsprechende behaviorale Prädispositionen bei Menschen ebenfalls evolvierte Lösungen für adaptive Probleme darstellen. Es wird sich zeigen, dass prosoziales Verhalten – und mithin: Sozialkapital – einesteils als eine Investition in indirekte Dividenden eingesetzt wird. Andernteils kann es als ein teures Signal für sonst schwer zur Schau zu stellende Eigenschaften fungieren und deshalb ganz ohne auch indirekte Gegenseitigkeitserwartungen gezeigt werden. Ferner wird deutlich, welch wichtige Rolle vorbewusst ablaufende psychologische Mechanismen bei diesen Informationsverarbeitungs- und Handlungsketten spielen. So sind die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Verfolgung gemeinsamer Ziele wichtige Grundlagen gelingender Kooperation außerhalb von Familien und Dyaden. Vor allem aber prägen moralische Intuitionen und soziale Emotionen diese Erscheinungsformen menschlicher Prosozialität. Viele der relevanten kognitiven Module lassen sich bis ins Tierreich zurückverfolgen. Aber erst bei Menschen ermöglichen Wechselwirkungen zwischen ihnen eine beispiellose Form einer kooperativen Vergemeinschaftung – getragen von normativen Bauchgefühlen sowie der Sorge um die eigene soziale Reputation. Kostspielige Prahlerei: Teure Signale in nicht-menschlichen Spezies Zunächst ist grundsätzlich zu klären, ob sichtbare Merkmale als teure Signale für Parameter wie physische Gesundheit und Parasitenbefall fungieren können. Die klassische Studie konnte für amerikanische Singvögel zeigen, dass die Männchen einer Art im Mittel umso prächtigeres Gefieder ausbildeten, je höher das Risiko

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dieser Vogelart für Parasitenbefall war (Hamilton und Zuk 1982). Die Investition in solches Prachtgefieder kann also als teures Signal für die Widerstandsfähigkeit angesehen werden. Auch im innerartlichen Vergleich zeigt sich dieses Muster. Eine Vogelgrippe-Epidemie in den USA überlebten jene Exemplare einer FinkenArt, die sich von den gestorbenen Artgenossen durch im Durchschnitt kräftigere Rotfärbung des Gefieders unterschieden (Nolan et al. 1998). Und bei einer Metaanalyse von Studien an Insekten, Spinnen, Vögeln und Fischen konnte ein robuster Zusammenhang zwischen äußerlichen Merkmalen und Langlebigkeit gefunden werden (Jennions et al. 2001). Dass teures Signalisieren positiven Einfluss auf den Paarungserfolg hat und somit von der sexuellen Selektion begünstigt wird, zeigt unter anderem das bereits referierte Lehrbuchbeispiel der Pfauen: Hähne mit längerem und prächtigerem Schwanzgefieder werden nicht nur von Weibchen bevorzugt, sie zeugen auch gesünderen Nachwuchs (Petrie 1994). Widavögel mit längeren Schwanzfedern können mehr weibliche Gelege in ihr Territorium locken (Andersson 1982, 1992). Weibliche Guppys bevorzugen Männchen mit (bei der Flucht vor Jägern hinderlich) langen Schwänzen (Haines und Gould 1994). In einer Metastudie konnte eine robuste Korrelation zwischen teuren Signalen und Paarungserfolg gar über nicht weniger als 22 Studien hinweg nachgewiesen werden – freilich mit durchaus großer Heterogenität der jeweils gefundenen Effektstärken (Møller und Alatalo 1999).346 Für den Fortgang des Arguments ist zudem die Frage wichtig, ob auch genetisch nicht fixierte Merkmale als teure Signale dienen können. Eine Studie, die den Einfluss des Engagements in kraftraubenden Balzgesängen auf den Paarungserfolg bei Hausfinken untersuchte, erbrachte hierzu einen interessanten Befund (Mennill et al. 2006). Neben einem robusten positiven Effekt von Dauer und Frequenz der Gesänge auf den Reproduktionserfolg konnte zumindest ein anekdotischer Beleg dafür gefunden werden, dass die elaborierteren Gesänge bei der Balz erfolgreicher sind (Mennill et al. 2006: 177). Besonders instruktiv ist jedoch das Balzverhalten von männlichen Laubenvögeln (Madden et al. 2004; Schaedelin und Taborsky 2009): Sie bauen kunstvoll dekorierte Lauben, um weibliche Artgenossen von ihrer Eignung als Fortpflanzungspartner zu überzeugen und sich so gegen Mitbewerber durchzusetzen. Solche Befunde zeigen auf, dass schon im 346 In der Evolutionsbiologie gab es lange Zeit eine Kontroverse darum, ob Weibchen bestimmte Merkmale von Männchen einfach „zufällig“ attraktiv finden und deshalb Selektionsdruck in Richtung der stärkeren Ausprägung dieses Merkmals entsteht (‚sexy son‘-Hypothese), oder ob es sich um tatsächliche Anzeichen für gute Gene handelt und sich der Selektionsdruck daher erklärt. In Lehrbüchern der Evolutionspsychologie und Soziobiologie gilt die Hamilton-und-Zuk-Hypothese der guten Gene inzwischen als theoretisch überlegen und empirisch besser unterfüttert (Voland 2013: 99 ff.; Workman und Reader 2010: 66).

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Tierreich auch Hervorgebrachtes und Konstruiertes – mithin: Kulturelles im weitesten Sinne –347 zum Anzeigen verborgener Qualitäten genutzt wird. Die Theorie der teuren Signale konnte im Tierreich sehr gut bekräftigt werden (Workman und Reader 2010: 60 ff.; vgl. Maynard Smith und Harper 2003; Searcy und Nowicki 2005). In der einschlägigen Literatur sind neben den hier exemplarisch verwendeten noch viele Befunde und Beispiele nachzulesen (vgl. Zahavi und Zahavi 1998). Die explanatorische Basis der Theorie des Handicap-Altruismus ist in dieser Hinsicht also robust.

347 Folgt man dem Gedanken, dass Vogelgesänge kulturelle Artefakte (‚Meme‘) darstellen, die nicht genetisch fixiert sind und kulturell reproduziert werden (vgl. Laland und Janik 2006; Williams et al. 2013), eröffnet sich hier eine weit in das Tierreich hineinreichende Schnittstelle zur kulturalistischen Evolutionstheorie (vgl. Mesoudi 2011; Mesoudi, Whiten, und Laland 2006; Schurz 2011: 191 ff.). Dort werden auch kulturelle Figurationen wie Institutionen als evolvierende Systeme begriffen (Lewis und Steinmo 2012; Patzelt 2007a). Als Vererbungseinheiten der kulturellen Evolution werden „Meme“ angesehen (Aunger und Dennett 2003; Blackmore 2005; Brodie 1996; Dawkins 1976b), verstanden als kulturelle Muster bzw. kleinste Sinneinheiten von Vorstellungsinhalten und sozialen Praxen (Regeln, Handlungen, Melodien, Ideen). Kulturelle Evolution ereignet sich, wenn diese Meme sich zu unterschiedlich bestandsfähigen Memplexen verbinden (etwa: Institutionen, Theorien, Baupläne, Partituren, Drehbücher, Ritualisierungen, …), differentiellen Erfolg bei Retention sowie Reproduktion aufweisen und es im Zuge dieser Reproduktion zu Variation kommt – etwa durch „Kopierfehler“ bei der Nachahmung oder durch individuelle Innovationen. Zwar wird die Nützlichkeit des Memkonzepts immer wieder angezweifelt (vgl. Schurz 2011: 208 ff.), doch besteht andererseits unter Evolutionsforschern durchaus breiter Konsens darüber, dass auch kulturelle Figurationen Bestandteile eines ubiquitären Evolutionsprozesses sind (Durham 1991; Gintis 2003; Jablonka und Lamb 2005; Richerson und Boyd 2005). Kulturelle Evolutionstheorien deklinieren diesen Gedanken letztlich nur aus, indem sie Evolution als einen allgemeinen Algorithmus ansehen, der in den Fällen biologischer und kultureller Evolution jeweils spezifische Gestalt annimmt (vgl. Patzelt und Lempp 2007). Es ist für diese Studie nicht nötig, den Nutzen des Memkonzepts zu diskutieren oder gar zu klären – zumal der Begriff des „kulturellen Musters“ völlig ausreicht, um sich das hier Wesentliche vor Augen zu führen: Sind epigenetische Hervorbringungen (wie Lauben, Melodien in Balzgesängen usw.) einmal erfunden, können Organismen sie nutzen, um adaptive Probleme zu lösen. Erlangen Lebewesen zusätzlich die Fähigkeit der Weitergabe dieser Hervorbringungen, dann können sich kulturelle Muster verstetigen; und die erfolgreicheren unter ihnen werden womöglich selbst zu Umwelten, an die sich wiederum ihre Erzeuger anpassen müssen. Siehe zu letzterem ausführlich Kapitel 4.5.

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Gedankenlesen und sozialer Status: Theory of Mind, Reputation und Bestrafung im Tierreich Wer nun aber mit uneigennützigem Handeln kooperatives Prestige erlangen oder sich sonstige Vorteile im sozialen Wettbewerb verschaffen möchte, muss in der Lage sein, andere Individuen als intentionale Agenten zu erkennen sowie ihre Perspektiven und Motivationen zu begreifen. Nur auf Basis einer solchen „Theory of Mind“ lassen sich zielführend Handlungsoptionen auswählen, die Andere in sinnvoller Weise bevorteilen oder (im Fall von altruistischer Normdurchsetzung) bestrafen. Nur auf Basis dieser kognitiven Fähigkeit lässt sich so etwas wie soziale Anerkennung überhaupt erzeugen. Nicht zuletzt bedarf es einer halbwegs korrekten Entschlüsselung der Perspektiven Anderer, um sie effektiv täuschen zu können. All das basiert wiederum auf der Möglichkeit, zwischen sich selbst und anderen unterscheiden zu können, also ein „Selbst-Bewusstsein“ zu entwickeln (Damasio 2011). Lange wurden diese kognitiven Kompetenzen nur Menschen zugeschrieben. Es zeigt sich aber, dass auch einige andere Tiere über diese Fähigkeiten verfügen. Der Test von Gordon Gallup (1970) untersucht, ob sich Individuen selbst im Spiegel erkennen. Dazu wird ihnen ein farbiger Fleck in das Gesicht geklebt und dann überprüft, ob sie im Spiegel erkennen, dass sich diese Anomalie in ihrem eigenen Gesicht befindet. Obwohl schon hunderte Tiere getestet worden sind, konnten nur wenige diesen ‚mirror self recognition‘-Test bestehen (De Waal 2008: 1621): Schimpansen (Gallup 1970) und andere Primaten (Anderson und Gallup 1999), Delfine (Reiss und Marino 2001) sowie Elefanten (Plotnik et al. 2006). Im Verdacht stehen zudem Krähenvögel (Prior et al. 2008; De Waal 2008) und nicht zuletzt Oktopusse (Ikeda 2009). Eine Theory of Mind – also die Fähigkeit, anderen Agenten intentionales Handeln zu unterstellen und zurechnen zu können – lässt sich in nicht-menschlichen Spezies ungleich schwerer nachweisen (Penn und Povinelli 2007). Die Befundlage ist uneinheitlich (vgl. Heyes 1998; Wellman 2014). Am ehesten kommen für eine Theory of Mind unter den Primaten unsere nächsten Verwandten infrage, nämlich Schimpansen (Call und Tomasello 2008; Premack und Woodruff 1978) und Bonobos (Herrmann et al. 2010). Mit weiteren Abstrichen kann Gorillas diese Fähigkeit zum „Gedankenlesen“ attestiert werden (Doran-Sheehy et al. 2009; Tanner und Byrne 2010). Auch Rabenvögel werden zum engen Kreis der Kandidaten gezählt (Dally et al. 2006; Raby et al. 2007). Damit verkleinert sich die Reichweite der behandelten Theorien auf wenige Spezies. Umso aufschlussreicher wird es sein, gerade bei ihnen jenen psychologischen Mechanismen nachzuspüren, welche weit entwickelte Muster prosozialen Verhaltens erlauben. Erst auf eine Theory of Mind kann die für indirekte Reziprozität und kompetitiven Altruismus notwendige Fähigkeit aufsetzen, eigenes Handeln sinnhaft auf

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das Handeln Anderer zu beziehen.348 So richten Krähen ihren Umgang mit eigenen Nahrungsverstecken danach aus, ob sie von anderen Artgenossen beobachtet werden. Wenn dem so ist, suchen sie zielstrebig in der „falschen“ Ecke der Voliere, um die Artgenossen dorthin zu locken und dann – ganz unauffällig – selbst zum Versteck zu gelangen (Bugnyar 2010; Bugnyar und Kotrschal 2002; vgl. aber Van der Vaart et al. 2012). Auch können Raben die hierarchischen Beziehungen anderer Artgenossen zueinander (innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Gruppe) anhand der Beobachtung ihres Verhaltens korrekt erkennen und – im Falle von Tieren innerhalb ihrer Gruppe – ihren eigenen Rang dazu in Beziehung setzen (Massen et al. 2014).349 All diese Fähigkeiten sind auch für Primaten belastbar dokumentiert (Bergman et al. 2003; Borgeaud et al. 2013; Cheney und Seyfarth 1986; Cheney et al. 1995; Kitchen et al. 2004; Seyfarth und Cheney 2003; Slocombe und Zuberbühler 2007). Solche soziale Intelligenz geht schon deutlich über das hinaus, was im Rahmen von reziprokem Altruismus nötig ist. Denn sie ermöglicht die eigene Verortung in Sozialverbänden über rein dyadische Kooperationsbeziehungen hinaus. Aber welche Rolle spielen Reputation und Normen im Sozialverhalten anderer Spezies ? Wenn Theory of Mind und sinnhaft aufeinander bezogenes Verhalten unter anderem bei Primaten und Rabenvögeln existiert, erscheint es nur noch als graduelle Weiterentwicklung, diese Fähigkeiten zur Bewertung des Verhaltens Dritter zu nutzen – und die eigenen Kooperationsentscheidungen davon abhängig zu machen. Falls solche Wurzeln von Sozialkapital über unsere eigene Gattung hinausreichen, berührt das nicht weniger als den Kern des Sozialkapitalkonzepts. Schließlich wird der kausale Nexus aus Verhaltensregeln und sozialem Ansehen in Theorien des Sozialkapitals bisher ganz anthropozentrisch konzeptualisiert. Tatsächlich scheint Reputation aus Interaktionen zwischen Dritten für Prima­ ten handlungsrelevant zu sein. Paviane wählen ihre Partner für die Fellpflege (‚grooming‘) auf Basis deren Leumundes im Hinblick auf die Erfüllung von Gegenseitigkeitserwartungen aus (Barrett et al. 2000). Auch wurde beobachtet, dass Schimpansen vor allem solche Menschen um Futter anbetteln, die sie vorher bei freigiebigem Verhalten gegenüber Dritten beobachtet hatten (Russell et al. 2008; Subiaul et al. 2008). Bei Kapuzineräffchen wurde auch der umgekehrte Effekt beobachtet: Von nicht hilfsbereiten Menschen nahmen beobachtende Tiere später

348 Genau das ist der Kern sozialen Handelns (Weber 1921/1980). 349 Rabenvögel zeigen ohnehin eine ganze Reihe komplexer sozialer Fertigkeiten (Heinrich 2009; Marzluff und Angell 2013). So können Krähen die Gesichter von Menschen mit guten und schlechten Erfahrungen verknüpfen und diese Erinnerung sehr lange handlungsleitend einsetzen. Auch halten sie offenbar regelrechte Trauerfeiern für verstorbene Artgenossen ab (Iglesias et al. 2012).

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seltener Futter an (Anderson et al. 2013). Auch Orang-Utans sind offenbar zu solcher indirekten Reputationsbildung in der Lage (Herrmann et al. 2013). Wenn Primaten zumindest Vorstufen dessen kognitiv prozessieren können, was wir Reputation nennen, dann brauchen sie dafür auch Bewertungsmaßstäbe. Verfügen sie etwa über eine Vorstellung von Kooperationsnormen ? Ist demnach gar Moral nichts genuin Menschliches ? Zunächst ist hierzu festzuhalten, dass auch andere Säugetiere verhaltensrelevante Bewertungen von Sozialverhalten vornehmen. Während mancher die bei Hunden beobachtete Aversion gegen Ungerechtigkeit (Range et al. 2009) noch mit der Nähe zum Menschen zu erklären versuchen mag, deutet das Verhalten von Ratten in spielerischen Raufereien doch deutlich auf eine lange Naturgeschichte von Gerechtigkeitsempfindungen hin: Nur wenn das überlegene Tier den schwächeren Spielgefährten mindestens etwa ein Drittel der Kämpfe gewinnen lässt, zeigt das unterlegene Tier andauerndes Interesse an weiteren Spielrunden (Panksepp 2005). Wirklich gut dokumentiert ist eine ausgeprägte Abneigung gegen Ungleichbehandlung jedenfalls bei Primaten; und zwar sowohl bei unfair behandelten Tiere, als auch bei jenen, welche die Ungleichbehandlung nur beobachteten (Brosnan und De Waal 2003, 2014; Brosnan et al. 2005; siehe aber McAuliffe et al. 2015; Sheskin et al. 2014). Auch wurden in mehreren Studien Verhaltensweisen von Primaten dokumentiert, die als moralistische Aggressionen – als normativ motiviertes strafendes Verhalten (Trivers 1971) – aufgefasst werden können: Weibliche Rhesusaffen zeigen Futterfunde gelegentlich mit einem Ruf an. Unterlassen sie diesen Ruf, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie von höher gestellten Artgenossinnen angegriffen werden (Hauser und Marler 1993a, 1993b; Hauser 1997). Schimpansen zeigen solche Aggressionen vor allem gegenüber besonders geizigen Artgenossen (De Waal 1989) und betätigen sich strafend, wenn Fairnessnormen verletzt werden (Jensen et al. 2007). Überhaupt sind Normüberwachung und strafendes Verhalten (‚policing‘) im Tierreich durchaus verbreitet (Clutton-Brock und Parker 1995; De Waal und Luttrell 1988). Auch vielerlei anderes auf Empathiefähigkeit und moralische Empfindungen hindeutendes Verhalten lässt sich bei Primaten beobachten (vgl. Silk 2009). Aus anthropozentrischer Perspektive mag dieses in erster Linie rudimentär wirken; aus evolutionärer Perspektive deutet es vor allem auf homo­ loge Ähnlichkeiten hin (Flack und De Waal 2000).350 Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine evolutionäre Vorstufe menschlicher Moralität. Zwar lassen sich das Teilen von Nahrung und damit in Zusammenhang stehende Aggressionen auch mithilfe der Theorie des reziproken Altruismus abbilden. Überhaupt kann angezweifelt werden, ob hier wirklich 350 Homologie bezeichnet eine Ähnlichkeit, die auf den gleichen phylogenetischen Wurzeln beruht. Vgl. S. 113.

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ein Sinn für Fairness oder Gerechtigkeit sichtbar wird (Henrich 2004; Bräuer et al. 2006). Allerdings scheint die grob umrissene Gesamtbefundlage insgesamt genau jene naturhistorischen Kontinuitäten zu belegen, welche aus Sicht der Theorien des indirekten und kompetitiven Altruismus zu erwarten wären (Kaplan und Gurven 2005; vgl. Voland 2013: 73). Dem komplexen Gerechtigkeitssinn von Menschen muss wohl evolutionär eine weniger komplexe Form vorausgegangen sein; und die bei Primaten umfänglich dokumentierte kognitive Kapazität, den Wert von unterschiedlichen Objekten gegeneinander abwägen zu können und zu erkennen, wenn man selbst gegenüber anderen „zu kurz kommt“, wird man wohl als eine solche Vorform menschlicher Aversion gegen Ungleichbehandlung betrachten können (Brosnan et al. 2005).351 Spezifisch menschlich: Kollaboration und die Fähigkeit zur geteilten Intentionalität Offenbar basiert die Fähigkeit, soziale Kontrolle über Reputation und Strafe aufzubauen, auf einer psychologischen Ausstattung, über die zumindest in ihren Grundzügen auch andere Primaten verfügen. Zweifellos unterscheidet sich menschliche Kooperation jedoch selbst von der unserer engsten Verwandten, den Schimpansen. Jedenfalls ist Sozialkapital in jener elaborierten Form, von der Bourdieu, Coleman und Putnam sprechen, bei Primaten so nicht zu beobachten. Gerade das mag manchen gegenüber der bisher entwickelten, besonders die homologen Ähnlichkeiten und funktionalen Äquivalenzen zwischen Spezies in den Blick nehmenden Argumentation kritisch stimmen. Es wird deshalb nützlich sein, an dieser Stelle die Befundlage zu den wichtigsten Unterschieden im Kooperationsverhalten von Menschen und Schimpansen sowie deren kognitive Grundlagen zumindest kursorisch in den Blick zu nehmen. So wird deutlich werden, dass eine evolutionär-anthropologische Perspektive auch und gerade angesichts der Besonderheit menschlicher Prosozialität nicht nur nützlich, sondern unerlässlich ist. In vergleichenden Experimentalstudien zwischen menschlichen Kleinkindern und Schimpansen hat sich gezeigt, dass die Unterschiede gerade jene Bereiche betreffen, die für Sozialkapitalbildung wichtig sind (Tomasello und Vaish 2013; Wyman und Tomasello 2009). Menschen neigen viel stärker als Schimpansen dazu, anderen Menschen handelnd bei der Zielerreichung zu assistieren, ihnen dafür Informationen zukommen zu lassen und Dinge mit ihnen zu teilen (Tomasello

351 Siehe dazu mit weiteren Literaturhinweisen Silk (2009: 121).

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2010b).352 Genau darum geht es bei Sozialkapital: Ressourcen zur Zielerreichung, die aus sozialen Beziehungen mobilisiert werden können – vor allem eben Informationen, Hilfestellungen und materielle Ressourcen. Wie bei den Schimpansen hängt handlungsbasiertes Helfen unter anderem davon ab, wie vergangenes Verhalten des Gegenübers bewertet wird (Dunfield und Kuhlmeier 2010; Vaish et al. 2010). Soziale Reputation spielt dabei jedoch bei menschlichen Kindern eine wesentlich größere Rolle (Engelmann et al. 2012, 2013). Solches Helfen geschieht offenbar aus einer intrinsischen Motivation heraus; die Kinder tun es ohne Aufforderung durch den Hilfsbedürftigen oder die Eltern (Hepach et al. 2012; Svetlova et al. 2010; Warneken und Tomasello 2006, 2007). Auch scheint dieser Handlungsimpuls gerade nicht durch Belohnung und Strafe erlernt worden zu sein. Werden die Kinder nämlich erst motiviert und gelobt und unterbleibt solcher Zuspruch dann in weiteren Wiederholungen des Experiments, neigen sie weniger dazu, die helfende Tätigkeit auszuführen als in Szenarien, in denen sie von Anfang an nicht in ihrem Verhalten bestärkt werden (Hepach et al. 2012; Warneken und Tomasello 2008). Zwar haben Lern- und Sozialisationsprozesse also tatsächlich durchaus Einfluss auf prosoziale Handlungsentscheidungen, jedoch wird mit ihnen nicht einfach eine „leere Tafel“ beschrieben. Vielmehr werden bestehende Belohnungssysteme durch externe Stimuli verändert. Der zentrale Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen scheint allerdings in der Fähigkeit zu bestehen, eine Wir-Intentionalität zu entwickeln, also Dingen und Handlungen gemeinsam Sinn verleihen und sich auf gemeinsame Ziele einigen zu können (Tomasello 2010b: 51 ff.). Solche geteilte Intentionalität ermöglicht die zielgerichtete Koordination von Handlungen – und nicht zuletzt die Einigung auf geltende Normen. Damit hängt einesteils das Teilen von Informationen zusammen – in seiner einfachsten Form mithilfe von einfachen Zeigegesten, die schon für 12monatige Kinder verständlich sind, von Schimpansen aber untereinander nicht benutzt und begriffen werden (Liszkowski et al. 2004, 2006).353 Auch bei Verhalten in Bezug auf das Teilen von Ressourcen unterscheiden sich Menschen und Schimpansen. Erstens haben Kleinkinder eine wesentlich größere Bereitschaft, Futter und andere Dinge überhaupt mit anderen zu teilen, als dies bei Primaten zu beobachten ist (Jaeggi und Gurven 2013). Und zweitens achten sie viel mehr als Schimpansen darauf, materielle Ressource dann fair aufzuteilen, wenn 352 Dass für all die in den folgenden Absätzen dokumentierten Fähigkeiten eine Theory of Mind notwendig ist, versteht sich von selbst. Sie ist für Menschen samt ihrer entwicklungspsychologischen Dimension sehr gut erforscht. Siehe dazu komplex einführend Workman und Reader (2010: 128 ff.). 353 Aber auch Sprache und nicht zuletzt die besondere Anatomie unserer Augen, welche die Blickrichtungen erkennbar macht, ermöglichen das Teilen von Informationen und Intentionen in einer Weise, die in der übrigen Natur beispiellos ist (Tomasello 2010a, 2010b).

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sie durch gemeinsame kollaborative Unternehmungen erlangt wurden. In Experimentalstudien tun dies – ganz im Unterschied zu Schimpansen – sogar jene Kinder, welche durch gerechte Verteilung benachteiligt werden (Hamann et al. 2011; Schmidt und Sommerville 2011; Warneken et al. 2011). Im Vergleich zu Primaten sind Menschen also überaus kooperativ. Erst die besonderen Fähigkeiten und Motivationen zum Helfen, Informieren und Teilen liefern die kognitive Basis für die Nutzung von Sozialkapital im für Menschen typischen Umfang. Allerdings bestehen in all diesen Bereichen zwischen Schimpansen und Menschen letztlich nur graduelle Unterschiede (Tomasello 2010b: 35). Wie auch der letzte Abschnitt vor Augen geführt hat, führt eine evolutionär pfadabhängige Verbindung von einschlägigen psychologischen Mechanismen bei Menschen zurück zu denen unserer engsten Verwandten. Zudem zeigen sich viele der menschlichen Spezifika schon bei Klein- und Kleinstkindern, sind also nicht einfach erlernt oder internalisiert, sondern angeboren. In den geschilderten vergleichenden Experimenten wird jedenfalls viel Mühe darauf verwendet, die alternative Erklärung ausschließen zu können, dass der „von Kindern gezeigte Altruismus das Ergebnis von kultureller Prägung, elterlichem Einfluss oder irgendeiner anderen Art von Sozialisierung ist“ (Tomasello 2010b: 36). Auch spezifisch menschliche psychologische Mechanismen lassen sich folglich mithilfe empirischer Forschung auf nicht-kulturelle Ursachen zurückführen.354 Indirekte Reziprozität bei Menschen: Befunde der Verhaltensökonomik Gerechtigkeitsempfinden und andere soziale Handlungsmotivationen scheinen also zwar schon etwas sehr Menschliches zu sein. Sie lassen sich aber wenigstens bis zu den Primaten zurückverfolgen. Dies gilt es im Gedächtnis zu behalten, wenn im Folgenden die Dynamiken in genuin menschlichen Netzwerken indirekter Reziprozität in den Blick genommen werden. Wie sich die genannten Fähigkeiten in der Interaktion von Menschen zu psychosozialen Mechanismen ergänzen, die der gemeinsamen und kollektiven Zielerreichung dienen und mithin Sozialkapital sind, wird von der Verhaltensökonomik (‚behavioral economics‘) erforscht. Sie untersucht das Verhalten von Menschen in Experimentalsituationen, die spieltheoretische Dilemmata kooperativen sowie kollektiven Handelns abbilden – und liefern damit Befunde zu in der Sozialkapitalforschung wichtigen theoretischen Modellen. Hier besteht also be-

354 Siehe zu alldem im Kontext der Erörterung der Evolution von sozialer Kohäsion und kollektivem Sozialkapital ausführlich S. 353 ff.

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reits eine – in Zukunft freilich auszubauende – Schnittstelle zur Sozialkapitaltheorie, um deren Erschließung sich übrigens die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom in besonderer Weise verdient gemacht hat (vgl. Ahn und Ostrom 2008; Janssen und Ostrom 2006; Ostrom 1998, 1999; Ostrom und Walker 2005).355 Obwohl in der Verhaltensökonomik in der Regel nicht mit Interspeziesvergleichen gearbeitet wird, machen auch ihre Befunde deutlich, dass menschliche Handlungsmotivationen ihre Wurzel in der oben behandelten Primatensozialität haben und deshalb vor dem Hintergrund ihrer naturhistorischen Entstehungsgeschichte interpretiert werden müssen. Das sogenannte „Ultimatumspiel“ gewährt Einblicke in ein menschliches Gerechtigkeitsempfinden, das nicht mit dem Menschenbild des Homo oeconomicus in Einklang zu bringen ist (Gintis et al. 2009: 608 f.; vgl. Voland 2013: 75). An diesem spieltheoretischen Experiment nehmen zwei „Spieler“ teil. Der Versuchsleiter bietet den Spielern einen Geldbetrag an. Spieler A soll entscheiden, in welchem Verhältnis diese Summe zwischen den beiden Spielern aufgeteilt werden soll. Spieler B hat dann die Wahl, dieses Angebot anzunehmen oder auszuschlagen. Im ersten Fall erfolgt die Aufteilung wie von A vorgeschlagen; im zweiten Fall gehen beide leer aus. B macht also nur dann keinen Nettogewinn, wenn A die komplette Summe für sich behalten möchte. Allerdings erleidet B in diesem Fall auch keinen Verlust. Es gibt für Spieler B folglich keine rationalen Gründe, gleich welches Angebot von A auszuschlagen. Trotzdem haben Versuche mit Studierenden auf der ganzen Welt immer wieder Befunde generiert, die aus Rational-Choice-Perspektive nicht erklärbar sind. Menschen neigen dazu, Angebote unterhalb einer Beteiligung von 30 Prozent auszuschlagen; und der Modalwert der vorgeschlagenen Aufteilung liegt regelmäßig bei ca. 50 Prozent (Camerer und Thaler 1995; Güth und Tietz 1990; Roth et al. 1991). Dabei zeigt sich durchaus große interkulturelle Varianz, insbesondere wenn die Experimente auch mit Angehörigen von indigenen Völkern durchgeführt werden (Henrich et al. 2001, 2004). Diese Varianz lässt sich zu einem Gutteil auf Unterschiede einesteils in der lokalen Ökonomie (Grad der Kooperation bei der Warenproduktion; Grad der Marktförmigkeit von Arbeits- und Konsumverhältnissen) und andernteils in kulturellen Deutungsroutinen (etwa zum Konzept des Eigentums) zurückführen. Der grundlegende Befund bleibt aber robust: Der überwiegende Anteil der Probanden in der Position von Spieler B schadet über alle Kulturen hinweg systematisch seinem ökonomischen Eigeninteresse, indem 355 Ostrom hat nicht nur in den zitierten Texten immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Sozialkapital- und überhaupt Sozialforscher nicht nur mit den Befundenen evolutionärer Spieltheorie und experimenteller Ökonomik befassen sollten, sondern auch mit jenen der evolutionären Humanwissenschaften.

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er als unfair angesehene Angebote ausschlägt und so Spieler A unter Inkaufnahme eigener finanzieller Nachteile bestraft. Menschen betätigen sich also tatsächlich im altruistischen, zumindest jedenfalls ökonomisch uneigennützigen Bestrafen. Sie nehmen Netto-Einbußen in Kauf, um das Abweichen von einer Gerechtigkeitsnorm zu sanktionieren. Mit direkter Reziprozität ist solches Verhalten nicht zu erklären, schon gar nicht mit Tausch oder Mutualismus. Damit kommen unter den bisher verfügbaren Theorien nur Handicap-Altruismus und indirekte Reziprozität als Erklärungsansätze infrage. Jedenfalls zeigt sich in solchem nicht-rationalen Sanktionieren von Normverstößen ein Verhalten, das die Herstellung und Sicherung von kollektiven Gütern begünstigt. Über jenen schwebt ja – spieltheoretisch betrachtet – stets das Damoklesschwert des Allmendeproblems, hinter welchem wiederum das Gefangenendilemma steckt: Rationale Akteure werden Kollektivgüter übernutzen und gefährden, weil sie versuchen, von diesen Gütern zu profitieren, ohne sich an deren Bereitstellung oder Aufrechterhaltung zu beteiligen. Um dieses Problem zu überwinden, braucht es Sozialkapital – so zumindest Coleman und ihm folgend Putnam. Was aber bedeutet dieses ökonomische Modell angesichts echter Menschen mit ihrem irrationalen Fairnessinstinkt ? Die Mechanismen hinter der Herstellung und Aufrechterhaltung von Kollektivgütern werden in sogenannten Public-Goods-Spielen untersucht – und zwar von experimentellen Ökonomen (Fehr und Gächter 2000, 2002; Gächter und Fehr 1999), Sozialpsychologen, Biologen und Politikwissenschaftler (siehe etwa Milinski et al. 2006; Ostrom et al. 1992; Yamagishi 1986). Public-Goods-Spiele werden typischerweise computergestützt, unter pseudonymisierten Bedingungen und mit vorher transparent gemachten Regeln durchgeführt. Gespielt wird dabei um echtes Geld. Pro Runde sollen die Spieler jeweils einen vorgegebenen Betrag in die Gemeinschaftskasse einzahlen. Dies geschieht verdeckt, sodass die Möglichkeit besteht, keinen oder nur einen geringeren Betrag einzuzahlen. Der zusammengetragene Gesamtbetrag wird sodann von der Bank verdoppelt und zu gleichen Teilen auf alle Mitspieler der Runde aufgeteilt.356 In dieser Dividende liegt das öffentliche Gut: Das gemeinsam Investierte vermehrt sich, und alle pro356 Zur Verdeutlichung: Bei zehn Spielern und einem Einsatz von jeweils 2 Euro kommen im besten Falle 20 Euro zusammen, die von der Bank auf 40 Euro verdoppelt und auf alle zehn Spieler aufgeteilt werden. Jeder Spieler erhält also 4 Euro zurück und hat so seinen Einsatz verdoppelt – zumindest im Falle perfekter Kooperation. Entscheidet sich ein Spieler für das Trittbrettfahren und zahlt nichts in die Gemeinschaftskasse, so kommen noch 18 Euro zusammen. Die Bank verdoppelt auf 36 Euro und schüttet zu gleichen Teilen aus. Für den Trittbrettfahrer sind die erhaltenen 3,60 Euro Reingewinn, den die betrogenen Kooperierenden nun mitfinanzieren müssen. Sie profitieren also insgesamt viel weniger vom erzeugten öffentlichen Gut als der Defekteur (3,60 vs. 1,60).

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fitieren davon. Und weil keiner der Spieler von der Ausschüttung ausgeschlossen werden kann, müssen die Kooperationswilligen den Gewinn eventueller Defekteure mitfinanzieren. In einer Abwandlung des Public-Goods-Spiels wird das Geld nicht an die Spieler ausbezahlt, sondern stattdessen in Aussicht gestellt, es für Umweltschutzkampagnen oder andere gemeinnützige Aktivitäten auszugeben. Es geht dann also um ein öffentliches Gut im engeren Sinne (Milinski et al. 2006; Rockenbach und Milinski 2006). Solche Public-Goods-Experimentalstudien bilden Kooperationsdilemmata treffend ab, wie sie in der sozialen Realität dauernd auftreten: etwa in Bezug auf das Bezahlen von Steuern, das Sauberhalten öffentlicher Plätze oder zivilgesellschaftliches Engagement. Ganz folgerichtig ist in ihnen regelmäßig die Tragödie der Allmende zu besichtigen, der Verfall öffentlicher Güter: Anders als von der Rational-Choice-Theorie vorhergesagt zeigen die Teilnehmer zu Beginn noch hohe Kooperationsbereitschaft, die aber schon innerhalb weniger Runden fast völlig zusammenbricht. Recht schnell merken nämlich einzelne Spieler, wie viel effektiver es ist, den eigenen Beitrag zur gemeinsamen Dividende nicht zu leisten. Daraufhin verweigern aber auch immer mehr der Gutwilligen ihre Einzahlung. Spätestens wenn die verbliebenen Einzahler wegen zu vieler Trittbrettfahrer nicht einmal mehr ihren Einsatz wiederbekommen, geht die Einzahlungsbereitschaft schließlich gegen Null. Es entsteht also eine kooperative Abwärtsspirale (Fehr und Schmidt 1999; Ostrom et al. 1994; Rockenbach und Milinski 2006). Durch die Einführung von Möglichkeiten zur Bestrafung von Defekteuren lässt sich diese Dynamik entscheidend beeinflussen. Bietet man den Spielern die Möglichkeit des altruistischen Bestrafens (durch Kauf von Sanktionen gegen Trittbrettfahrer),357 machen die Spieler davon auch Gebrauch; und in der Folge verstetigt sich die Kooperation auf einem höheren Niveau (Fehr und Gächter 2000, 2002; Gürerk et al. 2006; Rockenbach und Milinski 2006). Wird den Probanden zudem die Wahl zwischen verschiedenen Spielrunden mit unterschiedlichen Regelkonstellationen gelassen, so sind jene ohne Bestrafungsmöglichkeit anfangs durchaus nicht unbeliebt. Nach einer Weile aber wechseln die Spieler in jene Runden, in denen die Vorauswirkung von sanktionierenden Institutionen für mehr Erwartungssicherheit sorgt (Gürerk et al. 2006). Auch die Ermöglichung von Reputationsaufbau kann die Effizienz bei der Herstellung öffentlicher Güter in diesen Spielen erheblich verbessern (Milinski et al. 2002; Rockenbach und Milinski 2006; Semmann et al. 2005). Dazu werden 357 So kann es etwa möglich sein, zum Preis von 1 Euro zu veranlassen, dass einem anderen Spieler 3 Euro weggenommen werden. Da sich die Spieler nicht kennen und nur die Pseudonyme (sowie in dieser Kondition auch ihr Einzahlungsverhalten) sehen, können Effekte interpersoneller Beziehungen ausgeschlossen werden (Rockenbach und Milinski 2006: 719).

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zusätzliche Spielsituationen zwischen die eigentlichen Runden geschaltet, in denen jeweils ein Spieler A entscheidet, ob er für einen anderen Spieler B einen Betrag von seinem Konto hergeben will, den jener dann von der Bank verdreifacht erhält. Dazu sieht A einen Image-Score von B, also dessen Kooperationsbilanz im gesamten bisherigen Spiel. Spieler A kann zudem zwar in derselben Runde auch Empfänger sein, aber niemals von Spieler B. Diese Zwischenrunden simulieren Szenarien indirekter Reziprozität.358 Indirekte Reziprozität ereignet sich demnach in Gruppen von Menschen unter genau den von der Theorie vorhergesagten Bedingungen: Möglichkeiten des Reputationserwerbs und drohende Strafen sorgen dafür, dass Menschen sich auch gegenüber einer Gruppe prosozial verhalten, ohne auf direkte Gegenseitigkeit setzen zu können. Die „Institutionen“ des Image-Scores und des teuren Bestrafungsmechanismus interagieren dabei mit evolutionären Weiterentwicklungen von kognitiven Fähigkeiten, die offenbar schon bei Primaten als psychologische Anpassungen an das Leben in sozialen und kooperativen Gruppen entstanden sind. Kombiniert man die Einsichten aus der Primatenforschung mit jenen der Verhaltensökonomik, dann liegt ferner nahe, worin der evolutionäre Vorteil solcher Gruppen gelegen hat: in der Produktion kollektiver Güter. Diese entstanden aber – anders als das Coleman vermutete – nicht als Nebenprodukt individueller Rationalität. Vielmehr erhöhte es wohl die evolutionäre Fitness jedes Einzelnen, solche Güter auf Dauer zu stellen und mithin das damit fast zwangsläufig einhergehende Trittbrettfahrertum zu unterbinden. Deshalb dürfte ein Selektionsdruck für hohe Sensibilität gegenüber sozialem Prestige und für eine Bereitschaft zum auch uneigennützigen Strafen bestanden haben. Genetisches Eigeninteresse konnte so zu Generosität führen – getragen von kulturellen Innovationen, die in Interaktion mit evolvierten psychologischen Mechanismen solche konstruktiven psychosozialen Prozessketten zu stabilisieren halfen.359 Zu diesen Mechanismen gehört eine grundlegende Neigung zur Fairness, zur Vermeidung von Verteilungsungerechtigkeit. An Public-Goods-Spiele gehen Menschen mit Zuversicht auf Kooperation heran; und mit den „richtigen“ (also: zu den mitgebrachten psychologischen Dispositionen passenden) Regeln gelingt ihnen die Herstellung öffentlicher Güter. Unter Inkaufnahme von eigenen Kosten werden dabei Defekteure sanktioniert, obwohl altruistisches Strafen eigent-

358 Der Kooperation begünstigende Effekt dieser Zwischenrunden auf Basis von Image-Scores konnte auch einzeln nachgewiesen werden (Wedekind und Milinski 2000). 359 Solche Wechselwirkungen zwischen psychologischen Mechanismen und sozial konstruierten Strukturen werden ausführlich behandelt, wenn mithilfe der Theorien der Multilevel­ selektion und der Nischenkonstruktion den Wurzeln des Gemeinsinns nachgespürt wird. Siehe dazu S. 300 ff.

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lich dem Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung zum Opfer fallen müsste. Und ebenso wird im Ultimatumspiel auf eigene Gewinne verzichtet, um Betrüger um ihre Beute zu bringen. Orientiert scheint dieses Verhalten an der handlungsleitenden Geltung einer Norm des Musters zu sein: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Diese goldene Regel der Prosozialität resultiert nicht in erster Linie aus Einsicht, auch ist sie nicht einfach ein emergentes Produkt des Interagierens rationaler Egoisten. Sie ist das Ergebnis einer Moralevolution, deren Anfänge bei den Primaten zu besichtigen sind, und manifestiert sich auch bei Menschen schon im Bereich vorbewusster Verhaltenssteuerung (Nowak und Highfield 2011: 56; Pfaff 2007; Vogel 2004; vgl. Wilson 2009: 249).360 Noch pointierter klingt die Interpretation diese Befundlage zur Natur menschlicher Wertvorstellungen: Der kategorische Imperativ hat seine Wurzeln in der Natur des Menschen.361 Zwar müssen sich diese verhaltensökonomischen Experimente der Kritik erwehren, keine soziobiologisch validen Befunde zu generieren (Hagen und Hammerstein 2006; Johnson et al. 2008; Trivers 2004; vgl. Voland 2013: 76 f.): Die Spiele – insbesondere das Ultimatumspiel – simulierten Situationen, die weder für die menschliche Stammesgeschichte noch für das heutige reale Leben typisch seien und trügen implizite ökonomische und biologische Vorannahmen in das Forschungsdesign hinein. Allerdings deutet manches darauf hin, dass die externe Validität solcher spieltheoretischen Experimente höher ist als von diesen Kritikern unterstellt (Franzen und Pointner 2013). Zudem wird kritisiert, dass sich alternative Erklärungen nicht ausschließen ließen. So könne Prosozialität auch auf Prädispositionen für reziproken Altruismus zurückgehen, die sich – sozusagen als Fehlanpassung an die Experimentalsituation – nur in Szenarien indirekter Reziprozität zeigten.362 Angesichts der geschilderten Probleme der Theorie des reziproken Altruismus spricht jedoch wenig dafür, den Erklärungsansatz der indirekten Reziprozität wegen dieser Einwände zu verwerfen.

360 Zu den evolutionären Wurzeln der Moral siehe S. 282 ff. 361 Zwar weist Kant (1785/1986: 45) darauf hin, dass der kategorische Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maximen, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) über die goldene Regel hinausgeht. Schließlich könne mit letzterer auch ein Straftäter gegen seinen Richter argumentieren. Aber es lässt sich schwerlich bestreiten, dass die goldene Regel mit dem kategorischen Imperativ inhaltlich in Verbindung steht. Es ist zudem plausibel anzunehmen, dass die hier geschilderten kognitiven Prädispositionen die intuitive Plausibilität des kategorischen Imperativs – und damit auch seine kulturelle Strahlkraft – erst ermöglichen. Zumindest erscheint Kants Aussage, die goldene Regel sei „nur aus jenem abgeleitet“, biologisch nicht besonders valide. Naturgeschichtlich und kausal dürfte sie ihm vorausgehen. 362 Zu Fehlanpassungen siehe S. 377 f.

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Ohnehin haben wohl mehrere Wege zur Entstehung menschlicher Kooperation geführt. Die verschiedenen Theorien haben ihre Stärken darin, unterschiedliche Aspekte des menschlichen Altruismus zu erklären – und das ist auch ganz konsistent mit der Sichtweise, dass das menschliche Gehirn aus unterschiedlichen kognitiven Modulen besteht, die Lösungen für unterschiedliche adaptive Probleme darstellen.363 Für die handlungstheoretische Fundierung der Sozialkapitaltheorie sind ohnehin vor allem die Einsichten in die kausale Mechanik hinter Kooperation und Gemeinsinn relevant. Der Streit um den genauen kausalen Pfad der Evolution dieser Phänomene kann also bis auf weiteres Sache der Life Sciences bleiben. Prosozialität als teures Signal: Befunde aus dem Feld Die Theorien des kompetitiven Altruismus und der indirekten Reziprozität sind selbst konkurrierende Erklärungen für prosoziales Handeln ohne Gegenseitigkeitserwartungen (Lotem et al. 2003; Smith und Bliege Bird 2005). Von entscheidender Bedeutung in dieser Theorienkonkurrenz ist die Frage, in welchem Zusammenhang Reputation, altruistisches Strafen und die Produktion öffentlicher Güter stehen. In indirekten Reziprozitätsnetzwerken sind Menschen prosozial, um von Kooperationsdividenden gleichsam über Bande profitieren zu können. Im kompetitiven Altruismus sind sie es hingegen, um sich Vorteile in anderen Bereichen sozialen Wettbewerbs zu verschaffen, etwa bei der Partnerwahl. Auch wenn die Befunde der Verhaltensökonomik die Theorie der indirekten Reziprozität stützen, können sie doch über die Handlungsmotive der Personen keine Auskunft geben. Um die in den Experimenten zutage geförderten Phänomene besser verstehen und kontextualisieren zu können, helfen jedoch anthropologische Feldstudien. Altruistisches Strafen in Public-Goods-Spielen scheint von einem Gerechtigkeitssinn motiviert zu sein. Stecken also keine egoistischen Motive dahinter ? In einem ecuadorianischen Gemeinwesen aus Jägern und Pflanzern (Price 2003) und bei einem afrikanischen Buschvolk (Wiessner 2005, 2009) wurde beobachtet, dass sich die Beteiligung an altruistischem Strafen zur Normdurchsetzung positiv auf das soziale Ansehen auswirkt. Folgerichtig steigt die Bereitschaft, sich an solchen Aktivitäten zu beteiligen, wenn jene für andere sichtbar ablaufen, wenn es also ein Publikum für solches „selbstloses“ Sanktionieren, für „moralistisches Bestrafen“ gibt (Kurzban et al. 2007). Zwar widerspricht all das nicht direkt der Theorie der

363 Vgl. S. 92 ff.

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indirekten Reziprozität. Aber es verweist auf einen Zusammenhang zwischen altruistischem Strafen und Reputation, wie ihn die Theorie der teuren Signale voraussagt. Altruismus ist hier Mittel zum Zweck, um das eigene Ansehen aufzubessern (vgl. auch Boyd et al. 2003; Price 2005). Vieles deutet darauf hin, dass Altruismus als teures Signal bei Menschen fungieren kann. So sollten Probanden in einer ungarischen Studie zwischen verschiedenen Arten von Freiwilligenarbeit auswählen – in einer Bedingung anonym, in der anderen vor einem Auditorium (Bereczkei et al. 2010). Zur Wahl standen sieben Optionen, die im Hinblick auf die zu leistenden Investitionen schwankten: von einfachen (also: „billigen“) Arbeiten wie Blutdruckmessen und Spendensammeln bis hin zu anspruchsvollen (also: „teuren“) Tätigkeiten wie der Arbeit mit Obdachlosen oder geistig behinderten Kindern. Während sich in der anonymen Bedingung die meisten Probanden für weniger kostenintensive Tätigkeiten anmeldeten, drehte sich in der öffentlichen Bedingung das Bild herum und die meisten Menschen entschieden sich für die teurere Form des Altruismus. Auch andere Studien zeigen, dass die Tendenz zu altruistischem Verhalten steigt, wenn die Chance besteht, dass es gesehen wird (vgl. Van Vugt et al. 2009: 535): In Begleitung geben Menschen eher Almosen an Bettler als allein (Goldberg 1995). Das Spendenaufkommen steigt, wenn die Spender namentlich bekanntgemacht werden (Harbaugh 1998). Nicht zuletzt ist auch die hohe Kooperationsbereitschaft in Public-Goods-Spielen und anderen sozialen Dilemmasituationen mindestens teilweise von der Sorge um die eigene Reputation in der Bezugsgruppe motiviert (De Cremer und Van Vugt 1999). Nur wenn sich aus Prosozialität aber differentielle Vorteile bei Lösen von adaptiven Problemen (letztlich also: bei der Reproduktion) ergeben, wird solches Handeln den Anforderungen an teures Signalisieren gerecht. Vielerlei empirische Befunde sprechen dafür, dass dem so ist. In Wildbeuterstämmen in Tansania haben besonders angesehene Jäger Aussicht auf jüngere und fruchtbarere Ehefrauen – und dieses Ansehen erwächst einesteils aus dem Jagderfolg und andernteils aus der Bereitschaft, die erjagte Beute zu teilen (Hawkes et al. 2001; vgl. auch Marlowe 2004).364 Zudem haben freigiebige Jäger in Paraguay in schlechten Zeiten bessere Chancen, selbst auf Generosität der anderen Mitglieder des Stammes zählen zu können (Gurven et al. 2000). Einerseits treten hier sicherlich indirekte Reziprozitätseffekte von Altruismus zutage, andererseits aber wird die ultimate Funktion des Anzeigens eigener Vorzüge im sozialen Wettbewerb deutlich. Letztere illustrieren auch Befunde von ei-

364 Vgl. zu den Hintergründen auch Roberts (1998).

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ner dominikanischen Jobbörse: Männer mit hoher altruistischer Reputation hatten bessere Chancen bei der Arbeitssuche (Macfarlan et al. 2012). Zudem zeigen ethnologische Fallstudien in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften (Chagnon 1988, 2013; Hill und Hurtado 1996) ebenso wie vergleichende Untersuchungen in modernen Gesellschaften (Fieder et al. 2005; Fieder und Huber 2007; Nettle und Pollet 2008) einen robusten positiven Zusammenhang von Reputation und Ressourcenausstattung mit dem Reproduktionserfolg insbesondere von Männern (vgl. auch Hopcroft 2006). Dass insbesondere Männer mit Freigiebigkeit versuchen, beim anderen Geschlecht Eindruck zu machen, ist ohnehin ein offenes Geheimnis – es konnte aber auch empirisch nachgewiesen werden (vgl. Van Vugt et al. 2009: 535). Auf Crowdfunding-Seiten investierten Männer besonders viel in die Projekte attraktiver Frauen und neigten dazu, hohe Gebote anderer Männer öffentlich sichtbar zu überbieten (Raihani und Smith 2015). Es gibt also deutliche Hinweise auf eine Verbindung von Prosozialität und sexueller Selektion (Böhm und Regner 2013).365 Altruismus funktioniert demnach als teures Signal. Prosozial wird (zumindest: auch) gehandelt, um sich komparative Vorteile in anderen Bereichen des Lebens zu verschaffen: auf dem Paarungsmarkt, bei der Verortung in sozialen Hierarchien – und überhaupt beim Erlangen einer sozialen Reputation. So erlangtes Ansehen kann dann wieder „kapitalisiert“ werden, indem die daraus resultierende erhöhte Kooperationsbereitschaft anderer Personen als Zielerreichungsressource eingesetzt wird. Hier treten kausale Mechanismen zutage, die von jenen analytisch zu unterscheiden sind, welche hinter nepotistischem und dyadischem Sozialkapital stecken. Es zeigt sich, wie sehr das Streben nach sozialem Ansehen an unsere Natur rückgebundenen ist. Reputation wird nicht einfach aus rationalen Gründen maximiert. Vielmehr scheint dahinter ein tiefliegender Antrieb zu stehen. Wie tief, das ist eine empirische Frage, die es als nächstes zu klären gilt. Vorbewusste Verhaltenssteuerung: Sorge um den guten Ruf Die Furcht vor Reputationsverlust und damit einhergehenden Sanktionen stabilisiert Kooperation – so argumentiert mancher Sozialforscher. In Sozialkapitaltheorien gilt dabei die Verbreitung von sozialen Informationen als wichtiger Katalysator dieser Stabilisierungsleistung sowie der davon begünstigten individuellen und kollektiven Zielerreichungskapazität. Bourdieu konzeptualisiert Sozialkapital

365 Zur sexuellen Selektion siehe die Fußnote 303 auf S. 223, ferner S. 508 f.

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im Wesentlichen als eine Resultante wechselseitigen Kennens und Anerkennens in sozialen Gruppen; und für Coleman ist die Handlungsfähigkeit von Individuen und Kollektiven zu einem Gutteil eine Funktion sozialer Kontrolle. Diese wiederum verdankt sich vor allem der Tatsache, dass sich in sozialen Beziehungsnetzwerken Informationen über die Vertrauenswürdigkeit und Regeltreue von Personen verbreiten – und die Vorauswirkung dieses Fakts auf selbige disziplinierend wirkt. So weit, so plausibel. Die für den Fortgang der Argumentation zentrale Frage ist nun, wie tief in den Bereich des Vorbewussten diese Prozesse hineinreichen. Am Fall von Nepotismus und direkter Reziprozität dürfte deutlich geworden sein, dass vermeintlich rein soziale Prozesse auf evolvierten psychologischen Mechanismen fußen, die ihre Funktionslogik prägen sowie ihren Möglichkeitsraum begrenzen. Es gilt deshalb zu ergründen, auf welchen vorbewussten Informationsverarbeitungsprozessen die Entfaltung sozialer Kontrolle aufsetzt. Schon aufgezeigt wurde, dass auch Primaten über Ansätze der dafür nötigen kognitiven Fähigkeiten verfügen. Jetzt gilt es, spezifisch menschliche Netzwerkdynamiken in den Blick zu nehmen und so die hier zu schlagende argumentative Brücke gleichsam von der anderen Seite her fertigzustellen. Zuerst ist festzuhalten, dass Klatsch und Tratsch – der Austausch sozialer Informationen über Dritte – soziale Handlungsentscheidungen stärker beeinflussen, als dies behavioristisch-ökonomistischen Annahmen zur Natur des Menschen erwarten lassen würden. Noch nicht sonderlich überraschend ist, dass Probanden in Public-Goods-Spielen – erstens – bereitwillig Informationen über das Kooperationsverhalten Dritter verbreiteten, diese Informationen – zweitens – in eigene Kooperationsentscheidungen einfließen ließen und – drittens – die Sorge vor Ansehensverlust und Ausgrenzung tatsächlich zu erhöhter Kooperationsbereitschaft anhielt (Feinberg et al. 2014). Dahinter steckt jedoch augenscheinlich mehr als ein ökonomisches Kosten-Nutzen-Kalkül. Bei Entscheidungen über die Gewinnaufteilungen in Diktatorspielen legen Menschen mehr Wert auf ihre Reputation beim Mitspieler als auf ihren persönlichen Gewinn; und wenn in Aussicht steht, dass das Gegenüber mit anderen Personen über diese Entscheidung sprechen wird, behalten Probanden sogar noch weniger für sich selbst (Piazza et al. 2011).366 Auch werden soziale Beziehungen gezielt genutzt, um die Plausibilität von sozialen Informationen einzuschätzen (Hess und Hagen 2006). 366 Das Diktatorspiel ist eine Variante des Ultimatumspiels (Forsythe et al. 1994; Kahneman et al. 1986; vgl. auch Camerer und Thaler 1995; Franzen und Pointner 2013). Spieler A entscheidet hier allein über die Aufteilung einer von der Bank zugewiesenen Summe zwischen Spieler B und ihm. Spieler B hat keine Veto-Option. Es wäre also von einem „rationalen“ Spieler A das kleinstmögliche Angebot zu erwarten. Zum Ultimatumspiel siehe S. 271 f.

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Offenkundig spielt Sprache bei diesen Prozessen der Bildung und Verbreitung von Reputation eine zentrale Rolle. Tratsch ist sogar der mit Abstand häufigste Grund, von Sprache Gebrauch zu machen (Dunbar et al. 1997). In dieser sozialen Funktion von Sprache könnte sogar einer der evolutionären Anfangsvorteile von Sprache gelegen haben: die Möglichkeit, sich differenziert über den kooperativen Wert Dritter austauschen zu können (Dunbar 2004). Mit dieser Einsicht über die Verbindung von Sprache und sozialer Bewertung dringt die Spurensuche nach den Grundlagen von menschlicher Reputation und sozialer Kontrolle erneut weit in die Stammesgeschichte des Menschen vor. Sprache war schließlich nicht immer schon da; vielmehr mussten Sprachfähigkeit und Sprachgebrauch erst einmal evolvieren.367 Solche Entstehungsprozesse müssen stets auf bestehende anatomische und psychologische Strukturen aufsetzen, weil in der Evolution Neues nur auf Basis des Vorhandenen entstehen kann. Zu den Vorbedingungen der Kommunikation über soziale Reputation gehören zweifellos die – schon im Zusammenhang mit direkter Reziprozität behandelten – kognitiven Module zur Erkennung von Betrügern und Altruisten.368 Aus diesen vorbewussten Bewertungsmechanismen kann aber erst dann soziale Kontrolle erwachsen, wenn ihre handlungsleitende Wirkung von den Beobachteten bei Entscheidungen über Kooperation bzw. Defektion antizipiert wird. Instruktive Einblicke in solche vorsprachlichen und subrationalen Antizipationseffekte liefert ein Feldexperiment an der Universität von Newcastle (Bateson et al. 2006): Untersucht wurde das Trittbrettfahren in einer Teeküche, in der sich die Beschäftigten des Instituts für Psychologie für einen festgelegten und in eine „Kasse des Vertrauens“ zu entrichtenden Betrag aus einem Vorrat an Tee und Kaffee bedienen konnten.369 Die Teeküche war so eingerichtet und platziert, dass sich die Mitarbeiter in ihr unbeobachtet für oder gegen die Zahlung entscheiden konnten. Diese Feldsituation bildete das Allmendeproblem nahezu modell367 Die Evolution von Sprachfähigkeit und Sprache ist eines jener großen wissenschaftlichen Rätsel, zu deren Lösung die Life Sciences wichtige Beiträge leisten (Croft 2013; Berwick et al. 2013; Dunbar 1996; Fitch 2010; Lieberman 2006; Pinker 1994, 2011b; Tallerman und Gibson 2012). Weiterführende Informationen hierzu bergen die einschlägigen Kapitel in evolutionspsychologischen Lehrbüchern (Workman und Reader 2010: 263 ff.; Hampton 2010: 145 ff.; Buss 2012: 400 ff.). Tomasello (2010a, 2010b) hat – nicht unbeachtet von Sozialwissenschaftlern (vgl. Habermas 2009; Nungesser 2006) – in diesem Zusammenhang auf die entscheidende Rolle von Zeigegesten und Intersubjektivität in hingewiesen. Siehe dazu S. 268 f. und vor allem S. 346 ff. 368 Siehe S. 245 ff. 369 Dieser Modus war den Mitarbeitern des Instituts bekannt. Er wurde dort schon seit Jahren so praktiziert; ferner hing in der Teeküche gut sichtbar platziert ein Zettel, der ihn erklärte (Bateson et al. 2006: 412).

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haft ab: Die Mitarbeiter trafen eine Entscheidung darüber, ob sie ihren Beitrag zur weiteren Aufrechterhaltung des von ihnen konsumierten Kollektivgutes leisten würden. Der Stimulus des Experiments bestand nun im Motiv eines Posters, das prominent im Raum hing. Wöchentlich wechselten neutrale Blumenmotive mit Bildern von menschlichen Augenpaaren, die in den Raum schauten. In den „Augen-​Wochen“ war die Zahlungsmoral im Schnitt rund doppelt so hoch wie in den „Blumen-Wochen“. Dieser Beobachtereffekt (‚observer effect‘) konnte in vielen Studien repliziert werden:370 Augen-Stimuli sorgen etwa in Diktatorspielen für mehr Freigiebigkeit, und zwar sowohl als Poster (Nettle et al. 2013), als auch am Computer (Haley und Fessler 2005). Bilder von Augenpaaren veranlassen Menschen zu wohltätigen Spenden (Powell et al. 2012; Ekström 2011) und zur Beseitigung ihres Mülls (Bateson et al. 2013, 2015). Ob die Augen-Bilder eine allgemeine Steigerung der Prosozialität bewirken oder „nur“ eine opportunistische Orientierung an den als gültig wahrgenommenen Normen, ist indes noch umstritten (vgl. Bateson et al. 2013; Fathi et al. 2014). Zur zweiten Hypothese passt jedenfalls, dass auf Kinder die Vorstellung einer anwesenden unsichtbaren Person unter sonst unbeobachteten Bedingungen disziplinierend im Hinblick auf die Befolgung von Normen wirkt (Piazza et al. 2011). Das Trittbrettfahrerproblem wird demnach empirisch auf eine Weise einge­ hegt, die mit methodologischen Grundannahmen der Sozialkapitaltheorie weder darstellbar noch erklärbar ist. Die verhaltensregulierenden Mechanismen arbeiten unterhalb bewusster Rationalisierungsprozesse. An der Kosten-Nutzen-Bilanz ändert sich durch die Augen-Stimuli schließlich nicht das Geringste. Offensichtlich bringt schon die unterbewusste Wahrnehmung eines beobachtenden Agenten Menschen dazu, sich so zu verhalten, dass Reputationsverluste bzw. Sanktionen vermieden werden. Die dahinterliegende konditionale Strategie folgt dabei jener Regel, die einesteils für indirekte Reziprozität sowie Handicap-Altruismus grundlegend ist und andernteils hinter den Überlegungen zur sozialen Kontrolle in Sozialkapitaltheorien steckt: „Verhalte dich nicht unkooperativ, wenn du beobachtet wirst!“ (Vulgo: „Lass dich nicht beim Betrügen erwischen!“). Diese Heuristik prozessiert soziale Informationen vorbewusst – und prägt soziales Handeln. Sie produziert dabei keine individuell rationalen Handlungsentscheidungen im Sinne des ökonomischen Paradigmas. Vielmehr generiert sie Verhaltensentscheidungen, die für ein Leben in sozialen Gruppen im Laufe unserer Stammesgeschichte nützlich waren. Sie 370 Der Effekt wird allerdings von anderen Faktoren moderiert: Die Anzahl der anwesenden Personen wirkt sich positiv aus (Ernest-Jones et al. 2011), der Grad der Dunkelheit negativ (Tane und Takezawa 2011).

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sind dies wohl im Großen und Ganzen noch immer, wenn der evolvierte psychologische Mechanismus nicht gerade von Innovationen wie Fotografien in die Irre geleitet wird, auf die er gar nicht angepasst sein kann. In dieser Befundlage deutet sich aber schon ein anderes, für die weitere Analyse wesentliches naturgeschichtliches Phänomen an, nämlich das evolutionäre Wettrüsten von Egoismus und Gemeinsinn. Im Gefangenendilemma ist Betrügen zunächst die einzig rationale Strategie; sie kann aber mithilfe von grundlegender Kooperationsbereitschaft in Kombination mit effektiver Betrügererkennung, Möglichkeiten der Reputationsbildung sowie glaubhaftem Bestrafungspotential überwunden werden. Einerseits ist also zunächst die egoistische Maximierung der eigenen inklusiven Fitness naheliegend – und evolutionär geboten. Andererseits lässt sich diese Fitness durch prosoziales bzw. normenkonformes (also: gemeinsinniges) Handeln durchaus noch steigern, weil Individuen in einer Gruppe mit hohem Kooperationsniveau von größerer Erwartungssicherheit und der dauerhaften Verfügbarkeit öffentlicher Güter profitieren können. Allerdings muss sich eine so gemeinsinnig konfigurierte Gruppe wiederum gegen Schwarzfahrer schützen.371 Schließlich entstehen in ihr Gewinnpotentiale für jene, die Betrügererkennung unterlaufen können, indem sie sich nur unbeobachtet egoistisch verhalten. Die Funktionsweise unseres Gehirns ist Ergebnis und Ausweis dieser evolutionären Dialektik. Der kausale Mechanismus I: Moralische Intuitionen Das Wettrüsten zwischen egoistischen und gemeinsinnigen Verhaltensdispositionen dauert demnach schon sehr lange an. Darauf deuten die bisher referierten Befunde zu den menschlichen psychologischen Mechanismen ebenso hin wie zu deren „Vorformen“ bei den Primaten. Bewusst-rationales Denken scheint ebenso wenig das hauptsächliche oder gar einzige kausale Verbindungsstück zwischen Normen, Reputation, Strafe und sozialer Kontrolle zu sein wie kulturelle Determination. Ohne Frage können Menschen kulturelle Regeln erkennen, ihren Sinn verstehen und in einen situativen Kontext einbetten.372 Ebenso fraglos aber tun 371 Sicher ist eine Diskussion darüber zu führen, ab wann von gemeinsinnigem Verhalten gesprochen werden kann (Gierer 2002; Münkler und Bluhm 2002a). Da hier die (alleinige) handlungsleitende Relevanz von bewussten Handlungsmotivationen grundsätzlich infrage steht, spricht aber vieles dafür, sich zunächst mit einer sparsamen Auffassung des Begriffs zu begnügen. Zu der hier einschlägigen überwölbenden Dynamik des Wettrüstens zwischen Egoismus und Gemeinsinn im Zusammenhang mit Individual- und Gruppenselektion siehe aber vertiefend S. 308. 372 Vgl. dazu S. 358 f.

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sie das im Falle des Observer-Effektes gerade nicht. Was aber sind dann die konkreten Kausalmechanismen, welche die Entscheidungen über Kooperation, über Normenkontrolle und moralische Fragen generieren und bedingen ? Die Antwort darauf gehört zu den ganz zentralen im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Studie, welches die sich tatsächlich ereignenden proximaten Prozesse hinter der Generierung und Verzinsung von Sozialkapital sind. Was motiviert Menschen zur Freigiebigkeit ? Was stabilisiert Verpflichtungs- und Anerkennungsverhältnisse in sozialen Beziehungen ? Auf welche psychologische und letztlich physiologische Basis gründen sich folglich jene Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen, die in Sozialkapital münden – oder eben nicht ? Und ganz zentral: Warum haben manche Normen eine so starke handlungsleitende Wirkung, andere aber nicht ? Diese Fragen lenken den Blick erneut auf moralische Intuitionen, wie sie bei Primaten und anderen Säugetieren in der Form eines Fairnessinstinktes und in Public-Goods-Spielen bei Menschen als Gerechtigkeitssinn zu beobachten sind. Schon diese Befunde deuteten auf in der Natur des Menschen angelegte normative Apriori hin. Dass wir das eine soziale Handeln als gut und das andere als verwerflich empfinden, könnte unserer Reflexionsfähigkeit ebenso vorgelagert sein, wie es die bisher vorgestellten Wahrnehmungsfilter und Entscheidungsalgorithmen offenbar sind.373 Wenn dem so ist, dann liegt darin nicht weniger als der Nukleus einer empirisch-anthropologisch mikrofundierten Handlungstheorie des Sozialkapitals. Die Evolution entscheidungsrelevanter Präferenzordnungen zu analysieren (vgl. McDermott et al. 2008), ermöglicht es zu verstehen, worin der handlungsleitende Wert von sozialer Vernetzung und mithin jene positive Kooperationshaltung gegenüber anderen Menschen liegt, welche das zentrale Element von Sozialkapital ist.374 Im Bereich dieser evolutionären Moralpsychologie wird seit Jahrzehnten interdisziplinär geforscht – und weder Theorien noch Befunde können hier in der eigentlich notwendigen Breite dargestellt werden.375 Es ist aber inzwischen zu 373 Dass die Hypothese einer evolvierten Moralität grundsätzlich plausibel ist, folgt schon aus der Einsicht der Evolutionären Erkenntnistheorie, dass Anpassung ein Prozess des „Erkennens“ überlebens- und reproduktionsrelevanter Umweltinformationen ist (Lorenz 1943, 1973; Riedl 1992; Vollmer 2002). Deshalb erscheinen uns Dinge besonders erstrebenswert, die sich in der Evolution als nützlich herausgestellt haben. Es sei an das Standardbeispiel erinnert: Zucker ist nicht süß; und er stellt ganz sicher auch keinen „Wert an sich“ im philosophischen Sinne dar. Siehe zu letzterem S. 98 f., zur Evolutionären Erkenntnistheorie S. 62 ff. 374 Vgl. dazu grundsätzlich S. 2 f. sowie S. 9 f. 375 Zudem greifen sie weit über den in diesem Kapitel relevanten Bereich hinaus. Aus evolu­ tionspsychologischer Perspektive einführend dazu siehe Workman und Reader (2010: 169 ff., 499 ff.), weiterführende Literaturverweise in das Schrifttum der verschiedenen an dieser

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Lehr- und Handbuchwissen geworden (vgl. Buss 2012: 406 ff.; Hampton 2010: 93 f.; Voland 2013: 223 f.; Workman und Reader 2010: 176 ff.), dass tatsächlich zutrifft, was der Forschungsstand zu nicht-menschlichen Spezies schon hat vermuten lassen: Die menschliche Moralität hat nicht nur nicht-rationale Wurzeln, sie ist dem Bewusstsein sogar weitestgehend vorgelagert (Haidt 2001, 2007; Hauser 2009; Joyce 2007; Mikhail 2007; Verplaetse et al. 2009). Der Vorstellung hier relevanter Befunde sei eine drastische Veranschaulichung aus dem Bereich des nepotistischen Altruismus in der Form eines Dilemmas vorangestellt (Pinker 2002; vgl. Buss 2012: 406 f.): Im Rahmen der Flucht aus einem brennenden Haus ist die Entscheidung zu treffen, entweder einige nicht verwandte Kinder oder das eigene Kind vor den Flammen zu retten. Wie viele fremde Kinder müssten wohl gerettet werden können, damit man das eigene Kind verbrennen lässt ? Wer auf diese Frage eine Antwort sucht, spürt schnell, was mit der Rede von moralischen Intuitionen gemeint ist. Ein deutlicher Hinweis auf das Vorhandensein solcher moralischer Apriori in der Natur des Menschen ist, dass hinter großer kultureller Variabilität von Normengefügen universelle moralische Domänen zutage treten (Haidt 2001, 2007; Haidt und Kesebir 2010). Inhaltlich durchaus unterschiedliche Moralsysteme regeln im Wesentlichen fünf identische Gegenstandsbereiche, denen sich jeweils charakteristische Emotionen sowie evolutionäre Vorteile zuordnen (Haidt und Joseph 2004; vgl. Workman und Reader 2010: 175): 1) Verletzung und Fürsorge: Das Gefühl der Barmherzigkeit motiviert dazu, sich der Herausforderung des Schutzes von schwachen oder verletzlichen Verwandten zu stellen. 2) Fairness und Reziprozität: Emotionen wie Ärger, Schuld und Dankbarkeit helfen bei der Absicherung von Vorteilen aus dyadischer Reziprozität mit NichtVerwandten. 3) Autorität und Respekt: Die Stärke von Empfindungen wie Respekt und Furcht beeinflusst die Stabilität ausgehandelter Hierarchien. 4) Gruppenzugehörigkeit und Loyalität: Zugehörigkeitsgefühle und Stolz auf die eigene Gruppe tragen zur Vergemeinschaftung ebenso bei wie Wut auf Verräter. 5) Reinheit und Heiligkeit: Ekel schützt vor Mikroben und Parasiten.376 Forschung beteiligten Disziplinen (etwa: Evolutionsbiologie, Evolutions- und Sozialpsychologie, Neurowissenschaften, Informatik) sind aber auch den folgenden Absätzen zu entnehmen. 376 Die moralische Intuition der Reinheit wird im Haupttext im Folgenden wegen ihrer vergleichsweise geringeren Relevanz für die Sozialkapitalforschung nicht weiter behandelt. Vgl.

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Die besondere handlungsleitende Rolle von Gefühlen wird im nächsten Abschnitt noch genauer zu betrachten sein. An dieser Stelle ist zunächst nur festzuhalten, dass sie als ein Ausdruck normativer Antworten auf jeweils bereichsspezifische adaptive Probleme verstanden werden können. Sie motivieren zu Verhalten, welches die inklusive Fitness erhöht – oder präziser: in der Vergangenheit im Mittel erhöht hat. Indem etwa Fairnessinstinkte die Implementation von Reziprozitätsnormen befördern, helfen sie, Gefangenendilemmata zu überwinden und mithin den Nutzwert von Kooperation und Reziprozität besser zu erschließen. Viel spricht für eine enge funktionale Kopplung von sozial konstruierten Normengefüge mit solchen mentalen Vorbedingungen.377 Wie sich etwa bei den Pub­ lic-Goods-Spielen gezeigt hat, hängt gelingende Kooperation davon ab, wie sozial konstruierte Normengefüge zu diesen ethischen Dispositionen passen.378 Dass in konkreten Moralsystemen ganz unterschiedliche Dinge als unrein, illoyal oder unfair gelten, schwächt diese Hypothese nicht. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die kulturelle Kontingenz der Anwendung moralischer Intuitionen als ein praktisches Instrument der Anpassung an ganz unterschiedliche (ökologische und soziokulturelle) Umweltbedingungen.379 Unterhalb dieser kontingenten Variabilität arbeitet eine „universelle moralische Grammatik“ (Mikhail 2007; Hauser 2009), eine evolvierte Moralfähigkeit, auf deren Basis konkrete normative Parameter gelernt und angewendet werden können – ganz so, wie das Gehirn eines Kindes auf das Lernen einer Muttersprache vorbereitet ist (vgl. ebd.). Solche angeborenen und bereichsspezifischen moralischen Prinzipien zeigen sich in stets wiederkehrenden Reaktionen von Menschen auf moralische Entscheidungssituationen. Man denke an das Beispiel der aus dem brennenden Haus zu rettenden Kinder, an das Inzesttabu, an Mord, Vergewaltigung und Kindesmissbrauch. Deutlich werden sie auch in Studien, in denen Probanden in moralischen Gedankenexperimenten wie den folgenden (sogenannten Trolley-Problemen) eine Entscheidung treffen sollen (Hauser et al. 2007, 2008; vgl. Workman und Reader 2010: 176 ff.): Denise rast in einem außer Kontrolle geratenen Zug auf eine Weiche zu, hinter welcher auf dem aktuellen Gleis fünf Personen stehen, auf dem abzweigenden Nebengleis aber nur eine. Denise kann die Weiche betätigen und eine Person töten oder es sein

aber zur Rolle von Ekel und pathogenem Stress für gesellschaftliche Kooperationsdynamiken S. 368 und dort vor allem die Fußnote 494. 377 Siehe dazu S. 346 ff. sowie S. 387 ff. 378 Vgl. S. 270 ff. 379 Zur hier einschlägigen Theorie der Nischenkonstruktion siehe S. 318 ff.

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lassen und fünf Personen sterben lassen. Ist es moralisch vertretbar, dass Denise das Gleis wechselt ? Ein führerloser Zug rast auf fünf Personen zu. Auf einer Brücke steht Frank. Die einzige Möglichkeit, den Zug zu stoppen, liegt darin, etwas Schweres auf die Gleise zu werfen. Das einzige schwere Objekt in der Nähe ist ein dicker Mann, der neben ihm steht. Er kann ihn herunterstoßen und ihn so töten – oder er kann es sein lassen und fünf Personen sterben lassen. Ist es moralisch vertretbar, dass Frank den Mann herunterstößt ?

Beide Szenarien sind identisch im Hinblick auf die Anzahl der Optionen und die „Auszahlungsmatrix“. Von 5000 Befragten finden aber 85 Prozent, dass Denise die Weiche umstellen „darf “, während nur 12 Prozent Franks Rettungsaktion moralisch billigen würden (Hauser et al. 2007: 6). Diese Zahlen erweisen sich über Kulturen, Geschlechter und Religionen hinweg als robust. Sie deuten auf universelle moralische Grundorientierungen hin, die rational nicht eindeutig begründbar sind – und im Beispiel wohl damit in Zusammenhang stehen, ob der entstehende Kollateralschaden durch direkte Einwirkung der handelnden Personen verursacht wird (Mann herunterstoßen) oder indirekt zustande kommt (Zug umleiten) (Hauser et al. 2008: 127 ff.). Immer mehr verdichten sich also die Belege für die Hypothese des sozialen Gehirns (Dunbar 1998). Offenkundig werden moralischen Urteile mithilfe von einfachen subrationalen Heuristiken gefällt (Gigerenzer und Gaissmaier 2011), in denen soziale Informationen die logische Struktur des zu lösenden Problems überlagern. Diese Diagnose war hier schon mehrmals zu fällen – besonders augenfällig im Falle der Wason-Selection-Tasks sowie im Zusammenhang mit der Relevanz von Klatsch und Tratsch.380 Das Gehirn ist offenbar ein soziales Organ, dessen Zweck es im Laufe unserer Stammesgeschichte nie war, ganz beliebige Denkoperationen auszuführen. Es stellt eine evolutionäre Anpassung an das Leben in So­ zialverbänden dar und generiert – freilich in Interaktion mit dem Rest des Körpers – genau entlang dieser adaptiven Rationalität soziales Handeln.381

380 Zu den Wason-Tests siehe S. 245 ff., zur Rolle von Klatsch und Tratsch vgl. S. 279. 381 Zum sozialen Gehirn siehe S. 247 sowie S. 344, zum Konzept der adaptiven Rationalität vgl. S. 476 ff.

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Der kausale Mechanismus II: Soziale Emotionen Wenn moralischen Urteile nicht allein auf bewusste Informationsverarbeitung zurückgehen, wie entstehen dann Entscheidungen, die Sozialkapital induzieren (oder eben nicht) ?382 Was also sind die unmittelbaren Handlungsmotivationen für (oder gegen) prosoziales und normenkonformes Verhalten ? Zunächst einige Beobachtungen: Menschen sind enttäuscht, wenn eine erhoffte Gegenleistung ausbleibt. Sie sind stolz und zufrieden, wenn sie Bedürftigen helfen konnten. Sie reagieren verärgert oder wütend, wenn sie Zeuge von Verstößen gegen von ihnen als sinnvoll erachtete Regeln werden. Solche Wut kann zu Vergeltungsmaßnahmen anstacheln, die ihrerseits zu einem Gefühl innerer Befriedigung und Abklingen des Ärgers führen. Nicht zuletzt schämen sich Menschen, wenn sie dabei erwischt werden, wie sie andere hintergehen. Was die evolutionär-anthropologische Forschung zum Verständnis dieser wichtigen Rolle von Emotionen für soziales Handeln beizutragen hat (siehe etwa Fessler und Haley 2003; Haidt 2003; Tooby und Cosmides 2008),383 wurde in der Sozial(kapital)forschung bisher kaum systematisch berücksichtigt. Wieder ist Literatur jedoch zu vielfältig, als dass sie hier vollständig und konzise aufgearbeitet werden könnte. Deshalb soll an ausgewählten Fällen das Wesentliche deutlich gemacht werden – nämlich an den Emotionen des Ärgers und der Scham. Ärger fördert offenbar Verhalten, das andere Menschen dazu bringt, sich an Normen und Absprachen zu halten. Er kann durch Normverletzungen hervorgerufen werden – und zwar besonders dann, wenn jene willentlich begangen wur382 Zur hier einschlägigen theoretischen Argumentation siehe S. 257 f. Um die Frage jedoch umfassend zu beantworten, müsste eigentlich bis auf die Ebene neuronaler Korrelate von mentalen Zuständen und aktivierten Aktionspotentialen herabgestiegen werden (Damasio 2010, 2011; Damasio und Carvalho 2013; Goodenough und Prehn 2004). Es ist aber Aufgabe der Evolutionspsychologen, Soziobiologen und Neurowissenschaftler, externe Konsistenz ihrer Theorien untereinander zu gewährleisten. Für sozialwissenschaftliche Fragestellungen ist es aus forschungspraktischen Gründen oft zweckmäßig, sich vor allem an jenen Nachbardisziplinen zu orientieren, die sich mit unmittelbar angrenzenden Wirklichkeitsschichten befassen. So wird es hier im Wesentlichen auch gehandhabt. Zum evolutionspsychologisch relevanten neurowissenschaftlichen Basiswissen siehe einführend Workman und Reader (2010: 306 ff.). Aber auch Damasio (2010) macht die Relevanz von Emotionen für Handlungsentscheidungen – und folglich auch für Sozialwissenschaftler und Juristen – in anschaulicher Weise deutlich. Übrigens entwickelt sich inzwischen reger Austausch zwischen Neuro- und Sozialwissenschaftlern (siehe exemplarisch Hatemi und McDermott 2011b; Lieberman et al. 2003; McDermott 2004). 383 Siehe überblicksartig einführend Workman und Reader (2010: 318 ff.) sowie Buss (2012: 407 ff.), als Einstieg in für die Sozialkapitalforschung besonders einschlägige aktuelle Debatten ferner Delton und Roberson (2016) oder Al-Shawaf et al. (2016), außerdem mit genuin politikwissenschaftlichem Fokus Petersen et al. (2012).

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den und schädliche Konsequenzen haben (Russell und Giner-Sorolla 2011). Ferner lässt er Gegenmaßnahmen plausibel erscheinen. In einer Umfrage zeigte sich, dass US-Amerikaner den Irak-Krieg umso mehr unterstützten, je ärgerlicher sie auf Saddam Hussein waren (Huddy et al. 2007).384 Solche Rache wird dann auch tatsächlich als süß empfunden: Als Probanden alternative Enden von HollywoodFilmen bewerten sollten, empfanden sie jene am befriedigendsten, in denen den Verursachern von Unrecht selbst Schlechtes widerfuhr (Haidt et al. 2000). Wichtig ist in solchen Zusammenhängen offenbar, dass die Vergeltung klar als Antwort auf die Normverletzung zurechenbar ist (Gollwitzer und Denzler 2009; Gollwitzer et al. 2011). Zudem scheint moralisches Bestrafen von einem Bedürfnis nach positiven moralischen Selbstwertgefühlen motiviert zu sein (Hofmann et al. 2018). Scham und Schuld stellen zu alldem passende Gegenstücke dar, sind sie doch Reaktionen auf die Zurschaustellung eigener Verstöße gegen gesellschaftliche bzw. moralische Regeln (vgl. Haidt 2003: 859 ff.). Ihre Funktion scheint zu sein, den aus solchen Normverletzungen entstehenden Schaden eindämmen zu helfen. Denn einesteils bringen sie ein Individuum dazu, im sozialen Raum vorsichtiger und defensiver zu agieren. Andernteils induziert schon die Antizipation potentiell peinlicher Situation eine innere emotionale Rückmeldung, die davon abhält, solche Situationen erst zu provozieren (Damasio und Carvalho 2013). Die Empfindung der Schuld geht in ihrer Wirkung darüber noch hinaus. Sie ist verbunden mit dem Gefühl, verantwortlich dafür zu sein, anderen Personen einen Schaden zugefügt zu haben – und dafür auch eine Wiedergutmachung leisten zu müssen (Barrett 1995; Lindsay-Hartz et al. 1995). Solche mithilfe von sozialen Emotionen realisierten konditionalen Strategien stellen Mechanismen der verbindlichen Selbstverpflichtung (‚commitment devices‘) dar (Buss 2012: 408). Sie versetzen Individuen in die Lage, sich in einem komplexen sozialen System mit direkten und indirekten Reziprozitätserwartungen und -notwendigkeiten zurechtzufinden. Sie verringern die Gefahr einer Schädigung des Images als verlässliche Kooperationspartner, indem sie dafür sorgen, dass es sich schlecht anfühlt, sich nicht prosozial zu verhalten, Schaden nicht wiedergutzumachen und Betrüger nicht zu bestrafen. Natürlich steht alldem auch ein Repertoire positiver Emotionen gegenüber, das Menschen innere Befriedigung und Belohnung verspüren lässt, wenn sie sich „richtig“ verhalten (Workman und Reader 2010: 320 ff.). 384 Angst wirkte sich hingegen negativ auf die Einstellung zum Krieg aus. Auch Politikwissenschaftler befassen sich inzwischen in evolutionärer Perspektive mit den durchaus unterschiedlichen Effekten negativer Emotionen auf politische Einstellungen und politisches Verhalten (Druckman und McDermott 2008; Petersen 2010).

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Dass es in normativer Hinsicht überaus entscheidungsrelevant ist, wie sich eine soziale Situation anfühlt, zeigen auch neuropsychologische Befunde. Schon der klassische Fall des Phineas Gage zeigt, wie klar Moralisches eine physiologische Ursache hat (Damasio 2010; Damasio et al. 1994). Bei einem Arbeitsunfall war dem Vorarbeiter einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft im Jahr 1848 eine Eisenstange durch den Kopf geschossen. Zwar überlebte er das Unglück, jedoch entwickelte er sich nach dem Unfall von einem zuverlässigen und seriösen Menschen zu einer kindischen und gedankenlosen Person. Solche drastischen Persönlichkeitsveränderungen konnten auch bei ähnlich gelagerten Fällen nachgewiesen und auf den Verlust der Fähigkeit zu bestimmten emotionalen Verarbeitungsprozessen zurückgeführt werden (Carlson et al. 2000; Carlson 2012: 366; Damasio 2010). Instruktiv ist etwa das Beispiel eines Hirngeschädigten, der trotz unversehrter Intelligenz nicht mehr in der Lage war, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden (Damasio 2010: 64 ff.): Selbst die Absprachen von Terminen für therapeutische Sitzungen gestalteten sich sehr schwierig, weil der Patient sich in ausschweifenden Monologen nicht dazu in der Lage zeigte, widersprüchliche Fakten gegeneinander zu gewichten. Schlug man ihm jedoch einfach einen Termin vor, nahm er ihn widerstandslos an. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes sein Gefühl für Entscheidungen verloren. Auch neuroanatomische Argumente sprechen für die Wichtigkeit von Empfindungen für die gesamte menschliche Er-Lebenswelt:385 Emotionen werden hauptsächlich im Limbischen System prozessiert; und die in Cortex und Neocortex residierenden höheren Hirnfunktionen ruhen auf jenem auf. Vernunft und Gefühl stehen sich folglich nicht einfach gleichrangig gegenüber. Vielmehr gehorchen emotionale Reaktionen selbst einer adaptiven Logik, und sie wirken zudem an vermeintlich ganz bewussten Kalkülen mit. Gefühle sind zweifellos ein wesentlicher Bestandteil der Natur des Menschen – und ihre Rolle in Entscheidungsprozessen handlungstheoretisch zentral. Die Wirkungsweise von Emotionen ist dabei für alle Menschen universell (vgl. Capocasa et al. 2016). Ekman und Friesen (1967, 1969, 1971) haben gezeigt, dass die Mitglieder eines isoliert lebenden Stammes in Neuguinea (und später auch zwanzig weitere Gruppen in anderen Ländern) die emotionalen Gesichtsausdrücke westlicher Personen korrekt dechiffrieren konnten. Gleiches gelang „Westlern“ mit deren Gesichtsausdrücken. Aber Emotionen sind nicht nur eine anthropologische Konstante. Ihre Wurzeln lassen sich mindestens bis zu den Primaten zurück385 Mit den neuronalen Korrelaten von Bewusstseinszuständen befasst sich die kognitive Neurowissenschaft (Purves et al. 2012; Ward 2014). Zum Zusammenhang von Evolutionspsychologie und Neurowissenschaft siehe Platek und Shackelford (2009).

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verfolgen. Deren emotionale Gesichtsausdrücke sind den menschlichen homolog ähnlich, basieren also auf den gleichen naturhistorischen Entwicklungspfaden (van Hooff 1972) – und sind deshalb für Menschen durchaus intuitiv verständlich.

4.4.3 Bilanz: Normenbasiertes Sozialkapital und die Macht der Reputation Wie sich gezeigt hat, beruht auch solche Prosozialität auf evolvierten psychologischen Grundlagen, welche über Verwandtenbevorteilung und direkte Reziprozität hinausgeht. Auf den ersten Blick ähneln die evolutionären Erklärungen für Altruismus und Kooperation durchaus den in der Sozialkapitalforschung verbreiteten: Ein Zusammenspiel aus Normen, sozialen Informationen in Netzwerken, Reputation, Belohnung und Strafe führt zur Herstellung von sozialer Kontrolle und öffentlichen Gütern. Der Sozialkapitaltheorie fehlt es aber an handlungstheoretischen Erklärungen dafür, warum und wie genau sich all diese zuträgt.386 Evolutionäre Ansätze schaffen Abhilfe, indem sie über die kausalen Mechanismen und deren ultimate Ursachen aufklären. Die Theorien der indirekten Reziprozität und des Handicap-Altruismus liefern Angaben zu den psychosozialen Prozessen auf der Mikroebene. Mit ihrer Hilfe kann nicht nur erklärt werden, wie soziale Kontrolle und Normenkonformität im Prinzip funktionieren. Sie machen präzise Vorhersagen dazu, auf welche konkreten Stimuli welche psychologischen Mechanismen in welcher Weise und warum reagieren. Und tatsächlich hat die empirische Forschung ein ganzes Bündel solcher konditionalen Strategien im Zusammenhang mit der Erfüllung und Durchsetzung von Kooperationsnormen zutage gefördert. Offenkundig erwachsen aus Anpassungen an Szenarien der indirekten Reziprozität und des sozialen Wettbewerbs manche Prädispositionen, die einen eigenen Typ von Sozialkapital möglich machen. Normenbasiertes Sozialkapital bezeichnet die Gesamtheit aller Ressourcen, die sich von Individuen aufgrund der Tatsache aus Netzwerken mobilisieren lassen, dass in ihnen die Geltung von solchen Normen handlungsleitend wirksam wird, welche Prosozialität fördern. Solches Sozialkapital basiert auf psychologischen Mechanismen, die normengerechtes und -durchsetzendes Handeln bedingen. Das sind vor allem Dispositionen zum altruistischen Strafen und zur normativen Selbstverpflichtung, ihrerseits jeweils beruhend auf sozialen Emotionen. Normenbasiertes Sozialkapital kommt zustande, wenn die sozialen und ökologi-

386 Vgl. S. 184 ff.

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schen Umstände es erlauben, in Netzwerken soziale Reputation aufzubauen (bzw. zu verlieren) und Normabweichungen zuverlässig zu sanktionieren. Es äußert sich dann in einer nicht an konkrete Einzelpersonen gebundenen, also allgemeinen Befolgung von Fairness- und Gegenseitigkeits-Normen. Dass Menschen zur Stabilisierung solcher sozialen Figurationen in der Lage sind, verdankt sich zwei ultimaten Kausalpfaden: Einesteils begünstigten die erheblichen individuellen Dividenden aus Netzwerken indirekter Reziprozität die Evolution von psychologischen Anpassungen an die Erfordernisse solcher kooperativen Netzwerke – insbesondere: relative Erwartungssicherheit hinsichtlich der Geltung der goldenen Regel. Andernteils konnten sich Prosozialität und altruistisches Strafen als teure Signale etablieren, die im sozialen Wettbewerb als Anzeiger für versteckte Qualitäten fungieren können. So konnte prosoziales Verhalten auch bei ausbleibender Kooperationsdividende eine evolutionär stabile Strategie individueller Fitnessmaximierung werden. Für die Generierung von Sozialkapital war und ist solcher kompetitive Altruismus in erster Linie hinsichtlich der Erfüllung und Durchsetzung von Normen relevant. Zwar ließe sich argumentieren, dass kompetitiver Altruismus der Quell einer eigenständigen Form von Sozialkapital ist. Schließlich stellt Unterstützungsneigung auch dann eine Ressource für die Empfänger dar, wenn sie nur als pfauen­ radartiges Handicap fungiert, also schlichte Prahlerei ist. Das angezielte soziale Prestige des Handicap-Altruisten resultiert aber aus nichts anderem als den normativen Erwartungen von Empfängern und Beobachtern. Auch kompetitiv ausgerichteter Handicap-Altruismus funktioniert also – ganz wie auf indirekte Reziprozität ausgerichtete Prosozialität – nur eingebettet in eine von Koopera­ tionsnormen geprägte soziale Netzwerkstruktur. Erst recht ist das der Fall, wenn aus Prestigegründen altruistisches Strafen und moralisches ‚virtue signalling‘ unternommen wird. Weil sich also die Netzwerkeffekte beider Formen der Prosozialität kaum unterscheiden, sind sie wohl bis auf weiteres als Ursachen für denselben Typus von Sozialkapital anzusehen.387 Sehr wohl analytisch zu trennen ist normenbasiertes Sozialkapital hingegen von dyadischem und nepotistischem Sozialkapital. Zwar mag Nepotismus die ursprünglichste Form der Kooperation sein, doch haben die evolvierten psychologischen Mechanismen hinter Handicap-Altruismus und indirekter Reziprozität nichts (mehr) mit Verwandtenbevorzugung zu tun. Auch lässt sich direkte Reziprozität nicht einfach „generalisieren“. Denn zwar sind an ihrer Hervorbringung 387 Darüber hinaus widersprechen sich beide Theorien ohnehin nicht, sondern ziehen teils identische theoretische Folgerungen hinsichtlich der „Natur des Menschen“ bzw. der „Natur des Sozialen“ nach sich, die von empirischen Daten auch bekräftigt werden, wie hier gezeigt wurde.

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zum Teil dieselben funktionalen Module des Gehirns beteiligt (Betrügererkennung, soziale Emotionen usw.). Normenbasiertes Sozialkapital kennzeichnet jedoch, dass prosoziales Handeln vor Publikum ausgeübt und als Publikum bewertet wird. Solches Sozialkapital basiert folglich auf evolvierten Fähigkeiten, sich nicht nur in Dyaden, sondern auch in Netzwerken aus Nichtverwandten sozial angemessen verhalten zu können. Anders als bei direkter Reziprozität steht dahinter die Motivation, öffentlichkeitswirksam den eigenen Wert als Kooperations- und Reproduktionspartner zu kommunizieren. Der entscheidende Unterschied von normenbasiertem Sozialkapital zu reinen Tausch- und Reziprozitätsdividenden besteht in der dynamischen Wechselwirkung von Reputationsstreben, Normen und der Neigung zum altruistischen Strafen. Die disziplinierende Kraft der Reputation motiviert Kooperateure ebenso wie jene, die Defekteure uneigennützig bestrafen. Ihre Wirkung entsteht als emergente Eigenschaft eines Netzwerks von Individuen, die durch Beobachten und das Verbreiten von sozialen Informationen (weniger technisch: Tratschen) gezielt Anhaltspunkte für die Eignung von anderen Individuen als potentielle Koopera­ tions-, Fortpflanzungs- oder sonstige Partner suchen. Zu einem Gutteil geschieht diese vorsprachlich und vorbewusst: vermittelt von angeborenen moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen mit selektiven Informationsfiltern und spezifischen Funktionslogiken. Zwar ist normenbasiertes Sozialkapital also von anderen Formen durchaus klar abgrenzbar, das Konzept fasst aber sehr unterschiedliche Formen menschlicher Prosozialität unter einen Begriff. Weitere Differenzierung entlang spezifischer Motivations- und Handlungstrajektorien wäre deshalb durchaus ein wünschenswertes Ziel zukünftiger Forschung. Sie alle verbindet aber eine für diesen Typus des Sozialkapitals charakteristische psychosoziale Dynamik. Sozialkapital als psychosoziale Prozesskette: Evolvierte Apriori und soziale Institutionen Normenbasiertes Sozialkapital entsteht und entfaltet seine Wirkung prozessual: An der Basis stehen neurologische Prozesse, die psychologische Mechanismen realisieren. Jene nehmen immerfort Umweltinformationen auf und prozessieren sie in Handlungsentscheidungen. So entwickeln Menschen etwa Ärger, wenn sie wiederholt Verstöße gegen Fairnessnormen beobachten. Auf Basis dieser individuellen Prozessketten ereignen sich dann soziale Prozesse, deren Dynamik wiederum Rückwirkungen auf psychologische Prozesse hat. Der verärgerte Beobachter weist den Regelbrecher zurecht, macht also klar, dass sein Handeln beobachtet wird und nicht ohne Folgen bleibt. Die Folge ist dann – ceteris paribus – eine hö-

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here Verbindlichkeit der Fairnessnorm, ihrerseits bewirkt durch Antizipation von Handlungsfolgen. So entsteht ein Mehr an Sozialkapital für jene, die zukünftig beim Erreichen eigener Ziele auf die Regeltreue des (ehemaligen) Defekteurs angewiesen sind. Augenscheinlich ist keiner der Teile dieser Prozesskette selbst Sozialkapital. Weder ist es die Norm, noch ist es jener, der sie (aus welchen Gründen auch immer) durchsetzt, noch ist es jede einzelne Entscheidung des so Disziplinierten für regeltreues Verhalten in der Zukunft. Das Sozialkapital liegt in dem Fakt, dass zukünftige Interaktionspartner mit Kooperation rechnen können werden. Es ist also ein Aktionspotential für gelingende Kooperation, basierend auf psychosozialen Prozessen, die Normen in sozialen Netzwerken praktische Relevanz verleihen. Gemeint ist damit nichts anderes als die in der Sozialkapitalforschung so zentrale Herstellung sozialer Kontrolle. Dank einer evolutionär-anthropologisch fundierten Konzeptualisierung von normenbasiertem Sozialkapital bleibt diese nicht länger „some poorly understood process“ (Coleman 1994: 21). Die Herkunft von dergestalt durchgesetzten Normen lässt sich mit diesem handlungstheoretischen Instrumentarium sachgerechter verorten als bisher. Normensysteme gelten in den Sozialwissenschaften meist als rein kulturelle Artefakte. So werden Normen und Werte üblicherweise als die kognitive Komponente der kulturellen Dimension von Sozialkapital angesehen.388 Tatsächlich aber setzen sie auf evolvierten normativen Apriori auf. Jene haben gemeinsame Wurzeln mit den sozialen Emotionen heutiger Primaten. In der Stammesgeschichte der menschlichen Spezies entwickelten sie sich aber weiter. Es bildeten sich komplexe soziale Emotionen und moralische Intuitionen heraus, welche die vielfältigen und widersprüchlichen adaptiven Probleme des Lebens in sozialen Gruppen besonders gut zu bewältigen halfen – insbesondere etwa: Vorteile von Kooperation vs. Gefahr von Ausbeutung, Vorteile des Trittbrettfahrens vs. Bestrafung und soziale Ächtung usw. Der menschliche Organismus – insbesondere das Gehirn – unterzieht eigenes und fremdes Sozialverhalten einer vorbewussten Bewertung. Die Maßstäbe dieser Bewertung werden nicht einfach nur kulturell erlernt, sondern liegen in ihrer Grundstruktur gleichsam als „universelle moralische Grammatik“ (Mikhail 2007) schon vor – und zwar in Gestalt eines Repertoires flexibler Handlungsstrategien. Jene determinieren unser Verhalten nicht in einer einfach gendeterministischen Weise. Vielmehr reagieren sie regelhaft-konditional auf spezifische Stimuli aus der (auch und vor allem: sozialen) Umwelt. So hängen menschliche Kooperationsentscheidungen schon vorreflexiv davon ab, ob damit zu rechnen ist, dass

388 Vgl. dazu S. 168 f.

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egoistisches Verhalten als amoralisch angesehen wird und zu negativen sozialen Konsequenzen führt. Die „prinzipielle Weltoffenheit des Menschen“ (Gehlen 1940/2009) dient also dazu, Informationen aus der Umwelt selektiv „auszulesen“ und daraus Handlungsentscheidungen abzuleiten. Die Pointe dieser Einsicht wird sich im Folgenden immer wieder als zentral erweisen: Statt einfach beliebige gesellschaftliche Normen zu internalisieren, gehört es zur Natur des Menschen, bestimmte soziale Regeln aktiv und selektiv zu prozessieren – und mithin auch zu strukturieren. Da nämlich Menschen von Natur aus nicht normativ unbestimmt sind, entstehen unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsdichten für den Erfolg verschiedener kultureller Normensysteme. Fukuyama verfolgt demnach die richtige Fährte, wenn er die Bedeutung von kulturhistorisch pfadabhängigen institutionalisierten Normensystemen für Sozialkapital hervorhebt. Dahinter steht aber noch eine naturhistorische Pfadabhängigkeit. Diese ultimate Analyseebene in den Blick zu nehmen, macht auch abseits eines nur strukturfunktionalistischen Theorierahmens begreiflich, warum die Varianz der erfolgreichen Moralsysteme in der menschlichen Geschichte nicht vollkommen kontingent ist. Normengefüge müssen an die Natur des Menschen andocken – zumindest, wenn sie auf Dauer stabil sein sollen.389 „Die Moralfähigkeit […] gehört als evolutionäre Angepasstheit zur Natur des Menschen. Und Moralfähigkeit produziert unter Nutzbarmachung kultureller Information gelebte Moral – genauso wie Sprachfähigkeit […] Sprache hervorbringt. Folglich kann die Frage nicht mehr lauten, ob Moral ‚angeboren‘ oder ‚erworben‘ sei, sondern die epistemisch zielführendere Frage lautet vielmehr, welche adaptiven Probleme durch welche moralischen Urteile biologisch funktional gelöst werden und mit Hilfe welcher internen emotional-affektiven und kognitiven informationsverarbeitenden Prozesse dies bewerkstelligt wird.“ (Voland 2013: 224 f.)

Eine solche Prozesskette wurde hier für den Fall von Fairnessnormen exemplarisch freigelegt. Die menschliche Aversion gegen unfaire Behandlung, gegen Ungerechtigkeit lässt sich in Ansätzen bis zu den Primaten zurückverfolgen, sie ist folglich keine reine kulturelle Konstruktion. Ins Werk gesetzt wird sie über moralische Intuitionen, die sich dem Individuum als Emotionen mitteilen: Ärger und Aggression auf der Seite des (potentiell) Geschädigten; Scham und Schuld auf 389 Kultur dergestalt als Resultante natürlicher Vorbedingungen zu begreifen, heißt nicht, ihr emergente Eigenschaften und (Abwärts-)Kausalwirkung abzusprechen. Vielmehr wird diese Perspektive der tatsächlichen naturhistorischen Hervorbringung sich übereinander schich­ tender und aufeinander aufbauender Wirklichkeitsebenen viel besser gerecht als die re­ duktionistische Annahme kultureller Determination (vgl. S. 61 ff., S. 212, S. 435 ff. sowie S. 486 ff.).

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der Seite des (potentiell) Schädigenden. Das erste sich stellende jeweils individuelle adaptive Problem war hier wohl naturgeschichtlich das Gefangenendilemma, die Unwahrscheinlichkeit von Kooperation trotz all ihrer Vorzüge aufgrund der strukturellen Ausbeutungsgefahr.390 Später aber ging es um die Möglichkeit der Teilhabe an Netzwerken der indirekten Prosozialität, also um die Fähigkeit, sich kompetent und somit zum eigenen Vorteil in einer sozialen Öffentlichkeit zu bewegen, in der das eigene Verhalten bewertet wird.391 Hier bestanden die adaptiven Probleme dann einerseits in der korrekten Antizipation der normativen Erwartungen des sozialen Umfeldes auf der Individualebene, andererseits freilich in der emergenten Performanz des sich so konstituierenden kollektiven Koopera­ tionsnetzwerks – etwa in Wettbewerbssituationen mit anderen Gruppen.392 Diese Performanz äußerte (und äußert) sich unter anderem in deren Kapazität zur Herstellung und Aufrechterhaltung kollektiver Güter – zentraler Fluchtpunkte der politikwissenschaftlichen Sozialkapitalforschung. Die nachhaltige Hervorbringung solcher kollektiven Zielerreichungsressourcen hat mindestens zwei individualpsychologische Quellen: Einesteils werden sie von Handicap-Altruisten (re-)konstruiert, wenn jene unterstützend agieren oder Normen durchsetzen, um sich zu profilieren und so Wettbewerbsvorteile in anderen Bereichen zu erlangen. Im Falle von indirekter Reziprozität entstehen Kollektivgüter durch das Zusammenwirken von Fairnessinstinkten mit emergenten sozialen Strukturen, wie die Public-Goods-Spiele unter wechselnden strukturellen Bedingungen gezeigt haben: Dort, wo die institutionellen Arrangements zu evolvierten Dispositionen passen, stabilisiert sich die Kooperation bei der Herstellung öffentlicher Güter. Diese Befunde passen gut mit in der Sozialkapitalforschung verbreiteten Annahmen über die Funktionsweise sozialer Kontrolle zusammen. Allerdings zeigt sich, dass Dilemmata kollektiven Handelns ebenso wie deren Überwindung tiefe Spuren in unserer Psyche hinterlassen haben – und dass die methodologischen Grundannahmen der Sozialkapitaltheorie dem nicht Rechnung tragen. Öffentliche Güter entstehen nicht einfach als Nebenprodukt rationalen Handelns, wie das Coleman behauptet. Sie sind vielmehr emergente Kon390 Zum Gefangenendilemma siehe S. 239. 391 Gouldners Annahme einer universellen Reziprozitätsnorm als einem Anfangsmechanismen (‚starting mechanism‘) der Vergemeinschaftung (Gouldner 1960: 176 f.) wird so von einem reinen Postulat zu einer evolutionären Erklärung nicht nur für die umfängliche menschliche Kooperation, sondern auch für die damit in Verbindung stehende Moralität. Vgl. hierzu S. 177 f. 392 Hier stößt die individualselektionistische Perspektive immer stärker an ihre Grenzen, also die Fokussierung auf die inklusive Fitness von einzelnen Organismen. Offenbar ist mindestens für die neuere menschliche Stammesgeschichte auch die Performanz von Gruppen in Rechnung zu stellen. Siehe dazu das folgende Kapitel 4.5.

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sequenz der Interaktionsprozesse von sozialen Gehirnen. Normenbasiertes So­ zialkapital kann nur deshalb als Ressource für die Herstellung öffentlicher Güter dienen, weil menschliche Hirne darauf spezialisiert sind, die Folgen des eigenen Handelns mithilfe eines intuitiv-emotionalen moralischen Frühwarnsystems zu antizipieren – soweit die proximate Analyseebene. Der Nutzwert kollektiver Güter ist selbst wohl aber eine ultimate Ursache für die heutige Struktur der menschlichen Moralität – samt deren Ambivalenz. Die Zugehörigkeit zu „kooperativen Allianzen“ (Buss 2012: 291) und der damit verbundene Zugriff auf Kollektivgüter wurden im Laufe der Stammesgeschichte zu einem immer bedeutenderen individuellen Fitnessfaktor. Einesteils winkte eine hohe kurzfristige Dividende für Trittbrettfahrer, andernteils konnten Gruppen kollektive Güter nur nachhaltig produzieren, wenn sie solches Betrügen nachhaltig unterbanden. Diese konkurrierenden Selektionsdrücke begünstigten die Entstehung einer Flexibilität menschlichen Sozialverhaltens zwischen Egoismus und Gemeinsinn – ein Wettrüsten konditionaler Strategien in kontingenten Um­ welten.393 Die ultimate Perspektive: Handlungstheoretische und konzeptionelle Implikationen Evolutionäres (Zwischen-)Ergebnis dieser Naturgeschichte ist eine konditionale Verhaltensflexibilität auf der Basis evolvierter psychologischer Heuristiken.394 Moralische Skrupel und egozentrische Gelüste werden von Menschen als gleichermaßen real und relevant erlebt, und wie die hier vorgestellten Befunde zeigen, sind sie auch gleichermaßen handlungsleitend. Wofür sich im Einzelfall entschieden wird, hängt in systematischer und angebbarer Weise von Umweltfaktoren ab: von Öffentlichkeit, drohender Strafe, der Relevanz für den eigenen sozialen Status. Das Wissen um die Mechanik solcher Verhaltensflexibilität eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf das Gelingen von Kooperation, sondern eben auch auf das Scheitern der Hervorbringung öffentlicher Güter. Diese kausale Mechanik hinter normenbasiertem Sozialkapital wird von der in Sozialkapitaltheorien gebräuchlichen Dichotomie aus instrumenteller Rationa­ lität auf der einen und konsumatorischen Motivationen als Resultante von Norminternalisierungsprozessen auf der anderen Seite nur ungenügend abgebildet. Erstens ordnet diese Typologie die Quellen von sozialem Verhalten so, als lägen egoistische Verhaltensdispositionen in der Natur des Menschen, altruistische 393 Zu Zielkonflikten in der Evolution siehe S. 109. 394 Siehe dazu S. 94 ff.

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Handlungsmotivationen jedoch „in der Kultur“. Und zweitens sind instrumentelle Handlungsmotivationen als auf das Erreichen von Zielen gerichtet definiert, konsumatorische Handlungen aber als aus sich selbst heraus befriedigend.395 Beide Dimensionierungen des Phänomenbereichs sind aber sachlich nicht gerechtfertigt. Dispositionen für prosoziales und moralisches Handeln gehören ebenso zur menschlichen Natur wie eigennützige Motivationen. Außerdem interagieren Menschen in wesentlich komplexerer Weise mit sozialen Normen, als dass es einfach zu deren „Internalisierung“ käme. Die ultimate Analyseebene gibt zudem den Blick frei auf den instrumentellen Wert auch all jener Antriebe, die andernfalls der psychologischen Residualkategorie der konsumatorischen Motivation zugeordnet blieben. Sich zu schämen oder zu ärgern kann ebenso dem Erreichen von Zielen dienen wie vermeintlich rationales Entscheiden. Mehr noch: In der Naturgeschichte wie in der individuellen Handlungsentscheidung sind solche motivationalen Impulse bewussten Kosten-/Nutzen-Kalkulationen vorgelagert. Nur auf der proximaten Ebene zu argumentieren verstellt den Blick auf die grundsätzliche verhaltenssteuernde Funktion von Empfindungen. Die handlungstheoretisch so zentrale Typologie „konsumatorisch vs. instrumentell“ ist also, so wie sie heute benutzt wird, nicht auf der Höhe des empirischanthropologischen Forschungsstandes. Es gilt, sie unter Berücksichtigung von proximater und ultimater Erklärungsebene neu auszuarbeiten – und damit auch jenes Konzept der rationalen Nutzenmaximierung, welches mit dieser Dichotomisierung von Handlungsmotivationen immunisiert wird. An dieser problematischen Typologie wird noch eine viel grundsätzlichere Schwäche des sozialwissenschaftlichen Rationalitätskonzeptes sichtbar, nämlich die fortdauernde Wirkmacht der Denkfigur des Dualismus von Leib und Seele. Zwar bekennt sich kaum noch jemand zu solchem Cartesianischen Dualismus. Doch die analytische Trennung von Ratio und Emotio ist eben auch in der Sozialkapitalforschung längst nicht überwunden. Allzu häufig ist dort noch die Vorstellung forschungsleitend, Normen würden entweder aus „rationalen“ Gründen befolgt oder internalisiert und dann aus „emotionalen“ Gründen eingehalten werden. Vernunft und Gefühl sind aber keine bei der Kalkulation von Handlungsalternativen getrennt operierenden Systeme (Haidt 2001). Wie am Fall des normenbasierten Sozialkapitals gezeigt wurde, lässt sich diese unangemessene Dichotomisierung mittels einer evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung des Sozialkapitalkonzepts umgehen. Statt nur proximate Anreizstrukturen und Sozialisationsprozesse in die Erklärung von Prosozialität einzubeziehen, rekurriert eine solche Handlungstheorie auf die adaptive Funktionslogik psychologischer Mecha-

395 Siehe S. 158 f. und S. 176 ff.

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nismen. Solche Theorieintegration läuft nicht auf eine Abwendung vom Konzept der Rationalität hinaus, sondern auf dessen Weiterentwicklungen in Richtung einer emotionalen Rationalität (McDermott 2004) bzw. einer adaptiven Rationalität (Haselton et al. 2009).396 In beiden Fällen liegt der Mehrwert für das Verständnis der Kausalstruktur von Handlungsentscheidungen in der Hinzunahme der ultimaten Erklärungsebene. Auch ethnozentrische und normative Verzerrungen in Konzeptualisierungen von Sozialkapital lassen sich auf diese Weise konstruktiv bearbeiten. Wie hier vor Augen geführt wurde, lässt sich das Problem des Ethnozentrismus der Sozialkapitaltheorie letztlich auf das Fehlen einer allgemeinen Theorie der Kooperation zurückführen – und jenes wiederum auf unzulängliche handlungstheoretische Grundlagen.397 Die Prämissen hinter evolutionär-anthropologischen Ansätzen sind ungleich allgemeiner und sparsamer. Die Theorien der indirekten und kompetitiven Reziprozität beschreiben und erklären einen wesentlichen Teil jener empirischen Varianz, welche auch von der Sozialkapitalforschung erforscht wird, ohne dabei aber Begriffe nutzen zu müssen, deren Reichweite nur auf Menschen oder gar auf moderne westliche Gesellschaften beschränkt ist. In den Life Sciences werden menschliche Kooperation und damit verbundene Dilemmata als Teilmengen einer viel größeren Klasse von Phänomenen behandelt. Dennoch – oder gerade deswegen – lassen sich mit ihnen genuin menschliche Erscheinungsformen von Prosozialität für sozialtheoretische Zwecke befriedigend erklären, ohne dabei in die Falle eines Anthropo- oder gar Ethnozentrismus zu geraten. So konzeptualisiert gibt es denn auch kein a priori „gutes“ und „schlechtes“ Sozialkapital, sondern „nur“ eine theoretisch fundierte Erklärung seines Zustandekommens. Zwar lässt sich Sozialkapital auch in evolutionärer Perspektive am besten von seinen Funktionen her verstehen. Doch geht es dabei um die ultimaten Funktionen, also darum, worin der adaptive Mehrwert sozialer Vernetzung in der Evolution unserer Spezies gelegen hat. Weil so klarer wird, wie Sozialkapital proximat zustande kommt und was es folglich ist, muss es nicht mehr von seinen sozialen Folgen ausgehend bestimmt werden. So wird normativ verzerrten Vorfestlegungen auf bestimmte proximate Folgen von Sozialkapital gleichsam als dessen „eigentliche Zwecke“ Vorschub geleistet. Die Bewertung dieser Folgen kann dann von der Beschreibung und Erklärung des Phänomens analytisch gentrennt bleiben. Allerdings kann auch für die normative Analyse bestimmter Erscheinungsformen von Sozialkapital das Wissen um die psychologischen Vorbedingungen von 396 Zum Konzept der adaptiven Rationalität siehe S. 416 sowie S. 479 ff. 397 Vgl. S. 194 ff.

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sozialer Vernetzung und gesellschaftlichen Strukturen nicht ohne Folgen bleiben. Man denke beispielweise an die grundsätzliche Relevanz von moralischen Intuitionen und Gefühlen für das Denken und Handeln. Nicht zuletzt liegt in deren Zurkenntnisnahme emanzipatorisches Potential für die normativen Theoretiker selbst. Vor allem aber werden sich schlechterdings keine Ordnungsvorstellungen dauerhaft mit vertretbarem Aufwand ins Werk setzen lassen, deren konkrete institutionellen Ausformungen nicht mit menschlichen Wahrnehmungs-, Deutungsund Bewertungsmechanismen in irgendeiner Weise positiv rückkoppeln.398 Gerade diesem rekursiven Ineinandergreifen von psychologischen Dispositionen und kulturellen Konstruktionsleistungen wird im Folgenden noch gründlicher nachgegangen. Schon jetzt dürfte anhand der Wechselwirkungen zwischen moralischen Intuitionen und sozialen Institutionen aber konkret klargeworden sein, dass eine methodologisch rigide durchgehaltene Trennung zwischen „Kultur“ und „Natur“ einen Kategorienfehler darstellt, der in der Wirklichkeit keine Entsprechung findet. So sind kulturelle Moralvorstellungen nicht völlig irreduzibel und deshalb auch nicht völlig unabhängig von angeborenen moralischen Prädispositionen. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, sind solche Normensysteme vielmehr vom Menschen konstruierte kulturelle Nischen, komplexe Figurationen auf höheren Wirklichkeitsebenen, deren Baustoffe aber genau jene anthropologischen Grundlagen sind, von denen hier zu berichten war. Abschließend ist festzuhalten, dass die Theorien des kompetitiven Altruismus und der indirekten Reziprozität die empirische Robustheit der Sozialkapitaltheo398 Hier liegt die Schnittstelle zur evolutionären Ethik (Matteo 2004; Mohr 2014; Neumann et al. 1999; Ruse 1986; vgl. Illies 2006: 156 ff.; Rauprich 2004; Schurz 2011: 179 ff.). Wenn das Fällen moralischer Urteile nichts genuin Rationales oder gar Philosophisches ist, sondern zur grundlegenden Ausstattung des Menschen gehört, verschiebt sich die Perspektive auf Werturteile. Zwar folgt daraus längst nicht, dass man ohne Umschweife vom Sein auf das Sollen schließen könnte (vgl. Curry 2006; Teehan und DiCarlo 2004), jedoch ergeben sich zwei bedeutende Konsequenzen: Erstens sind moralische Reflexionen nicht loslösbar von psychologischen Dispositionen (Voland 2004). Denn die Art und Weise, wie Menschen über Moral nachdenken, wird von den evolutionären Grundlagen dieses Reflexionsprozesses kanalisiert. Das betrifft freilich auch normative Forscher. Zweitens verändert das Wissen um normative Apriori in der Natur des Menschen auch die Perspektive auf die Gestaltbarkeit sozialer Ordnung. Schließlich kann von Menschen einesteils nichts (biologisch) Unmögliches verlangt werden, wie etwa nie zu essen oder nur Gutes zu tun (vgl. Illies 2006: 172 ff.). Und andernteils vermittelt die Evolutionstheorie Kenntnisse über ökologische Gesetzmäßigkeiten sowie Grenzen des Wachstums und der Gestaltbarkeit (etwa in Bezug auf Biodiversität, Ressourcenknappheit, Vermehrungsraten, Genetik usw.), die eine Ethik sinnvollerweise zu berücksichtigen hat (vgl. Schurz 1997, 2011: 181 ff.). Das von moralischen Dispositionen und ökologischer Anforderungen limitierte „Sollen-Können“ (Schurz 2011: 181) gehört deshalb zu den unhintergehbaren Vorbedingungen jener „guten Ordnung“, deren Herstellung von jeher Ziel der politischen Philosophie ist (vgl. S. 39).

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rie ebenso wie deren theoretische Konsistenz zu erhöhen helfen. Sie machen verständlich, wie und warum Menschen zu sozialen Tieren werden konnten, die über Verwandtengruppen und kooperative Dyaden hinaus Vorteile aus sozialen Beziehungen ziehen können. Im Wege einer Abkehr von Als-ob-Anthropologien hin zu empirisch robusten Theorien der Evolution von Kooperation lässt sich die Natur des Sozialkapitals auf eine Weise ergründen, die Sozialwissenschaftlern nicht nur viele neue testbare Hypothesen liefert, sondern auch innovative Perspektiven auf methodologische und handlungstheoretische Grundlagen der eigenen Forschung.

4.5 Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion Allen bisher vorgestellten Theorien zur Erklärung von Altruismus und Kooperation ist ihre dezidiert reduktionistische Perspektive gemeinsam: Sie nehmen eine genzentrierte Sicht auf die Evolution des (menschlichen) Sozialverhaltens ein, nach der sich evolutionärer Erfolg in der Währung der inklusiven Fitness bemisst. Ein Phänotyp ist also gut angepasst, wenn es gelingt, viele Kopien der eigenen Gene in die nächste Generation zu bringen. Als adaptiv erweisen sich folglich jene genetisch codierten Merkmale, welche ihre eigene Verbreitung in der Population fördern bzw. gefördert haben.399 Die konkreten Manifestationen solcher genetischen Strategien zur Maximierung des Reproduktionserfolgs sind Individuen und ihr Verhalten. Prämiert (bzw.: bestraft) wird nichts anderes als deren (Nicht-)Angepasstheit an ihre spezifische Umgebung im Hier und Jetzt.400 Dieses theoretische Rahmenwerk macht nicht nur die Analyse von Genfrequenzen in Populationen zu wichtigem Handwerkszeug des Verstehens der Evolution von Kooperation. Es rechtfertigt auch eine methodologisch auf individuelles Handeln gerichtete Forschungsperspektive auf soziale Tatbestände. Aus dieser evolutionären Betrachtungsweise ergeben sich durchaus ambivalente Implikationen für Weberianer und Durkheimianer unter Sozialkapitalforschern.401 Einesteils liefert sie eine theoretische Rechtfertigung für die Position des methodologischen Individualismus – nicht jedoch wohlgemerkt für seine verbreitete Ausformung als Rational-Choice-Ökonomismus. Andernteils hält sie für 399 Siehe dazu grundlegend S. 81 ff. 400 Instruktiv ist hier der Samuel Butler zugeschriebene und von Richard Dawkins aufgegriffene Aphorismus: „A chicken is just an egg’s way of making another egg.“ 401 Sozialwissenschaft in der Tradition Max Werbers betont die vornehmliche theoretische Relevanz von individuellem Handeln und damit der Mikroebene sozialer Wirklichkeit, während nach Émile Durkheim soziale Tatsachen auf der Makroebene mit anderen sozialen Tatsachen erklärt werden können. Siehe dazu S. 45 ff.

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methodologische Kollektivisten nur wenige Antworten darüber bereit, wie soziale Strukturen miteinander wechselwirken und welche kausale Rolle individuelles Handeln dabei spielt. Auch scheint die genzentrierte Sicht auf den Menschen gerade jenen menschlichen Eigenschaften nicht Rechnung zu tragen, welche in den Sozialwissenschaften im Fokus stehen: das Leben in Gemeinwesen und in sozial konstruierten Strukturen. Tatsächlich stand auch hier bei der Befassung mit nepotistischem, dyadischem und normenbasiertem Sozialkapital bisher fast ausschließlich die soziale Mikroebene im Vordergrund. Gerade die theoretische Aussöhnung von Akteur und Struktur, das Studium der Wechselwirkungen von sozialen Konstruktionen und individuellen Handlungen ist ein zentraler Impetus der Sozialkapitalforschung. Bourdieu und Coleman ging es um die Entwicklung eines dritten Weges jenseits von methodologischem Individualismus und Kollektivismus. Bourdieu hat vor Augen geführt, wie privilegierte Gruppen mithilfe von Symbolisierungs- und Institutionalisierungsarbeit (also durch soziale Konstruktionen) ihr Sozialkapital nach außen absichern und so gesellschaftliche Ungleichheiten (re)produzieren. Zudem entwickelte er ein grundlegendes Verständnis davon, wie der individuelle Habitus von sozialen Feldern geformt wird – und jene in der Folge selbst verstetigt. Auch Colemans Sozialtheorie handelt im Kern von der Einbettung individuellen Handelns in soziale Strukturen. Sozialkapital stellt darin ein zentrales theoretisches Bindeglied zwischen Mikround Makroebene dar: Die Individuen bringen durch ihre Interaktionsmuster soziale Netzwerkstrukturen hervor, deren emergente Eigenschaften sich dann wiederum für ihre Mitglieder als „profitabel“ erweisen. Für den in der Politikwissenschaft besonders relevant gewordenen Strang der Sozialkapitalforschung steht die Makro-Perspektive gar im Vordergrund: In zivil­ gesellschaftlichen Strukturen wie Vereinen üben Individuen demokratische Praxen ein und eignen sich so gemeinsinnige Normen und Werte an, so Putnam. Auch Fukuyama interessiert sich vorrangig für den Einfluss von solchem kollektiven Sozialkapital, gerade in der Form von institutionalisierten Normensystemen, auf individuelles Handeln und vor allem auf gesellschaftliche Performanz. Nicht zuletzt basiert die Unterscheidung zwischen bindendem und brückenbildendem Sozialkapital auf der Vorstellung, der Grad der Vernetzung zwischen gesellschaftlichen Segmenten habe Auswirkungen auf die Gesamtperformanz. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, mit der Sozialkapitaltheorie einen gangbaren sozialtheoretischen dritten Weg als Lösung für das hier konkret sichtbar werdende sozialwissenschaftliche Mikro-Makro-Problem einzuschlagen. Der kausale Zusammenhang von Individuen und sozialen Strukturen wurde schlicht noch nicht überzeugend genug modelliert. Gerade die Diskussion um kollektives So­ zialkapital offenbart, dass es deshalb bislang an Antworten auf ganz grundsätzliche Frage mangelt. So ist nicht gut verstanden, wie sich gemeinsinnige Tugenden

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und Werte verbreiten lassen – und wo solche Einstellungen und Vorstellungen überhaupt herrühren. Auch besteht keine Klarheit darüber, was kollektives Sozialkapital überhaupt ist und wie genau es zu besserer sozialer Integration, stärkerem gesellschaftlichen Zusammenhalt und „gutem Regieren“ beitragen kann. Als verantwortlich für diese und die folgenden Anschlussprobleme hat sich herausgestellt, dass eine überzeugende handlungstheoretische Mikrofundierung der Konzeptualisierung von Sozialkapital als kollektiver Ressource fehlt. Weil nämlich in Ermangelung von ausgearbeiteten Alternativen meist zu funktionalistischen Konzeptualisierungen gegriffen wird, fällt es beispielsweise schwer, die offensichtlich ambivalente Rolle von starken Bindekräften für pluralistische Gesellschaften – also: die „dunkle Seite von Sozialkapital“ – theoretisch zu fassen. Daraus resultiert ein deutliches ethnozentrisches und normatives Bias: Weil Sozial­kapital per Definition genau jene zivilgesellschaftlichen Strukturen sind, welche Demokratie besser funktionieren lassen, ist das Konzept außerhalb von westlichen Demokratien nur schwer anwendbar – obwohl doch politisch-kulturelle Faktoren wie die Struktur des vorpolitischen Raumes sowie die Verbreitung von Deutungsroutinen und Normen ganz bestimmt auch dort von Bedeutung sind. Nicht zuletzt wird von methodologischen Individualisten angezweifelt, dass es überhaupt gerechtfertigt ist, Sozialkapital als eine kollektive Ressource für Gemeinschaften und Gesellschaften anzusehen und mithin auf der Makroebene anzusiedeln. Diese Schwächen gehen zu einem erheblichen Teil auf einen Mangel an empirisch-anthropologischem Tiefgang zurück.402 Zwar wird in der Sozialkapitaldiskussion der epistemologischen Einsicht nicht explizit widersprochen, dass Sozialtheorien ganz wesentlich von den ihnen zugrundeliegenden Annahmen über die Natur des Menschen geprägt werden. Die verbreiteten Konzeptionen von Sozialkapital stützen sich aber – freilich mit jeweils spezifischen Akzentuierungen – auf ein anthropologisches Amalgam aus ökonomischem Imperialismus und behavioristischer Lerntheorie, das weder empirischer Prüfung noch methodologischen Anforderungen standhält. Wie sich im Folgenden zeigen wird, kann die theoretische Integration von sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien mit evolutionären Ansätzen auch hier Abhilfe schaffen. Sie eröffnet neue Perspektiven auf die Entstehung von gesellschaftlicher Komplexität und dem Auftreten emergenter sozialer Strukturen. Der Übergang von der sozialen Mikro- zur Makroebene kann nämlich als ein Spezial­ fall der Evolution von Komplexität angesehen werden, bei dem relationales und kollektives Sozialkapital eine entscheidende Rolle spielen.403 402 Siehe S. 189 ff. 403 Großenteils wird es auch im Folgenden um grundlegende Einsichten der evolutionären Humanwissenschaften gehen. Manche in diesem Teilkapitel zu behandelnden Theoriebaustei-

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4.5.1 Theorie: Gemeinsinn, Gruppen und Kultur als konstruierte Nische 4.5.1.1 Das Argument: Altruismus als Ergebnis von Gruppenkonkurrenz Gruppenkonkurrenz ist in der Sozialkapitaltheorie ein wichtiges Thema. James Coleman sieht in der Geschlossenheit von Netzwerken – also letztlich: in Gruppenkohäsion und Abgrenzung nach außen – eine Bedingung dafür, dass Sozialkapital überhaupt positive Effekte zeitigen kann. Für Pierre Bourdieu ist Sozialkapital sogar ganz dezidiert ein Instrument der Gruppenkonkurrenz. Kommunitaristische Argumentationen zielen wiederum darauf ab, mithilfe von „brückenbildendem“ Sozialkapital die zentripetalen Effekte einer allzu harschen Konkurrenz einzelner, von „bindendem“ Sozialkapital getragener Gruppen abzufedern und so gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Unter Sozialwissenschaftlern gilt es also als nachgerade trivial, dass nicht nur Individuen miteinander konkurrieren, sondern auch Gruppen von Menschen – und dass deshalb gruppenbezogene sowie gemeinsinnige Handlungsweisen unter sozialen Konkurrenzbedingungen vorteilhaft sein können. Allerdings ist wenig darüber bekannt, warum das so ist. In evolutionärer Perspektive stellt sich nämlich die grundsätzliche Frage, ob und wie unsere Vorfahren überhaupt so etwas wie gemeinsinnige Verhaltensdispositionen ausbilden konnten. Eine für viele Sozialwissenschaftler unmittelbar plausible Antwort hält die Theorie der Gruppenselektion bereit: Neben der Konkurrenz zwischen Individuen war eben auch der Wettbewerb zwischen Gruppen ein zentraler Evolutionsfaktor in der Evolution der Kooperation. Weil deshalb das individuelle Wohlergehen wenigstens zum Teil von der Performanz der Gruppe abhängt, konnten auf die eigene Gruppe gerichtete und mithin kollektivistische Verhaltensdispositionen die individuelle Fitness erhöhen und sich deshalb evolutionär durchsetzen (Wynne-Edwards 1962). Kurzum: Gemeinsinnige Gruppen waren in der Stammesgeschichte den Egoisten-Gruppen überlegen, weshalb letztere nicht zu unseren Vorfahren gehören. Unter Evolutionsbiologen sorgt diese Sichtweise für heftige Kontroversen. Grund dafür ist, dass der Neodarwinismus, also die populationsgenetisch fundierte darwinische Evolutionstheorie, stets genzentrierte Erklärungen fordert. ne liegen zwar weiter an den Außengrenzen dessen, was als relativ gesichertes Wissen dieser Disziplinen gilt. Jedoch wird nicht von dem abgewichen, was in Lehr- und Handbüchern zumindest als neue und vielversprechende Perspektive behandelt wird. Wo – wie im Fall der Multilevelselektionstheorie – Evolutionswissenschaftler grundlegende Kontroversen austragen, wird das auch so kenntlich gemacht.

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Weil die Evolution aber nur selbstbevorteilende Merkmale und damit egoistische Gene prämieren kann, werden Verhaltensdispositionen in gleich welcher Spezies niemals evolvieren können, die nicht auf das Wohl des Merkmalsträgers selbst und seiner genetischen Verwandten ausgerichtet sind – also: die inklusive Fitness erhöhen.404 Das Aufkommen von echter Aufopferungsbereitschaft für eine soziale Gemeinschaft lässt sich in einem strikt neodarwinischen Bezugsrahmen kaum plausibilisieren. Es werden innerhalb einer Gruppe stets jene Phänotypen im Vorteil sein, die knappe Ressourcen relativ zu anderen effizienter ausbeuten. Wie also sollte sich in der Population ein Merkmal durchsetzen, das seine Träger zu gemeinsinnigem (und somit zurückhaltendem) Ressourcenkonsum oder gar zur Abgabe von Ressourcen veranlasst ? Die „Defekteure“ innerhalb einer Gruppe wären stets die Gewinner dieses Spiels – zumindest solange überhaupt noch Ressourcen da sind. Aus diesen Gründen wurde die Theorie der Gruppenselektion rasch und entschieden zurückgewiesen (vgl. Borrello 2005; Wilson 2009). Mit „Adaptation and Natural Selection“ sorgte George C. Williams (1966) dafür, dass Gruppenselektion nachhaltig als diskreditiert galt – und das, obwohl er sie dort gar nicht kategorisch ausschloss, sondern ihre Wirkung nur als sehr gering einschätzte. Noch vor „Das egoistische Gen“ (Dawkins 1976b) und der genzentrierten Theorie des reziproken Altruismus (Trivers 1971) machte Williams unmissverständlich klar, dass Selektion auf der Ebene von individuellen Phänotypen angreift, und dass deshalb nur solche Gene bevorteilt werden können, die sich auch auf der Ebene von Phänotypen positiv auswirken (Williams 1966: 11). Das Nachdenken über „naive Gruppenselektionstheorien“ (Wilson 2009: 50 f.) blieb in den Life Sciences danach für lange Zeit ein Tabu. Und auch heute steht in nahezu jedem Lehrbuch, dass sie damals zu Recht verworfen wurden (Buss 2012: 14 f.; Price 2011: 87 ff.; Voland 2013: 8; Workman und Reader 2010: 47 ff.; siehe aber Hampton 2010: 83 ff.). Mit der Theorie der Multilevelselektion erlebt die Idee der Selektion durch Gruppenkonkurrenz derzeit wieder eine umstrittene Renaissance (Nowak et al. 2010; Wilson und Hölldobler 2005; Wilson und Sober 1994, 1998; Wilson und Wilson 2007b).405 Wie im Folgenden vor Augen zu führen sein wird, verdichten sich 404 Vgl. dazu S. 211 ff. Schon gar nicht ist zu erwarten, dass Verhalten zum Wohle der Art als Ganzes evolviert. Das ist aber ohnehin eine veraltete Vorstellung von Evolution, die sich mit keinem seriösen evolutionstheoretischen Modell untermauern lässt. Es gibt schlicht keinen plausiblen Grund, warum die Selektion „arterhaltende“ Merkmale bevorteilen sollte – zumal die Abgrenzung von Arten ohnehin eine taxonomische Setzung von Zoologen ist, welche in dieser Klarheit nicht in der Realität existiert. 405 In einem „Kampf der Titanen“ (Gintis 2012) wurde im letzten Jahrzehnt in Nature und großen Wissenschaftsblogs ein engagiert geführter Streit zwischen Vertretern der Multilevel­ selektionstheorie (Nowak et al. 2010, 2011; Wilson 2012) und Verteidigern der Verwandten­

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mehr und mehr die Hinweise darauf, dass die Evolutionstheorie in Zukunft kaum noch am Konzept der Multilevelselektion vorbeikommen wird – mit durchaus erheblichen Folgen für das Verständnis ultimater Kausalgefüge: „If multiselection theory [sic!] has any merit, it will have profound implications for evolutionary social psychology in pointing to group-level adaptations that may have been entirely missed by those focusing on adaptations at the level of the individual organism (e. g., altruism for self-sacrifice for the group, even when the group members are not kin). […] Whether Wilson and Sober or their critics are right about the power and importance of group selection is ultimately an empirical issue. At a minimum, posing questions about group selection might indeed lead to new discoveries in human social psychology […], even if in the long run, group selection turns out to be the ‚weak force‘ that George Williams envisioned.“ (Buss 2012: 409)

Für das Verständnis von Mehrebenenselektion ist die Unterscheidung zwischen Vererbungseinheit und Selektionsziel wichtig. Die Vererbungseinheit, also der Replikator, ist jene Entität, in der die im Vererbungsprozess weitergegebenen Informationen „hinterlegt“ sind. Im Falle der biologischen Evolution sind dies Gene; und das bestreiten – anders als manche naiven Gruppenselektionisten – die Vertreter der Multilevelselektionstheorie in keiner Weise. Das Selektionsziel ist nun eine konkrete Manifestation solcher in Vererbungseinheiten codierten „Bauanleitungen“, also ein genetisch bedingtes phänotypisches Merkmal. Die Selektion greift stets am Selektionsziel an, weil schließlich nicht DNA adaptive Probleme löst, sondern die auf ihrer Basis aufgebauten Phänotypen. Multilevelselektion meint nun, dass Selektionsziele auf unterschiedlichen Organisationsebenen des Lebendigen liegen können – nämlich immer dort, wo eine Konkurrenz um knappe Ressourcen das Angreifen von natürlicher Selektion möglich macht. Die komparativen Vorteile eines Merkmals können sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen zeigen: in der Konkurrenz zwischen Einzellern, Individuen, Familienclans, Gruppen usw. Schon Darwin hatte auf die Möglichkeit dieses Mechanismus hingewiesen:

selektion (Abbot et al. 2011; Boomsma et al. 2011; Herre und Wcislo 2011; Dawkins 2012; Pinker 2012) ausgetragen. Besonders bemerkenswert ist die Rolle von Edward O. Wilson in dieser Diskussion. Der Begründer der modernen Soziobiologie war nämlich die längste Zeit selbst Anhänger individualselektionistischer Ansätze und mithin auch Gegner des Konzepts der Gruppenselektion. Erst in seinen späten Jahren und unter dem Eindruck des lebenslangen Studiums von Ameisenkolonien als Superorganismen ließ er sich vom analytischen Mehrwert der Gruppenselektion überzeugen und gehört seither zu seinen prominentesten Proponenten (vgl. Wilson 2013).

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„It must not be forgotten that although a high standard of morality gives but a slight or no advantage to each individual man and his children over the other men of the same tribe, yet that an increase in the number of well-endowed men and advancement in the standard of morality will certainly give an immense advantage to one tribe over another. There can be no doubt that a tribe including many members who, from possessing in a high degree the spirit of patriotism, fidelity, obedience, courage, and sympathy, were always ready to aid one another, and to sacrifice themselves for the common good, would be victorious over most other tribes; and this would be natural selection.“ (Darwin 1871: 166)

Altruismus und Kooperation können demnach evolvieren, wenn Selektionsdruck auf der Ebene von Gemeinschaften besteht, wenn Gruppen also zu Selektionszielen werden. George Price (1970, 1972) hat den dahinterliegenden Kerngedanken auf eine Formel mit zwei Termen gebracht: Einesteils bemisst sich evolutionärer Erfolg in der Frequenzänderung von Gensequenzen innerhalb einer Population, andernteils in Verschiebungen zwischen Gruppen. Wenn ein Merkmal wie selbstschädigendes prosoziales Verhalten die Performanz der Gruppe im Verhältnis zu anderen verbessert, wird sich das potentiell in einer Überrepräsentation der Nachkommen dieser Gruppe in der nächsten Generation niederschlagen. So kann sich die Häufigkeit eines Merkmals in der Gesamtpopulation erhöhen, selbst wenn es für die Merkmalsträger innerhalb der Gruppe neutral oder sogar nachteilig ist (Wilson und Sober 1994; Wilson und Wilson 2007b). In solchem Wettbewerb mit anderen Gruppen werden dann freilich jene Gemeinschaften besonders erfolgreich sein, in denen es gelingt, egoistische Binnenkonkurrenz und damit verbundene Selektion zuungunsten prosozialer Individuen einzuhegen (Wilson 2010: 89).406 Festzuhalten bleibt also, dass vier Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich Altruismus auf diesem Wege evolutionär durchsetzen kann (Wilson und Sober 1998: 26 f.): 1) Es muss statt nur einer Gruppe eine Population von Gruppen geben, die sich auf irgendeine Art miteinander in Konkurrenz befinden. 2) Diese Gruppen müssen sich Hinblick auf den Anteil an Altruisten unterscheiden. 406 Wohlgemerkt wird hier kein normatives Szenario beschrieben, nach dem gar heutige Gesellschaften eingerichtet werden sollten. Nach wie vor geht es darum zu verstehen, wie sich in der Stammesgeschichte des Menschen jene außergewöhnliche Prosozialität etablieren konnte, welche die Grundlage für die Fähigkeit bildet, Sozialkapital hervorzubringen und zu nutzen. Es geht um evolutionär-anthropologische Fundierung, nicht um sozialdarwinistische Gesellschaftstheorie. Siehe dazu grundlegend S. 104 ff.

Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion 307

3) Es muss einen Zusammenhang zwischen der relativen Häufigkeit von Altruisten in der Gruppe und der Performanz der Gruppe geben. Altruisten-Gruppen müssen fitter sein, mehr Nachwuchs generieren als Gruppen mit einem geringeren Altruisten-Anteil. 4) Zwar müssen die Gruppen voneinander getrennt sein, damit die Egoisten einer Gruppe nicht von den Altruisten der anderen Gruppe profitieren können und sich so der Fitnessvorteil nivelliert. Jedoch muss es in irgendeiner Weise (zum Beispiel durch Migration) zu Austausch zwischen den Gruppen kommen, damit sich altruistische Dispositionen in der gesamten Population ausbreiten können. Dieser Ansatz steht nur scheinbar in Widerspruch zum klassischen Neodarwinismus, in dem die individuellen Phänotypen als zentrale Selektionsziele betrachtet werden und deshalb nur eine evolutionäre Dividende für prosoziales Verhalten denkbar ist, welches die inklusive Fitness erhöht – wie das bei Nepotismus, Reziprozität und teurem Signalisieren der Fall ist. Tatsächlich lässt sich Multilevelselektion deshalb nicht in diesen Rahmen einpassen. Andersherum geht das hingegen schon. So lässt sich die neodarwinische Theorie der Verwandtenselektion als ein Spezialfall der Multilevelselektion auffassen (Wilson 2012): Das Erfolgsrezept des nepotistischen Altruismus besteht darin, dass Individuen die eigene direkte Fitnessbilanz „zum Wohle der Verwandten“ zurückzustellen und so die Gruppe der Verwandten überlegen gegenüber anderen (Verwandten-)Gruppen machen, die solches Verhalten nicht ausgebildet haben. Das Selektionsziel sind hier also Gruppen von genetisch Verwandten, obwohl die Vererbungseinheit das Genom bleibt. Genau dies ist aber – abstrakter formuliert – auch die These der Multilevelselektionstheorie: Egoismus mag innerhalb einer Gruppe eine effiziente Strategie des Trittbrettfahrens sein. Aber kooperative Gruppen sind solchen Gruppen überlegen, die aus Egoisten bestehen. Konkurrieren Gruppen miteinander, so gibt es einen Selektionsdruck, der die Unterdrückung von Egoismus innerhalb der Gruppe prämiert. Verwandtenselektion funktioniert im Grunde genau nach diesem Prinzip. Folgerichtig stellte William Hamilton selbst fest, dass er seine Theorie der inklusiven Fitness widerspruchsfrei mithilfe der Price-Formel ausdrücken konnte. Sie entpuppte sich nicht als jene Alternative zur Gruppenselektionstheorie, als welche sie erdacht worden war, sondern als deren bereichsspezifische Konkretisierung (Hamilton 1975, 1998: 173 f., 331 ff.; vgl. auch Schwartz 2000; Wilson 2009: 52). Mehr noch: Nach David Sloan Wilson und Edward O. Wilson (2007b: 334 f.) lassen sich letztlich alle hier bisher behandelten Erklärungen für Prosozialität in die Theorie der Multilevelselektion übersetzen. Auch dort ist das Selektionsziel nicht notwendigerweise das Individuum. Entscheidend für den adaptiven Wert

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individueller Dispositionen zur Kooperation ist letztlich deren erfolgreiches Zustandekommen einesteils in Dyaden (reziproker Altruismus) sowie andernteils in verdichteten, lokalen Subgruppen der Gesamtpopulation (indirekte Reziprozität, nepotistischer Altruismus, kompetitiver Altruismus). Die Multilevelselektionstheorie bietet also keinen alternativen, sondern einfach einen umfassenderen theoretischen Rahmen an. Das Denken in ihren Kategorien eröffnet neue integrative Perspektiven innerhalb des darwinischen Paradigmas und ist nicht als paradigmatischer Gegenentwurf zum Konzept der Individualselektion miss­ zuverstehen. Eine dieser neuen Perspektiven ist, dass unterschiedliche Selektionsdrücke auf der Individual- und der Gruppenebene Ebene in grundsätzliche Zielkonflikte hinsichtlich der Lösung adaptiver Probleme führen können (Wilson 2013: 73 ff.):407 Gemeinsinnige und egoistische Verhaltensweisen sind keine komplementären, sondern gegenläufige Strategien zur Maximierung individueller Fitness. Zudem mögen kollektivistische Dispositionen zwar potentiell die individuelle Fitness sogar noch stärker erhöhen als individualistische. Damit sie diese Wirkung aber zeitigen können, müssen sie sich zunächst in der Konkurrenz gegen phylogenetisch ältere individualistische Verhaltensdispositionen durchsetzen. Diese aber sind die Grundlage des bisherigen evolutionären Erfolges – und gleichsam Baumaterial und Möglichkeitsbegrenzer für Neues. Gruppenbezogene Eigenschaften wie Ehre, Tugend und Pflicht müssen sich also stets aufs Neue in einem Wettrüsten mit jenen Merkmalen bewähren, welche die natürliche Selektion auf der Ebene der Individuen hervorgebracht haben: Egoismus, Eigennutz, Betrug, Täuschung, Opportunismus. Ganz folgerichtig gibt es „Tugenden“, die in gemeinschaftsbezogenen kulturellen Konstruktionen wie politischen Ideologien und Religionen zur Einhegung individualistischer „Sünden“ in Geltung gebracht und gehalten werden sollen. Innerhalb der Gruppe wird sich (aus welchen Gründen auch immer nicht sanktioniertes) Betrügen, Trittbrettfahren und Regelbrechen stets lohnen; in der Konkurrenz mit anderen Gruppen kann solches Verhalten den entscheidenden Nachteil darstellen (kann gleichsam ein „Dolchstoß“ sein). Es ist daher äußerst unwahrscheinlich, dass eine solche „Überwältigung der individuellen Selektion durch Gruppenselektion“ (Wilson 2013: 73) überhaupt auftritt oder sich gar vollständig vollzieht. Das gilt insbesondere für eine mit schon ziemlich komplexen sozialen Gehirnen ausgestattete Spezies, wie sie unsere Vorfahren schon ausweislich der bisher präsentierten Befunde vor dem Übergang zu vergemeinschafteter oder gar vergesellschafteter Lebensweise waren.

407 Zu solchen adaptiven Zielkonflikten siehe S. 109 f.

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Damit sich gruppenbezogene Attribute dennoch durchsetzen können, sind deshalb aus theoretischer Sicht einige fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten nötig (Wilson 2013: 73 f.; Voland 2013: 84 f.). So brauchen Individuen eine hochentwickelte Theory of Mind, um die Intentionen anderer in der Gruppe schnell und zutreffend erkennen und zu den eigenen Zielen in Beziehung setzen zu können.408 Diese Fähigkeit des „Gedankenlesens“ kann in Verbindung mit Betrügererkennung eingesetzt werden, um deviante Gruppenmitglieder zu bestrafen oder gar auszugrenzen. Nur so haben die Altruisten in einem Jäger-und-Sammler-Stamm überhaupt die Chance, sich gegen Ausbeutung auch innerhalb der Gruppe halbwegs zu schützen. Auch liegt wohl in der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Angehörigen der eigenen Gruppe und Fremden samt einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber den Letzteren eine nicht unerhebliche Bedingung für individuelle gemeinsinnige Prosozialität. Schließlich ist der komparative Vorteil von gruppenbezogenem Altruismus schnell dahin, wenn die Dividende leichtfertig mit Angehörigen anderer, potentiell konkurrierender Stämme geteilt wird. Die zu erwartende Folge sind Eigengruppenbevorzugung und Xenophobie, dem vorgelagert noch die Fähigkeit, sich selbst mit einer Gruppe zu identifizieren (‚Wir‘) und diese als nach außen abgegrenzt zu begreifen (‚die Anderen‘). All das kann aber sein volles Potential auf der Gruppenebene nur entfalten, wenn damit eine Veranlagung zu „parochialem Altruismus“ einhergeht (Choi und Bowles 2007; vgl. García und van den Bergh 2011), also die Fähigkeit zur Investition in die Erreichung gemeinsamer Ziele – eine „Wir-Intentionalität“ (Tomasello 2010b). Viele dieser Phänomene werden auch von individualselektionistischen Theorien erklärt und vorhergesagt. So wird eine Theory of Mind auch nötig, wenn Handicap-Altruisten sich durch teures Bestrafen profilieren wollen und folglich den handlungsleitenden Sinn in den Interaktionen Dritter erkennen können müssen.409 Ferner absorbiert die Theorie der indirekten Reziprozität eine ganze Reihe der hier gemachten Voraussagen. Zwar lässt sie sich als streng individualselektionistische Theorie lesen, weil sie ohne die Annahme von Gruppenkonkurrenz auskommt (siehe etwa Voland 2013: 74). Praktisch werden Theorien der indirekten Reziprozität von ihren Autoren jedoch immer wieder explizit auf Theorien der Gruppenselektion, der kulturellen Evolution und der Gen-Kultur-Evolution bezogen (Nowak und Sigmund 2005: 1295; Gintis et al. 2009: 611 ff.).410 Auch Tomasello knüpft die Vorteile der Wir-Intentionalität explizit an kulturelle Grup408 Siehe dazu S. 258 f. 409 Zum Handicap-Prinzip vgl. S. 259 ff., zum Zusammenhang von teuren Signalen und Theory of Mind S. 265 ff. 410 Im Übrigen zeigen nicht nur die schon vorgestellten Befunde aus Public-Goods-Spielen (Rockenbach und Milinski 2006; Gürerk et al. 2006), sondern auch Modellrechnungen (Gintis

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penselektion (Tomasello 2010b: 78), die ihrerseits wiederum hier noch auszuarbeitende Schnittstellen zur Multilevelselektionstheorie aufweist (Richerson und Boyd 2005: 162). Vor allem aber lässt sich aus neodarwinischen Theorien kein spezifischer Grund dafür ableiten, warum ausgerechnet Kooperation die gegenüber anderen Optionen adaptivste Verhaltensstrategie zumal in größeren Menschengruppen sein sollte (Richerson und Boyd 2009b: 3283). So kann das Handicap-Prinzip im Grunde jedes beliebige Verhalten begünstigen, solange es eben „teuer“ ist. Erst wenn die Perspektive der Zwischengruppenkonkurrenz hinzutritt, wird jenes zusätzliche Selektionskriterium sichtbar, welches gerade prosoziale Ausrichtungen individuellen Handelns gegenüber anderen Möglichkeiten hat bevorteilt sein lassen. Die Multilevelselektionstheorie bietet also eine weitere Erklärung für Prosozialität, die sich von den anderen dadurch unterscheidet, dass sie den Blick auf einen Kausalpfad hin zu echtem Altruismus freigibt. Ihre Quintessenz lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Summe evolutionären Wandels in einer Population ist ein aus zwei Komponenten bestehender Vektor. Eine Komponente ist die aus Zwischengruppenkonkurrenz resultierende Gruppenselektion, die andere die aus dem Wettbewerb von individuellen Phänotypen resultierende Individualselektion. Zwar können Altruisten in einer Gruppe von Egoisten ausgenutzt werden, jedoch können zueinanderfindende Altruisten gemeinsam leicht Gruppen von Egoisten ausstechen (Wilson und Wilson 2007b: 328). Dieses Spannungsfeld ist der Grund für die im Hinblick auf Kooperation so ambivalente Natur des Menschen. Evolution ist ein Prozess auf mehreren Ebenen – und das Ergebnis der Konkurrenz dieser Ebenen sind soziale Gehirne, die sich konditionaler Strategien zwischen Individualismus und Kollektivismus bedienen (Wilson 2013: 198). 4.5.1.2 Die Fundierung: EvoDevo und Systemübergänge Die Theorie der Multilevelselektion ist nicht weniger als eine ultimate Erklärung für die Entstehung von Gemeinsinn und die Integration von Einzelelementen in einen größeren Funktionszusammenhang. Insbesondere für die politikwissenschaftliche Forschung zu kollektivem Sozialkapital ist sie deshalb von unmittelbarer Relevanz. Darum ist es unerlässlich, sie nicht einfach als Postulat hinneh-

2000; Nowak und Sigmund 2005), dass sich indirekte Reziprozität insbesondere unter den Bedingungen von Gruppenkonkurrenz entwickeln kann. Zur Theorie der indirekten Reziprozität siehe S. 254 ff.

Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion 311

men zu müssen, sondern theoretisch im Detail nachvollziehen zu können. Dafür ist jedoch wiederum das Rüstzeug der Komplexitätstheorie sowie der evolutionären Entwicklungsbiologie (‚EvoDevo‘) vonnöten. EvoDevo: Die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie Die EvoDevo-Forschung hat in den letzten Jahrzehnten viel darüber in Erfahrung gebracht, wie biologische Formen aus der Konfrontation von genetischen Konstruktionsplänen mit der Umwelt entstehen, wie also Organismen aufgebaut werden, sich dabei selbst organisieren und verändern.411 Vorläufiges Resultat dieser Forschung ist der Ruf nach einer erweiterten Synthese der Evolutionstheorie (Carroll 2008; Lange 2012; Pigliucci 2007, 2009; Pigliucci und Müller 2010), die paradigmatische Engführungen des Neodarwinismus aufbricht, ohne dabei die Grundfesten der Evolutionstheorie in Zweifel zu ziehen (vgl. Lange 2012: 335 ff.).412 Inzwischen ist klar, dass Gene und Umwelt in wesentlich komplexerer Weise miteinander wechselwirken, als man lange annahm. So liefern Gene oft nur recht grobe Algorithmen für den morphologischen Aufbau eines Organismus, dessen konkrete Ausformung (‚Genexpression‘) entwickelt sich hingegen erst in der Konfrontation mit exogenen Faktoren oder aus funktionslogischen Sachzwängen der sich aufbauenden Strukturen (West-Eberhard 2003). Außerdem ermöglichen Gene nicht selten phänotypische Plastizität, wie etwa im Falle von konditionalen Verhaltensstrategien.413 Auch lehrt die Epigenetik, dass nicht-genetische Einflüsse eine lange unterbewertete Rolle bei der Weitergabe von Informationen von einer Generation in die nächste spielen (Jablonka und Lamb 1995, 2005). So können Gensequenzen samt daraus resultierenden Merkmalsausprägungen per epigenetischer Vererbung aktiviert werden, wie das etwa im Falle der Weitergabe von Informationen von der Mutter an ihr Kind über den gemeinsamen Blutkreislauf im Mutterleib geschieht (Richards 2006).

411 Zu EvoDevo siehe einführend S. 83 ff. 412 Viele der im Folgenden vorzustellenden Aspekte dieser erweiterten Synthese erforderten wegen ihrer biologischen Komplexität ein für die Zwecke dieser Untersuchung zu weites argumentatives Ausgreifen u. a. in molekulargenetische Gefilde. Mit Lange (2012) liegt jedoch ein für Fachfremde durchaus zugänglicher Einstieg in die einschlägige Debatte und ihre historische Genese vor. Einen knappen Überblick bietet ferner Pigliucci (2007). 413 Wie hier schon an vielen Stellen deutlich geworden ist, wird solche konditionale Verhaltensflexibilität wird von evolvierten psychologischen Mechanismen realisiert, mit denen Organismen auf der Basis von Reaktionsnormen in regelhafter Weise flexibel auf spezifischen Umweltinformationen reagieren. Siehe dazu grundlegend S. 94 ff.

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Jablonka und Lamb (2005) weisen noch auf zwei weitere Modi der Vererbung hin: erstens Verhalten, das durch Lernen von Generation zu Generation weitergegeben wird; zweitens Kultur, die sich über (sprachliche) Symbole tradiert. Auf der biologischen Ebene ist jedoch noch wenig über die genauen Mechanismen solcher Informationsweitergabe bekannt. Anders stellt sich das im Falle jener Analyseebenen dar, für welche sich die Sozialwissenschaften zuständig sehen. Dort ist vieles gut erforscht und verstanden. Allerdings steht das Gros der Sozialwissenschaftler einer ernsthaften Applikation des Evolutionskonzepts auf diese Phänomenbereiche nach wie vor skeptisch gegenüber, was mit Fug und Recht „kulturelle Evolution“ (Cavalli-Sforza und Feldman 1981; Henrich und McElreath 2009; Mesoudi 2011; Richerson und Boyd 1985, 2005) genannt werden kann.414 Während in den Sozialwissenschaften also die Nützlichkeit der Evolutionstheorie wohl strukturell unterschätzt wird, scheint auch die neodarwinische Biologie mit der Festlegung auf das Genom als einzige für die Vererbung von Merkmalen verantwortliche Einheit lange in einer analytischen Engführung verharrt zu sein. Auch die Fokussierung auf den blinden Zufall als primärer Triebkraft der Evolution ist verschiedentlich in die Kritik geraten (Beatty 2010; Lorenz 1973: 44; Riedl 1990: 19 ff.; vgl. Lange 2012: 234 ff.). So kann es allem Anschein nach durchaus geschehen, dass von Stressoren aus der Umwelt hervorgerufene phänotypische Merkmale erst nachträglich im Erbgut fixiert werden (Gerd B. Müller 2010; WestEberhard 2003; vgl. Lange 2012: 163 ff.). Das ist – vereinfacht dargestellt – deshalb möglich, weil jene genetischen Mutationen die Aussicht auf den Reproduktionserfolg eines Organismus erhöhen, welche nicht von der (prä)adaptiven phänotypischen Variation weg, sondern zu ihr hin weisen. Wenn also Organismen im Rahmen ihrer phänotypischen Flexibilität über Generationen hinweg stabile Lösungen für Umweltherausforderungen praktizieren, kann das auch die Richtung genetischer Veränderungen so kanalisieren, dass die Problemlösung schlussendlich genetisch assimiliert wird (Pigliucci 2007: 2747). Dieses komplexe Wechselspiel ist nicht zu verwechseln mit einer schlichten Weitergabe erworbener Merkmale im Sinne einer Lamarckistischen Vererbung. Dennoch scheinen Variation und Evolution eben nicht nur von zufälligen Mutationen vorangetrieben zu werden, wie das der Neodarwinismus noch annimmt.415

414 Zu kultureller Evolution siehe die Fußnote 347 auf S. 264; zur kulturellen Informationsweitergabe durch soziales Lernen siehe S. 322 ff. (Theorie) und S. 372 ff. (Empirie). 415 Zum besseren Verständnis dieses auch sozialwissenschaftlich höchst einschlägigen Argu­ ments ist das Konzept der Fitnesslandschaften bzw. Eignungslandschaften nützlich. Es macht anschaulich, wie kontingent-pfadabhängige Gerichtetheit in natur- (und wohl auch kultur)historische Prozesse kommt. Siehe dazu S. 109 f.

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Eine um diese Einsichten erweiterte Evolutionstheorie läuft dennoch nicht auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Biologie hinaus (Pigliucci 2007: 2748). Die erweiterte Synthese ergänzt das bestehende analytische Instrumentarium um eine komplexe Konzeptualisierung der Wechselwirkungen des Genoms mit der Umwelt; im Kern bleibt die Theorieperspektive aber genzentriert. Denn die Möglichkeit von Organismen, über epigenetische Vererbung und phänotypische Plastizität adaptive genetische Variabilität zu erzeugen, ist ihrerseits ein Produkt der natürlichen Selektion (Pigliucci 2008). Und auch nicht-zufällige evolutive Prozesse wie die zuletzt beschriebenen werden ermöglicht von ihrerseits genetisch bedingter phänotypischer Plastizität. Für den weiteren Argumentationsgang bleibt indes festzuhalten, dass Merkmale und Anpassungen wohl auch auf höheren als der genetischen Ebene weitergegeben können. Wie im Rest des Kapitels immer wieder vor Augen zu führen sein wird, liegt hierin nicht weniger als die evolutionsbiologische Mikrofundierung für kontingent-pfadabhängige Prozesse sowohl auf der Ebene der biologischen Evolution als auch auf jener der kulturellen Tradierung. Aber was bringt solche „höheren Ebenen“ hervor, wie entsteht selbstorganisierte Ordnung beim Aufbau biologischer Formen und von Figurationen, die aus mehreren Organismen bestehen ? Das Nachdenken darüber führt zu einem zweiten Theoriebaustein, der für das Verständnis des Zentralarguments der Multilevelselektionstheorie wichtig ist. Sein für die weitere Analyse zentraler Fluchtpunkt ist die Frage, ob das Leben in komplexen Sozialverbänden und sozial konstruierten Strukturen die Evolution von gemeinsinnigen Verhaltensdispositionen vorangetrieben haben könnte. Komplexitätstheorie: Systemübergänge und die Ordnung des Lebendigen Die Komplexitätstheorie eröffnet fruchtbare Perspektiven auf die Hervorbringung höherer Organisationsebenen des Lebendigen. Sie macht in einer abstrakten Beschreibungssprache fassbar, wie aus dem zunächst chaotischen Zusammenspiel von einzelnen Elementen selbstorganisierte emergente Ordnung entstehen kann, die dann auf darunterliegende Ebenen strukturierend einwirkt. Appliziert auf die Evolutionstheorie wurde diese Denkweise in Gestalt des Konzepts der Systemübergänge in der Evolution (‚major transitions‘) (Maynard Smith und Szathmáry 1995; vgl. auch Wilson et al. 2008).416 416 Zum Folgenden siehe grundlegend S. 72 ff. Zur Schnittstelle zwischen Evolutions- und Komplexitätstheorie vgl. ferner Cairney (2012, 2013) und Corning (2008), die auch politikwissenschaftliche Anwendungskontexte einer solchen Theorieperspektive aufzeigen.

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Die grundlegende Einsicht ist die Folgende: Auch wenn Evolution nicht zwangsläufig zu Fortschritt und Höherentwicklung führen muss, ist sie doch eine entscheidende Triebkraft bei der Hervorbringung von Komplexität (Wuketits 1995).417 Immer wieder haben sich in der Naturgeschichte qualitative Übergänge zu komplexeren Formen ereignet. Aus Prokaryoten wurden erst Eukaryoten (Margulis 1971), aus solchen Einzellern dann Mehrzeller und schließlich komplexe Organismen – und vor alledem übrigens aus sich replizierenden Molekülen über mehrere Zwischenschritte Chromosomen, RNA und DNA (Maynard Smith und Szathmáry 1995: 6). Die Tragweite dieser Sichtweise wird schnell mit dem Hinweis darauf klar, dass Menschen selbst Organismen sind, die aus einzelnen Zellen bestehen, welche ihrerseits in Organen in integrierten Funktionszusammenhängen stehen. Und dieser Zustand ist das (Zwischen-)Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, die mit Molekülen in der Ursuppe begann und den beschriebenen Weg von Systemübergängen nahm. Bei manchen Spezies hat sich darüber hinaus allem Anschein nach ein Systemübergang hin zu einer Lebensweise in Schwärmen und Staaten ereignet. Nachdem die theoretischen Grundlagen geklärt worden sind, wird die empirische Frage im Fokus stehen, ob auch Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung bei Menschen solche Systemübergänge sind – und was sich daraus für die Evolution der Prosozialität lernen lässt. Schon an dieser Stelle scheint jedenfalls einleuchtend, dass kollektives Sozialkapital viel damit zu tun haben dürfte. Diese Systemübergänge vollziehen sich entlang von zwei stets gleichen Prinzipien. Erstens geht mit der Entstehung einer neuen Systemebene eine Verän­ derung der Informationsübertragung, -speicherung und -interpretation einher (Jablonka und Lamb 2005; Maynard Smith 2000). Schließlich sind an die Vererbungseinheiten („Replikatoren“) neue Anforderungen gestellt, wenn auf deren Basis nicht nur Zellen, sondern ganze Organismen aufgebaut werden – zuvörderst im Hinblick auf Art und Umfang der zu übermittelnden Informationen. Und offenbar bedienen sich Organismen, wie oben geschildert, tatsächlich nicht nur genetischer, sondern auch epigenetischer Informationsweitergabe. Kultur als spezifisch menschliches System der Informationsweitergabe ist vor diesem Hintergrund in der Evolution nichts Einzigartiges, sondern ein Spezialfall der qualitativen Änderung von Informationsvererbung im Zuge der Evolution von Komplexität.

417 Tatsächlich gibt es einzellige Bakterien, die seit Jahrmillionen unverändert geblieben sind. Evolution darf also nicht als ein Prozess notwendiger Höherentwicklung missverstanden werden. Zu dieser implizit normativen und deshalb irreführenden Vorstellung von Evolution hatte Ernst Haeckel (1874) entscheidend beigetragen.

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Zweitens ergibt sich aus einem Systemübergang dauerhaftes Konfliktpotential zwischen den Anforderungen der höheren Ebene und jenen seiner Komponenten (Queller 1997). Diese Einsicht flankiert das oben im Zusammenhang mit der Multilevelselektion entfaltete Argument: Die Integration zu einer neuen Systemebene bedarf der routinemäßigen Kooperation der vormals individualistisch agierenden Entitäten auf der unteren Ebene. Der menschliche Organismus ist darauf angewiesen, dass einzelne Zellen sich nicht – wie Krebszellen – ungehemmt vermehren, sondern sich den Funktionsanforderungen des gesamten Organismus beugen. Dem stehen aber jene egoistischen Reproduktionsstrategien von Einzeller diametral entgegen, welche ihren bisherigen evolutionären Erfolg maßgeblich bedingt hatten. Komplexe Systeme brauchen folglich Mechanismen, die eine Desintegration von Einzelkomponenten verhindern (Maynard Smith und Szathmáry 1995: 4; Jablonka und Lamb 2005: 237). Damit sich neue Organisationsebenen etablieren können, müssen die Konflikte zwischen den individuellen Komponenten irgendwie befriedet werden. Damit ist nicht impliziert, dass die sie endgültig ausgeräumt werden könnten – im Gegenteil: Wettbewerb und Selektion innerhalb des Systems kann nur unterdrückt, nie aber ganz eliminiert werden (Wilson 2010: 89). Ein Systemübergang kann deshalb niemals als komplett angesehen werden, er bleibt stets von individualistischen Ausbeutungsversuchen und egoistischen Alleingängen gefährdet. Die Herausforderung liegt also darin, ein Level an Kooperation zu erhalten, das die Aufrechterhaltung der integrierten Einheit des Organismus ermöglicht (Queller 1997: 187; vgl. Lange 2012: 285).418 Eine in realen Systemübergängen immer wieder auftretende Lösung dieses Problems der Desintegration liegt im Verlust der unabhängigen Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit der Einzelelemente (Maynard Smith und Szathmáry 1995: 9 ff.). Solche Lösungen zwingen die letzteren nachgerade dazu, ihre egoistischen zugunsten prosozialer Strategien aufzugeben. So hat eine Vielzahl von Spezies die ungeschlechtliche zugunsten der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung aufgegeben und ist auf Kooperation mit Sexualpartnern angewiesen. Andere Formen arbeitsteiliger Spezialisierung sorgen etwa dafür, dass Organismen nur noch „im Ganzen“ existieren und sich fortpflanzen können; es gibt keine Möglichkeiten individualistischer Alleingänge mehr. Einmal vollzogen sind solche Übergänge dann kontingent unumkehrbar: Zwar ist die Zukunft im Grunde offen und bleibt der Systemübergang strukturell gefährdet, doch aufgrund der im Wortsinne „rich-

418 Wer hier eine Reformulierung des ökonomischen Trittbrettfahrerproblems in einer ganz anderen Theoriesprache zu erkennen meint, liegt ganz richtig. Siehe zum Trittbrettfahrerproblem die Fußnote 191 auf S. 135.

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tungsweisenden“ bisherigen Entwicklung ist eine Rückkehr zum Ausgangszustand unwahrscheinlich oder gar unmöglich.419 Der besondere Mehrwert dieser Theorieperspektive liegt darin, die funktionale Äquivalenz von ganz verschiedenartigen Übergängen wie den folgenden vor Augen zu führen: von Einzellern über Mehrzeller hin zu ausdifferenzierten Organismen, Insektenschwärmen sowie möglicherweise bis hin zur menschlichen Lebensweise in Gemeinschaften zu Gesellschaften. All diese Entstehungsprozesse neuer Organisationsebenen des Lebendigen ähneln sich – so die Theorie – im Hinblick auf immanente Konfliktpotentiale sowie deren Unterdrückung, auf die Entstehung neuer Formen der Informationsweitergabe sowie die kontingente Unumkehrbarkeit dieser Entwicklungen. Hieran zeigt sich dreierlei für die weitere Argumentation Relevantes. Erstens ist die Dialektik von Kooperation und Konkurrenz nichts, was erst auf der Ebene von komplexen Organismen, Wirbeltieren, Säugetieren oder Menschen entsteht. Im Widerstreit dieser beiden Strategien liegt vielmehr ein Prinzip, das sich bis an den Anfang der Evolution zurückverfolgen lässt. Und dieses Prinzip beinhaltet den Kerngedanken der Theorie der Multilevelselektion: Zugunsten der Konkurrenzfähigkeit im Wettbewerb der natürlichen Selektion kann es eine adaptive Lösung sein, dass sich Verbünde von Individuen zu Kollektiven integrieren und im Zuge dessen den internen Selektionsdruck senken. Zweitens sind komplexe Systeme mindestens in einer funktionalen Weise selbstähnlich. Zwar entsteht bei Systemübergängen durchaus Neues mit emergenten Eigenschaften. Doch dieses Neue steht Herausforderungen gegenüber, die zu jenen der unteren Ebenen funktional äquivalent sind. Höhere Systemebenen erben Merkmale oder mindestens Konstruktionsbedingungen, die sich ihrerseits aus adaptiven Zielkonflikten auf den unteren Ebenen ergeben haben. Drittens – und ganz zentral – ergibt sich der jeweils ebenenspezifisch konkrete Regelungsbedarf zur Einhegung von internen Konflikten aus den besonderen Konflikt- und Kooperationspotentialen auf der darunterliegenden Ebene: Die interzellulären Konflikte in einem Organismus mögen im Hinblick auf die Lösung von Problemen der Desintegration funktional äquivalent zu denen von Bienen in einem Schwarm und Menschen in Gesellschaften sein. Inhaltlich sind sie aber verschieden, weswegen auch ihre Beilegung andere Lösungen erfordern wird – nämlich solche, die den Charakteristika der jeweiligen Ebene gerecht werden. Welche grundsätzlichen Einsichten hält das Denkwerkzeug von EvoDevo und Komplexitätstheorie nun für sozialwissenschaftliche Fragestellungen insbeson-

419 Gemeint ist also nichts anderes als das, was Sozialwissenschaftler „kontingent pfadabhängig“ nennen. Siehe dazu S. 85 ff., S.  107 ff. sowie die Fußnote 415.

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dere im Zusammenhang mit Sozialkapital bereit ? Einmal mehr ist die Notwendigkeit von Mikrofundierung klargeworden: Ursachen und Wirkungen von Makrophänomenen in menschlichen Gesellschaften sind vor dem Hintergrund der psychologischen Mechanismen und konditionalen Strategien von in ihnen lebenden Menschen zu analysieren. Die Evolution von Komplexität, die Hervorbringung neuer Organisationsebenen des Lebens, die Stammesgeschichte des Menschen und seiner sozialen Gefüge – all das vollzog (und vollzieht) sich als Bottom-up-Prozess. Ebenso aber scheint es plausibel, die kausale Abwärtswirkung einmal entstandener Makrofigurationen auf ihre Elemente für ein in der belebten Natur weit verbreitetes Phänomen zu halten. Wenn sich ein Systemübergang einmal vollzogen hat, dann prägen und strukturieren dessen emergente Eigenschaften die darunterliegenden Schichten. Damit ist der erkenntnistheoretische Rahmen dieser Studie nun vollständig auf den Gegenstand der Evolution von Kooperation hin operationalisiert.420 Die „Ordnung des Lebendigen“ (Riedl 1990) und mithin auch die Struktur des Sozialen muss als Kreislauf rekursiver Wirkungsketten in interdependenten Mehrebenensystemen begriffen werden. Reduktionistische und linear-kausalistische Forschungsansätzen tragen dieser Einsicht nur ungenügend Rechnung. Die von Sozialkapitalforschern unternommene Suche nach einem dritten Weg erweist sich hingegen als perfekt anschlussfähig. Colemans Makro-Mikro-Makro-Modell ist ebenso wie Bourdieus Habitus-Feld-Konzept ein Versuch, die Einbettung individuellen Handelns in soziale Strukturen jenseits von einseitiger Akteurszentrierung sowie strukturalistischem Reduktionismus analytisch zu fassen. Wenn also im Folgenden die Wechselwirkungen von menschlichen Gehirnen mit den von ihnen selbst hervorgebrachten höheren Organisationsebenen des Sozialen genauer in den Blick genommen werden, liegt das ganz auf der Linie dieser Klassiker der Sozialkapitalforschung. Besondere Potentiale birgt diese Perspektive augenscheinlich für die besonders problematischen Makrotheorien des Sozialkapitals. Bei kollektivem Sozialkapital geht es schließlich um einen gesellschaftlichen Aggregatzustand, dessen ontologischer Status derzeit noch ebenso unklar ist wie seine Ursachen und Wirkungen. Das hier in Stellung gebrachte, ebenso allgemeine wie integrative Theorieinstrumentarium verspricht innovative Impulse für die Modellierung der erfolgreichen Integration einzelner Individuen in einen von routinemäßiger Kooperation und verminderter Konflikthaftigkeit getragenen Gesamtzusammenhang. Es stellt ebenso mikrofundierte wie nicht-reduktionistische Antworten auf die Fragen danach in Aussicht, wie aus individuellem Verhalten soziale Strukturen

420 Zu diesen epistemologischen Grundlagen siehe S. 61 ff.

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sowie gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen können, was daraus wiederum für soziales Handeln folgt und unter welchen Bedingungen sich solch ein rekursiver Prozess autokatalytisch verstetigen kann. 4.5.1.3 Die Rolle von Kultur: Nischenkonstruktion und Kulturfähigkeit Mikro-Makro-Wechselwirkungen spielen in der erweiterten Synthese der Evolutionstheorie eine entscheidende Rolle. Nachdem das nun abstrakt klar ist, braucht es für die hier verfolgten Zwecke nützliche Bereichstheorien, die darüber informieren, welche Gestalt diese allgemeinen Prinzipien in konkreten Wirklichkeitsausschnitten annehmen. Von unmittelbarer Relevanz ist etwa die Frage, was auf der Mikroebene genau geschieht, wenn sich Sozialorganisationen und gesellschaftliche Normensysteme pfadabhängig tradieren – wie also Kultur von einer Generation in die nächste weitergegeben wird. Dass es allzu naiv ist, dies als eine einfach gegebene Selbstverständlichkeit abzutun, zeigt schon ein tentativer Blick in das Tierreich. Kultur ist schon ein überaus erklärungsbedürftiges Phänomen, und zwar auf der proximaten wie auf der ultimaten Ebene. Nischenkonstruktion: Kultur als adaptive Zwischenwelt Eine diesbezüglich zentrale Konkretisierung der abstrakten Beschreibungssprache der Multilevelselektionstheorie betrifft das Verhältnis zwischen evolvierenden Systemen und ihrer Umwelt. Im Neodarwinismus wird Umwelt als etwas den Organismen unabhängig Entgegentretendes gedacht. Evolution stellt sich in dieser Sichtweise als ein asymmetrisch ablaufender Prozess dar, in dem sich Organismen der Umwelt anpassen, die Umwelt selbst davon aber unberührt bleibt (Williams 1992; vgl. Voland 2013: 217). In der erweiterten Synthese wird diese Sicht zugunsten eines dynamischen Verständnisses von Gen-Umwelt-Interaktionen aufgegeben. Umwelt kann hier von Organismen erschaffen und mitgestaltet werden.421 Diese verändernde Einwirkung auf die eigene ökologische Nische heißt Nischenkonstruktion (Laland 2009; Odling-Smee 2010). Vögel bauen Nester, Biber errichten Dämme, Spinnen weben Netze – und auch Menschen wirken auf verschiedenste Arten auf ihre Umwelt ein: von Landwirtschaft über Umweltverschmutzung bis hin zu institutionellen Normen- und Sanktionssystemen. Dabei vollziehen solche verhaltensflexiblen Organismen zwar nichts anderes als konditionale genetische Programme, sie bewirken damit jedoch kontingente Ver421 Siehe dazu grundlegend S. 83 ff.

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änderungen der Umwelt, die ihrerseits zu Selektionsfaktoren werden können, indem sie evolutionäre Anpassungsdrücke abmildern oder gar erzeugen.422 Die von einer Generation konstruierte Nischen treten der nächsten als Umwelten entgegen und entfalten Selektionswirkung. Nischenkonstruktionsleistungen sind folglich individuell fitnessrelevante (mehr oder weniger nützliche) Antworten auf adaptive Probleme, die selbst evolutionären Wandel induzieren können (Laland 2009: 35 f.; vgl. Voland 2013: 217 f.). Die proximaten Produkte phänotypischer (Verhaltens-)Flexibilität einer Generation werden potentiell zu ultimaten Ursachen für die Anpassung der nächsten Generationen.423 Wieder wird hier der rekursiv-teleonome Charakter von Evolution deutlich: Hervorbringungen der Evolution nehmen auf deren weiteren Verlauf Einfluss – und lassen ihn so im Nachhinein gerichtet erscheinen.424 Nischenkonstruktion kann zudem als ein Mechanismus epigenetische Informationsweitergabe fungieren (Laland et al. 2008: 556). Die durch solche Konstruktionsleistungen veränderte Umwelt wird zum Träger einer neuen Art von Informationen, welche in die nächste Generation übertragen und mithin auf nicht-​ genetischem Wege vererbt werden können (‚epigenetic inheritance‘). Damit wiederum ist die Bühne bereitet für den evolutiven Wandel nicht nur von genetisch codierten, sondern auch von (kulturell) konstruierten Mustern.425 422 Auch die Theorie der Nischenkonstruktion ist – wie die anderen in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze – kein Gegenentwurf zum genzentrierten Darwinismus, sie verknüpft jenen nur mit den Erkenntnissen der EvoDevo-Forschung und fügt ihm so entscheidende Aspekte hinzu (Laland et al. 2008). In der neodarwinischen Standardtheorie kann Nischenkonstruktion zwar als Konsequenz von Evolution modelliert werden, niemals aber als Ursache. So hat Richard Dawkins, den die von ihm kreierte Metapher des egoistischen Gens als lupenreinen genzentrierten Reduktionisten ausweist, das Konzept des „erweiterten Phänotyps“ eingeführt und damit nichts wesentlich anderes gemeint (Dawkins 2010). Allerdings hat auch er die kausale Rolle in der Evolution als wesentlich geringer eingeschätzt, als das die Nischenkonstruktionstheorie tut (Dawkins 2004; Laland et al. 2008) 423 Wenn etwa – wie vor Jahrmilliarden geschehen – Einzeller die Zusammensetzung der Atmosphäre verändern, dann hängt das Überleben der nächsten Generation davon ab, wie sie sich daran anpassen können. Und auch Menschen begannen irgendwann, ihre Umwelt so nachhaltig zu verändern, dass dies ihre weitere Evolution prägte. Zu einschlägigen Befunden siehe S. 318 ff. und S. 340 ff. 424 Siehe dazu S. 85. 425 Hier liegt eine wichtige evolutionsbiologische Anschlussstelle zu sozialwissenschaftlichen Theorien der kulturellen Evolution wie dem Evolutorischen Institutionalismus (Burns und Dietz 1995; Diamond 2006a; Patzelt 2007a; vgl. Schurz 2011). Durch Nischenkonstruktion von Menschen (etwa beim Etablieren zeremonieller Riten oder beim Ausarbeiten und Beschließen parlamentarischer Geschäftsordnungen) entstehen informationelle Muster, die Menschen als zunächst unhintergehbare „institutionelle Fakten“, als soziale Tatsachen (Durkheim 1895/1984) gegenübertreten. Der von hier aus zu einer faktischen Memtheorie zu gehende Schritt liegt nur noch in der Einsicht, dass diese kulturellen Muster ihrer-

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Menschliche Kultur erfüllt die Kriterien einer konstruierten Nische. Erstens ist sie ein Ergebnis genetisch bedingter phänotypischer Plastizität: Die evolvierte Verhaltensflexibilität erlaubt es Menschen, fortwährend soziale Wirklichkeit zu (re)konstruieren.426 Sie bauen Behausungen, organisieren Arbeitsteilung und stellen Regeln des sozialen Miteinanders auf. Zweitens bewirken diese kulturellen Konstruktionen evolutionäre Fitnessvorteile, denn sie lösen adaptive Probleme zum Beispiel im Zusammenhang mit Schutz, Jagd und sozialen Dilemmata. Sind solche kulturellen Nischen einmal konstruiert, dann begegnen sie Menschen – drittens – als Umwelt und werden so selbst zu einem Selektionsfaktor. Denn einzelnen Menschen gelingt es entweder, sich in ihnen zurechtzufinden und sich schließlich zu reproduzieren – oder eben nicht. Kultur kann Selektionsdrücke abmildern, wird aber selbst zu einer neuen faktischen Realität, mit der sich die in ihr lebenden Menschen auseinandersetzen können müssen. Viertens ist das Fortbestehen dieser „soziokognitiven Nischen“ (Whiten und Erdal 2012) davon abhängig, dass die zu ihrer (Re-)Konstruktion notwendigen Wissensbestände, Deutungsroutinen und Praktiken von jeder neuen Generation gelernt und kompetent angewendet werden. Die Aufführung von Musikstücken erfordert ausgebildete Musiker; eine Theorie existiert nur so lange, wie irgendjemand sie begreift und weitergeben kann; und eine Partei hört auf zu bestehen, wenn Menschen sie nicht mehr im wahrsten Sinne des Wortes „mit Leben füllen“. Schon seit Anbeginn (vor-)menschlicher Kultur muss also deren Tradierung mithilfe entsprechender psychologischer Mechanismen realisiert worden sein. Bei der so ins Werk gesetzten kulturellen Vererbung (‚cultural inheritance‘) handelt es sich um eine Form epigenetischer Informationsweitergabe, wie sie für Systemübergänge typisch ist (Jablonka und Lamb 1995, 2005; Richerson und Boyd 2005, 2009a). Dieses rekursive Verhältnis von individuellen Fähigkeiten und konstruierten Nischen bewirkt eine Koevolution von Genen und Kultur (Cavalli-Sforza und Feldman 1981; Henrich und McElreath 2003, 2009; Richerson und Boyd 1985, 2005), die wiederum in Prozesse der Multilevelselektion mündet. Konstruierte Nischen erzeugen Selektionsdrücke nach innen; und einige Individuen kommen mit diesen Nischenanforderungen besser zurecht als andere. Das kann im konkreten Fall ganz Unterschiedliches bedeuten. Zum Beispiel werden in einer hochgradig kolseits aus verschiedenen Quellen Variation erfahren, sich abhängig von ihrer Fitness (vor allem: der Problemlösungskapazität für die Konstrukteure) differentiell reproduzieren und mithin selbst evolvieren (Aunger und Dennett 2003; Blackmore 2005; Patzelt 2007b). Siehe dazu auch die Fußnote 347 auf S. 264. 426 Die Theorie der Nischenkonstruktion erfasst damit auf einer abstrakteren Ebene das, was in den Sozialwissenschaften – unter anderem etwa in der Ethnomethodologie – ohnehin als Prozess sozialer Wirklichkeitskonstruktion bekannt ist (Berger und Luckmann 1969; Garfinkel 1984, 2002; Patzelt 1987, 2013c).

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lektivistischen Kultur konformistische und gemeinsinnige Verhaltensdispositionen vorteilhaft sein, in einer individualistischen möglicherweise insbesondere der Schutz gegen Ausbeutung eigener Gutmütigkeit. Solcher Anpassungsdruck wird Selektion auf der Individualebene zur Folge (gehabt) haben, der über viele Generationen hinweg evolutionären Wandel bewirkt. Wenn jeweils gruppenspezifische Konstellationen aus psychologischen Prädispositionen und konstruierten Nischen miteinander in Konkurrenz treten, kann es zu kultureller Gruppenselektion kommen (Richerson und Boyd 2010). Voneinander relativ getrennte Gruppen werden potentiell ganz verschiedene kulturelle Nischen konstruieren – und haben das in der Realität auch jederzeit getan. Diese Konstruktionen unterscheiden sich im Hinblick auf ihren adaptiven Wert für die in ihnen lebenden Individuen. Manche technischen Innovationen sind effizienter als andere, und manche Normensysteme sind praktikabler als andere.427 Die speziellen kulturellen Innovationen einer Gruppe können ihr Vorteile bei der Extraktion von Ressourcen verschaffen; oder sie erhöhen das Niveau der Kooperation in der Gruppe im Vergleich zu anderen. Und beides kann dann bedeuten, dass sie mehr Nachkommen produziert als andere Gruppen – und mit ihnen auch eventuelle psychologische Anpassungen an diese spezifische konstruierte Nische in die nächste Generation weitergibt. Kultur ist also kein von seinen natürlichen Vorbedingungen vollkommen zu trennendes Phänomen. Sie ist auch nicht einfach ein Nebenprodukt menschlicher kognitiver Fähigkeiten, sondern eine in evolutionären Prozessen entwickelte Antwort auf adaptive Probleme, denen Menschen in der Naturgeschichte ausgesetzt waren. Sie ist eine naturhistorische Hervorbringung. Ihr Erfolgsgeheimnis besteht darin, dass sie als „Zwischenwelt“ (Eibl 2009) wie ein Puffer zwischen Mensch und Umwelt funktioniert – und über viele Generationen weg ihrerseits eine Spezies von perfekt an eben diese Kultur angepassten Wesen geformt hat. Die Natur des Menschen ist das (Zwischen-)Ergebnis dieser Koevolution natürlicher und kultureller Muster. Gerade die besondere Verhaltensflexibilität in Auseinandersetzung mit konstruierten Nischen macht sie aus. Jene wird aber realisiert durch ererbte Regelmäßigkeiten der mentalen Entwicklung, durch arttypische epigenetische Regeln (vgl. Wilson 2013: 231 ff.). Zu dieser ererbten Verhaltensflexibilität gehört offenkundig die menschliche Lernfähigkeit. Sie trägt in besonderer Weise zu jener Kulturfähigkeit bei, die Menschen evolutionär so erfolgreich gemacht hat. 427 Ein Grund dafür kann etwa sein, dass manche sozial konstruierten Normensysteme besser zu evolvierten Prädispositionen passen als andere. In kulturellen Evolutionstheorien ist diese Passung von kulturellen Mustern zu anthropologischen Prädispositionen ein zentrales Kriterium für „memetische Fitness“ (vgl. Lempp 2007). Zur Interaktion von psychologischen Mechanismen und Normen siehe mit weiteren Verweisen S. 270 ff., S.  387 ff. sowie S. 435 ff. Zu kultureller Evolution siehe die Fußnoten 347 (S. 264) und 425 (S. 319).

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Soziales Lernen: Kulturfähigkeit als Anpassung Menschen meistern die Einpassung in die von ihren Vorfahren und Zeitgenossen konstruierten Nischen großenteils durch Lernen. Diese Fähigkeit ist zunächst eine individuelle Notwendigkeit in einer Spezies, die auf das Leben in selbst erschaffenen Umwelten spezialisiert ist. Sie trägt aber gleichzeitig zur pfadabhängigen Aufrechterhaltung eben dieser Konstruktionen bei. Dazu gehören die Normensysteme politischer Institutionen ebenso wie religiöse Strukturen – also jene gesellschaftlichen Makrophänomene, die für Coleman, Putnam, Fukuyama, Ostrom und im Grunde der Großteil der Sozialwissenschaften wichtige Funktion bei der Herstellung von gesellschaftlicher Kooperation und Kohäsion spielt. Aber auch für das Sozialkapital einzelner Personen gilt es als wichtig, dass es ihnen gelingt, sich in eine Gruppe einzufügen. Die Bourdieusche Habitusformierung besteht zu einem Gutteil aus dem Erlernen der kompetenten Beherrschung von idiosynkratischen Institutionen wie Symbolkulturen und Ritualen. Es ist also von vordringlicher sozialtheoretischer Bedeutung, die Mechanismen der Verstetigung kultureller Muster auf der Mikroebene gut zu verstehen. Aus evolutionstheoretischer Sicht ist es unplausibel, diese Kulturfähigkeit einfach als unspezifische Informationsverarbeitungskompetenz aufzufassen, die durch nichts als die Kultur selbst begrenzt wird (vgl. Voland 2013: 214 ff.). Die für soziales Lernen notwendigen kognitiven Fähigkeiten müssen schließlich irgendwann entstanden sein (Plotkin 2009: 14 f.): eine weit entwickelte Theory of Mind, um die Intentionen desjenigen begreifen zu können, von dem man lernt (und damit oft auch den Zweck des zu Lernenden); darauf aufbauend eine besondere Sensibilität für soziale Signale; ein belastbares Arbeitsgedächtnis; Sprache. Für letztere wiederum bedarf es neben vielerlei kognitiven Vorbedingungen auch eine weit entwickelte Feinmotorik.428 Schon von dem Moment in der Evolution an, in dem die Vorformen solcher Fähigkeiten ihren Trägern somatische Kosten verursacht haben (also: Energie verbrauchten), müssen sie irgendwelche Anfangsvorteile geboten haben. Sonst hätten sie die Fitness beeinträchtigt und das Merkmal hätte sich evolutionär nicht durchgesetzt. Außerdem wurde hier schon mehrfach darauf hingewiesen und empirisch gezeigt, dass Evolution pfadabhängig verläuft. Kulturfähigkeit muss also auf Vorbedingungen aufruhen; und folglich ist es mit dem Verweis auf Bewusstsein und allgemeine Intelligenz handlungstheoretisch nicht getan. Alle bisherigen Betrachtungen legen demnach den Schluss nahe, dass auch Sozialisation und Lernen evolvierte, genetisch angelegte Fähigkeiten sind. Schon

428 Zur Evolution der Sprache siehe mit weiteren Literaturhinweisen S. 280 f.

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mehrfach hat sich hier gezeigt, dass menschliche Informationsaufnahme nicht passiv erfolgt, sondern von psychologischen Mechanismen domänenspezifisch, aktiv und selektiv realisiert wird (Tooby et al. 2005).429 Sie ist zudem systematisch verzerrt hin zu solchen Informationen, die im Laufe der Evolution besonders relevant für die Lösung adaptiver Probleme waren. „Lernen ist ein biologisch detailliert geregelter und häufig eng gebahnter (‚bereichsspezifischer‘) Vorgang, und deshalb kann der Mensch auch nicht unbegrenzt formbar sein. […] Man lernt nur das, worauf das Gehirn vorbereitet ist, also wozu es in langen Selektionsprozessen eingerichtet worden ist.“ (Voland 2013: 215)

Wie aber vollzieht sich der Prozess des Lernens genau ? Welche Verzerrungen spielen beim Lernen eine Rolle und auf welche psychologischen Mechanismen sind sie zurückzuführen ? Wie werden etwa Normen und Werte internalisiert ? Gerade die letzte Frage theoriehaltig zu beantworten, dürfte die handlungstheoretische Fundierung von Sozialisationstheoremen und Konzepten wie dem der konsumatorischen Motivationen erheblich verbessern und mithin die Robustheit von Sozialkapitaltheorien erhöhen. Die Theorien zur Evolution von Kultur und Kulturfähigkeit bieten solche theoriehaltigen Antworten auf diese Fragen. Grundlegend für sie ist die Erkenntnis, dass jede Art der Informationsaufnahme mit Kosten verbunden ist. Dies können investierte Ressourcen sein (etwa Zeit, Aufmerksamkeit und somatischer Aufwand), aber auch solche Kosten, die aus Fehlern in Prozessen des Ausprobierens oder Nachahmens resultieren. Aus dieser Hypothese der teuren Information folgt, dass unter unterschiedlichen Bedingungen verschiedene Strategien der Informationsaneignung komparative Kosten- und damit Fitnessvorteile haben werden (Giraldeau et al. 2002; Laland 2004; Richerson und Boyd 1985: 149 ff.). Die ursprünglichste Form des Lernens könnte die Imitation gewesen sein (Richerson und Boyd 2005: 113; vgl. Voland 2013: 215 f.). Ihr evolutionärer Anfangsvorteil dürfte darin gelegen haben, dass nicht jedes Individuum erst durch Versuch und Irrtum (und unter Inkaufnahme der damit einhergehenden Risiken) zu Problemlösungen finden musste. Imitation ist besonders dann eine adaptive Strategie, wenn die Umweltbedingungen relativ stabil bleiben und es sich somit lohnt, Bewährtes einfach zu übernehmen. Ändern sich jedoch die Umweltanforderungen im Verlauf der Lebensspanne, dann ist das im Grunde asoziale individuelle Lernen die bessere Strategie (Richerson und Boyd 2005: 117 f.). Eine nur aus Imitatoren bestehende Population wäre

429 Zu evolvierten psychologischen Mechanismen siehe einführend S. 92 ff.

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zudem nicht in der Lage, Innovationen schneller als durch zufällige Mutationen bei der Informationsübertragung zu produzieren. Kultureller Wandel hätte dann keinen adaptiven Vorteil gegenüber rein genetisch ablaufender Evolution. Erst die flexible Kombination von Nachahmen und Ausprobieren erzeugt einen kulturellen Wagenhebereffekt (Tomasello 2006: 16; Tomasello et al. 1993). Ihr Zusammenspiel in einem Prozess der gelenkten Variation (‚guided variation‘) ermöglicht die Entstehung von ebenso stabilen wie innovationsfähigen Kulturen, die sich kumulativ weiterentwickeln können – und an denen dann kulturelle Gruppenselektion ansetzen kann (Richerson und Boyd 1985: 81). Einmal als brauchbar Erkanntes wird von anderen imitiert sowie durch Ausprobieren weiter verbessert – und über erfolgreiche Kulturtechniken verfügende Gruppen setzen sich samt der in ihren soziokognitiven Nischen gespeicherten Lösungen für adaptive Probleme gegenüber anderen durch. Dass dieses im Grunde so einfache und effektive Prinzip in der Natur nicht weiter verbreitet ist, zeigt auch, wie anspruchsvoll es kognitiv ist. Es setzt nämlich die Fähigkeit zum selektiven Lernen voraus (Giraldeau et al. 2002; Henrich und McElreath 2003; Laland 2004; Richerson und Boyd 1985, 2009b).430 Individuen müssen entscheiden können, wann und vom wem imitiert werden sollte und wann stattdessen individuelles Ausprobieren angezeigt ist. Ausgehend von der Annahme, dass solche Entscheidungsheuristiken als Anpassungen an spezifische adaptive Probleme evolvieren, sind auch hier manche Verzerrungen zu erwarten – wobei auch andere Übersetzungen des englischen Fachbegriffs (‚bias‘) auf wichtige Bedeutungsinhalte verweisen: Neigung, Tendenz, Vorliebe, Befangenheit. Gemeint sind kognitive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmechanismen, die aufgrund ihrer evolvierten Struktur Informationen selektiv (also: verzerrt) aus der Umwelt aufnehmen und prozessieren. Sie lassen sich unterscheiden in inhalts- und kontextbasierte Verzerrungen, wobei letztere weiter in modellbasierte und frequenzabhängige Verzerrungen untergliedert werden können (vgl. Henrich und McElreath 2003: 129).431

430 Siehe dazu einführend Henrich und McElreath (2009: 557 f.) und Kendal (2011: 316 ff.). 431 Im Folgenden geht es um Aspekte dessen, was in memetischen Theorien kultureller Evolution „memetische Fitness“ genannt wird (Lempp 2007). Die Verzerrungen im Zusammenhang mit Lernen gehören nämlich zu jenen Selektionsfaktoren, welche bedingen, ob kulturelle Muster erfolgreich weitergegeben werden, sich also replizieren können. Was gemeint ist, wird ganz plastisch nachvollziehbar anhand jener viralen „Internet-Memes“, die ihren Namen dem Konzept der Memetik verdanken. Weil kulturelle Muster von Menschen prozessiert werden, hängt ihr Erfolg von den evolvierten Präferenzen ihrer Gehirne ab. Memetisch reformuliert: Weil die zentrale Ressource für Meme menschliche neuronale Aktivität ist, stellt die Aufmerksamkeitsstruktur des Gehirns den zentralen Selektionsdruck dar (Brodie 1996). Siehe zu alldem auch die Fußnoten 347 (S. 264), 425 und 427.

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Inhaltsbasierte Verzerrungen – oder auch ‚direct biases‘ (vgl. Richerson und Boyd 1985: 132 ff.) bzw. ‚content based biases‘ (Henrich und McElreath 2003) – resultieren daraus, dass einige Inhalte attraktiver für menschliche Nervensysteme sind als andere. Hier beeinflusst also der Gehalt eines kulturellen Musters (wie eines Symbols, einer Faktenbehauptung, einer Deutungsroutine oder einer Norm) die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe durch soziales Lernen. Popcorn lässt sich mit Zucker, Salz oder Kreidestaub zubereiten. Aber aus offensichtlichen Gründen haben nicht alle drei Rezepte die gleiche Chance, imitiert zu werden. Und so leuchten auch die einen Argumente und Werte mehr ein als andere – einfach weil sie sich, ganz wie im Falle einer evolvierten Vorliebe für Süßes und Salziges, mit genetisch codierten inhaltlichen Präferenzen treffen, weil sie in einer Kultur als nicht weiter hinterfragbares Tabu gelten oder weil sie zu bereits akquirierten kulturellen Mustern besser passen als andere.432 Kontextbasierte Verzerrungen – ‚context biases‘ (Henrich und McElreath 2003) – betreffen gerade nicht den Inhalt, sondern vielmehr Individuen als Träger jener Informationen, zwischen denen sich Lernende immer wieder entscheiden müssen. Die Funktionslogik solcher Verzerrungen nachzuvollziehen, ist ein hier entscheidender Schritt. Schließlich steckt dahinter die Einsicht, dass Lernen ein wirklich sozialer Prozess ist bzw. sein kann – und dass sich dies in entsprechenden psychologischen Mechanismen widerspiegelt. Zu unterscheiden sind zwei Arten. Bei modellbasierten Verzerrungen – ‚model-based biases‘ (Henrich und McElreath 2003: 129) bzw. ‚indirect biases‘ (vgl. Richerson und Boyd 1985: 241 ff.) – liegt das Augenmerk auf den Eigenschaften der Akteure. Es braucht nützliche Maßstäbe für die Auswahl von Modellen für das eigene Denken und Handeln. Ein solches Kriterium kann der beobachtbare Erfolg eines Individuums oder – als teures Signal für solchen Erfolg –433 dessen soziales Prestige sein. Modellbasierte Strategien führen dazu, dass erfolgreiche bzw. als erfolgreich angesehene Individuen zu Vorbildern, zu Rollenmodellen werden. Auf diese Weise verzerrtes Lernen kann dazu führen, dass auch kulturelle Muster tradiert werden, die an sich nicht lernenswert sind. Frequenzabhängige Verzerrungen – ‚frequency-dependent biases‘ (Richerson und Boyd 1985: 204 ff.; Henrich und McElreath 2003) basieren auf der (wahrge­ nommenen) Häufigkeit von Informationen in der Population. Denkbar sind Tendenzen in Richtung von besonders häufigen (Konformismus) und besonders seltenen (Nonkonformismus) Inhalten. 432 Eine bedeutende inhaltsbasierte Verzerrung geht von jenen evolvierten Präferenzen aus, die sich in moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen niederschlagen. Siehe hierzu S. 282 ff. 433 Zur Theorie und Empirie der teuren Signale siehe das Kapitel 4.4 ab S. 253.

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Zwei Gründe sprechen dafür, dass vor allem Konformismus evolutionär nützlich gewesen sein könnte: Erstens ist es eine individuell adaptive Strategie, der Mehrheit zu folgen, weil die weite Verbreitung einer Information als Hinweis auf ihre Praktikabilität gewertet werden kann (Richerson und Boyd 1985). Zweitens erhöht Konformität die Homogenität innerhalb der Gruppe und reduziert so Ansatzpunkte für Individualselektion. Gleichzeitig können sich so fitnessrelevante Unterschiede zwischen Gruppen manifestieren. Mit anderen Worten: Konformismus begünstigt Gruppenselektion und kann somit als Anpassung an die Bedingungen von Zwischengruppenkonkurrenz aufgefasst werden (Henrich und Boyd 1998). Andererseits braucht es auch Nonkonformismus, damit überhaupt Variation und mit ihr Potentiale für Anpassung entstehen (Henrich und McElreath 2003: 131). Die Übernahme nützlicher Informationen birgt zudem besonders hohe komparative Vorteile, wenn sie in der Population noch wenig bekannt sind. All diese theoretischen Argumente vor Augen habend, spricht viel dafür, die heutige Kulturfähigkeit des Menschen als eine pfadabhängig-kontingente Hervorbringung der Evolution anzusehen – und die anschließende Sichtung des empirischen Materials wird diesen Eindruck noch verfestigen. Kultur basiert auf psychologischen Mechanismen, die sich unter dem Selektionsdruck einesteils von kulturell konstruierten Nischen auf Individuen und andernteils von Konkurrenz zwischen kulturell verschiedenen Gruppen entwickelt haben. Die daraus resultierenden kognitiven Verzerrungen setzten schon auf der Ebene von Wahrnehmungen und der selektiven Aufnahme von kulturellen Inhalten an. „[C]ultural transmission is based on complex, derived psychological mechanisms that are likely to have been shaped by natural selection. It is important to understand the nature of these evolved psychological mechanisms because they determine which beliefs and values spread and persist in human groups.“ (Henrich und Boyd 1998: 215)

Vor diesem Hintergrund lassen sich übrigens die Befunde zu indirekter Reziprozität noch einmal neu interpretieren.434 Die weitreichende Geltung mancher Normen mag zwar schon zum Teil von universellen moralischen Intuitionen herrühren, die Tendenz ihrer Übernahme also von inhaltsbasierten Verzerrungen des Lernens herrühren. Sie kann aber auch das Ergebnis von kultureller Transmission aufgrund von Konformismus und der Orientierung an Rollenmodellen sein. Dass gerade Normen der Gegenseitigkeit und gemeinsinnige Werte so weit verbreitet sind, lässt sich ferner damit erklären, dass solche kulturellen Muster die Chancen in der Zwischengruppenkonkurrenz verbessern. Auch altruistische Normdurchsetzung kann aus gleichem Grund als Anpassung an die Bedingungen von 434 Siehe dazu S. 270 ff.

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Gruppenkonkurrenz gesehen werden. Teures Sanktionieren von deviantem und nonkonformem Verhalten hilft, die Kooperation in sozialen Netzwerken zu stabilisieren. Der individuelle Nutzen solchen Verhaltens kann folglich – wenn er nicht als teures Signal schon im interindividuellen Wettbewerb Vorteile bringt – auch aus emergenten Eigenschaften der Gruppe entstehen. 4.5.1.4 Bilanz: Die komplexe Architektur des Sozialen Gemeinsinn könnte als Teil der Natur des Menschen evolviert sein, weil sich Gruppen von gemeinsinnigen Individuen in Konkurrenzsituationen gegen Verbünde von Egoisten durchgesetzt haben. Das ist die hier zentrale Hypothese der Multilevelselektionstheorie. Prosoziale Verhaltensdispositionen können sich genau dann durchsetzen, wenn der durch die verbesserte Performanz in der Zwischengruppenkonkurrenz erzielte inklusive Fitnessgewinn für Altruisten deren Fitnesseinbußen durch den eigentlichen prosozialen Akt übersteigt. An dieser Formel wird noch einmal deutlich, dass die Theorie der Multilevelselektion – anders als immer wieder kolportiert – kein alternativer Ansatz zu individualselektionistischen Theorien der Evolution von Prosozialität ist oder sein will. Vielmehr bietet sie ein Rahmenwerk, das die bereits vorgestellten reduktionistischen Erklärungen für Kooperation integrieren kann.435 Multilevelselektions- und Komplexitätstheorie führen aber sozialtheoretisch noch viel Grundsätzlicheres vor Augen: Es lässt sich ein Verständnis menschlicher Kultur entwickeln, das emergente Phänomene in Rechnung stellt, ohne die menschliche Natur analytisch zu vernachlässigen. Viel spricht nämlich dafür, dass die Komplexität des Sozialen auf der ganz spezifischen Ausformung menschlicher phänotypischer Plastizität aufruht. Die evolvierte Fähigkeit, sich in konstruierte Symbolkulturen und institutionelle Arrangements einzupassen, stellt gleichsam den „kausalen Flaschenhals“ dar, durch den hindurch konstruierte Nischen immer wieder prozessiert werden, wenn sie sich pfadabhängig verstetigen – oder eben nicht. Und gleichzeitig prägten genau diese Nischen selbst unsere Stammesgeschichte, weil sich Generationen von Menschen in ihnen bewähren mussten. Soziale Wirklichkeit wird also von zwei Arten hierarchischer Schichtungen von miteinander interagierenden (Sub-)Systemen geprägt (Dawkins 1976a; Gould 435 Sozialwissenschaftler sollten die sich gerade ereignende Entwicklung hin zu einer erweiterten Synthese der Evolutionstheorie deshalb keinesfalls als Bestätigung des Vorurteils missverstehen, dass das Einnehmen einer genzentrierten und dezidiert evolutionären Perspektive nicht sonderlich zielführend sei. Das Gegenteil ist der Fall, wie noch einmal betont sei: All die geschilderten Theorien und Ansätze passen bruchlos in das Paradigma der darwinischen Evolutionstheorie (vgl. Lange 2012; Pigliucci 2009; Wilson 2012).

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1982; Simon 1962; vgl. Plotkin 2009: 18): Einesteils sind das Aufschichtungen von Organisationsebenen, welche die jeweils darunterliegenden Ebenen enthalten und deshalb von deren Bauweise geprägt sind: Zellen, Organe, Organismen, Gruppen, Populationen. Auf jeder einzelnen dieser Ebenen kann natürliche Selektion ansetzen. Andernteils bilden sich auf diesen Ebenen jeweils informationelle Hierarchien heraus, die auf funktionale Differenzierung und jeweils normativ wirksame Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. Sie schlagen sich zum Beispiel in Koordinations-, Führungs- und Steuerungsmodi nieder. Bei Menschen werden solche adaptiven Funktionen offensichtlich zu guten Teilen von kulturell konstruierten Nischen erbracht. Jene evolvieren ihrerseits aufgrund ihrer niemals ganz kopiertreuen Rekonstruktion durch neue Generationen. Erst die Berücksichtigung beider Dimensionen von Komplexität offenbart die Natur des Menschen als das, was sie ist: ein Ergebnis von Gen-Kultur-Evolution mit multiplen Selektionszielen. Sozialkapitaltheorien stellen den noch nicht restlos überzeugenden Versuch eines methodologischen dritten Weges zwischen Akteurs- und Strukturtheorien dar. Die zentrale Herausforderung besteht dabei in dem Dilemma, das sich zwischen der angestrebten Mikrofundierung im methodologischen Individualismus einerseits und dem Wissen um die Kausalwirkung von Makrofigurationen andererseits ergibt.436 Eine um die Konzepte von Multilevelselektion, Nischenkonstruktion, Komplexität und kultureller Gruppenselektion erweiterte Evolutionstheorie ist indes tatsächlich in der Lage, die rekursive Kausalität nicht nur von Gen-Umwelt-Interaktionen, sondern auch von anderen Mikro-Makro-Wechselwirkungen abzubilden. In solcher biologischer Mikrofundierung gegründete Sozialtheorie muss und kann also gar nicht unzulässig reduktionistisch sein (vgl. Cairney 2013; Corning 2008). Sehr wohl aber kann und muss sie die zentrale Rolle des menschlichen Gehirns bei der Konstruktion sozialer Wirklichkeit und bei der kulturellen Evolution berücksichtigen. Die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie erlaubt das Studium der sozialen Wirklichkeit als Mehrebenenphänomen, das von biologischen und psychologischen Tiefenschichten bis hin zu kulturellen Figurationen wie Institutionen reicht. Sie ist deshalb hochgradig anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Theorien, wie sich für den Fall der Sozialkapitaltheorien im Rest des Kapitels auch konkret zeigen wird.

436 Problematisch ist nicht (nur) die epistemologische Klärung des Verhältnisses von Reduktionismus und Emergentismus (vgl. S. 67 ff.), sondern vor allem die Formulierung von wissenschaftspraktisch handhabbaren Brückenhypothesen über die konkreten kausalen Mechanismen bei Mikro-Makro- und Makro-Mikro-Übergängen. Siehe dazu S. 162 ff. und S. 203 ff.

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4.5.2 Empirische Befunde: Kollektives Handeln bei Menschen und anderen Tieren 4.5.2.1 Von Mäusen und gemeinsinnigen Mikroben: Multilevelselektion in der Natur Zuerst ist der Frage nachzugehen, ob sich ein Merkmal evolutionär durchsetzen kann, von dessen Vorteilen das Individuum nur indirekt über die Performanz der eigenen Gruppe profitieren kann. Dass Gruppenselektion tatsächlich in dieser Weise neben Individualselektion eine Rolle in der Evolution spielt, wurde inzwischen an unterschiedlichen Organismen gezeigt. Im Grunde folgen diese empirischen Fälle stets dem Heuschober-Modell von John Maynard Smith (1964). In diesem Gedankenexperiment bevölkern einzelne Mäusefamilien, die ursprünglich einer gemeinsamen Population entstammen, jeweils einen eigenen Heuschober und bleiben einige Generationen lang separiert. Die mit altruistischen Verhaltensdispositionen ausgestatteten Gruppen werden performanter sein, sich deshalb schneller vermehren und mehr neue Heuschober besetzen können als die egoistischen Gruppen. Deshalb erhöht sich der relative Anteil von Altruisten in der Gesamtpopulation.437 Zwar wird der Anteil von egoistischen „Betrügern“ in den „Altruistengruppen“ durchaus steigen, weil die Altruisten einfacher auszunutzen sind – ganz so, wie es die Altruisten in den „Egoistengruppen“ schwer haben werden. Weil aber die Altruistengruppen stark wachsen (und die Egoistengruppen potentiell gar schrumpfen), wird die Altruistenrate in der Gesamtpopulation zunehmen – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass jene Gensequenzen in die nächste Generation weitergegeben werden, welche für die altruistische Verhaltensdisposition verantwortlich sind (Wilson und Sober 1998: 19 ff.; siehe auch Schurz 2011: 349 ff.). Selbst wenn also der Anteil von Altruisten in allen Gruppen schrumpft, kann er wegen des Wachstums der Gruppen mit höherem Altruistenanteil in der gesamten Population steigen.438

437 Hier wirken zwar Gruppenselektion und Verwandtenselektion zusammen; es lassen sich aber mathematisch eigenständige Effekte der Gruppenselektion zeigen (Wilson und Sober 1998: 67 ff.). 438 Dahinter steht das statistische Phänomen des Simpson-Paradoxons, das Wilson und Sober (1998: 23 ff.) mit folgendem Beispiel beschreiben (vgl. auch Simpson 1951; Cartwright 1979): An einer kalifornischen Universität stellte man fest, dass Frauen mit geringer Wahrscheinlichkeit zum Studium zugelassen wurden als Männer, obwohl in keinem der einzelnen Departments eine Bevorzugung von Männern zu beobachten war. Dieses (scheinbare) Paradoxon resultierte daraus, dass sich Frauen bevorzugt auf Fächer mit höheren Ableh-

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Genau solche Vorgänge konnten in mehreren Fällen in der belebten Natur nachgewiesen werden. So versuchte die australische Regierung in den 1960er Jahren, eine Kaninchenplage mithilfe des tödlichen Virus Myoxama in den Griff zu bekommen. Wie aus neodarwinisch- individualselektionistischer Perspektive zu erwarten, wurden die wilden Kaninchen nach einigen Generationen resistent. Allerdings verlor auch das anfangs sehr aggressive Virus mit der Zeit an Wirkung (Lewontin 1970: 14 f.), was mit genetischem Egoismus ungleich schwerer zu erklären ist. Schließlich können einzelne Viren keinen komparativen Fitnessvorteil daraus ziehen, weniger virulent zu sein als die anderen Viren in einem Wirt. Im Gegenteil sind die ansteckenderen Viren gegenüber ihren Konkurrenten bevorteilt. Andererseits stirbt das Kaninchen unter der Einwirkung aggressiver Viren schneller. Deswegen ist es für die Gruppe der Viren in einem Wirt von Vorteil, ein Niveau von Virulenz zu stabilisieren, das es erlaubt, vor dem Tod des Kaninchens auf andere Wirte überzuspringen. Die beobachteten Ergebnisse folgten also exakt der Logik der Gruppenselektion (Lewontin 1970; vgl. auch Wilson und Sober 1998: 43 ff.). Inzwischen gilt es als anerkannt, dass die reduzierte Virulenz von Krankheiten per Gruppenselektion – oder genauer: in einem Wechselspiel aus Individual- und Gruppenebene innerhalb der Population, also per Multilevelselektion – evolvieren kann; zwar nicht immer, aber durchaus manchmal (Bull 1994; Frank 1996; vgl. Wilson und Wilson 2007b: 333). Auch das Geschlechterverhältnis in sexuell dimorphen Spezies liefert Hinweise auf die Existenz von Multilevelselektion. Da die Reproduktionsmöglichkeiten einer Gruppe nicht von der Menge verfügbarer Spermien, sondern von der Anzahl befruchtungsfähiger Eier limitiert werden, nützt der Gruppe ein möglichst hoher Anteil weiblicher Mitglieder – jedenfalls oberhalb von 50 Prozent. Innerhalb der Gruppe haben dann aber Männchen eine höhere relative Fitness, weil sie ihr Erbgut im Unterschied zu den Weibchen „pro Runde“ an die Nachkommen von mehreren Fortpflanzungspartnern weitergeben können. Das unmittelbare genetische Eigeninteresse von Weibchen läge deshalb in der Produktion von männlichen Nachkommen, sodass sich wieder ein paritätisches Geschlechterverhältnis einspielen sollte. Bei einem höheren Anteil von Weibchen noch weitere Weibchen zu produzieren, wäre nicht weniger als ein selbstloser Akt zugunsten der Gruppe. nungsquoten bewarben als Männer. Veranschaulicht in Zahlen: Fach A nimmt 30 Prozent der Bewerber an; es bewerben sich 90 Frauen und 10 Männer. Bei gleichen Annahmequoten für beide Geschlechter werden also 27 Frauen und 3 Männer angenommen. Fach B akzeptiert 60 Prozent der Bewerber, von denen 90 männlich und 10 weiblich sind, also 6 Frauen und 54 Männer. Es bewarben sich insgesamt 100 Männer und 100 Frauen; angenommen wurden 33 Frauen und 60 Männer – ohne dass ein Geschlecht bei den Bewerbungen bevorzugt worden wäre.

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Das zu erwartende Ergebnis eines Wechselspiels von Individual- und Gruppenselektion wäre folglich eine moderate Verzerrung des Geschlechterverhältnisses in Richtung der Weibchen (Wilson und Sober 1998: 38 ff.). Sowohl Williams (1966) als auch Hamilton (1967), beide Widersacher der Gruppenselektionstheorie, haben Befunde zusammengestellt, welche genau diese Verzerrung von Geschlechterverhältnissen dokumentieren. Zwar fanden beide individualselektionistische Erklärungen – Williams indem er von Verteilungswerten „nahe 1:1“ sprach (Williams 1966: 151), Hamilton indem er die Theorie der inklusiven Fitness bemühte. Williams lenkte jedoch später ein: „I think it desirable, in thinking about organisms for which the haystack model is descriptive, to realize that selection in female-biased Mendelian populations favors males, and that it is only the selection among such groups that can favor the female bias“ (Williams 1992: 49).

Solche Prozesse, in denen das Selektionsziel von der Individual- auf die Gruppenebene wechselt, wurden inzwischen bei vielen Arten von Mikroben nachgewiesen (Velicer 2003). Gut dokumentiert werden konnte bei Pseudomonas fluorescens, dass Trittbrettfahrer sich trotz ihrer selektiven Vorteile in der Gruppe nicht in der Population durchsetzen können (Rainey und Rainey 2003): Im konkreten Fall beteiligen sie sich nicht an der aufwendigen Produktion eines Biofilms, der es den Bakterien erlaubt, sich an der Oberfläche einer Flüssigkeit zu halten.439 In der Folge können sich betroffene Gruppen von Bakterien nicht mehr oben halten, sinken herab und scheiden so aus dem „Spiel der Evolution“ aus. Eine Runde weiter kommen hingegen Gruppen mit einem höheren Anteil von kooperativen Bakterien. Selektionsziel sind die Gruppen; und die Gruppenselektion begünstigt altruistisches Verhalten auf der Individualebene. Dieser Befund liegt auf einer Linie mit einer Serie von Experimenten mit Mikroben, Pflanzen und Wirbeltieren, die Multilevelselektion sichtbar machen (Goodnight 2000, 2005; Goodnight et al. 1992; Goodnight und Stevens 1997). Auch konnten Beobachtungen aus Feldstudien zum Territorialverhalten von Löwinnen nicht auf individualselektionistischem Wege erklärt werden (Heinsohn und Packer 1995; Packer und Heinsohn 1996): Einige der Tiere lassen sich de facto von anderen ausbeuten, weil sie allein die Revierverteidigung übernehmen, ohne daraus einen komparativen Fitnessvorteil ziehen zu können. Der Nutzen für die Gruppe ist hingegen augenscheinlich enorm. Multilevelselektion scheint auch hier die einzige plausible Erklärung für dieses Verhalten zu sein (Wilson und Wilson 439 Ein Biofilm ist eine von Mikroorganismen produzierte Schleimschicht, mit der sie sich an Grenzflächen wie die Wasseroberfläche anheften können (Schink 2007: 539).

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2007a: 334). Der Mechanismus der Gruppenselektion wurde ferner von Profizüchtern angewendet, um die Effizienz von Legehennen zu erhöhen (Craig und Muir 1996; Muir 1996; vgl. Wilson und Sober 1998: 121 ff.): Selektiert man nicht einzelne Tiere für die Weiterzucht, sondern jene Gruppen, in denen die meisten Eier gelegt werden, steigert sich die Produktivität in sechs Generationen um 160 Prozent. Die Zuchtwahl besonders performanter Einzeltiere schwächt hingegen die Produktivität der Batterie. Denn zwar entstehen so hochgradig produktive Hennen, jene leiden aber unter Stress, verhalten sich aggressiv, verletzen oder töten einander gar – verhalten sich also antisozial. Multilevelselektion gilt auch als möglicher Grund für die Evolution von Eusozialität unter Insekten wie Ameisen, Wespen, Honigbienen und Termiten (Korb 2010; Korb und Heinze 2004; Wilson und Hölldobler 2005, 2013). Eusozialität bezeichnet ein generationenübergreifendes Zusammenleben in Sozialverbänden aus fruchtbaren und unfruchtbaren Tieren, die bei Brutpflege, Nahrungsbeschaffung und verteilung kooperieren (Wilson und Hölldobler 2005: 13367; Voland 2013: 47 ff.). Auf die enorme Prosozialität eusozialer Tiere wird im Folgenden noch ausführlich einzugehen sein. Interessant ist an dieser Stelle zunächst nur, warum es in solchen Populationen so viele unfruchtbare Individuen gibt, die ihre ganze Kraft in den Dienst anderer Individuen stellen. Zwar ist die Standarderklärung nach wie vor das Verwandtschaftssystem der Kolonien eusozialer Insekten.440 Eine wachsende Zahl von Biologen vertritt jedoch inzwischen die Auffassung, dass die nahe Verwandtschaft eine Folge der schon vorher unter den Bedingungen von Multilevelselektion entstandenen Eusozialität ist (Nowak et al. 2010; Wilson und Hölldobler 2005). Wie bereits dargestellt, lässt sich Verwandtenselektion zudem als Spezialfall von Gruppenselektion verstehen.441 Die Selektion zwischen Gruppen bewirkt also in vielen Spezies prosoziale Verhaltensdispositionen, weil Prosozialität helfen kann, individuelle adaptive Probleme in der Zwischengruppenkonkurrenz zu lösen. Diese Konkurrenz kann indirekt sein, wie im Falle der Mikroorganismen, bei denen sie letztlich über Reproduktionsraten ausgetragen wird. Sie kann aber auch direkt sein, wie im Falle der Löwenrudel, die um Territorien wetteifern. Irgendwie geartete Gruppenkonkurrenz ist jedenfalls ein in der belebten Natur weit verbreitetes Phänomen. Dass sich solche Konkurrenz zu gewalttätigen Konflikten auswächst, ist ebenfalls kein rein menschliches Phänomen. Zwar gelingt es den meisten Primaten nicht, sich in Konflikt mit benachbarten Gruppen kollektiv zu organisieren 440 Siehe zur Verwandtenselektion S. 220 ff. 441 Siehe dazu S. 307. Mit Edward O. Wilson ist übrigens einer der weltweit führenden Ameisen-Experten von der Verwandtenselektionstheorie zugunsten der Multilevelselektionstheo­ rie zur Erklärung von Eusozialität abgerückt (Wilson 2005, 2013: 67 ff.).

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(Willems et al. 2013). Allerdings ist inzwischen klar, dass Schimpansen brutale Gruppenkämpfe führen, bei denen es nicht nur um Revierverteidigung, sondern um die Schwächung bzw. Vernichtung der gegnerischen Gruppe geht (Goodall 1986; Sommer 2008). In solchen „Schimpansenkriegen“ zeigen die Tiere altruistisches und gut koordiniertes Gruppenhandeln, etwa wenn sie Kampftrupps junger Männchen abstellen und Wachpatrouillen organisieren. Zu beobachten sind ferner Xenophobie gegenüber Angehörigen anderer Gruppen und doppelte Verhaltensstandards bis hin zu „Deschimpansierung“ der Gegner. Jene werden dann nicht mehr als konkurrierende Artgenossen, sondern als zu vernichtende Feinde behandelt.442 Zwar lassen sich diese Verhaltensweisen von Primaten auch mit individualselektionistischen Ansätzen erklären (Voland 2013: 88; Willems und van Schaik 2015). Sie fügen sich aber auch in das hier umrissene multilevelselektionistische Gesamtbild – und werden noch besonders wichtig werden, wenn es um die Konfliktdimension von Sozialkapital auf der Makroebene geht.443 Schließlich können heutige Schimpansen als Archetypus der Lebensweise unserer Vorfahren verstanden werden (Chapais 2010; Shultz et al. 2011; Silk 2011; vgl. Gintis et al. 2015). Zwei Punkte sind an dieser Stelle festzuhalten: Erstens ist Zwischengruppenkonkurrenz in der Natur ein relevantes und verbreitetes Phänomen; und bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, erinnert sie durchaus an das – lange Zeit nur Menschen zugeschriebene – Verhalten der Kriegsführung. Zweitens zeigen sich an vielen Stellen im Tierreich genau jene Phänomene, die von der Multilevelselektionstheorie vorausgesagt werden. Auch altruistische und mithin individuell schädliche Dispositionen können sich in einer Population ausbreiten, wenn sie die Performanz der Gruppe in der Zwischengruppenkonkurrenz steigern. 4.5.2.2 Superorganismen: Nischenkonstruktion und Systemübergänge in der Natur Wie die Befassung mit den theoretischen Argumenten für eine erweiterte Synthese der Evolutionstheorie gezeigt hat, ist es für ein umfassendes Verständnis der Evolution von Kooperation notwendig, den genzentrierten Neodarwinismus nicht nur um das Konzept der Mehrebenenselektion, sondern auch um Bausteine aus Komplexitätstheorie, EvoDevo und Verhaltensökologie zu ergänzen. Statt Evolution nur als Selektion von Erbgut durch die Bewährung von Phänotypen in der Umwelt zu begreifen, scheint es wichtig, auch auf Gen-Umwelt-Interaktionen 442 Voland (2013: 87 f.) umreißt knapp die soziobiologisch relevanten Befunde von Jane Goodall. 443 Siehe dazu S. 343 ff. sowie S. 404 ff.

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im Selektionsprozess zu schauen. Von besonderem Interesse im Zusammenhang mit der Hervorbringung von komplexen Figurationen sind dabei Systemübergänge und Nischenkonstruktionsprozesse, ihrerseits ermöglicht durch phänotypische Plastizität. Um der Vermutung nachzugehen, dass hierin ein Schlüssel zum Verständnis von kollektivem Sozialkapital als emergentem sozialen Phänomen liegt, gilt es im Folgenden, der empirischen Relevanz dieser Konzepte zunächst in der belebten Natur nachzugehen.444 Phänotypische Plastizität – die Fähigkeit eines Genoms, von der Umwelt formund beeinflussbare Phänotypen hervorzubringen – zeigt sich schon an heterophyllen Pflanzen. Sie bilden unter und über Wasser verschiedene, nämlich an die spezifische Umgebung jeweils optimal angepasste Blätter aus (Cook und Johnson 1968). Bei eusozialen Insekten wie Bienen und Ameisen äußert sich diese Plastizität auch in jener Arbeitsteilung, welche die hochkomplexe Sozialorganisation in den Kolonien der Insekten erst möglich macht: Ob ein bestimmtes Tier eine Königin wird, Brutpflege betreibt oder das Nest verteidigt, hängt nicht (nur) von genetischen Unterschieden, sondern (auch) von Umweltstimuli ab (Wilson und Hölldobler 2013: 150; Bernadou et al. 2015). Kontextsensitive Plastizität zeigt sich ferner in der Fähigkeit der Tiere, in ihren jeweiligen Rollen flexibel auf Umwelteinflüsse zu reagieren: Bienen kommunizieren miteinander über Nahrungsvorräte und -quellen sowie neue Nistplätze und richten ihr Verhalten daran aus; Ameisen und Termiten klimatisieren mit komplexen Belüftungssystemen ihre Bauten und betreiben aufwendig die Zucht von Pilzen sowie Läusen. Auch Nischenkonstruktion ist unter nicht-menschlichen Spezies durchaus verbreitet. Viele Tiere bewirken mit ihrem Verhalten eine Veränderung der Umwelt, die den adaptiven Problemdruck abmildert, beseitigt oder verschiebt. Besonders instruktiv ist hier jene Konstruktionsleistung, welche das Leben in seiner heutigen Form erst möglich gemacht hat (Odling-Smee 2010: 195; Odling-Smee et al. 2003: 36 ff.): Die heutige Zusammensetzung der Atmosphäre wurde entscheidend von

444 Die Fülle von empirischen Evidenzen für phänotypische Plastizität unterhalb des Bereichs von sozialem Verhalten kann hier nicht im Detail referiert werden. Gleiches gilt für die im Zusammenhang mit EvoDevo an dieser Stelle ebenfalls relevanten Befunde zu Constraints, Epigenetik und nachträglicher genetischer Fixierung von Anpassungen, die zunächst auf Basis phänotypischer Plastizität realisiert wurden. Das damit verbundene evolutionsbiologische Forschungsfeld ist komplex und erfordert ein Verständnis von Genetik und biologischer Evolution, wie es hier weder hergestellt noch vorausgesetzt werden kann. Vor dem Hintergrund der Forschungsfrage ist all das nicht von unmittelbarer Relevanz, solange es nicht nötig ist, einfach zu „glauben“, dass diese Mechanismen existieren und für Evolution relevant sind. Dies ist aber längst nicht mehr der Fall, denn empirische Belege sind umfangreich und bestens dokumentiert (West-Eberhard 2003; vgl. auch Lange 2012; Pigliucci 2010).

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bakteriellen Algen geprägt, die vor Milliarden von Jahren lebten (Holland 1995). Das Ergebnis ihrer Photosynthese und ein giftiges Ausscheidungsprodukt war Sauerstoff. Über Milliarden von Jahren konstruierten die Bakterien so eine Nische, der sie letztlich zum Opfer fielen. Als die Sauerstoff‌konzentration in der Luft stieg, ereignete sich unter jenen Spezies ein Massensterben, für die solche Bedingungen lebensfeindlich waren – wie etwa den Algen selbst. Drei Dinge sind aus diesem Beispiel zu lernen. Erstens formen Organismen tatsächlich ihre Umwelt und verändern damit die Selektionsdrücke; zweitens „erben“ spätere Generationen diese Veränderungen; drittens muss dies keinesfalls immer eine „Verbesserung“ der Situation, eine Lösung adaptiver Probleme bedeuten. Durchaus aber werden konstruierte Nischen zu einem Faktor der Evolution, weil von ihnen Selektionsdrücke ausgehen. Weitere Evidenzen lassen sich in Hülle und Fülle finden (vgl. Day et al. 2003: 84 ff.; Laland 2009; Odling-Smee 2010; Odling-Smee et al. 2003: 36 ff.). Hier sollen einige instruktive Beispiele genügen. Plankton absorbiert Licht und sorgt damit unter anderem für die Erwärmung der oberen Gewässerschichten (Capone et al. 1997; Jones et al. 1994). Zudem spielt es eine wichtige Rolle im Kohlenstoff‌kreislauf der Erde (Doney 2006), genauso wie Wälder den Wasserkreislauf entscheidend prägen (Holling 1992; Shukla et al. 1990). Aber auch der Nestbau von Termiten und von Vögeln stellt eine Nischenkonstruktionsleistung dar, ebenso wie Spinnennetze, Kokons von Schmetterlingen und Motten (Gullan und Cranston 2009; Preston-Mafham und Preston-Mafham 1996). Und wenn Biber Dämme bauen, lassen sie Seen entstehen und leiten Flussläufe um, verändern damit Nahrungskreisläufe, die Beschaffenheit des Ufers und die Zusammensetzung von Flora und Fauna (Laland und Sterelny 2006: 1752). Diese Nischen zeitigen erwiesenermaßen evolutionäre Rückwirkungen auf die sie konstruierende Spezies (Day et al. 2003; Odling-Smee et al. 2003). Nestbauer entwickeln spezialisierte Organe oder Gliedmaßen. Spinnen haben Sinnesorgane für das Empfangen von Signalen über Spinnenfäden (Gefahr, Kommunikation mit Artgenossen), die nur als Antwort auf die zuvor konstruierte Nische des Spinnennetzes verstanden werden können. Ferner kann solche Selektion die Evolution von Merkmalen begünstigen, welche die Fähigkeit zur Nischenkonstruktion weiter elaborieren. Das muss etwa bei einigen Spinnen geschehen sein, die ihre Netze zuerst nur als Unterschlupf nutzen und sie erst später als jene vielfältigen Werkzeuge zu nutzen vermochten, die sie heute sind (Henschel 1995). Auch haben eusoziale Ameisen vielerlei Fähigkeiten zur Regulierung ihrer konstruierten Nischen entwickelt. So können sie zum Beispiel aktiv Einfluss auf die Temperatur im Nest nehmen (Wilson und Hölldobler 2013). Die Schwärme und Kolonien eusozialer Insekten sind zudem nachgerade prototypische Beispiele für Systemübergänge in der Evolution. Aus dem Zusammen-

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spiel der einzelnen Individuen erwächst eine integrierte Einheit. In einem solchen „Superorganismus“ (Wilson und Hölldobler 2013) funktionieren teils höchst elaborierte Prozesse ohne individuelles Wissen über deren Gesamtzusammenhang und zentrale Steuerungseinheit. So ist unter Bienen die Entscheidung für anzufliegende Futterquellen in der Nähe ein emergentes Ergebnis interdependenter individueller Handlungen (Frisch 1967; Seeley 2009; vgl. Lange 2012: 246): Eine Kundschafterbiene führt umso energischer und lauter ihren Tanz auf, je ergiebiger die Futterquelle ist, die sie gefunden hat. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sammlerbienen des Schwarms ihren Tanz beobachten. Daraus wiederum resultiert eine statistische Gerichtetheit dafür, dass mehr Bienen die ergiebige Futterquelle anfliegen und nach ihrer Rückkehr selbst Nachahmer rekrutieren. Ähnliche Prozesse laufen bei Ameisen ab (Sumpter und Beekman 2003; Wilson und Hölldobler 2013): Die einzelnen Tiere hinterlassen auf dem Rückweg von einer Futterquelle zum Nest eine nach und nach verfliegende Pheromonspur. Ihr folgen dann weitere ausschwärmende Ameisen. Ist die Nahrungsquelle näher als andere gelegen oder ist ein Weg zum selben Ziel kürzer als der andere, so kehren die Ameisen auf dieser Spur schneller zurück, erneuern die Pheromonspur und sorgen auf diese Weise für eine höhere Konzentration des Hormons auf diesem Weg als auf seinen schlechteren Alternativen. In einer positiven Rückkopplungsschleife beschreiten und verstetigen dann weitere Ameisen diesen Pfad.445 „Kein Tier im Schwarm begreift das Ganze und dennoch: Jedes trägt seinen Teil zum Erfolg bei. Es gibt keinen Oberkommandierenden, keine zentrale Instanz, keinen Verwaltungsapparat. […] Stattdessen gibt es hoch effiziente, situationsabhängige Koordinationsprozesse. Sie sind in Äonen anhaltenden Wiederholungen evolviert und so erst auf dem perfekt erscheinenden Niveau eingespielt, wie man es heute beobachten kann. Der Schwarm reagiert auf Herausforderungen und findet die Lösungen, die ein einzelnes Mitglied niemals finden kann.“ (Lange 2012: 247)

Das Ganze ist hier tatsächlich mehr als die Summe seiner Teile. Aus im Grunde chaotischen Interaktionen von einzelnen Individuen, die auf Basis einfacher konditionaler Strategien handeln, entsteht eine sich selbst organisierende Ordnung (Bonabeau et al. 1997; Li et al. 2014; Wilson und Hölldobler 2013: 67). Solche funk-

445 Solche einfachen, dezentral angelegten und nicht-linear wechselwirkenden Strategien sind zielgerichteten Verfahren bei vielen Optimierungsproblemen überlegen. So eignet sich der „Ameisenalgorithmus“ dazu, optimale Lösungen für das Handlungsreisenden-Problem zu finden (Dorigo und Gambardella 1997). Inzwischen werden Algorithmen dieser Art in vielen anwendungsorientierten Wissenschaftszweigen eingesetzt (siehe exemplarisch Di Nardo et al. 2014; Ito et al. 2015; Liu und You 2015; Ozbakir et al. 2011).

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tional integrierten Superorganismen sammeln „Wissen“ an und treffen komplexe Entscheidungen über Nistplätze, Nahrungsvorräte, optimale Wege, Verteidigungsstrategien und vieles mehr, ohne dass es auf der Individualebene dafür ein Bewusstsein oder gar ein Verständnis gäbe (Seeley und Buhrman 1999).446 Der Systemübergang schlägt sich in (schwach) emergenten Merkmalen nieder – also in Eigenschaften, die zwar im Grunde auf nichts anderes zurückgehen als die Mikrobestandteile, deren funktionale Charakteristik sich aber erst durch Betrachtung der Makroebene sinnvoll erfassen lässt.447 Weitere Beispiele für solche Systemübergänge in der Geschichte der Evolution lassen sich auf ganz verschiedenen Komplexitätsstufen finden (vgl. Wilson und Sober 1998: 97 f.): der Übergang von der chemischen zur biologischen Evolution in der „Ursuppe“ durch die Verbindung von Molekülen zu replikationsfähigen Hyperzyklen (Eigen und Schuster 1977); die Entstehung von Chromosomen; die Bildung von Eukaryoten als komplexe Verbände von zuvor prokaryotischen Zellen (Margulis 1971); die Evolution von multizellularer Organismen aus Einzellern (Michod 1997; Michod und Roze 2001). Auch das Gehirn ist wohl das Ergebnis einer solchen ‚major transition‘ (Maynard Smith und Szathmáry 1999; Crick und Koch 2003; Suki 2012): Aus der Vernetzung von Neuronen, welche die individuelle „Entscheidung“ über die Informationsweitergabe per elektromagnetischem Impuls mit einfachen Algorithmen treffen, entsteht ein komplexes, selbstorganisierendes System. Wie von der Theorie vorhergesagt, sind Systemübergänge in der Wirklichkeit niemals endgültig und stets verwundbar gegenüber evolutionär älterem egoistischen Verhalten auf der jeweils unteren Ebene (Wilson und Wilson 2007b: 339). Gerade in komplexen Organismen zeigt sich das immer wieder in drastischer Weise. Zwar können intragenomische Konflikte meistens zugunsten des Funktionierens der gesamten Struktur unterdrückt werden. In vielen Fällen misslingt dies aber, wie etwa bei Krebserkrankungen. Das „gen-egoistische Verhalten“ von Zellen führt dann dazu, dass das Gesamtsystem nicht mehr als integrierter Organismus funktioniert (Burt und Trivers 2009). 446 Schwarmintelligenz und ‚wisdom of the crowd‘ eusozialer Insekten sind dank der Komplexitätstheorie inzwischen gut verstanden (Bonabeau et al. 1999; Bonabeau 2009; Galton 1907; Surowiecki 2005). Überhaupt hat sich diese Theorieperspektive auf die Entscheidungsfähigkeit dezentraler und selbstorganisierender Agentennetzwerke über viele Spezies hinweg als hilfreich erwiesen (Conradt und List 2009; Kao und Couzin 2014; Kao et al. 2014; Seeley und Buhrman 1999). 447 Solche Phänomene sind also ontologisch sehr wohl reduzibel, eine methodologische Reduktion auf die untere Analyseebene wäre aber erkenntnisverhindernd. Genau solche schwache Emergenz ist im Folgenden stets gemeint, wenn von Emergenz die Rede ist. Siehe dazu grundlegend S. 67 ff.

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Gelingen solche Systemübergänge aber, so entstehen neue Organisationsebenen des Lebens: Bakterien, Menschen, Bienenstaaten. Ihre Eigenschaften sind zwar kausal auf das Zusammenwirken ihrer Einzelteile zurückzuführen und von deren Beschaffenheit in kontingent pfadabhängiger Weise geprägt. Keineswegs jedoch sind diese Eigenschaften in diesen Elementen schon enthalten. Wozu eine Ameisenkolonie in der Lage ist, ergibt sich ausschließlich aus der Interaktion einzelner Tiere, die weder verstehen noch planvoll vorantreiben, was sie hervorbringen: Emergenz. Diese Makrofigurationen können samt ihren emergenten Eigenschaften evolvieren. Zwar findet die Vererbung der Merkmale der Mikrobestandteile von Königin zu Königin statt, aber die Kolonie – verstanden als die „extrasomatische Projektion ihres persönlichen Genoms“ (Wilson 2013: 227) – siegt oder scheitert gemeinsam im Spiel der Evolution. Das Selektionsziel sind nicht die einzelnen Individuen, sondern der gesamte Superorganismus. Dennoch müssen die zum Systemübergang notwendigen Merkmale der Individuen im Genom der Königin angelegt sein – zuvörderst die phänotypische Plastizität der Nachkommen sowie die Ausgestaltung ihrer konditionalen Handlungs- und Entscheidungsalgorithmen. Weder in den Genen noch sonst wo ist jedoch ein Bauplan für den Superorganismus codiert. Das Potential für Selektionsvorteile eines Bienenschwarms oder einer Ameisenkolonie gegenüber Konkurrenten erwächst erst aus den Interaktionsmustern der Individuen. Bienen und Ameisen haben per Multilevelselektion die Fähigkeit ausgebildet, das Kollektiv als Ressourcen für die Verfolgung gemeinsamer (oder besser: geteilter) Ziele einzusetzen. Ob bei der Entscheidung für neue Nistplätze oder bei der Erschließung von Nahrungsquellen: der gewaltige Nutzen des Beziehungsnetzwerkes liegt darin, viel bessere Ergebnisse bei der Lösung adaptiver Probleme zu liefern als individuelles Verhalten. Sowohl die Fähigkeit zum ‚decision making‘ als auch der Vollzug des Entscheidungsprozesses entstehen erst aus den Wechselwirkungen der einzelnen Agenten (Bonabeau et al. 1999; Kao und Couzin 2014). Die Königin profitiert, weil das Kollektiv als Ganzes performant ist. Ihre genetische Fitnessmaximierung ist eine Folge der emergenten Eigenschaften des Superorganismus. Sozialkapitalforscher werden sich womöglich damit schwertun, dies zumindest als eine ganz basale (im Vergleich zu Menschen allerdings ungleich stabilere) Form von kollektivem Sozialkapital anzuerkennen. Aber im Grunde ist hier genau das zu besichtigen, was Putnam für demokratische Menschengesellschaften beschreibt: Auf der Makroebene des sozialen Netzwerkes von Individuen, die sich aufeinander bezogen verhalten, entsteht das Potential zur Produktion und Aufrechterhaltung kollektiver Güter (Nahrung, Sicherheit, Infrastruktur, …). Und dieses Netzwerk basiert auf (sozialen) Reaktionsnormen im Nervensystem der

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Individuen, die deren Verhalten abhängig von (sozialen) Informationen aus der Umwelt steuern (Wilson und Hölldobler 2013: 62 ff.).448 Sogar gemeinsinnige Normen lassen sich in ihrer „internalisierten“ (hier eindeutig: genetisch codierten) – und externalisierten Form bei Honigbienen beobachten. So verzichten Arbeiterinnen meist von selbst darauf, unbefruchtete Eier zu legen, aus denen Männchen werden würden, obwohl sie damit genetische Eigeninteressen verfolgen könnten – und mithin freilich dem Kollektiv schadeten (Seeley 2009). Darüber hinaus werden sie von anderen Arbeitsbienen durch normdurchsetzendes Verhalten (‚policing‘) daran gehindert, etwa indem jene sie angreifen und ihre Eier fressen (Ratnieks 1988; Ratnieks und Visscher 1989; Visscher 1996). Hier trifft also eine individuelle normative Prädisposition auf eine Gruppennorm. Netzwerke und in ihnen (freilich nur implizit) geltende Normen fördern also auch bei eusozialen Insekten das Gemeinwohl der Gruppe. Sie befähigen zum kollektiven Handeln, dämmen individualistisches Trittbrettfahren ein und fungieren mithin auf proximater wie auf ultimater Ebene als Zielerreichungsressource. Der Vergleich hinkt nur, weil Sozialkapitalkonzeptionen ganz selbstverständlich auf Menschen und ihre Sozialgefüge begrenzt bleiben. Aber lässt sich solcher Anthropozentrismus angesichts all dieser funktionalen Äquivalenzen zu den Superorganismen der eusozialen Insekten rechtfertigen ? Augenscheinlich ruht menschliches Sozialkapital auf wesentlich komplexeren individuellen Prädispositionen und Mikro-Makro-Wechselwirkungen auf und wird von kulturellen Unterschieden sowie immenser individueller Verhaltensvariabilität geprägt. Die verblüffende analoge Ähnlichkeit ist dennoch nicht zu leugnen. Aus komplexitätstheoretischer Perspektive besteht zudem kein prinzipieller Unterschied zwischen den sich etwa bei kollektiver Entscheidungsfindung und Zielerreichung jeweils ereignenden Prozessen (Bonabeau 2009; Conradt und List 2009; Surowiecki 2005).449 Wer dennoch konzeptionell an einem grundsätzlichen Unterschied zwischen den kollektiven Kooperationsressourcen von Bienen und 448 Diese Reaktionsnormen sind epigenetische Entscheidungsregeln, deren Ergebnis sich aus einer Reaktion des bereits exprimierten Genoms, also des Phänotyps, auf seine Umwelt resultiert (Wilson und Hölldobler 2013: 63). Es liegt in der „Natur der Ameise“ und der Biene, diese Entscheidungen treffen zu können. Siehe dazu grundlegend S. 92 ff. 449 Schwarmintelligenz bei Menschen wurde, von einschlägig Forschenden heute vielzitiert, schon von Francis Galton thematisiert. Auf einer Viehmesse wurden die Teilnehmer gebeten, das Gewicht eines Bullen zu schätzen. Das arithmetische Mittel dieser Schätzungen lag nur 0,8 Prozent neben dem tatsächlichen Gewicht (Galton 1907). Gruppen von Menschen können sich mit ihren Entscheidungen also gemeinsam stärker auf Optima zubewegen, als das einzelnen Individuen möglich ist. Dies gilt wohlgemerkt nur für Gruppen, die sich mit der zu treffenden Entscheidung einigermaßen auskennen. Laiengruppen agieren nicht effizienter als einzelne Experten (Surowiecki 2005).

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Menschen festhalten will, wird das nur auf der Grundlage von – empirisch überprüfbaren – Aussagen über die besondere Qualität der Natur des Menschen tun können. Schon deswegen würde es lohnen, die Frage kontrovers und ergebnisoffen zu diskutieren, ob eusoziale Insekten über kollektives Sozialkapital verfügen. Jedenfalls lösen sie adaptive Probleme durch soziale Vernetzung. 4.5.2.3 Geborene Kulturwesen: Menschen als ultrasoziale Nischenkonstrukteure Aus evolutionstheoretischer Sicht lässt sich demnach die Vorstellung von kollektivem Sozialkapital als Zielerreichungsressource auf der Makroebene sozialer Wirklichkeit durchaus plausibilisieren. Nicht nur Menschen sind offenbar dazu in der Lage, die emergenten Effekten von Interaktionsmustern in Beziehungsnetzwerken als Zielerreichungsressource für Individuen und Kollektive zu nutzen. Viel spricht dafür, dass solche Systemübergänge hin zu einer emergenten Organisations­ebene bei der Evolution von Kooperation ganz zentral waren und sind, weil sie Selektionsprozesse auf der Gruppenebene ermöglichen und so Gemeinsinn und Zusammenhalt zu adaptiven Strategien werden lassen. Eine wichtige Rolle spielen dabei jene Nischen, welche die Organismen selbst konstruieren. Solche Umweltveränderungen können evolutionäre Anpassungsdrücke induzieren, die prosoziale Verhaltensdispositionen begünstigen. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass auch menschliche Kultur eine solche konstruierte Nische ist und menschliche Vergesellschaftung als Systemübergang angesehen werden kann. Wie schon bei den anderen naturgeschichtlichen Entwicklungspfaden der Kooperation führen die Suchspuren bruchlos vom Rest der belebten Natur zu unserer Spezies. Diesen Spuren ist nun weiter nachzugehen – und damit vor allem der Frage, auf welchen evolutionären Grundlagen die Fähigkeit des Menschen gründet, kollektives Sozialkapital urbar zu machen. Die Komplexität der Gegenstände macht dabei die Umwälzung sehr vielfältigen empirischen Materials nötig. Strukturiert wird dieser Gang durch die Befundlage der Life Sciences von den bisher referierten theoretischen und empirischen Erkenntnissen zu Multilevelselektion, Nischenkonstruktion und Systemübergängen. Nischenkonstruktion und Koevolution: Menschen als Kulturwesen „Menschen sind Nischenkonstrukteure par excellence“ (Voland 2013: 217). Homo sapiens manipuliert seine Umwelt aktiv und vielfältig, zum Nutzen wie auch zum Schaden für das eigene Leben und das der nachfolgenden Generationen. Belege

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dafür liefert schon ein flüchtiger Blick etwa auf Nahrungsproduktion sowie andere Wertschöpfungsketten, auf Institutionen, Kunst und Architektur – sowie auf all die Schäden, die unsere Spezies den Ökosystemen der Erde zufügt. Diese Konstruktionsfähigkeit leugnet in den Sozialwissenschaften ohnehin niemand, gehört sie doch zu den nachgerade identitätskonstruktiven Grundüberzeugungen dieser Disziplinen. Sie muss hier deshalb im Einzelnen nicht belegt werden. Es soll der Hinweis genügen, dass die Nischenkonstruktionstheorie für diese Phänomene neue und sparsame Erklärungsansätze mit sehr hoher Reichweite liefert. Für die hier verfolgten Ziele sind kontroversere Fragen interessanter: Haben von Menschen konstruierte Nischen auch ultimat dergestalt auf Menschen zurückgewirkt, dass es heute in der biologischen Natur des Menschen liegt, kulturfähig zu sein ? Sind Menschen also evolutionär an das Leben in kulturellen Nischen angepasst ? Wenn ja: in welcher Weise ? Und was hat all das mit Gemeinsinn und sozialer Kohäsion zu tun ? Kurzum: Was sind die naturgeschichtlichen und individualpsychologischen Wurzeln kollektiven Sozialkapitals ? Ohne Zweifel haben die selbst konstruierten Nischen die Evolution der menschlichen Natur entscheidend geprägt. Nachdem Menschen etwa mithilfe ausgefeilter Techniken der Nahrungsgewinnung sowie der Herstellung von Behausungen und Kleidung einen Puffer zwischen sich und die Selektionsfaktoren der natürlichen Umwelt gebracht hatten, konnten jene Anpassungsprobleme gleichsam umschifft werden, welche üblicherweise aus Migration in neue Habitate resultierten. So wurde unter anderem genetische Evolution in Richtung einer Anpassung wie Fellbewuchs abgefedert oder gar suspendiert (Laland 2009: 41; Wilson 2013: 240). Außerdem dürfte genau die auf enorme phänotypische Plastizität und Flexibilität aufsetzende Möglichkeit zur Erschaffung adaptiver Zwischenwelten (Eibl 2009), die „Spezialisierung auf Generalistentum“ (Roberts und Stewart 2018), ein entscheidender Faktor in der weltweiten Ausbreitung unserer Spezies gewesen sein. Menschliche Nischenkonstruktion dürfte aber Selektionsdrücke auch erhöht oder überhaupt erst erzeugt haben. Das Lehrbuchbeispiel hierzu ist die Evolution der Laktosetoleranz (Lange 2012: 279; Voland 2013: 218; Wilson 2013: 239): Sie basiert auf einer Mutation, die nicht älter als 10 000 Jahre ist und damit ungefähr mit der neolithischen Revolution zusammenfällt, also mit der Sesshaftwerdung und der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht. Ohne diese Mutation wird das Enzym Laktase, das den Milchzucker Laktose in für den menschlichen Körper verträglichen Zucker umwandelt, nur von Kleinkindern bis zum Ende der Stillzeit produziert. Alles andere liefe auf verschwendete somatische Energie hinaus und wäre für die längste Zeit der menschlichen Stammesgeschichte nicht adaptiv gewesen. Laktoseintoleranz ist der zu erwartende evolutionäre Normalfall – und genau diese Lösung setzte sich auch durch.

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Unter den Bedingungen von aufkommender Viehwirtschaft hatten dann jene (wenigen) Menschen direkte Fitnessvorteile, bei welchen eine Mutation für die fortgesetzte Produktion von Laktase und mithin für anhaltende Laktosetoleranz sorgte. Deshalb konnte sich die veränderte Gensequenz in wenigen tausend Jahren und zeitlich sowie geographisch parallel zur Ausbreitung der Landwirtschaft stark in der Gesamtpopulation ausbreiten (Beja-Pereira et al. 2003; Tishkoff et al. 2007; Burger et al. 2007).450 Funktional äquivalent ist das Beispiel eines westafrikanischen Stammes von Süßkartoffelbauern, die durch Waldrodungen die Entstehung von stehenden Gewässern und damit die Verbreitung von Moskitos und anderen Malaria-Überträgern förderten. In ihrer Population verbreitete sich eine Gensequenz, welche Schutz vor Malaria bewirkt (Durham 1991). Dass Evolution tatsächlich so rasch ablaufen kann, wurde ebenfalls in genetischen Studien gezeigt (Helgason et al. 2015).451 Damit ist belegt, dass es Gen-Kultur-Koevolution in der Naturgeschichte unserer Spezies gegeben hat. Die Natur des Menschen und seine kulturellen Hervorbringungen stehen in einem rekursiven Interaktionsverhältnis. Menschen konstruieren – wie andere Spezies auch – ihre ökologische Nische mit und gestalten sie aus. Das wiederum hat langfristig Folgen für die genetische Grundausstattung und damit potentiell auch für die Fähigkeit zur Nischenkonstruktion selbst. Solche Rückwirkungen auf Genfrequenzen können, wie das Beispiel der Laktosetoleranz belegt, in evolutionären Maßstäben relativ rasch vonstattengehen. Die Veränderungsraten über die Zeit sind aber gering genug, dass die entlang von solchen Gen-Umwelt-Interaktionen evolvierte Natur des Menschen für alle praktischen sozialwissenschaftlichen Zwecke als stabil angesehen werden kann. Noch recht wenig sagen uns die in den Blick genommenen Fälle jedoch über den Zusammenhang von Nischenkonstruktion für prosoziales Verhalten bzw. für die Entstehung von Sozialkapital. Für diesen Argumentationsschritt ist es jetzt nötig, die Perspektiven von Multilevelselektion und Systemübergängen mit jener der Nischenkonstruktion zu verbinden.

450 Inzwischen gilt auch der Verdacht als erhärtet, dass die helle Haut von Europäern erst im Zuge der neolithischen Revolution evolvierte. Anders als lange vermutet ist sie wohl keine Anpassung an das Problem von Vitamin-D-Mangel im Vergleich zu jenen sonnenreichen afrikanischen Savannen, in denen Menschen die längste Zeit ihrer Stammesgeschichte lebten. Vielmehr scheint sie eine Auswirkung der durch Landwirtschaft veränderten Ernährung zu sein (Olalde et al. 2014). 451 Es ist ebenfalls gut dokumentiert, dass epigenetische Mechanismen solcherlei Entwicklungen rasch vorantreiben können (vgl. Lange 2012: 114 ff.). Zum theoretischen Hintergrund siehe S. 311.

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Gruppenkonkurrenz und Binnenkohäsion: Ultrasozialität als Systemübergang Vieles deutet darauf hin, dass sich in der frühen Menschheitsgeschichte ein Systemübergang vollzog, in dem menschliche Gruppen zu einem Primatenäquiva­ lent von Organismen und Bienenschwärmen wurden (Wilson et al. 2008: 7; vgl. Haidt et al. 2008; Wilson 2013; Wilson und Sober 1998). Es geschah ein qualitativer Sprung, der sich unter Säugetieren sehr selten und unter Primaten nur im Falle unserer Vorfahren ereignet hat. Die Folgen waren offenkundig gravierend, wie der Siegeszug gegenüber Einzelgängern, Familienclans, losen Gruppen und nicht zuletzt auch anderen Hominiden sowie die Verbreitung über den ganzen Globus belegt. Auch darin ähnelt dieser Übergang jenem zur eusozialen Lebensweise mancher Insekten. Der für Insekten wie Bienen und Ameisen benutzte Begriff der Eusozialität eignet sich für Menschen nicht, weil sterile Kasten kein grundlegender Bestandteil ihrer Sozialorganisation sind.452 Im Zusammenhang mit unserer Spezies wird deshalb oft von Ultrasozialität gesprochen (Campbell 1982; Gowdy und Krall 2013; Kappelhoff 2004; Richerson und Boyd 1998). Der Begriff wird der Einzigartigkeit des Systemübergangs unserer Spezies hin zu integrierten Makrofigurationen und routinemäßiger sowie massenhafter Kooperation gerecht, ohne die funktionale Äquivalenz zu anderen Naturphänomenen zu unterschlagen. „Ultrasociality refers to the most social of animal organizations, with full time division of labor, specialists who gather no food but are fed by others, effective sharing of information about sources of food and danger, self-sacrificial effort in collective defense. This level has been achieved by ants, termites and humans in several scattered archaic city-states. […] In the social insects, the further route [..] has been achieved by caste sterility, almost entirely removing genetic competition among the co-operators; this route has not been available for human urban societies. Instead, cultural evolution (including norms inhibiting human selfishness, deceitfulness and cowardice) has been required.“ (Campbell 1982: 431 f. Hervorh. i. O.)

Alle aus theoretischer Sicht zentralen Kriterien für einen Systemübergang waren erfüllt:453 So bildete sich arbeitsteilige Spezialisierung heraus, die das Wohlergehen des Einzelnen stärker vom Funktionieren des Kollektivs abhängig werden 452 Allerdings gibt es dieses Phänomen natürlich auch bei Menschen; und zu verschiedenen historischen Zeiten haben zölibatär lebende Angehörige von Religionsgemeinschaften durchaus erheblichen Anteil an der Organisation des sozialen Lebens gehabt. Siehe dazu für weitere Argumente und Literaturhinweise Betzig (2014). 453 Vgl. S. 313 ff.

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ließ. Zudem entstand mit Sprache und kulturellen Artefakten die Möglichkeit epigenetischer Informationsweitergabe. Und auch ein dauerhaftes Konfliktpotential der Systemebenen bestand, weil weiterhin (gen-)egoistisch motivierte Individuen komparative Vorteile innerhalb der Gruppe daraus ziehen konnten, die Prosozialität ihrer Mitmenschen auszunutzen (Wilson et al. 2008: 7). Doch lässt sich auch zeigen, dass eine Triebfeder dieser Integration hin zu einer höheren Organisationsebene die Selektion auf Gruppenebene war, wie das die Multilevelselektion behauptet ? Und liegt darin wirklich eine zur Natur des Menschen gehörende Disposition für gemeinsinniges Handeln begründet ? Und wenn dem so ist: Welche kausale Mechanik liegt den beteiligten psychologischen Mechanismen zugrunde ? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es, zunächst die Rahmenbedingungen dieses Systemübergangs etwas detaillierter nachzuvollziehen. Menschen haben die meiste Zeit ihrer Stammesgeschichte in aus heutiger Sicht relativ kleinen, für Primaten aber doch ziemlich großen Gruppen von ca. 150 Menschen zusammengelebt (Caporael und Baron 2014; vgl. Workman und Reader 2010: 219). Dies belegen Fossil- und Artefaktfunde (Foley und Lewin 2004) ebenso wie Beobachtungen bei zeitgenössischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaf­ ten (Lee 1979; Chagnon 2013).454 Es konnte gar gezeigt werden, dass die Größe des Neocortex im Verhältnis zum Rest des Gehirns unter Primaten mit der Gruppengröße korreliert. Extrapoliert man von diesem Zusammenhang anhand der Größe des menschlichen Neocortex die zu erwartende Gruppengröße, ist das Ergebnis: 150 (Dunbar 1996, 1998).455 Zusammen mit Erkenntnissen aus der Feldforschung zu Kompaniegrößen im zweiten Weltkrieg und dem durchschnittlichen Bekanntenkreis von normalen Erwachsenen konvergieren also eine Reihe von Befunden auf diese „magische Zahl“ hin (Buunk und Dijkstra 2012: 36 f.; Hampton 2010: 156 f.). Gerade die Befunde zur Größe des Neocortex legen die Vermutung nahe, dass die evolutionär neueren Regionen des Gehirns mit dem Leben in komplexen sozialen Umwelten und folglich mit der Entwicklung der menschlichen Ultrasozialität in Zusammenhang stehen. Unser Gehirn ist anscheinend wirklich ein „soziales Organ“, das vorrangig dafür optimiert ist, unser Sozialverhalten in fitnessmaximierender Weise zu steuern (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007). Wie sich zeigen wird, erschöpft sich diese Verhaltenssteuerung nicht in der menschlichen 454 Siehe hierzu auch die Ausführungen zum Environment of Evolutionary Adaptedness (S. 91 f.). 455 Der Neocortex ist jenes Areal des Vorderhirns, das bei Primaten im Vergleich zu anderen Säugetieren vergrößert ist und das für allerlei höhere Hirnfunktionen zuständig ist. Siehe hierzu S. 90 f.

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Neigung, in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder Gruppen in Größen zu bilden, die für uns „überschaubar“ sind.456 Dieses Gruppenleben unserer Vorfahren war von Zwischengruppenkonflikten geprägt. Anders als in der Moderne vielfach vermutet und von Rousseau romantisierend auf „edle Wilde“ projiziert, waren vormoderne Stämme kriegerisch und gewaltbereit (Keeley 1996; Helbling 2005; Pinker 2011a; Wrangham et al. 2005). Diese Konflikte sind in ihren psychologischen und organisatorischen Erscheinungsformen den oben beschriebenen Schimpansenkriegen ähnlich und lassen auf eine mit unseren engsten Verwandten geteilte Prädisposition zum Engagement in kriegerischen Auseinandersetzungen schließen (Wrangham und Glowacki 2012).457 Überhaupt waren Kriege von jeher der Ausdruck einer Konkurrenz von autonomen Gruppen um überlebensrelevante Ressourcen wie Nahrung, Lebensraum, Handelsrouten, weibliche Fruchtbarkeit und sozialen Status (Meyer und Van der Dennen 2002; Van der Dennen 2007; vgl. Voland 2013: 89 f.). Sie können als eine adaptive Reaktion von Menschengruppen auf Ressourcenprobleme verstanden werden (Gat 2010), die Gewinner und Verlierer kennt und damit Selektion auf der Gruppenebene ermöglicht. In diesem faktischen permanenten Kriegszustand tribaler Gesellschaften (Meyer 2010: 67) gab es eine Fitnessprämie für Mitglieder solcher Gruppen, denen es gelang, die Binnenkonkurrenz zugunsten von Vorteilen im – nicht notwendigerweise immer gewaltsam ausgetragenen – Wettbewerb mit anderen Gruppen zu minimieren. Wie sich in agentenbasierten Simulationen zeigen lässt, kann in solchen Szenarien parochialer Altruismus evolvieren, also die Fähigkeit zur Investition in ein gemeinsames Gruppenziel (Choi und Bowles 2007). Auffällig ist ferner, dass nahezu immer gerade dort große Imperien zu politischer, gesellschaftlicher und kultureller Blüte gelangten, wo sich zunächst große Stämme, Völker bzw. ethnische Gruppen konkurrierend gegenüberstanden. Dort konnte Gruppenselektion jene Gemeinschaften prämieren, die interne Koordinationsprobleme besser lösten als andere (Turchin 2007, 2009) – wozu auf Dauer nicht nur Zwangsmittel, sondern auch kohäsiv und integrierend wirkende soziale 456 Das ist eine illustrative Tautologie, denn diese Gruppengrößen sind für uns ja vermutlich gerade deshalb „überschaubar“, weil unsere Vorfahren sich über Jahrhunderttausende und Jahrmillionen auf das Leben in ihnen anpassten. Wir bilden Gruppen dieser Größe nicht, weil sie für uns überschaubar sind. Vielmehr sind sie für uns überschaubar, weil wir seit jeher in Gruppen dieser Größenordnung leben. Dafür spricht auch, dass der Umfang menschlicher Gruppenbildung offenkundig von dieser Überschaubarkeit nicht grundsätzlich limitiert wird, wie das Zusammenleben in – für Menschen ganz unüberschaubaren – Städten und Gesellschaften beweist. 457 Zu Schimpansenkriegen siehe S. 332 f. Natürlich unterscheidet sich menschliche Kriegsführung in psychologischer und organisatorischer Hinsicht dennoch stark von jener der Schimpansen. Siehe dazu ausführlich Gintis et al. (2015).

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Vernetzungsstrukturen nötig gewesen sein dürften. Bevorteilt waren folglich in unserer Stammesgeschichte jene Gruppen, die über kollektives Sozialkapital verfügten. Gruppensozialität und kulturelle Normen: Gemeinschaft als Anpassung Die entscheidende Frage ist nun, ob diese Ausgangslage dazu geführt haben könnte, dass gemeinsinnige Neigungen bei Menschen evolvierten. Anthropologische Befunde deuten darauf hin, dass es sich so zugetragen hat. Die Sozialverbände anderer Primaten (inklusive der Schimpansen) sind in Dominanzhierarchien organisiert, in denen fitnessrelevante Ressourcen von physisch kraftvollen Individuen an der Spitze dieser Hierarchien gebündelt werden (Bissonnette et al. 2014; King et al. 2009). Den dominanten Individuen entstehen dadurch nachweislich fitnessrelevante Vorteile gegenüber anderen Mitgliedern der Gruppe (Majolo et al. 2012; Maestripieri 2008). Die phänotypische Variation individueller Merkmale innerhalb der Gruppe ist groß; Individualselektion ist die dominante evolutionäre Kraft. In Gruppen von Jägern und Sammlern herrschte hingegen ein beachtliches Maß an sozialer Kontrolle, die gerade nicht auf Macht und Unterdrückung basiert (Gintis et al. 2015). Wie eine Metaanalyse von Studien zu über 150 zeitgenössischen und historischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ergab, lag der Sozialorganisation der kleinen, autonomen Menschen-Gemeinschaften stattdessen ein unter Primaten einzigartiges „Egalitarismus-Syndrom“ zugrunde (Boehm 1997, 2001; vgl. Gavrilets 2012), das sich auch in kulturelle Gruppennormen umsetzte. Anders als bei anderen Primaten hatte sich eine „umgekehrte Dominanzhierarchie“ entwickelt, die auf „anti-hierarchischen Gefühlen“ aufruhte – also auf egalitären moralischen Apriori (Boehm 2001). Privilegien wurden nur akzeptiert, wenn sie sich mit einer herausgehobenen Rolle bei der Hervorbringung von Gemeinwohl rechtfertigen ließen (Boehm 1993, 1996, 2001; vgl. Wilson und Sober 1998: 184 ff.).458 Offenbar herrschte mindestens in den letzten 40 000 Jahren in nahezu allen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ein überwachter Egalitarismus (‚guarded egalitarianism‘) (Boehm 2001).459 Diese Gemeinschaften funktionierten nach der 458 Machtgefüge und Ungleichheiten können sich also auch aus den funktionalen Anforderungen von auf Konkurrenzminimierung hinstrebenden Gruppennormen ergeben. Andererseits sind sie freilich Ausdruck von evolutionär älteren, unter den Bedingungen von individueller Konkurrenz entstandenen psychologischen Mechanismen. 459 Dieser Egalitarismus erstreckte sich übrigens – anders als lange angenommen – möglicherweise auch auf das Geschlechterverhältnis. Es gibt Hinweise darauf, dass die Geschlechterrollen nicht so klar getrennt waren, wie das die Theorie des „sex contract“ (Fisher 1982) angenommen hatte (Dyble et al. 2015; Ryan und Jetha 2012). Siehe dazu auch S. 506 ff.

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Logik der indirekten Reziprozität (Boehm 2012).460 Die soziale Kontrolle über die Einhaltung von moralischen Normen basierte erstens auf Reputation als teurem Signal, zweitens auf Klatsch und Tratsch über dieses Signal, drittens auf sozialen Emotionen als wesentlicher Handlungsmotivation.461 Viertens sorgte die menschliche Fähigkeit zur geteilten Intentionalität für die Entwicklung einer sehr effektiven und kostengünstigen Möglichkeit des kollektiven altruistischen Bestrafens von Normverletzern (Boehm 1997; Bingham 1999; Okada und Bingham 2008).462 Einem so dichten Netz von Reputations- und Konformitätskontrolle – also: des ‚policings‘ – war schlechterdings kaum noch zu entkommen. Verhaltensweisen, die nur einzelnen Gruppenmitgliedern zugutekamen, konnten leicht entdeckt, kommuniziert und bestraft werden (Wilson et al. 2008: 7). Augenscheinlich kanalisierte das Zusammenspiel individueller Prädispositionen in einer Gruppe eine emergente Prozessdynamik, aus der eine unter Primaten einzigartige, stark gruppenbezogenen Lebensweise hervorging. Diese neuartige, hoch organisierte Form der Vergemeinschaftung sorgte einesteils für Selektion auf der Gruppenebene – und erzeugte andernteils als konstruierte Nische auch neue Selektionsdrücke auf der Individualebene. Während die kausale Mechanik dieser Dynamik in den folgenden Abschnitten genauer zu betrachten sein wird, gilt es zunächst, diese grundsätzliche Einsicht weiter zu entfalten. „With nothing more than kin selection and reciprocal altruism theories to work with, the selection basis of human degrees of altruism and cooperation is often difficult to explain. However, during our prehistoric foraging phase, a highly stable egalitarian syndrome arose that had profound effects on Darwinian selection mechanics. The band’s insistence on egalitarianism seriously damped male status rivalry and thereby reduced the intensity of selection within the group by reducing phenotypic variation at that level, while powerful social pressure to make decisions consensual at the band level had a similar effect.“ (Boehm 1997: 100)

Ganz folgerichtig unterscheidet sich das Gruppenleben von Menschen und Primaten entscheidend im Hinblick auf die Fähigkeit zum kollektiven Handeln. Primaten erhalten von Gruppen Schutz, Hinweise auf Fundstellen für Nahrung und Zugang zu anderen fitnessrelevanten Ressourcen wie Fortpflanzungspartnern. Die Gruppenzugehörigkeit dient also der individuellen Zielerreichung; es gelingt den Tieren aber kaum einmal, organisierte kollektive Handlungen zu vollführen (vgl. 460 Zur indirekten Reziprozität siehe S. 254 ff. (Theorie) sowie S. 270 ff. (Empirie). 461 Zu Reputation als teurem Signal sowie Klatsch und Tratsch siehe S. 277 ff., vgl. auch S. 360 f. 462 Zur geteilten Intentionalität siehe S. 269 f. sowie S. 357 ff.

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Gintis et al. 2015). Menschen hingegen sind so versiert im kollektiven Handeln, dass in den Sozialwissenschaften eher sein Scheitern als sein Zustandekommen als erklärungsbedürftig gilt. Der Grund dafür lässt sich auf unterschiedliche Begriffe bringen, die auf verschiedene Arten das gleiche Phänomen abbilden: Menschengruppen integrierten sich zu einer „moralischen Gemeinschaft“ (‚moral community‘) (Boehm 1993, 2001). Sie schufen sich eine soziokognitive Nische, die auf elaborierten sozialen Kompetenzen aufruhte (Whiten und Erdal 2012): zuvörderst der Fähigkeit zur Kooperation bei der Erreichung gemeinsamer Ziele (Choi und Bowles 2007; Tomasello 2010b; vgl. García und van den Bergh 2011), ihrerseits basierend auf einer weit entwickelnden Theory of Mind,463 aber auch auf Sprache und kultureller Informationsweitergabe. Wie ferner im Folgenden noch genauer zu erörtern sein wird, bildeten nicht zuletzt moralische Intuitionen und soziale Emotionen die Ausgangs- und Anknüpfungspunkte jener geteilten Normen und Werte, welche den Kern solcher moralischen Gemeinschaften darstellen. All diese Merkmale sind zwar schon bei Primaten in Ansätzen vorhanden, aber erst bei Menschen machte ihr Zusammenspiel einen Systemübergang möglich. Auch die Rede von „Kultur als Zwischenwelt“ (Eibl 2009) rekurriert auf das Zusammenspiel dieser Faktoren: Über kommunikatives Handeln, Symbolisierungen und Institutionalisierungsprozesse konstruieren Gruppen von Individuen eine flexible Schnittstelle gegenüber ihrer natürlichen sowie sozialen Umwelt, die neue Handlungsspielräume eröffnen und in evolutionären Maßstäben blitzschnelle Lösungen für adaptive Probleme liefern kann. Die von unseren Vorfahren konstruierten kulturellen Nischen dienten ihnen sozusagen als anpassbare Anpassung an die hochgradig variablen Umgebungen, in die sie vordrangen. Zu den wesent­ lichen Funktionen dieser konstruierten Anpassung gehörte die Schaffung von Kohäsion und Gemeingütern – unter anderem durch die effektive Durchsetzung moralischer Normen in der Gruppe. Das Argument hinter den Konzepten der moralischen Gemeinschaft, der soziokognitiven Nische und der Zwischenwelt ist also wenig mehr als die Fortsetzung des Bourdieuschen Ansatzes auf der ultimaten Ebene – bereichert allerdings um die Einsicht, dass durch Symbolisierung und Institutionalisierung dauerhaft stabilisiertes Sozialkapital nicht nur als individuelle, sondern auch als kollektive Handlungsressource einer Gruppe anzusehen ist. Wie aber mussten solche Zwischenwelten beschaffen sein, damit kollektives Sozialkapital entstehen konnte ? Es wurde eingangs gezeigt, in welcher Weise Kulturleistungen wie Ackerbau und Viehzucht zu genetisch bedingter Malaria-Immu­

463 Zur Theory of Mind siehe S. 258.

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nität und Laktosetoleranz führ(t)en, wie also von Menschen proximat Hervorgebrachtes Konsequenzen auf der ultimaten Ebene haben kann. Ein zentrales Argument für die Evolution von Kooperation per Gruppenselektion liegt darin, dass dies auch mit prosozialen Verhaltensdispositionen unter den Bedingungen kultureller Nischen geschehen sein könnte. Eine Schlüsselrolle kommt dabei seit jeher sozial konstruierten Normen zu, wie sich am überwachten Egalitarismus in den moralischen Gemeinschaften tribaler Sozialgefüge gezeigt hat. In Gemeinschaften mit funktionierender Regeldurchsetzung treten einzelnen Menschen die geltenden Normen als Umwelt entgegen, in der sie individuelle Fitnessprobleme zu lösen haben.464 Über die Ausrichtung von individuellem Verhalten an Normen entsteht soziale Kontrolle, und im Ergebnis wird Konkurrenz innerhalb der Gruppe gesenkt. So werden zum Beispiel über Umverteilungsmechanismen, Strafrecht, Erbfolge- und Heiratsregelungen vielerlei Unterschiede in reproduktiver Fitness und materiellem Wohlstand reduziert (Bowles 2006; vgl. Gintis et al. 2009: 613 f.). Wenn es in Gruppen wegen solcher Normen weniger differentielle Reproduktionsunterschiede gibt, kann Individualselektion nicht mehr so stark wirken. Weil die inklusive Fitness eines Individuums dann nicht mehr so stark direkt vom eigenen Handeln abhängt, verringern sich auch die potentiellen Nachteile prosozialen Verhaltens jenseits von Nepotismus und Reziprozität. Wird nun eine Gruppe wegen solcher altruistischen Individuen so erfolgreich, dass sich ihre Mitglieder relativ zu anderen Gruppen stärker vermehren, dann nimmt die Frequenz dieser genetischen Disposition für das gemeinsinniges Verhalten in der Population zu – und mit ihr auch das Potential für kollektives Sozialkapital. Durch Migration zwischen Gruppen können zudem sowohl diese individuellen Merkmale als auch die Normen und Werte erfolgreicher moralischer Gemeinschaften in andere Gruppen exportiert werden (Choi und Bowles 2007). Das führt freilich zu der Frage, welche konstruierten Gruppennormen in diesem Sinne besonders erfolgversprechend sind. Offenbar sind dies jene, mit welchen es gelingt, psychologische Mechanismen gleichsam „anzuzapfen“, die schon früher im Wege von Individual- und Verwandtenselektion evolviert waren (Wilson 2015). Die als Lösung anderer adaptiver Probleme evolvierte Reaktionsnorm 464 Besonders augenfällig ist der Nischencharakter von Institutionen, in denen Menschen „geronnene Normen“ als soziale Tatsachen begegnen. Aber auch informelle normative Wissensbestände und Deutungsroutinen, über die sich Menschen wechselseitig verständigen, zählen dazu. Denn auch sie werden zu faktischen Umwelt, wenn sie in Prozessen sozialer Wirklichkeitskonstruktion für alle praktischen Zwecke unverfügbar gemacht werden (Patzelt 2013c; vgl. Berger und Luckmann 1969; Patzelt 1987). Ist man sich einig, dass man die Dinge „hier eben so tut“, dann hängt Wohl und Wehe von Neulingen davon ab, sich in diese Welt einzupassen.

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kann für neue Zwecke wie die Zwischengruppenkonkurrenz oder die Minderung der Binnenkonkurrenz nutzbar gemacht werden. So liegt die Funktion von moralischen Intuitionen (etwa in Bezug auf Fairness, Loyalität, Autorität und Reinheit) und sozialen Emotionen (wie Wut auf Regelbrecher) im Sicherstellen erfolgreicher sozialer Interaktionen.465 Selbst wenn sich solche evolvierten Dispositionen also zuerst im Zusammenhang mit Reziprozität oder Eltern-Kind-Konflikten entwickelt haben (vgl. Voland und Voland 2014), sind sie doch für die Herstellung von Gruppenkohäsion überaus nützlich. Ihr Effekt kann sich aber nur dann entfalten, wenn sie von sozial konstruierten Normen wirkungsvoll, also entsprechend ihrer Funktionslogik, adressiert werden. Auch die sprachliche Bezugnahme auf Familien ist ein häufig gebrauchtes und wirkungsvolles Mittel, um Normen zu legitimieren und Kooperation innerhalb der so diskursiv konstruierten Eigengruppe herzustellen. Ob Bruderschaften, Vaterland und Muttersprache, „Brüder im Geiste“, der Heilige Vater, Waffenbrüder, „Mutti“ als Bezeichnung für eine Bundeskanzlerin, Schillers „Alle Menschen werden Brüder“ – oder der Verweis darauf, „wir“ seien schließlich alle eine große Familie. Mit solchen Rekursen werden zur Natur des Menschen gehörende Module der Verwandtenerkennung angesprochen. Sie stellen einen Versuch dar, konditionale Mechanismen zu kapern, um nepotistische Veranlagungen auf Gruppen von Nichtverwandten umzulenken. Diese können dann von (pseudo-)nepotistischem Sozialkapital als Kollektivgut profitieren.466 Soziale Emotionen und moralische Intuitionen sind deshalb wohl nicht nur in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ein wichtiger Quell von Legitimität. Es ist das Empfinden, dass geltende Normen und praktizierte Herrschaft zurecht bestünden, schlechterdings nichts anderes als eine positive Reaktion unserer Psyche und unseres Organismus auf Umweltstimuli. In die Natur des Menschen ist eine „universelle moralische Grammatik“ (Mikhail 2007) schon eingelassen – und sie bildet jene Tiefenstruktur, auf welche sich kontingente kulturelle Regeln zunächst einmal gründen können müssen, wenn sie nachhaltig bestandsfähig sein und so ihrerseits über Generationen hinweg als konstruierte Nischen Selektionsdrücke ausüben sollen. Die Evolution von Prosozialität wurde demnach durch positive Rückkopplungsschleifen zwischen konstruierten Normengefügen und konditionaler Verhaltensflexibilität auf der Basis von evolvierten psychologischen Mechanismen vorangetrieben, deren fitnesssteigernde Effekte sich auf der Gruppenebene zeigten. Waren solche kulturellen Nischen nämlich einmal konstruiert, konnte Gruppen465 Zu moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen siehe S. 282 ff. sowie S. 360 ff. 466 Zu solcher virtuellen Verwandtschaft und dem mit ihrer Hilfe herstellbaren pseudo-nepotistischen Sozialkapital siehe S. 225, S. 229 f., S.  235 ff., S.  419 ff. sowie S. 435 ff.

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selektion angreifen. Es hatten jene Gruppen Vorteile, in denen soziale Normen tatsächlich in der Zwischengruppenkonkurrenz nützlich wurden – zum Beispiel in direkten kriegerischen Auseinandersetzungen oder indirekt über differentielle Reproduktion. Die Vorteile kamen zustande, weil die kulturellen Konstruktionen (zunächst) die psychologischen Prädispositionen ihrer Mitglieder wirkungsvoll kaperten, und weil jene (später) immer besser an das Leben in weiterentwickelten soziokognitiven Nischen angepasst waren.467 Jedenfalls nützte es Gruppen wohl, wenn die Interaktion von Individuen und ihren gemeinsam bewohnten normativen Zwischenwelten zuverlässig gelang – die Regeln des Zusammenlebens also dauerhaft und unter wechselnden Bedingungen befolgt und in Geltung gehalten wurden. Kurzum: Kultur ist adaptiv. Sie war in der Stammesgeschichte nie ein Gegenstück zur Natur, sondern eine auf biologischen Vorbedingungen aufruhende evolutionäre Anpassung (Richerson und Boyd 1985). Kulturelle Variabilität ist eine Resultante jeweils distinkter Anpassungsprozesse an spezifische adaptive Probleme, die sich Gruppen in ihren jeweiligen Umwelten stellten (Diamond 2006a). Denn natürlich ist Kultur als Zwischenwelt nur nützlich, wenn sie tatsächlich eine puffernde Funktion erbringt, also relevante Problemdrücke abmildert. Eine moralische Gemeinschaft kann noch so verschworen und kooperativ sein; wenn die geteilten Werte und Leitideen in eine evolutionäre Sackgasse führen, nützen sie der Gruppe auf lange Sicht trotzdem wenig. Neben dem Standardbeispiel der Osterinsel lassen sich viele weitere Fälle in der Geschichte finden, in denen Gemeinschaften an ihrem eigenen Erfolg bei der Herstellung von Kollektivgütern zugrunde gingen, weil sie sich mit ihrem Tun selbst die Lebensgrundlage entzogen (Diamond 2011). Eine andere zentrale Bedrohung für kulturelle Gruppen kommt von innen. Zwar haben Menschen offenkundig mit graduellen evolutionären Weiterentwicklungen einen qualitativen Sprung in der Sozialorganisation geschafft. Jedoch vollzog sich dieser Systemübergang in evolutionären Maßstäben erst vor relativ kurzer Zeit, sodass auch die evolutionär älteren egoistischen und nepotistischen Wesenszüge längst nicht verschwunden sind. Ohnehin können Systemübergänge und Selektion auf emergenten Ebenen den Wettbewerb auf der unteren Ebene nie endgültig unterbinden. Die Fitness-Dividende für Egoisten in Gruppen aus Altruisten ist – zumindest mittelfristig – einfach zu groß. Das zeigt sich empirisch nicht nur bei Krebszellen und trittbrettfahrenden Mikroorganismen.468 Auch unter Menschen sind Betrug, Nepotismus und soziale Dominanz verbreitete Mittel gemeinschaftsschädigender Vorteilsnahme. 467 Siehe dazu auch S. 353 ff. 468 Vgl. S. 329 ff.

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Theoretisch zu erwarten ist ein Wettrüsten zwischen individualistischen Strategien und überwachtem Egalitarismus.469 Tatsächlich geben die schon im Zusammenhang mit indirekter Reziprozität und Handicap-Altruismus vorgestellten Befunde Zeugnis davon: Man denke an den Observer-Effekt: Beobachtende Augen­paare haben einen vorbewussten positiven Einfluss auf prosoziales und normenkonformes Verhalten.470 In unserer Stammesgeschichte machte es augenscheinlich schon sehr lange Zeit einen Unterschied, ob man sich unter Beobachtung den kulturellen Konventionen beugte bzw. sich kooperativ verhielt – und zwar offenbar so lange, dass sich schließlich auch psychologische Mechanismen zur Realisierung egoistischer Strategien an die Bedingungen des Lebens in kulturellen Gruppen anpassten. Auch spieltheoretische Experimente führen diese komplexe Interaktion aus Normensystemen und Individuen unter den Bedingungen von kultureller Gruppenselektion (Richerson und Boyd 2005, 2009b, 2010) vor Augen.471 In PublicGoods-Spielen gelingt es, die Binnenkonkurrenz über soziale Kontrolle zu reduzieren, wenn mithilfe von Institutionen normative Intuitionen im Hinblick auf Gerechtigkeit und Fairness angesprochen werden – wenn also überwachter Egalitarismus etabliert wird. Wo für individuelles Verhalten mithilfe von Reputa­tionsskalen eine Öffentlichkeit hergestellt wird und zudem die Möglichkeit zum altruistischen Bestrafen von Egoisten besteht, gelingt es Gruppen relativ zu anderen besser, Kollektivgüter zu generieren (Fehr und Gächter 2002; Gürerk et al. 2006; Rockenbach und Milinski 2006). Der ultimate Selektionsvorteil dieser Gruppen – oder in proximater Lesart: das Kooperationspotential bzw. das kollektive Sozialkapital – liegt in der Wechselwirkung von Beziehungsnetzwerken und konstruierten Nischen aus Normen und Institutionen. Festzuhalten bleibt, dass die Evolution von Prosozialität nach dem Muster der indirekten – oder auch: generalisierten – Reziprozität mithilfe der Multilevelselektion elegant und schlüssig erklärt werden kann (Gintis et al. 2009; Nowak und Sigmund 2005). Die Theorie ist dabei integrativer und überzeugender als ein strikt individualselektionistischer Ansatz (Gintis et al. 2009: 613 ff.). Zwar besteht darüber unter Evolutionspsychologen und Soziobiologen längst kein Konsens (vgl. Price 2011: 96 ff.). Dass das Zusammenleben in kooperativen Sozialverbänden die Natur des Menschen jedoch nachhaltig geprägt hat, ist eine Einsicht, die sich immer mehr durchsetzt (vgl. Buss 2012: 290 ff.).472 469 Zu solchem Wettrüsten siehe S. 282 f. sowie S. 308 f. 470 Zum Observer-Effekt siehe S. 280 f. 471 Für eine genauere Schilderung dieser Befunde der Verhaltensökonomik siehe S. 270 ff. 472 Manche Autoren verweisen nach wie vor auf die zentrale Rolle des Nepotismus für menschliche Sozialität, und für den Fall des pseudo-nepotistischen Sozialkapitals ist das auch ganz

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Alles in allem spricht viel dafür, dass kollektives Sozialkapital ein Ergebnis kultureller Gruppenselektion ist, also über Multilevelselektion in Verbindung mit Gen-Kultur-Koevolution entstand. Das Aufkommen der aus der Interaktion von sozialen Netzwerken und kulturellen Normen erwachsenden Möglichkeit zum zielgerichteten kollektiven Handeln dürfte gar ein wesentlicher Grund für den Erfolg der menschlichen Spezies gewesen sein. Bourdieu hatte schon erkannt, dass Sozialkapital auf der proximaten Ebene ein wirkungsvolles Mittel in der Zwischengruppenkonkurrenz ist. In ultimater Perspektive zeigt sich überdies, dass solcher Wettbewerb die evolutionäre Ursache für kollektives Sozialkapital gewesen sein dürfte. Dass es diese Form des Sozialkapitals gibt und dass sie ein emergenter Effekt der Wechselwirkung von Genen und konstruierten Nischen ist, kann jedenfalls kaum noch bezweifelt werden. Kollektives Sozialkapital ist ein emergentes Produkt der Fähigkeit von vernetzten Gehirnen, gemeinsam zu handeln – und ständig bedroht vom (evolutionär älteren) Individualismus und von unpassenden Institutionengefügen. Konstruierte Normen werden nämlich nur dann zu wirklich bedeutsamen Spielregeln, wenn sie an die Natur des Menschen andocken. Auf der Metaebene lässt sich daraus folgende zentrale Einsicht ziehen: Makrophänomene wie Gruppenkohäsion und Performanz beim kollektiven Handeln lassen sich durchaus mit anderen Makrophänomenen wie konstruierten Normen und Institutionen erklären, wie es Durkheim forderte. Und genauso stimmt das Diktum der Weberianer, dass hinter der Entstehung solcher emergenten Phänomene und ihrer Rückwirkung kausale Mechanismen auf der Mikroebene stehen. Um diese Mechanismen samt ihren Wechselwirkungen mit Makrofigurationen besser zu verstehen, hilft die Perspektive der Evolutionstheorie. Kollaboration und Konformität: Gemeinschaft als adaptives Problem Einmal mehr ist in den letzten Abschnitten deutlich geworden, in wie umfassender Weise unser Verhalten von Gemeinsamkeiten mit anderen Spezies geprägt ist – insbesondere natürlich mit anderen Primaten. Allerdings sind Menschen eben die

fraglos richtig. Ferner darf nicht vergessen werden, dass Menschengruppen selbst nach der Sesshaftwerdung noch stark von verwandtschaftlichen Verbindungen geprägt waren (Rusch und Voland 2016). Allerdings zeigen sich eben viele prosozialen Verhaltensweisen nicht nur unter Verwandten. Hierfür wird nicht selten die Theorie des Handicap-Altruismus in Stellung gebracht. Allerdings werden auch für die Erklärung von kompetitiven Altruismus gruppenselektionistische Argumente zumindest in Erwägung gezogen (vgl. Van Vugt et al. 2009: 535). Siehe zum kompetitiven Altruismus S. 276 ff.

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einzigen Primaten, die zu einer ultrasozialen Lebensweise übergegangen sind, in der individuelles Verhalten (auch) von gemeinsinnigen Verhaltensdispositionen geprägt ist. Wie schon im Zusammenhang mit indirekter Reziprozität und kompetitivem Altruismus wird es deshalb nützlich sein, im Folgenden die Besonderheit der menschlichen Sozialität etwa im Hinblick auf den überwachten Egalitarismus moralischer Gemeinschaften in den Fokus zu stellen. Dieser Perspektivwechsel hin zum spezifisch Menschlichen wird nicht nur helfen, den in seiner grundsätzlichen Logik schon dargestellten Entstehungsprozesses menschlicher Ultrasozialität besser nachzuvollziehen. Auch die Funktionslogik von kollektivem Sozialkapital in menschlichen Sozialgefügen wird klarer vor Augen treten.473 Die in diesem Zusammenhang relevanten Alleinstellungsmerkmale unserer Spezies sind in einer Vielzahl von vergleichenden Experimenten zwischen Primaten und menschlichen Kindern ergründet worden (Tomasello 2006, 2010a, 2010b; Tomasello und Vaish 2013).474 Diese Studien sind hier aus zwei Gründen einschlägig. Erstens sind Kleinkinder noch kaum von kulturellen Faktoren beeinflusst. Verhaltensmuster von einjährigen Babys wird man kaum auf Enkulturationsprozesse zurückführen können. Der Vergleich zum Verhalten von Schimpansen unter möglichst gleichen Bedingungen erlaubt dann Rückschlüsse darauf, welche Eigenschaften spezifisch menschlich sind und somit eine Rolle bei der Evolution der Ultrasozialität gespielt haben könnten. Eine solche evolutionäre Anthropologie öffnet gleichsam ein Fenster zum „realen Naturzustand“ der Menschheit und erlaubt einen Blick auf das, was Rousseau romantisierend die „edlen Wilden“ nannte. Auf Basis so gewonnener Einsichten lässt sich zu der Hypothese gelangen, dass sich die evolutionäre Weiterentwicklung des Menschen von der Sozialität anderer Primaten in zwei Schritten vollzogen (Tomasello et al. 2012; vgl. Tomasello und Vaish 2013: 239). Im ersten Schritt entstand die Fähigkeit zum Mutualismus, zur direkten Reziprozität und zum Einsatz sozialer Reputation als Signal für die Eignung als Kooperationspartner. So wurde kollaborative Nahrungsbeschaffung und gerechtes Nahrungsteilen möglich. Das wiederum ließ soziale Gruppen zu interdependenten kooperativen Netzwerken werden, die nur noch gemeinsam bestehen konnten (vgl. Gintis et al. 2015). Als solche interdependenten Gruppen dann miteinander konkurrierten, konnte im zweiten Schritt die Selektion auf der Gruppenebene angreifen und unter ihnen jene bevorteilen, denen es gelang, ihrem Handeln gemeinsamen Sinn zu geben. War im ersten Schritt nur eine elaborierte agentenbasierte Moralität auf der Basis von Kooperationsnormen entstanden,

473 In diesem Unterabschnitt folgt die Argumentation eng dem Review von Tomasello und Vaish (2013). 474 Siehe auch S. 268 f.

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gelang es nun, eine kollektive Gruppenmoralität mithilfe von Konformitätsnormen herzustellen, die agentenneutralen und mithin dem Anspruch nach objektiv und allgemeingültig waren (Tomasello und Vaish 2013: 239 f.). Der erste Schritt auf dem Weg zur Ultrasozialität soll also die Herausbildung einer Disposition zur Kollaboration gewesen sein. Hinweise auf eine solche Veranlagung gibt es reichlich. Sie sind schon bei sehr jungen Kindern zu beobachten und reichen von unaufgefordertem helfenden Verhalten bis hin zu verwirklichten Fairness-Ansprüchen in gemeinschaftlichen Unternehmungen. So erkennen schon 14 bis 18 Monate alte Kinder die instrumentelle Hilfsbedürftigkeit anderer Personen – und leisten auch unaufgefordert Hilfe (Warneken und Tomasello 2006, 2007): Sie öffnen Türen, vor denen Erwachsene hilflos mit vollen Händen stehen, und heben Objekte auf, die den Versuchsleitern heruntergefallen sind und außer Reichweite liegen. Schon 12 Monate alte Babys nutzen ferner Zeigegesten, um erwachsene Personen auf Dinge hinzuweisen, die sie suchen (Liszkowski et al. 2006, 2008). In diesen Experimenten können die Kinder durch Helfen selbst keine Vorteile erlangen. Sie unterlassen das Helfen trotzdem nicht; und ab dem zweiten Lebensjahr tun sie es sogar, wenn ihnen dadurch Kosten entstehen – zum Beispiel indem sie ein Objekt aus ihrem Besitz hergeben müssen (Svetlova et al. 2010). Selbst in dieser eigentlich als besonders egoistisch geltenden Lebensphase werden die Kinder dabei von intrinsischen Motivationen angetrieben. Werden Kinder im Alter von 20 Monaten für ihr Verhalten belohnt, verringert sich ihre Hilfsbereitschaft in weiteren Versuchsdurchläufen, sobald die Belohnungen ausbleibt (Warneken und Tomasello 2008). Es konnte sogar anhand von physiologischen Messdaten gezeigt werden, dass hinter helfendem Verhalten bei Zweijährigen nicht die Erwartung von Reziprozität oder Reputation steht, sondern das Bedürfnis zu sehen, wie der anderen Person geholfen wird (Hepach et al. 2012). Auch Mitgefühl gegenüber Opfern von Benachteiligung ist ein schon in frühester Kindheit induzierbares Reaktionsmuster (vgl. Tomasello und Vaish 2013: 242). Allerdings helfen Kinder durchaus auch selektiv und auf der Basis von Reziprozitätserwartungen. Die Annahmen darüber, wie viel Prosozialität vom Gegenüber zu erwarten ist, speisen sich bei Zweijährigen zunächst nur aus direkten kooperativen Vorerfahrungen (Dunfield und Kuhlmeier 2010), bei Drei- bis Vierjährigen zudem aus Interaktionen des Gegenübers mit Dritten (Kenward und Dahl 2011; Vaish et al. 2010) – letztlich also aus dessen kooperativer Reputation. Damit erfüllen schon Kleinkinder die meisten der kognitiven Grundvoraussetzungen für indirekte Reziprozität.475

475 Vgl. hierzu S. 270 ff. Die hier referierten Befunde werden zudem von großen Mengen weiteren empirischen Materials gestützt (vgl. Tomasello und Vaish 2013: 240 ff.).

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Einmal mehr zeigt sich: Menschliches Sozialkapital – die Chance auf die Erlangung von Vorteilen aus sozialen Beziehungen – beruht nicht nur auf rationalen Kosten-Nutzen-Kalkülen und Norminternalisierung, wie das jenes behavioristisch-ökonomistische Menschenbild unterstellt, welches den meisten Sozialkapitaltheorien zugrunde liegt. Einesteils sind Kleinkinder vom Idealtypus des rationalen Akteurs wahrlich weit entfernt. Andernteils erlaubt die Forschungsarbeit mit so jungen Probanden weitgehend auszuschließen, dass der „von Kindern gezeigte Altruismus das Ergebnis von kultureller Prägung, elterlichem Einfluß oder irgendeiner anderen Art von Sozialisierung ist“ (Tomasello 2010b: 36). Vielmehr gehört es bereits bei Kleinkindern zum natürlichen Verhaltensrepertoire und zur Palette der eigenen Bedürfnisse, sich prosozial zu verhalten. Augenscheinlich basiert die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Zielerreichung, also zur Urbarmachung von kollektivem Sozialkapital, ebenfalls auf solchen inneren Antrieben. Schon Kinder zwischen 18 und 24 Monaten gehen gemeinschaftlichen Betätigungen hoch motiviert nach (Warneken et al. 2006; Warneken und Tomasello 2006, 2007). Sie tun dies, wenn sie die freie Wahl haben, auch viel öfter als Schimpansen – selbst wenn sie die Aufgabe (etwa die Beschaffung leckerer Nahrung) eigentlich allein erfüllen könnten (Rekers et al. 2011; Warneken et al. 2012). Schon auf sehr frühen Entwicklungsstufen neigen Menschen zu gemeinschaftlichzielorientierten Unternehmungen, die sie auch als gemeinsam begreifen. Diese psychologischen Grundlagen der Kollaboration können plausiblerweise als Anpassungen an das Leben in interdependenten Jäger-und-Sammler-Gruppen verstanden werden. Anders als bei Schimpansen beruhte ein Großteil der Nahrungsbeschaffung auf kollaborativen Aktionen. Daraus erwuchs die Notwendigkeit, die Beute unter den Mitgliedern der Gruppe fair aufzuteilen (Hill 2002; Hill und Hurtado 1996). Mit der Beherrschung des Feuers wird zudem eine Zentralisierung der Zubereitung und mithin der Zuteilung von Mahlzeiten einhergegangen sein (Gintis et al. 2015; Gowlett und Wrangham 2013; Stiner et al. 2009; Wrangham und Carmody 2010). Ferner unternehmen Menschen seit langer Zeit sogenanntes kooperatives Brüten, eine vor allem unter Vögeln gut dokumentierte Form der Brutpflege, bei der die Mütter bei der Aufzucht des Nachwuchses von ihren sozialen Netzwerken entlastet werden (Hrdy 2009; vgl. auch Voland 2013: 28 ff.). All diese gemeinschaftlichen Projekte machten die Herausbildung von verlässlich gültigen Fairnessnormen notwendig, die anscheinend irgendwann so stark wurden, dass die Dominanzhierarchien der Schimpansen vom überwachten Egalitarismus der Menschen abgelöst werden konnten. Einen solchen Sinn für Fairness in gemeinschaftlichen Unternehmungen zeigen Kinder schon früh in ihrer Entwicklung. Schon mit 15 Monaten erwarten Kinder, dass Belohnungen gerecht geteilt werden (Schmidt und Sommerville 2011). Dreijährige Kinder teilen die Gewinne aus kollaborativen Unternehmungen so-

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gar dann fair mit ihren Kooperationspartnern, wenn es ihnen möglich wäre, alles für sich zu behalten (Warneken et al. 2011). Ab dem vierten Lebensjahr führt ein Kind eine kollaborative Aufgaben sogar zu Ende, wenn es seine Belohnung schon erhalten hat und nur das andere noch auf die Zusammenarbeit angewiesen ist (Hamann et al. 2012). Überhaupt wirkt es sich auf Hilfsbereitschaft und Fairness positiv aus, wenn die Interaktionen für die jungen Probanden erkennbar in einem kollaborativen Kontext stehen, wenn also der prosoziale Akt im Zusammenhang mit gemeinsamen Unternehmungen steht (Hamann et al. 2012; Ng et al. 2011). Schimpansen zeigen all diese Verhaltensweisen hingegen nicht, obwohl sie Ungerechtigkeit durchaus negativ bewerten (Hamann et al. 2011, 2012; Melis et al. 2006).476 Die evolutionäre Keimzelle der Ultrasozialität dürfte also tatsächlich in kolla­ borativen Netzwerken gelegen haben, in denen (indirekte) Reziprozität und Fairness schon auf der Basis von vorbewussten Kooperationsnormen praktiziert wurden (Tomasello 2010b: 74 ff.). Die dafür notwendigen evolvierten psychologischen Mechanismen und ihre kausale Mechanik sind hier schon besprochen worden: Soziales Handeln wird geprägt von sozialen Emotionen wie Ärger, Schuld, Scham, Freude und Stolz, die wiederum als proximate physiologische Manifestationen evolvierter normativer Apriori anzusehen sind.477 Diese zur menschlichen Natur gehörende Moralität evolvierte also wohl tatsächlich im Kontext von Reziprozität. Für kollaborative Unternehmungen braucht es zudem Wir-Intentionalität, also die Fähigkeit, gemeinsame Ziele als solche zu erkennen. Dazu wiederum ist es notwendig, sich in die Perspektive anderer Personen hineinversetzen zu können. Selbst in einem Alter, in dem diese bei Menschen höchst performante Theory of Mind noch nicht vollständig entwickelt ist, verstehen Kinder, dass sie gemeinschaftlich handeln – und sie erkennen auch, dass sie in solchen Kollaborationen aufeinander angewiesen sind (Tomasello und Vaish 2013: 244).478 Allerdings bleibt das Verhalten der Kinder erkennbar auf „den Anderen“ gerichtet, auf konkrete Personen also und darauf, ob die Art der spezifischen Interaktion eigenes prosoziales Verhalten rechtfertigt. Ob und wie viel Sozialkapital das jeweils andere Kind aus dieser Konstellation beziehen kann, bleibt also stark an die konkrete soziale Beziehung selbst geknüpft; es ist dyadisches Sozialkapital. Generalisierende Netzwerkeffekte sind noch nicht zu beobachten (Tomasello und Vaish 2013: 245). Das soziale Handeln bleibt im Kern reziprozitätsbasiert, gründet also noch auf interindividueller Moralität (‚second person morality‘) (Darwall 2009). 476 Zur Aversion gegenüber Ungleichbehandlung bei Primaten siehe S. 267 f. 477 Zu moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen siehe S. 282 ff. 478 Zur Theory of Mind siehe S. 258.

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Der zweite Schritt hin zu jener ultrasozialen Lebensweise, von welcher kollektives Sozialkapital ein wesentlicher Bestandteil ist, erfordert aber die Ubiquität der Gültigkeit von Normen für eine ganze Gruppe inklusive des Selbst. Er braucht objektive – oder besser: als objektiv angesehene – Verhaltensstandards, deren Gültigkeit sich nicht nur auf bestimmte Beziehungen erstreckt. Ihre Geltung wird sich vielmehr daraus ergeben müssen, dass „man die Dinge bei uns eben so macht“, dass die Welt also auf eine bestimmte Weise gesehen und erklärt wird – und sich daraus Verhaltensregeln für eine Gemeinschaft ergeben (Tomasello und Vaish 2013: 245). Solche Konformitätsnormen bieten die Möglichkeit, eine Gruppenidentität zu konstituieren (Tomasello 2010b: 74 ff.). Sie fördern so den Übergang von einem moralischen Netzwerk zu einer moralischen Gemeinschaft, in der durch hohe Binnenkohäsion die Konkurrenzfähigkeit der Gruppe nach außen verbessert wird. Dass Menschen die längste Zeit ihrer Stammesgeschichte in solchen kulturellen Gruppen gelebt haben, wurde im letzten Abschnitt gezeigt. Auch wurde mehrfach plausibilisiert, dass die Interaktion zwischen kulturell konstruierten Nischen und Individuen – und mithin das Zusammenspiel aus Individual- und Gruppenselektion – zu einer evolutiven Feinjustierung entsprechender psychologischer Mechanismen geführt haben dürfte. Insofern kann es nicht überraschen, dass Menschen offenkundig über psychologische Anpassungen an das Leben in den sozial konstruierten Normensystemen moralischer Gemeinschaften verfügen. Wieder erlauben Studien mit kleinen Kindern einen Blick zurück in deren evolutionäre Entwicklungsgeschichte. Schon Dreijährige betätigen sich aktiv an der Durchsetzung von Regeln (Vaish et al. 2011; Rossano et al. 2011): Sie intervenieren lautstark, wenn eine Puppe versucht,479 das Eigentum oder die künstlerische Kreation einer anderen zu zerstören oder wegzunehmen, und nutzen dabei normative Formulierungen wie „Das darfst du nicht!“.480 Kinder dieses Alters greifen selbst dann zu normdurchsetzenden Interventionen, wenn sich aus dem Verstoß gar kein Schaden ergibt (Rakoczy et al. 2008): In einem Experiment wurde den Kindern das Spiel „Daxen“ gezeigt, eine individuelle Beschäftigung ohne besonderes Ziel, aus deren „falscher“ Ausführung keinerlei Konsequenzen resultierten. Als eine Puppe danach ankündigte,

479 Durch die Verwendung von Puppen in diesen Studien soll der Einfluss von erwachsenen Autoritäts- und Bezugspersonen minimiert werden. 480 So wird versucht, die Entscheidung über die Angemessenheit von Handlungen der Dispositionsfreiheit der Handelnden zu entziehen. Es zeigen sich hier die individualpsychologischen Wurzeln der Unverfügbarstellung gesellschaftlicher Werte und Normen, wie sie funktional äquivalent stets in (stabilen) sozialen Ordnungen aufzufinden sind (Meißelbach 2013; Patzelt 2013e).

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nun „Daxen“ spielen zu wollen, dann aber etwas anderes als das den Kindern zuvor Gezeigte tat, griffen die meisten ein – und benutzten dabei ebenfalls normative Sprache: „So macht man das nicht!“. Menschen begreifen schon früh in ihrer Entwicklung, dass es sich bei sozialen Normen um Vereinbarungen handelt, die einerseits verbindlich, andererseits aber kontextabhängig sind. Dreijährige intervenieren, wenn eine Puppe ankündigt, ein Stück Holz zu essen, das vorher im Spiel als Seife benannt wurde. Wenn dann derselbe Holzblock – nun als Sandwich bezeichnet – als Seife genutzt werden soll, schreiten sie ebenfalls ein (Rakoczy et al. 2008; Wyman et al. 2009). Es gelingt Kindern also, den situativen Kontext einer Norm zu begreifen. Bei der Durchsetzung solcher Spielregeln protestieren die dreijährigen Kinder übrigens stärker gegenüber Mitgliedern der Eigengruppe als gegenüber Fremdgruppenangehörigen; bei moralischen Normen tun sie dies hingegen nicht (Schmidt et al. 2012). Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Moralität seine Wurzeln schon im ersten Evolutionsschritt hin zu interdependenten Kollaborateuren hat und deshalb solche Normen (auch wenn agentenneutral formuliert) eher agentenbasiert als gruppenzentriert prozessiert werden. Mitgliedern der Eigen­ gruppe wird insgesamt jedoch eine höhere Normenkonformität abverlangt als Fremden. Solch ein moralischer Parochialismus konnte in einer interkulturell vergleichenden Feldstudie von kleinen, tribalen Gemeinschaften und Massengesellschaften empirisch nachgewiesen werden (Fessler et al. 2015). Dies wiederum stützt die These, dass nicht individualistisch-reziproker Altruismus, sondern vielmehr kollektivistisch-parochiale Prosozialität der Quell der besonderen menschlichen Ultrasozialität ist – und Gruppenzugehörigkeit hierbei eine wichtige Rolle spielt. Die Fähigkeit, soziale Verhaltensstandards als agentenneutral gültig wahrzunehmen und emotional zu prozessieren, ermöglicht eine relativ trennscharfe Konstruktion einer Gruppenidentität all derer, die sich diesen gemeinschaftlichen Normen unterworfen sehen. Sie ermöglicht außerdem die Stabilisierung der Kooperation innerhalb dieser Gruppe und erhöht somit die Erfolgsaussichten gemeinschaftlicher Unternehmungen. Dieser Zusammenhang wird im nächsten Abschnitt noch genauer zu betrachten sein. Die ausweislich solcher Befunde in der Natur des Menschen liegende Bestrebung, soziale Normen nicht nur zu lernen, sondern auch durchzusetzen, ist eine grundlegende Bedingung von Sozialkapital. Kinder befolgen Regeln und setzen sie durch, ohne selbst Profite daraus zu ziehen oder wenigstens Reziprozität herzustellen. Ihr Impetus speist sich aus einer vorreflexiven und allem Anschein nach auch nicht einfach kulturell induzierten Neigung, die Dinge so ablaufen zu lassen, „wie wir es hier eben machen – und zwar so und nicht anders“. Diese auf die Gruppe gerichtete Wir-Intentionalität ist demzufolge tatsächlich die Keimzelle al-

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ler kollektiven Kooperationspotentiale (Tomasello et al. 2012; vgl. Tomasello und Vaish 2013: 247). Anders als von Coleman vermutet, ist kollektives Sozialkapital also nicht nur ein Nebenprodukt egoistisch-rationalen Handelns.481 Es basiert vielmehr auf dezidiert kollektivistisch-prosozialen Verhaltensdispositionen. Jene motivieren zum Erhalten gemeinsamer normativer Standards und zum Erreichen der gemeinsamen Ziele innerhalb eines Kollektivs. Die Währung, mit der sich Individuen den Zugang zu solchem Sozialkapital erkaufen, scheint deshalb ganz zentral die Konformität mit den Normen und Sichtweisen der jeweiligen moralischen Gemeinschaft zu sein. Bourdieus Vorstellung von Sozialkapital als einer Ressource, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergibt, hat demnach eine robuste empirisch-anthropologische Grundlage. Die dahinterliegenden individualpsychologischen Kausalgefüge erlauben weder vollkommene Verhaltensflexibilität bzw. „Weltoffenheit“ im Gehlenschen Sinne,482 noch sind sie nur die Grundlage eines letztlich bewusst-rational ablaufenden Entscheidungsprozesses. Das wird in Studien mit Kindern im Alter von bis zu drei Jahren besonders deutlich, von denen manche noch nicht einmal richtig sprechen können, sehr wohl aber schon das geschilderte Sozialverhalten an den Tag legen. Einmal mehr zeigt sich hier die verhaltenssteuernde Wirkung sozialer Emotionen wie Schuld, Scham und Stolz. Sie dienen schon bei Vierjährigen als innere Bewertungssysteme für die Normenkonformität eigenen Tuns (Haun und Tomasello 2011). So wirken sie als Selbstschutz vor Regelverstößen und den damit verbundenen unangenehmen Konsequenzen wie Strafen und Reputationsverlust (Barrett et al. 1993; Kochanska et al. 2002; Zahn-Waxler und Kochanska 1990). Anders als Schimpansen beginnen Kinder nämlich früh, sich um ihre Bewertung durch andere, also um ihre Reputation, zu sorgen (Engelmann et al. 2012; Piazza et al. 2011; Vaish et al. 2011). An der Funktion von Emotionen als „innerem Kompass“ in einer konstru­ ierten Nische voller sozialer Normen zeigen sich die Effekte von Gen-Kultur-​ Koevolution unter den Bedingungen von Zwischengruppenkonkurrenz (Gintis 2003): In unserer Stammesgeschichte dürften stets jene Gruppen bevorteilt gewesen sein, denen es gelang, interne Konflikte zu minimieren. Wahrscheinlicher wurde dies, wenn konstruierte kulturelle Nischen die evolutionär viel älteren, ego-

481 Zur Nebenprodukt-Hypothese Colemans siehe S. 136 ff. sowie S. 188 f., vgl. auch die einschlägigen Einsichten im Zusammenhang mit indirekter Reziprozität auf S. 274. 482 Bei Gehlen meint Weltoffenheit das Entbundensein von organischen Zwängen (Gehlen 1940/​ 2009). Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall. Mit organischen Mitteln wird Weltoffenheit (verstanden als phänotypische Plastizität, siehe S. 311 f.) erst ermöglicht. Vgl. auch S. 102.

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istisch-opportunistischen Verhaltensantriebe wirkungsvoll kanalisierten.483 Auf Kohäsion und kollektive Handlungsfähigkeit ausgerichtete Wissensbestände, Deutungsrou­tinen und Normen bargen das Potential, diese eigentlich zum Zwecke individueller Fitnessmaximierung evolvierten Prozesse emotionale Handlungssteuerung geradezu parasitär zu okkupieren. Wenn eine solche emergente Dynamik die Binnenkonkurrenz tatsächlich einhegte, konnte dies von der Gruppenselektion prämiert werden und sich verstetigen. Von dergestalt stabilisierten kulturellen Nischenkonstruktionen ging schließlich ein Selektionsdruck auf die Individuen dieser Gruppen aus, der die Fähigkeit belohnte, ein kompetentes Mitglied solcher erfolgreichen moralischen Gemeinschaften zu werden. Dass heute in zentralen Lebensbereichen wie Fortpflanzung und Ernährung soziale Normen und Emotionen auf das Engste miteinander verbunden sind, ist ein Ausweis dafür, welche wichtige Rolle solche kulturellen Konstruktionen in der sozialen Evolution des Menschen gespielt haben müssen (Tomasello 2010b: 45) – und wie tief die Reaktionsmuster auf sie deshalb in die menschliche Psyche eingraviert sind. Die Fortentwicklung des Funktionsumfangs sozialer Emotionen von Primaten zu Menschen lässt sich durchaus als ein evolutionärer Norminternalisierungsprozess begreifen. Soziale Konventionen treffen deshalb heute nicht auf Individuen als „unbeschriebene Blätter“ (Pinker 2002). Vielmehr evolvierte über viele Generationen hinweg implizites Wissen über angemessenes Verhalten in kontingenten kulturellen Nischen, stets pfadabhängig aufbauend auf der bisherigen Phylogenese.484 Zu diesem Anpassungsprozess gehörte offenbar die Weiterentwicklung phänotypischer Plastizität in Richtung der Fähigkeit der proximaten Norminternalisierung durch Sozialisation, also: der Einpassung in bestehende konstruierte Nischen.485 Es dürfte deutlich geworden sein, von wie komplexen evolvierten Grundlagen es abhängt, dass ganze Gemeinwesen von sozialer Vernetzung – also: von kollektivem Sozialkapital – profitieren können. Einesteils sind dies zahlreiche Präadaptionen im Bereich von moralischen Emotionen und der Theory of Mind. Andernteils aber ist es die angeborene Neigung, soziale Normen in der eigenen Umgebung zu entdecken, als Faktum zu begreifen und agentenneutral zu applizieren (Kalish 1998; Kalish und Shiverick 2004; Tomasello 2010b: 80 ff.). Menschen begreifen und erleben soziale Konstruktionen nachgerade als Naturtatsachen – und das be483 Zu sozialen Emotionen bei anderen Primaten vgl. S. 265 ff. 484 Zu der Sichtweise der Evolutionären Erkenntnistheorie auf Evolution als Lernprozess siehe S. 62 ff. 485 Eine evolutionäre Sozialisationstheorie weicht vom Standardmodell sozialwissenschaftlicher Enkulturationskonzepte freilich stark ab. Siehe dazu S. 379 ff.

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trifft auch und vor allem Normen und Konventionen.486 Neben auf Reziprozität abzielenden Kooperationsnormen sind dies zuvörderst Konformitätsnormen, welche die Konstruktion moralischer Gemeinschaften ermöglichen und so exklusive Geltungsbereiche von Prosozialität markieren. Die Schattenseite solcher Fähigkeiten zeigt sich in Skepsis bis hin zu Angst und Feindseligkeit gegenüber jenen, welche dieser Gemeinschaft nicht angehören oder andere Normen, Werte und Weltanschauungen teilen – wie anschließend vor Augen zu führen sein wird. 4.5.2.4 Individuum und Kollektiv: Zum Zusammenhang von Mikround Makroebene Die Multilevelselektionstheorie rückt Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Organisationsebenen des Lebendigen in den Fokus. Mit ihrer Hilfe lassen sich die rekursiven Interaktionseffekte von evolvierten Prädispositionen und konstruierten Nischen analytisch fassen. Bisher lag der Schwerpunkt dabei auf einer Freilegung der grundlegenden Mechanismen der Hervorbringung und Verstetigung sozialer Makrofigurationen. Zwar ließ sich so ein klares Bild von Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung gleichsam „von unten her“ erlangen. Doch die evolutionäre Analyse ist nicht vollständig, bevor nicht auch die Ebene der Kollektive und ihrer Kulturen sowie deren Wechselwirkungen mit der Individualebene in den Blick genommen worden sind. Wir und die Anderen: Kulturelle Distinktion als Grundlage von Inklusion Menschengruppen waren in der Evolution stets zwei sozialen Bedrohungslagen ausgesetzt: Zum einen war dies der Egoismus von Mitgliedern der Gruppe. Deren deviantes Verhalten kann aber durchaus prosozial und normenkonform in Bezug auf eine andere Gruppe und deren Regeln sein. Solche anderen Gruppen 486 In postmodernen Ansätzen, insbesondere in der Geschlechterforschung, wird in diesem Zusammenhang von „Naturalisierung“ gesprochen, also von der Behandlung sozialer Konstruktionen als Naturtatsachen (Butler 1991; Grisard 2007; Hirschauer 1999). Zwar vertreten solche Autor*innen oft (explizit oder implizit) die irregeführte Auffassung, soziale Konstruktionen existierten unabhängig von natürlichen Grundlagen (siehe dazu weiterführend S. 51 ff. sowie S. 506 ff.). Nützlich und anschlussfähig an das hier entfaltete evolu­ tionstheoretische Paradigma ist aber ihre Erkenntnis, dass Menschen dazu neigen, kulturelle Konstruktionen als Faktum zu behandeln. Das Thomas-Theorem macht dann auch klar, warum es mit Blick auf die Konsequenzen dessen für alle praktischen Zwecke egal ist, ob solche Naturalisierung eine empirische Basis hat (siehe hierzu S. 54 und S. 443).

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sind die zweite Bedrohung. Nachdem also die anthropologischen Grundlagen der Interaktionen innerhalb von Gruppen geklärt wurden, gilt es nun, diejenigen psychologischen Mechanismen zu untersuchen, welche mit dem Verhältnis zwischen Gruppen zu tun haben. Aus Sicht der hier vorgestellten evolutionstheoretischen Perspektive braucht es als Schutz vor dieser zweiten Art der Bedrohung vor allem zweierlei. Erstens muss die Dividende der Kooperation innerhalb der Gruppe nach außen abgesichert werden. Dafür sind eine Neigung zur Eigengruppenbevorzugung und die damit verbundene Fähigkeit nützlich, zwischen Gruppenmitgliedern und Fremden zu unterscheiden. Zweitens muss diese Grenze entlang von angebbaren Kriterien immer wieder aktiv gezogen und aufrechterhalten werden. Diese psychologischen Aspekte von Gruppensozialität sind für die handlungstheoretische Mikrofundierung verschiedener Bereiche der Sozialkapitalforschung relevant. Für Bourdieus neomarxistische Soziologie der Konkurrenz gesellschaftlicher Gruppen sind sie ebenso wichtig wie für die bisher opake Unterscheidung zwischen bindendem und brückenbildendem Sozialkapital. Überhaupt spielt die menschliche Gruppensozialität in den Sozialwissenschaften und der Sozialpsychologie eine zentrale Rolle. Dass Menschen einer Gruppe angehören und sich von anderen abgrenzen wollen, ist dabei eine gängige Annahme (vgl. etwa Fuchs et al. 1993; Wilden 2013; Wodak und Matouschek 1993).487 Aufgrund dieser großen sozialtheoretischen Relevanz stehen schon seit langem große Mengen von Befunden zur menschlichen Gruppensozialität zur Verfügung. Im Lichte evolutionärer Theorien können jene aber neu interpretiert werden und fügen sich zu einem klareren Bild von der Natur des Menschen (Kurzban und Neuberg 2005; Voland 2013: 84; Wilson 2013: 75 ff.; Workman und Reader 2010: 219 ff.). So führt das klassische Robber’s-Cave-Experiment des Sozialpsychologien Muzafer Sherif (1956; 1988) die menschliche Neigung zur Gruppenbildung klar vor Augen. In einem Ferienlager wurden Jungen, die sich vorher nicht kannten, nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt. Diese Gruppen blieben dann für zwei Wochen voneinander getrennt, bevor sie zu sportlichen Wettbewerben wieder aufeinandertrafen. Schon nach kurzer Zeit kam es dort zu aggressiven und 487 Im Hintergrund stehen ideengeschichtliche Wurzeln wie die Feststellung Carl Schmitts, die Freund-Feind-Unterscheidung sei das Wesensmerkmal menschlicher Politik (Schmitt 1932/1996: 26 f.). Auch Max Weber hatte darauf hingewiesen, dass für die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppe vor allem wichtig ist, dass die Unterscheidungskriterien subjektiv geglaubt werden (Weber 1921/1980: 237). Dann nämlich werden sie zu – möglicherweise ganz irrealen – Situationsdefinitionen, die Menschen ihrem Handeln zugrunde legen, welches seinerseits reale Konsequenzen zeitigt. Zu diesem Thomas-Theorem siehe S. 54 und S. 443.

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teils gewalttätigen Auseinandersetzungen. Auch zeigte sich eine unversöhnliche Distanz, die sich auch durch gemeinsame Unternehmungen nicht überbrücken ließ. Erst als die Versuchsleitung behauptete, Vorräte und Infrastruktur des Lagers seien durch eine dritte Gruppe bedroht, fanden sich die Gruppen zu gemeinsamen Verteidigungsaktivitäten zusammen, ohne jedoch die ursprüngliche Gruppenzugehörigkeit dabei wieder ganz aufzugeben.488 Der hier sichtbar werdende Effekt lässt sich jedoch noch wesentlich niederschwelliger induzieren. Menschen lassen sich schon auf der Grundlage von situativ vollkommen unwichtigen Informationen zur Bevorzugung der Eigengruppe bewegen. Diese „minimale Gruppendiskriminierung“ (Tajfel 1970) kann schon anhand von ästhetischen Präferenzen erfolgen: In einem Experiment wurden Probanden befragt, ob sie Gemälde von Wassily Kandinsky oder Paul Klee bevorzugten. Die Ergebnisse wurden den einander fremden Probanden zur Kenntnis gegeben. Als jene dann Belohnungen untereinander verteilen sollten, bevorteilten sie dabei Menschen, die den gleichen Maler bevorzugten (Tajfel et al. 1971). Diese handlungsleitende Unterscheidung von Gruppenzugehörigkeit auf Basis von ganz beliebigen, minimalen Informationen gilt in sozialpsychologischen Lehrbüchern längst als robuster Effekt (Oelkers et al. 2002: 106 ff.; Stroebe et al. 2003: 544 ff.; vgl. Workman und Reader 2010: 222 ff.). Solche Eigengruppenbevorzugung erstreckt sich sogar auf den Bereich des al­ truistischen Bestrafens.489 Je stärker sich Menschen selbst einer kooperativen Koalition zugehörig fühlen, desto eher neigen sie zum Bestrafen von Individuen, die dieser Gruppe die Unterstützung trotz der Möglichkeit zur Kooperation verweigern (Price et al. 2002). Und Mitglieder der eigenen Gruppe werden härter für die Verweigerung von Kooperation bestraft, als es gegenüber Mitgliedern von Fremdgruppen der Fall ist (Shinada et al. 2004). Diese Befunde halten auch dem interkulturellen Vergleich zwischen modernen Gesellschaften und den ecuadorianischen Shuar stand (Price 2005). Ökonomisch rational ist solches Verhalten nicht. In der Sozialpsychologie wird es dahingehend interpretiert, dass Menschen aus Gruppenzugehörigkeit soziale Identität ziehen und schon deshalb positive Einstellungen, moralische Erwartungen und prosoziale Handlungspotentiale mit „ihrer“ Gruppe verbinden (Tajfel und Turner 1979, 1986). Solche nur auf der Ebene unmittelbarer Verursachungszusammenhänge angesiedelten Erklärungsmuster schlagen sich in der Sozialkapitaltheorie in der psychologischen Residualkategorie der konsumatori488 Allgemein bekannt sind auch die ähnlich gelagerten Befunde aus dem Stanford-Prison-​ Experiment (Haney et al. 1973) sowie die Geschichte hinter dem Buch „Die Welle“ (Rhue 1981) 489 Zum altruistischen Strafen siehe S. 256 ff. (Theorie) und S. 273 ff. (Empirie).

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schen Handlungsmotivationen nieder:490 In ihr ist die Annahme gebündelt, dass Menschen Handlungen nur um ihrer selbst willen und zur Befriedigung innerer Bedürfnisse ausüben – im konkreten Fall zur Konstruktion und Aufrechterhaltung sozialer Identität. Die von der Sozialpsychologie nur proximat interpretierten Befunde passen zu den Vorhersagen der ultimaten Theorie der Multilevelselektion über psychologische Mechanismen zur Gruppendiskriminierung und Eigengruppenbevorzugung. Augenscheinlich sind unter den Bedingungen von kultureller Gruppenselektion vorbewusste Heuristiken evolviert, die uns heute als normative Apriori begegnen.491 Allerdings werden Systemübergänge stets von individualistischen Gegenbewegungen und einem evolutionären Wettrüsten dieser beiden Kräfte begleitet, wie das nun schon mehrfach deutlich geworden ist. Es überrascht deshalb auch die allenthalben zu machende empirische Beobachtung nicht, dass die Integration in eine Gruppe nicht unbedingt endgültig und um jeden Preis erfolgen wird. Eine zentrale Frage für die Sozialkapitaltheorie ist nun: Unter welchen Bedingungen entscheiden sich Menschen für Eigengruppenbevorzugung und erzeugen damit „bindendes“ Sozialkapital; wann vernachlässigen sie hingegen in ihrem Kooperationsverhalten die Gruppenzuschreibung und agieren damit „brückenbildend“ ? In der Forschung zur Rolle von Gruppenzugehörigkeit für prosoziales Verhalten zeigt sich, wie stark individuelle konditionale Strategien von der Logik der Multilevelselektion geprägt sind (vgl. Kurzban und Neuberg 2005: 664 ff.): Nehmen Probanden in Experimenten an, sie erhielten ihre Belohnung vom Versuchsleiter statt von den Mitgliedern der eigenen Gruppen, so bevorzugen sie die eige­ ne Gruppe in einschlägigen Kooperationsspielen nicht (Karp et al. 1993). Sie gehen sogar zur Bevorzugung der „Fremd“-Gruppe über, wenn sie meinen, über ihre Belohnung werde von Mitgliedern der anderen Gruppe entschieden (Rabbie et al. 1989). Solche Befunde legen nahe, dass von Eigengruppenbevorzugung dann abgewichen wird, wenn mit der Gruppenmitgliedschaft keine generalisierte Reziprozitätserwartung verbunden ist (Yamagishi 2007; Yamagishi und Mifune 2008). Es mag aus einer allzu reduktionistischen Perspektive so wirken, als stünden diese Befunde und Interpretationen im Widerspruch zu der Annahme, dass Menschen in soziale Gruppen streben, um ihre soziale Identität zu konstruieren (vgl. Yamagishi und Mifune 2008: 5 ff.). Aus Sicht der Multilevelselektionstheorie überraschen sie jedoch nicht. Die in solchen ziemlich reduzierten experimentellen Settings sichtbar werdenden opportunistischen Strategien stehen nur scheinbar

490 Vgl. S. 178. 491 Siehe hierzu S. 308 (Theorie) und S. 351 f. (Empirie).

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in direkter Opposition zu Neigungen, welche auf die Abgrenzung und Bevorzugung der eigenen Gruppe gerichtet sind. Denn in den beschriebenen Szenarien bleibt die Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeit ja relevant. Nur hängt eben von der subjektiv empfundenen Relevanz der Gruppe in der gegebenen Situation ab, ob die Handlungsentscheidung individualistisch oder kollektivistisch ausfällt. Es wird schlicht konditional und flexibel auf Umweltreize reagiert. Und dass in der menschlichen Natur neben einer Neigung zum Kollektivismus auch ein ausgeprägter Opportunismus mit dem Ziel individueller Fitnessmaximierung begründet liegt, dürfte an diesem Punkt der Analyse ohnehin nicht mehr überraschen. Welche Rolle kommt bei alldem aber kulturellen Konstruktionen zu ? Zwar laufen die psychologischen Mechanismen hinter Eigengruppenbevorzugung nach Lage der Befunde zu einem guten Teil vorbewusst ab. Es lässt sich ferner zeigen, dass sie auf genetischen Grundlagen fußen (Lewis und Bates 2010). Allerdings sind epigenetisch übertragene Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen offenkundig von großer Bedeutung dafür, wer als Teil der Eigengruppe angesehen wird und wann diese Gruppe für das eigene Handeln relevant ist. Es gilt zu klären, ob und in welcher Weise Wissensbestände und Deutungsroutinen (verstanden als ‚shared beliefs‘, Weltanschauungen bzw. Ideologien) auch in diesem Zusammenhang von psychologischen Mechanismen verarbeitet werden, die nicht allein bewusst-rational arbeiten, sondern der evolvierten Funktionslogik unserer sozialen Gehirne unterworfen sind. Dass kulturelle Informationen unabhängig von ihrem praktischen Wert zum Kristallisationspunkt von Gruppenidentitäten werden können, haben die Befunde zu minimalen Gruppen gezeigt. Eine weitere klassische Studie von Muzafer Sherif offenbart darüber hinaus, dass gemeinsame „Anschauungen der Welt“ überhaupt erst innerhalb von Gruppen konstruiert werden (Sherif 1935, 1936; vgl. auch Abrams et al. 1990; Hogg und Reid 2006). Im Mittelpunkt dieses Experiments steht der autokinetische Effekt, eine optische Täuschung, die auftritt, wenn eine kleine stationäre Lichtquelle in vollkommener Dunkelheit betrachtet wird. Weil aufgrund der fehlenden Sicht die räumliche Orientierung beeinträchtigt ist, entsteht bei den Probanden die Wahrnehmung, der Lichtpunkt würde sich bewegen. Der subjektive Eindruck von Art und Richtung der Bewegung kann dabei stark zwischen Individuen variieren (z. B. schwingend, kreisend, von oben nach unten, von rechts nach links usw.). Im Experiment wurden Probanden einzeln in den Raum gesetzt und sollten ihre Wahrnehmung der Bewegung beschreiben. Wie erwartet war diese Wahrnehmung intersubjektiv ganz unterschiedlich, blieb aber über mehrere Sitzungen hinweg jeweils stabil. In einer zweiten Versuchsgruppe wurden die Probanden nach den Einzelsitzungen dem autokinetischen Effekt in Gruppen ausgesetzt. In diesen Gruppen-

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sitzungen geschah etwas Überraschendes: Die Probanden glichen ihre im ersten Schritt erworbenen Wahrnehmungen kommunikativ mit den anderen Vorstellungen in der Gruppe ab und einigten sich dabei recht schnell auf eine gemeinsame Wahrnehmung der Bewegung des Lichtpunktes. Eine dritte Gruppe sollte die Bewegung des Lichtpunktes zuerst in der Gruppe und dann einzeln einschätzen. Es zeigte sich, dass die Probanden in den Einzelsitzungen nicht von der im ersten Schritt entstandenen Gruppen-Anschauung der Bewegung abwichen, die Bewegung des Lichtpunktes also in einer Art wahrnahmen, die sie als konform mit der Gruppe erfahren hatten (Sherif 1935, 1936).492 Eine in Gruppen entstandene gemeinsame Wahrnehmung der Bewegung wurde auch aufrecht erhalten, wenn sich die Zusammensetzung der Gruppe in mehreren Schritten änderte, bis kein Mitglied der ursprünglichen Gruppe mehr dabei war (MacNeil und Sherif 1976).493 Insgesamt ergibt sich also zunächst ein ambivalentes Bild des Verhältnisses von kulturellen Informationen und sozialer Konformität. Einesteils können übereinstimmende kulturelle Merkmale der Ausgangspunkt von Gruppenbildung sein, wie im Falle minimaler Gruppendiskriminierung. Andernteils entsteht Konformität in der Interaktion von Menschen ohne erkennbare sachliche Notwendigkeit. Auch der inhaltliche Gehalt scheint keine vordergründige Rolle zu spielen. Kulturelle Informationen scheinen im Zusammenhang mit Gruppenformierung in erster Linie als Distinktionsmerkmal zu fungieren – ganz wie von Bourdieu beschrieben. Solche kulturellen Marker (‚ethnic markers‘) machen erkennbar, welche Perso­ nen zur eigenen Gruppe gehören (Barth 1969, 1981). Geteilte Wissensbestände und Deutungsroutinen zeigen die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft an, in der man sich über ansonsten schwer zu signalisierende normative Grundlagen einig ist. Epistemische Gemeinsamkeit dient also als Signal, als Proxy für moralische Gemeinschaft. Diese Lösung ist sowohl auf der Individual- als auch auf der Gruppenebene adaptiv: Mit kulturellen Markern können Gruppen die Vorzüge eines Systems indirekter Reziprozität gegen Fremde abschirmen. Für Individuen reduzieren kulturelle Marker die Kontingenz kooperativer Interaktionen. Die einfache Regel „Kooperiere vor allem mit Menschen, welche die Welt so sehen wie Du!“ ist unter 492 Damit gehen diese Befunde noch über jene der Konformitätsexperimente von Asch (1951, 1956) hinaus. Jener konnte zwar zeigen, dass sich Menschen bei Entscheidungen von Konformitätsdruck leiten lassen. Jedoch sind Sherifs Befunde nicht einfach durch opportunistisches Nachgeben (etwa auch wider besseren Wissens) zu erklären. 493 Hier ist erkennbar konformistische kulturelle Transmission am Werk – und damit wohl auch ein wesentlicher Mechanismus bei der Tradierung von kulturellen Artefakten bis hin zu Institutionen (vgl. Patzelt 2007a). Zu konformistischer Transmission siehe S. 322 ff. (Theorie) und S. 372 ff. (Empirie), zu Normenkonformität S. 358.

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den Bedingungen kultureller Gruppenselektion eine effiziente Heuristik, um vor der Fehlallokation der eigenen Prosozialität zu schützen (Van den Berghe 1981; Nettle und Dunbar 1997). Zum einen sinkt die Gefahr von einseitiger Ausbeutung durch Fremde. Und zum anderen steigt in komplexen kulturellen Nischen die Chance von Missverständnissen und Fehlkoordination, wenn die beteiligten Subjekte ihrem Handeln nicht die gleichen Situationsdefinitionen und Selbstverständlichkeiten zugrunde legen. Der biologische Wert von kulturellen Markern liegt genau in der Vermeidung dieser fitnessmindernden Fehler (McElreath et al. 2003; Richerson und Boyd 1987). Fremden wird folgerichtig schon deshalb mit Skepsis begegnet, weil sie anderen Weltanschauungen anhängen (Gil-White 2001). Solche Vorurteile werden emotional prozessiert und sind deshalb allein mit Vernunft schwer zu unterminieren. Derlei stereotype Reaktionen zeigen sich aber nicht nur bei der Konfrontation mit anderen Menschen, sondern auch mit ganzen Gruppen (Smith und Mackie 2010): Fremdgruppen, die als Bedrohung für die Ressourcen der eigenen Gruppe wahrgenommen werden, induzieren Ärger und Aggressionen genauso, wie es das als unmoralisch wahrgenommene Verhalten von Einzelpersonen tut. Und ganze Gruppen rufen ebenso wie einzelne Menschen, welche nicht die eigene Weltsicht teilen, Empörung oder gar Ekel hervor und werden gemieden (Neuberg und Cottrell 2005; Schaller und Neuberg 2008).494 Der adaptive Wert solcher bis tief in emotionale Tiefenschichten der menschlichen Natur hinabreichenden Vorurteile ist der gleiche wie jener von kulturellen Markern: Mit Fremden zu interagieren, konnte in der menschlichen Stammesgeschichte teuer werden – und schlechte Gefühle verhinderten das wirkungsvoll (Neuberg und Cottrell 2006; Schaller et al. 2003). Diese evolvierten Veranlagungen für Ethnozentrismus, Vorurteile und Xenophobie sind die Kehrseite der menschlichen Gruppensozialität. Die Ausrichtung solcher Ablehnung auf bestimmte Gruppen erfolgt proximat unter deutlichem Einfluss kultureller Zuschreibungen; sie ist also keinesfalls einfach genetisch hart codiert. Die Dispositionen selbst gehören aber zur menschlichen Natur. Sie evolvierten als Anpassung an das Problem der sich aus Zwischengruppenkonkurrenz ergebenden Notwendigkeit zur Absicherung moralischer Gemeinschaften. Zwar ist die Lösung dieses Problems nicht notwendigerweise Fremdenfeindlichkeit. Da 494 Ekel kann als handlungsleitender Katalysator der moralischen Intuition der Reinheit angesehen werden, deren ultimate Funktion es gewesen sein dürfte, vor Parasiten und Krankheitserregern zu schützen (vgl. S. 284). Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass pathogener Stress, also die (wahrgenommene) Bedrohung durch Krankheitserreger, eine zentrale Einflussvariable dafür ist, ob in Gesellschaften offen-individualistische oder geschlossen-kollektivistische, also auf den Schutz der Gruppe nach außen abzielende Einstellungsmuster vorherrschen (Thornhill und Fincher 2014; siehe kritisch Gurven 2015).

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sich parochialer Altruismus aber nur in Gruppen auszahlen wird, in denen indirekte Reziprozität auf Dauer halbwegs zuverlässig stabilisiert werden kann, bietet die Verwundbarkeit solcher Arrangements durch Trittbrettfahrer und Externe einen fruchtbaren Boden für Ressentiments gegenüber Fremden (Brewer 1999; Cosmides et al. 2003; Jackson 2011).495 Die hier sichtbar werdende Kausalkette führt einmal mehr vor Augen, wie eng sich genetisch bedingte Merkmale und kulturell konstruierte Nischen in einem rekursiven Prozess der Koevolution verwoben haben: Die Bevorzugung von Mitgliedern der eigenen Gruppe wird von sozialen Emotionen bewirkt, die ihrerseits konditional auf kulturelle Marker reagieren. Kulturelle Marker können als eine Anpassung an die Erfordernisse einer Umwelt verstanden werden, in der Gruppen auf interne Kooperation und auf kollektive Handlungs- sowie Zielerreichungsfähigkeiten angewiesen sind. Um im Wettbewerb mit anderen Gruppen bestehen zu können, brauchte die eigene Gruppe kollektives Sozialkapital. Wie lange und tiefgreifend dieses adaptive Problem unsere Spezies geprägt hat, lässt sich daran ablesen, mit wie niederschwelligen Stimuli sich jene psychologischen Mechanismen aktivieren lassen, welche die individuelle Prosozialität gegenüber dem eigenen Kollektiv konkret realisieren. In der menschlichen Stammesgeschichte war das „Wir“ für unser „Ich“ so wichtig, dass es auch heute noch unser Sozialverhalten und unsere Kulturen ganz grundsätzlich prägt. Diese Wirkungszusammenhänge sind deshalb für alle praktischen Zwecke unhintergehbar; sie sind Antezedenzbedingungen aller sozialen Prozesse. Zugehörigkeit zu Gruppen (und mithin die Abgrenzung von anderen) ist demnach wohl eines jener Grundbedürfnisse, nach deren Befriedigung Menschen ihrer Natur nach streben (Voland 2013: 92). Individuelles Wohlbefinden hängt zu einem Gutteil davon ab, das Selbst in einer Gruppe und in einem größeren Sinnzusammenhang verorten zu können (vgl. Haidt et al. 2008).496 Lebenszufriedenheit und Selbstvertrauen können sich zum Beispiel aus der Identifikation mit und der Zugehörigkeit zu Sportteams (Wann 2006), ethnischen Minderheiten (Branscombe et al. 1999; Goodstein und Ponterotto 1997), Religionsgemeinschaften (Diener und Clifton 2002) und sogar stigmatisierten Gruppen (Crocker und Major 1989) speisen. Wie stark dieses Bedürfnis zur Integration in Gruppen ist, lässt sich auch an der Angst ablesen, die Menschen vor sozialer Ausgrenzung („Ostrazismus“) ha495 Hierin liegt die ultimate Ursache für den allenthalben beobachtbaren „Dualismus der Ethik“ (Kulischer 1885), also jene Doppelmoral, mit der Menschen bei der Anwendung ethischer Prinzipien zwischen der eigenen Gruppe und Fremden unterscheiden (vgl. Voland 2013: 84 f.). Siehe dazu auch S. 404 ff. sowie S. 455. 496 Siehe hierzu auch S. 389 f.

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ben – seinerseits ebenfalls ein typisch menschliches Phänomen. Bei anderen Tieren wird zwar durchaus gestraft, um Dominanzhierarchien, Kooperation oder Zugang zu Sexualpartnern zu gewährleisten. Aber Ausschlussreaktionen gegen Nonkonformisten gibt es in dieser Form nur bei Menschen (Spoor und Williams 2009; Voland 2013: 91). Trotzdem hat Ostrazismus bemerkenswert heftige physiologische Konsequenzen. Die Erfahrung von sozialer Ausgrenzung wird im demselben Gehirnareal prozessiert wie physischer Schmerz – und folgerichtig auch als schmerzvoll erlebt (Lieberman und Eisenberger 2006; MacDonald und Leary 2005). Schon die Erinnerung an ein Ausgrenzungserlebnis löst ein subjektives Schmerzempfinden aus, das jenem von Zahn- und Rückenschmerzen ebenbürtig ist oder es gar übertrifft (Spoor und Williams 2009:282). Diesen real erlebten (bzw. gefühlten) Schmerz aufgrund von Ausgrenzung können Menschen auch als Beobachter zuverlässig bei Dritten erkennen und empathisch mitfühlen (Wesselmann et al. 2009). Auch ambivalente und sehr milde Ausgrenzungssituationen rufen negative Empfindungen hervor. Selbst wenn der Ausschluss aus einer Gruppe sich für die betroffene Person finanziell lohnt, wenn sie also in einer Laborsituation mehr Geld erhält als die übrigen Probanden, leidet sie darunter (van Beest und Williams 2006). Menschen empfinden es zudem sogar als leidvoll, von virtuellen Charakteren in Computerspielen ausgegrenzt werden: Sie klagen danach in Selbstauskünften stärker über geringeres Selbstbewusstsein und Zugehörigkeitsgefühl (Zadro et al. 2004). Der Titel dieser Studie verweist darauf, wie tief unterhalb bewusster Vernunft die in den Befunden zum Ausdruck kommende menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit angesiedelt ist: „How low can you go ?“ In der menschlichen Psyche ist offenbar ein Ostrazismus-Erkennungssystem (‚ostracism detection system‘) am Werke, das vor Ausgrenzung schützen soll, indem es – ganz wie ein Feuermeldesystem – übersensibel und überdeutlich auf entsprechende Anzeichen reagiert (Spoor und Williams 2009).497 Es kann als adaptive Antwort auf die Gefahr sozialer Ausgrenzung von Abweichlern verstanden werden, die von Gruppen ausgeht, welche sich mit solchem Ostrazismus vor Performanzeinbußen in der Zwischengruppenkonkurrenz schützen wollen (Voland 2013: 92). Auch hier wirken psychische und soziale Dimension von Ausgrenzung auf der proximat zusammen: Ostrazismus wird hergestellt über koordiniertes kollektives Handeln, das auf einer Wir-Intentionalität in Bezug auf geltende Regeln basiert. Ausgegrenzt wird also aus sozial konstruierten normativen Nischen. Das Gesamtphänomen ist also interpretierbar als eine in Gen-Kultur-Koevolution ent497 Feuermelder sind übersensibel, weil ein „falsch positiver“ Fehlalarm billiger ist als ein nicht gemeldeter Brand. Dazu und zur dahinterstehenden ‚error management theory‘ siehe S. 230 inklusive der Fußnote 309.

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standene Anpassung auf der Gruppenebene, realisiert über Wechselwirkungen aus genetisch kodierter konditionaler Verhaltensflexibilität und der sozikognitiven Nische einer moralischen Gemeinschaft. Diese Erklärung ist anschlussfähig sowohl an die Theorie der Verwandtenselektion als auch an jene der indirekten Reziprozität. So können sich Familien und Sippen durch das Verstoßen von Sündigen vor den kollektiven Folgen der Blut­ rache anderer Sippen schützen – einer über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg relevanten Form der Aggression (vgl. Daly und Wilson 1988: 221 ff.), wie es für die im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet lebenden Panthan dokumentiert ist (Mahdi 1986). Hier erscheint Ostrazismus als adaptive Strategie zur Maximierung inklusiver Fitness, also als Produkt von Verwandtenselektion.498 Die Ausgrenzung von Normabweichlern ist aber auch ein Instrument in Netzwerken indirekter Reziprozität (Alexander 1986; vgl. Feinberg et al. 2014: 657; Guala 2012). Sie stellt eine besonders wirkungsvolle Form des altruistischen Bestrafens dar, und damit auch ein Instrument des überwachten Egalitarismus in moralischen Gemeinschaften (Boehm 2001). Und wenig überraschend trägt die Gefahr von Ostrazismus zur Steigerung von Kooperation in Gruppen bei (Bowles und Gintis 2004). Jedenfalls bringt Ausgrenzung massive objektive Kosten für Betroffene mit sich, weswegen es evolutionär fitnesssteigernd ist, sie unbedingt vermeiden zu wollen – und genau das scheint auch in der Natur des Menschen zu liegen. Nimmt man all die Befunde zu Gruppenbildung, Xenophobie, Ostrazismus, kulturellen Markern und moralischen Gemeinschaften zusammen, entsteht ein immer klareres Bild dieser psychosozialen Dynamiken der Inklusion und der Exklusion – und damit auch eine passgenaue Anschlussstelle zu zentralen Fragestellungen der Sozialkapitalforschung. Aus der hier in Stellung gebrachten evolutionstheoretischen Perspektive wird nicht nur verständlich, aus welchen individualpsychologischen Kausalmechanismen sich bindendes Sozialkapital speist und warum es nachgerade notwendigerweise eine Schattenseite hat. Es zeichnet sich auch eine empirisch-anthropologisch robuste handlungstheoretische Erklärung für Bourdieus Beobachtung ab, dass Symbolisierung, Ritualisierung und Institutionalisierung in sozialen Gruppen eine herausgehobene Rolle spielen. Nicht zuletzt ist nun besser als zuvor begreiflich, warum solche sozialen Konstruktionen zur Stabilisierung von Ordnung ebenso notwendig sind wie Ideologien.

498 Zur Verwandtenselektion siehe S. 220 ff.

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Konformität und Konsonanz: Identität als pfadabhängige Konstruktion Ausgrenzung ereilt Menschen, wenn sie sich nicht regelkonform verhalten. Wie sich gezeigt hat, werden für das Erkennen solcher Konformität kulturelle Marker genutzt, von arbiträren minimalen Informationen bis hin zu geteilten Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen. Ausgrenzung droht folglich auch, wenn (potentielle) Mitglieder einer Gruppe die Welt nicht (mehr) so sehen und verstehen, wie „man das eben bei uns tut“. Gemeinsame Perspektiven auf die Wirklichkeit – also: Ideologien – sind die Kristallisationspunkte für „Wir“-​ Zuschreibungen ebenso wie für Distinktion nach außen. Die Grundlage all dessen sind aber individuelle psychologische Mechanismen. Epistemische Gemeinschaften (Holzner 1968) und kollektive Identität (Habermas 2001; Rosa 1998) sind ganz fraglos das Ergebnis komplexer proximater Prozesse sozialer Interaktion. Jedoch basieren sie auf evolvierten kognitiven Reaktionsnormen, gehen also auf ultimate Ursachen zurück, denen sich ihre heutige Kausalstruktur verdankt.499 Endgültig drängen damit Fragen nach dem kausalen Nexus von Identität, Konformität und Ideologien in das Zentrum des Interesses. Schließlich hängt die Möglichkeit der Generierung von Sozialkapital in nicht geringem Umfang mit dem Empfinden kollektiver Identität und dem gemeinsamen Anerkennen von Normen und Werten zusammen. Das zumindest ist das kommunitaristische Kernargument von Putnam. Er sieht den Wert zivilgesellschaftlicher Netzwerke gerade darin, dass demokratische Vorstellungen und Einstellungen eingeübt und internalisiert werden.500 Die Geltung und Tradierung von Normen ist aber auch bei Coleman zentral für gelingende Kooperation sowie kollektives Handeln. Und in Bourdieus Habitus-Feld-Konzept geht es im Grunde um nichts anderes als die Einpassung von Individuen in soziale Zusammenhänge samt der von ihnen ausgehenden impliziten und expliziten normativen Erwartungen. Es ist deshalb zunächst wichtig, die Weitergabe kultureller Muster auf der Individualebene gründlich zu betrachten. Die Theorieperspektive der kulturellen Gruppenselektion sensibilisiert in diesem Zusammenhang für die bedeutende evolutionäre Rolle der Orientierung an anderen Menschen. Solches soziale Lernen ermöglicht die Tradierung und Weiterentwicklung von geteilten Normen und Werten, sozialen Praxen, institutionellen Arrangements und (Kultur-)Techniken zum Beispiel der Nahrungsgewinnung oder des Kampfes. Menschen können auf Erfahrungswerte aufbauen und so die Kosten von Versuch und Irrtum sparen. Außerdem stabilisiert soziales Lernen konstruierte Nischen über Generationen hinweg – und eröffnet ebenso Potentiale, sich unter Druck mithilfe von 499 Zu proximaten und ultimaten Ursachen siehe S. 86 ff. 500 Vgl. S. 142 ff.

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neuen Erfolgsmodellen exponentiell zu wandeln. So kann aus kultureller Transmission der hochgradig adaptive Wagenhebereffekt von Kultur entstehen. Aus evolutionstheoretischer Perspektive sind dabei drei Verzerrungen sozialen Lernens zu erwarten, denen es im Folgenden nachzugehen gilt: frequenzabhängige, modellbasierte und inhaltsbasierte.501 Hinweise auf frequenzabhängige Verzerrungen bei der Transmission kultureller Informationen, also auf die Übernahme besonders verbreiteter kulturellen Muster, lassen sich an vielen Stellen finden. Einesteils legen mathematische Modelle nahe, dass konformistische Transmission unter vielen Bedingungen eine evolutionär faktisch erfolgreiche Strategie ist (Henrich und Boyd 1998). Und andernteils wird sie von Menschen auch allenthalben angewendet. Es konnte in Laborexperimenten gezeigt werden, dass Konformismus unter den Bedingungen von unsicheren Entscheidungsszenarien lohnt und auch zur Anwendung kommt (McElreath et al. 2005). Die Frequenz eines Verhaltens – im hier zitierten Experiment: das Ablegen der Computertastatur auf dem Monitor nach dem Ende eines Tests – beeinflusst, wie viele Personen es übernehmen (Coultas 2004). Gleiches gilt, und das ist hier zentral, auch für die Übernahme von Verhaltensweisen, die mit Kooperation und Altruismus zu tun haben (vgl. Henrich und Henrich 2007: 7 ff.; Henrich und McElreath 2009: 565). Auch für altruistisches Bestrafen ist frequenzbasierte Verhaltensübernahme dokumentiert (Henrich und Boyd 2001) Prosozialität kann sich in Gruppen demnach selbst verstärken, wenn sie von der Mehrheit praktiziert wird – bzw. wenn der subjektive Eindruck entsteht, dem sei so. Ein psychologischer Mechanismus für konformistisches Lernen sorgt auf diese Weise dafür, dass solche Verhaltensweisen epigenetisch weitergegeben werden. Auch modellbasierte Verzerrungen des Lernens sind in der Empirie zu beobachten. Individuen werden zu umfassenden Rollenmodellen für andere, wenn sie in einigen Bereichen erfolgreich sind oder als erfolgreich gelten (vgl. Henrich und McElreath 2009: 560 ff.; Rogers 2010: 281 ff.). Im Labor konnte gezeigt werden, dass Imitation von erfolgreichen Individuen oft der eigenen rationalen Abwägung vorgezogen wird (Pingle 1995) – und auf Gruppenebene auch die effektivere Strategie ist (Kroll und Levy 1992). Dabei werden häufig nicht nur die Entscheidungen der Erfolgreichen kopiert, sondern auch deren Weltanschauung (Apesteguia et al. 2003).502 Solche Prozesse sind auch im Feld dokumentiert. So fanden Soziologen heraus, dass das Selbstmordverhalten von angesehenen Menschen imitiert wird (Wasserman et al. 1994; Stack 1996). Suizide von Prominenten finden 501 Zum theoretischen Hintergrund siehe S. 322 ff. 502 Dies ist augenscheinlich auch der individualpsychologische Mechanismus hinter dem Zweistufenfluss von Kommunikation (Lazarsfeld et al. 1944).

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mehr Nachahmer als solche von unbekannten Personen (Kessler et al. 1988; Stack 1987).503 Unter Soziolinguisten ist Imitation von Erfolgreichen ebenfalls ein bekanntes Phänomen im Zusammenhang mit dem Wandel von Sprache (Labov 1972, 1980). Auch Ethnographen haben dies in verschiedensten Feldstudien beobachtet (Berreman 1972: 141; Boyd 2001; Dove 1993; Rao 2001). Inhaltliche Verzerrungen gibt es ebenfalls in vielen Bereichen (vgl. Kendal 2011: 319 f.). Das Lehrbuchbeispiel für solche konkreten evolvierten Präferenzen wurde schon diskutiert: Menschen ziehen Süßes und Fettiges wegen ihres hohen Nährwerts anderer Nahrung vor (Wilson 2007: 55).504 Wie ebenfalls schon vielfach vor Augen geführt, ist unser Gehirn ein soziales Organ, und Menschen haben deshalb für soziale Informationen ganz allgemein eine größere inhaltliche Präferenz als für andere Arten von Information (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007). Dies zeigt sich schon im besonderen Interesse für Gesichter samt einer übersensiblen Gesichtserkennung und einem feinen Sensorium für emotionale Gesichtsausdrücke anderer Personen (Bonatti et al. 2002; Sperber und Hirschfeld 2004; vgl. auch Workman und Reader 2010: 125 ff.). Menschen sind zudem besonders interessiert an Klatsch und Tratsch, also an sozialen Informationen über die Reputation potentieller Kooperationspartner (Dunbar 2004; Mesoudi, Whiten, und Dunbar 2006). Die Bewertung solcher Informationen erfolgt dann auf der Basis von moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen, denen folglich eine herausgehobene Rolle beim Lernen zukommt.505 Weil diese Emotionen aber – wie sich gezeigt hat – unter anderem auf die Generierung sozial angemessenen Verhaltens abzielen, wirkt auch diese inhaltliche Präferenz auf Konformität mit Bezugspersonen und der sozialen Gruppe hin (Clark und Kashima 2007; Joseph et al. 2014; Karasawa et al. 2007). Es werden bevorzugt Informationen gelernt, die kompatibel mit vorhandenen Sichtweisen sind. Stereotype tradieren sich deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit als solche Informationen, die mit ihnen nicht konsistent sind (Kashima 2000). Dahinter steht das Phänomen der kognitiven Dissonanzvermeidung (Festinger 1957/2012; Festinger et al. 1956/2008). Kognitive Dissonanz tritt bei Individuen auf, wenn neu erworbene Informationen, getroffene Entscheidungen oder vollzogene Handlungen im Widerspruch zu bestehenden Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen stehen. Die kognitive Informationsverarbeitung des Menschen ist darauf ausgelegt, diesen Zustand ganz unterbewusst zu beseitigen. Entscheidungen und Handlungen werden durch nachträgliche Rationalisierung in Ein503 Der Effekt bleibt übrigens auch robust, wenn in der Analyse für die Intensität der Medienberichterstattung kontrolliert wird (Jonas 1992; Stack 1990, 1996). 504 Zum Hintergrund dieses Arguments siehe S. 98 f. 505 Zu moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen siehe S. 282 ff.

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klang mit den bereits vorhandenen kulturellen Mustern gebracht (Egan et al. 2007; Elliot und Devine 1994; Jarcho et al. 2011). Ferner werden solche Informationen bevorzugt gesucht und memoriert, welche die eigene Position stützen (‚confirmation bias‘) (Klayman 1995; Nickerson 1998; Wason 1968). Widersprüchliche Informationen werden hingegen weniger stark wahrgenommen und schneller vergessen (‚disconfirmation bias‘) (Edwards und Smith 1996; Jones und Kohler 1958; Lord et al. 1979). Angesichts eines großen Korpus empirischer Literatur besteht kein begründeter Zweifel daran, dass kognitive Dissonanzen vom menschlichen Gehirn proaktiv vermieden und nachträglich bereinigt werden (Tavris und Aronson 2010; vgl. Oelkers et al. 2002: 60 ff.; Stroebe et al. 2003: 293 ff.). Diese vollkommen unterbewusst ablaufenden Prozesse der Informationsfilterung haben erheblichen Einfluss auf das menschliche Urteilsvermögen. Je stärker die bestehenden Vorstellungen und Einstellungen sind, umso mehr beeinträchtigen Vorannahmen und Erwartungen die Fähigkeit, Muster in der Realität korrekt zu dechiffrieren (Lord et al. 1979, 1979; Taber und Lodge 2006). Nicht nur die Wahrnehmung wird von eigenen Haltungen und Präferenzen beeinflusst (‚motivated cognition‘), sondern auch das Argumentieren und Schlüsseziehen (‚motivated reasoning‘) (Druckman und Bolsen 2011; Kahan 2013b; Kunda 1990). Dieser Effekt gilt als robust – und wird auch in sozialwissenschaftlicher Forschung oft nachgewiesen.506 Ideologische Vorannahmen beeinflussen also nicht nur die Aufnahme von Informationen, sondern auch und gerade deren Beurteilung. Diesbezüglich höchst instruktiv ist eine US-amerikanische Studie, in der Probanden von Kreuztabellen auf kausale Zusammenhänge schließen sollten (Kahan et al. 2017): Die gleichen Zahlen wurden als Ergebnisse verschiedener empirischer Studien präsentiert, in denen es einmal um die Wirksamkeit einer neuen Creme gegen Hautausschlag ging, ein andermal um die Auswirkungen von Waffenverboten auf die Kriminalitätsrate. In Kontrollgruppen wurde ferner variiert, in Richtung welchen Zusammenhangs die Zahlen wiesen (Creme lindert vs. verschlimmert Ausschlag; Waffenverbot senkt vs. erhöht Kriminalität). Außerdem wurden als Kontrollvariablen die politische Orientierung und die Rechenfähigkeiten erhoben.507 506 Beobachtet wird motivated reasoning zum Beispiel bei Medienrezeption (Yeo et al. 2015), Risikoabschätzung (McCright und Dunlap 2013) und Technikakzeptanz (Druckman und Bolsen 2011), aber auch in parteipolitischen Kontroversen in der Öffentlichkeit (Leeper und Slothuus 2014) – und angesichts der Schwierigkeiten bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Gesellschaft (Kahan 2013a; Kahan et al. 2012, 2015; Kraft et al. 2015; Sinatra et al. 2014). 507 Der Indikator „Rechenfähigkeit“ misst nach verbreiteter Ansicht auch die allgemeine Fähigkeit, systematisch und analytisch mit quantitativen Informationen umgehen zu können (Kahan et al. 2017: 60).

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Während die politische Orientierungen – anders als die Rechenfähigkeit – keinen Einfluss auf die Interpretation der Kreuztabellen im Hautcreme-Szenario hatte, war das bei den Zahlen zum Waffenverbot anders: Ob aus diesen Zahlen logisch korrekte Schlüsse gezogen wurden, hing sogar stärker von der Passung der Befunde mit den ideologischen Vorannahmen ab als von den Rechenfähigkeiten der Probanden. Mehr noch: Unter den guten Rechnern war der Unterschied in der Erfolgsquote zwischen Demokraten und Republikanern größer als unter schlechteren Rechnern – gerade so, als würden die besseren analytischen Fähigkeiten einzig dazu genutzt, die Daten mit den eigenen Vorannahmen argumentativ in Einklang zu bringen und so kognitive Dissonanz zu verringern (Kahan et al. 2017: 74 f.). Solche durchaus verstörenden Verzerrungen kann nur begreifen, wer Gehirne nicht als Universalwerkzeuge zum Erkennen der Wahrheit versteht, sondern als Organe, die zum Zweck der Lösung adaptiver Probleme evolviert sind (Tooby und Cosmides 1992a, 1992b).508 Das sich im konkreten Fall stellende Problem ist jenes der Ambiguität kultureller Informationen, und offenbar wird es gelöst, indem konsequent eine Affirmation des Selbst angestrebt wird (Steele 1988: 88; Sherman und Cohen 2006). Worin aber liegt die evolutionäre Angepasstheit dieser Strategie ? Einesteils hat es gewiss einen biologischen Wert an sich, das Selbst nicht ständig zu hinterfragen und nicht jede widersprüchliche Information gleich die „Verwaltung und Sicherung“ des eigenen Lebens ins Wanken bringen zu lassen (Damasio 2011: 6 f.). Andernteils ist es aber adaptiv, an bestehenden Vorstellungen und Einstellungen festzuhalten, weil jene als kulturelle Marker fungieren und mithin Zugang zu kollektivem Sozialkapital verschaffen können. Kognitive Konsonanz erlaubt es, Gruppenzugehörigkeit nachhaltig zu affirmieren und nicht ideologisch zu destabilisieren. Ganz folgerichtig ist diese Zugehörigkeit ihrerseits ein wichtiger Bestandteil der individuellen Identität (Kahan 2013a: 53; Kahan et al. 2017: 56 f.). Diese Interpretation liegt auf einer Linie mit den Befunden zum sozialen Lernen sowie zum Einfluss von Gruppenzugehörigkeit auf Verhalten und Wahrnehmung. Sie stützt die Hypothese, dass gerade das Leben in kulturellen Nischen und der Wettbewerb zwischen Gruppen die menschliche Psyche in entscheidender Weise geprägt hat – bis hin zu der für bewusste Vernunft so wichtigen Wahrnehmung von widersprüchlichen Informationen. Was also lehrt die Befassung mit kultureller Transmission ? Menschen übernehmen die in ihrem Umfeld verbreitetsten kulturellen Muster und imitieren Menschen, die sie für erfolgreich halten. Auch prägen evolvierte inhaltliche Präferenzen die informationelle Aufnahmebereitschaft. Alle drei Modi begünstigen 508 Siehe hierzu S. 92 ff.

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strukturellen Konformismus,509 wirken also mindestens teilweise auf konservative Tradierung kultureller Muster hin. Zwei ultimate Funktionen für diesen Hang zur Konformität fallen ins Auge: Erstens wird die Übernahme von Bewährtem gewährleistet, zweitens lassen sich kollektive Identitäten nachhaltig stabilisieren. Selbst die kognitive Verarbeitung von Sachinformationen dient offenbar wenigstens zum Teil der Herstellung und Wahrung gemeinsamer Bezugsrahmen sozialen Handelns in einer Gruppe – und zwar obwohl dieses Ziel dem grundsätzlichen evolutionären Anpassungsdruck zuwiderläuft, der Umwelt zutreffende Informationen zu entnehmen.510 Einmal mehr wird hier deutlich, wie wichtig in der Menschwerdung die moralische Gemeinschaft einer Gruppe gewesen sein muss. Menschen verarbeiten Informationen und unternehmen soziales Handeln nicht (primär) in dieser Weise, weil es objektiv ökonomisch sinnvoll wäre oder ihnen wenigstens subjektiv vernünftig erschiene. Die Befunde korrespondieren vielmehr mit der theoretischen Annahme, dass kulturelle Informationsweitergabe auf psychologischen Mechanismen basiert, deren Funktionsweise sich ihrer Evolutionsgeschichte verdankt. Diese vorbewussten Heuristiken haben sich in unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit schlicht als vorteilhaft oder zumindest nicht nachteilig erwiesen – und bestehen deshalb fort. Ihr Bestehen und ihre Funktionsweise erschließen sich nur in ultimater Perspektive; und deshalb zeitigen sie in konkreten proximaten Verursachungszusammenhängen Ergebnisse, die weder rational noch effektiv sein müssen. Im Gegenteil: In rasant gewandelten Nischen wie den heutigen kulturellen Zwischenwelten ist es sogar sehr wahrscheinlich, dass evolvierte psychologische Mechanismen zu „Fehlanpassungen“ (‚maladaptations‘) werden (Richerson und Boyd 1985, 2005). Da evolutionäre Anpassung ein nachholender Prozess ist, der Probleme erst nach deren Auftreten lösen kann, sind Organismen (auf der Popu­ lationsebene) im Grunde niemals optimal an ihre derzeitige Nische angepasst, sondern stets an eine vergangene Umwelt.511 Dass Menschen mit großem Eifer und tödlicher Präzision ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören – auf der Mikroebene z. B. über Konsum von zu viel Zucker, Fett und Drogen; auf der Makroebene etwa durch die Übernutzung von Ressourcen und Umweltverschmutzung –, ist sicher kein angepasstes Verhalten (Wilson 2007: 55). Es resultiert aber aus Anpassungsleistungen, die über viele Generationen hinweg Probleme gelöst haben. 509 Zum theoretischen Hintergrund siehe S. 326 f. 510 Zum hier einschlägigen Kernargument der Evolutionären Erkenntnistheorie siehe S. 62 ff. 511 Siehe dazu S. 91 f. Auch evolutionäre Zielkonflikte verhindern optimale Angepasstheit, wie das Konzept der Eignungslandschaften veranschaulicht (siehe S. 107 ff.): Verschiebt sich der Selektionsdruck in der Umwelt stark, kann es Populationen misslingen, dieser Entwicklung zu folgen. Sie verbleiben dann in einem „adaptiven Tal“ und geraten in ernste Bedrohung.

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Auch Kultur kann in diesem Sinne maladaptiv werden: So können Traditionen und Konventionen aufgrund des strukturellen Konservatismus kultureller Transmission immer weiter verstetigt werden, obwohl sie verheerende Fehlentwicklung bis hin zum Untergang von Zivilisationen zur Folge haben – egal wie adaptiv sie einst gewesen sein mögen (Diamond 2011). Trotzdem werden Menschen in der Regel ihre Perspektiven auf die Welt nicht ohne Weiteres ändern, auch und gerade nicht angesichts des Habermasschen zwanglosen Zwangs eines besseren Arguments. Zu wenig haben Ideologien mit Rationalität zu tun, zu tief verwurzelt ist der Umgang mit kognitiver Dissonanz in der menschlichen Psyche, in unterbewussten Prozessen, Emotionen und Intuitionen. Integration in Gruppen und ideologische Konformität – bezeugt im Sprechakt, in der alltäglichen sozialen Praxis und im Ritual – gehören offenkundig zusammen; das hat Bourdieu richtig erkannt. Auch hat er mit dem Effekt der „Hysteresis“ eine Vorstellung von kognitiver Dissonanzvermeidung in sein Habituskonzept eingelassen – sogar verbunden mit einem Hinweis auf die pfadabhängige Aufrechterhaltung von selbstgeschaffenen Milieus auch unabhängig von ihrer situativen Eignung (Bourdieu 1993: 114; vgl. Bohn und Hahn 2007: 297 f.). Hier nun erfährt dieses proximate Theorem seine ultimate Fundierung. Den kommunitaristischen Gestaltungswünschen von Putnam sind von der Normativität des Biologisch-Faktischen aber ebenso klare Grenzen gesetzt wie dem „Wait-and-see“-Ansatz der liberalen Gegenposition (siehe Portes und Vickstrom 2015): Gesellschaftliche – zumal: demokratische – Integration ist ein Projekt, das an individuelle Selbstkonzepte anschließen und mit ihnen positiv rückkoppeln muss. Gemeinsinnigkeit lässt sich nicht durch Vereinsarbeit antrainieren. Sie ist ohnehin da und muss in für menschliche Nervensysteme ganz unüberschaubaren Massengesellschaften kunstvoll eingefangen werden. Sie wird sich sonst, und hierin liegt das Problem für die liberale Position, auf die eine oder andere Weise Bahn brechen und in Partikularisierung und der Erosion des für Pluralismus notwendigen Minimalkonsenses münden – genau so, wie das derzeit vielerorts geschieht.512

512 Zu alldem passt auch, dass die Auswirkungen von Sozialkapital sehr davon abhängen, in welchen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen sie entstehen (Côté et al. 2015).

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Lebensgeschichte und Sozialisation: Offenheit als konditionale Strategie Die sich in der Rede von Hysteresis und Trägheit des Habitus widerspiegelnde situative Nicht-Angepasstheit von Individuen aufgrund von historischen Pfadabhängigkeiten wird in der Bourdieu-Rezeption gemeinhin mit dem Fortwirken der familiären Primärsozialisation erklärt (Bohn und Hahn 2007: 298; vgl. Bohn 1991). Daran zeigt sich deutlich, dass die zahlreichen anthropologischen Anschlussstellen Bourdieus in der sozialwissenschaftlichen Debatte zu wenig Beachtung finden, möglicherweise, weil „hinter“ dem sozialen Prozess der Enkulturation nichts theoretisch Relevantes mehr vermutet wird. Dieser Vermutung wird im Folgenden kritisch nachgegangen. Zum Zwecke einer möglichst umfassenden evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung der Sozialkapital gilt es zu ergründen, was aus evolutionstheoretischer Sicht über Sozialisation zu sagen ist. Schließlich spielt Sozialisation in der Sozialkapitaltheorie eine wichtige Rolle. Sie gilt in allen großen Ansätzen als der einzige Prozess, in dem gemeinsinne Normen und Werte sowie Vertrauen auch ohne rationale Einsicht weitergegeben und sodann auf Basis konsumatorischer Motivationen handlungsleitend werden. Die konkreten Mechanismen der Sozialisation bleiben in der Sozialkapitalforschung indes meist opak; und wenn sie expliziert werden, offenbaren sie eine ganz behavioristische Vorstellung von Lernen und Norminternalisierung.513 Schon die Gesamtschau der bisher referierten Befunde lässt stark an der Angemessenheit einer solchen Konzeptualisierung zweifeln. Zwar zeigt ein großer sozialwissenschaftlicher Literaturkorpus, dass Menschen erheblich von ihrem sozialen Umfeld in ihrer Entwicklung beeinflusst werden und dabei auch Normen internalisieren (vgl. dazu auch Gintis et al. 2009: 616 f.).514 Wie zu zeigen sein wird, sind Enkulturation, soziales Lernen und Norminternalisierung jedoch keineswegs rein kulturell determiniert. Anders als gerade in der Sozialkapitalforschung meist mindestens implizit unterstellt ist Sozialisation nämlich ein aktiver Prozess. Sie „passiert“ nicht ihrerseits ganz passiven Individuen. Vielmehr gibt es vielerlei Formen angeborener Vorbereitetheit (‚preparedness‘), also inhaltsbasierte Verzerrungen der Informationsaufnahme, die darauf ausgelegt sind, selektiv auf bestimmte Umweltreize zu reagieren (Plomin 1994; Voland und Störmer 2014). Gut dokumentiert ist das etwa für den 513 Siehe exemplarisch die einschlägigen Ausführungen zu Coleman (S.  138 f.), ferner S. 176 ff. sowie S. 187 ff. 514 Einführend zur sozialwissenschaftlichen Sozialisationsforschung siehe Abels und König (2010) sowie Niederbacher und Zimmermann (2011). Für einen Blick auf die politikwissenschaftlich besonders relevante Forschung zu politischer Sozialisation siehe Claußen und Geißler (2012) sowie Heitmeyer und Jacobi (1991).

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Erwerb von Phobien (Seligman 1971; Öhman und Mineka 2001): Während sich Ängste vor Spezies wie Spinnen und Schlangen, die in der menschlichen Stammesgeschichte ein ernstes adaptives Problem dargestellt haben, sehr leicht kulturell induzieren lässt, ist das bei in dieser Hinsicht irrelevanten Objekten wie Blumen oder Häusern nahezu unmöglich. Heranwachsende Menschen sind Agenten ihrer eigenen Welterschließung; und dieser aktive Prozess wird realisiert von psychologischen Mechanismen, die als Reaktion auf das adaptive Problem der Einpassung von Organismen in ihre – bei unserer Spezies zu guten Teilen: soziale – Umwelt evolvierten.515 Die Theorie der Lebensgeschichtsevolution (‚life history theory‘) erklärt diesen Prozess der aktiven Enkulturation (Chisholm 1999; Levins 1968; vgl. Lawson 2011; Voland 2013: 153 ff.). Sie ist nicht weniger als eine – sozialwissenschaftlich höchst anschlussfähige – evolutionäre Sozialisationstheorie (Belsky et al. 1991; Scheunpflug 2015; Voland und Störmer 2014). Zwar argumentiert der Ansatz strikt individualselektionistisch und mithin reduktionistisch. Wie sich aber zeigen wird, lässt er sich bruchlos in das hier zugrundeliegende Rahmenwerk der Multilevelselek­ tionstheorie integrieren.516 Die Theorie erweist sich sogar als überaus nützlich, um das große Ganze der Wechselwirkungen von menschlicher Psyche und sozialen Konstruktionen analytisch besser zu durchdringen. Der Ansatz geht von einem grundlegenden Zielkonflikt bei der Fitnessmaximierung von Organismen aus (Chisholm 1999; vgl. Workman und Reader 2010: 147; Voland 2013: 155): Einerseits müssen sie reproduktiven Aufwand betreiben, sich also Partner suchen und mit ihnen fortpflanzen, die Nachkommen aufziehen und mit Ressourcen ausstatten, nicht zuletzt auch Verwandte unterstützen. Andererseits braucht es somatischen Aufwand, um für sich selbst sorgen, heilen, wachsen, reifen und lernen zu können, um also die Funktionstüchtigkeit des eigenen Organismus sicherzustellen und so den reproduktiven Aufwand überhaupt erst zu ermöglichen. Unter den Bedingungen von Knappheit werden verschiedene Strategien der differentiellen Ressourcenallokation für reproduktiven und somatischen Aufwand durchaus unterschiedliche inklusive Fitnessbilanzen zur Folge haben – zumal unter schwankenden Umweltbedingungen. Soll die Priorität so schnell wie möglich und dauerhaft auf der Produktion von möglichst vielen Nachkommen liegen, oder wäre es aussichtsreicher, zunächst in den eigenen Organismus und 515 Solcherlei Dispositionen und kanalisierte Lernprozesse sind mannigfaltig und können hier nicht erschöpfend behandelt werden. Siehe über die Literaturangaben im Text hinaus Cummins und Cummins (1999) sowie Pauen und Hoehl (2015), für die Einbettung in einen breiteren evolutionär-anthropologischen Kontext zudem Tomasello (2006). 516 Ohnehin gibt es keinen grundsätzlichen paradigmatischen Bruch zwischen diesen beiden evolutionären Perspektiven. Siehe dazu S. 307 f.

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später möglicherweise nur in wenige Nachkommen zu investieren ? In der belebten Natur werden auf diese Fragen sehr verschiedene Antworten gefunden. Menschen haben diesbezüglich drei Spezifika im Vergleich zu Primaten und den meisten anderen Spezies (Kaplan et al. 2000). Erstens kommen Kinder sehr „unfertig“ und verletzlich auf die Welt und bleiben lange hilflos. Zweitens ist die nicht-reproduktive Phase bis zur Geschlechtsreife, die Kindheit, besonders lang. Drittens ist das Gehirn von Geburt an sehr groß und energiehungrig. Die Versorgung von Kindern ist aus diesen Gründen für das soziale Umfeld „teuer“.517 Menschen müssen also viel somatischen Aufwand auf sich nehmen, um reproduktiven Aufwand im engeren Sinne betreiben zu können.518 Führt man sich vor Augen, dass andere Spezies viel eher mit der eigenen Reproduktion beginnen (können), dann drängt sich die Frage auf, worin der adaptive Wert dieser vergleichsweise umständlichen Strategie gelegen hat, warum sie sich also evolutionär durchsetzte. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade das Leben in konstruierten Nischen, in kulturellen Zwischenwelten, dafür ursächlich ist. Großer somatischer Aufwand ist in das Erlernen vielfältiger Symbole und Praktiken zu investieren, bevor reproduktiver Aufwand möglich und lohnend wird (Kaplan und Gangestad 2005: 77). Je länger Kinder beschützt und versorgt werden, desto länger können sie auch relativ unbekümmert sowie spielerisch ausprobieren und üben, wie man sich in der vorgefundenen soziokognitiven Nische angemessen bewegt, und umso besser gelingt später die Integration in kollaborative Unternehmungen.519 Je mehr Aufwand also in Enkulturation gesteckt wird, desto performanter wird einesteils das Individuum potentiell in Konkurrenz zu anderen sein, umso besser wird sich aber auch die jeweilige Gruppe bei gemeinsamer Zielerreichung schlagen. Lan517 Wie vergleichende Studien mit Schimpansen zeigen, relativiert sich diese Bilanz jedoch über die Lebenspanne, weil Menschen später sehr produktiv bei der Ressourcenbeschaffung werden und ihr Umfeld an den Überschüssen teilhaben lassen (Kaplan et al. 2000). So jagen Wildbeuter nicht bevorzugt alte und kranke Tiere, wie das bei anderen Raubtieren üblich ist, sondern es wird mithilfe von fortgeschrittenen Wissensbeständen und ausgefeilten Techniken Jagd auf gesundes und frisches Fleisch gemacht (Liebenberg 1990, 2006; Stiner 1991; Alvard 1995). 518 Zu bedenken ist allerdings, dass Eltern im Sinne ihrer eigenen Fitnessinteressen dafür sorgen, dass Kinder bei der Aufzucht ihrer Geschwister als „Helfer am Nest“ zur Stelle sind. Dies aber ist eine den Nachkommen aufgezwungene Lösung des dahinterstehenden ElternKind-Konfliktes um Ressourcen (Trivers 1974; vgl. Mace 2009: 513 ff.; Voland 2013: 207 ff.). Sie ist eine mögliche evolutionäre Wurzel des menschlichen Gewissens, weil das wirkungsvolle Induzieren entsprechenden moralischen Drucks bei den Kindern die inklusive Fitness der Eltern steigern konnte (Voland 2014; Voland und Voland 2014). 519 Auch bei anderen Spezies dient Spiel der Vorbereitung auf den sprichwörtlichen Ernst des Lebens (Bruner et al. 1976; Byers und Walker 1995; Pellegrini et al. 2007; Power 1954/2009; Spinka et al. 2001). Zur Rolle von Kollaboration in der Stammesgeschichte und zum angeborenen Interesse daran siehe ferner S. 353 ff.

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ge Kindheit und Kulturfähigkeit stehen jedenfalls miteinander in Zusammenhang (Voland und Voland 2014: 125).520 Aber spricht diese lange Phase der Enkulturation nicht doch dafür, dass Prosozialität gerade nicht auf evolvierten Dispositionen basiert, sondern kulturell gelernt wird ? Wie bereits gezeigt wurde, werden im Verlauf der Kindheitsentwicklung nach und nach immer komplexere Module der menschlichen Ultrasozialität „freigeschaltet“, die dennoch nicht ansozialisiert, sondern angeboren sind.521 Sozialisationsprozesse können daran anknüpfen, jedoch nicht in beliebiger Weise. So scheint etwa äußere soziale Verstärkung durch Loben und Belohnen intrinsische Motivationen zu helfendem Handeln eher zu unterminieren (Warneken und Tomasello 2008). Effektiver ist es offenbar, wenn Sozialisationspraktiken das Bestehen prosozialer Verhaltensneigungen schon voraussetzen und dem Kind durch Aufzeigen von Bedürfnissen sowie Notwendigkeiten nur dabei helfen, diese Dispositionen auf lohnende Ziele zu richten (Hoffman 2000; Warneken und Tomasello 2008: 465). Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass mit viel größerer Aussicht auf Erfolg gelernt werden kann, wofür eine evolvierte Vorbereitetheit besteht. Die Theorie der Lebensgeschichtsevolution liefert noch viele weitere Einsichten in die Funktionslogik von Sozialisationsprozessen. Für die Sozialkapitaltheorie sind dabei vor allem jene relevant, welche neben Neigungen zu Prosozialität die Herausbildung von sozialen Bindungen betreffen. Weil die Weite dieses Themenkomplexes jedoch den originären Fokus dieser Studie überdehnt, soll es bei einigen exemplarischen Argumenten und Befunden bleiben. Zeigen lässt sich die evolutionäre Logik hinter Sozialisationsprozessen instruktiv am Einfluss, den Kindheitserfahrungen mit der sozialen und ökologischen Umwelt auf reproduktives und soziales Verhalten im Erwachsenenalter haben. So gilt als gesichert, dass die verschiedenen Typen menschlichen Bindungsverhaltens auf das als Kind jeweils erlebte Brutpflegeverhalten zurückgehen (Ainsworth 1967; Bowlby 1969). Grob verdichtet stellt sich die Sachlage wie folgt dar: Sind die Eltern bereit und fähig, in den Nachwuchs zu investieren, sich zu engagieren und dem Kind Akzeptanz, Aufmerksamkeit und emotionale Nähe entgegenbringen, entstehen sichere Bindungstypen. Unsicher-vermeidende Typen bilden sich heraus, wenn die Eltern dem Kind ablehnend oder unwillig gegenübertreten und nicht bereit sind, ihm die genannten Ressourcen entgegenbringen. Sind sie – zum Beispiel wegen Ressourcenmangels oder Überforderung – „nur“ 520 Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass auch Eltern-Kind-Konflikte mit der verlängerten Kindheit in Zusammenhang stehen könnten (vgl. Fußnote 518), machen aber ebenso klar, dass dies „nur zwei Blicke aus unterschiedlicher Richtung auf dasselbe koevolvierende System“ sind (Voland und Voland 2014: 125). 521 Siehe hierzu S. 353 ff.

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unfähig zu solchem Investment und zeigen ein inkonsistentes Fürsorgeverhalten, so wird aus dem Kind ein unsicher-ambivalenter Bindungstyp. Diese Bindungstypen lassen sich als evolvierte konditionale Strategien aktiver Sozialisation interpretieren, auf deren Basis schon im Kindesalter (unbewusste) Entscheidungen über die Verteilung von reproduktivem und somatischem Aufwand getroffen werden (Belsky 1997; Chisholm 1996, 1999).522 Aus einem Repertoire angeborener Muster des Reproduktions- und Sozialverhaltens wird jenes ausgewählt, das zu den aufgenommenen Umweltinformationen passt und mithin adaptiv zu sein scheint. Die zugrundeliegende Heuristik lautet grob verdichtet: „Wenn dir die (soziale) Welt als ein sicherer, berechenbarer Ort erscheint, dann warte mit der Reproduktion und betreibe zunächst somatischen Aufwand, baue langfristige Beziehungen auf und statte wenige Nachkommen mit vielen Ressourcen aus. Ist die (soziale) Welt hingegen unberechenbar, ablehnend oder gar feindlich, dann nimm an Ressourcen, was du bekommen kannst, beginne früh mit der Reproduktion und setze möglichst viele Kinder in die Welt – um die Chance zu erhöhen, dass überhaupt eines davon im ‚Spiel des Lebens‘ eine Runde weiter kommt.“ Diese Strategie ist für „egoistische Gene“ theoretisch vollkommen plausibel,523 und es zeigt sich auch in empirischen Daten. So gibt es Hinweise darauf, dass sichere Bindungstypen im Erwachsenenalter wirklich stabile und langfristige Beziehungen eingehen, während unsichere Typen zu instabilen Paarbeziehungen neigen (Hazan und Shaver 1987; Kirkpatrick und Hazan 1994) – natürlich mit allerlei Geschlechtsunterschieden, Differenzierungen und intervenierenden Variablen (vgl. Del Giudice und Belsky 2010).524 Zudem führen Stresserfahrungen und familiäre Krisen in der frühen Kindheit (etwa: abwesender oder psychisch gestörter Vater, Zerrüttung der Familie) bei Mädchen zu einem früheren Einsetzen der Geschlechtsreife sowie der anschließenden Tendenz zu kurzfristigen Partnerwahlstrategien (Belsky et al. 2010; Chisholm et al. 2005; Kim et al. 1997; Neberich et al. 2010; Tither und Ellis 2008). Das Verhalten der Eltern scheint demnach von Kindern als ein Proxy für das zu erwartende Lebensrisiko behandelt zu werden. Funktional äquivalente Reaktionsnormen sind für das Tierreich nachgewiesen. So greifen manche Säugetiere unter extremen ökologischen Umständen zu einer „Live fast, die young“-Strategie und treten früher als unter Normalbedingungen in die reproduktive Phase ein 522 Zu konditionalen Strategien und evolvierten psychologischen Mechanismen siehe S. 92 ff. 523 Siehe dazu grundlegend S. 81 ff. sowie knapp zusammengefasst die Fußnote 526. 524 Zu Geschlechtsunterschieden beim Paarungsverhalten und Reproduktionsstrategien von Menschen siehe einführend Buss (2003, 2013) und S. 508 f., ferner die Fußnote 303 auf S. 223.

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(Promislow und Harvey 1990). Aber auch bei Menschen wurde ein negativer Zusammenhang zwischen Kindersterblichkeit zum Zeitpunkt der Geburt und dem Beginn der eigenen reproduktiven Aktivitäten gefunden (Quinlan 2010). Vermittelt werden solche Effekte sicher trotzdem zu einem Gutteil über die Erfahrungen der Kinder mit den Eltern. Jene drosseln ihre Investitionen in den Nachwuchs in Zeiten von Krieg, Hunger, pathogenem Stress und den damit einhergehenden ungünstigen Prognosen für ihre Kinder überproportional stark (Quinlan 2007). Die Reaktion auf diese Risiken kann sich sogar als ein kulturelles Muster verfestigen, das sich über soziales Lernen ausbreitet und so zu einer Konvention in der ganzen Population wird (Quinlan und Quinlan 2007) sowie in der Folge die Primärsozialisation ganzer nachwachsender Generationen prägt. Gesellschaftliche Dynamiken können demnach durch Informationsübermittlung schon in den ersten Monaten und Jahren des Lebens pfadabhängig verstetigt werden. Spätere Sozialisationserfahrungen beeinflussen das Verhalten im Erwachsenenalter wesentlich schwächer (Quinlan und Quinlan 2007: 170). Die sozialtheoretische Relevanz ist unmittelbar: Gerade in der politikwissenschaftlichen Sozialkapitalforschung geht es etwa darum, Kulturen des Vertrauens und des stabilen Miteinanders aufzubauen und sicherzustellen. Die dafür zentralen kausalen Prozesse laufen aber zu einem Gutteil an ganz anderer Stelle ab als vermutet – und sind höchst störanfällig: Reale und von (Generationen von) Eltern als real empfundene Ressourcenknappheiten, Zukunftsängste und Bedrohungslagen, aber auch schlicht unberechenbare und fluktuierende frühkindliche Bindungserfahrungen können in grundlegender und nachhaltiger Weise die Sozialisation in Richtung einer opportunistischen, kurzfristigen und unsteten Lebenseinstellung prägen. Es fehlt dann aber sozusagen die tiefenpsychologische Grundlage für kollektives Sozialkapital. Gerade gemeinsinnige Prosozialität braucht Zuversicht hinsichtlich zukünftiger Dividenden für hier und jetzt in Kauf genommene Einschränkungen, aber auch normenbasiertes Sozialkapital funktioniert nur in halbwegs berechenbaren sozialen Beziehungsnetzwerken. In theoriehaltiger Weise ist somit jene Skepsis aufgefangen, welche Putnam und Coleman gegenüber so manchen Modernisierungsentwicklungen bekunden – bei Coleman hinsichtlich der schwindenden Relevanz von in der Primärsozialisation zentralen primordialen Sozialorganisationen wie Familie und Religion, bei Putnam mit Blick auf fortschreitende Individualisierung und die Auflösung zivilgesellschaftlicher Strukturen: Solche Entwicklungen können – ceteris paribus – zu abnehmender Erwartungssicherheit sowie zu einer Erosion bewährter verhaltensnormierender kultureller Muster von moralischen Gemeinschaften führen. Eine evolutionäre Sozialisationstheorie wie die hier umrissene hilft demnach nicht nur, die großen Herausforderungen beim Aufbau von Sozialkapital in von Katastrophen gleich welcher Art getroffenen Gesellschaften schärfer zu umreißen. Sie er-

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laubt es auch, die Funktionsprobleme westlicher Gesellschaften in der Sprache der Sozialkapitaltheorie analytisch genauer zu fassen, als das ohne sie möglich ist. Individuelle Neigung zu Prosozialität und Altruismus lässt sich folglich ebenso als Ergebnis der (frühen) Sozialisation begreifen wie die emergente Stabilität sozialer Netzwerke. Dass frühe Bindungserfahrungen gesellschaftliche Kooperation beeinflussen, leuchtet intuitiv ein – und wird von Psychotherapeuten immer wieder betont (siehe Legendre 2011; Maaz 2015). Die proximate Kausalstruktur dieses Zusammenhangs erschließt sich insbesondere dann, wenn man sie als ultimate Folge von in der evolutionären Vergangenheit erfolgreichen Lösungsversuchen für adaptive Probleme sieht: Allokationskonflikte zwischen somatischem und reproduktivem Aufwand haben dazu geführt, dass Menschen und andere Tiere ein Sensorium für die Kontingenzen ihrer Existenz entwickelt haben. Jeder bewussten Reflexion noch vorgängig entnehmen sie der Umwelt, in die sie hineinwachsen, Informationen über deren zu erwartende Berechenbarkeit und Sicherheit – also: ihre Lebensfreundlichkeit bzw. -feindlichkeit. Die menschliche Weltoffenheit basiert also auf evolvierten Reaktionsschemata. Aus Sicht der Theorie der Lebensgeschichtsevolution ist Persönlichkeitsentwicklung zu einem Gutteil eine Serie von konditionalen Reaktionen des menschlichen Organismus auf aktiv und selektiv wahrgenommene Umwelteinflüsse mit der ultimaten Funktion, Fitness zu steigern (Figueredo et al. 2004, 2005; Gladden et al. 2009).525 Dahinter liegen psychologische Mechanismen, mit deren Hilfe un-

525 Allerdings ist Persönlichkeit zum Teil auch erblich (Ebstein et al. 2010; vgl. Buss und Hawley 2010). Die Frage, wie groß der Einfluss von genetischer Variabilität auf phänotypische Variabilität bei Menschen ist, lässt sich auf der Basis von Zwillingsstudien im Bereich der Verhaltensgenetik näherungsweise beantworten (Boomsma et al. 2002; Segal 2012; Hetherington et al. 2013; Plomin et al. 2012; vgl. auch Workman und Reader 2010: 160 ff.). Dort werden genetisch identische monozygotische mit dizygotischen Zwillingen, normalen und adoptierten Geschwistern verglichen, die 50 Prozent bzw. keine gemeinsamen Gene haben. Es lässt sich abschätzen, dass phänotypische Variabilität zu ca. 50 Prozent direkt auf genetische Unterschiede zurückgeht. Nur weitere 10 Prozent lassen sich auf geteilte Umwelt zurückführen, im Wesentlichen also auf das Elternhaus. Etwa 40 Prozent der Varianz kommen also durch Unterschiede in der nicht geteilten Umwelt der Geschwister zustande (Plomin und Daniels 1987; Plomin et al. 2013). Auch das stützt die multilevelselektionistische Hypothese, dass Menschen an das Leben in kooperativen Gruppen aus Nichtverwandten angepasst sind. Diese Befunde dürfen nun nicht dahingehend missverstanden werden, dass Umwelt ganz unabhängig auf Individuen wirkte. Wie die Befassung mit EvoDevo gezeigt hat, ergibt sich die Gestalt eines Phänotyps stets aus Gen-Umwelt-Interaktionen. Außerdem lehrt die Theorie der Lebensgeschichtsevolution, dass phänotypische Variabilität ihrerseits von Genen einerseits ermöglicht und andererseits in ihrem Möglichkeitsraum begrenzt wird (vgl. Bereczkei 2009). An Zwillingsstudien gibt es einige teils massive Kritik (Palmer 2011; Joseph 2013), der aber überzeugend begegnet wird (Freese und Powell 2003; Segal 2011; siehe auch Turkheimer 2000).

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terbewusst strategische „Entscheidungen“ darüber getroffen werden, wie der eigenen Nische im Sinne der genetischen Eigeninteressen zu begegnen ist (Belsky et al. 1991; Curry et al. 2008; vgl. Del Giudice und Belsky 2010: 158).526 Die fitnessrelevanten Auswirkungen zeigen sich dann in der Performanz sowohl des Individuums als auch der Gruppe. Genetisch bedingte Verhaltensflexibilität trägt nämlich nicht nur dazu bei, an dynamische soziale und ökologische Umwelten angepasstes Verhalten zu generieren. Sie spielt auch eine wichtige Rolle bei der epigenetischen Vererbung kulturell kontingenter Konventionen sozialen Bindungsverhaltens. Sozialisation ist demnach ein zentraler Bestandteil der rekursiven Interaktionsprozesse einesteils zwischen Genen und Kultur, andernteils zwischen den verschiedenen Ebenen der Selektion (Del Giudice und Belsky 2010: 156 ff.; Kaplan und Gangestad 2005). Die Relevanz einer solche evolutionären Theorie der Sozialisation ist subtil, aber gewaltig. Auf Ihrer Basis lässt sich eine Handlungstheorie der Sozialisation formulieren. Sie liefert Erklärungen von Enkulturation, die Angaben darüber machen, welche kognitiven Prozesse ablaufen, wenn Menschen sich aktiv die Welt erschließen. Sie benennt konkrete in der menschlichen Natur begründete Mechanismen der Interaktion von Genen und Umwelt, von Individuen und (konstruierten) Nischen, von sozialer Mikro- und Makroebene (Sterelny 2007). Von einer solchen Mikrofundierung ohne Reduktionismus können Sozialwissenschaften bis hinauf zu ihren Institutionentheorien profitieren. Schließlich bietet sie eine umfassende und allgemeine Erklärung für die gerichtete Pfadabhängigkeit kulturellen Wandels.

526 Um Missverständnissen vorzubeugen, soll einmal mehr darauf hingewiesen sein, dass solche „Entscheidungen“ und „genetischen Eigeninteressen“ nicht als Ergebnisse von bewusst reflektierten Abwägungsprozesse und Präferenzordnungen verstanden werden dürfen. Sie sind heuristischer und probabilistischer Natur und laufen ganz stereotyp ab. Organismen spielen nicht auf proximater Ebene die ultimaten lebensgeschichtlichen Auszahlungsmatrizen durch, die hinter lebensgeschichtlichen Strategien stecken. Sie projizieren auch nicht entsprechende Szenarien in die Zukunft und wägen sie gegeneinander ab. Vielmehr agieren sie entlang von genetisch codierten Mechanismen nur so, als ob sie diese Szenarien abwägen. Evolvierte strategische Flexibilität arbeitet nicht kontingent-zufällig, sondern entlang von evolvierten biologischen Regeln (Voland 2013: 12). Die beteiligten Mechanismen haben sich einfach im evolutionären Praxistest bewährt und so selbst verstärkt. Adaptive Rationalität braucht keine Agenten mit freiem Willen – weder im Himmel noch auf der Erde. Das meint die Rede vom „blinden Uhrmacher“ (Dawkins 1996).

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Akteur und Struktur: Ritualität als Keimzelle der Vergemeinschaftung Die sachgerechte Modellierung des Verhältnisses von sozialer Mikro- und Makro­ ebene war ein zentrales Ziel der Theoriearbeit von Bourdieu und Coleman, die unabhängig voneinander nach einem dritten Weg zwischen der einseitigen Betonung einesteils von individuellem Handeln, andernteils von sozialen Strukturen suchten. In endgültig zufriedenstellender Weise konnte das beiden schon deshalb nicht gelingen, weil ihre anthropologischen Prämissen den Blick auf manchen kausalen Pfad verstellten.527 Bevor also Bilanz zu den Eigenheiten gerade von kollektivem Sozialkapitals gezogen werden kann, sollen deshalb in einem letzten Schritt die bisher gefundenen Bausteine zur Erklärung der Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Strukturen zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Zuerst sind dazu die Einsichten insbesondere zur Gen-Kultur-Koevolution zu verdichten. Danach gilt es ein letztes Mal, empirisch-anthropologische Befundlagen zu sichten, um an der Rolle von Ritual und Religion auch ganz konkret vor Augen zu führen, was sich aus der menschlichen Naturgeschichte für das Beschreiten dieses dritten Weges lernen lässt. Wie sich gezeigt hat, war Kultur in der menschlichen Stammesgeschichte stets eingebettet in Szenarien der Zwischengruppenkonkurrenz. Der Erfolg von kulturellen Innovationen hing nicht nur von deren individueller Nützlichkeit ab, sondern auch von der Performanz der jeweiligen kulturellen Gruppen. Auf lange Sicht bemaß sich dieser Erfolg darin, wie gut es gelang, Lösungen für adaptive Probleme zu finden. Diese Probleme ergaben sich aus der Beschaffenheit der jeweils bewohnten Nischen und bedurften deshalb spezifischer Lösungen – etwa in Bezug auf Krankheitserreger, Art und Menge verfügbarer Ressourcen, klimatische Besonderheiten und auf diese Voraussetzungen aufsetzende soziale Figurationen (Diamond 2006a, 2011). Über soziales Lernen gelangten solche sozial konstruierten Wissensbestände, Deutungsroutinen und Normen von einer Generation in die nächste. Der von modell- und frequenzbasierten Verzerrungen bewirkte strukturelle Konformismus solcher Lernprozesse sorgte dafür, dass diese kulturelle Transmission gleichsam eine hohe Kopiertreue aufwies, also ziemlich konservativ ablief. Ob sich die so tradierten kulturellen Muster in der Population ausbreiteten, hing dann von inneren und äußeren Selektionsfaktoren ab (Richerson und Boyd 2005; Henrich und McElreath 2009):528 Einesteils waren solche sozialen Konstruktionen bevorteilt, die produktiv mit evolvierten konditionalen Strategien der Mitglieder innerhalb Gruppe wechselwirkten, die also an inhaltsbasierte Verzer527 Siehe dazu S. 190 ff. 528 Siehe hierzu vertiefend und mit weiteren (Quer-)Verweisen die Fußnote 702 auf S. 490.

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rungen des Lernens und andere psychologische Mechanismen konstruktiv anschlossen. Doch selbst wenn es gelang, auf diesem Wege eine moralische Gemeinschaft zu stabilisieren, hatte sich diese samt ihrer spezifischen Perspektiven auf die Welt in der Konkurrenz mit anderen Gruppen zu behaupten. Kulturelle Zwischenwelten, die diesen Selektionsdrücken erfolgreich standhielten, übten ihrerseits wiederum Anpassungsdrücke auf die in ihnen lebenden Individuen aus. Unter ihnen hatten jene Fitnessvorteile, welche sich in den konstruierten soziokognitiven Nischen besonders kompetent bewegen konnten, die also etwa über eine weit entwickelte Theory of Mind, ausgeprägte sprachliche Fähigkeiten oder eine auf geltende Konventionen in opportuner Weise reagierende emotionale und intuitive Verhaltensregulierung verfügten. So gerieten genetisch kodierte Eigenschaften und sozial konstruierte Kulturphänomene in einen Koevolutionsprozess, der elaborierte individuelle Kulturfähigkeit(en) sowie komplex ausdifferenzierte kulturelle Zwischenwelten hervorbrachte. Diese Gen-Kultur-Koevolution hat offenkundig dazu geführt, dass Gemeinsinn und Konformität zu festen Bestandteilen der Natur des Menschen wurden – wohlgemerkt bezogen auf die Eigengruppe. Diese ausgeprägte Gruppenorientierung steht aber in einem permanenten Konkurrenzverhältnis mit evolutionär älteren und mithin tiefer verwurzelten Formen der Sozialität, insbesondere Verwandtenbevorzugung und opportunistischer Egoismus. Ob in einer bestimmten proximaten Situation kollektivistische oder individualistische bzw. nepotistische Veranlagungen die Oberhand gewinnen, hängt von angebbaren proximaten Faktoren, also von Umweltstimuli ab. Auf jene reagieren menschliche Gehirne dann nicht etwa kontingent-willkürlich, sondern mit regelhaft-konditionaler Verhaltensflexibilität. Das gilt auch für die individuelle Auseinandersetzung mit kulturellen Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen – bis hin zu deren Verfestigung in Form von Ideologien und Institutionen. Ausgehend davon erschießt sich auch, warum ganz unterschiedliche menschliche Kulturen große funktionale Äquivalenz aufweisen. Ein wichtiger Katalysator der Erfolgsgeschichte unserer Spezies war die nachhaltige Überwindung von Dilemmata kollektiven Handelns durch einen Systemübergang hin zur Ultrasozialität. Konstruierte soziokognitive Nischen bargen mannigfaltige Potentiale, um die kollektive Handlungsfähigkeit von Gruppen zu induzieren und aufrechtzuerhalten: Sie ermöglichten exklusive moralische Gemeinschaft samt deren elaborierter Wir-Intentionalität, indem sie entsprechende psychische Prädispositionen kanalisierten. Gelang das, konnten Prozesse der Multilevelselektion in der Folge über viele Generationen hinweg dafür sorgen, dass Menschen immer besser darin wurden, solche kulturellen Zwischenwelten zu erschaffen und handzuhaben, welche diese Potentiale auch tatsächlich ausschöpften. Die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten von inhaltlich sehr verschiedenen kulturellen Figurationen verdanken sich

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deshalb nicht einfach proximaten funktionellen Anforderungen. Sie ist eine anthropologische Konstante, die überall dort emergiert, wo sich Exemplare unserer Spezies vergemeinschaften. Angesichts dieser tragenden Rolle von Kultur mag es überraschen, dass Menschen so intensiv davon Gebrauch machen, was Konrad Lorenz das fatale Privileg des Glaubens an den reinen Unsinn nannte.529 Wie sich aber gezeigt hat, war es offensichtlich für die evolutionären Gewinner in der Zwischengruppenkonkurrenz schlicht nicht von zentraler Bedeutung, wie sinnvoll, plausibel oder „wahr“ ihre Welterklärungen waren. Augenscheinlich überwogen die Vorteile im Hinblick auf die Generierung von Binnengruppen-Prosozialität, von bindendem kollektiven Sozialkapital gegenüber den Nachteilen von unzutreffenden Weltdeutungen. Und weil die psychologischen Mechanismen hinter kultureller Transmission zu einem Gutteil auf Konformität hinwirken, können sich Weltsichten und Moralsysteme tradieren, selbst wenn nur wenige Sendungsbewusste wirklich davon überzeugt sind (Centola et al. 2005; vgl. Füllsack 2011: 159 ff.).530 Entscheidend ist letztlich nur, ob das Zusammenspiel aus konstruierter Nische und Mensch adaptiv ist. Die Befähigung zum kollektiven Handeln war das in Szenarien andauernder Zwischengruppenkonkurrenz ohne Zweifel. Aber wie hat sich all das nun wohl in unserer Natur- und Kulturgeschichte konkret abgespielt ? In letzter Gewissheit wird sich das natürlich nie sagen lassen. Einen soliden Ausgangspunkt bietet jedoch die gut dokumentierte Beobachtung, dass Rituale ein nahezu universelles Phänomen in Stammesgesellschaften sind (Ehrenreich 2006; Eibl-Eibesfeldt 1984/2004; vgl. Antweiler 2009: 199; Dissanayake 1992: 48). Auch wenn über den genauen Zweck der frühesten archäologischen Artefakte der Menschheit noch Unklarheit herrscht, so ist doch sicher, dass sie kultischen und rituellen Zwecken dienten (Schmidt 2009a). Bourdieu – und mit ihm auch Durkheim und Goffman – könnten also den Kern getroffen haben, als sie die zentrale Rolle von Ritualisierung und Symbolisierung für Gruppen im sozialen Wettbewerb herausstellen.531 Inzwischen zeichnet sich nämlich recht klar ab, dass wohl auch die Sesshaftwerdung mit – ganz im Bourdieuschen Sinne zu verstehender – Symbolisierungs-, Ritualisierungs- und Institutionalisierungsarbeit in Zusammenhang stand. Das Errichten und Betreiben riesiger Kultbauten könnte die Nahrungsmittelproduktion vor Ort erzwungen haben (Schmidt 2006, 2009b, 2010; vgl. Luckert 2013). 529 Zitiert nach Patzelt (2013d: 240). Siehe dort die Fußnote 18. 530 Die Simulationsstudie von Centola et al. (2005) weist nach, dass Glaubensinhalte in Populationen dominant bleiben können, obwohl nur eine Minderheit wirklich daran glaubt, weil diese Minderheit gegenüber eigentlich nicht „gläubigen“ Opportunisten starken Konformitätsdruck erzeugen kann, der diese paradoxe Situation stabilisiert. 531 Siehe zur Rolle des Rituals bei Bourdieu S. 126 f.

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Zwar steht diese Ansicht (noch) in Opposition zur vorherrschenden Lehrmeinung (Schmidt 2010: 253 f.). Doch die anhand der 12 000 Jahre alten Ausgrabungen am Göbekli Tepe entwickelte Argumentation erhält auch von anderer Seite Unterstützung: Reichholf (2008) führt die Neolithische Revolution, die Sesshaftwerdung mit dem Übergang zu Landwirtschaft, ebenfalls auf Kult und Rituale zurück. Anders als allgemein angenommen habe nicht der Mangel an Nahrung (ausgerechnet im fruchtbaren Halbmond des Zweistromlandes) zur Kultivierung von Pflanzen und Tieren gezwungen, sondern der Bedarf an Verpflegung und Rauschmitteln für rituelle Termine, die mithilfe der kalendarischen Funktion früher Kultstätten ermittelt wurden.532 In der Naturgeschichte des Menschen mag es nicht der einzige ultimate Zweck von Ritualen gewesen sein, Gruppengrenzen zu (re-)konstruieren und Binnenkohäsion zu stärken. Ein ganz zentraler war und ist er aber gewiss. Das proximate Zustandekommen und der Inhalt von ritualisierten kulturellen Praktiken war und ist dabei im Grunde austauschbar, denn die integrative und distinktive Funktion können sie durch ihre schiere Existenz erbringen – einfach dadurch, dass Menschen auf solche kulturellen Marker als „das uns Einende und von anderen Trennende“ rekurrieren und sie so zum Kristallisationspunkt von Wir-Intentionalität werden lassen können. Angesichts der rekursiv-koevolutiven Beziehung von Genen und Kultur ist es dann auch plausibel, das menschliche Bedürfnis nach ritueller Betätigung in entsprechenden psychischen Prädispositionen verorten zu wollen (Haidt et al. 2008; Haidt 2013: 256 ff.). Es ist auffällig, dass Menschen offenbar Glück dann empfinden, wenn sie sich selbst transzendieren, etwa durch die gemeinsame Einnahme von Drogen (Haidt 2013: 264 ff.; Reichholf 2008), synchronisierte und rhythmische Bewegung (Ehrenreich 2006; Launay et al. 2016; Tarr et al. 2016) sowie kollektives Singen (Pearce et al. 2015, 2016) – allesamt von jeher wichtige Bestandteile ritueller Praktiken. Auch hat sich das Bedürfnis als offenkundig universell erwiesen, das Selbst zu überschreiten, indem es in größere Gruppen- und Sinnkontexte gestellt wird.533 Es gehört unverkennbar zur Natur des Menschen, Teil eines größeren Ganzen sein zu wollen. Nach dieser Schwarm-Hypothese (‚hive hypothesis‘) liegt gerade in dem – wahrscheinlich in der geschilderten Weise über Multilevelselektion 532 Die Standarderklärung scheint nicht nur unplausibel zu sein, weil es den darin zentralen Nahrungsmangel am Ende der Eiszeit so wohl nicht gab, sondern auch, weil Landwirtschaft erst nach vielen Generationen genug Ertrag abgeworfen haben dürfte, um Familien oder gar ganze Sippen davon zu ernähren. Der Anfangsvorteil dürfte folglich nicht in der agrarischen Subsistenz gelegen haben. Der Effekt von vergorenen Früchten und Getreide tritt hingegen – proximat und ultimat – unmittelbar ein (Reichholf 2008). 533 Siehe hierzu auch S. 369.

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evolvierten – intrinsischen Streben nach dem Aufgehen in einer Gemeinschaft ein wichtiger Quell von Sozialkapital (Haidt et al. 2008: 144 f.). Noch einmal: Dieser Quell steckt zwar in Gehirnen, ist also eine anthropologische Konstante. Das kollektive Sozialkapital selbst manifestiert sich jedoch erst auf der Gruppenebene als emergente Konsequenz der komplexen Interaktion dieser Gehirne in Raum und Zeit. Es „besteht“ dabei aus nichts anderem als dem Gelingen der Aktivierung individueller kollaborativer Potentiale über das erfolgreiche Herstellen von Abgrenzung, Zugehörigkeitsgefühlen, Wir-Intentionalität und sozialer Kontrolle – und der kulturell konstruierten Verstetigung all dessen in Symbolen, Ritualen und Institutionen. Aus der so evolutionär weitergeführten Argumentation Bourdieus folgt auch eine Erklärung für die besondere Rolle von Religionen, die für Coleman und Fukuyama zentrale Quellen von Sozialkapital sind. Institutionalisierte Religionen und ihre Vorformen wie der Schamanismus und der Totemismus sind in irgendeiner Form in jeder erforschten Gesellschaft zu finden (Rappaport 1999; vgl. Antweiler 2009: 195 ff.). Sie erfüllen als konstruierte Nischen in besonderer Weise die Funktionen, individuelles Handeln auf kollektive Zielerreichung auszurichten, weil sie auf mindestens fünf Arten passgenau an individualpsychologischen Vorbedingungen ansetzten (vgl. Voland und Schiefenhövel 2009; Watts und Turner 2014; Norenzayan et al. 2016). Erstens bieten sie eine Perspektive auf die Welt an, die klar von anderen unterscheidbar ist und damit die Grenzen einer moralischen Gemeinschaft eindeutig abzustecken hilft. In ihr gebündelte kulturelle Marker – religiöse Symbole, Mythen, Rituale und davon durchwirkte Alltagspraxen – können zu Kristallisationspunkten von geteilter Identität und Intentionalität werden (Rappaport 1999).534 So wird das individuelle Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Selbstüberschreitung ebenso befriedigt wie die Anforderung der Absicherung von kollaborativen Netzwerken indirekter Reziprozität nach außen sowie gegen Trittbrettfahrer. Zweitens und daran anschließend fordern Religionen von ihren Mitgliedern materielle und immaterielle Hingabe. Die Ausübung von Ritualen, das Leben nach religiösen Vorschriften, das Erbringen von Opfern – all das ist mit manifesten Kosten verbunden. Dergestalt wird die Ausübung von Glauben und Spiritualität zu einem teuren Signal für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die moralische Integrität, also die kooperative Vertrauenswürdigkeit (Murray und Moore 2009; Bulbulia und Sosis 2011; Soler 2012; vgl. Bulbulia 2009: 626 ff.).535 Dem normativen Kodex zu folgen, verschafft Ansehen – bei Ahnen, im Himmel und auf Erden. Und soziales Lernen sorgt dann dafür, dass sich solch erfolgreiches Verhal534 Zu kulturellen Markern siehe S. 367. 535 Zur Theorie der teuren Signale siehe S. 259 ff.

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ten in der Population ausbreitet. Religionen können auf diese Weise eine prosoziale Aufwärtsspirale auslösen, die der Gruppe insgesamt nützt (Henrich 2009) und mithin dazu führt, dass sich ihre Mitglieder stärker vermehren und ihre kulturellen Muster weiter verbreiten. Drittens und wiederum dahinterliegend beinhalten konstruierte Glaubenssysteme stets Moralkodizes, welche koordiniertes soziales Handeln im großen Maßstab befördern. Häufig schließen sie zu diesem Zweck nahtlos an domänenspezifische moralische Intuitionen an (Haidt 2013): Es werden Aussagen darüber gemacht, was rein und unrein, gemeinsinnig und egoistisch, fair und ungerecht, fügsam und deviant, fürsorglich und verantwortungslos ist. Solche Normensysteme sind also emotional unmittelbar anschlussfähig und deshalb intuitiv plausibel. Sie sind gleichsam eine kulturelle Verlängerung evolvierter Moralität mit dem zusätzlichen Nutzen einer an besondere Gegebenheiten angepassten inhaltlichen Konkretisierung konditionaler normativer Dispositionen. Sie liefern ferner Standards, mithilfe derer das Verhalten von Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft bewertet wird und von denen folglich die individuelle Reputation abhängt. So kann soziale Kontrolle emergieren, weil Religion jene Nische aufspannt, in der sich moralische Gehirne orientieren und miteinander wetteifern können. Gewissheit über einen normativen Verfahrenskonsens erhöht ferner direkt die Erwartungssicherheit, indem sie die doppelte Kontingenz jeder sozialen Interaktion deutlich verringert (Luhmann 1984).536 Viertens basiert all dies regelmäßig auf der Vorstellung von omnipräsenten transzendenten Agenten, welche in die Welt hineinwirken und Normverletzungen bestrafen (Bourrat et al. 2011). Diese Konstruktion nutzt in überaus effizienter Weise den Observer-Effekt als Quell von kollektivem Sozialkapital:537 Unter der dauernden Beobachtung göttlicher Entitäten verhalten sich Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit prosozial und normenkonform (Gervais und Norenzayan 2012; Norenzayan und Shariff 2007; Piazza et al. 2011).538 Schließlich spielen – fünftens – genealogische Referenzen in religiösen Narrativen eine zentrale Rolle. Bezüge zum Beispiel auf den „Heiligen Vater“, die „Fa536 Siehe zu moralischen Gemeinschaften S. 348 ff. 537 Zum Observer-Effekt siehe S. 280 f. 538 Damit diese Denkfigur verfangen kann, braucht es wiederum andere psychologische Prädispositionen. Dazu gehört einesteils ein übersensibles ‚agent detection device‘, das nach intentionalen Agenten in der Welt sucht (Barrett 2000; Guthrie 1993). Andernteils braucht es eine Vorstellung der Welt als kausal strukturiert. Eine solche „kausale Kognition“ ist aus Sicht der Evolutionären Erkenntnistheorie ohnehin zu erwarten (vgl. S. 62 ff.) und auch nachweislich vorhanden (Dickinson und Balleine 2000; vgl. Riedl 1981; Vollmer 2002). Das daraus resultierende Bedürfnis, die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Welt zu verstehen, wird von Schöpfungsmythen und der Vorstellung existentieller Sinnhaftigkeit der Welt in besonderer Weise gestillt.

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milie der Gläubigen“ sowie „Brüder und Schwestern“ erlauben es, nepotistische Dispositionen auf die Glaubensgemeinschaft auszurichten – also: pseudo-nepotistisches Sozialkapital für das Kollektiv zu erschießen.539 Zumal im Totemismus, für Durkheim (1912/2007) der ursprünglichsten Form menschlicher Vergemeinschaftung, spielen Ahnenkult und der Verweis auf gemeinsame familiäre Wurzeln eine zentrale Rolle (Henrich 2009; Palmer et al. 2008). Religion ist somit ein kontingent-pfadabhängiges Ergebnis von Gen-KulturKoevolution, dessen historischer Erfolg sich daraus erklärt, dass es für Gruppen adaptive Probleme nach innen und nach außen löste. Religionsgemeinschaften sind „moralische Gemeinschaften“ par excellence; und religiöse Strukturen – also die überwölbenden kulturellen Konstruktionen – bieten ihnen eine perfekte Nische. Religiöse Anschauungen und teure Praxen können sich in Wechselwirkung mit sozialem Lernen selbst stabilisieren (Henrich 2009). In rekursiver Interaktion von Individuen und Strukturen wird dann Binnenkonkurrenz eingehegt, Handlungsfähigkeit nach außen hergestellt und so ein Systemübergang realisiert. Das auf diese Weise entstehende komplexe adaptive System (vgl. Purzycki et al. 2014) erhöht die Fitness seiner Mitglieder und begünstigt die Verbreitung der kulturellen Muster in der kulturellen Evolution (Norenzayan und Shariff 2008; Norenzayan et al. 2016).540 Einmal mehr erweist sich hier die Natur des Menschen als entscheidende kausale Kraft. Der sozialtheoretisch so wichtige Effekt von Ritual und Religion lässt sich deshalb mit unsachgemäßen Als-ob-Anthropologien wie dem Homo oeconomicus und dem Homo sociologicus nicht verstehen. Man mag auf Basis dieser vermeintlich sparsamen Prämissen zwar ihrerseits sparsame Erklärungen formulieren können; das Wesentliche an der hier entfalteten Gen-Kultur-Interaktion gerät dabei aber gar nicht erst in den Blick: Das Transzendieren des Selbst, das Bilden von Gruppen, das Ritualisieren, Tradieren, Lernen und Weitergeben kultureller Informationen und Institutionen hängen von evolvierten psychologischen Mechanismen ab, die domänenspezifisch, systematisch verzerrt, konditional und zu einem großen Teil unterbewusst arbeiten.

539 Siehe dazu S. 235, S. 419 ff. und S. 435 ff. 540 Die Forschung zu den evolutionären Grundlagen von Religion und Religiosität kann hier nicht so differenziert dargestellt werden, wie das dem Gegenstand und dem Forschungsstand angemessen wäre. Immer deutlicher wird jedenfalls die empirische Fundierung genau des hier vorgebrachten Arguments, dass nämlich Religiosität auf evolvierten psychologischen Mechanismen beruht, an die Religion nahtlos anschließt (siehe etwa Bulbulia 2009, 2004; Norenzayan und Shariff 2007, 2008; Pyysiäinen und Hauser 2010; Vaas und Blume 2009; Voland 2009; Voland und Schiefenhövel 2009; Watts und Turner 2014; Wilson 2002; Wunn et al. 2014).

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Kultur ist kein von den natürlichen Vorbedingungen losgelöstes und getrennt zu behandelndes Phänomen, sondern ein von evolvierten Gehirnen hervorgebrachtes und mit ihnen in rekursiven Wechselwirkungen stehendes, emergentes Naturphänomen (Eibl 2009; Richerson und Boyd 1985, 2005; Tomasello 2010b). Der Dichotomisierung von Natur und Kultur liegt deshalb ein Kategorienfehler zugrunde.541 Kultur basiert nicht einmal nur auf natürlichen Vorbedingungen, sie ist selbst Gegenstand und Teil der Evolution. Menschen sind Kulturwesen; für sie ist Kultur zur „natürlichen Umgebung“ geworden. Das liegt daran, dass Kultur selbst als natürliche Antwort auf adaptive Probleme evolvierte, dabei auf kognitive Prädispositionen unserer Vorfahren aufsetzte und für deren Weiterentwicklung neue Rahmenbedingungen schuf.542 Die von Menschen so konstruierten Nischen wurden selbst zu Selektionsfaktoren und ließen jene elaborierte Kulturfähigkeit entstehen, welche heute die Natur des Menschen entscheidend ausmacht. Das Ergebnis waren psychologische Prädispositionen zur Erschließung, Dechiffrierung, (Re-)Konstruktion und Weitergabe von Kultur. Nicht zuletzt ist Kultur selbst Gegenstand von Selektion – und zwar auf der Ebene von Gruppen und von kulturellen Mustern (‚Memen‘).543

4.5.3 Bilanz: Kollektives Sozialkapital und ein gangbarer dritter Weg Ziel der theoretischen und empirischen Ausführungen zu Multilevelselektion und Nischenkonstruktion war zu untersuchen, ob so etwas wie eine gemeinsinnige Prosozialität in der Natur des Menschen verankert ist. Dahinter steht die gerade politikwissenschaftlich wichtige konzeptionelle Frage, ob ganze Gemeinwesen über nicht nur interindividuelles, sondern kollektives Sozialkapital verfügen können. Davon nicht zu trennen war die Behandlung eines zentralen Problems der Sozialkapitalforschung und der Sozialwissenschaften überhaupt: der sachgerechten Modellierung von Wechselwirkungen zwischen sozialer Mikro- und Makro541 Vgl. S. 205 ff. 542 Wieder ist das Konzept der Eignungslandschaften (Simpson 1945, 1953; Wright 1932, 1945; vgl. Arnold et al. 2001) nützlich, um das Gemeinte in einen größeren Kontext zu stellen (vgl. S. 109). Damit Kultur folgenreich evolvieren konnte, musste zu ihrer Entstehung nur ein kleiner evolutionärer Schritt notwendig sein. Das Aufkommen von Kultur kanalisierte dann – freilich nur stochastisch – die Richtung weiterer Adaptationen in Richtung eines lokalen Optimums – und machte damit eine Entkopplung der menschlichen Evolution von natürlichen Vorbedingungen kein bisschen wahrscheinlicher. 543 Zur kulturellen Evolution und zum Membegriff siehe mit weiteren Verweisen die Fußnoten 347 (S. 264) und 431 (S. 324).

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ebene. Sowohl solche Mikro-Makro-Interaktionen als auch die Hervorbringung von Gemeinsinnigkeit sind in der erweiterten Synthese der Evolutionstheorie zentrale Verstehens- und Erklärungsgegenstände. Ganz folgerichtig ist eine Fülle von Anschlussstellen zwischen den biologischen und sozialwissenschaftlichen Theorien zutage getreten. Sparsamkeit und Praktikabilität: Nutzen der Multilevelselektionstheorie Bevor diese Schnittstellen im Detail ausgearbeitet werden können, wird es hilfreich sein, den Mehrwert eines solchen Unterfangens noch einmal klar herauszustellen. Denn der Vorteil der Verknüpfung einer Theorie der soziokulturellen Grundlagen von gesellschaftlicher Kooperation mit evolutionsbiologischen Theorien, die auf Bakterienkolonien und Bienenschwärme angewendet werden, erschließt sich nicht ohne weiteres. Vier Gründe sprechen vor dem Hintergrund des in diesem Kapitel Aufgezeigten für eine solche theoretische Integration: ein höherer Abstraktionsgrad, Widerspruchsfreiheit, Sparsamkeit und in der Folge – potentiell – höhere Erklärungskraft. Erstens ist die Reichweite der Multilevelselektionstheorie viel höher, als es jene von Sozialkapitaltheorien (bzw. der jeweils dahinterliegenden Theoriegebäude von Bourdieu, Coleman oder auch Lin) ihrem Anspruch nach je sein können. So ist in den hier zentralen sozialwissenschaftlichen Theorien etwa die Modellierung der Wechselwirkungen von Individual- und Kollektivebene eine zentrale Herausforderung, die aber nur auf genau diesen Wirklichkeitsausschnittes bezogen angegangen wird.544 Aus der evolutionären Perspektive der Multilevelselek­ tionstheorie aber ist dieses sozialwissenschaftliche Mikro-Makro-Problem nur ein Spezialfall eines viel allgemeineren Zusammenhangs, nämlich jenes der Evolution von Komplexität und von neuen Organisationsebenen des Lebendigen im Zuge von Systemübergängen. Die funktionale Äquivalenz der zu lösenden Probleme bei verschiedenen Systemübergängen als solche zu erkennen, hat sich hier aber als analytisch nützlich herausgestellt. Zielführend wäre deshalb eine deduktive theoretische Integration beider Theoriestränge (Seipel 1999: 37): Sozialwissenschaftliche Erklärungen des Verhältnisses von sozialen Strukturen und Individuen sollten als bereichsspezifische Konkretisierungen einer allgemeineren Theorie erkannt werden – und zumindest im Prinzip auch in deren Sprache formulierbar sein.545 544 Zum Mikro-Makro-Problem siehe S. 49 ff., S.  137 f., S.  162 ff. sowie S. 203 ff. 545 Zum erkenntnistheoretischen Hintergrund dieses theoretischen Reduktionismus siehe S. 67 ff.

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Zweitens gelingt mit dieser Integration des Mikro-Makro-Problems in einen größeren Theoriezusammenhang die Auflösung des Widerspruchs, der als eine zentrale Schwäche von Sozialkapitaltheorien diagnostiziert wurde: In diesen Theorien werden die sparsamen anthropologischen Prämissen von methodologischem Individualismus sowie Kollektivismus zugunsten eines behavioristisch-ökonomistischen Amalgams aufgegeben, das logisch inkonsistent und anthropologisch unterspezifiziert ist.546 Die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie ist hingegen nicht in erster Linie eine Theorie „vom Menschen“ und kommt folglich ohne vordergründige anthropologische Prämissen aus.547 Im Gegenteil: Was der Mensch (geworden) ist, wird mithilfe eines allgemein formulierten und weithin anerkannten Kerns der darwinischen Evolutionstheorie erklärt (vgl. Lange 2012: 335 ff.). Die Natur des Menschen wird so kenntlich als eine ebenenspezifische Resultante jenes evolutiven Prozesses, der auch hinter Mikro-Makro-Problemen auf ganz anderen Wirklichkeitsebenen steckt – von Einzellern über Mehrzeller, komplexe Organismen sowie Insektenkolonien bis hin zu menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften. Dieser neue dritte Weg ist mindestens ebenso rigide und kompromisslos, wie es methodologischer Individualismus und Kollektivismus jeweils sind. Er ist dabei aber empirisch viel robuster und konsistenter als beide Paradigmen sowie deren in Sozialkapitaltheorien zur Anwendung kommendes Amalgam. Das vielleicht größte und grundlegendste theoretische Problem der Sozialkapitalforschung, nämlich die anthropologische Grundierung, wird damit in ein empirisches Problem überführt. Auch das Mikro-Makro-Problem wird mit neuen Werkzeugen handhabbar; und seine Bearbeitung muss nicht länger von der Frontstellung zwischen Individualismus und Kollektivismus blockiert bleiben. Komplexitätstheorie, Multilevelselektionstheorie, Nischenkonstruktionstheorie und Theorien kultureller Evolution geben den Anspruch der Mikrofundierung nicht auf und schaffen es trotzdem, aus Interaktionen von Mikroelementen hervorgehende und mit jenen in rekursiven Kausalverhältnissen stehende emergente Phänomene zu modellieren. Drittens zeichnet sich die evolutionstheoretische Reformulierung des MikroMakro-Problems in der Sprache der Multilevelselektionstheorie gegenüber den 546 Einesteils wird a priori von egoistischer Nutzenmaximierung ausgegangen, andernteils aber von kultureller Determination menschlichen Verhaltens. Es fehlt eine überzeugende Handlungstheorie, welche diesen Widerspruch auflöst. Siehe dazu S. 49 sowie S. 199 ff. 547 „Vordergründig“ deshalb, weil jede wissenschaftliche Theorie als von Menschen gemachte Konstruktion auf irgendwelchen impliziten oder expliziten Vorannahmen etwa zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen aufruht (vgl. Vollmer 2002). Allerdings sind diese Prämissen in der dieser Untersuchung zugrundeliegenden Evolutionären Erkenntnistheorie besonders überzeugend begründet. Siehe dazu S. 62 ff.

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sozialwissenschaftlichen Ansätzen durch größere theoretische Sparsamkeit aus. Diese Aussage mag anzweifeln, wer die grundlegenden Prämissen sozialwissenschaftlicher Theorien (nur) im Bereich von anthropologischen Aussagen sucht und sieht. Denn die evolutionäre Anthropologie bleibt eine sparsame, auf konkrete Merkmale abzielende „Der Mensch ist …“-Prämisse nach dem Muster des methodologischen Individualismus („… rational“) oder des methodologischen Kollektivismus („… Produkt seiner soziokulturellen Umgebung“) schuldig. Jedoch stehen beide Annahmen ohnehin im Widerspruch zu empirischen Befunden. Um gegenstandsangemessene Erklärungen formulieren zu können, werden sie deshalb meist amalgamiert oder von zusätzlichen Annahmen ganz eklektisch flankiert. Die Prämisse „Der Mensch ist Produkt der Evolution“ – oder besser: „Der Evolutionsalgorithmus ist universell“ – ist viel sparsamer, weil sich ausgehend nur von ihr tatsächlich beobachtbares menschliches Verhalten schlüssig erklären lässt. Viertens wird durch eine solche theoretische Integration die explanatorische Leistungsfähigkeit von Sozialkapitaltheorien erhöht. Das geschieht schon aus den bereits genannten Gründen, die ja allesamt basale Anforderungen an wissenschaftliche Erklärungen darstellen. Außerdem aber wird die Wirklichkeit verständlicher und deren erfolgreiche Manipulation aussichtsreicher. Politikwissenschaftliche Problemstellungen drehen sich regelmäßig um die Interaktion von sozialen Strukturen und Menschen, von Individuen und Institutionen. Welche institutionellen Arrangements lösen kollektive Handlungsdilemmata ? Wie lassen sich gesellschaftliche Kooperation und Selbstorganisation fördern ? Mit welcher Politik können heterogene Gesellschaften integriert werden ? Braucht es etwa so etwas wie wertgebundene Gemeinschaftlichkeit, wie der Kommunitarismus behauptet (Etzioni 1995, 2014) ? Oder reicht es, für Verfahrensgerechtigkeit zu sorgen, wie der Liberalismus annimmt (Rawls 1979, 2014) ? Wenn letzteres zutrifft: Was empfinden Menschen als gerecht ? Und schließlich: Wie organisiert man die eine oder die andere Position praktisch, wie gelingt also „making democracy work“ (Putnam 1993) ? Praxisorientierte Politikwissenschaft steht angesichts dieser Fragen vor dem Problem, ihre Handlungsempfehlungen auf belastbare Vorannahmen gründen zu müssen. An dieser Stelle drückt sich dann die Leistungsfähigkeit einer Theorie nicht mehr (nur) in Prozent erklärter Varianz aus, sondern darin, ob eine theoretisch geboten erscheinende Intervention tatsächlich die erwarteten Folgen zeitigt. Die Gestaltung der Wirklichkeit erfordert zutreffende Annahmen über ihre Beschaffenheit – und die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie eignet sich als Ausgangspunkt im konkreten Fall dafür augenscheinlich besser als eine methodologische Setzung.548 548 Zum Hintergrund dieser Argumentation siehe S. 56 ff.

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Bienen und Ameisen: Eusozialität als funktionales Äquivalent Was heißt all das nun konkret für die Sozialkapitaltheorie ? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf die staatenbildenden Insekten zurückzukommen. Wie sich gezeigt hat, gelingt es Bienen und Ameisen, routinemäßig miteinander zu kooperieren und Kollektivgüter zu erzeugen, die gemeinsame Probleme lösen – etwa hinsichtlich von Behausung, Nahrung, Schutz, dem Treffen überlebenswichtiger „Kollektiventscheidungen“ und vielem mehr. Damit ist das Definitionskriterium Putnams und anderer Durkheimianer erfüllt: Nach deren Lesart werden mit Sozialkapital jene Eigenschaften sozialer Vernetzungsstrukturen bezeichnet, welche zu konstruktivem kollektiven Handeln verhelfen. Genau das geschieht bei eusozialen Insekten. Erst durch die vernetzte Interaktion der Individuen entsteht die Handlungsfähigkeit des Superorganismus (Wilson und Hölldobler 2013). Es emergiert diese Ordnung des Ganzen, also des Schwarms oder der Kolonie, wie so viele komplexe Phänomene in der Natur aus der Selbstorganisation eines im Grunde chaotischen Systems. Die Individuen folgen dabei einfachen Heuristiken, die in keiner Weise intentional auf die Hervorbringung des Emergenten ausgerichtet sind. Es entsteht dieses kollektive Sozialkapital also proximat (auf der Ebene unmittelbarer Verursachungszusammenhänge) als Nebenprodukt des sozialen Verhaltens der Insekten. Die prosoziale Gerichtetheit des Agierens der Individuen ist dabei zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig Konstituente und Resultante eines selbstorganisierenden, komplexen Systems. Es gibt keine zentrale Steuerungsinstanz; die einzelnen Tiere sind in ihren „Entscheidungen“ autonom. Und doch konzertiert sich ihr Handeln zu für das gesamte Kollektiv adaptiven Lösungen, zum Beispiel beim Finden des kürzesten Weges zwischen zwei Punkten oder beim Suchen von Futterquellen und Nistplätzen.549 Diesen Zustand prozessual hergestellten Organisiertheit samt der daraus erwachsenden Problemlösungskapazität kann man mit einiger Plausibilität als kollektives Sozialkapital bezeichnen. Gerade weil dieses Beispiel so wenig mit der unmittelbar erfahrbaren Realität menschlicher Vergemeinschaftung zu tun hat, ist es besonders instruktiv. Er veranschaulicht nämlich, dass Colemans Vorstellung von kollektivem Sozialkapital als Nebenprodukt nur Gewicht hat, wenn die Intentionalität der Individuen der zentrale theoretische Referenzpunkt ist. Da aber emergente Effekte nicht in erster Linie oder gar ausschließlich auf entsprechenden bewussten Intentionen von Individuen basiert, verweist die Rede vom Nebenprodukt nachgerade auf eine analytische Nebensache. Wie unter dem Brennglas wird

549 Zu den angesprochenen Beispielen siehe S. 332 ff., zur Komplexitätstheorie siehe grundlegend S. 72 ff.

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in Ameisenkolonien sichtbar, wie kollektives Sozialkapital ohne so etwas wie (zumal geteilte) Intentionalität und ohnehin ohne jede Einsicht auf der Individualebene entsteht – und dennoch ein grundlegender Erfolgsfaktor der Kolonie ist. Aber warum ist das kollektive Sozialkapital der Ameisen selbst die Hauptsache ? Ein bei der Analyse der Konzeptualisierung von Sozialkapital zutage getretenes Problem ist der Versuch, Sozialkapital ganz funktionalistisch von seinen positiven Konsequenzen her zu definieren.550 Am Beispiel der Ameisen wird verständlich, dass sich die Funktionslogik hinter kollektivem Sozialkapital eher bei der Betrachtung von Konsequenzen auf einer anderen Ebene erschließt: Der Erfolg der eusozialen Insekten bemisst sich in der Währung der Evolution, im Lösen von Problemen im Zusammenhang mit dem Überleben und einer erfolgreichen Reproduktion. Ameisenkolonien funktionieren heute so, wie sie funktionieren, weil sich ihre Kapazität, diese Probleme als Superorganismus erfolgreich zu bewältigen, durch Multilevelselektion immer weiter verbesserte. Auf dieser ultimaten Ebene der evolutionären Verursachungen liegen die Gründe dafür, warum auf der proximaten Ebene alles so ineinandergreift, als würde ein gemeinsames Ziel intentional verfolgt. Es sei daran erinnert: Dies ist nur scheinbar eine Tautologie, denn das zentrale Argument der Evolutionstheorie („Es überleben die zum Überleben Geeigneten“) ist kein logisches, sondern ein empirisches. Es bettet den scheinbaren Zirkelschluss in die Realität knapper Ressourcen und einer unausweichlichen Zeitachse ein. Evolutionstheorie ist eine kausale Theorie der Geschichtlichkeit – und zwar von Natur und Kultur. Was ist, kann nur aus dem Gewordensein heraus begriffen werden. Erst dann wird verständlich, warum Ameisenkolonien so etwas wie kollektives Sozialkapital generieren können: Vor dem Übergang zur Eusozialität standen begünstigende Präadaptionen bei solitären Insekten. Jene stellten den Ausgangspunkt für die „Vergesellschaftung“ der Insekten dar, wirkten später fort und wurden über Gruppenselektion weiterentwickelt.551 Diese schon bei eusozialen Insekten bestehende Fähigkeit zur kollektiven Zielerreichung residiert auf der Makroebene. Es ist ja gerade die Organisationsebene der Kolonie, welche diese Tiere evolutionär so erfolgreich gemacht hat. Über viele tausend Generationen hinweg bewirkte die Multilevelselektion einen Systemübergang hin zu einem emergenten Superorganismus. Jener besteht zwar in einem ontologischen Sinne aus nichts anderem als den Interaktionen seiner verhaltensflexiblen Einzelbestandteile. Für jene ist er aber reproduktions- und über550 Vgl. dazu S. 184 ff. 551 „Damit die bindenden Kräfte der Gruppenselektion die auflösende Wirkung der direkten Individualselektion aufwiegen können, darf die betreffende Insektenart nur eine sehr geringe evolutionäre Distanz zu durchschreiten haben“ (Wilson 2013: 190).

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lebensnotwendig geworden. Für ein erfolgreiches „making the colony work“ sind die Merkmale auf der Makroebene entscheidend – ihrerseits zwar zurückgehend auf genetisch codierte Individualmerkmale, jedoch sich eben nicht in jenen erschöpfend. Natürlich kommt kollektives Sozialkapital bei Menschen auf wesentlich komplexeren Wegen zustande und basiert auf viel größerer phänotypischer Plastizität sowie auf höchst komplexen kulturellen Umwelten. Dies liegt vor allem daran, dass Menschen den – der Eusozialität von Insekten mindestens ähnlichen – Zustand der Ultrasozialität auf einem ganz anderen Weg erreicht haben. Er führte über die Evolution von Wirbeltieren, Säugetieren, Primaten und schließlich Kultur-Schaffenden. Die funktionale Äquivalenz kann dennoch kaum von der Hand zu weisen, wer nicht a priori und ganz anthropozentrisch von einem Sonderstatus unserer Spezies ausgeht: Auch bei Menschen entsteht kollektives Sozialkapital zumindest potentiell als emergentes Produkt der Interaktion von Individuen. Und auch bei menschlichen Netzwerken basiert das Zustandekommen nicht darauf, dass die beteiligten Individuen wirklich verstehende Einsicht in jene komplexen, rekursiven Mehrebenen-Kausalketten erlangen, zu deren Hervorbringung sie selbst beitragen. Individuum und Gruppe: Kollektives Sozialkapital als Mikro-Makro-​Prozessmuster Hinsichtlich der Frage, ob es so etwas wie Sozialkapital auf der Makroebene geben kann, gibt es in den Sozialwissenschaften grundsätzlichen Dissens. Die Durkheimianer unter den Sozialkapitalforschern behaupten, dass Kollektive wie Nachbarschaften, Gemeinschaften, Städte oder gar ganze Gesellschaften über Sozialkapital verfügen können. Sie nehmen ferner an, dass dieses Sozialkapital seine positiven Effekte ebenfalls auf der Makroebene zeitigt – etwa bei wirtschaftlicher oder demokratischer Performanz. Von Weberianern wird eine Mikrofundierung solcher Erklärungen gefordert. Außerdem halten sie es mit guten Gründen für problematisch, Sozialkapital nur von seinen positiven Folgen ausgehend – also funktionalistisch – zu definieren.552 Gerade in der politikwissenschaftlichen Forschung wird vielfach trotzdem davon ausgegangen, dass Sozialkapital ein Merkmal von Kollektiven sein und dabei allerlei Positives bewirken kann. Bisher wurde jedoch noch keine mikrofundierte Konzeptualisierung vorgelegt, die begreiflich macht, was dieses Phänomen auf

552 Vgl. zu alldem die Seiten 142 ff., 162 ff., 184 ff. und 203 ff.

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der sozialen Makroebene denn genau ist. Mithilfe der hier vorgestellten Theorien und Befunde ist es nun möglich, klar zu benennen, was kollektives Sozialkapital ist und wie es entsteht. Kollektives Sozialkapital bezeichnet die Gesamtheit aller Ressourcen, die sich für eine soziale Figuration (‚Kollektiven‘) aus der konkurrenzmindernden bzw. kooperationssteigernden Wirkung konstruierter Nischen ergeben. Es ist ein emergentes Resultat von komplexen Interaktionsmustern von Individuen und basiert auf der prosozialen Gerichtetheit individuellen Verhaltens. Diese Prosozialität wird ermöglicht von kulturell kontingenten Ausgestaltungsformen von Gruppenidentitäten, geteilten handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten, sozialen Praxen sowie Normen in unterschiedlichen Stufen der institutionellen Verfestigung. Kollektives Sozialkapital kann aber nur auf diese Weise entstehen, weil die Individuen aus zwei Gründen in besonderer Weise geeignet sind. Erstens basiert kollektives Sozialkapital auf psychologischen Dispositionen, deren ursprünglicher adaptiver Wert für Individuen darin lag, relationales Sozialkapital zu akkumulieren. So werden beispielsweise in „Bruderschaften“ und „Vaterländern“ evolvierte psychologische Mechanismen zweckentfremdet, die ursprünglich in der Selektion zwischen Individuen bzw. Verwandtschaftsgruppen evolutionär vorteilhaft waren. Zweitens wirken gemeinsam bewohnte konstruierte Nischen ihrerseits selektierend auf der Individualebene. Sie begünstigten solche in evolutionär erfolgreichen Gruppen lebende und damit unter unseren Vorfahren gehörende Individuen, deren kognitive Fähigkeiten sich so (weiter-)entwickelt hatten, dass Kollaboration unter Gruppenmitgliedern befeuert oder zumindest nicht unterminiert wurde. Zwischengruppenkonkurrenz prämierte Konformität und Kooperativität innerhalb der Gruppe und begünstigte deshalb einesteils darauf hinwirkende kulturelle Arrangements und andernteils die dafür „passfähigen“ Phänotypen innerhalb der Gruppe. So wurden psychologische Dispositionen evolutionär gefördert, die Kollektivismus ermöglichen: ein innerer Drang zum Helfen und Kollaborieren; die Konstruktion von Grenzen zwischen „uns“ und „den anderen“ samt den damit einhergehenden Ausschlussreaktionen; die kooperationssteigernde Wirkung von geteilten Grundüberzeugungen und gemeinschaftlicher Selbst-Transzendierung; das Interesse an Synchronität sowie Ritualisierungen; die kognitive Attraktivität von Religionen und Ideologien. So heterogen diese Phänomene scheinen, sie sind offenbar allesamt Ergebnisse jenes Prozesses der Multilevelselektion, in welchem Gemeinsinnigkeit entstand und evolutionär ältere Funktionszusammenhänge weiterentwickelt, zweckentfremdet oder kulturell überformt wurden. Wie schon die anderen Formen ist auch kollektives Sozialkapital kein Ding, sondern letztlich nichts anderes als ein Prozessmuster gelingender Selbstorganisation. Nimmt man jeweils bestimmte Individuen und ihre Interaktionen in den Fokus, werden sich zwar die eben beschriebenen individuellen Neigungen mehr

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oder weniger stark ausgeprägt finden lassen. Kollektives Sozialkapital lässt sich so jedoch nicht unmittelbar beobachten. Stattdessen wird sich jeweils spezifisches relationales Sozialkapital zeigen – strukturiert von Institutionen sowie vom Schatten vergangener und zukünftigen Interaktionen, ansonsten chaotisch und hochgradig kontingent. Betrachtet man jedoch die systemischen Effekte der komplexen Interaktionen zwischen Individuen und die so emergierenden Muster, dann zeigt sich, wie individuelle Dispositionen im Zusammenspiel mit kulturellen Figurationen eine kollektiv nützliche Gerichtetheit von sozialem Handeln bewirken. Dies geschieht dann, wenn die prozessuale Selbstorganisation tatsächlich die Qualität eines Systemüberganges erlangt und so aus Chaos eine sich rekursiv selbst stabilisierende Ordnung entsteht. Sozialkapital kann im Lichte der Multilevelselektionstheorie also nicht nur eine relationale Ressource für Individuen sein („Wer handelt mir gegenüber prosozial ?“). Es existiert auch als emergentes Makrophänomen, als ein auf Gruppenebene angesiedeltes zielerreichendes Aktionspotential („Wer handelt wann routinemäßig prosozial ?“). Die strukturfunktionalistischen Argumente der Durkheimianer haben also durchaus ihre Berechtigung. Denn mit dem Übergang zu einer ultrasozialen Lebensweise in moralischen Gemeinschaften vollzog sich beim Menschen ein Übergang, in dem wirklich Neues entstand: Die Gruppe und die von ihr gemeinsam bewohnte kulturelle Zwischenwelt wurden zu emergenten Phänomenen eigener Art. Sie begannen, den Individuen als Naturtatsachen zu begegnen. Soziale Strukturen und kulturelle Konstrukte wurden funktional relevant, denn von ihrer Performanz hing individuelle Fitness zwar nicht allein, aber doch ganz entscheidend ab.553 Freilich erschließen sich die kausalen Mechanismen hinter diesen funktionalen Zusammenhängen auf der Strukturebene nur über die Individualebene. So sind Systemübergänge hin zu komplexen Systemen stets pfadabhängig geprägt von der Beschaffenheit ihrer Elemente, also hier: von Menschen.554 Und mensch-

553 Es konnte etwa gezeigt werden, dass die Ausgestaltung der konstruierten Nischen den Erfolg einer Gruppe bedingt – etwa bei der Generierung von kollektiven Gütern in Public-GoodsSpielen unter variierenden institutionellen Bedingungen. Wenn es ferner möglich ist, soziale Reputation aufzubauen und Betrüger (durchaus auch auf eigene Kosten) zu bestrafen, gelingt die Produktivgutproduktion besser (Rockenbach und Milinski 2006). Auch bevorzugen Menschen Spielrunden mit diesem Regelwerk gegenüber anderen (Gürerk et al. 2006). Siehe hierzu S. 272 ff. 554 Ameisenkolonien sind, wie sie sind, weil sie aus Ameisen bestehen; und für Menschen gilt das Argument in gleicher Weise. Das ist nur scheinbar eine Trivialität. Dahinter steckt die Sensitivität von komplexen Systemen gegenüber ihren Ausgangsbedingungen. Konkret ist etwa gemeint, dass die Verzerrungen sozialen Lernens bedingen, welche kulturellen Artefakte in die nächste Generation weitergegeben werden. Auch könnten Religionen u. a. des-

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liche Vergemeinschaftung gründet eben auf den genannten, so-und-nicht-anders beschaffenen evolvierten Prädispositionen. Von Individuen geht deshalb gleichzeitig jene Subversion aus, welche den Systemübergang hin zu Gruppen und Kulturen als emergenten Funktionseinheiten bedroht und unterminiert. Menschen sind gleichermaßen Individualisten und Kollektivisten, sie tragen „Tugend“ und „Sünde“ in sich (Wilson 2013). Als Tugen­ den gelten dabei jene spät evolvierten, gemeinsinnigen Verhaltensdispositionen, welche sich wohl über Gruppenselektion in der Population ausbreiten konnten. Egoistisch-opportunistische Handlungsoptionen hingegen, die sich schon viel länger bei der direkten Maximierung der individuellen Fitness bewährt hatten, bedrohten den Übergang zur Ultrasozialität von innen. Sie fanden – ganz folgerichtig – in den kulturellen Nischen moralischer Gemeinschaften als Sünden ihren Platz. „The good news is that we can offer the first robust theory of group-level functionalism. The bad news is that it is not nearly as grandiose as many group-level functionalists would like. One can never simply assume that higher-level units such as cultures, societies, or biological ecosystems must be well-functioning organic wholes. Higher-level functional organization always requires special conditions and is vulnerable to subversion from within. It is important for readers inclined towards group-level functionalism to appreciate the bad as much as the good news if they are to proceed realistically in developing their ideas.“ (Wilson und Sober 1998: 10 f.)

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie mehr ist als eine weitere nützliche Perspektive auf kollektives Sozialkapital. Sie ist der Schlüssel zu deren Verständnis. Vollkommen widerspruchsfrei und elegant verbindet sich in der Multilevelselektionstheorie die von Weberianern geforderte individualistische Mikrofundierung mit Durkheimianischem Gruppenfunktionalismus. Sie löst genau jene Verheißung ein, welche Sozialkapitaltheorien in Aussicht gestellt haben und bisher schuldig geblieben sind: einen methodologischen dritten Weg zwischen Akteurs- und Strukturtheorien. Evolutionstheorie erklärt Aufkommen und Bestehen funktionaler Organisation – von Zellen, Gehirnen, Menschen, Gruppen und Gesellschaften: Was passt, das bleibt; was nicht passt, scheidet aus. So entsteht – langsam, nicht überall und notwendigerweise, halb nicht ihre strukturierende Kraft entfalten, wenn Menschen nicht nach Ursachen für Phänomene in der Welt suchten (‚kausale Kognition‘), in ihr stets intentionale Agenten vermuteten (‚hypersensible Agenten-Erkennung‘) sowie unter Beobachtung prosozial und normenkonform handelten (‚Observer-Effekt‘). Siehe dazu S. 390 ff., zur Theorie der Systemübergänge S. 313 ff. sowie zu den komplexitätstheoretischen Grundlagen S. 72 ff.

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aber doch immer wieder unaufhaltsam – Ordnung in einem Universum, das zur Unordnung hin driftet.555 Erklärt werden auch die ultimaten sowie proximaten Wechselwirkungen und Reibungspunkte zwischen Mikro- und Makroebenen des Lebendigen. Bindend und brückenbildend: Sozialkapital als flüchtige und ambivalente Ressource In der Debatte um kollektives Sozialkapital spielt die Unterscheidung zwischen brückenbildendem (‚bridging‘) und bindendem (‚bonding‘) Sozialkapital eine herausgehobene Rolle. Brückenbildendem Sozialkapital werden allerlei positive Effekte zugeschrieben, weil es gesellschaftliche Teilsegmente miteinander verbindet und so gesellschaftlichen Zusammenhalt und kollektives Handeln fördert. Bindendes Sozialkapital innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen gilt hingegen als eher hinderlich für zielerreichendes Kollektivhandeln des umbettenden Kollektivs. Es existiert also eine Erklärung der Folgen dieser beiden Typen von Sozialkapital, die allerdings anfällig für normative Verzerrungen ist. Von welchen Ursachen aber abhängt, welcher Typ entsteht, konnte bisher nicht befriedigend erklärt werden. Wie hier gezeigt wurde, sind dafür in erster Linie handlungstheoretische Defizite verantwortlich.556 Gerade in der politikwissenschaftlichen Forschung wichtig ist zudem die von Putnam betonte positive Rolle von brückenbildendem Sozialkapital für kollektives Handeln in demokratischen Gesellschaften. In dieser Frage laufen zwei wesentliche Aporien bestehender Konzepte kollektiven Sozialkapitals zusammen. Zum einen ist das die soeben diskutierte problematische Unterscheidung zwischen brückenbildendem und bindendem Sozialkapital (vgl. Lin 2008; Patulny und Svendsen 2007). Zum anderen ist es die sich aus dem ethnozentrischen Fokus auf westliche Demokratien sowie der Festlegung auf eine Analyseebene ableitende Annahme, Sozialkapital sei per Definition etwas „Gutes“ für Gesellschaften (siehe exemplarisch Arneil 2006; Cheong et al. 2007; Portes 2014; Portes und

555 Hinter dieser Aussage steht der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, nach dem es im Universum stets zu einer Zunahme von Unordnung kommt. Evolution ist dazu nachgerade der komplexe Formen hervorbringende Komplementärmechanismus – freilich um den Preis der Abfuhr von Unordnung in die Umwelt, etwa durch Verdauung, Verwesung oder Verbrennung anderer evolvierter Formen (vgl. Riedl 1990: 28 f.). Vgl. auch S. 85 f. 556 Zu brückenbildendem und bindendem Sozialkapital siehe grundlegend S. 146 f. und S. 156 ff., zu diesen und den im Folgenden zu diskutierenden Aporien siehe zusammenfassend S. 195 ff.

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Landolt 2000; Yee 2015). Zwar steht außer Zweifel, dass Sozialkapital auch eine „dunkle Seite“ hat. Woher seine negativen Konsequenzen rühren, ist aber noch kaum verstanden. Zu all diesen Problemen der Sozialkapitaltheorien hat die evolutionäre Analyse folgenreiche Einsichten erbracht. Die grundlegendste Erkenntnis ist dabei die folgende: Die gelingende Herstellung von routinemäßiger Kooperation in einem Kollektiv wurde zu einem naturgeschichtlichen Erfolgsrezept, weil sie nützlich für Gruppen im Wettbewerb mit anderen Gruppen war. Kollektives Sozialkapital ist also ein wesentlicher Bestandteil des Systemübergangs hin zu ultrasozialen moralischen Gemeinschaften, zu emergenten Einheiten, an denen Gruppenselektion angreifen kann.557 Das heißt auch, dass sich kollektives Sozialkapital überhaupt nur für Kollektive sinnvoll bestimmen lässt. Es wird in der Regel im Zusammenhang mit Gruppenbindung hervorgebracht und stabilisiert. Folglich werden auch seine positiven Effekte nur der jeweiligen Gruppen zuteil.558 Genau dieses Argument wird mit dem Konzept des bindenden Sozialkapitals abgebildet. Kollektives Sozialkapital ist also fest an einen Bezug zur Eigengruppe geknüpft. In der Naturgeschichte seiner Hervorbringung musste es stets innerhalb einer Gruppe in Opposition zu anderen generiert, aufrechterhalten sowie gegen Eindringlinge und Ausbeuter geschützt werden. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, hat sich das in substantiellen psychologischen Anpassungen niedergeschlagen, die so berechenbar arbeiten, dass sie als anthropologische Konstanten zu behandeln sind. Dazu gehören zum Beispiel die Eigengruppenbevorzugung bei prosozialem Verhalten, das besonders starke Drängen auf Normenkonformität gegenüber Angehörigen der Eigengruppe, die Skepsis gegenüber kulturell Fremden sowie das emotional tief verwurzelte Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein. Menschen neigen deshalb vor allem gegenüber jenen zu routinemäßiger Prosozialität, mit denen sie sich als zu einer Gruppe gehörig fühlen. Erkennbar wird diese Zugehörigkeit für Menschen an kulturellen Markern wie geteilten Perspektiven auf die Welt, als selbstverständlich angesehenen sozialen Alltagspraxen und wechselseitig verstandenen Symbolen sowie am Verweis auf Verwandtschaft oder an der kollektiven Transzendierung des Selbst in Ritual und Synchronität. So induziertes, auf das eigene Kollektiv gerichtetes prosoziales Handeln wird motiviert von entsprechenden sozialen Gefühlen und moralischen Intuitionen. Gemeinsinn

557 Zum theoretischen Hintergrund siehe S. 313 f., zu moralischen Gemeinschaften siehe S. 348 ff. 558 Die Rede vom „Sozialkapital der Menschheit“ wäre also ebenso sinnlos wie die Rede vom „Sozialkapital der Ameisen“. Sehr wohl aber wird man sinnvollerweise vom Sozialkapital des Vereins X, der Sippe Y, der Gemeinschaft Z sprechen können. Wie ein Termitenhügel sind jene nämlich empirisch funktionale Einheiten.

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speist sich demnach aus der Verankerung von kultureller Zusammengehörigkeit in emotionalen Tiefenschichten.559 Diese Erfahrbarkeit und Fühlbarkeit von Zusammengehörigkeit ist kulturell manipulierbar und wird auch dauernd manipuliert, etwa mit Verweisen auf gemeinsame Ahnen, pathetischen rituellen Zeremonien oder der symbolischen Inszenierungen des Kollektivs. Diese Manipulationsversuche funktionieren aber nicht in beliebiger Weise, sie lassen sich nicht völlig willkürlich sozial konstruieren. Wenn sie verfangen sollen, müssen sie das menschliche Nervensystem effektiv „anzapfen“. Sie müssen unseren sozialen Gehirnen genau jene Hinweise auf Gruppenzugehörigkeit liefern, nach denen sie suchen. Kulturellen Markern und symbolischen Repräsentationen von Verwandtschaft kommt dabei eine herausgehobene Rolle zu, denn Menschen nutzen sie ganz unbewusst als Indizien für geteilte Normen und Werte – also für moralische Gemeinschaft.560 Solche kollektivistische Prosozialität ist ohne sozialtheoretisch häufig negativ bewertete Implikationen nicht zu haben, nämlich jene der Abschirmung der Gruppe vor Subversion von innen und vor Angriffen von außen. Weil Zwischengruppenkonkurrenz einesteils eine wichtige ultimate Ursache für die Entstehung der menschlichen Ultrasozialität gewesen ist, brauchte das eigene Kollektiv schon immer auch die anderen, war die Entstehung von „Freundes-Kreisen“ an die Existenz von feindlichen Gruppen geknüpft.561 Andernteils ist eine Gruppe auch proximat eine fragile emergente Ordnung, deren Mitglieder selbst ihre größte Bedrohung sein können. Individuell fitnessmaximierender Egoismus, seinerseits basierend auf noch viel tiefer verwurzelten handlungsleitenden Neigungen, bleibt stets ein Teil ihres Verhaltensrepertoires (Wilson 2013).562 Als Antwort auf diese Bedrohungen der Dividende aus gemeinsinniger Prosozialität haben Menschen

559 Hierin liegt die in Sozialtheorien oft betonte funktionale Äquivalenz von archaischen Totems, Fan-Merchandise im Fußball und patriotischer Symbolik begründet. Sie alle liefern kulturelle Marker, mit deren Hilfe ein gemeinsamer Deutungs- und Handlungsraum aufgespannt wird. Aus diesem Grund lässt sich mit dem emotional verwurzelten und symbolisch klar repräsentierten US-Patriotismus manches Kollektivgutproblem bei der subsidiären, gesellschaftlichen Selbstorganisation lösen, während das mit Appellen an die rationale Einsicht viel weniger leicht möglich ist. 560 Zur Manipulierbarkeit der menschlichen Verwandtenerkennung siehe S. 225 ff., S.  235 ff., S. 419 ff. sowie S. 435 ff. Zu kulturellen Markern siehe S. 367 ff. 561 Diese These von Carl Schmitt (1932/1996: 26 f.), dass Freund-Feind-Unterscheidungen das zentrale Wesensmerkmal von Politik sind, erfährt so eine naturgeschichtliche Unterfütterung. 562 Ob Ordnungskonstruktion auf Dauer gelingt, hängt deshalb davon ab, ob es gelingt, Subversion von innen dadurch abzuwehren, dass grundlegenden Regeln und Werte des Kollektivs effektiv der individuellen Dispositionsfreiheit entzogen werden. Zu diesem Kernargument der Ethnomethodologie siehe Patzelt (2013a).

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psychologische Mechanismen ausgebildet, in deren Auswirkungen die Schattenseite von gruppenbezogenem kollektivem Sozialkapital sichtbar wird: gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Xenophobie, Ausgrenzung von Abweichlern und Andersdenkenden. Darin liegt – leider – eine für alle praktischen Zwecke unausweichliche Konsequenz jenes evolutionären Entwicklungspfades, den Menschen hin zur Ultra­ sozialität nahmen. Unausweichlich deshalb, weil sie sich in entsprechenden psychologischen Anpassungen an solche Selektionsdrücke der sozialen Welt niedergeschlagen haben. Menschen ordnen sich und andere mithilfe von einfachen Heuristiken einer Gruppe zu und treffen abhängig davon eigene Kooperationsentscheidungen. Diese psychologischen Mechanismen filtern vorbewusst und selektiv Informationen aus der Umwelt und reagieren regelhaft auf sie. In einer solchen empirischen Erklärung liegt freilich keine normative Rechtfertigung dieser Sachverhalte liegt. Ganz im Gegenteil! Nur unterliegt menschliches Handeln eben genau diese systematischen Verzerrungen. Es braucht deshalb neben Kenntnissen dieser anthropologischen Vorbedingungen auch noch größtes Geschick, um sie zum Zwecke „guter Ordnung“ einzuhegen. Weiterhin hat sich gezeigt, dass Konkurrenzverhältnisse um Ressourcen, also Verteilungskonflikte, ein wichtiger ultimater Entstehungsgrund für kollektives Sozialkapital sind. Sie prägen ebenfalls jene dunkle Seite von Sozialkapital, welche sich zeigt, wenn gesellschaftliche Teilgruppen kaum (mehr) Beziehungen untereinander unterhalten und sich stattdessen nur (noch) nach innen binden.563 Eine Leitfrage bei der Analyse dieses Phänomens muss deshalb lauten: Auf welcher Ebene wird wie stark um Ressourcen konkurriert ? Auf Basis der Multilevelselektionstheorie lässt sich – erstens – vorhersagen, dass sich in emergenten Strukturen die Einheiten der unteren Ebene umso stärker integrieren, je größer der Konkurrenzdruck von außen ist. Zweitens wird die Integration umso besser gelingen, je weniger notwendig es ist, untereinander um Ressourcen zu konkurrieren, je geringer also die einschlägigen Anreize zur Binnenkonkurrenz sind. Soziale Unterschiede bzw. deren wahrgenommene Quantität dürfen also nicht über ein als legitim empfundenes Maß hinausgehen. Das zur menschlichen Natur gehörende Egalitarismus-Syndrom wirkt auf Gerechtigkeit innerhalb der moralischen Gemeinschaft hin. Und Ungerechtigkeit – auch bei der Verteilung und Ausübung von Macht – wird nur als legitim empfunden, wenn sich die bevorteil563 Solche Entfremdungserscheinungen zeigen sich allenthalben, wenn in Demokratien westlichen Typs das Verhältnis von politischen Eliten und „normalen Leuten“, Konservativen und Linken, Autochthonen und Immigranten sowie ethnischen und religiösen Gruppen nur noch als Konkurrenzverhältnisse wahrgenommen und nicht mehr von einem übergreifenden Werte- und Verfahrenskonsens getragen werden. Noch prägnanter treten sie in Weltregionen zutage, wo Clanstrukturen und ethnische Konflikte Staatlichkeit unterminieren.

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ten Individuen erkennbar um gemeinschaftsorientierte Leistung verdient machen (Boehm 2001).564 Der Grad von kollektivem Sozialkapital hängt folglich davon ab, wie hart und auf welchen Ebenen der Gesellschaft aus gleich welchen Gründen um Ressourcen gerungen werden muss bzw. ob Menschen der gemeinsamen Auffassung sind, dass solches Ringen notwendig ist. Die zum Zwecke des Gemeinwohls konstruierten Nischen – Institutionen, Staaten oder andere Kristallisationspunkte von Gemeinschaft – müssen in dem Sinne „funktionieren“, dass sich Menschen innerhalb dieser Nische tatsächlich unter vermindertem Konkurrenzdruck um Ressourcen wähnen. Wird diese Leistung nicht erbracht, verliert der Kollektivismus gegen den Individualismus – und zwar schon auf der Ebene konditionaler Strategien in individuellen menschlichen Gehirnen. Denn jene generieren abhängig von solchen Umweltstimuli entweder gemeinsinniges oder opportunistisches Verhalten. Entsteht der Eindruck inakzeptabler Ungerechtigkeit, werden Menschen entweder vollständig in ein individualistisches bzw. nepotistisches Programm „umschalten“ oder sich alternativen Gruppierungsangeboten anschließen, welche die Produktion von öffentlichen Gütern in Aussicht stellen und/oder an die individuelle Wahrnehmung anschlussfähige Feindbilder für gemeinsame Gruppenkonkurrenz liefern. Allzu reduktionistisch betrachtet mag das wie eine Tautologie scheinen: Stärkere Integration und daraus folgender Systemübergang hin zu einem Kollektiv gelingt dann, wenn Kollektivgüter generiert werden. Tatsächlich steckt in dieser Argumentation die Einsicht in die pfadabhängigkontingente Historizität sozialer Wirklichkeit. Sie handelt von höchst störanfälligen kausalen Feedbackschleifen zwischen Mikro- und Makroebene: Ein bestimmter Grad der Binnenkonkurrenz zum Zeitpunkt t0 trifft, vermittelt über direkte Wahrnehmung, Sprache oder anderen kulturelle Artefakte, auf evolvierte individuelle Kooperationsstrategien. Daraus ergeben sich Veränderungen der Möglichkeitsräume für individuelle Handlungen, deren komplexe Wechselwirkungen dann zur Hervorbringung von Kollektivgütern zum Zeitpunkt t1 führen – oder eben nicht. Das ist eine Argumentation genau nach dem Schema jenes MakroMikro-Makro-Modells, das zum prominenten Erbe von James Coleman gehört. Hier aber stehen hinter jedem Argumentationsschritt empirisch robuste anthropologische und komplexitätstheoretische Aussagen, wie sie in diesem Kapitel zusammengetragen wurden. 564 Wenn etwa der Eindruck entsteht, dass „die da oben sowieso nur in die eigene Tasche wirtschaften“, dann wird genau dieses kognitive Sensorium aktiviert. Und regelmäßig lässt solche Wahrnehmung dann auch Legitimität erodieren. Zu moralischen Gemeinschaften und dem Egalitarismus-Syndrom siehe S. 346 ff.

Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion 409

Die Anschlussfähigkeit dieser Argumente nicht nur an die Sozialkapitaltheorie, sondern auch an andere politikwissenschaftliche Theorien ist deshalb groß. Es wird wenig Mühe kosten, entlang der Dimensionen Gruppenbezogenheit und Ressourcenkonkurrenz die Anwendung des Sozialkapitalkonzepts etwa in Theorien zu scheiternder Staatlichkeit (Cornwall 2007; Kaplan 2009; Kode 2013) ebenso zu verbessern wie in jenen zur erfolgreichen Demokratisierung (Newton 2015) oder zur Integration von demokratischen Gesellschaften (Portes und Vickstrom 2011; Putnam 2007). Hilfreich wird dieses Sozialkapitalkonzept überall dort sein, wo es gilt, die Bedingungen eines gelingenden Systemübergangs hin zu routinemäßiger kollektiver Handlungsfähigkeit auszuloten. Denn genau darum geht es im Kern: Statt in einem individualistischen Chaos zu verbleiben, vergemeinschaften und vergesellschaften sich Menschen, indem sie verlässlich Kooperations- sowie Konformitätsnormen folgen und so wechselseitige Erwartungssicherheit stiften. Weil die evolvierte Fähigkeit, sich kollaborativ zu betätigen, genau das zu bewirken vermag, kann ein empirisch-anthropologisch mikrofundiertes Sozialkapitalkonzept tatsächlich beim theoretischen Verständnis und der praktischen Gestaltung von „making democracy work“ sowie der Stabilisierung schwacher Staaten helfen. Zu diesem Zweck ist jedoch unbedingt einmal mehr der Prozesscharakter von kollektivem Sozialkapital in Rechnung zu stellen (Bankston und Zhou 2002). Der Begriff des kollektiven Sozialkapitals bezeichnet einen Status quo psychosozialer Prozessketten, in dem sich ein Systemübergang so stabilisiert hat, dass kollek­ tive Handlungsfähigkeit besteht. Es muss deshalb der Verlockung der Vergegenständlichung, der Reifikation bzw. Hypostasierung dieses prozessualen Zustandes widerstanden werden.565 Sozialkapital ist kein konkretes „Ding an sich“, das sich herstellen oder gleichsam in Gemeinwesen injizieren ließe. Vielmehr ist es gelingende Selbstorganisation komplexer Systeme von menschlichen Individuen in und mithilfe von konstruierten kulturellen Nischen. Weil sich solche Selbstorganisation entlang von Gruppenidentitäten und Ressourcenkonkurrenz vollzieht, muss die intentionale Generierung von kollektivem Sozialkapital auch dort ansetzen. Denn Sozialkapital entsteht nicht einfach in „dem“ Gemeinwesen, sondern ist (auch) eine Resultante von Gruppenabgrenzung und Verteilungskonflikten. Das ist nicht einfach die „dunkle Seite“ von So­ zialkapital. Es ist vielmehr die unmittelbare Konsequenz aus der Tatsache, dass sich nur solche Prädispositionen für die Hervorbringung von kollektivem Sozialkapital evolutionär durchsetzen konnten, die sich auf eine abgrenzbare und exklusive soziale Entität richteten und dabei erfolgreich waren – also: fitnesssteigernd und mithin adaptiv. 565 Vgl. S. 205 f.

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Die Pointe all dessen ist, dass kollektives Sozialkapital im Grunde immer „bindend“ und niemals einfach „brückenbildend“ ist. Die typologische Entscheidung zwischen diesen beiden Arten von Sozialkapital ist im Grunde nur normativ begründbar. Die Perspektive der Multilevelselektionstheorie lehrt, dass kollektives Sozialkapital stets auf Eigen- bzw. Fremdgruppe bezogen war. Denn nur darin kann sein adaptiver Wert gelegen haben. Und dass dem so ist, zeigen die manifesten individualpsychologischen Dispositionen, welche auf die Unterscheidung „Wir und die Anderen“ abzielen, wenn es um Kooperations- und Konformitätsnormen geht.566 So gewendet verliert kollektives Sozialkapital freilich den (allerdings ohnehin längst erodierten) Nimbus eines soziokulturellen Allheilmittels (vgl. Portes und Landolt 1996; Portes 2014). Weder ist sein Bestehen immer etwas Gutes, noch hat es irgendwelche mysteriösen Schattenseiten. Was innerhalb von Gruppen, von Gemeinwesen und Gesellschaften konstruktiv und nützlich ist, wird sich auf konkurrierende Gruppen potentiell negativ auswirken.567 Der analytischen Trennung von „gutem“ brückenbildenden und „schlechtem“ bindenden Sozialkapital muss eine wertende Entscheidung vorausgehen, auf welcher Ebene von Sozialorganisation kollektive Handlungsfähigkeit als etwas Positives angesehen wird. Und selbst dann bleibt die Bewertung in gewisser Weise arbiträr. So gilt beispielsweise die Überwindung von Nepotismus und Clanstrukturen im politiktheoretischen Verständnis des Westens gemeinhin als etwas Gutes, weswegen solches Sozialkapital als brückenbildend angesehen wird, das über Familienverbände hinausreicht. Allerdings kann zur sozialen Integration über Familien und Clans hinweg ausgerechnet pseudo-nepotistisches Sozialkapital eingesetzt werden, etwas über Verweise auf eine gemeinsame Abstammung, wie sie in völkischen Ideologien verbreitet sind. Solche Maßnahmen mögen Brücken bilden, sie wirken aber auch bindend und exklusiv. Auch wird häufig übersehen, dass integrierte Sozialverbände ihrerseits in – zumindest als solche wahrgenommene – Konkurrenzverhältnisse treten. Konkret: Ein über viel kollektives Sozialkapital verfügende Provinz wird sich potentiell erfolgreich in nationalen Nullsummenspielen auf Kosten anderer Provinzen betätigen wollen und können. Und einer Gesellschaft, die sich gerade wegen ihrer starken Kohäsion ideologisch nicht satisfaktionsfähigen Minderheiten oder Neuankömmlingen verschließt, fehlen letztlich doch integrierende und auf Dauer sta-

566 Vgl. S. 362 ff. 567 Wer dies für den Fall von westlichen Demokratien bestreiten möchte, vergesse nicht, worauf der Wohlstand dieser Nationen gründet und wer seit langem die Kollateralschäden trägt, die bei der Erschaffung und Erhaltung dieses Wohlstands im Zuge von Kolonialismus und Kapitalismus entstehen und entstanden sind (vgl. Greig et al. 2007; Schwinn 2008; Wendorff 1984).

Gemeinsam sind wir stark: Gruppenselektion und Nischenkonstruktion 411

bilisierende Brücken (Portes und Vickstrom 2015).568 Eine unsachgemäße Anwendung des Sozialkapitalkonzepts kann blind für solche Gefahren einer „Tyrannei der Mehrheit“ machen (Tocqueville 1835/2011, 1856/2007; siehe dazu Field 2008: 36 f.; Kriesi 2007: 31). Die Verwendung des Konzeptes des kollektiven Sozialkapitals erfordert demnach besondere Sorgfalt bei der Wahl von normativer Perspektive und Analyseebene. Alles in allem hat sich die übliche Unterscheidung von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital also hochgradig kulturell kontingent und normativ verzerrt herausgestellt. Sie dürfte deshalb höchstens fallweise und in Bezug auf besondere Forschungsfragen erkenntnisträchtig sein. Als grundlegendes deskriptives Unterteilungsraster für die Wirkungsweisen des eigentlich Gemeinten taugt sie nicht. Sozialkapital kann sich brückenbildend und bindend auswirken, selbst aber nicht Träger dieser Eigenschaften sein. Die Herstellung von Binnenkohäsion und routinemäßiger Prosozialität hat dabei stets eine konfliktive Dimension, denn sie bedarf schon individualpsychologisch einer irgendwie gearteten Abgrenzung nach außen. Deshalb ist es notwendig, exklusive Gruppenidentitäten sowie (reale und eingebildete) Konkurrenzbeziehungen um Ressourcen in Rechnung zu stellen, wenn erklärt werden soll, wie kollektives Sozialkapital entsteht und sich auswirkt. Zum Schluss sei noch einmal daran erinnert, worin der zentrale Mehrwert dieser handlungstheoretischen Mikrofundierung liegt: in der Betonung der kausalen Rolle von evolvierten psychologischen Mechanismen in all diesen psychosozialen Prozessketten. Beispielsweise lässt sich mit dem oben angesprochenen Rekurs auf Verwandtschaft nur deshalb auch außerhalb von Verwandtennetzwerken routinemäßige Kooperationsbereitschaft herstellen, weil Menschen – ebenso wie viele andere Tiere – zu Nepotismus neigen und in ihnen zudem ein vorbewusstes und hypersensibles Verwandtenerkennungsmodul arbeitet. Die Aktivierung von kollektiven Kooperationsressourcen basiert aber immer auf solchen genetisch fixierten Heuristiken (Gigerenzer 2000; Gigerenzer und Gaissmaier 2011). Denn alle kognitiven Fähigkeiten von Menschen werden von evolvierten neuronalen Strukturen realisiert (Damasio 2010, 2011). Und jene wiederum sind Teil sozialer – und nicht etwa: ökonomisch rationaler – Gehirne (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die evolutionär-anthropologische Perspektive viel zur Klärung des Zusammenhangs von kollektivem Sozialkapital mit gesellschaftlicher Integration und sozialen Konflikten beiträgt. Wann immer 568 Der Zusammenhang von Sozialkapital, sozialer Kohäsion und Migration wird in den Sozial­ wissenschaften derzeit engagiert diskutiert (siehe etwa Bankston 2014; Cheong et al. 2007; Gamper 2015; Portes und Vickstrom 2015; Putnam 2007; Ryan 2011; Sabatini 2015).

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es also zu Selbstorganisation eines komplexen Interaktionssystems dieser Gehirne, also zur Herausbildung sozialer Beziehungsnetzwerke, kommt, werden sich die Grenzen des Wirkungsbereichs von kollektivem Sozialkapital entlang der jeweils prononcierten Gruppengrenzen und Verteilungskonflikte abzeichnen – und damit stets Bindekräfte und zu überbrückende Gräben entstehen lassen. Das mag die zentrale Einsicht sein, welche die multilevelselektionistische Evolutionstheorie für die Sozialkapitalforschung bereithält.

5 Synthese: Evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals

Viel klarer steht im Lichte der anthropologischen Befunde vor Augen, worin der Wert des Sozialen für Menschen liegt, woraus sich also jene „positive Koopera­ tionshaltung“ (Koob 2007: 291) speist, die den Kern von Sozialkapital darstellt. Auf der Grundlage des in Kapitel 4 erarbeiteten evolutionären Menschenbildes lassen sich nun jene Aporien und Defizite der Sozialkapitaltheorie konstruktiv bearbeiten, welche das Kapitel 3 zutage gefördert hat. Anzusetzen ist hierzu bei einigen grundsätzlichen evolutionsanalytischen Einsichten darüber, was Sozialkapital ist und wie es sich in für praktische Zwecke brauchbarer Weise typologisieren lässt. Dann sind die zentralen Kategorien und Theoreme der Sozialkapitalforschung in den Blick zu nehmen – von deren Kernkategorien (Netzwerke, Normen, Vertrauen) über handlungstheoretische Konzepte (Rationalität, Sozialisation) bis hin zum sich in der Sozialkapitaltheorie wie unter dem Brennglas zeigenden Mikro-Makro-Problem. Im Zuge dieser Synthese können die sozialtheoretisch teils weitreichenden Implikationen klarer herausgearbeitet werden, als dies der Durchgang durch die Theoriebestände der Life Sciences selbst erlaubt hat. Auch offen gebliebene Flanken und Anschlussstellen für weitere interdisziplinäre Theorieintegration treten so deutlicher hervor. Insgesamt wird sich zeigen, dass eine evolutionär-anthropologische Mikrofundierung nicht nur die Robustheit der Sozialkapitaltheorie selbst erhöht, sondern auch für andere Theorien gewinnbringend sein wird. Keineswegs steht die evolutionäre Perspektive nämlich in Konkurrenz zu sozialwissenschaftlichen Theoriebeständen. Im Gegenteil: Oft liefert sie Erklärungen und Präzisierungen von längst korrekt Beschriebenem. Um diesen Mehrwert urbar zu machen, müssen allerdings manche klassischen sozialwissenschaftlichen Positionen durchaus grundlegend überdacht werden – etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Vernunft und Gefühl, von Natur und Kultur sowie von Akteur und Struktur. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_5

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5.1 Grundsätzliches: Sozialkapital in ultimater und proximater Perspektive Die Fähigkeit zur Generierung und Nutzung von Sozialkapital gehört zur Natur des Menschen. Soziale Beziehungen als eine Ressource individueller und kollektiver Zielerreichung nutzen zu können, ist sogar typisch für die menschliche Ultrasozialität. Der im Vergleich zu den meisten anderen Spezies viel höhere Grad an produktiver Kooperation und Koordination innerhalb von Sozialverbänden dürfte gar ein entscheidender Erfolgsfaktor in der Stammesgeschichte von Homo sapiens gewesen sein. Wie jegliches Verhalten geht auch jene positive Koopera­ tionshaltung, welche den motivatorischen Kern von Sozialkapital darstellt, auf biologische Ursachen zurück. Sie basiert auf einem Bündel von evolvierten Reaktionsnormen, die weder ökonomisch rational noch nur kulturell determiniert sind. Zu diesen Einsichten gelangt, wer Tinbergens vier Warum-Fragen auf den erklärungsbedürftigen Tatbestand richtet, dass Menschen soziale Beziehungen als Ressource nutzen können. Die Fragen zu den unmittelbaren Wirkursachen auf der proximaten Erklärungsebene stellt sich die Sozialkapitaltheorie ohnehin: Welche Entscheidungsalgorithmen und situativen Faktoren lösen die Mobilisierung von Ressourcen aus sozialen Beziehungen unmittelbar aus ? Und wie hängt das mit Sozialisations- und Enkulturationsprozessen zusammen ? Die beiden Fragen nach den ultimaten Ursachen blieben von der Sozialkapitaltheorie jedoch bisher unbeachtet: Wie entstand Sozialkapital konkret in der menschlichen Naturgeschichte ? Und welchen adaptiven Wert hatte es in der Evolution ?569 Wie sich hier gezeigt hat, erbringt die Hinzunahme der ultimaten Analyse­ ebene für die Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie erheblichen Mehrwert. Insbesondere bilden evolutionär-anthropologische Wissensbestände den Ausgangspunkt einer empirisch robusten Handlungstheorie, welche die konkrete Funktionsweise der kausalen Mechanismen auf der Individualebene klar benennt. Die evolutionäre Perspektive liefert zudem grundsätzliche Einsichten dazu, was Sozialkapital genau ist und wie es funktioniert – eine Frage, zu der in der einschlägigen Forschung noch längst keine Klarheit besteht. So hat die ultimate Analyse den Prozesscharakter von Sozialkapital deutlich zutage treten lassen (vgl. Bankston 2014; Bankston und Zhou 2002). Sozialkapital ist eine Prozesskette des interindividuellen Ineinandergreifens von psychologischen Mechanismen in sozialen Interaktionen. Das hat Sozialkapital mit anderen sozial-

569 Zu Tinbergens vier Fragen sowie der Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen siehe S. 86 ff.

Grundsätzliches: Sozialkapital in ultimater und proximater Perspektive 415

wissenschaftlich relevanten Phänomenen wie etwa Macht gemein: Es gibt sie nicht im Sinne eines konkreten ‚Dinges an sich‘.570 Vielmehr bezeichnen solche Begriffe eine Potentialität, ein prozessuales Dispositiv, das im Falle von Macht schon gut verstanden ist:571 Die Macht einer Person oder Institution konkretisiert sich nicht in einer bestimmten Struktur, sondern im Potential der Anwendung oder mindestens deren Antizipation – eben in der Chance auf Durchsetzung des eigenen Willens auch gegen Widerstreben (Weber 1921/1980: 28). Auch Sozialkapital ist ein solches Dispositiv der Kooperation und der kollektiven Handlung. Über Sozialkapital verfügen Individuen und Kollektive nämlich, wenn sie eine Chance haben, aus sozialen Netzwerken einen Nutzen im Hinblick auf die Erreichung von Zielen zu ziehen. Sozialkapital zu vergegenständlichen und analytisch so behandeln, als sei es eine manifeste Sache oder Substanz, wäre also ein Kategorienfehler.572 Eine solche Hypostasierungen ist nicht zielführend, weil sie den Blick auf das Wesentliche verstellt: auf ein Kooperationspotential, das aus halbwegs verlässlich auslösbaren psychosozialen Prozessketten auf der Ebene von Dyaden und Akteursnetzwerken erwachsen kann. Das Zustandekommen dieser Prozesskette ist abhängig von der Beschaffenheit seiner Teile, nämlich den kognitiven Modulen der beteiligten Gehirne. Deren nur in ultimater Analyse begreiflich werdende Beschaffenheit prägt die Möglichkeitsräume und Wahrscheinlichkeitsdichten sozialen Handelns ganz entscheidend. Üblicherweise sind Definitionen von Sozialkapital jedoch durch proximaten Funktionalismus gekennzeichnet: Als Sozialkapital werden etwa all jene mit sozialer Vernetzung einhergehenden Phänomene bezeichnet, die beim Erreichen von Zielen wie Demokratisierung, wirtschaftliche Performanz, öffentliche Gesundheit, Wohlfahrt usw. nützlich sind. Ebenso verbreitet wie diese Definitionen ist die Kritik an ihnen. Tatsächlich sind sie mit vielerlei Schwächen behaftet, weil sie überaus anfällig für Verzerrungen aufgrund von prämissenhaften Vorfestlegungen darüber sind, wofür Sozialkapital nützlich sein sollte. Der Status von sozialen Ressourcen, mit deren Hilfe nach diesen Maßstäben negativ bewertete Ziele erreicht werden, bleibt auf Basis solcher funktionalistischen Definitionen unklar.573

570 Zu diesem Prozesscharakter von Sozialkapital siehe S. 400 ff., außerdem S. 234 sowie S. 468. Vgl. zu den Ausführungen von Bankston als einer wichtigen Schnittstelle für diese Befunde ferner S. 166 f. 571 Der Begriff des Dispositivs geht zurück auf die Machttheorie von Foucault (1978), in der er klar auf den Prozesscharakter von Macht hingewiesen hat. 572 Vgl. S. 205 f. 573 Siehe hierzu S. 184 ff. sowie S. 194 ff.

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Dieser proximate Funktionalismus ist im Grunde eine Notlösung in Ermangelung einer empirisch-anthropologisch robusten Kooperationstheorie. Die Hervorbringung sozialen Handelns wird bisher mithilfe methodologischer Prämissen zur Rolle von Rationalität und Sozialisation zu erklären versucht. Diese Prämissen – Homo oeconomicus und Homo sociologicus – werden ihrer Sparsamkeit und nicht ihrer empirischen Stichhaltigkeit wegen verwendet. Sie werden zudem in logisch inkonsistenter Weise amalgamiert, wo sie allein nicht verfangen. Grob verdichtet lautet die verbreitete anthropologische Prämisse in der Sozialkapitalforschung deshalb: „Grundsätzlich sind Akteure ökonomisch rational – und wenn sie es nicht sind, dann liegt das an kulturellen Faktoren.“ Individuen und Kollektivakteur werden als rationale Agenten aufgefasst, deren Ziel stets in der Maximierung ihres instrumentellen oder konsumatorischen Nutzens liegt.574 Tatsächlich liegt menschlichem Handeln jedoch eine adaptive Rationalität zugrunde, die von evolvierten Apriori strukturiert wird (Gigerenzer 2000; Haselton et al. 2009; Kappelhoff 2004).575 Menschliche Entscheidungsalgorithmen, die in proximater Perspektive irrational oder schlicht kulturell überformt wirken, sind in Wirklichkeit aus ultimaten Gründen systematisch verzerrt. Hinter Sozialkapital stehen evolvierte Heuristiken, die Aufmerksamkeitsverzerrungen hin zu bestimmten Umweltinformationen und begrenzte Entscheidungsspielräume bewirken. Diese konditionalen Strategien sind weder in dem Sinne rational, dass sie bewusst und entkoppelt von biologischen und emotionalen Tiefenstrukturen abliefen, noch in jenem Sinne, dass sie stets unmittelbare ökonomische Nutzenmaximierung zum Ziel oder gar zur Folge hätten. Die zentrale Einsicht hinter dem Konzept der adaptiven Rationalität ist schlicht jene, dass unser Gehirn weder ökonomisch-rational noch irrational ist, sondern angepasst an in unserer Stammesgeschichte wichtige Probleme des Überlebens und der Fortpflanzung.576 Seine funktional differenzierten psychologischen Mechanismen haben sich als zielführend im Hinblick auf die Lösung dieser adaptiven Probleme und mithin auf die evolutionäre Fitnessmaximierung erwiesen – und gehören deshalb heute zur Natur des Menschen. Solcher „ultimate Funktionalismus“ (Bischof 1998) kommt ohne normative Setzungen zu wünschenswerten Folgen und motivatorischen Ursachen aus: Was bei der Lösung von Anpassungsproblemen funktioniert, ist nur post-hoc anhand 574 Vgl. dazu die Zusammenfassung der Analyse der Sozialkapitaltheorien ab S. 189. 575 Vgl. dazu weiterführend S. 476 ff. 576 Zur Erinnerung: Gemeint ist nicht, dass unsere Vorfahren diesen adaptiven Nutzen auch so wahrgenommen oder gar bewusst bedacht haben müssten (Voland 2013: 15). Damit sich eine entsprechende psychologische Anpassung etablieren kann, reicht es, wenn das Ergebnis faktisch dazu beiträgt, die zur Herausbildung von Sozialkapital befähigenden Prädispositionen in der Population zu verbreiten. Siehe hierzu S. 92 ff.

Grundsätzliches: Sozialkapital in ultimater und proximater Perspektive 417

faktischen evolutionären Erfolges festzustellen. Und die von dieser Einsicht angeleitete Analyse des adaptiven Wertes von evolvierten Motivationen und kulturellen Figurationen lässt deren Funktionsweise im Hier und Jetzt klarer vor Augen treten, als das eine nur proximate Konzeptualisierung leisten kann: Sozialkapital entsteht aus prosozialen Verhaltensdispositionen mit ganz verschiedenen ultimaten Ursachen – und deshalb: mit ganz unterschiedlichen Funktionslogiken. Die jeweils spezifische selektive Regelhaftigkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung der beteiligten kognitiven Module rührt von deren Funktion bei der Lösung bestimmter adaptiver Probleme her. Die hier zusammengetragenen Antworten evolutionärer Theorien auf die Fragen nach den ultimaten Ursachen von Kooperation und Kohäsion haben mehrere komplementäre Erklärungen für die naturgeschichtliche Entstehung des in menschlichen Gemeinschaften universellen Phänomens Sozialkapital geliefert. Die von ihnen benannten, jeweils spezifischen und dabei teils aufeinander aufbauenden individualpsychologischen Quellen von Sozialkapital basieren auf der evolutionären Logik der Verwandtenbevorzugung, des reziproken Altruismus, der indirekten Reziprozität, des kompetitiven Altruismus sowie des Lebens in moralischen Gemeinschaften und konstruierten Nischen. Entlang dieser unterschiedlichen kausalen Mechaniken lassen sich die verschiedenen Arten unterscheiden: nepotistisches, dyadisches, normenbasiertes sowie kollektives Sozialkapital. Die evolutionären Theoriebestände hinter diesen Einsichten sind die Grundlage einer allgemeinen proximaten Kooperationstheorie, die nicht nur auf westliche Demokratien anwendbar ist, sondern im Prinzip auf alle Formen kooperativen Sozialverhaltens in der belebten Natur. Ohne diese ultimate Ebene bliebe die Sozialkapitaltheorie hingegen anthropologisch und mithin handlungstheoretisch in ganz grundsätzlicher Weise unterspezifiziert. Mit ihr aber entgeht man der Falle eines reinen Strukturfunktionalismus, der nur auf das Ineinandergreifen von sozialen Strukturen und Prozessen schaut. Stattdessen wird auch die Funktionslogik der Mikroelemente sozialer Systeme in den Blick genommen – also von Menschen, deren Gehirne gleichsam als Nadelöhr eines jeden sozialen Prozesses fungieren. Die sozialtheoretischen Implikationen dieser evolutionären Erklärungen von Sozialkapital sind weitreichend. Denn sie eröffnen Einsichten in das tatsächliche Funktionieren der Systeme menschlicher Informationsverarbeitung und Handlungsentscheidungen, statt sich bei der Erklärung sozialer Tatsachen auf sparsame, aber insuffiziente methodologische Setzungen über die Beschaffenheit der menschlichen Natur zu stützen. Eine darauf gegründete Handlungstheorie erlaubt es, bisher offen gebliebene Fragen über die Wechselwirkungen von Individuen und sozialen Strukturen neu aufzurollen. Diesen synthetischen Blick auf Sozialkapital gilt es im Folgenden weiterzuentwickeln.

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5.2 Eine Typologie: Quellen und Arten von Sozialkapital In der Sozialkapitalforschung wird zwischen zwei Arten von Ansätzen unterschieden: Mikrotheorien nehmen relationales Sozialkapital in Netzwerken aus individuellen Akteuren in den Fokus, während es in Makrotheorien als ein strukturelles Merkmal von ganzen Kollektiven angesehen wird. Allerdings gilt als weitgehend unklar, in welchem kausalen Verhältnis diese relationale und strukturelle Dimension von Sozialkapital miteinander stehen. Es gibt zudem eine lebhafte Diskussion zu der Frage, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, von Sozialkapital als emergentem Phänomen auf der Makroebene sozialer Strukturen zu sprechen. Nicht zuletzt konnte sich bisher keine Typologie etablieren, die es erlaubt, verschiedene Formen von Sozialkapital trennscharf, ohne normative Verzerrungen und für explanatorische Zwecke fruchtbringend zu unterscheiden.577 Die Analyse der naturhistorischen Wurzeln menschlichen Sozialkapitals hat viel Nützliches zur Überwindung dieser Probleme zutage gefördert. Die evolutionäre Perspektive liefert genau jene mikrofundierte Handlungstheorie der Kooperation, welche der Sozialkapitaltheorie bisher fehlte. Auf dieser Grundlage lassen sich verschiedene Arten von relationalem Sozialkapital anhand der jeweils spezifischen psychosozialen Dynamiken auf der Mikroebene unterscheiden. Ferner erscheint in diesem Licht nicht nur die Unterscheidung zwischen relationalem und kollektivem Sozialkapital durchaus plausibel. Auch das Verhältnis von sozialer Mikro- und Makroebene wird so viel klarer. Kollektives Sozialkapital bezeichnet einen Zustand sozialer Organisiertheit auf der Makroebene, der als ein gelungener Systemübergang von rein individualistischen Vernetzungsstrategien hin zu einer kollektiven Integration zu verstehen ist. Gerade in diesen emergenten Eigenschaften von Gemeinschaften und Gesellschaften liegen besondere Potentiale für gemeinnütziges Individual- und zielerreichendes Kollektivhandeln, weshalb sie analytisch von relationalem Sozialkapital zu trennen sind. Empirisch „besteht“ kollektives Sozialkapital freilich aus nichts anderem als sozialen Interaktionen auf der Mikroebene, es hat keine eigene ontologische Qualität. Erklären und in seiner Wirkung begreifen lässt es sich aber nur als komplexer, systemischer Zusammenhang auf der Makroebene. Zunächst müssen deshalb die Eigenheiten von relationalem Sozialkapital auf der Mikroebene verstanden werden, also von individuellen Handlungsressourcen, die sich aus sozialen Beziehungen ergeben. Die Fähigkeit zur interindividuellen Vernetzung geht jeder kollektiven Integration voraus – und genau so hat es sich wohl auch in der menschlichen Stammesgeschichte ereignet. Die grundlegenden und in der Natur besonders weit verbreiteten prosozialen Verhaltensdispositio577 Vgl. zu alldem S. 155 ff.

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nen richten sich nicht auf Kollektive, sondern auf Individuen. Drei verschiedene Dispositionen sind aus evolutionärer Sicht zu unterscheiden: Erstens kann Prosozialität auf Verwandtschaft basieren; zweitens auf direkten Gegenseitigkeitsverhältnissen des Gebens und Nehmens; drittens auf der Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken, in denen soziale Reputation von der Einhaltung und Durchsetzung von Kooperationsnormen abhängt und sich deshalb uneigennütziges Verhalten auch für die Altruisten selbst lohnt.

5.2.1 Nepotistisches Sozialkapital: Blut ist dicker als Wasser Über nepotistisches Sozialkapital verfügt ein Individuum, wenn andere Menschen ihm aufgrund einer (wahrgenommenen) verwandtschaftlichen Verbindung erhöhte Unterstützungs- oder Kooperationsbereitschaft entgegenbringen. Die Bevorzugung von Verwandten stellt eine in der belebten Natur weit verbreitete evolutionäre Fitnessmaximierungsstrategie dar. Sie ist adaptiv, weil sie dafür sorgt, dass Träger eigenen Erbguts höhere Überlebenschancen haben und sich so ihrerseits reproduzieren können. Dahinter steht das Prinzip des egoistischen Gens: Durch die Unterstützung von Verwandten wird die Verbreitung von Kopien eigener Gensequenzen gefördert, weil Verwandte im statistischen Mittel genau solche Kopien in sich tragen und ihrerseits weitergeben. Das gilt nicht nur für eige­ ne Nachkommen, sondern auch für andere Verwandte wie etwa Geschwister und Nichten. Da aber mit dem Verwandtschaftsgrad die Menge gemeinsam geteilter Gene abnimmt, sinkt die Neigung zu deren Bevorteilung und damit die Menge des für sie verfügbaren Sozialkapitals. Menschen verfügen folglich über umso mehr nepotistisches Sozialkapital, je mehr Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen usw. sie haben. Familiäre Unterstützungsnetzwerke spielen auch in den klassischen Sozialka­ pitaltheorien eine Rolle. So betont Bourdieu die Vorteile kohäsiver Familiengruppen bei der Absicherung komparativer Vorteile in sozialen Konkurrenzsituationen. Coleman verweist darauf, dass mit dem Bedeutungsverlust von Familien in modernen Gesellschaften ein wichtiger Quell von Sozialkapital erodiert. Putnam nimmt im Gegensatz dazu an, dass zivilgesellschaftliche Netzwerke solche Leistungen in funktional äquivalenter Weise erbringen können. Aus evolutionärer Perspektive ist Coleman darin zuzustimmen, dass Familien als primordiale – also im Wortsinn: „ursprüngliche“ – Formen der Sozialorganisation einen zentralen Stellenwert bei der Produktion sozialer Unterstützungsressourcen haben. Tatsächlich ist nepotistisches Sozialkapital von ganz grundsätzlicher Bedeutung nicht nur für die menschliche Sozialität, denn die Strategie der Verwandtenbevorzugung ist evolutionär älter und in der Natur verbreiteter als jede andere

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Form der Prosozialität. Dass die Resilienz sozialer Netzwerke schwindet, wenn familiäre Strukturen ausdünnen, ist deshalb von der evolutionstheoretischen Warte aus vollkommen plausibel. Coleman hat diese Schattenseite gesellschaftlicher Modernisierung völlig zutreffend erkannt, die evolutionäre Anthropologie liefert die handlungstheoretische Erklärung. Obwohl ausgeprägter Nepotismus in modernen Staaten als korrupt und verurteilenswert gilt, schlagen Versuche der Einhegung von „amoralischem Familismus“ (Banfield 1967) durch bürokratische Strukturen regelmäßig fehl (Fehr 2014: 337 ff.; Ruge 2000). Die Persistenz dieses Primats des Nepotismus ist wenig verwunderlich: Die Heuristik „Blut ist dicker als Wasser“ gehört zu den unumstößlichen evolvierten Apriori des Verhaltens nicht nur von Menschen, sondern von allen sozialen Tieren. Familie ist für nahezu jeden Menschen ein primärer Bezugspunkt eigener Prosozialität. Sie erweist sich auch in Zeiten von Krieg, Not, Krise und Staatszerfall regelmäßig als die verlässlichste soziale Struktur. Wer in solchen Verhaltensnormen nur sozial konstruierte kulturelle Muster sieht, wird wenig Praxisnützliches zu ihrer Überwindung beitragen können. Das aber ist nötig, wenn man menschliche Prosozialität gerade nicht nur auf familiäre Gemeinschaft, sondern auf eine riesige sozial konstruierte Entität wie eine Gesellschaft lenken will. Das evolutionäre Erbe von Homo sapiens als „Familien-Menschen“ beschränkt sich freilich nicht auf uneigennützige Verwandtenbevorzugung. Kinderzahl, Konkurrenz zwischen Geschwistern um elterliche Aufmerksamkeit sowie ElternKind-Konflikte um Grad, Dauer und Richtung des Ressourceninvestments beeinflussen – unter anderem – die Menge des nepotistischen Sozialkapitals einer Person (vgl. Kurland und Gaulin 2005; Workman und Reader 2010: 182 ff.). Die Erschließung dieser hier zugunsten des Kernarguments hintangestellten Theoriebestände dürfte die Wirkweise nepotistischen Sozialkapitals zukünftig noch besser erklär- und testbar machen. Eltern-Kind-Konflikte könnten übrigens sogar die evolutionäre Ursache der Entstehung des menschlichen Gewissens sein (Voland und Voland 2014).578 Stimmte das, dann läge die Grundlage gesellschaftlicher Moralvorstellungen ausgerechnet im vermeintlich amoralischen Familismus. Ein solcher Spillover-Effekt von zunächst verwandtenbezogener Prosozialität auf andere soziale Kontexte hat sich auch in der Möglichkeit gezeigt, pseudo-​ nepotistisches Sozialkapital für Gruppen aus Nichtverwandten zu erschließen: Für effiziente Verwandtenbevorzugung braucht es eine Lösung für das Problem der Verwandtenerkennung. Anders als andere Tiere erkennen Menschen ihre Verwandtschaftsverhältnisse nicht mehr zuverlässig nur über physiologische Merkmale wie Geruch und optische Ähnlichkeit. Vielmehr wird Verwandtschaft auch

578 Siehe dazu auch die Fußnoten 304 (S. 224) und 520 (S. 382).

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mithilfe symbolischer Repräsentationen in Sprache und anderen kulturellen Artefakten signalisiert und von übersensiblen psychologischen Mechanismen erkannt. Infolgedessen hat sich die Möglichkeit entwickelt, nepotistische Verhaltensneigungen durch die soziale Konstruktion von vermeintlichen Familienverbünden auf andere soziale Gruppen auszurichten.579 Gelingt diese soziale Konstruktion virtueller Verwandtschaft, dann ist die in solchen Gruppen herrschende Kooperationsbereitschaft getragen von individualpsychologisch besonders tief verwurzelten Dispositionen zur Fürsorge, Loyalität und Kooperation. Prosoziales und normenkonformes Handeln fühlt sich dann im Wortsinne „ganz natürlich“ an; und deviantes Verhalten führt zu moralischer Verurteilung und Gewissensbissen oder wird – dies antizipierend – gleich unterlassen. Weil nepotistische Kooperationsbereitschaft dergestalt von jeweils konkreten interindividuellen Beziehungen abgelöst und auf ein sozial konstruiertes Gemeinwesen gerichtet wird, ist solches Sozialkapital ein Kollektivgut der jeweiligen Gemeinschaft. Nepotistische Verhaltensdispositionen sind folglich nicht nur Quell von relationalem, sondern auch von kollektivem Sozialkapital. Wo es gelingt, die Grenzen zwischen „Familie“ und „Gemeinwesen“ in der Wahrnehmung seiner Mitglieder zu verwischen, werden zusätzliche Potentiale der Gemeinsinnigkeit erschlossen – allerdings auch auf Kosten von Offenheit und Durchlässigkeit. Denn eines ist nepotistisches Sozialkapital in jedem Falle: exklusiv. Es richtet sich nur auf als verwandt Angesehene, weil die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen gerade die evolutionäre Funktion hatten, Verwandte zu erkennen und zu bevorteilen. Nur so konnte diese Form des Al­ truismus tatsächlich Fitnessgewinne mit sich bringen – und sich deshalb evolutionär durchsetzen. Ob (pseudo-)nepotistisches Sozialkapital im demokratietheoretischen Sinne etwas „Gutes“ ist, lässt sich deshalb nicht ohne weiteres sagen. Es ist jedenfalls wahrscheinlich die ursprünglichste, evolutionär älteste, deshalb am tiefsten in der menschlichen Natur verwurzelte und mithin am zuverlässigsten herstellbare Form des Sozialkapitals. Folglich werden Familien und virtuelle Verwandtschaften im Kontext realer Kollektivgutprobleme immer wieder nachgerade unvermeidlich in Konkurrenz zu bürokratischen Sozialorganisationen geraten, die in aufgeklärter Rationalität gründen.

579 Siehe hierzu ausführlich S. 225 ff., für weitere Querverweise ferner die Fußnote 466 auf S. 350.

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5.2.2 Dyadisches Sozialkapital: Gleiches mit Gleichem vergelten Verwandtenbevorzugung ist aber nur eine Lösung für das adaptive Problem im Zusammenhang mit Kooperativität (vgl. Carter 2005): Wie kann sichergestellt werden, dass sich prosoziales Verhalten für Altruisten lohnt ? Pure Freigiebigkeit ohne irgendwelchen Nutzen für die Gesamtfitness des Gebers kann sich nicht in der Evolution durchsetzen.580 Nepotismus löst dieses Problem elegant, weil der individuell altruistische Akt im Hinblick auf genetische Fitnessmaximierung egoistisch ist. In sozialen Interaktionen unter Nichtverwandten gibt es diese indirekte Fitnessdividende nicht. Hier stehen potentielle Kooperationspartner vor einem Gefangenendilemma: Die Gefahr, dass die eigene Prosozialität vom Gegenüber ausgebeutet wird, macht es zur „vernünftigsten“ Option, sich auf die ungewisse Wechselseitigkeit gar nicht einzulassen. Die für beide Seiten vorteilhafte Kooperation scheitert – zumindest im spieltheoretischen Modell – am Problem der doppelten Kontingenz (Luhmann 1984; vgl. Kron und Dittrich 2002).581 Offenkundig hat die Evolution im Fall von Menschen und anderen Organismen auch für dieses Problem eine Lösung gefunden. Die Tit-for-Tat-Strategie erhält die Aussicht auf Kooperationsdividenden aufrecht und schützt Individuen gleichzeitig recht gut vor allzu schädlicher Ausbeutung von prosozialem Verhalten: „Beginne kooperativ und kopiere dann das Verhalten deines Gegenübers aus der letzten Kooperationsrunde. Wenn er defektiert hat, dann defektiere nun auch; wenn er kooperiert hat, tu es jetzt ebenfalls!“ Auf Basis dieser konditionalen Strategie kann sich Reziprozität unter Konkurrenzbedingungen etablieren und stabilisieren, wenn der Nutzen der Kooperation die Kosten des Verzichts auf asoziale Strategien übersteigt. Das ist die Kernaussage der Theorie des reziproken Altruismus (Trivers 1971). Dyadisches Sozialkapital baut auf solcher bedingten Prosozialität auf. Es umfasst die Gesamtheit aller Ressourcen, die für Individuen aus dem Vorhandensein direkter Gegenseitigkeitserwartungen resultieren. Dyadisches Sozialkapital besteht für EGO genau dann, wenn er gegenüber ALTER in der Vergangenheit kooperativ bzw. altruistisch agiert hat und so nach der Tit-for-Tat-Logik eine direkte Gegenseitigkeitserwartung entstanden ist, die von ALTER auch als Obligation, als eine soziale Verpflichtung, empfunden wird. Damit EGO einen Mehrwert generieren kann, ist also nur die wiederholte Interaktion mit einem weiteren Individuum nötig. Der psychosoziale Prozess, der hier zur Handlungsressource wird, ereignet sich nur in der Beziehung zweier Menschen – oder besser: ihrer Gehirne. 580 Zu diesem Problem des Altruismus siehe S. 81 ff. sowie S. 216 ff. 581 Zur Struktur des Gefangenendilemmas und zur Theorie des reziproken Altruismus siehe S. 238 ff.

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Exogene Faktoren wie soziale Kontrolle oder Normensysteme spielen keine Rolle. Darin liegt der Unterschied zu normenbasiertem Sozialkapital. Solche direkten Obligationen sind in Bourdieus, Colemans und Putnams Konzeption von Sozialkapital ganz zentral. Das ist wenig verwunderlich. Die Tit-forTat-Strategie lässt sich problemlos mithilfe der Rational-Choice-Handlungstheorie ausdrücken, die Coleman seiner Sozialtheorie zugrunde legt und auf welcher auch Putnams Ansatz explizit aufbaut. Für Bourdieu ist die ökonomische Dimension letztlich ebenso die in sozialen Beziehungen zentrale. Überhaupt ist das Konzept der Reziprozität für die Sozialkapitaltheorie von großer Bedeutung, zumal davon ausgegangen wird, dass Reziprozität sich in sozialen Netzwerken auch generalisieren kann. Allerdings bleibt die kausale Mechanik hinter der Befolgung von Reziprozitätsnormen meist opak und stützt sich auf einen diffusen RationalChoice-Behaviorismus.582 Die evolutionäre Perspektive der Theorie lehrt aber, dass weder bewusste Rationalität noch kulturelle Determination für reziprozitätsbasierte Kooperation allein verantwortlich gemacht werden können. Menschen verfügen vielmehr über spezifische psychologische Anpassungen, welche auf die Sicherstellung von Gegenseitigkeit und mithin die Vermeidung von Ausbeutung in relativ kleinen Menschengruppen ausgelegt sind. Vieles deutet darauf hin, dass Tit-for-Tat-Strategien über vorbewusste psychologische Mechanismen realisiert werden, die als evolvierte Lösungen für die Überwindung des Gefangendilemmas eine lange Naturgeschichte haben.583 Menschliche Gehirne arbeiten im Zusammenhang mit Reziprozität nicht als rationale Informationsprozessoren, die auf Basis einer inhaltsleeren deontischen Logik ihre Handlungsentscheidungen treffen (Cosmides und Tooby 2005). Vielmehr treten manifeste vorbewusste Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken zutage, die mit der Umsetzung von Gegenseitigkeit, von Titfor-Tat, zu tun haben. So erinnern sich Menschen an Gesichter von Personen überproportional leicht, mit denen sie besonders positive oder negative Kooperationserfahrungen gemacht haben. Auch die zur Bewertung des Kooperationsverhaltens des Gegenübers notwendigen Fähigkeiten liegen schon unterbewusst vor. Menschliche Gehirne sind geprägt von einer starken vorbewussten Aufmerksamkeitsverzerrung hin zu Betrügern und Regelbrechern. Sie reagieren ferner – ebenso wie andere Primaten – mit intuitiven moralischen Bewertungen und in der Folge mit negativen sozialen Emotionen und moralistischen Aggressionen auf unfaire Behandlung. 582 Vgl. S. 176 ff. 583 Siehe hierzu und zum Folgenden die Vorstellung empirischer Befunde auf S. 243 ff. und S. 265 ff.

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Die in der Sozialkapitalforschung so wichtigen Reziprozitätsnormen sind der menschlichen Natur offenkundig inhärent. Das bedeutet nicht etwa, dass in der Conditio humana die normative Letztbegründung solcher kulturellen Regeln läge. Vielmehr ist – empirisch viel folgenreicher – gemeint, dass Menschen schon vorbewusst auf Gegenseitigkeit abzielen, weil diese Norm ein Teil ihrer evolvierten konditionalen Strategien ist. Wer sich um seine ihm zustehende Gegenleistung für prosoziales Handeln betrogen sieht, der fühlt sich ungerecht behandelt und empfindet moralistische Aggressionen, die zu strafendem Verhalten motivieren. Bei Betrügern sorgen Scham und Schuldgefühle potentiell für die (wenigstens nachträgliche) Erfüllung von Reziprozitätserwartungen. Die Wurzeln von Reziprozität und mithin von dyadischem Sozialkapital liegen noch unterhalb der Ebene des Verstandes und von sozialen Konstruktionen. Gouldner (1960) hatte mit der Annahme, Reziprozitätsnormen basierten auf universellen menschlichen Neigungen, offenkundig ganz recht.584 Die Ausformulierungen und Institutionalisierungen von Normen der Gegenseitigkeit in menschlichen Gesellschaften stellen keine reinen Kulturleistungen ohne natürliche Grundlage dar. Vielmehr sind sie wohl symbolische Repräsentationen von bestehenden impliziten normativen Apriori. Ihre nahezu universelle Verbreitung in menschlichen Kulturen geht wohl nicht auf ihre vernunftmäßige Überzeugungskraft zurück, sondern darauf, dass sie sich für Menschen intuitiv richtig anfühlen. Dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden sollte, ist nicht nur ein normativer „Volksglaube“ (Malinowski 1926/1985; vgl. Cropanzano und Mitchell 2005: 876 f.), sondern eine evolvierte moralische Intuition. Putnams Anmerkung, nach der die Strategie Tit-for-Tat von der Norm der Reziprozität analytisch strikt zu trennen ist, erscheint vor diesem Hintergrund nicht perfekt stimmig (Putnam 1993: 243, FN 50). Diese Sichtweise lässt sich nur durchhalten, wenn Normen als kulturell vollkommen kontingent betrachtet werden, wofür ausweislich der hier präsentierten Befunde aber wenig spricht. Dieser Gedanke wird noch einmal aufzugreifen sein, wenn die Argumentation sich dezidiert Werten und Normen zuwendet.585 Die evolutionäre Perspektive auf Reziprozität hat neben diesen Einsichten vier für die Sozialkapitalforschung problematische Aspekte zutage gefördert. Erstens bestehen begründete Zweifel an der Robustheit der Theorie des reziproken Altruismus. Ob die Vorteile direkter Reziprozität wirklich die ultimate Ursache für die benannten psychologischen Anpassungen waren, lässt sich nur schwer sagen. In 584 Vgl. hierzu S. 173 f. sowie S. 251 f. 585 Siehe dazu S. 462 ff. Zur evolutionären Perspektive auf die Trennung von Fakten und Normen siehe auch Voland (2004). Diese Annahme einer apriorischen Moralität spielt übrigens auch in Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption eine Rolle (Rawls 1979; vgl. Vöneky 2010: 53 ff.).

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der Diskussion innerhalb der Evolutionswissenschaften wird grundsätzlich infrage gestellt, ob einschlägige Befunde wirklich am besten mit der Theorie des reziproken Altruismus erklärt werden können. Zudem stößt die Theorie bei der Erklärung der umfassenden Solidarität unserer Spezies schnell an ihre Grenzen. Für Menschen ebenfalls typische, jedoch nicht auf Gegenseitigkeitserwartungen rückführbare Verhaltensweisen wie das Eintreten für Normen und Werte (zum Beispiel beim uneigennützigen Ermahnen und Bestrafen von Regelbrechern) sowie Empathie und Freigiebigkeit gegenüber Fremden können von der Theorie des reziproken Altruismus nicht erklärt werden. Außerdem ist reziproker Altruismus spätestens dann keine praktikable Strategie mehr, wenn Gruppen größer, unübersichtlicher und somit verwundbarer gegenüber Trittbrettfahrern werden (Richerson und Boyd 1988). Dass also „die Rolle von reziprokem Altruismus in der sozialen Evolution massiv überschätzt worden sein könnte“ (Voland 2013: 70; vgl. Price 2011: 83; Van Vugt et al. 2009: 533), ist für die Sozialkapitaldebatte höchst folgenreich. Schließlich kommt Reziprozität gerade in jenem Teil der Sozialkapitaltheorien eine wichtige Rolle zu, welcher in der Tradition der sozialen Tauschtheorie steht. Besonders für Homans war direkte Reziprozität die zentrale Antriebskraft von sozialer Interaktion (Cropanzano und Mitchell 2005).586 Ausgerechnet der in den Sozialwissenschaften besonders einflussreichen Idee der Reziprozität fehlt aber eine belastbare anthropologische Grundlage. Hinzu kommt – und das ist der zweite problematische Aspekt –, dass aus evolutionärer Perspektive zwischen Tausch und Reziprozität zu unterscheiden ist. Diese begriff‌liche Klarheit fehlt aber in den Sozialwissenschaften. Tausch ist ein in der Natur sehr viel weiter verbreitetes Phänomen, weil es kognitiv viel weniger anspruchsvoll ist. Wenn Organismen für den jeweils anderen Nützliches tauschen, dann entsteht beiden ein unmittelbarer Vorteil. Deshalb resultiert aus Tausch auch keine Gegenseitigkeitserwartung für die Zukunft – und mithin kein dyadisches Sozialkapital. Erst wenn es möglich wird, dass die prosozialen Akte der beteiligten Individuen zeitversetzt erfolgen können, gibt es auch Potential für Sozialkapital. Deshalb braucht es mehr begriff‌liche Klarheit, die sich aus sozialer Tausch- und Rational-Choice-Theorie nicht ableiten lässt. Sie ist aber recht einfach herzustellen, wenn der Blick auf Prosozialität nicht anthropozentrisch verzerrt bleibt. 586 Zur Verbindung von Sozialkapitaltheorie und sozialer Tauschtheorie siehe S. 161 f., vgl. ferner S. 238 ff. Die soziale Tauschtheorie ist hier zumindest metatheoretisch anschlussfähig. Sie unternahm mit den seinerzeit angemessen erscheinenden Mitteln ebenfalls das hier erneut Versuchte, nämlich Sozialtheorie eine anthropologische und psychologische Mikrofundierung zugrunde zu legen.

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Das dritte Problem betrifft den schwierigen Begriff der generalisierten Reziprozität (Sahlins 1976). Die Annahme, direkte Reziprozitätserwartungen ließen sich über Routinisierung generalisieren, erscheint aus evolutionärer Perspektive unplausibel. Indirekte Reziprozität und gemeinsinnige Prosozialität – zwei Verhaltensmuster, die in den Sozialwissenschaften unter den Begriff der generalisierten Reziprozität fallen würden (vgl. Stegbauer 2013: 67) –587 sind kognitiv wesentlich anspruchsvoller. Sie erfordern zusätzliche psychologische Fähigkeiten und basieren auf anderen psychosozialen Prozessketten.588 Sie sind deshalb sowohl von direkter Reziprozität als auch voneinander zu trennen. Unzutreffend wäre ferner die Sichtweise, generalisierte Reziprozität sei eine Weiterentwicklung von direkter Reziprozität. Im Gegenteil: Die Heuristik „Kooperiere immer mit allen, wenn du selbst positive Kooperationserfahrungen gemacht hast!“ ist kognitiv viel weniger anspruchsvoll, denn sie bedarf keiner Erkennung und Erinnerung einzelner Akteure und ihrer Handlungen (Hamilton und Taborsky 2005; Pfeiffer et al. 2005; van Doorn und Taborsky 2012). Kurzum: Die einfache Unterscheidung in direkte und generalisierte Reziprozität lässt sich nicht ohne weiteres überzeugend aufrechterhalten. Es braucht, anders als etwa bei Putnam (2000: 20 f.) zu besichtigen, tiefschürfende Theoriearbeit, um den Unterschied zwischen auf direkter Reziprozität basierendem dyadischem Sozialkapital und anderen Quellen sozialer Unterstützung präzise zu fassen. Der empirisch-anthropologisch fundierte Sozialkapitalbegriff macht das möglich, weil er die verschiedenen Prozessmuster hinter der Entstehung von Ressourcenflüssen in sozialen Beziehungen zutage treten lässt. Das führt zum vierten und letzten problematischen Aspekt der herausgehobenen Rolle von Reziprozität in der Sozialkapitalforschung. Trotz all der begründeten Zweifel an der Reichweite der Theorie des reziproken Altruismus, hat sie doch empirische Forschung stimuliert, die viele handlungstheoretisch höchst relevante Einsichten generiert hat. Zuvörderst ist dies die Erkenntnis, dass menschliche Entscheidungsmechanismen in dyadischen Kooperationssituationen nicht ökonomisch rational arbeiten und nicht Ergebnis von Sozialisationsprozessen sind. Vielmehr sind sie Ausweis der Tatsache, dass das menschliche Gehirn ein soziales Organ ist, eine evolutionäre Anpassung an das Leben in Sozialverbänden. Das zeigt sich nicht nur an den vorbewussten Mechanismen der Betrügererkennung, sondern auch an der wichtigen Rolle von sozialen Emotionen und moralistischen Aggressionen für menschliche Prosozialität. Solche Wissensbestände 587 Für Stegbauer generalisieren sich Gegenseitigkeitsbeziehungen entweder über einen Zeitraum hinweg oder auf eine Gruppe von bestimmten Merkmalsträgern. 588 Schließlich entsteht normenbasiertes und kollektives Sozialkapital in ganz anderen und viel komplexeren sozialen Situationen als nur in Dyaden.

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gehören zu den Grundlagen einer empirisch robust mikrofundierten Sozialkapitaltheorie. Alles in allem spricht also manches dafür, dyadisches Sozialkapital als einen eigenen Typus aus sozialen Beziehungen resultierender Handlungsressourcen anzusehen. Zukünftig gilt es, die psychosozialen Dynamiken in iterierten dyadischen Interaktionen in einschlägigen Erklärungsmodellen stärker zu berücksichtigen. Ganz zentral gehört dazu das Bestehen einer impliziten, zur Natur des Menschen gehörende Reziprozitätsnorm in Form von vorbewussten Fairnesserwartungen und spezialisierten psychologischen Mechanismen zu deren Absicherung. Jedoch bietet sich – entgegen jeder Anfangsintuition – ausgerechnet Reziprozität in der klassischen sozialwissenschaftlichen Lesart aufgrund mancher empirischen und theoretischen Schwächen nicht als handlungstheoretischer Nukleus einer Kooperationstheorie an, die generalisierte Reziprozität und zumal Gemeinsinn zu erklären vermag.

5.2.3 Normenbasiertes Sozialkapital: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut Der analytische Fluchtpunkt von Sozialkapitaltheorien sind ohnehin nicht dyadische Interaktionen, sondern deren emergente Effekte in sozialen Netzwerken. Sowohl bei Coleman als auch bei Bourdieu spielen soziale Kontrolle und die Habitualisierung von Normen eine zentrale Rolle. Zwar sind ihre einschlägigen Argumentationen durchaus verschieden. Beide behandeln dabei jedoch den rekursiven Zusammenhang zwischen diesen emergenten Phänomenen und individuellen Kooperationsentscheidungen, zwischen Makro- und Mikroebene, zwischen Feld und Habitus. Sie nehmen damit Wichtiges in den Blick, denn eine Klärung der Mikrologik gerade sozialer Kontrolle ist elementar für das Verständnis von Normenkonformität als einer zentralen Ressource sozialer Ordnung und kollektiven Handelns. Es geht also um nicht weniger als die mikrosoziologische Dimension von politischer Kultur und mithin um jenen gesellschaftlichen Aggregatzustand, auf den Putnams Begriff des Sozialkapitals zielt.589 Beiden Autoren gelingt aber keine restlos überzeugende Erklärung von sozialer Kontrolle bzw. Habitualisierung. Wie sich gezeigt hat, sind dafür jeweils defizitäre handlungstheoretische – also im Kern anthropologische – Prämissen entscheidend mitverantwortlich: Coleman 589 Zu den soziokulturellen Grundlagen politischer Ordnung siehe einführend Pickel und Pickel (2006) sowie Westle und Gabriel (2009). Vgl. ferner zu Sozialkapital auf der Makroebene S. 142 ff. und S. 162 ff.

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baut auf hier umfänglich der mangelnden Validität überführten Theorien der rationalen Wahl und des sozialen Tauschs auf; Bourdieu begnügt sich mit einer systematisch wenig belastbaren minimalen Anthropologie. Evolutionär-anthropologische Ansätze helfen, die so entstehenden Erklärungs­ lücken zu schließen: Sie geben differenzierte Einblicke in jene psychosoziale Kausalstruktur, die dazu führt, dass in sozialen Netzwerken Kooperations- und Konformitätsnormen in Geltung gehalten werden. So wird klar, dass aus der Durchsetzung und Antizipation von Normen in sozialen Netzwerken eine dritte relationale Form sozialer Handlungsressourcen resultiert, die von den anderen Formen des Sozialkapitals abzugrenzen ist. Normenbasiertes Sozialkapital bezeichnet die Gesamtheit aller Ressourcen, die sich für Individuen aus der Tatsache ergeben, dass in dem sie umbettenden sozialen Netzwerk Normen gelten, die prosoziales Verhalten fördern. Es basiert auf evolvierten konditionalen Strategien, die Normenkonformität fördern. Dazu gehören von sozialen Emotionen motivierte Neigungen zur uneigennützigen Regelbefolgung und -durchsetzung. Die Bedingungen für die Generierung normenbasierten Sozialkapitals sind gegeben, wenn es möglich ist, in Netzwerken soziale Reputation aufzubauen (bzw. zu verlieren) und Normabweichungen zuverlässig zu sanktionieren. Mit den Theorien der indirekten Reziprozität und des kompetitiven Altruismus wurden zwei Mechanismen vorgestellt, die solche Netzwerkeffekte gleichermaßen bewirken können. Beide Konzepte sind bezüglich ihres theoretischen Gehalts und des empirischen Geltungsbereichs durchaus unterschiedlich.590 Es wird deshalb mit Blick auf die weitere Operationalisierung der jeweils spezifischen handlungstheoretischen Einsichten hin zu testbaren Hypothesen der Sozialkapitalforschung nützlich sein, den Kern beider Theorien noch einmal herauszupräparieren. Die Argumentationen zur indirekten Reziprozität (Alexander 1987; Fehr et al. 2002) sind denen von Coleman und Bourdieu strukturell sehr ähnlich: Menschen bewerten einander und tauschen sich übereinander aus, (re-)konstruieren dabei unablässig die Grenzen des sozial Erwünschten und gründen zukünftige Entscheidungen über altruistische bzw. prosoziale Handlungen auf diese Bewertungen. Das für EGO verfügbare Sozialkapital vergrößert sich durch Gekannt- und Anerkannt-Werden, durch soziale Reputation innerhalb eines sozialen Netzwerkes – also durch die indirekten Folgen seines Handelns. Die Vorauswirkung dieses Umstands lässt soziale Kontrolle entstehen. Daraus wiederum resultiert eine Ressource für alle Mitglieder des Netzwerkes dergestalt, dass Reziprozitätserwartungen im Mittel nicht enttäuscht werden. 590 Siehe S. 254 ff.

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Normenbasiertes Sozialkapital entsteht hier also dadurch, dass kurzfristige individuelle Reziprozitätserwartungen aus eigener Prosozialität zurückgestellt und in indirekte Kooperationsgewinne aus einem stabilen Netzwerk zurückgestellt werden, in dem das herrscht, was Coleman und Putnam „generalisierte Reziprozität“ nennen. Diese innerhalb einer Gruppe „verallgemeinerte“ Gegenseitigkeit entsteht nicht aus rationalen Kosten-Nutzen-Kalkülen. Sie ist ein emergenter Effekt des Interagierens von Gehirnen, die bestrebt sind, Kosten durch Sanktionen oder Statuseinbußen zu vermeiden und sich so die Kooperativität ihrer Interak­ tionspartner nachhaltig zu sichern. Ursächlich für dieses Verhalten sind evolvierte psychologische Mechanismen, die fest zur Natur des Menschen gehören. Dazu gehört nicht nur die Aufmerksamkeitsverzerrung hin zu sozialen Informationen (Dunbar 2004) – zu besichtigen etwa an der Ubiquität von Klatsch und Tratsch sowie an den Inhalten von Theaterstücken, Seifenopern oder viralen Internet-Phänomenen. Wichtige unterbewusste Prädispositionen sind ferner ein Interesse an sozialen Normen sowie die Fähigkeit zur Erkennung von Akteuren, die gegen solche Regeln verstoßen. Außerdem gehören zur menschlichen Natur moralische Intuitionen, die sich auf Bereiche wie Fairness, Loyalität, Fürsorge, Respekt und Reinheit erstrecken und sich unter anderem in negativen Emotionen und Aggressionen gegenüber Normverletzern umsetzen. Basale normative Erwartungen an angemessenes Sozialverhalten anderer Individuen resultieren demnach schon aus unserer psychischen Grundausstattung.591 Selbst die Antizipation all dessen, also das Wissen darum, dass man selbst solchen Bewertungen ausgesetzt ist, scheint bewusster Reflexion noch vorgelagert. Darin liegen die Gründe, warum wir Personen in Not helfen, ohne Gegenleistungen zu erwarten, und warum Menschen sich „von ihrer besonders prosozialen Seite zeigen“, wenn sie beobachtet werden. Zudem erschließen sich so die Motivationen hinter altruistischem Strafen, also der uneigennützigen Sanktionierung von Regelbrechern. Die evolutionäre Perspektive macht also begreiflich, woher jenes normenbasierte Sozialkapital rührt, das sich selbst Rational-Choice-Theoretiker nur mit einem irgendwie gearteten „starken Drang“ und „Eifer“ erklären können (Coleman 1994: 273). Die involvierten psychologischen Mechanismen arbeiten nämlich nicht „ökonomisch rational“, sondern „adaptiv rational“: Sie generieren Verhalten, das in jener Umwelt nützlich war, in welcher es entstanden 591 Emotionen und Intuitionen sind keine „Gegenspieler“ der Vernunft, sondern ihre Grundlage: Sie lassen in Betracht zu ziehende Handlungsalternativen oft erst ins Bewusstsein gelangen, und in Entscheidungen fließt auf die eine oder andere Art stets auch die implizite Bewertung durch ein sprichwörtliches „Bauchgefühl“ ein. Siehe dazu S. 282 ff. sowie S. 360 f.

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ist – und das war für Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben in überschaubaren Jäger-und-Sammler-Gruppen von bis zu 150 Personen (Caporael und Baron 2014; Dunbar 1998).592 In diesem Kontext liefert die Heuristik „Handle prosozial, wenn die Chance besteht, dass potentielle Interaktionspartner davon erfahren!“ nützliche Ergebnisse.593 Das Konzept des kompetitiven Altruismus (Uhl und Voland 2002; Zahavi 1995) flankiert diese Erklärung für normenbasiertes Sozialkapital mit der Einsicht, dass hohes Sozialprestige nicht nur im Hinblick auf zukünftige Kooperationserwartungen nützlich sein kann. Reputation in einer Gruppe hilft Individuen auch ganz direkt, weil sie als teures und deshalb ziemlich fälschungssicheres Signal für die eigene soziale Kompetenz, die eigene Ressourcenausstattung und einige weitere Merkmale fungieren kann: Freigiebig – auch im Sinne altruistischen Strafens – kann nur sein, wer sich das auch leisten kann. Davon mag unter bestimmten sozialen Umständen graduell abgewichen werden können. In evolutionären Maßstäben hingegen ist es ein unhintergehbares Faktum, dass nicht auf Dauer über die eigenen Verhältnisse gelebt werden kann. Deshalb lohnt es sich im Mittel für Artgenossen, auf solche Signale zu achten, wenn es um die Auswahl eigener Lebens-, Fortpflanzungs- und Kooperationspartnern geht. Der adaptive Nutzen des Zurschaustellens von verschwenderischem Altruismus liegt darin, sich in Konkurrenz zu anderen als ein solcher Partner durchzu­ setzen. Dieses Handicap-Prinzip ist bei vielen Spezies und in unterschiedlichsten Erscheinungsformen dokumentiert (Searcy und Nowicki 2005; Zahavi und Zahavi 1998). Mithin bietet es eine sehr allgemeine Erklärung dafür, dass sich helfende Prosozialität und altruistische Normdurchsetzung evolutionär durchsetzen können. Viel besser als anthropozentrische Rationalitätsannahmen macht dieser Ansatz begreiflich, warum Menschen so viel in ihr soziales Prestige investieren und der öffentlichen Sichtbarkeit eines prosozialen Aktes so viel Bedeutung beimessen – und warum sie zu Quellen normenbasierten Sozialkapitals werden. Normenbasiertes Sozialkapital erwächst hier aus psychologischen Dispositionen, die dem ultimaten Zweck dienen, den eigenen Wert in anderen Arenen sozialen Wettbewerbs zu steigern. Generosität sowie besonderer Eifer bei der Einhaltung und Durchsetzung von Normen fungieren als teure Signale, mit denen indirekt auf materielle Ressourcen, soziale Kompetenz und durchaus auch Dominanz hingewiesen wird. Wiederum spricht all das gegen proximate Rationalitätsannahmen und – vor dem Hintergrund der Befunde zu teuren Signalen aus dem Tierreich und der vergleichenden Forschung mit Primaten und Menschen zu prosozialem Verhalten – auch gegen vollkommene kulturelle Determiniertheit. 592 Siehe dazu S. 247 und S. 344 f. 593 Siehe hierzu die Schlussfolgerungen zum Konzept der Rationalität auf S. 476 ff.

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Der zentrale Mehrwert dieser evolutionär-anthropologischen Perspektiven besteht in der mikrofundierten Erklärung von Phänomenen, die von sozialwissenschaftlichen Autoren zwar als wichtig erkannt, jedoch bisher nur plausibel beschrieben wurden. Reziprozitätsnormen, das Fließen von sozialen Informationen in Netzwerken, Reputation und Bestrafung – all dies sind zentrale Kategorien auch der in der Sozialkapitalforschung vorherrschenden ökonomisch-behavioristischen Handlungstheorie. Jene bleibt aber auf der Ebene proximater Wirkursachen und führt jegliche Handlungsentscheidung darauf zurück, dass Akteure entweder rational agieren oder internalisierte Normen befolgen. Hier liefert die evolutionäre Anthropologie tiefer gehende Erklärungen, indem sie die evolutionären Entstehungskontexte von Verhaltensdispositionen als Schlüssel zum Verständnis ihrer Funktionsweise nutzt. Nur aus evolutionärer Perspektive wird ferner klar, dass normenbasiertes Sozialkapital gleich in einem doppelten Sinne auf Normen basiert: Zum einen bringen die benannten evolvierten prosozialen Motivationen Menschen aus Sorge vor zukünftige Nachteilen dazu, so zu agieren, dass keine geltenden Normen verletzt werden. Erst deren Existenz eröffnet die Möglichkeit, sich über ihre Einhaltung und Durchsetzung zu profilieren – und daraus eine Handlungsressource für jene werden zu lassen, die in gleich welcher Weise von der faktischen Geltung dieser Normen profitieren. Zum anderen sind die Bewertungsmaßstäbe für soziales Handeln in ihrer grundlegenden Mechanik als moralische Intuitionen und soziale Emotionen schon in der menschlichen Psyche angelegt. Das auf diesen Prädispositionen basierende Sozialkapital resultiert dann aus der individuellen Auseinandersetzung menschlicher Gehirne mit kulturspezifischen Regeln. Dieser Zusammenhang ist durch die in der Forschung bisher gebräuchliche Verortung von Normen und Werten auf der „kulturellen Dimension“ von Sozialkapital nicht sachgerecht abgebildet.594 Menschen sind nicht einfach durch kulturelle Normen eingehegte Naturwe­ sen, sondern Normenwesen von Natur aus. Sich in sozial konstruierten Normensystemen zu bewegen, ist keine einfach erlernte Fähigkeit. Der Mensch ist ein moralisches Tier (Wright 2005). Nur deshalb besteht überhaupt die Möglichkeit, Ansehen und Ressourcen-Dividenden dafür zu erhalten, sich nicht nur normenkonform zu verhalten, sondern Regeln auch dort aktiv durchzusetzen, wo ihr Bruch gar keine direkten Auswirkungen für die eigene Lebenswelt hat. Normenbasiertes Sozialkapital dürfte einer der zentralen individuellen und kollektiven Erfolgsfaktoren jener moralischen Gemeinschaften gewesen sein, welche wohl die für unsere Vorfahren typischen Vergemeinschaftungsformen dargestellt haben.595 594 Vgl. dazu S. 168 f. 595 Zu moralischen Gemeinschaften siehe S. 346 ff.

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Die Mobilisierbarkeit von normenbasiertem Sozialkapital hängt deshalb zu einem Gutteil von der Kongruenz der Weltbilder ab. Menschen in existentieller Not zu helfen und ihren körperlichen Schmerz zu lindern, ist ein sicher von allen Menschen intuitiv als moralisch gut dechiffrierbares Verhalten. Da sich aber in moralischen Intuitionen wurzelnde normative Regeln in verschiedenen Kulturen inhaltlich unterschiedlich ausformen, kann dem einen zuvorkommend erscheinen, was der andere als respektlos empfindet. Außerdem knüpfen Menschen ihre Kooperationsbereitschaft ohnehin vorbewusst an kulturelle Ähnlichkeit.596 Obwohl normenbasiertes Sozialkapital – anders als dyadisches und nepotistisches – nicht an bestimmte Personen geknüpft ist, kann es folglich sein volles Potential nur innerhalb solcher Netzwerke entfalten, deren Individuen halbwegs übereinstimmende Perspektiven auf die Welt haben – also: gemeinsam eine kulturelle Nische bewohnen. So entstehen aus funktionalen Gründen die Außengrenzen der Wirkungsbereiche auch dieses Sozialkapitals. Für den derart abgesteckten Innenbereich der kongruenten oder zumindest kompatiblen Situationsdefinitionen ist normenbasiertes Sozialkapital ein Kollektivgut: Kein Individuum innerhalb des Geltungsbereiches kultureller Normensysteme kann effektiv davon ausgeschlossen werden. Solche Eigenschaften eines Kollektivguts von relationalem Sozialkapital sind schon in dieser reduktionistischen Lesart nicht einfach ein Nebenprodukt von intentionalem rationalen Handeln, wie Coleman (1988a: 116 ff.) und Putnam (1993: 176) behaupten. Normenbasiertes Sozialkapital ist selbst schon ein Nebenprodukt von auf ganz anderen Beweggründen aufbauendem Verhalten, das zudem noch nicht einmal im gemeinten Sinne intentional sein muss. Es entsteht beispielsweise, indem ein Mensch sich vom vorbewussten Streben nach sozialer Anerkennung getrieben über altruistisches Bestrafen oder andere Formen der Normendurchsetzung zu profilieren sucht – und so allen Personen nützt, die von der Gültigkeit dieser Norm profitieren. Ausgehend von dieser Konzeptualisierung von normenbasiertem Sozialkapital lassen sich auch neue Perspektiven auf die kausale Mikromechanik von politischer Kultur entwickeln. Anders als bisher in der Politikwissenschaft angenommen (vgl. Berg-Schlosser und Stammen 2013: 136), kann sich zumindest in Kleingruppen eine normative Ordnung selbst stabilisieren, ohne dass es dafür a priori politischer Institutionen bzw. kultureller Normintrojektion bedürfe. Die Struktur dieser Ordnung ergibt sich aus den Interaktionen von moralischen Intuitionen und dem Streben nach Anerkennung in sozialen Gruppen. Diese Mikrologik der sozialen Konstruktion von Ordnung ist eine unhintergehbare Vorbedingung auch darüberhinausgehender politischer Strukturbildung. Zwar ist sie stets eingebettet

596 Zur Rolle von kulturellen Markern in der Eigengruppenbevorzugung siehe S. 366 ff.

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in kulturelle Kontexte, in konstruierte Nischen mit jeweils spezifischen normativen Standards. Darunter liegt aber eine in der Natur des Menschen verwurzelte universelle moralische Grammatik, die normative Enkulturation und politische Sozialisation strukturiert (Hauser 2009; Mikhail 2007).597 Die zentrale soziokulturelle Herausforderung für politische Ordnung in Massengesellschaften besteht also darin, diese Mikrostruktur sozialer Selbstorganisation in Einklang mit den funktionalen Anforderungen sowie den Leitideen und -werten des Gemeinwesens zu bringen. In Kleingruppen wird sich wohl aufgrund der beschriebenen psychosozialen Prozesse stets normenbasiertes Sozialkapital generieren lassen. Viel weniger „natürlich“ ist jedoch, diese Dynamik in den Dienst übergeordneter Organisationsebenen des Sozialen samt deren Erfordernissen zu stellen.598 Unter welchen Bedingungen das gelingen kann, lässt sich aber in jener reduktionistischen Perspektive nicht vollständig erfassen, die sich nur auf relationales Sozialkapital konzentriert. Es braucht dafür die Betrachtung der Analyseebene sozialer Kollektive – und mithin die Befassung mit kollektivem Sozialkapital.

597 Der zu führende politikwissenschaftliche Anschlussdiskurs sollte also nicht (nur) davon handeln, wie gesellschaftliche Normen „erlernt“ und mithin „anerzogen“ werden können, sondern (vor allem) davon, wie solche angeborenen Dispositionen für politisches Verhalten in Einklang mit gesellschaftlichen Funktionsanforderungen gebracht werden können. Der erstgenannte Diskurs dominiert aber bisher noch die Diskussion um politische Kultur. 598 Hier sind augenscheinlich die Theorien von Durkheim und Rawls berührt. Rawls (1979) billigt den moralischen Alltagsurteilen von Individuen eine prominente Rolle bei der Aushandlung einer gerechten Ordnung zu. Allerdings braucht er dafür auch einen proximaten normativen Vernunftbegriff, der sich mittels der hier vorgestellten evolutionär-anthropologischen Fundierung in einen ultimaten Nützlichkeitsbegriff transformieren lässt. Durkheim (1893/2012) hat das hinter normenbasiertem Sozialkapital stehende Funktionsprinzip der Stabilisierung sozialer Ordnung über Konformitätsdruck für segmentäre Gesellschaften auf den Begriff der „mechanischen Solidarität“ gebracht. Er erkannte ferner, dass die aus gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Interdependenz resultierende „organische Solidarität“ moderner Massengesellschaften diese Quelle von sozialem Zusammenhalt nie ganz ersetzen kann. Erodiert nämlich im Zuge der funktionalen Differenzierung das kollektive (moralische) Bewusstsein, driftet Gesellschaft in den pathologischen Zustand der Anomie, in dem allgemeine Verwirrung über soziale Normen und mithin gesellschaftliche Vereinzelung sowie abweichendes Verhalten vorherrschen (Durkheim 1895/1984, 1897/1999). Die damit angesprochene Notwendigkeit der Passung von moralischen Intuitionen und gesellschaftlichen Normengefügen fängt auch Ferdinand Tönnies’ (1887/2005) und Max Webers (1921/1980) Unbehagen gegenüber der modernen Gesellschaft auf, die sich nur auf Zweckrationalität zu gründen sucht und die Wertgebundenheit der Gemeinschaft zurückdrängt.

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5.2.4 Kollektives Sozialkapital: Mehr als die Summe der Teile In der politikwissenschaftlichen Debatte um Demokratie, Wohlstand und soziale Kohäsion ist Sozialkapital ohnehin als eine mögliche Eigenschaft von Kollektiven besonders interessant – und besonders umstritten. Einerseits werden kollektivem Sozialkapital von Durkheimianern wie Putnam allerlei segensreiche Potentiale auf der gesellschaftlichen Makroebene zugeschrieben. Andererseits bestreiten auf Mikrofundierung beharrende Weberianer, dass sich von Sozialkapital als Makrophänomen überhaupt sinnvoll sprechen lässt. Doch selbst unter den Durkheimianern ist keineswegs klar, was kollektives Sozialkapital überhaupt ist. Und wie es mit individuellem Verhalten in Zusammenhang steht, was also die konkreten kausalen Mechanismen auf der sozialen Mikroebene sind, gilt als nach wie vor ungelöstes Rätsel (Westle et al. 2008c: 169).599 Die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie hilft hier entscheidend weiter.600 Öffnet man nämlich den Blick über menschliche Sozialverbände hinaus, dann fällt auf, dass der Widerspruch von gen-egoistischen Strategien und den Vorteilen langfristiger Kollektivierung ein strukturelles Dilemma in der Evolution des Lebens ist. Egal ob bei der Entstehung von reproduktionsfähigen Molekülen, Einzellern, Mehrzellern, funktional differenzierten Organismen oder der Superorganismen eusozialer Insekten: Stets sind im Zuge solcher Systemübergänge in der Evolution strukturell ähnliche Probleme im Zusammenhang mit der Überwindung von Dilemmata kollektiven Handelns zu lösen. Zwei Wege hin zur erfolgreichen Kollektivierung lassen sich in der belebten Natur in konkret sehr verschiedenen, funktional aber äquivalenten Ausgestaltungsformen beobachten. Einesteils sind dies konstruierte Nischen. Mithilfe solcher aktiven Veränderungen der eigenen Umwelt lässt sich opportunistisches Verhalten wirkungsvoll so kanalisieren, dass es kollektive Handlungsfähigkeit fördert – oder sie zumindest nicht unterminiert. Andernteils werden Systemübergänge hin zu höheren Organisationsebenen des Lebendigen getragen von evolvierten psychischen Heuristiken, die – unter bestimmten Bedingungen – genuin kollektivistisches bzw. gemeinsinniges Verhalten motivieren. Auch wenn beide Strategien die Fitness der individuellen Akteure nicht direkt erhöhen, können sie sich evolutionär durchsetzen, wenn sie die Performanz des entstehende Kollektivs in der Zwischengruppenkonkurrenz entscheidend stärken und so auch indirekt 599 Vgl. S. 162 ff. 600 Zur erweiterten Synthese der Evolutionstheorie siehe grundlegend S. 83 ff., zum im Folgenden zentralen Argument hinsichtlich der Evolution von Kollektivismus sowie zur Theorie der Systemübergänge und der Nischenkonstruktion siehe S. 303 ff. Für empirische Befunde vgl. S. 329 ff.

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die individuelle Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit steigern. Und empirisch scheint genau das in der Evolution schon mehrfach geschehen zu sein, wie unter anderem am Beispiel der Eusozialität staatenbildender Insekten und der menschlichen Ultrasozialität deutlich geworden ist. Kollektives Sozialkapital ist nichts anderes als ein geglückter und halbwegs stabiler Systemübergang. Es umfasst die Gesamtheit aller Ressourcen, die dazu beitragen, die Binnenkonkurrenz in emergenten sozialen Figurationen (‚Kollektiven‘) zu minimieren und kollektives Handeln zu ermöglichen. Der Begriff ist die Kurzformel für einen gesellschaftlichen Aggregatzustand der routinemäßigen Kooperation auf der sozialen Mikroebene. Dieser emergente Zustand ist gekennzeichnet durch das störungsfreie Ablaufen psychosozialer Prozessketten in komplexen Interaktionsmustern zwischen Individuen. Ermöglicht wird er zum einen von sozial konstruierten Nischen aus Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen sowie deren Niederschlag in Gruppenidentitäten und als selbstverständlich empfundenen sozialen Praxen, zum anderen von evolvierten psychologischen Mechanismen, die in konditionalen Reaktionen auf solche kulturellen Informationen gemeinsinniges Verhalten generieren – oder eben nicht. Diese Konzeptualisierung ist nicht nur sehr theoriehaltig, sondern für sozial­ wissenschaftliche Zugänge auch unüblich. Zwar wurden viele darin geborgene handlungstheoretische Argumentationsmuster schon detailliert behandelt.601 Es wird dennoch nützlich sein, im Folgenden die Konzeptualisierung besonders hinsichtlich ihrer Implikationen für zentrale Kontroversen der Sozialkapitalforschung noch weiter auszuleuchten – und dabei auch die Schnittstellen zu manchem sozialtheoretischen Anschlussdiskurs aufzuzeigen. Gene und Kultur: Emergenz und Reduzibilität von kollektivem Sozialkapital Gerade aus der evolutionären Perspektive wird deutlich, dass menschliche Gesellschaften und Gemeinschaften ohne ein emergentistisches Konzept von kollektivem Sozialkapital nicht angemessen zu begreifen sind. Zwar lässt sich der gemeinte gesellschaftliche Aggregatzustand durchaus auf die Mikroebene sozialen Handelns reduzieren, denn natürlich existieren kulturelle Nischen (wie Institutionen, Ideologien, Rituale, Normen usw.) nur als konstruierte Handlungskontexte von Individuen. Und natürlich besteht das Handeln eines Kollektivs aus nichts anderem als der Summe der individuellen Handlungen seiner Bestandteile.

601 Vgl. S. 394 ff.

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Doch bleibt Wesentliches an menschlicher Vergemeinschaftung außen vor, wenn die emergenten Effekte der interindividuellen Interaktion nicht als solche analysiert werden. Der wirklich durchschlagende qualitative Unterschied zwischen schwarmbildenden und solitär lebenden Insekten zeigt sich ebenso erst auf der Ebene des Kollektivs wie der zwischen Menschen und seinen nächsten Verwandten, den Schimpansen. Im jeweils ersten Fall gelingt es nämlich, Kollektive zu integrieren und handlungsfähig zu machen. Wie hier vor Augen geführt wurde, ist das für Menschen typische Phänomen des kollektiven Sozialkapitals ein zwar auf seine Mikrobestandteile dem Grunde nach ontologisch rückführbarer, explanatorisch jedoch nicht reduzibler Zustand der Selbstorganisation eines komplexen Systems.602 Noch nicht einmal ist kollektives Sozialkapital ontologisch vollständig auf relationales Sozialkapital reduzibel. Es kann nämlich empirisch davon verschieden sein: Zwar lässt sich argumentieren, dass etwa Normen und Institutionen ihren Ressourcencharakter nur auf der Mikroebene konkreter interpersoneller Interaktionen entfalten. Das ist schon richtig. Jedoch bewirken Normen und Institutionen durchaus nicht immer individuell günstige Szenarien. Der adaptive Wert kulturell konstruierter Regelsysteme liegt ja in der kollektiven Einhegung von Binnenkonflikten und damit auch in der Beschneidung von individuellen Freiheitsgraden. Normen und Institutionen verstellen etwa Möglichkeiten für Nepotismus und Klientelismus, verhindern also die Unterwanderung von Kollektivinteressen durch individualistische Fitnessmaximierungsstrategien. Beispielsweise werden staatliche Institutionen im Interesse solcher übergeordneten Ziele jene „mechanische Solidarität“ (Durkheim 1893/2012) unterminieren, die sich durch Selbstorganisationsprozesse in kleinen Gemeinschaften einstellt.603 Auch sind etwa gemeinsinnige Handlungen (Steuern zahlen, gemeinnützige Arbeit, normenkonformes Verhalten u. v. m.) nicht immer schon in irgendeiner Weise relationales Sozialkapital in dem Sinne, dass sie anderen Individuen zurechenbar nützen. Die positiven Effekte im Hinblick auf Zielverwirklichung und kollektives Handeln entstehen eben erst auf der emergenten Ebene des Netzwerks und der sozialen Struktur, nicht schon in konkreten sozialen Beziehungskonstellationen. Was aber ist dann der bestmögliche explanatorische Zugriff auf das Phänomen ? Wie sich gezeigt hat, ist die evolutionsbiologische und mithin genetische Erklärungsebene nützlich für das Verständnis genuin kollektivistischer Verhal602 Zur ontologischen Reduktion und dem hier einschlägigen Unterschied zu explanatorischer Reduktion siehe grundlegend S. 67 ff., zu kollektivem Sozialkapital als Zustand der Selbstorganisation eines komplexen Systems siehe S. 398 ff. 603 Siehe hierzu das Ende des letzten Abschnitts und dort vor allem die Fußnote 598.

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tensdispositionen. Die Befundlage zu Multilevelselektion und Systemübergängen spricht dafür, dass sich nicht nur opportunistische und nepotistische Koopera­ tionsstrategien evolutionär durchsetzen können. Vielmehr dürfte es einen Kausalpfad hin zu menschlicher Vergemeinschaftung gegeben haben, der nicht (nur) über relationales und damit individuell nützliches Sozialkapital geführt hat. Verhaltensdispositionen, die unter Inkaufnahme unmittelbarer individueller Fitnesseinbußen das Kollektiv stärken, haben ebenfalls Chancen, sich in einer Population durchzusetzen. Weil nämlich die absolute Zahl solcher gemeinsinnigen Individuen mit dem Erfolg einer solchen Gruppe wachsen kann, steigt auch deren relative Anzahl in der Gesamtpopulation und somit die Verbreitung solcher Dispositionen. Es spricht viel dafür, dass es sich bei Menschen und eusozialen Insekten so ereignet hat (Wilson 2013, 2015; Wilson und Sober 1998). Hinzu kommt eine komplementäre kulturelle Erklärungsebene, über die sich Ursachen und Wirkungen des Erfolgs konstruierter Nischen verstehen lassen. In der Stammesgeschichte konnten sich kulturelle Innovationen wie Normensysteme dann verbreiten, wenn sie für Gruppen adaptive Probleme lösten, folglich also soziale Netzwerke so strukturieren konnten, dass unter Ausnutzung individueller Prädispositionen kollektive Zielverwirklichung möglich wurde. Noch einmal sei an die Beispiele der virtuellen Verwandtschaft (z. B.: ‚Vaterland‘) und der Religionen erinnert. Ihr kollektivistisches Erfolgsprinzip besteht darin, sich von in anderen Kontexten evolvierten prosozialen Prädispositionen tragen zu lassen, jene auf das Gemeinwesen auszurichten und so enormes kollektives Handlungspotential freizusetzen.604 Außerdem können solche kulturell konstruierten Nischen über viele Generationen hinweg ihrerseits Evolution auf der Individualebene bewirken, also genetischen Wandel hin zu einer Spezies prägen, die an das Leben in kulturellen Umwelten und an kollektives Handeln umso besser angepasst ist. Genau das hat sich offenbar auch ereignet. Denn Menschen sind als ultrasoziale Koalitionäre nicht nur zu gemeinsamem zielerreichenden Handeln im großen Maßstab in der Lage, sie sind zudem meisterliche Nischenkonstrukteure. Die uns heute ausmachende Natur des Menschen ist zwar einesteils pfadabhängiges Ergebnis eines noch viel weiter zurückreichenden evolutiven Prozesses, aber sie ist auch ein Produkt dieser rekursiven Gen-Kultur-Koevolution.605 Aus diesen Gründen wundert es auch nicht, dass ordnungskonstruktive kulturelle Muster wie religiöse Normensysteme und pseudo-nepotistische Narrative in verschiedenen Gesellschaften nicht nur funktional äquivalent, sondern einan604 Zu virtueller Verwandtschaft siehe S. 350 und dort mit weiteren Querverweisen die Fußnote 466. Zur adaptiven Funktion von Ritual und Religion siehe S. 387 ff. 605 Zu Gen-Kultur-Koevolution siehe S. 318 ff. (Theorie) sowie S. 340 ff. (Empirie).

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der auch faktisch ähnlich sind. Denn Kultur ist kein Gegenstück zur Natur, sondern ein in der Natur des Menschen gegründetes, in evolutionären Maßstäben enorm flexibles und deshalb effektives Mittel der Anpassung an nischenspezifische Problemstellungen. Deshalb ist der Möglichkeitsraum kultureller Kontingenz doppelt limitiert. Zum einen setzen die in der menschlichen Natur liegenden Fähigkeiten der Konstruktionen kultureller Nischen strukturelle Grenzen. Jene können sich zwar durch Gen-Kultur-Evolution verschieben, aber nicht grundsätzlich verändern. Zum anderen konnten sich in der Naturgeschichte der Kultur nur solche konstruierten Nischen tradieren und ausbreiten, die tatsächlich eine adaptive Pufferwirkung gegenüber den Selektionsdrücken der natürlichen Umwelt erbrachten. Ein zentraler adaptiver Nutzen kultureller Nischen liegt in der Möglichkeit, Menschengruppen zu handlungsfähigen Kollektiven zu machen. Miteinander interagierende Individuen mögen einen effektiven Markt ermöglichen; doch koordinierte Kollektive sind zu Leistungen in der Lage, die nie aus purer Individualkonkurrenz erwachsen werden. Die Superorganismen der eusozialen Insekten sind dafür instruktive Beispiele (Wilson und Hölldobler 2013).606 Aber auch zentrale technologische Innovationen in der Menschheitsgeschichte (Elektrizität, Eisenbahn, Internet, Nanotechnologie, Pharmaforschung usw.) wurden oft gerade nicht vom Markt, sondern von Staaten vorangetrieben (Mazzucato 2014). Mikro und Makro: Kollektives Sozialkapital als Gesellschaftsvertrag Die erweiterte Synthese der Evolutionstheorie liefert also eine robuste Grundlage für die Aussage, dass nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive von Sozialkapital profitieren können. Die Befundlage zu Systemübergängen gewährt handlungstheoretisch höchst relevante Einblicke in die bisher nur ungenügend verstandenen Wechselwirkungen der strukturellen und kulturellen Dimension von Sozialkapital – und zeigt auf, dass das Mikro-Makro-Problem weder ein Spezialproblem der Sozialwissenschaften noch ein theoretisches Problem ist. Es ist vielmehr ein Spezialfall eines empirischen Problems, das sich auf vielen Ebenen der Wirklichkeit ergibt.607 Zudem sensibilisiert die Multilevelselektionstheorie dafür, dass die im Prozess menschlicher Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung gefundenen Lösungen für dieses empirische Problem nur ebenspezifische Varianten von Systemübergänge sind, wie sie sich in der Evolution schon mehrfach vollzogen haben. 606 Siehe S. 332 ff. und S. 398 ff. 607 Siehe S. 395 f.

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Wie vor Augen geführt wurde, ist kollektives Sozialkapital ein Zustand gelingender Selbstorganisation, ein erfolgreich vollzogener und relativer stabiler Systemübergang hin zu einer höheren Organisationsebene sozialer Wirklichkeit. Fehlt es einem Kollektiv an Sozialkapital, gelingt es nicht, die individualistischen Fitnessmaximierungsstrategien mithilfe von kulturellen Konstruktionsleistungen auf das Kollektiv auszurichten bzw. zugunsten von gemeinsinnigem Verhalten zu „unterdrücken“.608 Dieser Systemübergang kommt einer realweltlichen Entsprechung der Gesellschaftsverträge aus den Gedankenexperimenten von Vertragstheoretikern erstaunlich nahe.609 Bei einem Systemübergang entsteht Ordnung durch Prozesse der Selbstorganisation zunächst chaotischer sozialer Beziehungsnetzwerke entlang von regulativen Ideen. Die Attraktivität dieser regulativen Ideen und ihre kausale Kraft erwachsen daraus, dass sie ein Kollektiv ermöglichen, das den Individuen nützt. Darin liegt schließlich das multilevelselektionistische Kernargument: Kollektive Integration hat evolvieren können, weil sie deren individuellen Elementen Fitnessvorteile gegenüber anderen Gruppen und Individuen verschaffte. Natürlich hat sich dieser Systemübergang hin zur Ultrasozialität nicht durch einen konkreten Vertragsschluss ereignet. Und auch das Konzept der „Überwindung des Naturzustandes“ suggeriert die unzutreffende Vorstellung eines sprunghaften Überganges. Von Vertragstheoretikern wird das auch gar nicht behauptet. Sie konzipieren den Gesellschaftsvertrag dezidiert als Gedankenexperiment. Jedoch ist es durchaus nützlich, sich auf die Vorstellung der (natürlichen) Historizität von Ordnung auch empirisch-analytisch einzulassen, denn die Evolution des „politischen Tieres“ hat sich faktisch ereignet. Zumindest im klassischen Kontraktualismus war das Postulat des Naturzustands schließlich auch dem Umstand geschuldet, dass empirisch gesichertes Wissen über seine tatsächliche Beschaffenheit nicht vorlag (Patzelt 2013b: 285, FN 672). Heute ist dies freilich anders; und die anthropologischen Befunde zur Geschichtlichkeit politischer Ordnung lehren: Der Übergang des Menschen zu einer ultrasozialen und mithin zumindest teilweise kollektivistischen Lebensweise vollzog sich zwar möglicherweise spontan, war aber selbst Ergebnis einer langen Evolutionsgeschichte menschlicher Sozialität (vgl. Gintis et al. 2015; Tomasello und Vaish 2013).610 608 Mit „Unterdrückung“ ist hier nicht Repression gegenüber egoistischen Individuen gemeint, sondern das, was in der Psychologie eine „Inhibition von Handlungen“ genannt wird (Hartje und Poeck 2006), also die individuelle Entscheidung für das Unterlassen einer Handlung. Es ist ja gerade das Wesen von evolvierten psychologischen Mechanismen, auf Basis von Umweltinformationen zwischen verschiedenen Verhaltensoptionen auszuwählen, ein Verhalten also zugunsten eines anderen zu unterdrücken. Siehe dazu grundlegend S. 92 ff. 609 Siehe einführend zum Kontraktualismus Kersting (2006). 610 Zum Systemübergang hin zur Ultrasozialität siehe S. 343 ff.

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Die konkrete Gestalt des Überganges, gleichsam der Inhalt des Gesellschaftsvertrages, kam also nicht als Deus ex machina in die Welt, sondern leitet sich aus evolvierten Prädispositionen der „Vertragspartner“ ab. Die Prinzipien, denen sich Menschen unterwerfen, um sich zu einem politischen Gemeinwesen zu integrieren, basieren nicht nur auf Vernunft, Einsicht und moralphilosophischer Reflexion. Faktisch entscheiden moralische Intuitionen und konditionale Koopera­ tionsstrategien darüber, ob politische Ordnung funktioniert. Pointiert ließe sich formulieren: Hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 1979) steht die Natur des Menschen. Auch Vertragstheorien kommen – wie alle politischen Theorien – nicht ohne anthropologische Prämissen aus, weshalb nichts dagegenspricht, den Vertrag selbst zum Gegenstand anthropologischer Reflexionen zu machen.611 Das Konzept des „Systemübergangs zur Ultrasozialität“ leistet genau das. Gruppengrenzen und Ressourcenkonflikte: Prägefaktoren von kollektivem Sozialkapital Wenn kollektives Sozialkapital nichts anderes ist als ein erfolgreicher Systemübergang, dann drängt sich die Frage auf: Was sind die Prägefaktoren für die Ausgestaltung und den Wirkungsbereich eines solchen „Gesellschaftsvertrags“ ? Zwei Faktoren sind hier von besonderer Bedeutung: jener der Gruppengrenzen sowie jener der realen oder wahrgenommenen Ressourcenkonflikte. Erstens endet der Wirkungsbereich von kollektivem Sozialkapital an den Grenzen einer Gruppe. Der ultimate Grund liegt in der Logik der Multilevelselektion: Wenn der evolutionäre Systemübergang hin zu einer Kollektiveinheit adaptiv sein soll, muss seine Dividende exklusiv den Teilen eben dieses Kollektivs zugutekommen. Eine Menschengruppe, welche die Dividende des Kollaborierens nicht nach außen sichern konnte, hatte in der Stammesgeschichte keine Vorteile gegenüber individualistischen Strategien – oder gar gegenüber Gruppen, denen dies gelang. Zudem waren robuste Zwischengruppenkonflikte in der menschlichen Stammesgeschichte für sehr lange Zeit eine Normalität (Wrangham und

611 Eine solche dezidiert evolutionäre Perspektive auf Gesellschaftsverträge nehmen die Beiträge aus dem Bereich der evolutionären Spieltheorie, der Moralphilosophie, der Anthropologie in Heugens et al. (2003) ein. Eine Problematisierung der anthropologischen Prämissen von Rawls findet sich bei Nelson (2008), ein evolutionär-anthropologisch fundierter Blick auf die Vertragstheorien von Rawls und Rousseau bei Schulman (2014). Die anthropologischen Prämissen der anderen klassischen Vertragstheoretiker (v. a. Hume, Locke, Kant) sind einschlägigen Überblickswerken zu entnehmen (Kupperman 2010; Rembold 2007; Stevenson und Haberman 2008; Trigg 2003).

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Glowacki 2012).612 Die Performanz von Gruppen in diesen Konflikten dürfte ein hartes Selektionskriterium gewesen sein. Auch daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, Gruppenmitglieder von Fremden sowie Freunde von Feinden zu unterscheiden – und davon ausgehend Entscheidungen über die Investition eigener Prosozialität zu treffen.613 Tatsächlich zeigen Menschen eine solche kollektivistische und dabei auf Eigengruppenbevorzugung ausgerichtete Verhaltenstendenz.614 Diese Prädisposition ist vielleicht der stärkste Beleg dafür, dass das anthropologische Postulat egoistischer Rationalität nicht haltbar ist. Gerade im Verhältnis zu sozialen Gruppen offenbaren sich vielerlei vermeintliche Irrationalitäten individuellen Handelns. Sie reichen von der Formierung von Gruppen auf Basis von minimalen Informationen und anschließender Bevorzugung der Eigengruppe über starke negative Emotionen bei völlig unerheblichen Ausgrenzungserfahrungen bis hin zur verzerrten Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit dergestalt, dass die eigenen Situationsdefinitionen mit jenen der Bezugsgruppe kompatibel sind. Das sich in solchen Befunden zeigende Verhalten ist weder vernünftig noch rational. Vielmehr belegt es die umfassende Anpassung der menschlichen Psyche an das Leben in Gruppen – an das Aufgehen in einem Kollektiv, zu dem man sich zugehörig fühlt und das verschieden von anderen Kollektiven ist. Die Bereitschaft, uneigennützig und gemeinsinnig zu handeln, ist zu einem Gutteil genau an dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einer kulturellen Gruppe, zu einer moralischen Gemeinschaft geknüpft. Ein zweiter Prägefaktor sind reale und wahrgenommene Konflikte um knappe Ressourcen. Dieser Faktor hat zwei Dimensionen. Zum einen kann sich ein Übergang weg von nur opportunistischer Kooperation hin zu einer emergenten, als Kollektiv anzusehenden Sozialformation nur vollziehen, wenn es gelingt, Binnenkonflikte um Ressourcen zu minimieren. Nicht nur hat sich gezeigt, dass Menschen einen ausgeprägten Sinn für Fairness haben. Es spricht auch viel dafür, dass Jäger-und-Sammler-Gesellschaften schon sehr lange als egalitäre Gemeinschaften zusammenleben, in denen Führung und Macht – und damit normative Hoheit über das Gemeinwesen – nur dann dauerhaft akzeptiert wurden, wenn sie für eine gerechte (oder besser: als gerecht empfundene) Verteilung des Mehrwertes 612 Siehe zu Zwischengruppenkonflikten in der menschlichen Stammesgeschichte mit weiteren Verweisen S. 345 f. 613 Es gibt Hinweise darauf, dass die Relevanz der Gruppengrenze für prosoziale Handlungsentscheidung auch von der (wahrgenommenen) Bedrohung durch Krankheitserreger in der Gruppe abhängt (Thornhill und Fincher 2014). Siehe dazu auch S. 368 und dort vor allem die Fußnote 494. 614 Siehe zu diesen und den folgenden empirischen Befunden zur Gruppensozialität S. 362 ff., vgl. auch S. 346 ff.

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der Kollektivierung sorgten (Boehm 2001, 1993).615 Folglich hängt die Legitimität von Herrschaft und Normen wohl ganz zentral davon ab, dass die interne Ressourcenverteilung als fair wahrgenommenen wird – und zwar schon aus Gründen, die in der Natur des Menschen liegen.616 Die zweite Dimension des Ressourcenaspekts ergibt sich aus der Tatsache, dass die Konflikte in jenem permanenten Kriegszustand, in dem sich Menschengruppen über weite Teile der Stammesgeschichte befanden, in der Regel Konflikte um Ressourcen waren (Van der Dennen 2007). Diese Konflikte wurden so zu Selektionsfaktoren: Kulturell und genetisch ausbreiten konnten sich jene Gruppen, die wegen der Frequenz kollektivistischer Dispositionen ihrer Individuen und/ oder integrierend wirkender kultureller Nischenkonstruktionsleistungen solche Ressourcen besser als andere verteidigen oder erobern konnten. Externe Bedrohungslagen und Ressourcenkonflikte haben sich auf der ultimaten Ebene förderlich für die Evolution von sozialer Kohäsion ausgewirkt. Es kann also nicht wundern, dass sich auch auf der proximaten Ebene dieser Zusammenhang zeigt (Coser 1965; Simmel 1908/1992).617 Hier treten einfach jene handlungsleitenden psychologischen Mechanismen zutage, die in Anpassung genau an das adaptive Problem der Zwischengruppenkonkurrenz evolvierten. All diese Einsichten in die psychosoziale Dynamik der Vergemeinschaftung passen gut zu Bourdieus Sozialkapitaltheorie. Zum einen bestätigen sie eine seiner zentralen Annahmen: Menschen schließen sich zu Gruppen zusammen, um im Konflikt mit anderen Gruppen eine privilegierte Stellung zu erlangen oder zu bewahren. Was er als nur kulturgeschichtliche Theorie entfaltet, ist hochgradig anschlussfähig an naturgeschichtliche Theorien der Konkurrenz von Gruppen und der Habitualisierung von Menschen als Teile dieser auf die Konstitution ihrer Grenzen und Selbstverständlichkeiten bedachten Kollektive. Zum anderen kann das von ihm richtig Erkannte in das evolutionstheoretische Rahmenwerk der Multilevelselektion eingepasst werden. Bourdieus besonderer Fokus auf die rekursiven Wechselwirkungen zwischen Strukturen und Akteuren kann nicht nur beibehalten, sondern mit evolutions- und komplexitätstheoretischen Argumenten

615 Zum Egalitarismus in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften siehe S. 346 ff. 616 Zu der sich hier anschließenden politikwissenschaftlichen Diskussion um Legitimität siehe S. 503 ff. Unschwer ist ferner die Schnittstelle zur marxistischen Konflikttheorie zu erkennen, nach der die zentralen (Klassen-)Konflikte in einer Gesellschaft letztlich ökonomische Verteilungskonflikte sind (Marx 1872/2008; Marx und Engels 1848/2014). Ebenso sind diese Thesen anschlussfähig an Dahrendorfs Konzept, nach dem Konflikte eine notwendige Folge von Herrschaftsbeziehungen sind (Dahrendorf 1957, 1992). 617 Dass Konflikte mit anderen Gruppen die Binnenkohäsion stärken, ist natürlich auch für die Konfliktsoziologie keine Neuigkeit (Meyer und Van der Dennen 2002).

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theoretisch weiter spezifiziert werden. Evolutionstheoretische Fundierung macht soziologische Theorien also nicht überflüssig, sondern hilft, sie zu verbessern.618 Kollektive und kulturelle Marker: Die soziale Konstruktion der Grenzen des Gemeinsinns Die Anschlussfähigkeit evolutionärer an soziologische und politikwissenschaftliche Theorien ist umso mehr gegeben, als auch in evolutionärer Perspektive kulturellen Mustern eine zentrale Rolle zukommt. Dies gilt nicht nur für die bereits angesprochenen, ganz manifesten regulativen und strukturierenden Effekte von Institutionen und Normengefügen auf soziale Gruppen, die sie zu kollektivem Sozialkapital werden lassen. Darüber hinaus werden all diese Effekte von den Perzeptionswirklichkeiten der Individuen moderiert. Relevant für die Handlungsentscheidungen ist nicht, was der Fall ist, sondern was den Handelnden der Fall zu sein scheint. Zwar muss es dem Grunde nach eine Passung zwischen Faktischem und Wahrgenommenen im Hinblick auf die adaptiven Probleme von Organismen geben, weil „falsche“ – besser: unpraktische – Sinneswahrnehmungen von der Evolution nicht begünstigt werden.619 Jedoch hat sich auch gezeigt, dass Menschen, wie Konrad Lorenz es formulierte, über das fatale Privileg verfügen, an den reinen Unsinn zu glauben.620 Menschen beziehen ihr „Wissen“ über die Welt zu einem Gutteil aus kulturellen Informationen. Ihre Perzeptionswirklichkeit ist abhängig von der spezifischen Beschaffenheit der in ihrer kulturellen Nische vorherrschenden Situationsdefinition, also von den in sozialen Konstruktionen geborgenen Wissensbeständen und Deutungsroutinen über die Beschaffenheit der Welt, wie sie in Mythen und anderen ordnungsbegründenden Narrativen zu finden sind. Die Konsequenzen dieses Umstandes sind als Thomas-Theorem weithin bekannt: Wenn Menschen eine Situation als real ansehen und auf Basis dieser Situationsdefinition handeln, dann sind die Konsequenzen dieser Handlungen real – ganz gleich, wie irreal die Situationsdefinition war (Thomas 1928; vgl. Patzelt 2013b: 43). Es ist deshalb sowohl für das Handeln der Menschen als auch für dessen praktischen Konsequenzen unerheblich, ob die Kollektive, Zwischengruppenkonkurrenzen und Ressourcenkonflikte tatsächlich existieren, die Menschen ihren Ent618 Das zeigt sich auch bei thematisch hier einschlägigen Verbindungen von Multilevelselek­ tionstheorie und sozialwissenschaftlichen Konflikttheorien wie etwa Meyer (2010) und vor allem Sanderson (2001). 619 Zur Evolutionären Erkenntnistheorie siehe S. 62 ff. 620 Siehe dazu S. 389.

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scheidungen zugrunde legen. Wenn Individuen sich einem Kollektiv zugehörig fühlen und dieses Kollektiv in Ressourcenkonflikten mit anderen sehen, dann wird diese Situationsdefinition handlungsleitend sein – und kann sogar im Wege einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirklich zur Entstehung oder weiteren Verfestigung entsprechender Spannungslinien und Gruppen beitragen. Es mag beispielsweise keinen realen Verteilungskonflikt zwischen Migranten und Auto­ chthonen geben; wenn es aber gelingt, ihn zu inszenieren und als für Menschen mit realen Konsequenzen verbunden darzustellen, dann entsteht eine starke zentripetale Kraft, die diese Spannungslinien erst im Denken, dann im Handeln und dadurch letztlich in der objektiven Beobachtung real werden lässt. Dieser Mechanismus ist nachgerade unausweichlich, weil menschliche Wahrnehmung und Entscheidungsfindung verzerrt und heuristisch funktionieren. Menschen erleben die Welt durch den Filter psychologischer Anpassungen an das Leben in Gruppen von ca. 150 Menschen, die als ziemlich egalitäre Schicksalsgemeinschaften existentiellen Bedrohungen auch durch Zwischengruppenkonflikte ausgesetzt waren. Sie streben nach Zugehörigkeit, nach einer Möglichkeit, das individuelle Selbst durch die Teilhabe an einem Kollektiv zu transzendieren, mehr noch: das Selbst gerade als Teil von etwas Größerem zu erleben (Haidt et al. 2008).621 Dieser Anschluss an einen größeren sozialen Kontext wird über kulturelle Informationen hergestellt und abgesichert. Symbolische Repräsentationen und Ideologien, gebündelt auch in Ritualen und Alltagspraxen, dienen als kulturelle Marker für Gruppenzugehörigkeit. Menschen weisen ihre Gruppenzugehörigkeit über solche Marker aus und erkennen sie an anderen. Kulturelle Wissensbestände und Deutungsroutinen fungieren nicht (nur) als Wissensspeicher. Sie sind (auch) Erkennungszeichen und dienen der Herstellung von geteilten Sinnwelten. Gerade diese Vorbedingungen braucht auf geteilter Intentionalität basierendes Kollektivhandeln. Ganz folgerichtig begünstigen die evolvierten Mechanismen sozialen Lernens strukturellen Konformismus.622 Darum können Ideologien auch in ihrer Erscheinungsform als „falsches Bewusstsein“ (Marx und Engels 1848/2014) fortbestehen – zumindest solange, wie der Nutzen ihrer Integrationsleistung die Kosten ihrer Unrichtigkeit aufwiegen. Ideologien wie Religionen und politische Theorien sind demnach wohl nicht primär um ihrer selbst willen immer wieder der Grund für Kriege und Konflikte, wie das in einer nur proximaten Geschichtsinterpretation den Anschein haben könnte. Sie werden vielmehr von Individuen genutzt, um die (vermeintlich) rele621 Siehe dazu S. 369 und S. 389 f. 622 Zu sozialem Lernen und strukturellem Konformismus siehe S. 322 ff. (Theorie) sowie S. 372 ff. (Empirie), vgl. ferner S. 358 ff.

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vanten Konfliktlinien und Gruppengrenzen auf ihren kognitiven Landkarten zu markieren. Auf diese Weise werden auch die Bezugspunkte kollektivistischer Verhaltensdispositionen lokalisiert und mithin die Grenzen des eigenen Kollektivs abgesteckt. Die zentrale Frage hinsichtlich des Wirkungsbereichs kollektiven Sozialkapitals ist folglich, welche Gruppengrenzen unter Rückgriff auf welche Situationsdefinitionen konstruiert werden – was also die Eigengruppe ist und was nicht. Die von Carl Schmitt als zentrale Dimension des Politischen benannte Unterscheidung zwischen Freund und Feind (Schmitt 1932/1996) ist tatsächlich ein wesentlicher Aspekt der individuellen Erschließung der sozialen Welt. Dieser psychologische Mechanismus reicht weit hinter die Ebene bewusster Reflexion zurück. Er wird wirksam über unbewusste Informationsfilterung und soziale Gefühle und schlägt sich in Entscheidungen darüber nieder, mit wem man kooperiert und mit wem besser nicht.623 Politische Kollektivierungsversuche, die es schaffen, in diesen psychischen Tiefenschichten gleichsam zu ankern, können sich auf besonders viel kollektives Sozialkapital stützen. So bitter sich diese Einsicht für manchen Demokratietheoretiker ausnehmen mag: Einen nur von rationaler Vernunft getragenen Gesellschaftsvertrag kann es nicht geben, denn Menschen sind keine reinen Vernunftwesen. Kollektivierung – und geschehe sie, wie in freien Gesellschaften, nur zu dem Ziel der Herstellung und Absicherung von individuellen Freiheitsgraden – muss auch getragen sein von emotionaler Rückbindung, von dem Gefühl, etwas gemeinsam zu haben und zu sein. Alle kulturellen Konstruktionen, alle Normensysteme, Institutionen, Symbole und Narrative, die dazu beitragen, solche emotionale Verankerung des Gemeinwesens zu schaffen und damit Anlass für routinemäßige Kooperation zu stiften, können deshalb als Teil jener Prozessketten angesehen werden, die kollektives Sozialkapital ausmachen. Dieser Aspekt wird sowohl von der Kategorie des „Institutionenvertrauens“ berührt (Behnke 2009; Gabriel 1999; vgl. Rudzio 2014: 516 f.) als auch von der Kategorie des „Legitimitätsglaubens“ (Weber 1921/1980).624 Die Relevanz der individualpsychologischen Verarbeitung von kulturellen Konstruktionen steht folglich auch in der Politikwissenschaft nicht in Zweifel. Die dahinterliegenden Mechanismen lassen sich aber nur empirisch-anthropologisch offenlegen und evolutionär verstehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum gerade institutionalisierte Religionen in der Geschichte so nachhaltigen Erfolg bei der Stabilisierung von Übergängen zur Vergesellschaftung hatten – und welcher Verlust an Gemeinsinns­ 623 Siehe dazu S. 362 ff. 624 Zu zahlreichen Anschlussdiskursen siehe S. 494 ff.

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ressourcen, an kollektivem Sozialkapital mit der Marginalisierung ihrer gesellschaftlichen Rolle verbunden ist. Colemans Sorge um den Bedeutungsverlust von primordialen Sozialorganisationen wie Glaubensgemeinschaften erhält hier eine anthropologische Grundlage.625 Das heißt nun freilich nicht, dass aus evolutionärer Perspektive für ein Wiedererstarken von Großkirchen oder gar für Staatsreligionen plädiert werden müsste.626 Vielmehr hilft der Ansatz zu verstehen, warum Religionsgemeinschaften derart starke kohäsive Kräfte entfalten können, und was das für die politische Sozialisation in Gesellschaften heißt, die ihrerseits um Zusammenhalt und Gemeinsinn ringen. Über die Freilegung der psychischen Prozesse hinter solchen Phänomenen ist es möglich, eine anthropologisch fundierte Theorie davon zu formulieren, was unter dem Namen „Zivilreligion“ diskutiert wird (Bellah 1967; Lübbe 1980, 2001).627 Die zentrale Erkenntnis dieser Theorie – und eine große Herausforderung für die politische Philosophie – ist, dass sich ein Gemeinwesen nicht auf rationale Vernunft allein gründen lässt. Damit ist Putnams These natürlich nicht obsolet, nach der zivilgesellschaftliche Strukturen als funktionale Äquivalente zu Colemans primordialen Sozialorganisationen fungieren können. Nur ist die Vorstellung verkürzt, dass in Vereinen und Verbänden als „Schulen der Demokratie“ (Putnam 2000: 338) einfach jene Praktiken eingeübt und verinnerlicht werden können, die ein Gemeinwesen letztlich politisch-kulturell tragen sollen. Tatsächlich werden solche kulturellen Vermittlungsleistungen eng an den unmittelbaren Erfahrungskontext und an die sich darin konkretisierende Eigengruppe geknüpft bleiben. Die eigentliche Herausforderung der Konstruktion einer übergreifenden kulturellen Nische, zu der sich große Teile einer Gesellschaft zugehörig fühlen und in deshalb kollektives Sozialkapital gedeihen kann, wird nur mit Bowlingclubs, Kleingartenvereinen und zivilgesellschaftlichen Strukturen sicher nicht ohne weiteres zu bewältigen sein. Es ist eine nicht geringe Aufgabe, unter den Bedingungen von Modernisierung, Säkularisierung und Individualisierung in nachhaltiger Weise gesellschaftlichen Zusammenhalt und mithin Gemeinsinn zu stiften (Beck 1986; Münkler und Bluhm 2002b; Münkler und Fischer 2002). Auf Dauer wird sich die Erschließung der knappen Ressource Gemeinsinn nicht ohne eine vernünftige, in den Daten gegründete anthropologische Fundierung bewerkstelligen lassen (Gierer 2002).

625 Siehe hierzu S. 138, S. 226 sowie S. 390 ff. 626 Das hieße, Verstehen mit Für-gut-Befinden gleichzusetzen, wofür aber nichts spricht. Trotzdem sind evolutionstheoretische Argumentationen immer wieder diesem Vorwurf ausgesetzt. Siehe dazu S. 56 ff. sowie S. 104 ff. 627 Bellah hat in „Religion in Human Evolution“ (2011) zuletzt selbst auf die lange Naturgeschichte des Religiösen hingewiesen.

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Eine politische Ordnung und die mit ihr einhergehende Vorstellung von Gesellschaft sind gerade so praktikabel wie die in ihrem Kern liegende Anthropologie – so wie jede normative Handlungsanweisung eben gerade so gut ist wie die dahinterstehende empirische Theorie. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung: Eigentümlichkeiten eines zweiten Systemübergangs Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass im Zusammenhang mit menschlicher Sozialorganisation zwei Systemübergänge analytisch zu trennen sind: Bisher stand der Übergang hin zur ultrasozialen Lebensweise in stark integrierten Gemeinschaften von Nichtverwandten im Vordergrund (‚Vergemeinschaftung‘). Die Entstehung von arbeitsteiligen Massengesellschaften kann ihrerseits als ein weiterer Systemübergang auf eine neue Organisationsebene begriffen werden, nämlich als eine systemische Integration einzelner Gruppen (‚Vergesellschaftung‘).628 Durch diese analytische Differenzierung wird noch deutlicher, wie sich Systemübergänge in der sozialen Welt vollziehen.629 Entscheidend für deren nachhaltigen Erfolg ist, dass die Kollektivierung den zu integrierenden Entitäten letztlich mehr nützt als schadet. Damit ein Systemübergang hin zu Gesellschaften auf Dauer Bestand haben kann, muss er Gemeinschaften – und damit wiederum deren Mitglieder – über lange Zeitachsen hinweg einen echten Vorteil in der Konkurrenz mit anderen Gemeinschaften bieten. Erfolgreiche Vergesellschaftung braucht folglich eine verbesserte Absicherung nach außen, die Befähigung zu effektivem Kollektivhandeln sowie eine Einhegung der Binnenkonkurrenz zwischen gesellschaftlichen Teilgruppen einesteils durch 628 Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bzw. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung ist schon bei den Klassikern moderner Sozialtheorie von größter Wichtigkeit. In ihr drückt sich exakt das von der politikwissenschaftlichen Sozialkapitaltheorie angezielte Problem aus: Während sich in der „ursprünglichen“ Lebensweise in Kleingruppen soziale Kohäsion und kollektive Handlungsfähigkeit relativ leicht über geteilte Werte und Weltanschauungen herstellen lässt, liegt in der Individualisierung und Partikularisierung von Sinnzusammenhängen in modernen Gesellschaften eine Gefährdung sowohl des individuellen Wohlergehens als auch der kollektiven Performanz. In jeweils theoriespezifisch variierten Formen findet sich dieser Gedanke bei Émile Durkheim (1893/2012, 1895/1984, 1897/1999), Ferdinand Tönnies (1887/2005), Georg Simmel (1908/1992) und Max Weber (1921/1980). Siehe dazu einführend die Beiträge in Kaesler (2006), vgl. auch die Fußnote 598 auf S. 433. 629 Zur Erinnerung: Das zentrale Charakteristikum eines Systemübergangs in der Evolution ist die Senkung der Binnenkonkurrenz zugunsten einer besseren Gesamtperformanz der integrierten Entität (Maynard Smith und Szathmáry 1995). Siehe dazu S. 313 ff.

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Normdurchsetzung, andernteils durch die Senkung des Konkurrenzdrucks. Empirisch war all das tatsächlich ein Desiderat im vorstaatlichen Europa der Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts (vgl. Reinhard 2002). Die in der politikwissenschaftlichen Diskussion zentralen Anforderungen an moderne Staatlichkeit sind letztlich ebenenspezifische Konkretisierungen der Bedingungen eines erfolgreichen Systemübergangs: Herstellung inneren Friedens erst durch legitimes Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit sowie später auch durch die Produktion anderer öffentlicher Güter und Umverteilung, ferner die Sicherung des äußeren Friedens durch Wehrhaftigkeit (vgl. Beyme 2006: 181 ff.; Schneckener 2004).630 Wie alle Systemübergänge bleibt auch Vergesellschaftung wegen eines imma­ nenten dauerhaften Konfliktpotentials stets gefährdet. Schließlich verschwinden die opportunistischen Rationalitäten einzelner Individuen ebenso wenig wie die der von ihnen geformten moralischen Gemeinschaften. Der Übergang kann – ohne Zwang – nur dauerhaft gelingen, wenn Konflikte nicht eingeebnet oder für obsolet erklärt, sondern eingehegt und verregelt werden. Andernfalls brechen sich die zentripetalen Kräfte auf den unteren Ebenen früher oder später Bahn und die selbstorganisierte Ordnung des komplexen Systems fällt der Abwärtsspirale von Trittbrettfahrerproblemen zum Opfer. Die ebenenspezifische Antwort auf diese Herausforderung liegt in konstruierten kulturellen Nischen wie dem politischen Pluralismus (Fraenkel 1964; Steffani 1980; Dahl 1989), der marktwirtschaftlichen Konkurrenz (Hayek 1943/2003, 1960/1991) – und nicht zuletzt im Wettstreit zwischen sportlichen Mannschaften.631 In Kombination mit einer gerechten Allokation der Dividende auf die Aufgabe von Autonomie entsteht so eine offenkundig überaus adaptive kulturelle Zwischenwelt, welche die kreativen Potentiale von Diversität erschließt, die daraus erwachsende Konkurrenz aber effektiv verregelt sowie auf die nachhaltige Produktion von öffentlichen Gütern und kollektiver Handlungsfähigkeit hin kanalisiert. Nicht nur die Einhegung von Konkurrenz ist aus evolutionärer Perspektive für einen stabilen Systemübergang nötig, sondern auch die pfadabhängig unumkehrbare Integration in einen größeren Funktionszusammenhang. Die faktische Interdependenz einer arbeitsteiligen Gesellschaft kann das nicht allein leisten. Denn mit Ausdifferenzierung geht auch eine Diversifizierung von Wertvorstellungen und Weltanschauungen einher. Jene wiederum können als Kristallisa­ 630 Siehe dazu auch Zippelius (2007) und die Beiträge in Grimm (1996). 631 Der andere zentrale Modus der Konkurrenzminderung wurde schon benannt: eine als gerecht empfundene Verteilung der Dividende auf die Aufgabe von „individueller“ Gruppenautonomie, also die Umverteilung und die Produktion von öffentlichen Gütern.

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tionspunkte für Gruppenidentitäten und mithin als Treiber von Desintegration fungieren.632 Zwar ist die Einbindung von und Konsensfindung zwischen gesellschaftlichen Gruppen im politischen Prozess daher fraglos sinnvoll, wie das neokorporatistische und konkordanzdemokratische Ansätze nahelegen (Schmitter und Lehmbruch 1979; Lijphart 1999; Lehmbruch 2003). Doch zeigt sich an der zunehmenden Entsäulung korporatistischer Systeme (Kruijt und Goddijn 1965; Reuter 2009), der zunehmenden Segmentierung demokratischer Öffentlichkeiten (Habermas 2013) und einer Verrohung demokratischer Konfliktkultur ein grundlegendes Problem, dessen individualpsychologische Wurzeln hier klar vor Augen getreten sind. Die präsentierten Befunde sprechen dafür, dass die vernunftmäßige Einsicht in den Sinn von Verfahren und Ordnung nicht hinreicht, um Gesellschaften dauerhaft zu integrieren.633 Zwar legt gerade das die liberale Gerechtigkeitskonzeption von Rawls (1979, 2014) nahe, doch braucht es darüber hinaus wohl auch eine emotional empfundene Identifikation, die Raum für plurale Gruppenidentitäten lässt, jene aber gleichwohl integrierend überwölbt. Es braucht, anders gewendet, ein Mindestmaß an Homogenität in der Heterogenität.634 Im Pluralismus soll jene über einen Wertekonsens erreicht werden, über das gemeinsame Verfolgen grundlegender ethischer und moralischer Prinzipien. Dies wiederum ist das für Kommunitaristen zentrale Mittel der Herstellung von gesellschaftlicher Integration (Etzioni 1995, 2014; Taylor 2016) – und auch die Art und Weise, wie sich formale in materielle Rechtsstaatlichkeit überführen lässt (Patzelt 2013b: 305). Wie sich jedoch gezeigt hat, beziehen Menschen subjektives Wissen über geteilte Werte aus oberflächlicheren kulturellen Markern, aus Symbolen, Ritualen, und Alltagspraxen.635 Individualpsychologisch fungiert gemein632 Vgl. die Fußnote 628. 633 Diese Hoffnung steckt aber in der Rede von der „organischen Solidarität“ bei Durkheim (1893/2012), vom „Kürwillen“ bei Tönnies (1887/2005) und von der Zweckrationalität bei Weber (1921/1980), wenngleich sie alle die hier begründete Skepsis teilen, dass Integration nur auf Basis der Vernunft auf Dauer gelingen kann. Vgl. dazu für weitere Verweise auch die Fußnote 628. 634 Drastisch auf den Punkt gebracht hat diesen Zielkonflikt Carl Schmitt mit seinem Diktum, dass „zur Demokratie [.] notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ gehört (Schmitt 1926/1996: 14). Evolu­ tionstheoretisch und (neo-)pluralistisch reformuliert meint das zwar nichts anderes, als dass Demokratie einer geteilten Wir-Intentionalität (Tomasello 2010b), also eines prozeduralen und normativen Grundkonsenses bedarf, der wiederum eine relative (kulturelle) Homogenität notwendig macht. Allerdings birgt das Streben nach Homogenität die Gefahr des Totalitarismus schon in sich. Deshalb soll in freiheitlichen Gesellschaften dieser Konsens „minimal“ sein. Er bleibt gleichwohl eine notwendige Bedingung des Funktionierens von demokratischem Pluralismus (Steffani 1980: 87). 635 Siehe hierzu S. 367 f. und S. 387 ff.

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sames Wissen als Proxy für gemeinsames Bewerten, weshalb ein rationaler Minimalkonsens wohl auf lange Sicht nur über das Induzieren einer gemeinsamen Minimal-Identität zu etablieren ist.636 Vielfalt und ideologische Diversität werden innerhalb eines auf Dauer funktionierenden Gemeinwesens ihre Grenzen finden müssen. Inhaltlich bestimmen lassen sich diese Grenzen nicht ohne weiteres. Wichtiger als der konkrete Inhalt selbst ist ohnehin der Fakt, dass es überhaupt gemeinsame Anschauungen gibt, die als kulturelle Marker fungieren können und auf diese Weise zu Kristallisationspunkten von Gruppenidentitäten werden. Ob zivilgesellschaftliche Strukturen per se „Schulen der Demokratie“ und mithin Sozialkapital sind, ist deshalb fraglich. Wie oben erörtert wurde, kommt es darauf an, welche kulturellen Muster dort tradiert werden und ob in ihnen Demokratie nur als ein vernünftigerweise konfliktives oder auch als ein emotional verbindendes Projekt kennengelernt wird. Sicher ist jedenfalls, dass ab einem gewissen Grad gesellschaftlicher Desintegration die Konkurrenzlogik der unteren Schicht durchschlägt und die Produktion von kollektivem Sozialkapital sich in kleineren kulturellen Nischen ereignet. Allzu große wahrgenommene Kontingenz und Erwartungsunsicherheit bewirken einen Rückzug in überschaubare soziale Zusammenhänge. Noch pointierter formuliert das Putnam (2007: 151) mit Blick auf ethnische und kulturelle Vielfalt: „Diversity […] seems to bring out the turtle in all of us.“ Damit sind auch die Gründe der Desintegration von Gesellschaften benannt. Systemübergänge können zwar nahezu vollständig sein, wie bei menschlichen Organismen oder den Superorganismen eusozialer Insekten.637 Zweifelsohne ist die menschliche Vergesellschaftung jedoch schon deshalb fragiler, weil die einzelnen Einheiten über ungleich größere Verhaltensflexibilität und deshalb – notwendigerweise – über wesentlich elaboriertere Präferenzordnungen verfügen. Wenn es nicht mehr gelingt, wenigstens friedliche Koexistenz im Dienste eines Positivsummenspiels zu stabilisieren, besser noch ein von positiven Emotionen getragenes Mitwirken an einem gemeinschaftlichen Projekt zu induzieren, dann ist der Systemübergang (vorläufig) gescheitert. Ob es so kommt, hängt ausweislich der hier zusammengetragenen Befunde von den folgenden Faktoren ab: als relativ egalitär wahrgenommene Ressourcenverteilung; deswegen als legitim empfundene Verregelung samt damit einhergehender Machtstrukturen; stabile Konstruktion von individuell erlebbaren

636 Zum pluralistischen Minimalkonsens siehe ausführlich Eisel (1986). 637 Selbst dort kommt es aber immer wieder zu Konkurrenzsituationen bis hinunter auf die Ebene einzelner Gene (Burt und Trivers 2009).

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gemeinschaftlichen Handlungs- und Sinnkontexten; wahrgenommene Funktionalität des Gemeinwesens auch im Hinblick auf Ressourcenkonflikte mit anderen Gemeinwesen.638 Vor diesem Hintergrund ordnen sich Muster des Staatszerfalls in einer integrierten Theorieperspektive.639 Das Zerfallen von Kollektiven aufgrund der mangelnden Kapazität von Normen und Institutionen, die Bedingungen an die Stabilisierung eines Systemübergangs zu erfüllen, führt zu einem „Rückfall zunächst in Gruppen- und schließlich in Familienidentitäten. Aus evolutionstheoretischer Sicht ist das vollkommen folgerichtig, vollzieht sich dergestalt doch eine konsequente Rückführung von Prosozialität und Gemeinsinnigkeit auf ihre Wurzeln: zunächst zurück zur – ethnischen oder entlang von anderen Markern konstruierten – Gemeinschaft und dann letztlich zur ursprünglichsten Form der Sozialität: Nepotismus. Kollektives Sozialkapital auf der Ebene von Gesellschaften auf Dauer zu stabilisieren, ist aus all diesen Gründen noch viel voraussetzungsreicher als auf der Ebene von Gemeinschaften. Es sollte deshalb sowohl zwischen diesen beiden Analyseebenen unterschieden als auch deren kausale Verbindung in einem Systemübergang stets bedacht werden. Dann ist auch der offenkundig zutreffenden Einsicht Genüge getan, dass kollektives Sozialkapital ein Mehrebenenphänomen ist und sich nicht einfach heuristisch in brückenbildendes und bindendes Sozialkapital unterteilen lässt.640 Was lässt sich nun aus diesen Reflexionen über die Beschaffenheit von kollektivem Sozialkapital für die Nützlichkeit der hier unternommenen Theorieintegration lernen ? Die meisten dieser Überlegungen sind für die Politikwissenschaft wahrlich keine neuen Erkenntnisse. Sie gehören vielmehr zu deren Standardrepertoire. Die deduktive Integration sozialwissenschaftlicher Theorien mit evolutionstheoretischen Ansätzen erhöht aber massiv deren externe Konsistenz (Seipel 1999; vgl. Frings 2010: 141 ff.). Politikwissenschaftliche Theorien mittlerer Reichweite (Merton 1949/1968), lassen sich so in einem Ansatz mikrofundieren, der nicht nur eine enorme Reichweite hat, sondern auch als derart gut empirisch abgesichert gilt, dass selbst erbitterte paradigmatische Streits in der Biologie nicht an ihren Grundfesten kratzen.641

638 Siehe zu alldem S. 405 ff. 639 Zu Staatszerfallstheorien siehe einführend Rotberg (2004) und Rüb (2007), für eine hier anschlussfähige evolutionstheoretische Perspektive auf Staatszerfall siehe Bochmann (2018). 640 Siehe dazu weiterführend S. 457 ff. 641 Zum hier gemeinten Konflikt zwischen Vertretern des Neodarwinismus und Proponenten einer erweiterten Synthese der Evolutionstheorie siehe S. 304 und dort vor allem die Fußnote 405.

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Eine in diesen größeren Zusammenhang gestellte Theorie des kollektiven So­ zialkapitals muss den grundlegenden Dissens zwischen methodologischen Kollektivisten und methodologischen Individualisten, zwischen Durkheimianern und Weberianern, nicht mehr gleichsam mit sozialwissenschaftlichen Bordmitteln befrieden, wie es Bourdieu und Coleman versuchten. Vielmehr steht dahinter eine viel weitreichendere Theorie der Hervorbringung von Ordnung samt ihren rekursiven Rückkopplungsschleifen. Die Beziehung zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft wird begreifbar als ein Subphänomen eines rekursiven, kontingent-pfadabhängigen Prozesses der Evolution vom Einfachen hin zum Komplexen, als ein Spezialfall der Entstehung und Abwärtskausation von neuen Organisationsebenen des Seienden im Verlauf der Natur- und Kulturgeschichte. Sozialtheorie wird so nicht nur getragen von deskriptivem kulturgeschichtlichem Wissen, sondern von einer kausalen Geschichtstheorie, die das Werden in Kultur und Natur, von Kultur aus Natur erklärt. Gerade sozialwissenschaftliche Makrotheorien wie die des kollektiven Sozial­ kapitals brauchen eine evolutionär-anthropologische Mikrofundierung. Denn Theorien von komplexen Systemen auf höheren Organisationsebenen müssen auch empirisches Wissen über die Beschaffenheit von deren Bausteinen enthalten. Zwar sind komplexe Systeme wie Menschengruppen und Gesellschaften nicht nur über deren Mikroebene erklärbar. Sehr wohl aber sind sie, wie es die Komplexitätstheorie formuliert, hochgradig sensitiv gegenüber ihren Ausgangsbedingungen.642 Die Ausgangsbedingungen komplexer sozialer Systeme sind Menschen mit ihren so-und-nicht-anders beschaffenen Gehirnen. Deshalb ergibt sich aus robusten Kenntnissen der Natur des Menschen jener funktionale Anforderungskatalog, welcher aus chaotischen Wechselwirkungen von Individuen ein selbstorganisierendes System der Gemeinschaft und aus der Wechselwirkung von Gruppen eine Gesellschaft macht. Konkret heißt das etwa: Weil Menschen zur Vergemeinschaftung in Gruppen und zur Konstruktion von Gruppengrenzen und Stereotypen gegenüber Fremden neigen, sind die daraus resultierenden, für moderne Massengesellschaften immer virulenter werdenden Problem nicht ohne weiteres zu lösen. Sozialkonstruktivisten haben in diesem Punkt ganz Recht: Die Antworten – die guten wie die schlechten – auf diese Herausforderungen liegen in kulturellen Konstruktionen, in diskursiv vermittelten Narrativen. Die radikalen erkenntnistheoretischen Konstruktivisten unter ihnen irren aber, wenn sie daraus folgern, die menschliche Natur sei unbestimmt und nur von Kultur geformt. Wie hier ganz deutlich wurde, ist die Conditio humana stattdessen inhaltlich bestimmt, und der Möglichkeits-

642 Zur Komplexitätstheorie siehe einführend S. 72 ff.

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raum menschlicher Verhaltensflexibilität ist aus physiologischen und psychologischen Gründen systematisch begrenzt und verregelt. Daraus folgen nicht-arbiträre Vorbedingungen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung – also von der nachhaltigen Produktion von kollektivem Sozialkapital auf verschiedenen Organisationsebenen des Sozialen.

5.3 Implikationen: Neue Perspektiven auf etablierte Kategorien Die evolutionär-anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie hat nicht nur eine von den Ursachen ausgehende Typologie zutage gefördert, sondern auch viele Ansatzpunkte für Lösungen bestehender Problemen der theoretischen und empirischen Forschung. Im Folgenden gilt es deshalb, noch einmal pointiert aufzuzeigen, welche Konsequenzen sich aus der evolutionären Analyse für die Konzeptualisierung verschiedener Aspekte, Dimensionen und Ebenen von Sozialkapital ergeben. Im Zuge muss es um Ansatzpunkte für eine grundsätzliche Revision von grundlegenden Konzepten wie Rationalität und Sozialisation ebenso gehen wie um neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem. So wird auch sichtbar, wo zukünftige interdisziplinäre Theorieintegration über das hier Zusammengetragene hinausgehen kann und muss – in der Sozialkapitalforschung ebenso wie in anderen Teilen der Sozialwissenschaften.

5.3.1 Soziale Netzwerke: Vergemeinschaftung, Zusammenhalt und Ähnlichkeit Sowohl in Mikro- als auch in Makrotheorien des Sozialkapitals sind soziale Netzwerke die zentrale Kategorie. Schließlich geht es in ihnen allen um nichts anderes als Handlungs- und Zielerreichungspotentiale, die für Individuen und Kollektive aus sozialer Vernetzung ergeben. Einzig Bourdieu geht mit seiner stärkeren Betonung der Rolle sozialer Gruppen konzeptionell einen anders akzentuierten Weg.643 In all diesen Ansätzen wird jedoch die menschliche Fähigkeit zur Ausbildung komplexer Beziehungsnetzwerke, zur Gruppenbildung, zum Teilen von Informationen und materiellen Ressourcen in diesen sozialen Zusammenhängen sowie

643 Zur Rolle von sozialen Netzwerken in der Sozialkapitaltheorie siehe zusammenfassend S. 173 ff.

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zur arbeitsteiligen und sogar gemeinsinnigen Kollaboration unhinterfragt vorausgesetzt. Dabei ist gerade diese menschliche Ultrasozialität höchst erklärungsbedürftig. Und aus dem Verständnis der erstaunlichen Tatsache, dass Menschen – anders als die meisten anderen Tiere – im Laufe ihrer Stammesgeschichte all diese Fähigkeiten ausbildeten, leiten sich einige grundsätzliche Implikationen für die Weiterentwicklung der Sozialkapitaltheorie ab. Insbesondere führt die handlungstheoretische Mikrofundierung in evolutionären Kooperationstheorien drei Dinge vor Augen. Erstens verstellt eine allzu starke Festlegung auf eine netzwerktheoretische Perspektive den Blick auf die besondere Rolle von Gruppen und ihren sozial konstruierten Außengrenzen. Zweitens basiert die analytische Trennung von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital auf Annahmen, die sich als nicht sonderlich zielführend herausgestellt haben. Und drittens taugt auch das Homophilie- und erst recht das Heterophilieprinzip nur sehr bedingt als handlungstheoretische Fundierung der Sozialkapitaltheorie. Die Ambivalenz der Vergemeinschaftung: Netzwerke und Gruppen Menschen haben sowohl – evolutionär ältere – Dispositionen für egoistisches und nepotistisches Verhalten, als auch – stammesgeschichtlich jüngere – prosoziale Neigungen. Diese Einsicht fängt eine Alltagsintuition auf, die in der Sozialkapitaltheorie bisher überhaupt keine Rolle spielt: Der Widerstreit zwischen den beiden Polen, die in der Moralphilosophie „Tugend“ und „Sünde“ heißen, zwischen rücksichtslos egoistischem und gemeinsinnigem Handeln, ist Ergebnis der Evolution der Spezies Mensch (Wilson 2013). Die natürliche Selektion hat schon immer die Verbreitung von solchen Merkmalen begünstigt, die für Individuen und ihre Verwandten nützlich waren. Später, und seltener, förderte der Selektionsdruck der Zwischengruppenkonkurrenz aber auch die Ausbreitung uneigennütziger und dezidiert kollektivistischer Verhaltensdispositionen. Aus evolutionär-anthropologischer Sicht sollten deshalb soziale Gruppen stärker in den Fokus der Sozialkapitaldebatte rücken. Beziehungen zwischen Menschen nur als mehr oder weniger verdichtete Netzwerke zu modellieren, greift zu kurz. Über Jahrmillionen lebten Menschen in nach heutigen Maßstäben sehr überschaubaren Gruppen von etwa 150 Personen. Zur Natur des Menschen gehören psychologische Anpassungen an diese Lebensbedingungen. Die hier vorgestellte evolutionstheoretische Perspektive rückt einschlägige klassische sozialpsychologische Experimente in ein neues Licht: das Robber’s-Cave-Experiment, Experimente zum autokinetischen Effekt, das Stanford-Prison-Experiment – oder auch „Die Welle“ von Morton Rhue. Sie und viele weitere Befunde deuten darauf

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hin, dass verdichtete soziale Vernetzungsstrukturen mindestens zum Teil das Ergebnis eines grundlegenden menschlichen Bedürfnisses nach der Verortung in einer Gruppe und der Abgrenzung dieser Gruppe nach außen sind. Diese kognitive Kartierung der sozialen Welt in „Wir und die Anderen“ ist individueller, bewusster Rationalität noch vorgelagert. Das von Netzwerktheoretikern postulierte Homophilie-Prinzip ebenso wie das in den Sozialwissenschaften ohnehin weit verbreitete (aber in der Sozialkapitaldebatte unterrepräsentierte) Wissen um die Relevanz von Freund-Feind-Deutungsroutinen haben im Grunde eine solide handlungstheoretische Basis, müssen also nicht länger erfahrungswissenschaftliche Beobachtungen bleiben. Zumindest in der von Bourdieus Sozialkapitaltheorie angeleiteten Forschung wird die Rolle von Gruppen und ihren gemeinsamen Identitäten für die gemeinsame Erlangung komparativer Vorteile bereits gewürdigt. Durch evolutionär-anthropologische Fundierung erfahren Bourdieus proximate Erklärungen jedoch eine differenzierende theoretische Einbettung in einen ultimaten Erklärungsansatz. In Gruppenbildungsprozessen liegen die Kausalmechanismen, die bindendes Sozialkapital hervorbringen. Menschliche Neigungen und Verhaltensdispositionen, welche die Schließung und Verdichtung von sozialen Netzwerken – also: die Formierung sozialer Gruppen – begünstigen, dürften ihren Ursprung im Selektionsdruck auf der Gruppenebene genommen haben: Weil kohärente Gruppen so viel erfolgreicher agieren konnten als opportunistische Solitäre, wurden psychologische Mechanismen evolutionär bevorteilt, die den Zusammenhalt und die kollektive Handlungsfähigkeit der eigenen moralischen Gemeinschaft herzustellen halfen.644 Sie sind geprägt von einem „Dualismus der Ethik“ (Kulischer 1885). Dieses Zusammenspiel aus konfliktminimierender und kräftebündelnder Binnenmoral einerseits sowie teils aggressiver Abgrenzung, Fremdenhass und Intoleranz andererseits ist in der Sozialtheorie bestens bekannt. Die evolutionäre Analyse hat aufgezeigt, wie tief es in die Natur des Menschen eingeschrieben ist: Beide Seiten der Medaille, sind Teil eines vorreflexiven adaptiven Problemlösungsmechanismus einer in Sozialverbänden lebenden Spezies, welche die Vorteile des Gruppenlebens gegen Trittbrettfahren und Unterwanderungsversuche schützen muss – oder besser: in der Vergangenheit offenkundig erfolgreich geschützt hat. Dass diese Mechanismen großenteils vorbewusst ablaufen, zeigt sich schon daran, welch großen emotionalen Stellenwert soziale Anerkennung für Menschen hat:645 So wird Ausgrenzung ebenso leidvoll empfunden wie physischer Schmerz. 644 Zur Rolle von moralischer Gemeinschaft in der menschlichen Stammesgeschichte siehe S. 346 ff. 645 Zu einschlägigen Befunden siehe S. 362 ff.

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Außerdem passen Menschen ihre individuellen Weltsichten an soziale Konstruktionen einer Gruppe an – und zwar schon ganz unbemerkt auf der Ebene von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Der Grund dafür liegt darin, dass kulturelle „Wissens“-Bestände allem Anschein nach in der menschlichen Stammesgeschichte die Funktion übernahmen, als kulturelle Marker die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft anzeigbar zu machen, in der geteilte Normen für Erwartungssicherheit sorgen. Soziale Kohäsion wird folglich durch die Konstruktion und Aufrechterhaltung von gemeinsamen Wissensbeständen und Deutungsroutinen begünstigt. Für eine „Gruppe an sich“ ist es deshalb nützlich, wenn sie auch zu einer „Gruppe für sich“ wird – also ein „kollektives Bewusstsein“, eine kollektive Identität erlangt. Dies ist ohnehin eine klassische Einsicht der Soziologie (siehe etwa Durkheim 1895/1984; Habermas 2001; Marx 1872/2008; Merton 1949/1968; Rosa 1998).646 Mit der Freilegung der ultimaten Ursachen erfährt sie eine psychologische Mikrofundierung. Die gemeinschaftlich-konstruktive Ausrichtung von „geteilter Intentionalität“ (Tomasello 2010b) macht die Herstellung eines gemeinsamen Sinnzusammenhanges nötig (Berger und Luckmann 1969; Habermas 2009), also einer gemeinsam bewohnten soziokognitiven Nische. Einmal erfolgreich – darin liegt das anthropologisch begründete Dilemma der Vergemeinschaftung – verstetigen sich solche kulturellen Nischen selbst durch konformistische Verzerrungen sozialen Lernens, und zwar auch unabhängig von der sachlichen Angemessenheit ihrer Leitwerte und Ideologien. Der ultimate Grund dafür liegt augenscheinlich in der Notwendigkeit der Stabilisierung kollektiver Handlungsfähigkeit durch die kulturelle Markierung von Gruppengrenzen in den Jäger-undSammler-Gemeinschaften unserer Vorfahren. Bourdieu hat folglich völlig zurecht auf die Rolle von Ritualisierungen und Symbolisierungen für Sozialkapital in Gruppen hingewiesen: Die Konstruktion von Gruppengrenzen über kulturelle Artefakte legt auch den Wirkungsbereich vieler Arten von Sozialkapital fest. Ein Anfangsvorteil von Sprache und Kultur könnte genau darin gelegen haben – und nicht etwa (nur) in der von ihr begünstigten Fähigkeit zum rationalen Diskurs.647 Das Ritual, die mit dem Kollektiv synchronisierte Selbstüberschreitung, gehört zu den in der Stammesgeschichte wahrscheinlich zentralen Quellen von kollektivem Sozialkapital in Gruppen (Haidt et al. 2008). Diese evolutionstheoretische Betrachtungsweise eröffnet neue Antworten auf offene Fragen in der Sozialkapitaldebatte. Gerade die „dunkle Seite“ von Sozial646 Die Formulierung ist angelehnt an Karl Marx’ Unterscheidung von einer „Klasse an sich“ und einer „Klasse für sich“. Siehe zu kulturellen Markern auch S. 367 f. sowie S. 405 f. 647 Zur Funktion von Sprache siehe auch S. 280 samt der Fußnote 367.

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kapital (vgl. Portes 2014) ist nun theoretisch schlüssig und ohne argumentative Verrenkungen erfasst. Es ist kein Widerspruch, dass Sozialkapital etwas „Gutes“ und etwas „Schlechtes“ sein kann. Es ist auch nichts Rätselhaftes oder analytisch Unklares daran. Die Fähigkeit zu Sozialkapitalbildung, zur Investition in soziale Beziehungen macht ebenso die Fähigkeit zur Sicherung dieser Investitionen vor Trittbrettfahrern nötig. Anhand der kausalen Mechanik solchen bindenden Sozialkapitals lässt sich auch etwas darüber lernen, wovon abhängt, ob sich Gesellschaften erfolgreich über einzelne Gruppen integrieren und vernetzen können, wie also brückenbildendes Sozialkapital induziert werden kann. Die Wurzeln des Zusammenhalts: Brückenbildendes und bindendes Sozialkapital Belastbare Brücken zwischen gesellschaftlichen Teilsegmenten werden sich bilden, wenn sich die Angehörigen dieser Gruppen als Teile eines größeren Ganzen begreifen. In diesem Sinne brückenbildendes Sozialkapital ist also letztlich nichts anderes als bindendes Sozialkapital auf einer höheren Organisationsebene sozialer Wirklichkeit.648 Wie sich nämlich gezeigt hat, laufen die meisten kausalen Mechanismen hinter Sozialkapitalbildung auf die Schließung sozialer Netzwerke hinaus, auf die Verdichtung von Beziehungsgeflechten innerhalb von Gruppengrenzen. Selbst kollektives Sozialkapital, welches gutes Regieren und Zusammen-Leben ermöglichen oder wenigstens begünstigen soll, ist aus individualpsychologischer Sicht stets exklusiv. Es speist sich zu einem Gutteil aus Diskriminierung zwischen Fremd- und Eigengruppe. Die evolutionäre Perspektive macht auch klar, warum das so ist: Gemeinsinnige Prosozialität hat in der Stammesgeschichte den Zweck erfüllt, die eigene Familie oder die eigene Gruppe zu bevorteilen. Proximat richtet es sich deshalb auf jene, die als Familie oder Eigengruppe wahrgenommen werden. Nicht, weil Menschen solchen evolutionär-adaptiven Kalkülen bewusst folgen würden, sondern weil unser Nervensystem ein Produkt der Anpassung an diese Szenarien ist. Brückenbildendes Sozialkapital, wie es von Netzwerktheoretikern des Sozialkapitals konzeptualisiert wird, wurzelt hingegen in egoistischem Opportunismus. In Lins und Burts Theorien sind es rationale Individuen, die als Makler zwischen strukturellen Löchern agieren, um individuelle Dividenden abzuschöpfen – und

648 Zu reziprokem bzw. kompetitiven Altruismus bei Menschen siehe S. 243 ff. bzw. S. 276 ff., vgl. zu egoistischem Opportunismus in sozialpsychologischen Experimenten zur Eigengruppenbevorzugung ferner S. 365 f.

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so Brücken zwischen gesellschaftlichen Teilgruppen schlagen.649 Das Streben nach dem Aufgehen in einer kulturellen Gruppenidentität kann dazu motivatorisch nichts beitragen. Vielmehr braucht solches Sozialkapital individuelle Offenheit für Neues und Andersartiges sowie einen „gesunden Egoismus“ von Individuen gegenüber ihrer Gruppe. Und tatsächlich sind Menschen – wenig überraschend – zu solcher individualistischen Prosozialität in der Lage, nämlich in der Form von reziprokem und kompetitivem Altruismus. Beide aber basieren mitnichten einfach auf ökonomischer Rationalität.650 Individueller Opportunismus ist aber gerade nicht die Lösung für jene Probleme, die brückenbildendes Sozialkapital abzumildern helfen soll: mangelnde kollektive Handlungsfähigkeit, gesellschaftliche Desintegration, Vereinzelung – in klassisch sozialtheoretischer Diktion: Anomie (Durkheim 1895/1984; Merton 1949/1968). Denn ohne übergreifenden Verständigungsrahmen ist soziale Interaktion stets bedroht von Missverständnissen, Stereotypen und nicht rationaler, sondern emotional empfundener Skepsis, die sich aus wahrgenommenen Gruppengrenzen und Ressourcenkonflikten ausrichtet. Hierin liegt ein weiteres Argument gegen die in der Sozialkapitalforschung verbreitete Modellierung von Gesellschaft als ein Netzwerk rationaler Nutzenmaximierer. Die Befunde aus den Life Sciences zeigen klar, dass der Schlüssel zur Lösung von kollektiven Handlungsdilemmata in der Konstruktion bis in emotionale Tiefenschichten hinein anschlussfähiger Sinnzusammenhänge liegt, also in der Konstruktion einer überwölbenden kulturellen Nische. Brückenbildendes Sozialkapital rundheraus als etwas Gutes anzusehen, greift deshalb analytisch zu kurz. Wahr ist freilich, dass die egoistisch motivierte Überbrückung struktureller Löcher den Informationsfluss verbessert und so die Diffusion von kulturellen Mustern fördert, die zur Grundlage von kollektivem Sozialkapital werden können. Geteilte Wissensbestände und Deutungsroutinen ermöglichen es Menschen in Myriaden von Alltagssituationen, sich auf gemeinsame Situationsdefinitionen zu verständigen und sich so als Teil eines Gemeinwesens, einer moralischen Gemeinschaft wahrzunehmen. Erst auf dieser Grundlage lässt sich geteilte Intentionalität effektiv auf gemeinsame Ziele ausrichten. Dann aber ist brückenbildendes eigentlich bindendes Sozialkapital, das den Bewohnern dieser spezifischen kulturellen Zwischenwelten exklusiv vorbehalten bleibt. Keinesfalls sollte daher pauschal mit brückenbildendem Sozialkapital etwas Gutes und mit bindendem etwas Schlechtes im Zusammenhang mit sozialer Kohäsion und gesellschaftlicher Integration verbunden werden. Es ließe sich sogar

649 Zu Sozialkapital als Netzwerkressource siehe S. 156 ff. 650 Siehe zu dyadischem Sozialkapital S. 422 ff.

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für einen umgekehrten Zusammenhang argumentieren: Diese Zustände lassen sich am effektivsten über kollektives bzw. pseudo-nepotistisches Sozialkapital herstellen; und das bleibt stets an bestimmte kulturelle Gruppen gebunden. Das aus reziprokem Altruismus und Handicap-Altruismus erwachsende Sozialkapital wiederum bildet Brücken zwischen Gemeinschaften. Seine motivatorischen Grundlagen bleiben aber individualistisch-opportunistisch, lassen sich also nicht ohne weiteres „generalisieren“. Es findet seine Grenzen zudem ebenfalls an Gräben zwischen kulturellen Welten, basiert also auf viel weitreichenderen Voraussetzungen als reiner ökonomischer Rationalität. Insgesamt ist die Nützlichkeit der Typologie „brückenbildend“ und „bindend“ grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Denn dieselben Mechanismen, die zur Spaltung von Gesellschaften beitragen, können sie auch einen. Wer Sozialkapital als an sich brückenbildend oder bindend ansieht, erliegt der Versuchung, ein komplexes Prozessmuster zu verdinglichen. Dabei geraten die entscheidenden Kausalketten aus dem Blick. Ausweislich der hier diskutierten Befunde liegen die Ansatzpunkte für die Herstellung sozialer Kohäsion nämlich quer zu dieser Typologie. So braucht es gesellschaftlichen Pluralismus, der verregelte Konfliktaustragung ebenso ermöglicht wie „dezentrale Integration“ in gesellschaftlichen Teilgruppen. Der Systemübergang hin zu einer Gesellschaft wird sich aber nur stabilisieren, wenn die Gruppenkonkurrenz von praktizierten Fairnessnormen und als gerecht empfundener Umverteilung abgefedert wird. Außerdem werden sich die Individuen nur also faktische Profiteure eines gemeinsamen Projektes erleben, wenn sie jenes in überwölbende Sinnzusammenhänge eingebettet sehen, die sich ihnen nicht nur rational, sondern auch intuitiv und emotional erschließen. Die Rolle von Ähnlichkeit: Homophilie und Heterophilie Homophilie- und Heterophilie-Prinzip gehören zu den handlungstheoretischen Grundlagen der Netzwerktheorien des Sozialkapitals etwa von Burt und Lin. Der theoretische Gehalt und explanatorische Wert dieser Konzepte ist allerdings denkbar gering.651 Mit Homophilie ist das rekursiv gedachte Zusammenfinden von Menschen gemeint, die einander ähnlich sind und durch dauerhafte Interaktion noch ähnlicher werden. Heterophilie bezeichnet die Beobachtung, dass Menschen eben nicht nur mit Ähnlichen interagieren, sondern durchaus heterogene Beziehungsnetzwerke pflegen. Wie im Zuge der ultimaten Analyse der menschlichen Sozialität deutlich geworden ist, handelt es sich hier erneut um von Sozialwissen-

651 Siehe dazu S. 160 f. und S. 196.

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schaftlern ganz richtig Erkanntes. Mithilfe der evolutionären Anthropologie lässt es sich aber differenzierter beschreiben – und vor allem: stichhaltig erklären. Tatsächlich neigen Menschen ganz unterbewusst dazu, sich mit kulturell ähnlichen Menschen einzulassen. Diese proximate Homophilie hat einen manifesten ultimaten Hintergrund. Kulturelle Ähnlichkeit ist schlicht ein effektives Mittel, die indirekte Dividende von Prosozialität innerhalb von Netzwerken routinemäßiger Prosozialität gegen andere Gruppen und Trittbrettfahrer abzusichern. Denn kulturelle Marker wie Rituale, symbolische Repräsentationen sowie geteilte Ideologien sind ziemlich fälschungssichere Indizien für die Zugehörigkeit zur gleichen moralischen Gemeinschaft und für geteilte normative Standards. Ähnlichkeit schon im Hinblick auf völlig vernachlässigbare Merkmale macht deshalb – ceteris paribus – den Aufbau einer Beziehung zwischen Menschen ebenso wahrscheinlicher wie die Akquisition von Sozialkapital aus sozialen Beziehungen. Weil genau dieser Zusammenhang in der Stammesgeschichte unserer ultrasozialen Spezies den individuellen Überlegens- und Reproduktionserfolg maßgeblich beeinflusste, ist menschliche Informationsverarbeitung stark auf die Konformität mit der eigenen Gruppenidentität ausgerichtet. Bis hinab auf die Ebene basaler Wahrnehmung, aber auch bei der vermeintlich rationalen Interpretation objektiver Fakten zeigen sich entsprechende Verzerrungen. Dazu passt auch, dass die psychologischen Mechanismen sozialen Lernens strukturellen Konformismus bei der Weitergabe kultureller Informationen bewirken. Auf diese Weise verstetigt und verstärkt sich die Ähnlichkeit innerhalb einer Gruppe.652 Abgesehen von Strukturimplikationen, die sich aus gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Ballungen in Siedlungsmustern ergeben, ist es also nicht so, dass nur von vornherein einander ähnliche Menschen miteinander interagierten oder die Interaktion nachträglich dazu führte, dass Menschen einander ähnlicher würden. Vielmehr machen Menschen sich einander ähnlich – und zwar durch einen Konformitätsdruck, den sie gleichzeitig antizipieren und rekonstruieren. Es gibt innerhalb von Gruppen einen Drift hin zu einer Art ideologischer Schließung, denn kulturelle Konformität sichert „Wir-Intentionalität“ (Tomasello 2010b) und befriedigt das tief liegende Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Selbstüberschreitung. In solchen „wir“-bezogenen Teil-Öffentlichkeiten synchronisieren sich individuelle Lebenswelten und setzen so Potentiale zur Kollaboration, zur gemeinschaftlichen Zielerreichung frei.

652 Siehe zu einschlägigen Wahrnehmungsverzerrungen S. 366 f. sowie S. 372 ff. Speziell zu den evolutionären Hintergründen des strukturellen Konformismus siehe S. 326 f. (Theorie) und S. 377 f. (Empirie). Natürlich bewirkt dieser Konformismus auch die Bewahrung von kulturellen Mustern, die sich als nützlich herausgestellt haben.

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Wie schon ausgeführt wurde, ist der Preis dafür eine Abschottung gegenüber fremdartigen kulturellen Markern und den sie tragenden Menschen. Unter den Bedingungen der offenen Konkurrenz von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften war das eine nützliche Konvention. Für Gesellschaften, in denen Weltoffenheit und Toleranz – also: Heterophilie – wichtige Leitwerte sind, bedeutet es ein inhärentes, weil tief in der menschlichen Sozialität wurzelndes und deshalb nicht ohne weiteres zu lösendes Problem. Heterophilie ist für die Sozialkapitaltheorie nur als Gegenstück zur Homophilie, als Nicht-Homophilie, relevant. Sie lässt sich nämlich zufriedenstellend auf Kooperation als opportunistisch-individualistische Fitnessmaximierungsstrategie zurückführen, wie sie der reziproke Altruismus und der Handicap-Altruismus darstellen. Menschen kooperieren eben nicht nur mit kulturell Ähnlichen. Denn auch darauf gibt es eine Dividende. Sie kann im Bezug neuer kultureller Informationen, sonst schwer zu beziehender Ressourcen und Dienstleistungen sowie in Kontakt zu potentiellen Fortpflanzungspartnern liegen – kurzum: in den Vorteilen des freien Marktes, des Tausches und der Reziprozität. Dies jedenfalls ist der im Vergleich zur Homophilie viel trivialere ultimate Hintergrund von sogenannter Heterophilie. Sonderlichen analytischen Mehrwert hat der Begriff deshalb nicht.653 Aber auch das Konzept der Homophilie blieb mit seiner Verengung auf die proximaten Faktoren der Vergemeinschaftung bisher theoretisch unterspezifiziert. Die im klassischen Text von Lazarsfeld und Merton (1954) angemahnte psychologische Mikrofundierung liegt jetzt zwar in Gestalt ultimater Erklärungen der Entstehung sozialer Konformität vor. Allerdings offenbaren jene auch, dass der mit dem Begriff bezeichnete Effekt durchaus sehr vielschichtige Gründe hat, deren differenzierte Analyse durch die Zusammenfassung in einer solchen Globalkategorie möglicherweise eher erschwert wird. Jedenfalls bietet das Homophilie-Prinzip ohne theoretische Revision keine robuste handlungstheoretische Grundlage von Sozialkapitaltheorien.

653 Sicher lässt sich der Begriff unter Rückgriff auf Forschung zu menschlicher Neugier noch theoretisch aufwerten. Bei einer auf die Evolution von Kooperation fokussierten anthropologischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie bringt er aber keinen erkennbaren Mehrwert.

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5.3.2 Werte und Normen: Evolvierte Apriori und soziale Konstruktionen Dass Menschen normative Überzeugungen miteinander teilen, gilt als ein wichtiger Aspekt von Sozialkapital. Besonders in Makrotheorien des Sozialkapitals in der Tradition von Putnam und Fukuyama spielen gemeinsame Werte und Normen eine zentrale Rolle bei der Überwindung kollektiver Handlungsdilemmata. Aber auch in Mikrotheorien wie der von Coleman wird betont, dass geteilte Normen und Werte individuelle Zielerreichung begünstigen, weil sie in sozialen Interaktionen als Referenzrahmen dienen und so die Transaktionskosten von Kooperation senken. Auch für Bourdieu ist die Institutionalisierung von handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten, und damit eben auch von Werten und Normen, ein wichtiges Mittel für die Absicherung der komparativen Vorteile einer Gruppe. Bei Coleman und Putnam – und in der Folge auch in der aktuellen Sozialkapitalforschung – wird ferner davon ausgegangen, dass die Verbreitung ganz bestimmter normativer Überzeugungen individuelle und/oder kollektive Zielverwirklichung begünstigen, nämlich dezidiert gemeinsinnige Werte sowie Normen der Gegenseitigkeit.654 Noch nicht gut verstanden ist jedoch die Interaktion von kultureller und struktureller Dimension, in welchem kausalen Zusammenhang also soziale Normen auf der Makroebene mit den tatsächlichen Beziehungsgefügen auf der Mikroebene stehen.655 Auch ist unklar, ob die Geltung von Werten und Normen eine Vorbedingung oder Folge von Sozialkapital ist – oder dem Phänomen selbst zuzurechnen ist. Hinter alldem steht grundlegende Unklarheit über die Kausalmechanismen bei der Befolgung von Normen. Zwar werden zur Erklärung egoistische Rationalität sowie die Internalisierung von Normen durch Sozialisation und Enkulturation herangezogen, jedoch sind beide Ansätze ebenso wenig empirisch robust wie ihre Amalgamierung in dem verbreiteten behavioristisch-ökonomistischen Verhaltensmodell. Die evolutionäre Perspektive erhellt sowohl diese Funktionslogik der Befolgung von Normen, als auch liefert sie überraschende Hinweise auf die Herkunft von Werten. Aus der ganz kulturalistischen Warte der Sozialwissenschaften sind Werte und Normen reine soziale Konstruktionen, die in kulturell kontingenter Weise in Netzwerken emergieren. Tatsächlich aber haben sie – ebenso wie Präferenzordnungen – eine lange Naturgeschichte. Denn schon die grundlegenden Interaktionen eines Organismus mit der Welt etwa im Hinblick auf basale Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme, Schutz und Fortpflanzung basieren auf Wer654 Zur Rolle von Werten und Normen in der Sozialkapitaltheorie siehe S. 176 ff. 655 Vgl. dazu S. 168 f.

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tehierarchien, auf evolvierenden Annahmen über adaptiven Wert – also darüber, was gut und was schlecht ist. Erst recht spiegeln sich in positiven und negativen Emotionen und Intuitionen solche impliziten normativen Apriori.656 Moralische Gefühle: Emotionen und Intuitionen als inhärente Werte Anhand der Befundlage aus den humanwissenschaftlichen Naturwissenschaften ist klargeworden, dass die Einhaltung von Normen von einem ganzen Repertoire psychologischer Mechanismen vorbewusst reguliert wird. Insbesondere soziale Emotionen (wie Scham, Schuld, Stolz, Angst, Ärger und Neid) sind wichtige Triebkräfte menschlicher Kommunikation und sozialen Handelns – und zwar sowohl für jene, die sie empfinden, also auch jene, die sie bei anderen beobachten. Emotionen gehören nämlich ebenso zu den menschlichen Universalien wie deren zuverlässige Erkennung (Ekman und Friesen 1971; Ekman 1980). Ihre proximate Ursache sind evolvierte moralische Intuitionen, ihre Folge sind Handlungsentscheidungen – im Falle von Sozialkapital etwa im Hinblick auf Kollaboration, Unterstützung oder die Durchsetzung sozialer Normen. Solche moralischen Gefühle überlagern rationales Denken nicht nur. Sie erbringen vielmehr die Funktion einer Filterung der prinzipiell verfügbaren Handlungsoptionen sowie eine Gewichtung rational prozessierbarer – also im Wortsinne „als denkbar empfundener“ – sozialer Informationen (Damasio 2010; Haidt 2013). So werden Konsequenzen des eigenen sozialen Handelns prospektiv emotional bewertet. Die Angst vor und die leidvolle Erfahrung von Reputationsverlust und Ostrazismus sind von Menschen gleichermaßen manifest erlebte und deshalb handlungsleitende Zustände: Sie schlagen sich – mal bewusst geworden, mal ganz unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle – als „Bauchgefühl“ in Entscheidungen nieder.657 Soziales Handeln ist a priori wertgebunden. Zur Konstitution des Menschen gehört es, soziale – und freilich auch andere – Informationen normativ aufzuladen. Diese Wertbindung ist jedoch keine philosophisch-vernünftige, sondern eine biologisch-implizite: Über Emotionen teilt sich dem Gehirn der adaptive bzw. biologische Wert mit, den ein ausgeführtes oder nur vorgestelltes Verhalten für Vor-

656 Zur evolutionären Tiefenstruktur von normativen Bewertungen siehe S. 98 f., zur hier einschlägigen evolutionären Erkenntnistheorie vgl. außerdem S. 62 ff. 657 Nicht nur ist also das menschliche Gehirn ein dezidiert soziales Organ, evolutionär angepasst an die adaptiven Probleme des Lebens in Sozialverbänden. An den Prozessen der Handlungsgenerierung sind auch andere Teile des Organismus ganz grundsätzlicher Weise beteiligt. Zum Gehirn als sozialem Organ siehe mit weiteren Verweisen S. 247 und S. 344.

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fahren in der evolutionären Vergangenheit hatte (Damasio 2011: 57 ff.; Damasio und Carvalho 2013: 145). Sie sind tief verwurzelte Selbstschutzmechanismen, die den Organismus vor den Folgekosten unangemessenem (Sozial-)Verhaltens bewahren sollen. Sie entstehen in Hirnarealen, die evolutionär älter sind als jene Bereiche, welche für die höheren Hirnfunktionen zuständig sind.658 Diese Wertbindung kann folglich keine nur kulturell induzierte sein. Der vorbewusste Wertmaßstab liegt in evolvierten moralischen Intuitionen, die als adaptive Lösungen für Probleme des Gruppenlebens zu verstehen sind. Menschen verfügen über angeborene normative Kategorien in Bezug auf Loyalität, Respekt, Reinheit, Fürsorge und Fairness. Der adaptive Wert solcher Intuitionen, ihre evolutionäre Nützlichkeit, besteht in dem in ihnen geborgenen impliziten Wissen über fitnessmaximierende Strategien in konkreten moralischen Domänen (Haidt 2007, 2013): Es waren solche Menschengruppen bevorteilt, deren Mitglieder auf ein gerechtes Miteinander bedacht waren (Fairness), sich in der Not umeinander kümmerten (Fürsorge), zu kollaborativem Handeln in der Lage waren (Loyalität), stabile Ordnung aufrechterhalten konnten (Respekt) und Krankheitserreger mieden (Reinheit).659 Im Hinblick auf die Hervorbringung von Sozialkapital sind vor allem die anthropologischen Vorbedingungen von Normen der Gegenseitigkeit und der Kooperation von besonderer Bedeutung. Eine Reihe von spezialisierten kognitiven Modulen sind an deren vorreflexiver Umsetzung beteiligt. Alvin Gouldners theoretische Intuition, nach der Reziprozitätsnormen zur Natur des Menschen gehören, hat sich demnach als zutreffend herausgestellt:660 Menschen verfügen Menschen über einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Fairness in kollaborativen Unternehmungen. Dessen Wurzeln lassen sich zwar bis zu anderen Primaten zurückverfolgen, sind also nicht einfach sozial konstruiert. Die extreme Ausformung als regelrechtes „Egalitarismus-Syndrom“ (Boehm 1993; vgl. Gavrilets 2012) ist so aber nur bei Menschen zu beobachten. Bei der Etablierung und Stabilisierung solcher Gerechtigkeit und Erwartungssicherheit spielen moralistische Aggressionen eine wichtige Rolle. Menschen ärgern sich über Personen, die Reziprozitätsnormen aus egoistischen Motiven brechen und „missbräuchlich“ mit eigener Dominanz umgehen.661 Solche Emp658 Vgl. dazu S. 89 ff. 659 Siehe zu moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen grundsätzlich S. 282 ff. Die im Folgenden referierten, stark kondensierten Einsichten gehen aus der Gesamtschau jener breiten Befundlage hervor, die in den empirischen Teilen der Kapitel 4.3 bis 4.5. geborgen ist. Siehe vor allem S 243 ff., 270 ff. und 346 ff. 660 Vgl. dazu mit weiteren Verweisen S. 424 f. 661 Das Wort „missbräuchlich“ ist in Anführungszeichen zu setzen, weil Dominanzhierarchien als Lösung für Organisationsprobleme unter sozialen Tieren die Regel sind, der mensch-

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findungen motivieren nicht nur egoistisches, sondern auch altruistisches Bestrafen. Sie sind also die Grundlage der Bereitschaft, unter Inkaufnahme eigener Kosten Normverletzungen zu sanktionieren. Überhaupt widmen Menschen sozialen Regelbrechern besondere Aufmerksamkeit und merken sich ihre Gesichter besonders gut. Überhaupt erschließen sich die kausalen Mechanismen hinter dem In-GeltungHalten von Normen in evolutionärer Perspektive besser als zuvor. Zwar hat sich gezeigt, dass gerade die Sozial(kapital)theorie von Coleman der anthropologischen Mikrofundierung im Wesentlichen standhält. Er hat die Stabilisierung sozialer Ordnung durch glaubhaftes soziales oder juristisches Sanktionspotential, also durch soziale Kontrolle und Institutionen, treffend beschrieben. Nun allerdings lässt sich das Beschriebene auch auf der Grundlage konsistenter und robuster Annahmen zur Natur des Menschen erklären.662 Einsichten zu HandicapAltruismus, indirekter Reziprozität und modellbasierter kultureller Transmission machen etwa deutlich, welche elementare ultimate Funktionen soziales Prestige erfüllt – und wieso es deshalb in menschlichen Gesellschaften eine so wichtige proximate Bedeutung erlangen konnte.663 Die Sorge um soziale Reputation bzw. Anerkennung – bei Bourdieu und Cole­ man gleichermaßen zentral für die Hervorbringung von Sozialkapital – basiert nämlich auf evolutionär sehr alten Wurzeln. Schon bei anderen Primaten sind Anzeichen davon zu erkennen. Und Menschen veranlasst schon das ganz irrationale Gefühl, beobachtet zu werden, zu gemeinsinnigem und normenkonformem Verhalten, wo egoistische Nutzenmaximierung eine unter rationalen Gesichtspunkten gefahrlose Strategie hinsichtlich der eigenen sozialen Reputation wäre. Auch das offenbar tief verwurzelte Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe wirkt disziplinierend auf Individuen. Es beeinflusst sogar die Wahrnehmung empirischer Sachverhalte sowie das logische Denken – und verleitet dazu, die eigene Weltsicht an die jener Menschen anzugleichen, zu denen sie sich zugehörig fühlen möchten. Soziale Kontrolle im Hinblick auf Normenkonformität kann demnach eine Resultante der Interaktion vorbewusster kognitiver Module sein, ohne dass es kulturelle Artefakte dafür bräuchte. Auch Vernunft und Reflexivität spielen keine exponierte Rolle. Vielmehr wirken moralische Intuitionen sowie soziale Emotionen

liche Egalitarismus hingegen eine erklärungsbedürftige Ausnahme bleibt. Dass der Tatbe­ stand der Missbräuchlichkeit dennoch den meisten Menschen unmittelbar einleuchtet, speist sich aus der entsprechenden moralischen Intuition. 662 Zu Colemans handlungstheoretischen Grundlagen vgl. S. 136 ff. 663 Zu Rolle von Reputation siehe S. 254 ff. (Theorie) sowie u. a. S. 266 f., S.  273, S. 277 ff. und S. 360 (Empirie).

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disziplinierend und handlungsmotivierend. Körperliche Zustände informieren Menschen über eine inhärente Bewertung, die sich aus dem Abgleich von eigenen Handlungen und Plänen mit erlernten oder angeborenen normativen Standards ergibt. Das Zusammenwirken dieser psychosozialen Prozessketten hat in den Jägerund-Sammlergruppen unserer Vorfahren – anders als in den Sozialverbänden anderer Primaten – augenscheinlich zur Herausbildung eines überwachten Egalitarismus geführt (Boehm 1993, 2001). Der Geltungsbereich der in ihnen geltenden handlungsleitenden normativen Selbstverständlichkeiten beschränkte sich aber auf die eigene moralische Gemeinschaft. Sozial konstruierte kulturelle Nischen mögen also nicht der ursprüngliche Herkunftsort von Normen und Werten sein. Sie sind aber dennoch ein zentraler Faktor für die Stabilisierung geteilter normativer Erwartungen, der im Folgenden noch näher zu beleuchten sein wird.664 Auf der Basis jenes Rationalitätsbegriffs, der in der Sozialkapitaltheorie dominiert, können all diese Zusammenhänge handlungstheoretisch nur unzureichend abgebildet werden. Weder wird die neoklassische Annahme der ökono­ misch rationalen Wahl der Empirie gerecht, noch die Subsummierung von vermeintlich „irrationalen“ Entscheidungsheuristiken in der opaken psychologischen Residualkategorie der konsumatorischen, im Wesentlichen also ansozialisierten Motivationen.665 Die Rationalität hinter den psychischen Heuristiken im Zusammenhang der Befolgung und Durchsetzung von Normen ist keine ökonomische, sondern eine adaptive. Ein wichtiger Antrieb dabei ist offenkundig, negative Emotionen zu vermeiden und positive herbeizuführen. Wohlgemerkt sind „negativ“ und „positiv“ keine bloßen kulturellen Zuschreibungen auf Basis sozialer Konstruktionen, denn dass sich Schmerz, Scham oder Schuld schlecht anfühlen, ist eine unhintergehbare Realität. Vielmehr sind Emotionen selbst implizite Werturteile, die nicht nur in ihrer Konditionalität (gut/schlecht), sondern auch inhaltlich bestimmt und dabei jedem sozialen Konstruktionsprozess noch vorgelagert sind.666

664 Siehe zum Egalitarismus in moralischen Gemeinschaften S. 346 ff. Zu dem hier einschlägigen Anschlussdiskurs zur Legitimität von Herrschaft und Herrschaft in sozialen Gruppen vgl. S. 503 ff. 665 Zur Unterscheidung von instrumentellen, also zielerreichenden, und konsumatorischen, also „selbstzweckhaften“ Handlungsmotivationen siehe S. 158 f. sowie S. 178 f. Zur poli­ tikwissenschaftlichen Relevanz einer theoretischen Revision des Verhältnisses von Ratio und Emotio siehe S. 476 ff. sowie exemplarisch McDermott (2004) und Petersen (2015). 666 Auch in den Sozialwissenschaften gab es Bestrebungen, „letzte Werte“ zu bestimmen (Parsons 1960; Rokeach 1973). Die hier vorgestellten Ansätze sind jenen aber überlegen, weil sie nicht nur aus vielen verschiedenen Disziplinen empirische Unterstützung erfahren, sondern auch in einen wesentlich konsistenteren theoretischen Rahmen eingebettet sind – nämlich

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Menschen teilen also „von Natur aus“ Werte in Bezug auf angemessenes Sozialverhalten. Diese Werte konkretisieren sich schon individualpsychologisch in spezifischen normativen Erwartungen. Die für die Sozialkapitalforschung relevante Frage ist also nicht, ob Menschen die gleichen Werte und Normen teilen. Gerade Kooperations- und Konformitätsnormen gehören ohnehin in Gestalt von Intuitionen und Emotionen zur Natur aller Menschen, die nicht unter bestimmten Hirnstörungen leiden. Vielmehr hängt die Stabilisierung von Regelsystemen davon ab, ob Menschen diesen intuitiven moralischen Konsens auch als real empfinden und für ihre spezifischen sozialen Interaktionen als relevant erachten, weil sie sich mit ihren Interaktionspartnern in einem gemeinsamen Sinn- (nicht: Werte-) Zusammenhang verorten. Pfadabhängige Konstruktionen: Gesellschaftliche Normen und Institutionen Diese Einsichten in die Natur der Werte eröffnen neue Perspektiven auf die Genese von gesellschaftlichen Normen sowie deren Gerinnen in sozialen und politischen Institutionen. In den Sozialwissenschaften werden diese Phänomene üblicherweise als kulturell kontingent angesehen. Normative Verhaltensregulierung geschieht aber (auch) schon unterhalb rationaler Willensakte kulturell determinierter Akteure, lässt sich also mit einem behavioristisch-ökonomistischen Menschenbild nicht überzeugend modellieren. Überhaupt sind Normen nicht nur ‚top-down‘ durch Enkulturation zu internalisierende oder gegenüber rationalen Akteuren durch entsprechende Anreize extern zu stabilisierende soziale Konstrukte. Menschen müssen dem Grunde nach zu Fairness und Gerechtigkeit nicht durch soziale Institutionen erzogen oder gezwungen werden. Sie „wissen“ um die moralischen Implikationen ihres Verhaltens zumindest in kleinräumigen sozialen Zusammenhängen, die den in der Stammgeschichte relevanten Szenarien ähneln. Sehr wohl aber liegt eine Herausforderung darin, die für den sozialen Nahraum intuitiv plausible Gültigkeit von Normen auf große Gemeinwesen wie moderne Massengesellschaften oder kulturelle Konstrukte wie Institutionen auszuweiten. Es ist davon auszugehen, dass dabei kausale Prozesse eine Rolle spielen, die ‚bottom-up‘ verlaufen. In der Natur des Menschen liegende normative Apriori werden augenscheinlich dergestalt in Kultur externalisiert, dass angeborene Bewertungsheuristiken auf kulturelle Regeln durchschlagen. Erfolgreiche soziale jenen der erweiterten Synthese der Evolutionstheorie. Zumindest jedenfalls gibt es keinen triftigen Grund, sich bei der Diskussion um Werte nur auf sozialwissenschaftliche Klassiker zu stützen.

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Normensysteme sind nämlich so konstruiert, dass sie an diese Prädispositionen effektiv anschließen. Sie tun dies einesteils, wenn sie individualpsychologisch saliente Umweltinformationen zur Verfügung stellen – etwa im Hinblick auf die Domänen evolvierter moralischer Intuitionen. Andernteils gelingt es mithilfe effektiver Institutionen, evolvierte konditionale Strategien in Richtung von adaptiven Ergebnissen zu lenken – wie etwa einem Systemübergang hin zur Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung.667 Weil für die Stabilisierung eines solchen Übergangs die Binnenkonkurrenz eingehegt werden muss, ist des Weiteren nicht verwunderlich, dass adaptive kulturelle Zwischenwelten fitnessrelevante Konflikte verregeln – um Paarung und Fortpflanzung, Vererbung und Ressourcenverteilung sowie im Zusammenhang mit Dilemmata kollektiven Handelns und andere (vgl. Masters 2007). Genau von dieser Notwendigkeit der Berücksichtigung der Eigenlogik evolvierter konditionaler Strategien rührt die erstaunliche Kongruenz von Moralkodizes über viele Gesellschaften hinweg. Soziale und politische Institutionen sind also nicht nur kulturhistorisch-pfadabhängige Konstrukte. Sie sind es auch in einem naturhistorischen Sinne: Wesen mit anderen normativen Prädispositionen bringen andere Formen der Sozialorganisation hervorbringen. Komplexitätstheoretisch und mithin abstrakter formuliert: Die Beschaffenheit emergenter komplexer Systeme hängt stets von ihren Ausgangsbedingungen ab – und zwar ganz zentral von den Eigenschaften ihrer Mikroelemente.668 Wieder tritt hier der ontologische Status von Sozialkapital als prozessualem Dispositiv deutlich zutage.669 Es besteht auch im Falle von Werten und Normen nicht aus konkreten Dingen – weder aus irgendwelchen bestimmten kulturellen Figurationen noch aus den evolvierten normativen Heuristiken unserer Spezies. Vielmehr bringen letztere psychosoziale Prozesse in Gang, die soziale Beziehungen zu wertvollen Ressourcen werden lassen, weil sich aus ihnen ein Handlungs- und Zielerreichungspotential für Individuen wie Kollektive ergeben kann. Katalysatoren dieser Prozessketten sind auch jene innerhalb von Gemeinwesen geltenden und durchgesetzten Konformitäts- und Kooperationsnormen, die prosoziales oder gar gemeinsinniges Handeln wahrscheinlicher machen. Ob diese Funktion wirklich erbracht werden können, hängt davon ab, ob sie menschliche Gehirne tatsächlich zu solchen Handlungsentscheidungen bewegen. Neben glaubhaftem Sanktionspotential ist dabei von zentraler Bedeutung, dass es einen gemeinsamen 667 Vgl. S. 447 ff. 668 Zum Zusammenspiel von evolvierter Moralität und gesellschaftlicher Moral siehe S. 346 ff. sowie S. 387ff; zum komplexitätstheoretischen Hintergrundargument siehe grundlegend S. 72 ff. und im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt S. 332 ff. sowie S. 400 ff. 669 Siehe dazu S. 414.

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Sinnkontext gibt, der die individuellen normativen Intuitionen zueinander in Beziehung setzt, sie gleichsam synchronisiert. Wie schon mehrfach betont, ist also neben der Normen- auch die Wissenskomponente von kulturellen Mustern wichtig für die Erschließung von Sozialkapital. Geteilte kulturelle Wissensbestände, gemeinsame Vorstellungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, übernehmen die Funktion von kulturellen Markern und legen so die Grenzen des Geltungsbereichs von sozialem Kapital mit fest. Diese Dimension wird freilich nur dann spür- und beobachtbar, wenn sie schwindet – und Menschen mangels geteilter Wissensbestände gar nicht in geteilte Sinnzusammenhänge eintreten können, die ihnen Koordination oder gar geteilte Intentionalität in Bezug auf nicht einfach nonverbal kommunizierbare Ziele ermöglicht. Zusammenfassend ist für den Zusammenhang von struktureller und kultureller Dimension von Sozialkapital festzuhalten: Kulturell konstruierte Nischen müssen zu den angeborenen Dispositionen ihrer Bewohner passen. Nicht jedes im Prinzip denkbare Normen- und Institutionengefüge würde mit menschlichen Nervensystemen in zweckmäßiger Weise interagieren.670 Nur wenn eine solche Passung vorliegt und dergestalt ein sich selbst stabilisierender Wechselwirkungsprozess entsteht, befördern kulturelle Konstruktionen interindividuelle und allgemeine Kooperationspotentiale. Dann und nur dann werden Institutionen – selbst nichts anderes als stabilisierte soziale Prozesse (Patzelt 2003; Lempp 2007) – zu Ermöglichungsfaktoren einer Prozesskette, die auf der sozialen Mikroebene zu normenbasiertem und auf der Makroebene zu kollektivem Sozialkapital wird. Eine dergestalt evolutionär-anthropologisch fundierte Konzeptualisierung hilft bei der Überwindung von ethnozentrischen Verzerrungen in der Sozialkapitalforschung. Diese sehr allgemeine Theorieperspektive erlaubt die Rekonstruktion von Prozessen der Herstellung von Normenkonformität und in der Folge auch von kollektiver Handlungsfähigkeit gleichsam „von unten her“, ansetzend nicht einmal erst bei begründeten Annahmen über psychologische Universalien, sondern herkommend von der Erhellung dieser Regelmäßigkeiten mit biologischen Erklärungen, welche in der gesamten belebten Natur gelten. Ein solcher Forschungsansatz ist viel weniger anfällig für die Einschleusung normativer Prämissen darüber, was eine „gute“ Ordnung ist. Die politikwissenschaftliche Analyse von Sozialkapital muss so nicht länger nur auf informelle und institutiona-

670 Um es an einem abwegigen Beispiel ganz klar zu machen: Schuld und Schande wird man niemals zu positiven Emotionen „ummünzen“ können. Folglich wären solche Normensysteme ohne praktische Relevanz und Funktionalität, die etwa im Anhäufen von Schande ein erstrebenswertes Ziel sähen. Vielmehr wurden in der Kulturgeschichte schändliche Unternehmungen stets mit einiger Mühe so umgedeutet, dass sie nicht mehr als moralisch verurteilenswert erschienen.

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lisierte Normengefüge beschränkt bleiben, die „positive“ Effekte in dem Sinne haben, dass sie der Performanz westlicher Demokratien zuträglich sind. Vielmehr lassen sich so auch kulturell ganz unterschiedliche Ausformungen derselben universellen moralischen Tiefenstruktur erfassen – und somit sehr verschiedene Erscheinungsformen von Sozialkapital. Kulturelle Variabilität ist eben nur die Oberflächenstruktur menschlicher Sozialität. Sie verdankt sich konditionaler Verhaltensflexibilität, unterschiedlichen „Konstruktionsanforderungen“ von kulturellen Nischen unter verschiedenen ökologischen Bedingungen und sicher auch manchem Zufall. Eine wichtige Grundbedingung dafür, dass solche kulturellen Nischen nachhaltig stabile soziale Ordnung hervorbringen, ist aber für alle Kulturen identisch: die evolvierte Natur des Kultur- und Normenwesens Homo sapiens.

5.3.3 Sozialisation und Habitusformierung: Kulturwesen von Natur aus Im Zusammenhang mit Werten und Normen verdient der Prozess der Sozialisation nicht nur aus Sicht vieler Sozialkapitalforscher besondere Aufmerksamkeit. Denn es ist ja nicht so, als wären alle kulturellen Normen schon genetisch fixiert. Das Gegenteil ist der Fall: Tatsächlich finden wir in menschlichen Kulturen eine unüberschaubare Variabilität von Regelwerken. Und offensichtlich können jene ohne größere Schwierigkeiten von nachwachsenden Menschen erlernt werden, gelingt also die Transmission kontingenter kultureller Muster über Generationen hinweg. Die evolutionäre Analyse von Sozialisationsprozessen ist, wie sich gezeigt hat, nicht einfach biologisch-reduktionistisch oder gen-deterministisch (Gintis et al. 2009: 616). Vielmehr enthüllt sie jene „Meta-Regelhaftigkeit“, mit der menschliche Lebenszyklen ablaufen und mit der im Zuge dessen Normen, Werte, Wissensbestände und Deutungsroutinen internalisiert werden (Kaplan und Gange­ stad 2005; Voland und Störmer 2014). Die Sozialkapitaldebatte profitiert davon in Form von Theoriebausteinen und Argumenten, die das Verhältnis von kulturellen Figurationen und individuellen Handlungsentscheidungen über Anreizbasierung und kulturelle Determination hinaus erhellen. So wird klarer, in welches Kausalgeflecht die Verbreitung von Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen eingebettet ist – wie sich also die Bourdieusche Habitusformierung konkret vollzieht. Im engeren Sinne ist das für die Sozialkapitalforschung insbesondere im Hinblick auf Kooperations- und Konformitätsnormen sowie gemeinsinnige Werte relevant. Darüber hinaus aber lassen sich auf dieser Grundlage die Ansatzpunkte von Bildungs- und Erziehungs-

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politiken besser erkennen, mit deren Hilfe politisch-kulturell schädliche Effekte von Individualisierung und Partikularisierung in modernen Gesellschaften aufgefangen werden sollen (vgl. dazu Beck 1986; Habermas 2013; Rosa 1998). Das aber ist ohnehin ein bedeutender normativer Impetus der Sozialkapitaltheorien nicht nur von Putnam und Coleman, sondern auch von Bourdieu. Aktive Welterschließung: Sozialisation als vorbereiteter Prozess Die Sozialkapitaltheorie bedient sich bisher im Wesentlichen eines behavioristischen Sozialisationsmodells. Zwar wird kaum explizit auf Sozialisationstheorien rekurriert. Jedoch wird immer dort auf eine „Internalisierung von Normen“ durch Enkulturation bzw. Sozialisation verwiesen, wo menschliches Handeln nicht mit instrumenteller Nutzenmaximierung zu erklären ist. Wie genau diese Internalisierung aber abläuft, bleibt ganz opak. Häufig finden sich immerhin Verweise auf Homans. Jener aber war – wie Coleman selbst – ein Anhänger der behavioristischen Lerntheorie, die in positiver und negativer Verstärkung die einzig relevanten Mechanismen von Sozialisation sah und längst als überholt gilt.671 Die modernen Lebenswissenschaften können inzwischen ein wesentlich klareres Bild von Sozialisationsprozessen zeichnen, als es nicht nur der Sozialkapitaltheorie, sondern überhaupt den meisten sozialwissenschaftlichen Sozialisationsmodellen zugrunde liegt (Scheunpflug 2015). Sie kann das deshalb, weil sie offene Fragen stellt, auf die in den Sozialwissenschaften prämissenhafte Antworten verbreitet sind, die weitgehend unhinterfragt bleiben – nämlich die nach den ultimaten Gründen von proximaten Phänomenen. Ganz grundsätzlich ist schon das Phänomen der Kindheit selbst erklärungsbedürftig, in der sich besonders folgenreiche Enkulturations- und Sozialisationsprozesse ereignen. Auf den ersten Blick ist eine unfruchtbare Phase evolutionär hinderlich, bringt sie den Organismus doch um unmittelbare reproduktive Möglichkeiten. Dennoch gibt es das Phänomen bei vielen Spezies. Der menschliche Lebenszyklus zeichnet sich zudem durch eine besonders lange Kindheit aus, was seinerseits nach einer Erklärung verlangt. Kindheit ergibt biologisch erst „Sinn“, wenn man sie als eine evolvierte Reaktion von verhaltensflexiblen Phänotypen auf die Notwendigkeit begreift, sich in dynamische soziale und natürliche Nischen „einzupassen“. Ihr adaptiver Nutzen liegt darin, den Organismus gleichsam in einer Trainingsphase für den Ernst des Lebens auf die Anforderungen der reproduktiven Phase vorzubereiten. Die be671 Zu Norminternalisierung im Zusammenhang mit Sozialkapital siehe S 176 ff., zu Homans siehe S. 161 f.

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sonders lange Kindheit des Menschen ist also eine Anpassung an elaborierte soziale Strukturen und vielgestaltige kulturelle Nischen. Wenn jene aber so tiefe evolutionäre Spuren hinterlassen haben können, dann scheint das Hineinwachsen in komplexe soziale und kulturelle Umwelten weit über die dokumentierte Kulturgeschichte hinaus in der Stammesgeschichte eine entscheidende Rolle gespielt zu haben.672 Der Prozess dieses Hineinwachsens basiert demzufolge auf genetischen Grundlagen, welche diese Flexibilität erst ermöglichen. Sozialisation „passiert“ also nicht einfach, sondern wird von den heranwachsenden Individuen aktiv betrieben. Die Struktur dieser Welterschließungsvorgänge verdankt sich vergangenen Selektions­prozessen, in denen sich bestimmte Aufmerksamkeitsverzerrungen und Entscheidungsregeln als fitnessmaximierend herausgestellt haben. Deshalb basieren Lernen und Sozialisation auf einer von der Beschaffenheit und der Funktionsweise des Gehirns bedingten Vorbereitetheit (‚preparedness‘) zum Aufnehmen und Lernen spezifischer und eben längst nicht aller beliebigen Arten von Informationen.673 Sozialisation ist also weder vollkommen offen noch nur von Kultur geprägt, sondern eine Interaktion von Genen und Umwelt auf der Basis von evolvierten konditionalen Strategien. Mit Blick auf die handlungstheoretischen Grundlagen von Sozialkapital ist besonders die Entwicklung des Bindungs- und Sozialverhaltens als Grundlage der Ausbildung sozialer Beziehungsnetzwerke wichtig. Dass frühe Bindungserfahrungen die Persönlichkeitsentwicklung prägen, gilt als trivial. Und tatsächlich ziehen Kinder aus frühen Bindungserfahrungen unterbewusst Schlüsse darüber, welche Art des Bindungs- und Reproduktionsverhaltens später erfolgreich sein könnte. So neigen Menschen, die in ihrer Kindheit Stress und unsicheren Bindungen ausgesetzt waren, später zu instabilen und kurzfristigen Beziehungen, während jene zu stabilen Beziehungen neigen, welche die Welt als sicheren und berechenbaren Ort kennengelernt haben. Unter mehreren verfügbaren (nicht aber unter beliebig vielen) adaptiven Strategien wird die angesichts einschlägiger Umweltinformationen jeweils angemessen erscheinende aktiviert.674 In Kombination mit den konformistischen Mechanismen der kulturellen Transmission durch soziales Lernen können sich so regelrechte Beziehungs- und Risikokulturen etablieren, die pfadabhängig von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das ist wohl einer der Gründe, warum sich Staaten und erst 672 Siehe dazu und zum Folgenden S. 379 ff. 673 Zu den Befunden siehe S. 379 f. und dort vor allem die Fußnote 515. 674 Noch einmal: Natürlich verrechnen die Kinder diese evolutionären Fitnessbilanzen nicht tatsächlich. Vielmehr arbeiten in ihnen konditionale Heuristiken, die von der Evolution so geformt wurden, dass sie zu diesem Ergebnis kommen. Vgl. dazu S. 92 ff.

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recht Demokratien nicht einfach stabilisieren lassen, wo dafür die gesellschaftlichen Grundlagen schon auf der Mikroebene fehlen. So bedürfen robuste soziale Netzwerke, aus denen Normenkonformität und kollektives Handeln emergieren können, eines längerfristigen Bindungsverhaltens. Traumatische Großereignisse wie Naturkatastrophen, Kriege oder Mangelperioden, aber auch von falschen anthropologischen Annahmen ausgehende Paradigmen der Kindererziehung können das grundsätzlich unterminieren. Und auch die Herstellung von rechtsstaatlicher Erwartungssicherheit muss längst nicht verfangen, wo Menschen mit der tiefsitzenden Erwartung struktureller Unsicherheit aufwachsen.675 In dieser Perspektive ist der von Coleman diagnostizierte negative Effekt des Erodierens primordialer Sozialorganisation nicht einfach ein kultureller Wandel mit sozialen Konsequenzen. Vielmehr ist er eine Konsequenz der sich wandelnden Interaktionseffekte zwischen dynamischen soziale Umwelten und evolvierten Gehirnen, die mit ziemlich unflexiblen konditionalen Strategien ausgestattet sind. Wo starke Familienbande und religiöse Strukturen für Kontingenzreduktion und Erwartungssicherheit im Kleinen sorgen, sollten sich – ceteris paribus – langfristig stabilere soziale Netzwerke auch im Großen zeigen. Und auch über den Spezialfall der Colemanschen Sozialkapitaltheorie hinaus ist solches Wissen unentbehrlich, um die Struktur sozialer Netzwerke besser zu verstehen. So liegt in der Klärung der Frage, wovon abhängt, ob Menschen eher starke oder schwache Bindungen aufbauen, die handlungstheoretische Anschlussstelle an Granovetters Theorie der ‚weak ties‘, auf die sich Coleman und Putnam ebenso stützen wie Burt und Lin. Kein Mängelwesen: Kulturfähigkeit als adaptive Strategie Die Enkulturation hinein in bestehende gesellschaftliche Normensysteme ist ein Schlüsselprozess im Zusammenhang mit der stammesgeschichtlichen Hervorbringung der menschlichen Ultrasozialität (Richerson und Boyd 2009b), die doch gerade durch das Leben in moralischen Gemeinschaften gekennzeichnet ist. Weil Gene und Kultur einander im Laufe der Evolution rekursiv bedingt und geformt haben, ist es wenig überraschend, dass Menschen heute für das Lernen von sozialen Regeln vorbereitet zur Welt kommen – und dass auch die Prozesse des Lernens

675 Diese Argumente mögen denen von Siegmund Freud (vgl. LeCroy 2000) und der modernen Psychoanalyse ähneln. Im Unterschied zu jenen werden sie aber durch die Evolutionstheorie in den größeren Zusammenhang von Gen-Umwelt-Interaktionen, phänotypischer Plastizität und epigenetischer Informationsweitergabe gestellt.

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und Imitierens dieser Konventionen von evolvierten psychologischen Mechanismen strukturiert werden.676 Anhand der menschlichen Ontogenese lässt sich die Phylogenese des „Normenwesens Mensch“ bis heute nachvollziehen (vgl. Tomasello und Vaish 2013).677 Die Entwicklung der individuellen Sozialisationsfähigkeit eines Kindes scheint nämlich genau auf jenem Weg zu verlaufen, den die Evolution der menschlichen Sozialität selbst genommen hat: von zunächst mutualistischer Gegenseitigkeit über opportunistisch-individualistische Kooperationsstrategien hin zu gruppenund kulturbezogenem sozialen Handeln. Dabei bauten die jeweiligen evolutionären Entwicklungsstufen – ganz wie in der ontogenetischen Entwicklung – stets auf den vorherigen und auf noch älteren auf. Schon sehr früh im Leben zeigen Kinder Interesse an kulturell konstruierten Kooperations- und Konformitäts-Normen. Mit noch nicht einmal zwei Jahren entwickeln sie intrinsische Motivationen zur Implementierung von interpersonellen Normen für Kollaboration, Helfen, Reziprozität und später auch für Fairness und Verteilungsgerechtigkeit. Im Alter von etwa drei Jahren beginnen Kinder, Normen als objektive Standards zu begreifen, die überindividuell gelten – und beteiligen sich fortan auch dann an der Durchsetzung dieser Regeln, wenn ihnen aus deren Verletzung kein Nachteil entsteht. Ferner setzen sie die Gültigkeit von Normen mit Gruppenzugehörigkeit in Beziehung. Und mit etwa fünf Jahren beginnen soziale Emotionen wie Scham und Schuld dafür zu sorgen, dass sich Kinder selbst auch normenkonform verhalten. Spätestens mit Herausbildung eines solchen sozialen Gewissens sind alle Fähigkeiten vorhanden, um sich in einer kulturellen Zwischenwelt aus konstruierten Normen zurechtzufinden und mithin als kompetentes Mitglied einer moralischen Gemeinschaft aufzutreten. An dieser Stelle beginnt dann jene Habitusformierung, deren Vollzug – wie Bourdieu ganz anschlussfähig an die evolutionstheoretische Perspektive feststellt – Zugriff auf Sozialkapital ermöglicht. Die dafür nötige Anerkennung in der jeweiligen Gruppe speist sich schließlich genau aus all diesen basalen Fähigkeiten: aus der Erfüllung von Gegenseitigkeitsnormen, der Beherrschung gerade auch der informellen Regeln und Gepflogenheiten einer Gruppe inklusive der jeweils spezifischen Symbole und Rituale. Gehlen (1940/2009) hatte recht, als er schrieb, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen; aber er irrte mit der Rede vom Mängelwesen. Menschen müssen sich nicht mit Kultur behelfen, weil sie nicht gut an ihre Umwelt angepasst 676 Zum sozialen Lernen siehe S. 322 ff. (Theorie) sowie S. 372 ff. (Empirie). Zur Empirie der Gen-Kultur-Koevolution und der menschlichen Ultrasozialität siehe ferner das Kapitel 4.5.2.3 ab S. 340. 677 Hierzu und zu den folgenden Befunden siehe S. 353 ff.

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ist. Vielmehr ist Kultur ja gerade eine überaus effektive Anpassung an dynamische Umwelten. Sie ermöglicht es, Selektionsdrücke aus der natürlichen Umwelt mit einer Zwischenwelt aus Kultur abzupuffern und besonders flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Mit ihrer Hilfe vermögen Menschen in ansonsten lebensfeindliche Nischen vorzudringen und performante kollektive Entitäten zu formieren. All diese Vorteile können aber nur zum Tragen kommen, wenn bestehende Konventionen zuverlässig tradiert werden. Und kollektive Handlungsfähigkeit hängt in besonderer Weise davon ab, wie hier gezeigt wurde. Die evolvierte menschliche Fähigkeit, sich in bestehende Normengefüge einzupassen, ist deshalb ein ganz wesentlicher Bestandteil des Gesamtkomplexes „Kultur“ als einer adaptiven Zwischenwelt.678 Weil also die von Gehlen diagnostizierte Plastizität und Weltoffenheit eine evolvierte Anpassungsleistung ist, darf sie nicht mit Unbestimmtheit oder Entbundenheit von Instinkten gleichgesetzt werden. An dieser Stelle irrten die Klassiker der philosophischen Anthropologie in für den sozialwissenschaftlichen Sozialisationsbegriff folgenreicher Weise.679 Vorzuwerfen ist es ihnen freilich nicht, denn schließlich haben sich erst in den letzten Jahrzehnten die Befundlagen zur Interaktion von Genen und Umwelt – und das ist Sozialisation im Kern – zu einem konsistenten Bild verdichtet (Pigliucci 2009; Lange 2012). Allerdings ist es deshalb heute nicht weniger unangebracht, das Menschenbild des Homo sociologicus zur Grundlage von Sozialtheorien zu machen. Sozialisation ist ein Prozess aktiver Welterschließung auf der Basis von auf angebbaren epigenetischen Regeln basierender Modifikabilität. Das betrifft sowohl das Erlernen und Ausüben angemessenen Bindungsverhaltens als auch die Erschließung und Tradierung kulturell konstruierter Normensysteme. Auch in Sozialkapitaltheorien darf Norminternalisierung deshalb nicht länger als ein passiver und allein durch Kultur und Verstärkung gesteuerter Vorgang angesehen werden, wie das in all jenen Ansätzen der Fall ist, die auf behavioristischen Tauschtheorien (v. a. von Homans und Blau) oder kulturanthropologischen Prämissen (z. B. von Malinowski, Lévi-Strauss oder Mauss) aufbauen. Für Bourdieu gilt aber das letztere, für Coleman das erstere – und auch alle anderen hier untersuchten Sozialkapitaltheorien gehen bisher keine grundsätzlich anderen Wege.

678 Zum Konzept der kulturellen Zwischenwelt und zur dahinterliegenden Theorie der Nischenkonstruktion siehe S. 318 ff., für empirische Befunde vgl. S. 333 ff. 679 Dies geschah wohlgemerkt in der besten Absicht gerade von Gehlen, die Erkenntnisse von Charles Darwin zu berücksichtigen (Illies 2009: 42 f.; Rehberg 2008).

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5.3.4 Rationalität und Präferenzen: Das Gehirn als adaptiver Werkzeugkasten Die zweite den meisten Ansätzen zugrundeliegende anthropologische Prämisse ist die der ökonomisch-rationalen Nutzenmaximierung. Auch sie hat sich als weder theoretisch überzeugend noch empirisch robust erwiesen. Menschliche Entscheidungsfindung basiert nicht auf einem einzigen Algorithmus oder einer über alle Szenarien hinweg identischen Präferenzordnung. Vielmehr ist das Gehirn ein funktional ausdifferenziertes Organ mit jeweils domänenspezifischen Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungsheuristiken (Tooby und Cosmides 1992b). Weil Gehirn und Körper sich evolutionär an das Gruppenleben angepasst haben, ist insbesondere soziales Handeln gerade nicht von genuin ökonomischen Rationalitäten geprägt (Dunbar 1998; Dunbar und Shultz 2007). Auch ist klar geworden, dass Rationalität und Emotionalität keine voneinander ge­ trennten Dimensionen menschlicher Informationsverarbeitung sind (Damasio 2010).680 Evolutionär-psychologische und soziobiologische Theoriebestände liefern die integrierenden Metaperspektiven auf diese Befunde. Sie bilden deshalb den geeigneten Ausgangspunkt für eine Revision des Rationalitätsbegriffs und die Formulierung einer Handlungstheorie der Kooperation, die als robuste Grundlage der Sozialkapitaltheorie besser taugt als das derzeit vorherrschende behavioristisch-ökonomistische Menschenbild. Die ökonomische Rational-ChoiceTheorie hat durch die „Zwangsehe“ mit behavioristischen Theoremen ihren klaren Fokus auf genuin ökonomische Nutzenmaximierung ohnehin längst eingebüßt.681 Das Problem: Allzu vage Annahmen über menschliche Rationalität Vor dem Hintergrund der evolutionären und empirischen Analyse menschlichen Sozialverhaltens im letzten Kapitel steht die zu bewältigende Problemstruktur umso klarer vor Augen. Wie die Befundlage deutlich zeigt, gerät die methodologische Modellannahme ökonomisch nutzenmaximierender Akteure bei der Erklärung insbesondere von individuellem Sozialverhalten schnell an ihre Grenzen. Kaum Abhilfe verschafft die Erweiterung des Modells um das Konzept der kon-

680 Siehe zu alldem S. 86 ff. 681 Vgl. hierzu und zum Folgenden grundlegend S. 46 f. sowie S. 48 ff., zusammenfassend im Hinblick auf die Sozialkapitaltheorie zudem S. 190 ff.

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sumatorischen Motivationen.682 Diese gerade in der Sozialkapitaltheorie prominent zutage tretende behavioristische Psychologisierung des Konzepts ist nicht nur empirisch kaum überzeugender. Sie hat zudem den modelltheoretischen Nutzen der klaren, komplexitätsreduzierenden Prämisse des Homo oeconomicus weitgehend nivelliert. Auf ihrer Grundlage lässt sich nämlich im Grunde jegliches Verhalten als rational behandeln. Alle empirisch beobachtbaren Motivationen, die sich nicht auf ökonomische Nützlichkeitserwägungen zurückführen lassen, werden als „konsumatorisch“ typisiert und so einer vagen psychologischen Residualkategorie zusammengefasst: Streben nach Identität, sozialer Gruppenzugehörigkeit, Anerkennung, positives Selbstwertgefühl – vor allem aber die „irrationale“ Befolgung von Normen. Damit ist der Konflikt zwischen der theoretischen Annahme individueller Nutzenmaximierung einerseits und sich empirisch mannigfach ereignender Prosozialität sowie Gemeinsinnigkeit andererseits nur unbefriedigend aufgelöst. Denn wo rühren solche Handlungsmotivationen her, warum also existieren sie und wie funktionieren sie ? Die in der Sozialkapitalforschung verbreitete Antwort lautet: Sie gelangen durch Norminternalisierungsprozesse in menschliche Präferenzordnungen und lassen Individuen in der Folge instrumentell irrationale Ziele als erstrebenswert erscheinen. Zwar wird schon deutlich, dass dabei offenbar Sozialisationsprozesse und Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Die kausale Mechanik bleibt letztlich dennoch völlig unklar oder wird ganz behavioristisch konzeptualisiert: als ein Aufprägen von Kultur auf eine leere Tafel (‚tabula rasa‘) durch positive und negative Verstärkung. So erweiterte sich das Rational-Choice-Konzept um Elemente des Homo-sociologicus-Verhaltensmodells; und mit diesen behavioristischen Vorstellungen der menschlichen Psyche wurden anthropologische Vorstellungen dauerhaft handlungstheoretisch fixiert, die inzwischen längst als überholt gelten. Diese nur scheinbar elegante Hilfskonstruktion bedeutet nicht weniger als ein Abrücken von genau jenen Annahmen, welche den Kern des Rational-ChoiceKonzeptes ausmachen. Rationalität ist so nämlich nichts klar Umrissenes mehr, sondern ein offenbar beliebig verformbarer Entscheidungsalgorithmus. Konsu­ matorischen Präferenzen in eine ganz proximat bleibende Handlungstheorie zu integrieren, mag es erlauben, nicht-ökonomische Handlungsmotivationen mit einem utilitaristischen Verhaltensmodell abzubilden. Das geschieht aber um den Preis der methodologischen Konsistenz: Dieser behavioristische Ökonomismus gibt einen Großteil seines nomothetischen und universellen Anspruchs auf und

682 Zur Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Motivationen vgl. S. 158 f. sowie S. 178 f.

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verliert genau jene Sparsamkeit und Eleganz, auf die zu seiner Verteidigung immer wieder verwiesen wird. Zu einer empirisch robusten handlungstheoretischen Mikrofundierung haben diese konzeptionellen Aufweichungen jedenfalls wenig beigetragen.683 Schon bei Coleman sind die problematischen Konsequenzen zu besichtigen. Zwar nutzt er die Dichotomie instrumenteller und konsumatorischer Motivationen nicht explizit. Implizit ist sie allerdings konzeptionell angelegt; auch die behavioristische Mikrofundierung ist die gleiche: Neben ökonomischer Rationalität führt Coleman prosoziale und gemeinsinnige Handlungen auf internalisierte Normen (Coleman 1994: 292 ff.) sowie auf einen – hinsichtlich der Ursachen und Konsequenzen nicht näher spezifizierten – „starken Drang“ und „Eifer“ (Coleman 1994: 273) zurück.684 Problematisch ist nun das theoretische Paradoxon, in das diese Handlungstheorie führt. Einesteils führt sie über spieltheoretische Überlegungen hin zu der Feststellung, dass die Interaktion von rationalen Akteuren unter den Bedingungen imperfekter Informationen in Dilemmata kollektiven Handelns führt, Kooperation also erschwert (Hardin 1968; Olson 1968). Als Nebenprodukt menschlichen Sozialverhaltens emergiert laut Coleman mit Sozialkapital aber zugleich ein Kollektivgut in sozialen Beziehungsnetzwerken, das kollektives Handeln gerade erleichtert. Individuelles Handeln ist in diesem Modell also die Ursache sowohl für die Entstehung von Kooperationsdilemmata als auch für deren Überwindung, ohne dass dieser Widerspruch irgendwie aufgelöst würde. Auch Putnam bietet keine Lösung für diese theoretische Problemlage an, sondern baut auf Colemans Argumenten auf. Für neoklassische Netzwerktheoretiker wie Lin und Burt stellen sich solche logischen Probleme nur bedingt. Für sie ist Sozialkapital ohnehin nur eine relationale Ressource auf der Mikroebene, die Eigenschaften eines Kollektivguts spielen eine untergeordnete Rolle. Auch diese Mikrotheorien des Sozialkapitals basieren jedoch nicht auf einer überzeugenden Handlungstheorie. So ist Lin zwar dem Rational-Choice-Modell paradigmatisch verpflichtet. Aber auch er braucht die Di-

683 Siehe zu den folgenden Ausführungen zu einzelnen Autoren der Sozialkapitaltheorie deren kritische Analyse in Kapitel 3 ab S. 123. 684 Coleman baut auf Homans’ Tauschtheorie auf. Homans (1950, 1968) plädierte für eine Fundierung soziologischer Theorien in psychologischen Wissensbeständen, fiel dabei aber selbst dem radikalen Behaviorismus von B. F. Skinner anheim. Siehe dazu S. 161. Übrigens hat Coleman selbst zugestanden, dass die Rational-Choice-Theorie bei allen methodologischen und heuristischen Vorteilen an der Wirklichkeit an vielen Stellen in systematischer Weise vorbeigeht. Allerdings dachte er dabei eben vor allem an Prozesse der Norminternalisierung. Auch noch in der heutigen sozialwissenschaftlichen Rezeption wird angesichts dieser theoretischen Probleme in einer evolutionär-anthropologischen Fundierung üblicherweise keine naheliegende Lösungsoption gesehen (vgl. Braun und Voss 2014: 89).

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chotomie von instrumentellen und konsumatorischen Zielen, um die Rationalitätsannahme durchhalten zu können. Bourdieu lehnt nicht nur neoklassische Verhaltensmodelle als Grundlage so­ zialwissenschaftlicher Theorien ab. Er versucht gar, substantielle anthropologische Prämissen mit dem Verweis auf die Historizität aller Anthropologien vollständig zu vermeiden. Jedoch gesteht er Individuen durchaus – nicht näher spezifizierte – Entscheidungsspielräume und in der menschlichen Körperlichkeit gegründete normative Dispositionen zu. Er stellt als Neomarxist ferner darauf ab, dass letztlich alle sozialen Interaktionsbeziehungen auf ökonomische Imperative zurückzuführen sind. Selbst wenn sich Bourdieu also vordergründig gegen den Ökonomismus in der Sozialtheorie verwehrt, kommt auch die von ihm angestoßene Sozialkapitalforschung nicht ohne die wenigstens implizite Annahme individueller Nutzenmaximierung aus. Damit stehen letztlich alle Sozialkapitalkonzeptionen gleichermaßen vor dem Problem, den handlungsleitenden Wert sozialer Beziehungen mit den Kategorien proximater ökonomischer Rationalität weder theoretisch überzeugend noch empirisch gesättigt abbilden zu können. Für Bourdieu gilt das freilich nur mit Einschränkungen. Aber auch seine Handlungstheorie genügt den Anforderungen einer empirisch-anthropologisch fundierten Sozialwissenschaft letztlich nicht. Der Lösungsansatz: Adaptive Rationalität als handlungstheoretische Kernkategorie Das Rationalitätskonzept ist der handlungstheoretische Dreh- und Angelpunkt der Sozialkapitalforschung. Eine theoretische Integration dieser sozialwissenschaftlichen Wissensbestände mit Erkenntnissen der evolutionären Anthropologie wird also besonders aussichtsreich sein, wenn sie genau an dieser Schnittstelle konstruktiv anzusetzen vermag. Was also ist mit dem Begriff „Rationalität“ im Kern gemeint ? Er bringt die Vorstellung zu Ausdruck, dass Menschen bewusst überlegte Entscheidungen über Handlungsalternativen entlang von bestehenden Präferenzen fällen, indem sie die ihnen auf Basis einer Kosten-Nutzen-Abwägung hinsichtlich ihrer Interessen und Neigungen am günstigsten erscheinende Option auswählen. Diese Vorstellung von Rationalität ist ganz auf der proximaten Analyseebene angesiedelt. Die Logik der Selektion von Handlungsalternativen (Esser 1999a) basiert auf unmittelbaren Wirkursachen: bei instrumentellen Handlungen auf der utilitaristischen Verrechnung von Informationen aus der Umwelt, im Falle von konsumatorischen Handlungen zusätzlich auf Sozialisationserfahrungen und emotionalen Zuständen. Dieses Modell der proximaten Rationalität verweist

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durchaus auf Relevantes: Individuelle Präferenzen, antizipierte Kosten-NutzenBilanzen, Gefühle und kulturelle sowie soziale Faktoren beeinflussen menschliches Verhalten ganz zweifellos. Wie die evolutionäre Analyse gezeigt, sind viel weniger diese Kausalhypothesen das Problem als die Annahme, der konkrete Entscheidungsalgorithmus sei stets derselbe. Tatsächlich aber variieren Präferenzordnungen ebenso zwischen verschiedenen Szenarien wie die spezifische Struktur der jeweiligen Aufmerksamkeitsverzerrungen und Informationsverarbeitungsprozesse. Der Grund dafür liegt darin, dass das Gehirn entlang von ultimaten Rationalitäten evolviert und deshalb kein Universalwerkzeug zur Lösung aller sozialen, logischen und sonstigen Probleme ist. Es ist vielmehr eine Ansammlung von jeweils bereichsspezifischen Heuristiken, die als Lösungen für ganz bestimmte evolutionäre Anpassungsprobleme entstanden sind. Die Natur des Menschen ist deshalb am besten zu verstehen als eine „adaptive Werkzeugkiste“ (‚adaptive toolbox‘) (Gigerenzer und Gaissmaier 2011: 456). Eine praktikable Handlungstheorie muss über die Funktionslogiken solcher in einer gegebenen Situation relevanten adaptiven Rationalitäten Auskunft geben (Haselton et al. 2009; Kappelhoff 2004). Dafür ist die evolutionäre Perspektive unerlässlich. Die unterschiedlichen überlebensrelevanten Problemstrukturen im Zusammenhang etwa mit Fortpflanzung, Brutpflege, Reziprozität, Kollaboration, sozialer Anerkennung und Gruppenkohäsion machten jeweils ganz bestimmte konditionale Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeiten erforderlich. Proximate Zweck- und Wertrationalität sind nur mit Blick auf diese ultimaten Praktikabilitätsanforderungen zu verstehen, entlang derer sie evolvierten. Die Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Motivationen weist deshalb in gar keine grundsätzlich falsche Richtung. Gerade in ihrer ursprünglichen Konzeptualisierung als Teil des AGIL-Schemas des Strukturalisten Parsons stehen konsumatorische Zwecke für funktionale Anforderungen, die alle Arten von Systemen um ihres Selbsterhalts und Fortbestandes willen zu erfüllen haben. Das ist eine dem Grunde nach evolutionäre Denkweise. Denn Reproduktion und Homöostase sind eben solche konsumatorischen Funktionen eines jeden Organismus. Und jede Interaktion mit der Umwelt, auch der sozialen, muss diese Ziele letztlich in irgendeiner Weise befördern. Beim Transfer in die Rational-Choice-Theorie durchlief das Konzept einen Bedeutungswandel hin zu einem heuristischen Gegenpol der Vorstellung von dezidiert ökonomischen und mithin rationalen Motivationen. Während letztere auf instrumentelle Nützlichkeiten zielten, speisten sich andere Verhaltensweisen aus der faktischen Notwendigkeit, emotionalen oder physischen Schaden zu vermeiden. Wie aber die empirisch-anthropologische Befundlage offenbart hat, spricht wenig dafür, diese binäre Unterteilung in vernunftmäßig-instrumentelle

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und selbstzweckhaft-konsumatorische Motivationen in dieser Form aufrechtzu­ erhalten. Vielmehr unterliegen Entscheidungen in verschiedenen Lebensbereichen und Szenarien jeweils spezifischen adaptiven und damit gleichsam „konsumatorisch zweckgebundenen“ Rationalitäten. Jene erschließen sich nur in evolutionärer Perspektive. So ist es unter bestimmten Bedingungen eine „ultimat rationale“ proximate Entscheidung, altruistischem Verhalten den Vorrang vor egoistischem zu geben, auch ohne jemals irgendeine Rückzahlung dafür zu erwarten. Beispielsweise kann die Verbreitung der Information über das eigene Engagement im Freiwilligendienst potentiellen Kooperationspartner als ehrlicher Hinweis auf die eigene Vertrauenswürdigkeit dienen – oder potentiellen Fortpflanzungspartner als ziemlich fälschungssicheres Signal für die eigene Bereitschaft und Fähigkeit, Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Solches Verhalten ist nicht einfach wertrational im Hinblick auf internalisierte Normen. Es entspringt auch keinem irrationalen emotionalen Eifer. Es ist vielmehr Ausfluss eines evolvierten Verhaltensprogramms, das sich in seinen Grundzügen auch bei anderen Spezies zeigt.685 Anthropologische Mikrofundierung hilft also, die hinter sozialem Handeln liegende evolutionäre Rationalität – oder besser: ultimate Funktionalität – zu entschlüsseln. Uneigennützige Verhaltensweisen haben in der Stammesgeschichte allem Anschein nach tatsächlich in der geschilderten Weise zur Fitnesssteigerung (also: zur genetischen Nutzenmaximierung) des Altruisten beigetragen. So konnte sich eine konditionale Verhaltensdisposition in der Population ausbreiten, die Menschen ohne irgendwelche proximaten Kosten-Nutzen-Kalküle und vorbei an bewussten Präferenzen dazu veranlasst, sich freigiebig und kooperativ zu verhalten – wenn sie sich beobachtet fühlen. Wie hier deutlich wurde, gilt dieses systematische Argument bei weitem nicht nur für das angeführte Beispiel, sondern letztlich für jedes prosoziale Verhalten, das sowohl aus Sicht der Evolutionstheorie als auch aus jener des Utilitarismus zunächst rätselhaft erscheint.686 Adaptive Rationalität bietet sich deshalb als Kernkategorie einer allgemeinen Entscheidungs- und Handlungstheorie an, welche die ultimaten Ursachen hinter proximaten Verursachungszusammenhängen in Rechnung stellt. Ausgehend von ihr ließe sich der Begriff der Rationalität in sozialwissenschaftlichen Theorien theoriehaltiger konzeptualisieren und jeweils gegenstandsangemessen verfeinern: Je nach Entscheidungsszenario und Handlungskontext sind verschiedene evolvierte psychologische Mechanismen involviert, werden also unterschiedliche Umweltinformationen auf der Basis spezifischer Präferenzordnungen prozessiert – 685 Zum dahinterstehenden Handicap-Altruismus siehe S. 259 ff. (Theorie) und S. 276 ff. (Em­ pirie), vgl. S. 280 f. 686 Zu diesem „Problem des Altruismus“ siehe S. 216 ff.

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und zwar in jeweils angebbarer Weise. Die empirische Angemessenheit einer dergestalt revidierten Handlungstheorie erhöht sich also bei gleicher theoretischer Rigidität und identischer Überprüfbarkeit ebenso enorm wie ihr Geltungsbereich. Diese Revision bedeutet einen Abschied von zwei komplexitätsreduzierenden Prämissen des methodologischen Individualismus. Einerseits ist das jene der rein ökonomischen Rationalität, ihrerseits ohnehin schon aufgeweicht, andererseits jene der Trennung von Rationalität und Emotionalität. Die erste verstellt die Sicht darauf, dass zumal soziale Handlungsentscheidungen in der Naturgeschichte schon zu fällen waren, lange bevor kulturelle Tausch-, Handels- und schließlich Finanzsysteme entstanden waren, die überhaupt erst ermöglichten, in explizit ökonomischen Kategorien zu denken. Der zweiten liegt ein völlig veraltetes Verständnis der Wechselwirkungen von Vernunft und Gefühl zugrunde. Lässt sich die Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Handlungsmotivationen dann noch aufrechterhalten ? Die Antwort könnte so aussehen: Instrumentelle Handlungsmotivationen basieren darauf, was einem Individuum unmittelbar, also proximat, als nützlich erscheint, um konsumatorische Bedürfnisse zu befriedigen. Die letzteren sind ein Widerhall dessen, was in der Stammesgeschichte unserer Spezies, also ultimat, nützlich war. Denn Empfindungen sind Rückmeldungen des Organismus über den adaptiven Wert eines (geplanten) Verhaltens. Sie erfüllen also in ultimater Hinsicht ihrerseits eine instrumentelle Funktion, nämlich die Generierung adaptiven Verhaltens. So gewendet hat die Typologie gegenüber der viel klareren und dezidiert evolutionstheoretischen Unterscheidung in proximate Ursachen und ultimate Ursachen keinen Mehrwert. Statt Ratio und Emotio als nicht nur analytisch zu trennende, sondern gar empirisch getrennte Phänomene zu betrachten, wird es zielführender sein, die jeweils kontextspezifischen Kausalmechanismen von Handlungsentscheidungen auf der Grundlage evolutionär-anthropologischer Wissensbestände zu modellieren. Das Konzept der adaptiven Rationalität trägt dieser analytischen Doppelaufgabe viel besser Rechnung als die im Kern der Sozialkapitaltheorie liegende handlungstheoretische Hilfskonstruktion aus Behaviorismus und Ökonomismus. Manchem mag das zu große Einbußen an theoretischer Sparsamkeit bedeuten. Das Sparsamkeitsargument geht aber ins Leere, denn evolutionäre Anthropologie und ökonomische Theorie haben bei weitem nicht den gleichen explanatorischen Wert – und erst recht nicht die gleiche enorme Reichweite. Außerdem findet das Gebot der theoretischen Sparsamkeit seine Grenzen am Gebot der empirischen Angemessenheit.

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Die Aufgabe: Perspektiven einer grundlegenden Revision des Rationalitätsbegriffs Erst mithilfe einer so evolutionär-anthropologisch mikrofundierten Handlungstheorie lässt sich darstellen, dass ökonomische Kategorien – anders als von Bourdieu postuliert – eben nicht der letzte Kontext sozialen Handelns sind. Vielmehr ist die menschliche Psyche ein Ergebnis von evolutionären Entwicklungsschritten, von „adaptiven Funktionalitätstests“ der Träger genetisch codierter Merkmale über viele Generationen hinweg. Zwar kann der dabei stets zentrale Ressourcentausch mit der Umwelt als Markt verstanden werden. Nur sind dessen „Marktteilnehmer“ eben keine bewusst kalkulierenden Akteure.687 Zur Verdeutlichung sei an das Beispiel der menschlichen Vorliebe für Süßes und Fettes erinnert:688 Sie ist mitnichten proximat rational, sondern eine evolvierte, implizit normative Ausrichtung auf energiereiche Nahrung. Ihre ultimate Ursache liegt in dem adaptiven Problem, unter den Bedingungen knapper Ressourcen eine möglichst optimale Kosten-Nutzen-Bilanz im Hinblick auf somatische Investition in Nahrungsbeschaffung zu erzielen. Wer über diese Präferenz verfügte, hatte – ceteris paribus – Vorteile gegenüber Artgenossen mit anderen Präferenzordnungen. Proximat sind die so evolvierten Motivationen völlig irrational – und doch wohnt ihnen eine (adaptive) Rationalität inne. Exakt das Gleiche gilt für die Funktionslogik der vielen vorgeblich „konsumatorischen“ Handlungsmotivationen, die für die Sozialkapitaltheorie zentral sind, zuvörderst Prosozialität, Uneigennützigkeit und Gemeinsinnigkeit, Moralität, Streben nach Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit. Gerade die Antriebe hinter dem Aufgehen des Selbst in einer Gruppe bzw. in einem gemeinsamen Sinnzusammenhang erscheinen aus der Warte der gängigen Rationalitätskonzeptionen zutiefst irrational. Aus evolutionärer Perspektive wirkt die Funktionsweise der beteiligten psychologischen Mechanismen hingegen völlig plausibel.689 So wird auch jenes Emergieren von kollektivem Sozialkapital aus sozialen Netzwerken erklärlich, das Coleman nur durch Umgehen seiner eigenen handlungstheoretischen Prämissen modellieren kann.

687 Vgl. hierzu S. 242. 688 Zucker ist nicht süß, sondern er schmeckt gut, weil er ein energiehaltiges Nahrungsmittel ist – und deshalb jene Individuen ihre inklusive Fitness steigern konnten, die eine Präferenz für Zuckerhaltiges hatten (vgl. S. 98 f.). 689 Dieses Bedürfnis ist so grundlegend, dass es die Wahrnehmung und die „rationale“ Informationsverarbeitung beeinflusst. So werden empirische Sachverhalte verleugnet, ausgeblendet oder verzerrt wahrgenommen, welche der in der eigenen sozialen Umgebung als gültig erachteten Weltanschauung widersprechen. Siehe hierzu S. 362 ff.

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Begreift man menschliche Entscheidungsheuristiken als Werkzeuge zur Erfüllung ultimater Funktionalitätsanforderungen, als (Zwischen-)Ergebnis der menschlichen Evolution, dann ist es nicht länger nötig, vermeintlich Irrationales als „Verhaltensanomalie“ zu betrachten (Eichenberger 1992) oder das Konzept der bewussten Rationalität bis zur Unkenntlichkeit aufzuweichen. Vielmehr sieht man dann jene Heuristiken schnellen Denkens (Gigerenzer und Gaissmaier 2011; Kahneman 2012) – oder besser: Entscheidens – am Werk, welche lange vor der Evolution höherer Hirnfunktionen nützlich waren, um überlebens- und fortpflanzungsrelevante Entscheidungen treffen zu können (vgl. Gigerenzer und Selten 2002). In den Sozialwissenschaften gibt es mindestens zwei Schnittstellen für solche interdisziplinäre Theoriebildung. Einesteils ist dies das Modell der begrenzten Rationalität, andernteils die neue Erwartungstheorie. Im Konzept der begrenzten Rationalität (‚bounded rationality‘) (Simon 1955, 2000) sind die grundlegenden Einsichten ohnehin schon angelegt.690 Allerdings sollte die Rede von der „Begrenztheit“ von Rationalität nicht zu einem neuer­ lichen Modellplatonismus verleiten, der durch die Überführung in ein evolutionäres Modell adaptiver Rationalität gerade überwunden werden soll.691 Die Vorstellung des Gehirns als funktional nicht spezifiziertem Universalwerkzeug ist schlicht eine handlungstheoretisch ungeeignete Prämisse ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. An ihr festzuhalten und sie nur mit zusätzlichen Begrenztheitsannahmen „passend zu machen“, löst dieses grundlegende Problem nicht. In Kuhnscher Terminologie pointiert: Es wäre nur normalwissenschaftliches puzzle solving, mit dem ein überfälliger Paradigmenwechsel in die Zukunft verschoben werden soll (Kuhn 1967). Auch ist der eingeschlagene Weg unbedingt weiterzuverfolgen, die Rational-​ Choice-Theorie in Richtung einer neuen Erwartungstheorie (‚prospect theory‘) weiterzuentwickeln (Kahneman und Tversky 1979; vgl. Levy 1997; Mercer 2005). Derzeit fehlt dieser dezidiert psychologisch argumentierenden Theorie der Werte noch die ultimate Erklärungsebene (Jervis 2004). Allerdings wurde etwa von McDermott et al. (2008) schon gezeigt, dass ein Rückbezug der neuen Erwartungstheorie gerade auf die Evolutionspsychologie für die Sozialwissenschaften höchst nützlich ist. Sie stellt eine wesentlich theoriehaltigere Perspektive auf menschliche Motivationen und Entscheidungsheuristiken zur Verfügung als der

690 Das Konzept der ‚bounded rationality‘ wurde in jüngerer Zeit auch schon explizit mit der evolutionären Anthropologie in Verbindung gebracht (Simon 2000; vgl. Bryan D. Jones 2003: 396) – allerdings ohne nennenswerte Rezeption in der Politikwissenschaft. 691 Zum Argument des Modellplatonismus sozialwissenschaftlicher Menschenbilder siehe S. 187 ff.

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neoklassische Ansatz – und ist deshalb wohl die ideale handlungstheoretische Anschlussstelle für eine anthropologische Theorie der Präferenzordnungen. Die evolutionäre Anthropologie liefert gerade eine solche Theorie vom Wert des Sozialen, die höchst anschlussfähig an die Sozialkapitaltheorie ist (Kanazawa und Savage 2004, 2009b). Deren sozialtheoretische Ausgangspunkt war ohnehin die theoretische Intuition, dass menschliches Sozialverhalten nicht vollkommen auf ökonomische Präferenzen und bewusste Kosten-Nutzen-Bilanzierung rückführbar ist. Adaptive Rationalität ist gerade keine rein ökonomische, sondern eine „emotionale Rationalität“ (McDermott 2004; vgl. Petersen 2015), zumindest jedenfalls eine emotional vermittelte Rationalität. Denn wie sich gezeigt hat, wird vernünftiges Kalkül durch emotionale Rückbindung überhaupt erst möglich. Zufriedenstellendes Entscheiden ist ohne emotionale Bewertung von Alternativen angesichts unsicherer Umwelten und hochgradig kontingenter Szenarien im Grunde unmöglich – und zufriedenstellend ist eine Entscheidung (zumindest subjektiv) auch dann, wenn sie sich gut anfühlt (vgl. Damasio 2010; Schwartz 2004). Das Konzept der Rationalität muss also keinesfalls aufgegeben werden. Es lässt sich vielmehr paradigmatisch neu ausrichten, indem es anthropologisch geerdet und in den robusten Theoriekontext der Evolutionstheorie eingelassen wird. Menschliche Rationalität ist dann eben kein Synonym für „Vernunft“ mehr. Vermeintlich irrationale Verhaltensanomalien erscheinen dann nicht mehr als Abweichungen von einem ansonsten gültigen Verhaltensmodell, sondern lassen sich schlüssig erklären. Methodologische Individualisten müssen zu diesem Zweck aber ihrer eigenen Forderung des Reduktionismus nachkommen – und ihre eige­ ne Analyseebene in einem schwach emergentistischen Ebenenmodell sozialer Wirklichkeit neu verorten.692 Diese evolutionstheoretische Revision des Rationalitätsbegriffs ist sicher nicht der letzte, aber dennoch ein notwendiger und dringender Schritt in Richtung der Lösung zentraler Probleme sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien. Eine umfassende evolutionäre Theorie menschlicher Entscheidungsheuristiken, die gleichzeitig allgemein und für praktische Zwecke sparsam genug ist, gehört gewiss noch zu den großen Zukunftsprojekten der Humanwissenschaften (Gigerenzer und Gaissmaier 2011: 451). Jedoch dürfte deutlich geworden sein, dass evolutionäranthropologische Theorien schon jetzt einen wesentlich belastbareren (und im wissenschaftstheoretischen Sinne „praktischeren“) Ausgangspunkt einer Handlungstheorie des Sozialkapital, einer Theorie der Kooperation also, darstellen als behavioristisch-ökonomistische Prämissen. 692 Zum wissenschaftstheoretischen Kontext dieses Plädoyers für einen „guten Reduktionismus“, der auf die arbeitsteilige Erarbeitung von ebenenübergreifenden Erklärungen abzielt, siehe das Kapitel 2.4 ab S. 61 und dort insbesondere die S. 67 ff. sowie S. 76 f.

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5.3.5 Multilevel-Sozialkapital: Reduktionismus, Emergenz und Evolution Das Mikro-Makro-Problem stellt eine weitere theoretische und methodologische Herausforderung nicht nur für die Sozialkapitalforschung dar. Bei jener ist es jedoch umso überraschender, als die zentralen Klassiker der Sozialkapitaltheorie einen inklusiven dritten Weg zwischen methodologischem Individualismus und Kollektivismus beschreiten wollten. Coleman und Bourdieu versuchten, die Wechselwirkungen von individuellem Handeln und sozialen Strukturen, von Habitus und sozialem Feld nicht als unidirektionalen, sondern als rekursiven Kausalzusammenhang zu begreifen: Gesellschaftliche Makrophänomene wirken auf Individuen ein (Logik der Situation), die daraufhin in einer bestimmten Weise handeln (Logik der Selektion), was wiederum die sozialen Verhältnisse prägt (Logik der Aggregation), also auf die Makroebene rückwirkt (vgl. Esser 1999a: 91 ff.).693 Es dürfte deutlich geworden sein, dass grundlegende Probleme beider MakroMikro-Makro-Modelle darin wurzeln, dass sie auf zwar unterschiedlichen, aber dennoch gleichermaßen unbefriedigenden Handlungstheorien aufbauen: Die Logik der Selektion, also der Algorithmus der Handlungsgenerierung, wird entweder utilitaristisch gedacht oder bleibt ganz opak. Auch findet die anthropologische Dimension der Logik der Situation sowie der Logik der Aggregation kaum nennenswerte Beachtung. Sie fehlt also gerade dort weitgehend, wo es um die konkreten Prozesse der Mikro-Makro-Wechselwirkungen geht.694 Auch zu diesen Elementen sozialwissenschaftlicher Erklärung können evolutionär-anthropologische Wissensbestände viel Wichtiges beitragen. So prägen evolvierte Erkenntnisstrukturen die Art, wie Menschen die Logik der Situation wahrnehmen und verarbeiten, welche Informationen sie also der sozialen Umwelt entnehmen und wie das Gehirn sie prozessiert.695 Weil diese Situations­ definitionen reales Handeln prägen, sind diese Mechanismen menschlichen Für-Wahr-Nehmens auch unmittelbar relevant für die Logik der Selektion, die Entscheidungsfindung. Das Verständnis der Logik der Aggregation, also des Zustandekommens von emergenten Makrophänomenen, wird von einer besseren anthropologischen Fundierung der beiden vorangegangenen Erklärungsschritte

693 Siehe zum Mikro-Makro-Problem in der Sozialkapitalforschung S. 128 f. (Bourdieu), S. 137 ff. (Coleman), S. 166 f. (neuere Ansätze) sowie S. 203 ff. (Fazit); vgl. grundlegend zum Mikro-Makro-Problem ferner S. 49 ff. 694 Auch Essers Bemühungen um eine gründliche anthropologische Fundierung seines eigenen Makro-Mikro-Makro-Modells (vgl. Esser 1999a: 141 ff.) finden in seinen Überlegungen zur Sozialkapitaltheorie keine erkennbare Berücksichtigung (Esser 2008). 695 Zur dahinterliegenden Argumentation der Evolutionären Erkenntnistheorie siehe S. 62 ff.

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ebenfalls profitieren: Schließlich gehen emergente soziale Phänomene aus nichts anderem als den komplexen Interaktionen individueller Handlungen hervor.696 Politiktheoretisch Zentrales kann mit derart mikrofundierten Modellen besser erklärt werden also zuvor – etwa wie es zum Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Teilgruppen und zu abnehmender sozialer Kohäsion kommt (vgl. etwa Habermas 2013). Die kausale Mikromechanik solcher Prozesse erschließt sich nur über evolutionär-anthropologische Befunde zum Zusammenspiel von Gruppenidentität und Ideologien sowie deren rekursiven Effekten auf Individuen. Auf der Grundlage dieser Wissensbestände lassen sich zudem theoriehaltige Hypothese darüber formulieren, wie abnehmende Kohäsion ökonomische oder politische Performanz beeinflussen kann: Menschen richten aufgrund von evolvierten moralischen Doppelstandards ihre Prosozialität bevorzugt auf die Eigengruppe und sind besonders dann anfällig für Narrative, die ihre Beziehung zu anderen Gruppen als kompetitiv darstellen, wenn ein überwölbender kultureller Kontext fehlt. Die Erosion geteilter Sinnwelten gefährdet deshalb die Stabilität des Systemübergangs hin zu einer kohäsiven Gesellschaft.697 Das ist beileibe keine neue sozialtheoretische Erkenntnis; aber mithilfe evolutionär-anthropologischer Wissensbestände zu deren Mikrologik lässt sie sich auch schlüssig erklären. Und auch an anderen Stellen hat sich hier immer wieder gezeigt: Bestehende Theoreme über Ursachen und Folgen von (in diesem Fall: bindendem) Sozialkapital gewinnen so unmittelbar an externer Konsistenz sowie politikpraktischer Durchschlagskraft, ohne dabei besonders weit von bisherigen Grundannahmen und von ihrem Anspruch abrücken zu müssen, soziale Makrophänomene erklären zu können. Die Kritik an der mangelnden Mikrofundierung von Makrotheorien kollekti­ ven Sozialkapitals wie denen von Putnam und den Weltbank-Ökonomen ist also durchaus berechtigt. Aussagen wie „Aktive Zivilgesellschaft führt zu politischer Performanz“ (Putnam) oder „Sozialkapital fördert ökonomische Performanz“ (Woolcock) sind als analytische Aussagen nur dann hinreichend spezifiziert, wenn sie auf Theorien aufsetzen, welche die Kausalmechanismen auf der Mikroebene erhellen. Allerdings ist nicht offensichtlich, warum diese Ebene gerade die von individuellen Menschen und ihren Handlungen sein soll. Unterhalb der Organisationsebene des integrierten „Selbst“ arbeiten domänenspezifische kogniti-

696 Schließlich entstehen Makrophänomene durch Selbstorganisationsprozesse, die aus dem Grunde nach chaotischen Interaktionen von Mikroelementen resultieren. Siehe dazu grundlegend S. 72ff, konkret im Hinblick auf Sozialkapital zudem S. 387 ff., S.  400 ff., S. 434 ff. sowie ferner S. 486 ff. 697 Zur Eigengruppenbevorzugung sowie zur Rolle von kulturellen Markern bei der Erkennung von Gruppenzugehörigkeit siehe S. 362 ff.

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ve Module, ihrerseits basierend auf neuronalen Netzwerken aus einzelnen Zellen. Auch Mikrotheorien relationalen Sozialkapitals sind deshalb nicht von der Forderung nach einer besseren handlungstheoretischen Fundierung ausgenommen. Das gilt freilich auch für andere methodologisch-individualistische Ansätze. Die Mikroebene des Individuums ist längst nicht die letzte relevante Erklärungsebene für die Ursachen und Folgen von Sozialkapital und andere soziale Tatsachen wie Macht oder Legitimität. Komplexe physikalische, chemische und biologische Grundlagen sind notwendig, damit menschliche Organismen als integrierte Einheiten funktionieren, sie dieses „Selbst“ bewusst erleben können und auf dieser Grundlage miteinander in Interaktionen treten. Schon individuelles Handeln basiert auf vielerlei Mikro-Makro-Wechselwirkungen auf darunterliegenden Organisationsebenen. Soziale Wirklichkeit ist deshalb letztlich nur über die evolutive Genese der Komplexität des Lebendigen vollständig zu begreifen. Die wichtigen Fragen in der Debatte um Reduktionismus und Emergenz im Zusammenhang mit dem Mikro-Makro-Problem stellen sich folglich nicht im Bereich der Ontologie. Ob es soziale Strukturen, kollektive Identitäten oder Institutionen als greif-, mess- und analysierbare Entitäten „gibt“ oder ob sie reduktionistisch „wegerklärt“ werden können, ist eine nachrangige Frage – erst recht, wenn ihr nur mit philosophischen Mitteln nachgegangen wird (vgl. Opp 2014). Ebenso verhält es sich mit der Frage nach dem ontologischen Status des individuellen Selbst (Damasio 2011). Spannender und zielführender ist die Analyse nicht des Seins von empirisch vorfindbaren Phänomenen, sondern von deren Gewordensein und prozesshaftem Bestehenbleiben. Jene lenkt den Blick auf die Konstruk­ tionsprozesse zunächst von physikalischer und chemischer, später auch biotischer und schließlich sozialer Wirklichkeit.698 Die Genese der sozialen Wirklichkeit: Eine rekursive Prozessdynamik mit natürlichen Grenzen Gesellschaftliche Aggregatzustände wie Kohäsion, kollektive Handlungsfähigkeit oder ökonomische Performanz sind zweifelsohne soziale Tatsachen sui generis. Sie treten Handelnden faktisch mit dem Status von Naturtatsachen gegenüber und entfalten so in ihrer emergenten Gestalt kausale Abwärtswirkung. Sie sind nicht einfach nur aggregierte Mikrophänomene; und schon gar nicht sind sie einfach

698 Zur Emergenzdebatte siehe grundlegend S. 67 ff., zur Reduzibilität von kollektivem Sozialkapital außerdem S. 435 ff. Vgl. zum Prozesscharakter von Sozialkapital mit weiteren Verweisen ferner S. 414.

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kognitive Konstruktionen ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. Sie sind reale Gebilde mit realen Konsequenzen. Diese Makrophänomene werden aber sozial konstruiert. Die normative Kraft von Institutionen, informellen Regelsystemen und Ideologien als Quell von handlungsleitenden Selbstverständlichkeiten basiert auf deren ständiger Reproduktion und Reifikation in konkreten Alltagssituation (vgl. Patzelt 2013a). Ob also normenbasiertes und kollektives Sozialkapital zur Verfügung steht, weil Normen und Werte verlässliche handlungsleitende Geltung haben, hängt davon ab, ob diese soziale Wirklichkeit immer wieder erfolgreich (re-)konstruiert wird. Damit das in nachhaltiger Weise gelingt, müssen kulturelle Figurationen an die Conditio humana „andocken“. Denn die biologische und psychologische Verfasstheit unserer Spezies ist gleichsam das Nadelöhr sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Und diese Verfasstheit ist eine Resultante der menschlichen Stammesgeschichte, zu der das gemeinsame Leben in den selbst hervorgebrachten soziokognitiven Nischen der moralischen Gemeinschaften von Jäger-und-Sammler-Gruppen ganz zentral gehört hat. Menschliche Kulturfähigkeit (Theory of Mind, Wir-Intentionalität, Sprache, soziales Lernen usw.) bedeutet deshalb keine Entkoppelung von den natürlichen Grundlagen. Sie ist selbst eine natürliche Lösung für evolutionäre Anpassungsprobleme, die es erlaubt, die eigenen Handlungskontexte mitzugestalten – und unserer Spezies so einzigartige Entwicklungsmöglichkeiten verschaffte.699 Die Natur des Menschen prägt also nicht nur weiterhin die Logik der Aggregation emergenter Makrophänomene – also: die Prozesse sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Sie ermöglicht diese erst. Menschen verfügen über evolvierte kognitive Module, deren Zweck es ist, kulturelle Umwelten zu erschließen, sich in sie einzupassen und sie so zu stabilisieren. Da sich der besondere Wagenhebereffekt der Kumulation nützlicher Ideen nur entfalten kann, wenn kulturelle Nischen über die Zeit einigermaßen stabil sind, bedeutet Kulturfähigkeit zu einem Gutteil die Fähigkeit, praktikable Lösungen zu übernehmen. Die psychologischen Mechanismen sozialen Lernens sind deshalb systematisch verzerrt, einesteils hin zur Imitation besonders erfolgreicher Menschen und andernteils hin zur Konformität mit der Mehrheit.700

699 Zu Kultur als adaptiver Zwischenwelt siehe S. 318 ff. (Theorie) sowie S. 340 ff. (Empirie). Zur Notwendigkeit der Passung von kulturellen Konstruktionen und biologischen Dispositionen vgl. ferner S. 270 ff. (indirekte Reziprozität), S. 348 ff. (moralische Gemeinschaft), S. 387 ff. (Akteure und Strukturen), S. 435 ff. (Gene und Kultur) sowie S. 462 ff. (Werte und Normen). 700 Siehe dazu S. 326 ff. (Theorie) sowie S. 372 ff. (Empirie).

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Auch die kontingente Pfadabhängigkeit der Kulturgeschichte lässt sich folglich bis in die menschliche Natur zurückverfolgen: Der strukturelle Konformismus bewirkt im Zusammenspiel mit aus anderen Gründen evolvierten, aber ähnliche Effekte zeitigenden Dispositionen eine Prozessdynamik, welche die Richtung der Entwicklung kultureller Nischen stabilisiert. Dazu gehören psychologische Mechanismen zur Aufrechterhaltung der eigenen kulturellen Gruppenidentität sowie evolvierte Motivationen zur Durchsetzung geltender Normen.701 Mit sich dergestalt selbst stabilisierenden kulturellen Figurationen verhält es sich dann wie mit biologischen Strukturen: Die praktikableren unter ihnen setzen sich gegen andere durch. Das tun sie einesteils eben, weil Individuen von erfolgreichen Modellen lernen sowie verbreitete Ideen übernehmen. Andernteils aber sind die adaptiveren Nischenkonstruktionen gegenüber anderen kulturellen Zwischenwelten bevorteilt. Denn es sind solche Menschengruppen in der Zwischengruppenkonkurrenz erfolgreicher, welche in Nischen leben und sie von Generation zu Generation rekonstruieren, die tatsächlich evolutionäre Selektionsdrücke abmildern und so fitnessmaximierende Effekte zeitigen. Diese Gruppen können sich stärker als andere ausbreiten und zu Erfolgsmodellen für andere (Gruppen von) Individuen werden.702 So gelangt ganz analog zur natürlichen Evolution auch in kulturelle Wandlungsprozesse eine nicht auf irgendein Ziel zulaufende, sondern sich im Erfolgsfall selbst verstetigende, teleonome Gerichtetheit.703 701 Siehe zu alldem mit weiteren Verweisen S. 353 ff. 702 Das rundet ein hier nur durch die Fußnoten geführtes Argument ab: Evolution ereignet sich auch auf der Ebene kultureller Muster. Einesteils sind Änderungen an konstruierten Nischen dabei internen Selektionsfaktoren unterworfen, die sich aus funktionalen Anforderungen ergeben. Kollabiert nämlich die kulturelle Nische (das Institutionengefüge, das integrierende Weltbild, die organisierte Ressourcenextraktion aus der Umwelt – oder auch schlicht: die Behausung), dann hat das fitnessrelevante Konsequenzen für jene, die sie bewohnen (Richerson und Boyd 1985, 2005; Soltis et al. 1995). Andernteils sind kulturelle Nischen externen Selektionsfaktoren ausgesetzt. Ihre Transmission ist nämlich den Mechanismen sozialen Lernens unterworfen (Henrich und McElreath 2003, 2009): Kulturelle Muster müssen inhalts-, frequenz- und modellbasierten Attraktivitätskriterien genügen, die als normative Apriori zur Natur des Menschen gehören, um sich verbreiten zu können. Bei kultureller Transmission handelt es sich also um nichts anderes als Reproduktion, bei der aus gleich welchen Gründen (Fehler, Kreativität, …) Variation entsteht, an der Selektion angreifen kann. Kulturgeschichte ist also kulturelle Evolution. Man mag sich darüber streiten können, ob es ein Substrat wie das „Mem“ als Vererbungseinheit aus ontologischer Sicht tatsächlich gibt. Zumindest methodologisch ist es jedenfalls nützlich, kulturelle Sinneinheiten als Meme und deren Verbindungen als Memplexe zu begreifen, die sich unter den Bedingungen der Knappheit menschlicher Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit vermehren – oder eben nicht. Siehe zu alldem mit weiteren Verweisen die Fußnoten 347 (S. 264), 425 (S.319) und 431 (S. 324). 703 Zum Teleologie-Vorwurf gegenüber evolutionären Ansätzen siehe S. 104 ff. Zum Begriff der Teleonomie siehe Vollmer (2002: 18 f.), Mayr (1979) sowie S. 85 f.

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Aus diesem Grunde ist der Möglichkeitsraum des Kulturellen nicht völlig offen. Menschliche Gehirne ermöglichen große Verhaltensflexibilität und mithin die Hervorbringung recht unterschiedlicher kultureller Makrophänomene. Sie erlauben aber nicht die Hervorbringung aller prinzipiell denkbaren kulturellen Figurationen. Anthropologische Grundlagen mögen konkrete Inhalte und Formen kultureller Muster nur im begrenzten Maße festlegen. Aus der ultimat-funktionalen Determination evolvierter kognitiven Module resultiert aber ein mehr oder weniger enger Spielraum für kulturelle Variabilität – zwar nicht für alle Zeit, sehr wohl aber für die sozialtheoretisch relevanten Zeitspannen. Soziale Tatsachen samt ihren emergenten Eigenschaften entstehen jedenfalls nicht losgelöst von individualpsychologischen Merkmalen. Besonders deutlich dürfte das am Fall moralischer Intuitionen geworden sein: Werte und Normen sind keine reinen kulturellen Konstruktionen und mithin nicht einfach „ansozialisiert“, sondern basieren auf evolvierten normativen Apriori. Aus diesem Grund ist die Variabilität der Ausgestaltung von (auf Dauer funktionierenden!) sozialen Normensystemen von vornherein eingeschränkt.704 Erst dieser ultimate Funktionalismus der evolutionären Perspektive macht die erstaunliche funktionale und inhaltliche Äquivalenz von so verschiedenen kulturellen Figurationen wie Religionen, Mythen und weltlichen Normensystemen erklärbar. Die Gestalt kultureller Figurationen verdankt sich nicht allein dem Fakt, dass sie im Hier und Jetzt Funktionen erbringen. Ihre heutige Erscheinungsform verdankt sich vor allem der Tatsache, dass sie in der evolutionären Vergangenheit Funktionen erbracht haben. Wie sich gezeigt hat, kann die Sozialkapitaltheorie auf unterschiedliche Arten von der systematischen Würdigung dieser Zusammenhänge profitieren. Makrotheorien kollektiven Sozialkapitals bekommen neue theoretische Mittel, um die Entstehung und den ontologischen Status von Gruppeneigenschaften zu reflektieren und Beziehungen zwischen Makrovariablen als Kausalzusammenhänge zu modellieren. Und auch Mikrotheorien relationalen Sozialkapitals können so mit ihnen in Einklang gebracht werden. Denn die Theorien der Nischenkonstruktion und der kulturellen Gruppenselektion stellen einen wichtigen ‚missing link‘ zwischen sozialtheoretischen Mikro- und Makrotheorien zur Verfügung. Sie mit sozialwissenschaftlichen Theorien sozialer Wirklichkeitskonstruktion zu verbinden (Berger und Luckmann 1969; Patzelt 1987), kann die Lösung des Mikro-MakroProblems entscheidend voranbringen. Dafür braucht es freilich auch eine Theorie von den Rückwirkungen dieser emergenten sozialen Wirklichkeit auf Menschen, also Wissen über die Logik der Situation sowohl im Hinblick auf Sozialisationsprozessen als auch auf situative Verursachungszusammenhänge. Dies wiederum macht es nötig, das naturhistori704 Siehe für entsprechende Querverweise die Fußnote 699.

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sche Gewordensein solcher Akteur-Struktur-Interaktionen zu begreifen, jenen rekursiven koevolutiven Prozess, in dem sich Kultur und Kulturfähigkeit gegenseitig vorangetrieben haben. Die kulturelle Entwicklung hatte zahlreiche evolutionäre Rückwirkungseffekte auf die Conditio humana: Menschen wurden erst durch die besonderen Anforderungen des Lebens in kulturellen Nischen zu den Kulturwesen, die sie heute sind.705 Nur vor dem Hintergrund dieses ultimaten Entstehungszusammenhangs der Wechselwirkungen von Mensch und Kultur lässt sich deren proximate Kausalstruktur bis hinunter in die Tiefenstruktur menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns entschlüsseln (Plotkin 2009) – und so einer sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie zugänglich machen. Mikro-Makro-Interaktion: Ein Spezialfall der Evolution von Komplexität Evolutionäre Theorien eröffnen noch eine wesentlich allgemeinere Perspektive auf das Mikro-Makro-Problem: Evolution ist jener Prozess, der dem Entropieprinzip entgegenwirkt. Trotz der Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik nähert sich nicht alles dem Zustand der entropischen Unordnung an. Stattdessen bringt die Evolution sogar neue Ordnung hervor – wenn auch unter stetem komplementären Abbau von Ordnung in der Umgebung (Riedl 1990).706 Aus Einfachem entwickelt sich Komplexes, aus Elementarteilchen setzen sich Atome zusammen, aus Atomen Moleküle, aus Molekülen Zellen, aus Zellen Organismen, aus Organismen dann Superorganismen und politisch geordnete Gemeinwesen. Die Eigenschaften dieser höheren Ordnungsebenen hängen zwar stets von den Merkmalen ihrer Einzelbestandteile ab. Ihre Funktionsweise und Abwärtswirkung wird aber nur mit Blick auf diese Mikroelemente nicht verständlich. Die Befassung mit Evolution lehrt viel darüber, wie Komplexität in die Welt kommt, wie neue Organisationsebenen des Lebens entstehen können und in welcher Weise sie sodann mit den darunterliegenden Ebenen in Wechselwirkung treten. Die sehr allgemeinen und deshalb auf unterschiedlichste Mikro-Makro-Interaktionen anwendbaren Konzepte der erweiterten Synthese der Evolutionstheorie eignen sich dabei vorzüglich für interdisziplinäre Theorieintegration. Bisher ganz getrennt voneinander ablaufende Diskurse, etwa über Gen-Umwelt-Interaktionen 705 Siehe zu alldem S. 318 ff. und S. 473 ff., des Weiteren viele Befunde in Kapitel 4.5.2.3 ab S. 340. 706 So erfordern der Aufbau und die Aufrechterhaltung der Ordnung von Organismen die gleichzeitige Zersetzung von anderen geordneten Strukturen – vulgo: Verdauung. Und auch soziale Ordnung geht nicht ohne Abfuhr von Entropie vonstatten, etwa durch Abbau und Verbrauch natürlicher Ressourcen oder das Verbreiten sozialer Unordnung in anderen Weltregionen.

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und Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Strukturen, können vor diesem Hintergrund als verschiedene Teile eines übergeordneten Forschungsprogramms gesehen und aufeinander bezogen werden. In ihnen allen geht es letztlich um das Gleiche: die kausalen Relationen zwischen aneinander angrenzenden Wirklichkeitsschichten. Das Mikro-Makro-Problem ist also kein exklusives Thema der Geistes- und Sozialwissenschaften. Wie sich hier gezeigt hat, können evolutionäre Konzepte zu ähnlich gelagerten Fällen im Bereich der Biologie deshalb die einschlägige Debatte voranbringen. So bietet die Theorie der Systemübergänge eine allgemeine Erklärung für die Hervorbringung und Abwärtswirkung höherer Organisationsebenen nicht nur bei anderen sozialen Spezies wie eusozialen Insekten, sondern in der gesamten belebten Natur: Die Anforderungen an einen solchen Übergang hin zu einer neuen emergenten Organisationsebene sind über alle Ebenen hinweg in einer abstrakten Weise ebenso funktional äquivalent wie dessen Konsequenzen (Jablonka und Lamb 2006; Maynard Smith und Szathmáry 1995). Stets besteht ein zentrales Problem in der unvollständigen Einhegung von Binnenkonkurrenz, die sich ihrerseits aus der evolutionären Vorgeschichte ergibt, in der die zu integrierenden Teile im Wettbewerb zueinander standen.707 Kollektives Sozialkapital in menschlichen Gemeinschaften und Gesellschaften ist eine ebenenspezifische Lösung dieses allgemeinen Integrationsproblems. Sie ist nur in ihrer konkreten Ausgestaltung typisch für die Ebene des Sozialen, nicht aber in ihrer grundsätzlichen Mechanik. Spezifisch muss diese Lösung sein, weil sie eben zur Beschaffenheit der Teile des jeweiligen komplexen Systems passen muss – also zu Menschen und deren evolvierter Natur. Funktional wird jedoch in dieser Problemlösung ein viel allgemeineres Prinzip deutlich: die selbstorganisierte Strukturierung von im Grunde chaotischen, jedenfalls nicht a priori koordinierten oder auch nur koordinierbaren Interaktionen auf der Mikroebene.708 Eine solche Einbettung von anthropologischen Wissensbeständen in den Kontext von Komplexitätstheorie (Mitchell 2008, 2009) und Systemtheorie der Evolution (Riedl 1990) verbindet den Ubiquitätsanspruch der Systemtheorie von Luhmann (1984, 1997a) mit einer dezidierten Mikrofundierung. Genau in diesem integrativen Potential liegt der zentrale Wert der erweiterten Synthese der Evolu­ tionstheorie für die Sozialwissenschaften (vgl. Cairney 2012; Corning 2008). Es liegen hier schon viele Lösungen für theoretische Probleme geborgen, die „nur noch“ für sozialwissenschaftliche Zwecke übersetzt werden müssen, wie hier für den Fall der Sozialkapitaltheorie vorgeführt.

707 Zu Systemübergängen in der Evolution siehe S. 313 ff. (Theorie) sowie S. 333 ff. (Empirie). 708 Vgl. S. 398 ff. sowie S. 434 ff.

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Im Kern wartet hier nicht weniger als eine formale Theorie der Emergenz darauf, urbar gemacht zu werden. Sie hat gegenüber bestehenden sozialwissenschaftlichen Theorieangeboten den entscheidenden Vorteil, jene Form von „gutem Reduktionismus“ (Slingerland 2008) praktizierbar zu machen, die humanwissenschaftliche Forschungszweige fruchtbar interdisziplinär verbinden kann.709 Sie behandelt Fragen der Interaktion von Mikro- und Makrostrukturen nicht als philosophische, sondern als empirische Fragen. Mithilfe der ihr zugrundeliegenden Evolutionstheorie wurden in den letzten 150 Jahren schon einige der größten Rätsel der Menschheit gelöst: unsere Herkunft, die Gründe für die vielgestaltige Schönheit und Komplexität der Natur. Wie sich hier gezeigt hat, lassen sich so auch die Rätsel hinter der Herkunft, Vielgestaltigkeit und Komplexität menschlicher Kulturen in höchst inspirierender und gewinnbringender Weise bearbeiten. Auf dieser Grundlage werden sich manche strukturellen Probleme nicht nur der Sozialkapitalforschung, sondern auch von sozialwissenschaftlichen Makro-Mikro-​ Makro-Modellen ganz allgemein lösen lassen.

5.4 Unbequeme Kategorien: Vertrauen, Ethnizität, Herrschaft, Geschlecht Einige Aspekte der sozialen Wirklichkeit bereiten Sozialkapitaltheorien besonders große Probleme. Dies sind vor allem solche Phänomene, die zunächst aufgrund der paradigmatischen Fokussierung einesteils auf ökonomische Kategorien und andernteils auf demokratisch-zivilgesellschaftliche Netzwerke weitgehend ausgeblendet blieben. Zwar wird inzwischen versucht, diese klassischen sozialtheoretischen Variablen wieder mit dem Sozialkapitalansatz zu verbinden. Jedoch will dieses „bringing back in“ nach wie vor nur nicht recht gelingen, weil aus den vorgenannten Gründen dafür die Schnittstellen fehlen (Fine 2010). Zu diesen vernachlässigten Kategorien gehören insbesondere Geschlecht (‚gender‘), Ethnizität (‚race‘) sowie vor allem Macht, Herrschaft – und: Vertrauen. Letztere ist zwar eine Kernkategorie der Sozialkapitaltheorie; doch in der evolutionsanalytischen Fundierung der Sozialkapitaltheorie ist Vertrauen kaum zur Sprache gekommen. Diesem erklärungsbedürftigen Umstand ist im Folgenden Rechnung zu tragen. Dabei wird sich zeigen, dass das Konzept „Vertrauen“ letztlich nicht mehr ist als ein wenig theoriehaltiger Platzhalter für hier in Stellung gebrachte handlungstheoretische Argumente. Geschlecht, Ethnizität und Herrschaft

709 Zum Unterschied von Reduktionismus einerseits als einzig zugelassener Erklärungsstrate­gie (‚schlecht‘) und andererseits als arbeitsteiligem Forschungsprogramm (‚gut‘) siehe S. 76 ff.

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haben hier hingegen deshalb eine untergeordnete Rolle gespielt, weil ihnen schon in den Sozialkapitaltheorien selbst kein exponierter Platz zukommt. Da sie aber zweifellos allesamt von größter sozialtheoretischer Relevanz sind, klafft hier eine dem deduktiven Forschungsansatz geschuldete konzeptionelle Lücke. Deshalb sollen in den folgenden abschließenden Essays zumindest jene Berührungspunkte für theoretische Integration herauspräpariert werden, die sich vor dem Hintergrund der hier behandelten evolutionär-anthropologischen Wissensbestände nachgerade aufdrängen.

5.4.1 Die wenig nützliche Kategorie: Vertrauen als Black Box Die Kategorie des Vertrauens spielt nicht nur bei Coleman, Putnam, Fukuyama, Uslaner und Esser eine zentrale Rolle für die Sozialtheorie im Allgemeinen und ihre Sozialkapitaltheorie im Besonderen. Interpersonales ebenso wie innerhalb eines Gemeinwesens generalisiertes Vertrauen sind Schlüsselbegriffe einer Theorie, in deren Zentrum gerade in sozialen Beziehungen geborgene Kooperationsressourcen für Individuen und Kollektiven stehen. Schließlich wird in Vertrauen nicht weniger als das „Gleitmittel“ für gesellschaftliche Kooperation und Performanz gesehen (Putnam und Goss 2001: 21; Putnam 1993: 171). Wie sich gezeigt hat, wird aber auch die theoretische Unterspezifikation des Konzepts in der Literatur recht freimütig eingeräumt. Unklar ist dabei nicht nur die grundsätzliche Frage, ob Vertrauen eine Vorbedingung, eine Folge oder ein Teil von Sozialkapital ist. Was es ist und wo es herrührt, kann mit den üblichen ökonomistischen und behavioristischen Denkwerkzeugen ebenfalls nur ungenügend erfasst werden. Nur selten wird dabei überhaupt der Frage nachgegangen, in welcher Weise dies alles mit „tieferliegenden Neigungen“ (Westle et al. 2008c: 166) oder der „Natur des Menschen“ (Uslaner 2008a: 104) und „genetischen Dispositionen“ (Häuberer 2010: 82) in Zusammenhang steht. Insgesamt verbirgt sich hinter dem sozialwissenschaftlichen Begriff des Vertrauens selten mehr als eine alltagstheoretische Intuition, die in konzeptionellen Debatten keine ernstzunehmende Rolle spielen kann.710 Wenn Vertrauen aber psychologische bzw. kognitive Grundlagen hat und zudem von so grundsätzlicher Bedeutung für individuelles sowie kollektives Handeln ist, dann sollten die Life Sciences weiterhelfen können. Wie im Falle der anderen Schlüsselkonzepte der Sozialkapitaltheorie wäre zu erwarten, dass Wissensbestände aus Evolutionspsychologie, Soziobiologie und anderen evolutio-

710 Siehe hierzu und zum Folgenden S. 180 ff.

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nären Humanwissenschaften konzeptionelle Lücken schließen können sollten. Überraschenderweise ist dem jedoch nicht so. Vertrauen ist keine sonderlich relevante Kategorie in der evolutionären Anthropologie. In vielen Lehrbüchern taucht es gar nicht im Sachwortregister auf (vgl. Buss 2012; Hampton 2010; Swami 2011; Voland 2013; Workman und Reader 2010). Aufsätze aus den Life Sciences, die den Wortstamm „trust“ im Titel oder Abstract benutzen, verwenden Vertrauen nicht als wirklich theoretischen Begriff (vgl. etwa Bateson 1988; Sperber und Baumard 2012; Vanneste et al. 2007). Auch in Handbüchern der Evolutionspsychologie findet man nur Verweise in Textteile, in denen der Begriff entweder nur im alltagstheoretischen Sinne verwendet wird oder es um die Wirkung von Oxytocin geht (Buss 2005: 1028; Dunbar und Barrett 2009: 705). Warum ist das so ? Warum sollten ausgerechnet jene Disziplinen, die menschliche Kooperation in einem umfassenden, evolutionären Sinne zu erklären versuchen, eine in den Sozialwissenschaften bei ähnlichen Fragestellungen so relevante Kategorie vernachlässigen ? Der Verdacht drängt sich auf, dass eine der beiden Perspektiven – die sozial­ wissenschaftliche oder die evolutionär-anthropologische – etwas Entscheidendes übersieht. Im Falle der Evolutionspsychologie bedeutete dies, dass jene in ihrem ureigenen Kompetenzbereich der psychologischen Ursachen interpersoneller Interaktion ausgerechnet einen besonders wichtigen Aspekt vernachlässigt. Besonders plausibel ist das nicht, zumal auch die etablierte, nicht dezidiert evolutionäre Psychologie mit dem Konzept hadert und sich von evolutionären Ansätzen neue Impulse erhofft (vgl. Simpson 2007). Es bleibt also zu prüfen, ob der Sozialkapitaltheorie etwas Wesentliches entgehen würde, wenn sie der Kategorie des Ver­trauens ihrerseits weniger Beachtung schenkte. Das wiederum scheint auf den ersten Blick sehr wohl so zu sein. Schließlich gilt Vertrauen in den So­ zialwissenschaften als überaus wichtiges Phänomen (Frings 2010; Fukuyama 1995; Haungs 1990; Luhmann 1968/2000, 2001; Offe 2000, 2001; siehe als Überblick ferner Endreß 2002). Was aber, wenn sich Vertrauen nur als eine Residualkategorie entpuppte, als eine Summenformel für noch nicht verstandene tieferliegenden Ursachen von Kooperation ? Das würde nicht nur verständlich machen, warum das Konzept in Sozialtheorien trotz aller immer wieder betonten Wichtigkeit so diffus geblieben ist. Es würde auch erklären, warum hier aufgezeigt werden konnte, was Sozialkapital ist und wie es entsteht, ohne dass Vertrauen bei dieser handlungstheoretischen Mikrofundierung eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Warum aber ist das Konzept von so geringem theoretischen Nutzen ? Durchaus ist die Debatte in den Life Sciences für die Sozialkapitalforschung dem Grunde nach einschlägig. Die dortige Forschung zu Vertrauen befasst sich nämlich vor allem mit dem Einfluss von Oxytocin auf das Verhalten in spieltheoretischen

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Kooperationsexperimenten, sogenannten ‚trust games‘ (Kosfeld et al. 2005; Van IJzendoorn und Bakermans-Kranenburg 2012) – also mit der Wirkung jenes Hormons, das auch für Liebes- und Freundschaftsbeziehungen eine wichtige Rolle spielt (Damasio 2005; Panksepp 2009). Vertrauen wird folglich als Teil einer proximaten psychosozialen Prozesskette gesehen, die soziales Bindungsverhalten und Prosozialität beeinflusst. In dieser Prozessdynamik übernimmt Vertrauen die Rolle eines subjektiv erlebten mentalen Zustand, der kooperatives Handeln befördert (Bateson 1988: 14; Tooby und Cosmides 1996: 139; vgl. auch Gifford 2013). Schon am Fall sozialer Emotionen ist hier deutlich geworden, dass solche subjektiv erlebten Zustände in somatischen Rückkopplungsschleifen eine wichtige Funktion übernehmen: Sie stellen über körperliche Empfindungen Informationen über den adaptiven Wert eines Verhaltens zur Verfügung und beeinflussen so unterbewusst Handlungsentscheidungen (vgl. Damasio und Carvalho 2013).711 Genau so scheint es sich hier auch zu verhalten: Vertrauen ist ein physischer und psychischer Status, basierend auf einem evolvierten psychologischen Mechanismus, der den biologischen Wert von Prosozialität unter bestimmten Bedingungen in handlungsrelevanter Weise evaluiert – also: eine konditionale Kooperationsstrategie realisiert. Sozialwissenschaftlern mag Vertrauen demnach deshalb so wichtig erscheinen, weil es ein erleb- und erfahrbarer Aspekt von ansonsten großenteils unbewusst ablaufenden Prozessen ist. In ihm werden wahrgenommene Informationen wie die eigenen Kooperationserfahrungen, die kooperative Reputation des Gegenübers, die Gültigkeit von Werten und Normen, die Gruppenzugehörigkeit oder auch der Verwandtschaftsgrad heuristisch zu Kooperationsentscheidungen verrechnet. Damit ist die Empfindung von Vertrauen durchaus Teil der wichtigsten Kausalketten bei der Generierung und Mobilisierung von Zielerreichungsressourcen. Es sollte aber nicht als eine eigenständige Form oder Dimension von Sozialkapital aufgefasst werden. Wenn man so will, ist es vielmehr eine der Währungen, in denen Sozialkapital bemessen werden kann. Wer an Vertrauen als Sozialkapital theoretisch festhalten will, muss sich über seine ultimate Funktion als basale Empfindung im Zusammenhang mit menschlichem Bindungs- und Kooperationsverhalten klarwerden. Es als endogene Variable zu behandeln, hieße, auch soziale Emotionen wie Scham und Schuld als Sozialkapital zu betrachten. Jene induzieren schließlich ebenfalls prosoziales Verhalten und erhöhen mithin Kooperationsbereitschaft. Im Grunde hat sich die kausale Rolle von Vertrauen für Sozialkapital durch die evolutionär-anthropologische Fundierung, also durch das Aufzeigen der dahin711 Zu sozialen Emotionen, ihrer Herkunft und Funktionsweise siehe mit weiteren Verweisen S. 287 ff.

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terliegenden psychologischen Mechanismen, in dieser Untersuchung nachgerade „wegerklären“ lassen. Das mag einen kurzfristigen Schaden für das Selbstverständnis des sozialwissenschaftlichen Blickes auf die Wirklichkeit bedeuten. Langfristig aber bedeutet es ein Gewinn für die Sozialkapitaltheorie und andere Ansätze, die an die Stelle eines unliebsamen konzeptionellen Problems ein robustes handlungstheoretisches Modell setzen können. Was also ist von Putnams Aussage zu halten, nach der Vertrauen ein Gleitmittel von Kooperation ist ? Erstens steckt schon in der Metapher selbst die zutreffende Erkenntnis, dass Vertrauen nicht mehr als ein chemischer Trägerstoff ist, der dabei hilft, Prozesse zu realisieren, deren Ursachen woanders liegen. Zweitens ist aus eben jenem Grund der explanatorische Wert dieser Aussage denkbar gering. Wiederum verhält es sich hier wie mit der Frage danach, warum Kinder Schokolade mögen. Die proximate Standardantwort lautet: Weil sie süß ist. Schokolade ist aber nicht süß, sie besteht nur aus chemischen Verbindungen, die von Gehirn und Organismus als angenehm und wohlschmeckend wahrgenommen werden. Und auch um Kooperation zu erklären, reicht der Verweis darauf nicht, dass Menschen einander vertrauen müssen. In beiden Fällen stellt sich als Tautologie heraus, was wie eine Erklärung klingt: Menschen kooperieren mit anderen, weil sie ihnen vertrauen. Und Vertrauen ist eine subjektive Empfindung, die Menschen dazu veranlasst, gegenüber anderen kooperationsbereit zu sein. Die entscheidenden Fragen sind aber: Warum schmeckt Schokolade für Kinder süß. Warum sind Menschen willens und in der Lage, miteinander zu kooperieren ? Warum erscheinen Menschen einander vertrauenswürdig ? Diese Fragestellungen führen auf die ultimate Ursachenebene und wurden hier beantwortet – nur am Rande freilich für Zucker, ganz umfassend hingegen für Kooperation und Prosozialität.712

5.4.2 Die nützlichen Kategorien: Ethnizität, Herrschaft und Geschlecht Ganz anders liegen die Dinge bei anderen Kategorien, für deren mangelnde Berücksichtigung die Sozialkapitaltheorie kritisiert wird (vgl. Fine 2010): Ethnizität, Herrschaft und Geschlecht.713 Zu jenen gäbe es aus evolutionärer Perspektive so 712 Zur handlungstheoretischen Tragweite der Frage, warum Zucker süß ist, siehe S. 98 ff. 713 Fine (2010: 19) spricht von einer „McDonaldisierung“ der Sozialtheorie durch die Sozialkapitaltheorie, weil in ihr komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge – zu denen diese Phänomene eigentlich gehören – auf ihre ökonomische Dimension reduziert und so trivialisiert werden.

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viel zu sagen, dass eine wirklich systematische Integration dieser Wissensbestände in die Sozialkapitaltheorie nur in weiterführender Forschung zu leisten sein wird. Allerdings sind auch hier schon manche dieser Anschlussstellen zutage getreten. Jene gilt es im Folgenden zu kondensieren und so wenigstens in der Form eines – hoffentlich weitere Forschung anregenden – Ausblicks herauszuarbeiten, in welchen ultimaten und proximaten Zusammenhängen sie mit Kooperation und Sozialkapital stehen. Ethnizität und kulturelle Fremdheit: Die Konstruktion moralischer Gemeinschaft In der Forschung zum Zusammenhang von Sozialkapital und Ethnizität (‚race‘) werden vor allem zwei Stränge verfolgt. Erstens untersuchen Migrationsforscher, wie Netzwerke von Migranten strukturiert sind und welche Auswirkungen das einesteils auf das Migrationsverhalten sowie andernteils auf die individuelle und kollektive Performanz von Migranten hat (Bankston 2014; Ryan 2011; Scheller 2015; vgl. Gamper 2015). Zweitens – und politikwissenschaftlich noch wichtiger – hat sich eine engagierte Diskussion darum entsponnen, wie sich wachsende ethnische Heterogenität auf kollektives Sozialkapital von Gesellschaften auswirkt, also auf gesellschaftliche Integration und Kohäsion sowie die Fähigkeit zur Überwindung kollektiver Handlungsdilemmata (Alesina und Ferrara 2000, 2002; Costa und Kahn 2003; Letki 2008; Portes und Vickstrom 2015; Putnam 2007; Reeskens und Wright 2013). Allerdings bleibt auch auf diesem demokratietheoretisch so wichtigen Forschungsfeld die Konzeptualisierung von Sozialkapital unterspezifiziert, heuristisch und normativ verzerrt (Cheong et al. 2007; Portes und Vickstrom 2015) – und handlungstheoretisch ungenügend fundiert. Zwar wird regelmäßig auf das Phänomen der Eigengruppenbevorzugung sowie auf Vorurteile gegenüber Fremden hingewiesen, ebenso auf den Gegensatz von Konflikt- und Kontakthypothese, also auf die Frage danach, ob Kontakt zwischen Ethnien die soziale Integration verbessert oder Konflikte verschärft (siehe etwa Fieldhouse und Cutts 2010; Koopmans und Schaeffer 2015; Putnam 2007; Stolle et al. 2008). Jedoch gibt es keine nennenswerten Bemühungen, die psychologischen Hintergründe dieser Phänomene wirklich zu verstehen und in handlungstheoretischen Kausalmodellen abzubilden, statt ihnen nur deduktiv nachzuspüren. Vieles von dem, was aus evolutionär-anthropologischer Sicht für das Verständnis der Rolle von (ethnischer) Heterogenität wichtig ist, wurde hier behandelt. So ist deutlich geworden, dass es zur Natur des Menschen gehört, moralische Doppelstandards an Mitglieder der eigenen Gruppe und „Fremde“ anzulegen. Mit dem Übergang zur ultrasozialen Lebensweise wurde es notwendig, die Dividen-

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de des Gruppenlebens gegen Dritte abzusichern. Dieser Selektionsdruck schlug sich in der Evolution entsprechender psychologischer Heuristiken nieder, die der bewussten Reflexion erstinstanzlich entzogen bleiben. Intuitive Skepsis gegenüber Fremden ist deshalb die Kehrseite der Fähigkeit zur Vergemeinschaftung in Gruppen.714 Gruppenzugehörigkeit wird dabei einesteils über physiologische Ähnlichkeit „erkannt“, andernteils – und hier wichtiger – über kulturelle Ähnlichkeit. Offenkundig hat sich in der Stammesgeschichte in phänotypisch recht heterogenen Gruppen die Heuristik als adaptiv erwiesen, von geteilten Symbolen, Ritualen, Ideologemen und Alltagspraxen auf für die eigenen Kooperationsentscheidungen relevante verborgene Eigenschaften zu schließen. Solche kulturellen Epiphänomene moralischer Gemeinschaft sind nämlich teure und deshalb ziemlich fälschungssichere Hinweise auf normative Übereinstimmungen hinsichtlich handlungsleitender Selbstverständlichkeiten und geltender Regeln. Kongruente kulturelle Marker (im englischen Sprachgebrauch: ‚ethnic markers‘) werden also als Hinweise auf Erwartungssicherheit sowie auf die Möglichkeit indirekter Reziprozität gedeutet – und steigern so die Wahrscheinlichkeit prosozialer Interaktionen.715 Ein komplementärer psychologischer Mechanismus besteht in starken vorreflexiven Motivationen, die darauf hinwirken, genau diesen Anforderungen gerecht zu werden und sich durch eine entsprechende kulturelle Markierung Zugriff auf Sozialkapital zu sichern: Eigene Wahrnehmungen und Weltsichten werden permanent auf Konformität mit antizipierten kollektiven Wissensbeständen der Eigengruppe abgeglichen; zudem werden bevorzugt neue Informationen gelernt, welche diese kulturelle (Gruppen-)Identität nicht gefährden.716 So entsteht eine autokatalytische Verdichtung von Netzwerken der Ähnlichen – oder präziser: der sich als ähnlich Erkennenden – inklusive der zu erwartenden negativen Effekten für soziale Kohäsion und gesellschaftliche Integration. Die in den Sozialwissenschaften wohlbekannten Funktionslogiken von bindendem So­ zialkapital und Homophilie sind deshalb so oft zu besichtigen, weil sie nachgerade notwendigerweise auftreten, wenn Menschen soziale Netzwerke ausbilden. Kul714 Siehe zu alldem S. 362 ff., vgl. auch S. 455 f. 715 Zu beachten ist, dass dem englischen Begriff ethnic marker jene Konzeptualisierung von Ethnie zugrunde liegt, die auch in der Ethnomethodologie gebräuchlich ist (Jensen et al. 2015; McElreath et al. 2003; Richerson und Boyd 1987): Eine Ethnie ist eine beliebig große Gruppe von Personen, die eine spezifische, gemeinsame soziale Wirklichkeit hervorbringt, aufrechterhält und ihren Sinndeutungen und Handlungen zugrunde legt (Patzelt 1987, 1989). Zu empirischen Befunden im Zusammenhang mit moralischen Gemeinschaften und kulturellen Markern siehe S. 346 ff. bzw. S. 366 ff. Im Übrigen sind diese Erkenntnisse allesamt Bekräftigungen einen zentralen Bourdieuschen These. Vgl. dazu S. 524 f. 716 Siehe dazu die Befunde auf S. 372 ff.

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turelle Zuschreibungen und ihre Effekte auf gesellschaftliche Integration und sozialen Frieden haben ihre Wurzeln in der menschlichen Natur. Die aus Xenophobie und Eigengruppenbevorzugung resultierenden Probleme lassen sich deshalb wohl nur wirkungsvoll bekämpfen oder wenigstens eindämmen, wenn entsprechenden Handlungsstrategien diese evolutionär-anthropologischen Erkenntnisse zugrunde gelegt werden. Wenig Anlass gibt es zu der hehren Hoffnung, ethnische Konflikte und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ließen sich durch pädagogische Maßnahmen ein für alle Mal beseitigen. Denn zwar sind Gruppenzugehörigkeit und -grenzen hochgradig sozial konstruierbar; jedoch bleiben sie grundlegende Kategorien des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Handelns. Menschen neigen aufgrund von angeborenen Informationsverarbeitungsmustern dazu, die soziale Welt als eine Welt der Zwischengruppenkonflikte wahrzunehmen. Es ist deshalb in keiner Weise zielführend, wenn Deutungen ethnisch motivierter sozialer Konflikte vor allem auf solche psychischen und charakterlichen „Deformationen“ abstellen – und das auch noch in einer stereotypen Weise, welche die hier vertretene These nur bekräftigt. Nützlicher wäre wohl, den klassisch sozialtheoretischen Weg zu beschreiten und ausgehend von einem möglichst zutreffenden Menschenbild zu prüfen, aus welchen kulturellen, sozialen und institutionellen Gründen eine überwölbende Integration fehlschlägt. Der fruchtbarste Lösungsansatz dürfte nämlich in der Konstruktion überwöl­ bender Sinnzusammenhänge liegen, in der Stabilisierung von gemeinsamen kulturellen Nischen. Denn weil an Gruppenzugehörigkeit geknüpfte Neigung zur Prosozialität von übereinstimmenden kulturellen Marker ausgelöst wird, haben soziale Konstruktionen, Weltanschauungen und diskursiv vermittelte Deutungsroutinen enormen Einfluss auf den wahrgenommenen – und damit letztlich auch: faktischen – Verlauf von Gruppengrenzen. In der Entwicklung integrierender Narrative liegt deshalb enormes Potential. Allerdings lässt sich die Empfindung, Teil eines bestimmten Kollektivs zu sein, nicht einfach voluntaristisch „von oben“ induzieren. Verbindende Erzählungen werden dann besonders gut verfangen, wenn sie nicht nur die rationale Vernunft ihrer Adressaten ansprechen, sondern zudem an die Tiefenstruktur menschlicher Sozialität anschließen. Dazu gehören etwa das Streben nach Angenommensein, nach Zugehörigkeit und nach dem Aufgehen in größeren Kontexten gemeinsamen sozialen Sinns, aber auch eine Sensibilität für Gerechtigkeit, Gruppengrenzen sowie Ressourcenkonflikten.717 Integrierende Narrative müssen zu diesen anthropologischen Konstanten passen, mit den ko-

717 Vgl. hierzu S. 440 ff.

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gnitiven Verarbeitungsroutinen unserer sozialen Gehirne und mit den lebensweltlichen Erfahrungen in positive Resonanz gelangen. Unter Demagogen und Populisten werden sich immer wieder solche finden, die bestens verstehen, sich all dieser Mechanismen zu bedienen. Umso wichtiger wird es für gemäßigte Kräfte in Krisenzeiten sein, die Logik der Wechselwirkungen von menschlichen Gehirnen und kulturell konstruierten Zwischenwelten selbst gut zu verstehen. Noch einmal: Die Herausforderung liegt darin, politische Erzählungen und Institutionen zu entwerfen, die einen nicht nur vernünftigen, sondern auch intuitiv überzeugenden gemeinsamen Sinn- und Handlungsrahmen aufspannen. Zu der Frage, welche Rahmenbedingungen es dafür braucht, besteht grundlegende Einigkeit zwischen evolutionärer Multilevelselektionstheorie und politikwissenschaftlicher Pluralismustheorie:718 Es braucht vor allem eine faktische Einhegung der Binnenkonkurrenz um Ressourcen, zu erreichen über eine Kombination aus effektiven Sanktions- und Konfliktregulierungsmechanismen sowie echter Kampfparität gesellschaftlicher Teilgruppen – kurzum: Erwartungssicherheit und Gerechtigkeit. Und es braucht eben einen alle Elemente der Gesellschaft überspannenden Konsens über normative und prozedurale Selbstverständ­ lichkeiten. In dem Streit zwischen Kommunitaristen und Liberalen darüber, wie die Zustimmung zu einem solchen Minimalkonsens über Verfahren, Ordnung und Werte auf Dauer abgesichert werden kann, ist beiden Seiten in verschiedenen Punkten zuzustimmen. Wenngleich der Liberalismus mit seiner Forderung nach Gerechtigkeit als Fairness fraglos richtig liegt, ist die liberale Hoffnung unbegründet, dass sich die Legitimität einer solchen Ordnung allein durch rationale Argumente und Appelle an die Vernunft herstellen ließe (Rawls 1979, 2014; vgl. Portes und Vickstrom 2015). Legitime Ordnung speist sich auch aus geteilten Sinnhorizonten und Handlungskontexten, aus kulturellen Konstruktionen, die es möglich machen, Gesellschaften als gemeinsame Projekte zu begreifen – und vor allem: zu empfinden. Das stützt die Kernthese des Kommunitarismus (Etzioni 1995, 2014; Taylor 2016), nach der ein rationaler Minimalkonsens wohl langfristig nur über eine soziale Minimalidentität zu stabilisieren ist.

718 Zum Zusammenhang von Zwischengruppenkonkurrenz und demokratischem Pluralismus vgl. S. 447 ff.

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Herrschaft und Dominanz: Die Wurzeln der Legitimität Sozialtheoretisch so wichtige Phänomene wie Herrschaft und Dominanz finden in der Sozialkapitaltheorie bisher kaum Berücksichtigung. Zwar wurde die Kategorie des ‚linking social capital‘ eingeführt, um den Ressourcencharakter von Beziehungen zu politischen Institutionen und mächtigen Führungsfiguren zu erfassen (Woolcock 2001; Szreter und Woolcock 2004). Auch gibt es Studien zum Zusammenhang von Sozialkapital und Führung (‚leadership‘) bei der Lösung von Allmendeproblemen (Bodin und Crona 2008; Gutiérrez et al. 2011) sowie im Hinblick auf Manager (McCallum und O’Connell 2009) und Verantwortungsträger in lokalen Gemeinden (Purdue 2001). Im Großen und Ganzen bleibt solche Forschung aber bei der Konzeptualisierung von Führung, Herrschaft und Dominanz weit hinter der etablierten Soziologie zurück – und erst recht hinter den evolutionären Humanwissenschaften. Hier wurden Dominanz, Führung und Herrschaft vor allem in drei Zusammenhängen behandelt. Erstens ging es zumindest implizit um Führung, als die Rolle von Prestige und Erfolg für kulturelles Lernen aufgezeigt wurde: Menschen neigen dazu, angesehene und als erfolgreich geltende Personen zu imitieren – was jene in die Position nicht nur von Meinungsführern, sondern von umfassenden Rollenmodellen bringt.719 Zweitens hat sich herausgestellt, dass Menschen ein ausgeprägtes Egalitarismus-Syndrom auszeichnet (Boehm 1993; vgl. Gavrilets 2012): Sie empfinden eine starke Abneigung gegenüber schierer Dominanz und betrachten Führung nur dann auf Dauer als legitim, wenn jene der Herstellung und Wahrung von Gerechtigkeit dient bzw. als solche wahrgenommen wird. Diese Neigung zum Egalitarismus erlaubte es Menschenkollektiven, das unter anderen Primaten und auch sonst in der belebten Natur sehr weit verbreiteten Ordnungsprinzip der Dominanzhier­ archie einzuhegen und in den Dienst des Gemeinwohls der Gruppe zu stellen.720 Drittens verfügen Menschen über ein in der Natur einmaliges Verständnis für die universelle Geltung kulturell konstruierter Regeln: Sie neigen dazu, sich in bestehende Gemeinschaften samt ihren Normensystemen einzufügen und für die Einhaltung der geltenden Regeln notfalls auch unter Inkaufnahme eigener Kosten zu sorgen.721 Hierin liegen wohl die anthropologischen Ermöglichungsbedingungen dessen, was in den Sozialwissenschaften als Herrschaft des Rechtes (‚rule of law‘) bezeichnet wird (Bellamy 2001; Hamara 2013). Diese verlässliche Gültigkeit 719 Zur modellbasierten kulturellen Transmission siehe S. 373 f. 720 Siehe dazu S. 346 ff., vgl. zum Unterschied von Dominanz- und Geltungshierarchien auch den nächsten Abschnitt. 721 Siehe S. 358 ff., vgl. auch S. 372 f.

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von Normen wird wiederum als eine der wichtigsten Erscheinungsformen kollektiven Sozialkapitals angesehen (Knack und Keefer 1997; Woolcock und Narayan 2000). Vor dem Hintergrund der hier zusammengetragenen Befunde wäre jedoch zu präzisieren: Die Herrschaft des Rechts ist ein wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung jenes gesellschaftlichen Aggregatzustandes, jenes prozessualen Dispositivs routinemäßiger Kooperation, der sich auf den Begriff des kollektiven Sozialkapitals bringen lässt. Diese Einsichten sind vollkommen anschlussfähig an das klassische Verständnis von Legitimität als Geltung von Herrschaft als rechtens (Weber 1921/1980): Dominanz wird dann akzeptiert, wenn als gerecht empfundene Normen von angesehenen Menschen vertreten und durchgesetzt werden. Einmal mehr treten hier nur die kausalen Tiefenstrukturen von längst korrekt Beschriebenem zutage. Plausible Nachjustierungen sind allerdings auch möglich: So lässt sich die bei Weber angelegte Unterteilung von Legitimitätsquellen – Religion; Wertrationalität; „rein gefühlsmäßige Hingabe“ (Weber 1921/1980: 17) – in dieser Form nicht durchhalten. Dass Rationalität, Emotionalität und Transzendenz nämlich keine empirisch getrennten Phänomene sind, ist hier immer wieder deutlich geworden, insbesondere im Zusammenhang mit den individualpsychologischen Grundlagen der Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion von Religion.722 An dieser Stelle tritt die mangelnde anthropologische Fundierung auch von Legitimitätskonzepten zutage. Bisher gibt es noch kaum robuste sozialwissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie das Interaktionsverhältnis von sozialen Herrschaftsstrukturen und psychologischen Grundlagen wie moralischen Intuitionen sowie sozialen Emotionen beschaffen sein muss, damit positive Rückkopplungsschleifen entstehen. Auch Überzeugungen wie die, dass die bestehenden Institutionen die angemessensten sind (Lipset 1962) und dass die politische Ordnung in Übereinstimmung mit den eigenen moralischen Werten und Ansichten funktioniert (Easton 1965), haben affektive und emotionale Komponenten und werden nicht nur mit rationaler Vernunft vertreten oder verworfen.723 Stattdessen gibt es nicht nur funktionale, sondern auch inhaltliche Kriterien für legitime Herrschaft, die älter sind als unsere Spezies. So lässt sich das evolvierte Gerechtigkeitsempfinden bis zu seinen Wurzeln bei gemeinsamen Vorfahren mit anderen Säugetieren wie Primaten, Hunden und sogar Ratten zurückverfolgen. Menschen beurteilen die Angemessenheit von Regeln und Verfahren demnach niemals nur bewusst-rational, sondern stets auch auf der Grundlage von evolutio722 Siehe dazu S. 390 ff. 723 Ausgehen können Bemühungen um handlungstheoretische Mikrofundierung des Legiti­ mitätsbegriffs etwa von den konzeptionellen Vorarbeiten von Easton (1965), Kielmansegg (1997), Luhmann (1969) und Sternberger (1967).

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när teils recht alten Emotionen und Intuitionen. Anders formuliert: Hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 1979) waltet nicht die reine Vernunft, sondern angeborene normative Apriori wie Fairnessinstinkte und andere moralische Empfindungen.724 Ihrer Bewertung müssen Herrschaft und Ordnung standhalten, wenn sie nachhaltig und nicht nur über permanenten Zwang stabilisiert werden sollen. Aus gesellschaftlich privilegierter und machtvoller Stellung wird deshalb stets die Verantwortung erwachsen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Und auch „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969) kann auf Dauer nur gelingen, wenn sowohl die Regeln als auch die materiellen Ergebnisse zu den nicht kulturell kontingenten normativen Anforderungen der menschlichen Natur passen, die sich einer langen Stammesgeschichte in egalitären Jäger-und-Sammler-Gesellschaften verdanken. Zwar zeichnet sich menschliche Sozialität fraglos dadurch aus, dass neben das archaische Ordnungsprinzip der Dominanzhierarchie („Herrschaft des Stärksten“) eine solche Geltungshierarchie („Herrschaft des Angesehenen“) getreten ist (Henrich und Gil-White 2001; vgl. Bischof-Köhler 2011).725 Jedoch heißt das nicht, dass evolutionär ältere psychologische Anpassungen an das Leben in despotischen Sozialordnungen einfach verschwanden. Hierarchien sind in der belebten Natur schon sehr lange relevante Selektionsfaktoren (vgl. Koski et al. 2015). Auch in unserer Spezies haben sie sich deshalb ebenso in kognitiven und behavioralen Adaptationen niedergeschlagen, wie es hier für viele andere vermeintlich rein sozial und kulturell konstruierte Figurationen gezeigt wurde. Viel gäbe es über das Engagement im sozialen Wettbewerb und in Rangkämpfen aus ultimater Perspektive zu sagen, etwa zum Aufbau von sowie zum Navigieren in stabilen Rangordnungen und zur ritualisierten Aushandlung von Rangstreitigkeiten (Buss 2012: 361 ff.; Voland 2013: 52 ff.). Offenkundig jedenfalls steht dieser Phänomenbereich in engem Zusammenhang mit der Rolle von sozialen Beziehungen für individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit – also mit So­ zialkapital. So hat sich hier gezeigt, dass eine hohe Position in Hierarchien einesteils direkten Zugriff auf mehr und bessere Ressourcen verschafft, andernteils ein solch hoher Rang als teures Signal für potentielle Kooperations- und Fortpflanzungspartner fungieren kann. Beides gilt sowohl für die Vormachtstellung in einer

724 Zu moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen siehe S. 282 ff., zum unmittelbaren Kontext des Arguments siehe ferner S. 346 ff. Im Übrigen geht Rawls (1979) selbst vom Bestehen einer apriorischen Moralität aus (Vöneky 2010: 53). Wie diese aber genau beschaffen ist, bleibt bei ihm offen. Diese konzeptionelle Lücke lässt sich inzwischen schließen (vgl. Hauser et al. 2007, 2008). 725 Vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt zur Rolle von Geschlechtlichkeit.

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Dominanzhierarchie als auch für großes Sozialprestige, also die herausgehobene Stellung in einer Geltungshierarchie.726 Hinzuzuziehen wären ferner Befunde zu leadership (Van Vugt et al. 2008; King et al. 2009; Smith et al. 2016), geht es dort doch um Lösungen für soziale Koordinationsprobleme, um die Bildung vertikaler Allianzen (also um ‚linking social capital‘) sowie um kollektive Handlungsfähigkeit. Schon in diesem skizzenhaften Aufriss dürfte aber klargeworden sein, dass auch die Macht- und Herrschaftsdimension menschlicher Sozialität durch eine evolutionär-anthropologische Mikrofundierung handlungstheoretisch greifbarer wird. Die theoretische Integration mit einer auf einem ebenso empirisch robusten Menschenbild aufbauenden Sozialkapitaltheorie wird ganz ohne Synkretismus möglich sein; schließlich emergieren Netzwerke und Hierarchien aus derselben Natur des Menschen. Weil sich aber die Beziehungsstrukturen von Männern und Frauen ebenso unterscheiden wie ihr Umgang mit Dominanz und Status, ist ferner eine dezidiert evolutionäre Perspektive auf Geschlechtlichkeit unerlässlich. Sex und Gender: Geschlechtlichkeit in evolutionärer Perspektive Die Rolle der Kategorie des Geschlechts in Sozialkapitaltheorien stellt sich bisher ambivalent dar. Das gilt sowohl für die sozial konstruierte Dimension (‚gender‘) als auch für biologische Geschlechterunterschiede (‚sex‘). Zwar hat empirische Sozialkapitalforschung immer wieder die Relevanz von Geschlechtsunterschieden (gender & sex) für relationales Sozialkapital aufgezeigt, jedoch konnten dafür bisher keine überzeugenden Erklärungen angeboten werden (siehe Brands et al. 2014; Burt 1998; Campbell 1988; Leeves und Herbert 2014; Levin und Cross 2004; Lutter 2015; Meinzen-Dick et al. 2014; Moore 1990; Narayan und Shah 2000). Es fehlen schlicht die theoretischen Mittel zur Erfassung von Geschlechterunterschieden im Hinblick auf verfügbares Sozialkapital (Fine 2010: 68 ff.). Zwar haben Kanazawa und Savage (2004) vorgeführt, dass gerade ein evolutionär-anthropologischer Zugriff hier nicht nur möglich, sondern überaus nützlich ist. Das blieb bisher aber ohne nennenswerte Rezeption. Auf eine Erörterung von Geschlechtsunterschieden musste hier weitgehend verzichtet werden. Das Thema ist insgesamt zu komplex und zu wichtig, um es sozusagen „nebenbei“ abzuhandeln. Zudem ist die „Gender-Problematik“ ein sensibles Reizthema in Debatten innerhalb der Sozialwissenschaften und zumal im interdisziplinären Verständigungsversuch: Von vielen Sozialwissenschaftlern werden evolutionär-anthropologische Perspektiven auf Geschlechtlichkeit nicht sel726 Zu den einschlägigen Befunden siehe S. 262 ff. (Tierreich) sowie S. 276 ff. (Menschen).

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ten rundheraus abgelehnt – insbesondere wenn sie politisch links stehen, qualita­ tiven Forschungsansätzen zuneigen und in dezidiert feministischer Perspektive auf ‚gender‘ blicken (Cowan 2014; Geher und Gambacorta 2010; Jonason und Schmitt 2016). Gerade in der „postmodernen“ und „kritischen“ Literatur etwa aus dem Bereich der Feminismusforschung oder den Gender Studies steht man naturalistischen – in ihrer Sprache häufig: „naturalisierenden“ – Ansätzen mit unverhohlener Skepsis gegenüber (vgl. etwa Gildemeister und Hericks 2012; Krall 2014; Palm 2010).727 Dieser Kontroverse zwischen epistemischen Gemeinschaften soll hier nicht weiter nachgegangen werden, weil sie weit außerhalb des Erkenntnisinteresses liegt. Es bleibt aber zu konstatieren, dass eine empirisch-analytische Behandlung zumal der evolutionären Grundlagen von Geschlechtsunterschieden allzu oft aufgrund von großer ideologischer oder gar persönlicher Betroffenheit in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht durchdringt. Dass diese zweifellos vorhandenen Vorbehalte eigentlich unbegründet sind und warum das alles für Sozialkapitalforschung wichtig ist, lässt sich jedoch rasch mindestens exemplarisch demonstrieren – und es ist hier auch einige Male angeklungen.728 So hat sich gezeigt, dass sich die Strategie, altruistisch zu handeln, um soziales Prestige zu erlangen, evolutionär durchsetzen konnte, weil sie genetischen Eigeninteressen im Wettbewerb um potentielle Fortpflanzungspartner dient. Die verbreitete ultimate Erklärung dafür lautet wie folgt: Weil Freigiebigkeit und sozialer Status schlecht fälschbare „teure Signale“ für fitnessrelevante Merkmale wie Ressourcenausstattung und genetische Fitness sind, kann ihre Zurschaustellung die Attraktivität beim anderen Geschlecht – und damit: den Reproduktionserfolg – erhöhen. Und tatsächlich hat sich diese Theorie des Handicap-Altruismus als robuste Erklärung prosozialer Motivationen erwiesen.729 Auffällig an der referierten Befundlage war jedoch, dass sowohl die prosoziale Prahlerei als auch ihre messbare Fitnessdividende vor allem bei Männern zu beobachten ist. Woher aber rühren diese systematischen Geschlechtsunterschiede ? Auch dieses Rätsel lässt sich nur mit evolutionsanalytischem Denkwerkzeug lösen. Der Grund liegt darin, dass neben der natürlichen Selektion entlang von adaptiven Problemen in der Umwelt auch der Paarungsmarkt ein wichtiger evolutionärer Selektionsfaktor sein kann.

727 Zu postmodernen Ansätzen vgl. S 43 f. sowie S. 51 f. 728 Für eine Auseinandersetzung mit Vorbehalten gegenüber evolutionären Perspektiven auf menschliches Verhalten siehe S. 99 ff. Mit Blick auf die folgende Argumentation sei an dieser Stelle nur daran erinnert, dass ein Verhalten evolutionär erklären zu können nicht heißt, es legitimieren zu wollen. 729 Siehe dazu S. 277 f., zu komplementären Befunden aus dem Tierreich vgl. S. 262 f.

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Synthese: Evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals

Sexuelle Selektion ergibt sich aus der Tatsache, dass die beiden Geschlechter in sexuell dimorphen Spezies in unterschiedlichem Maße in ihre Reproduktion investieren müssen (Darwin 1871; Trivers 1972; Waynforth 2011): Der somatische Aufwand des austragenden und aufziehenden Elternteils ist wesentlich höher als der des jeweils anderen. Dem Geschlecht mit dem höheren Elterninvestment entstehen somit auch höhere Kosten aus „Fehlverpaarungen“. Demnach gibt es eine evolutionäre Dividende darauf, genau solche Fehlallokationen von reproduktiven Ressourcen zu vermeiden. Daraus resultieren höhere Partnerwahlstandards und geschlechtsspezifische Aufmerksamkeitsverzerrungen hin zu entsprechenden Indikatoren. Für das jeweils andere Geschlecht bedeutet dieses Szenario einen höheren Selektionsdruck im Hinblick einesteils auf genau solche Merkmale, andernteils auf Erfolg in der Konkurrenz mit Geschlechtsgenossen. Kurzum: Für die Geschlechter führen unterschiedliche Wege zum differentiellen Reproduktionserfolg. Diese Dynamik ist die evolutionäre Triebfeder hinter physiologischen und behavioralen Geschlechtsunterschieden (Bischof-Köhler 2010, 2011; Hopcroft 2016). Das Elterninvestment fällt in der Regel für Weibchen höher aus als für Männchen – zumal bei Säugetieren. Die Konsequenz lässt sich idealtypisch mit folgender Faustformel ausdrücken: female choice, male competition. Überall dort, wo im Tierreich die genannten Voraussetzungen gegeben sind, zeigt sich dieses Muster: Männchen bewerben sich um wählerische Weibchen; und Weibchen haben evolvierte Präferenzen für Merkmale, die genetische Fitnessvorteile versprechen – etwa im Hinblick auf gute Gene oder die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Elterninvestment durch zusätzliche Ressourcen zu kompensieren.730 Auch in der menschlichen Stammesgeschichte trugen Frauen schon aufgrund der langen Schwangerschaft und des energetisch teuren Stillens wesentlich höhere somatische Kosten und Risiken im Zusammenhang mit der Reproduktion. Sie sind deshalb das wählerischere Geschlecht und gründen ihre Paarungsentscheidungen auf fitnessrelevante männliche Merkmale. Aus diesem Grunde betätigen sich Männer, ganz wie ihre Geschlechtsgenossen in vielen anderen Spezies, in der Zurschaustellung von Dominanz, Macht und Luxus. Es sind dies eben teure Signa-

730 Allerdings gibt es auch viele Spezies, in denen sich dieses Verhältnis umkehrt, Männchen also die Brutpflege oder gar – wie im Falle von Seepferdchen – das Austragen übernehmen. In diesen Fällen zeigen sich dann auch spiegelbildliche Geschlechtsunterschiede im Verhalten. Sie wiederlegen evolutionäre Erklärungen also nicht, sondern bekräftigen sie. Und natürlich gibt es dazwischen alle möglichen Graustufen, jeweils in Abhängigkeit vom Verpaarungs-, Fortpflanzungs- und Brutsystem. So fallen Geschlechtsunterschiede in streng monogamen Spezies minimal aus, weil die entsprechenden Anpassungsdrücke suspendiert sind (vgl. Voland 2013: 129 f.).

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le, die jenem Geschlecht Informationen über den reproduktiven Wert potentieller Partner liefern, welches in der Position ist, die Auswahl zu treffen.731 Ebenso verhält es sich aber mit altruistischer Freigiebigkeit und hohem Prestige: Beide verweisen auf dahinterstehende fitnessrelevante Kompetenzen sowie Ressourcen – und lassen sich deshalb auf Dauer nicht fälschen. So brachte die Dynamik der sexuellen Selektion einen Geschlechterunterschied in prosozialer Prahlerei und mithin in der Bereitschaft zur Generierung von Sozialkapital etwa durch uneigennützige Hilfeleistung sowie Normdurchsetzung hervor.732 Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass sich Argumentationen wie diese auf evolutionäre Zeit- und Wirkungsskalen beziehen. Behauptet wird nicht, dass Individuen ihre genetische Fitness tatsächlich kalkulieren oder sich gar der evolutionären Kausalzusammenhänge bewusst wären. Wie hier immer wieder zu betonen war, ist das sich zeigende Verhalten lediglich Ergebnis eines evolvierten verhaltenssteuernden Mechanismus, der proximat so arbeitet, als ob die Individuen diese ultimate Verrechnung tatsächlich vollführten (vgl. Voland 2013: 15).733 Ein weiterer für die Sozialkapitalforschung wichtiger Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt ich der Ausgestaltung ihrer sozialen Netzwerke sowie dem Umgang mit den im letzten Abschnitt behandelten Dominanz- und Geltungshierarchien. Männer neigen stärker dazu, sich in ersteren zu organisieren, während für Frauen soziales Ansehen das wichtigere Ordnungskriterium ist. Auch dieser Unterschied ist nicht vollkommen sozial konstruiert, sondern rührt vom Anpassungsdruck der sexuellen Selektion her (Bischof-Köhler 2011: 286 ff.). Männer haben starke evolvierte Motivationen, ihre intrasexuelle Konkurrenz um die Gunst des anderen Geschlechts in relativ stabilen Dominanzhier­ archien auszuhandeln. Sie haben für alle den evolutionären Vorteil, wesentlich geringere somatische Kosten zu verursachen als ein permanent geführter Konkurrenzkampf. Bei Frauen hat sich diese Prädisposition mangels entsprechendem Selektionsdruck schwächer ausgeprägt. Ihre sozialen Beziehungen struktu-

731 Nicht unerwähnt darf an dieser Stelle freilich bleiben, dass physische und institutionalisierte Dominanz auch einen auf Gewalt und Zwang basierenden Pfad zu reproduktivem Erfolg eröffnen, wie Natur- und Kulturgeschichte allenthalben vor Augen führen (vgl. Buss 2012). 732 Solche individuellen Eigenschaften sind nur dann teure Signale, wenn sie wirklich auf fitnessrelevante Eigenschaften hindeuten. Sexuelle Selektion kann aber in einem autokatalytischen Prozess dafür sorgen, dass diese Rechnung auch aufgeht. Schließlich werden jene Weibchen bevorteilt sein, die eine Präferenz für solche Eigenschaften haben, die ihrem Nachwuchs tatsächlich nützen. Folglich geben „erfolgreiche“ Weibchen auch ihre Präferenz für das „erfolgversprechende“ Merkmal des Männchens überproportional häufig in die nächste Generation weiter. Siehe zu teuren Signalen S. 259 ff., zum Mechanismus der sexuellen Selektion auch S. 223 und dort die Fußnote 303. 733 Siehe dazu S. 92 ff.

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rieren sich – aus vielerlei mit Elterninvestment, Philopatrie sowie Arbeitsteilung in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zusammenhängenden Gründen (BischofKöhler 2010) – stärker entlang von Geltungshierarchien, die auf sozialem Prestige basieren und Effekte sozialer Kontrolle verstärken. Evolutionäre Wissensbestände liefern also neue Perspektiven auf in der empirischen Sozialkapitalforschung allenthalten zutage tretende Befundmuster (vgl. Leeves und Herbert 2014; Smith 2000). Frauen sind wohl „von Natur aus“ besser dafür gerüstet, flexible Unterstützungsbeziehungen und Netzwerke indirekter Reziprozität aufzubauen, die allerdings fluider sind. Männern fällt es hingegen leichter, Zielerreichungsressourcen aus Kollaborationen in stabilen Rangordnungen zu ziehen. Natürlich prägen sich diese und viele andere Geschlechterunterschiede in der Realität nicht als trennscharfes Unterscheidungskriterium aus, sondern als ein Abstand der arithmetischen Mittel zweier gegeneinander verschobenen Glockenkurven, der auch in überaus geschlechtergerechten Gesellschaften nicht verschwindet (vgl. etwa Charles und Bradley 2009; Stoet und Geary 2018). Diesen Umstand erklären zu können, ist einer der entscheidenden Vorzüge einer evolutionären Theorie der Geschlechterunterschiede, wie sie mit einer anthropologischen Mikrofundierung der Sozialkapitaltheorie ohnehin gleichsam frei Haus mitgeliefert wird (vgl. Kanazawa und Savage 2004, 2009b). Ein weiterer Vorteil liegt in der Entwicklung inklusiver Perspektiven auf das Zusammenspiel von Sozialkapital, Dominanz und Geschlecht. Im letzten Abschnitt wurde aufgezeigt, dass die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften unserer Vorfahren von einem ausgeprägten Egalitarismus gekennzeichnet waren. Jener scheint sich wohl auch auf das Geschlechterverhältnis erstreckt zu haben (Dyble et al. 2015; Ryan und Jetha 2012). Erst die größere Relevanz der in weiblichen Geltungshierarchien gegenüber männlichen Dominanzhierarchien wichtigeren sozialen Reputation führte dann dazu, dass sich die Ausübung von Dominanz an anerkennenswerte Ziele zu knüpfen begann: Das teure Signal sozialer Anerkennung ist ein flüchtiges Gut und muss stets durch entsprechendes Verhalten neu errungen werden, um Nachteile im sozialen Wettbewerb und bei der Partnerwahl zu vermeiden. Indem männliche Dominanz- und weibliche Geltungshierarchien in ein ausgewogenes Verhältnis gerieten, ließ sich Führung in den Dienst des Egalitarismus stellen. Erst recht war dies der Fall, als die kommunikativen Fertigkeiten unserer Vorfahren soweit fortgeschritten waren, dass komplexe Verständigung über Reputation möglich wurde. Gerade diese kommunikative Entkopplung sozialer Beziehungen von reinen Machtstrukturen verschaffte Entwicklungsspielräume für Netzwerke der indirekten Reziprozität: Die Relevanz von Konformitäts- und Kooperationsnormen für die individuelle Fitness wuchs. Die evolutive Dynamik menschlicher Geschlechterverhältnisse dürfte demnach wohl noch weit über die

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Logik des Handicap-Altruismus hinaus zu der menschlichen Fähigkeit beigetragen haben, individuelles und kollektives Sozialkapitals urbar zu machen.734 Offenkundig aber – und hier kommt dann die dezidiert feministische Per­ spektive zu ihrem Recht – ist von diesem Egalitarismus in der dokumentierten Kulturgeschichte menschlicher Zivilisationen nicht viel übriggeblieben. Wie schon deutlich geworden sein dürfte, lässt sich dies ebenfalls mit evolutionstheoretischen Mitteln erklären und kritisieren: Gerade die intrasexuelle Konkurrenz von Männern um die Gunst von Frauen – und ironischerweise auch die Bevorzugung mächtiger Männer durch Frauen (Betzig 1986) – hat lange vor dem Aufkommen des Jäger-und-Sammler-Egalitarismus die männliche Fähigkeit entstehen lassen, stabile Dominanz- bzw. Repressionsstrukturen zu bilden (Buss 2012: 361 ff.; Voland 2013: 52 ff.). Männlicher Despotismus ist also ebenso ein Produkt der sexuellen Selektion wie das ausgeprägte männliche Bedürfnis nach sozialem Status. Das ist wohlgemerkt ein empirisch-analytisches, kein normatives Argument. Es soll nur erklären und beileibe nicht rechtfertigen, dass und warum der Egalitarismus dort für viele Jahrtausende wieder verschwand, wo sich immer komplexere kulturelle Nischen verfestigten. Aufgrund des in ihnen entstehende Regelungs- und Koordinierungsbedarf dürfte in der kulturellen Gruppenselektion die Bildung stabiler Rangordnungen begünstigt worden sein – und an jene wiederum sind Männer eben besser angepasst als Frauen. Die menschliche Kulturgeschichte – aber auch schon die bis zu den gemeinsamen Vorfahren mit anderen Primaten reichende Stammesgeschichte – lässt sich demnach tatsächlich als der Versuch von Männern lesen, sich einesteils gegenüber Frauen mit Rangstreben und Dominanzgebaren als überlegen und ressourcenstark zu präsentieren („ihnen etwas zu bieten“) sowie sie andernteils als „Fortpflanzungsressource“ auch gewaltsam zu monopolisieren und zu kontrollieren (Buss 1996; Smuts 1995). Der Egalitarismus von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften war jedenfalls nicht von Dauer und scheiterte in den meisten Gesellschaften an der männlichen Prädisposition, kulturelle Figurationen zu institutionalisieren, die auf Dominanz und Hierarchie fußen. Natürlich verdienten diese grob verdichteten evolutionär-anthropologischen Befunde und Interpretationen noch vielerlei Präzisierungen und Ergänzungen (siehe etwa Voland 2013: 127 ff.; Workman und Reader 2010: 58 ff.). So müssen sie stets im Kontext von menschlicher Verhaltensflexibilität und kultureller Variabilität gesehen werden. Evolutionäre Theorien gehen aber ohnehin nicht von einem genetischen Determinismus aus, sondern von komplexen Gen-Umwelt-​

734 Zu indirekte Reziprozität vgl. S. 254 ff. (Theorie) und S. 270 ff. (Empirie), zu sozialer Reputation auch S. 278 ff.

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Synthese: Evolutionäre Anthropologie des Sozialkapitals

Interaktionen.735 Sie sind jedenfalls unentbehrlich, um die kausalen Mechanismen gerade hinter kritisierten Zuständen zu begreifen – und so auch besser zu verstehen, mit welchen Mitteln sie überwunden werden können (vgl. Buss und Schmitt 2011; Konik und Smith 2013; Smuts 1995). Denn nur in evolutionärer Perspektive wird ein vollständiges Bild der menschlichen Natur erkennbar.

735 Siehe dazu grundlegend S. 101 ff., konkret im Hinblick auf Sozialkapital ferner S. 300 ff. sowie S. 435 ff.

6 Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

In der vorliegenden Studie wurde der Frage nachgegangen, welche anthropologischen Wissensbestände der Sozialkapitaltheorie zu ihrem eigenen Besten zugrunde gelegt werden sollten. Zu prüfen war die Anfangsvermutung, dass eine dezidiert evolutionäre Perspektive auf die Natur des Menschen Wesentliches zu deren handlungstheoretischer Mikrofundierung beizutragen und mithin zentrale Aporien und Defizite zu beheben vermag. Auf diese Weise sollte exemplarisch aufgezeigt werden, welches Potential für sozialwissenschaftliche Theoriebildung darin steckt, politische Anthropologie als interdisziplinäres und dezidiert empirisches Forschungsprogramm zu betreiben. Nicht zuletzt galt es, die metatheoretischen und methodischen Grundlagen genau dafür zu legen. Im Folgenden soll abschließend umrissen werden, wie gut dieses mehrstufige Unterfangen gelungen ist.

6.1 Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive Die Antwort auf die Forschungsfrage lässt sich in fünf zentralen Ergebnissen verdichten, welche die Teilschritte dieser Untersuchung erbracht haben. Erstens hat die kritische Analyse der Sozialkapitaltheorien in Kapitel 3 gezeigt, dass sich eine Fülle von Aporien und Defiziten der Sozialkapitalforschung auf die sozialwissenschaftliche Eigenart zurückführen lässt, eigentlich anthropologische als methodologische Fragen zu behandeln. Ihre handlungstheoretischen Grundlagen beziehen Sozialkapitaltheorien nämlich im Wesentlichen aus zwei Quellen. Einesteils sind dies Rational-Choice-Prämissen, nach denen Individuen rationale Nutzenmaximierer sind (‚Homo oeconomicus‘), andernteils behavioristische Sozialisa­ tionsmodelle, die Menschen als vollständig kulturell determinierte Wesen ausweisen (‚Homo sociologicus‘). Beide Verhaltensmodelle basieren auf gegensätzlichen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 C. Meißelbach, Die Evolution der Kohäsion, Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25056-0_6

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

Vorstellungen über das Verhältnis von sozialer Mikro- und Makroebene. Weil sie jedoch jeweils für sich das empirisch beobachtbare Sozialverhalten von Homo sapiens nicht befriedigend abzubilden vermögen, werden sie in Sozialkapitaltheorien in einer methodologischen Zwangsehe amalgamiert – ganz so, als ließe sich die empirische Frage nach der Natur des Menschen durch die Kombination zweier empirisch unterkomplexer methodologischer Prämissen klären, die noch dazu logisch inkompatibel sind. Dieses inkonsistente behavioristisch-ökonomistische Menschenbild mündet in einer Vielzahl konzeptioneller und definitorischer Unschärfen der Sozialkapitaltheorie. So ist es bisher noch nicht gelungen, eine wenigstens weithin akzeptierte Definition von Sozialkapital und robuste Konzeptualisierungen seiner Kernkategorien (soziale Netzwerke, Vertrauen, Normen und Werte) zu erarbeiten. Zudem fehlen überzeugende Erklärungsmodelle zu den Ursachen und Folgen von So­ zialkapital, etwa im Hinblick auf dessen bindende und brückenbildende Funktion. Darüber hinaus bestehen grundsätzliche Unklarheiten über das Verhältnis von interindividuellen Beziehungsstrukturen einerseits und Sozialkapital in Kollektiven andererseits – und das obwohl doch gerade mit Sozialkapitaltheorien ein dritter Weg zwischen Akteurs- und Strukturtheorien zu gehen versucht wurde. Nicht zuletzt leidet das Konzept an normativen, gar ethnozentrischen Verzerrungen. Weil nicht die psychosozialen Ursachen von Sozialkapital, sondern spezifische Folgen in westlichen Demokratien den empirischen Ankerpunkt verbreiteter Konzeptualisierungen bilden, fehlt ein allgemeiner Bezugsrahmen, der die kausale Mechanik in verschiedenen kulturellen Kontexten analytisch fassbar macht. Unter dem Strich ist die Sozialkapitaltheorie bis heute eine Proto-Theorie der Kooperation geblieben. Es fehlt eine leistungsfähige Handlungstheorie, welche die bedingte menschliche Bereitschaft zu prosozialem und gemeinsinnigem Handeln wirklich erklären kann – und damit den Kern von Sozialkapital. Besonders deutlich ist das an der Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Motivationen geworden, die sich als ein wenig theoriehaltiger Versuch entpuppt hat, mit konventionellen Mitteln letztlich unverstanden gebliebene menschliche Handlungsantriebe abzubilden. Weil aber diese motivationalen Wurzeln noch weitgehend im Dunklen liegen, ist bis heute unklar geblieben, was Sozialkapital ist, wie es entsteht und wie es wirkt.736 Wie – zweitens – im Zuge der Analyse der evolutionären Wurzeln der Prosozialität in Kapitel 4 vor Augen geführt wurde, löst die theoretische Integration mit evolutionstheoretischen Ansätzen viele dieser Probleme. Soziale Phänomene lassen sich nur vollständig begreifen, wenn neben den proximaten Ursachen (An736 Siehe zu alldem mit weiteren Verweisen die Zusammenfassung der Befunde aus Kapitel 3 ab S. 189.

Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive 515

reize, Motivationen, Einfluss von Sozialisation und Enkulturation usw.) auch die ultimaten Ursachen (adaptive Probleme, Selektionsdrücke, Verlauf der Stammesgeschichte usw.) in die Analyse einbezogen werden. Genau das leistet die evolutionäre Anthropologie.737 Sie liefert Einsichten in die naturgeschichtlichen Bedingungsfaktoren menschlicher Sozialität. Auf dieser Grundlage lassen sich Möglichkeitsräume und Wahrscheinlichkeitsdichten in proximaten Kausalgefügen erheblich konkretisieren. Diese empirisch robusten und theoretisch konsistenten Wissensbestände können der Sozialkapitaltheorie als solide handlungstheoretische Basis dienen und so helfen, ihren explanatorischen und praktischen Wert erheblich zu steigern. Warum soziale Beziehungen für Menschen eine Form von Kapital darstellen, erschließt sich nur über ein Verständnis der Tatsache, dass Menschen ihren sozialen Beziehungen einen Wert beimessen, also bereit sind, in sie zu investieren. Gerade die positive Kooperationshaltung einer Person ist anderen ja ein Quell von Zielerreichungsressourcen. Es ist deshalb nötig, Bedürfnisse und Motivationen hinter dem Wert des Sozialen jenseits von behavioristisch-ökonomistischen Als-ob-Anthropologien zu analysieren und zu modellieren. Evolutionäre Theorien menschlichen Verhaltens und der zugrundeliegenden normativen Antriebe leisten genau dies. Anthropologische Naturwissenschaften wie Evolutionspsychologie und Soziobiologie, aber auch Evolutionsbiologie, Humanethologie, Verhaltensökologie sowie die evolutionäre Entwicklungsbiologie ergründen die evolvierte Funktionslogik menschlicher Motivations- und Entscheidungsstrukturen. Sie gewähren Einblicke in die Tiefenstrukturen menschlichen Sozialverhaltens und stellen weit über sozialwissenschaftliche Menschenbilder hinausgehende Erklärungen dazu bereit, warum Menschen das eine als erstrebens- und das andere als vermeidenswert ansehen. Die grundsätzliche Einsicht hierzu ist, dass die Funktionsweise des Gehirns und des gesamten menschlichen Organismus auf evolutionäre Zweckursachen zurückgeht. Alle Lebewesen mit zentralem Nervensystem müssen schließlich das Problem lösen, sich in für sie vorteilhafter, also adaptiver Weise im Raum zu bewegen: von Gefahren weg und zu solchen Ressourcen hin, welche für Überleben und Reproduktion nützlich oder gar nötig sind. Präferenzordnungen und Verhaltensantriebe haben also eine lange evolutionäre Geschichte. Konditionale Verhaltensflexibilität ist eine adaptive Strategie, mit der Organismen regelhaft auf sich wandelnde Problemstrukturen in der Umwelt reagieren können. Ermöglicht wird sie von einer Vielzahl spezialisierter psychologischer Module, die eine Sammlung von – teils interagierenden, teils aufein-

737 Zum Forschungsprogramm der evolutionären Humanwissenschaften siehe S. 86 ff.

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

ander aufbauenden – Reaktionsnormen auf Umwelteinflüsse darstellen. Ihre jeweils spezifischen Modi der Informationsfilterung und -verarbeitung verdanken diese verhaltenssteuernden Heuristiken der Struktur jener evolutionären Anpassungsprobleme, zu deren Lösung sie beigetragen haben. Letztendlich durchsetzen konnten sich nämlich nur jene Reaktionsnormen, welche die genetische Fitness ihrer Träger tatsächlich erhöhten und so zur Verbreitung dieser Merkmale in der Population beitrugen – die also relevante Informationen in nützlicher Weise verarbeiteten. Die heutige menschliche Psyche ist ein Widerhall dieses naturgeschichtlichen Entstehungskontextes. Intuitionen, Emotionen und Aufmerksamkeitsverzerrungen sind Mechanismen einer adaptiven Rationalität, einer evolvierten Regelhaftigkeit menschlichen Verhaltens. Gemeinsam formen sie verhaltenssteuernde Programme, deren ultimater Zweck es schon war, situationsangemessene Reaktionen hervorzubringen, lange bevor Menschen zu vernunftmäßig-instrumentellen Kalkülen in der Lage waren. Sie lassen Handlungen als „an sich wertvoll“ erscheinen, auch wenn es dafür keine objektiven Gründe gibt. Das gilt natürlich auch für normative Dispositionen im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten. Bei sozialen Tieren wie Menschen stellt sich nämlich auch die Herausforderung der vorteilhaften Bewegung im sozialen Raum, also die Hervorbringung adaptiven So­ zialverhaltens.738 Die kausalen Mechanismen hinter Sozialkapital begreift deshalb nur, wer die Naturgeschichte unserer Spezies in Rechnung stellt. Nur aus ihr heraus erschließt sich die heutige ultrasoziale menschliche Natur samt der bemerkenswerten Fähigkeit, sich sozialer Vernetzung als Handlungsressource zu bedienen. Wie sich gezeigt hat, basieren verschiedene Arten von Sozialkapital auf in der Realität zwar verwobenen, analytisch aber zu trennenden individualpsychologischen Verursachungszusammenhängen. Nepotistisches, dyadisches, normenbasiertes und kollektives Sozialkapital zeichnen sich durch voneinander verschiedene Funktionslogiken aus, weil sie von (Kombinationen von) psychologischen Mechanismen realisiert werden, die als Antworten auf unterschiedliche adaptive Probleme evolviert sind. Mithilfe der Theorien der Verwandtenselektion, des reziproken Altruismus, der indirekten Reziprozität, des Handicap-Altruismus, der Multilevelselektion und der Nischenkonstruktion lassen sich diese verschiedenen psychosozialen Dynamiken hinter der Kooperation in Familien, Gegenseitigkeitsbeziehungen und Kollektiven besser verstehen.

738 Vgl. dazu mit weiteren Verweisen die Ausführungen zur Rolle von moralischen Intuitionen und sozialen Emotionen für prosoziales Verhalten ab S. 282, ferner S 463 ff. sowie die Kritik des sozialwissenschaftlichen Rationalitätsverständnisses auf S. 476 ff.

Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive 517

Drittens konnte im – der Synthese der Befunde dienenden – Kapitel 5 geklärt werden, was Sozialkapital ist, in welche Typen es zerfällt und an welche Bedingungen es deshalb jeweils geknüpft ist. Grundsätzlich bezeichnet Sozialkapital die Gesamtheit aller Handlungs- und Zielerreichungsressourcen, die Individuen und Kollektive aufgrund von sozialen Vernetzungsbeziehungen mobilisieren können. Entscheidend ist aber, seinen Charakter eines prozessualen Dispositivs zu erkennen: Sozialkapital ist kein ‚Ding an sich‘, sondern ein Potential. Es entspringt halbwegs verlässlich auslösbaren psychosozialen Prozessketten, bei denen die evolvierten Verhaltensdispositionen einzelner Individuen in sozialen Interaktionen so ineinandergreifen, dass Individuen oder Kollektive daraus Nutzen ziehen können. Insgesamt lenkt die evolutionäre Perspektive damit die Aufmerksamkeit weg von der Seite der Konsumenten hin zu jener der Produzenten von Sozialkapital. Die Bereitschaft zu prosozialem Handeln hängt schließlich ganz zentral davon ab, in welcher Beziehung potentielle Unterstützer zu möglichen Profiteuren stehen: Werden sie als Familie angesehen ? Gelten sie als betrügerisch oder ungerecht ? Gehören sie zur eigenen Gruppe ? Teilen sie die eigenen Symbole, Rituale, Perspektiven auf die Welt, gibt es also greifbare Anknüpfungspunkte zwischen den kulturellen Lebenswelten ? Zur Versinnbildlichung von Sozialkapital wird immer wieder ein englisches Sprichwort herangezogen: „It’s not what you know, it’s who you know.“ Es bildet den Fokus auf die Produzentenseite aber gerade nicht ab. Tatsächlich ist ein nachgeordneter Faktor entscheidend: „It’s not just who you know, it’s what they know about you.“ Unterschiedliche Arten von Umweltinformationen adressieren dabei verschiedene prosoziale Verhaltensdispositionen mit jeweils spezifischen adaptiven Rationalitäten. Kurzum: Sie erschließen verschiedene Typen von Sozialkapital.739 Die Logik der Verwandtenselektion hat starke Neigungen zu familiärer Unterstützung evolvieren lassen. Dies sind die Wurzeln von nepotistischem Sozialkapital. Dyadisches Sozialkapital basiert hingegen auf psychologischen Anpassungen an die Problemstruktur des Gefangenendilemmas, die reziproken Altruismus ermöglichen. Das Leben in Gruppen wiederum hat einesteils Netzwerke indirekter Reziprozität entstehen lassen, andernteils ließ es prahlerische Uneigennützigkeit sowie das Signalisieren moralischer Integrität zu teuren Signalen und mithin zu erfolgversprechenden sozialen Strategien werden. Die in diesem Zusammenhang evolvierten konditionalen Strategien motivieren zu Freigiebigkeit, Hilfsbereitschaft und normdurchsetzendem Verhalten auch ohne die Erwartung unmittelbarer Gegenleistung – und bringen so normenbasiertes Sozialkapital hervor.

739 Zu dieser Typologie und ihren handlungstheoretischen Grundlagen siehe S. 418 ff.

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

Neben diesen relationalen Formen auf der sozialen Mikroebene hat die Evolution auch kollektives Sozialkapital hervorgebracht. Dieser Zustand der routi­ nemäßigen Kooperation in Gemeinwesen konnte entstehen, weil in unserer Stammesgeschichte unter den Bedingungen permanenter Zwischengruppenkonkurrenz kollektiv handlungsfähige Gruppen bevorteilt waren. Das waren jene moralischen Gemeinschaften, in welchen die Binnenkonkurrenz effektiv eingehegt wurde, einesteils durch dezidiert gemeinsinnige Dispositionen, andernteils durch die Konstruktion kultureller Nischen, die egoistische Defektion zu unterbinden und evolutionär ältere opportunistische sowie nepotistische Motivationen in den Dienst des Kollektivs zu stellen vermochten. Ausgehend von diesen Einsichten lässt sich in einer grundsätzlichen Kontroverse der Sozialkapitalforschung klar Position beziehen:740 Sehr wohl kann sinnvoll von Sozialkapital auf der sozialen Makroebene gesprochen werden. Kollektives Sozialkapital gibt es tatsächlich. Es ist ein emergenter Effekt der Wechselwirkungen von interindividuellen Handlungsketten und sozialen Strukturen. Zwar ist es durchaus ontologisch auf die Mikroebene reduzierbar, jedoch werden die relevanten Aspekte und Auswirkungen eben erst auf der Makroebene sichtbar und erschöpfen sich eben nicht in den Merkmalen relationalen Sozialkapitals. Die menschliche Natur ist auf vielerlei Arten dafür präpariert, kollektives Sozialkapital als Quelle gemeinschaftlicher Performanz zu erschließen: Menschen sind in der Lage, gemeinsame Sinnwelten und Handlungsräume zu konstruieren, in denen sie für die Geltung allgemeiner Kooperations- und Konformitätsstandards sorgen. Sie antizipieren soziale Kontrolle ganz vorbewusst und „irrational“, entwickeln schon in früher Kindheit ein Interesse an Regeln und setzen diese auch durch, hegen moralische Doppelstandards gegenüber Mitgliedern von Eigen- und Fremdgruppen. Selbst ihr emotionales Wohlbefinden ist von sozialer Anerkennung in Bezugsgruppen und dem Aufgehen in einer Gruppenidentität abhängig – und zwar in so grundlegender Weise, dass instrumentelle Vernunft dahinter weit zurückstehen muss. Dies alles befähigt Menschen zur kollaborativen Verfolgung gemeinsamer Ziele.741 Gelingt es, diese angeborene Ultrasozialität durch symbolische Repräsentation und institutionelle Verregelung auf eine bestimmte soziale Einheit auszurichten, so entsteht für jene kollektive Handlungs- und Zielerreichungsfähigkeit. Solches kollektives Sozialkapital offenbart sich auch nicht erst in seinen Konsequenzen, sondern ist an der inneren Verfasstheit eines Kollektivs ablesbar: Kollektives Sozialkapital ist ein autokatalytischer – und höchst störanfälliger – Prozess der 740 Zu der Kontroverse um kollektives Sozialkapital vgl. S. 151f, S. 162 ff. und S. 203 f. 741 Siehe zu alldem die Befunde zur menschlichen Ultrasozialität vor allem in Kapitel 4.5.2.4 ab S. 362.

Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive 519

Selbstorganisation komplexer sozialer Systeme. Es entsteht, wenn Institutionen und gemeinsame Perspektiven auf die Welt dazu beitragen, dass innerhalb eines Gemeinwesens prosoziale Handlungsketten verlässlich auslösbar werden – und auch routinemäßig ablaufen. Solche Erwartungssicherheit entsteht aber nur, wenn positive Rückkopplungsschleifen zwischen konstruierten kulturellen Figurationen und evolvierten menschlichen Reaktionsnormen entstehen, wenn soziale Strukturen also zur Natur des Menschen passen. In dieser Weise evolutionär-anthropologisch fundiert, lässt sich Sozialkapital problemlos über kulturelle und politische Kontexte hinweg erforschen. Methodologischer Ethnozentrismus kann demnach vermieden werden, wenn nicht nur die proximaten Verursachungszusammenhänge, sondern auch die ultimaten Ursachen in den Blick genommen werden. So wird deutlich, dass Sozialkapital ein typisches und ubiquitäres Charakteristikum menschlichen Sozialverhaltens ist: Die Fähigkeit, Nutzen aus sozialen Beziehungen ziehen zu können, gehört zum evolvierten Verhaltensrepertoire unserer Spezies. Auch eine (explizit oder implizit) positive Konnotation des Konzepts wird auf dieser handlungstheoretischen Grundlage vermieden: Sozialkapital ist nichts per se Gutes, sondern schlicht eine Implikation der Interaktion menschlicher Gehirne. Auf der Mikroebene ist das ohnehin unmittelbar plausibel, denn wie die individuelle Nutzung einer Ressource normativ einzuschätzen ist, hängt schließlich nicht von der Art der Ressourcen selbst ab.742 Zudem ist die demokratietheoretische Bewertung von kollektivem Sozialkapital analytisch von seiner Beschreibung zu trennen. Routinemäßige Kooperation und kollektive Handlungsfähigkeit können zivilgesellschaftliche Vereine ebenso kennzeichnen wie Terrorgruppen, aufgeklärte Religionsgemeinschaften ebenso wie fundamentalistische, totalitäre Diktaturen ebenso wie Demokratien. Deskriptiv ist nicht relevant, ob Sozialkapital etwas „Gutes“ bewirkt, sondern ob es innerhalb einer Gruppe und seiner kulturellen Nische aus Wissensbeständen, Deutungsroutinen und Normen „funktioniert“. Bei kollektivem Sozialkapital geht es nicht in erster Linie um ‚making democracy work‘, sondern um ‚making society work‘. Kurzum: Das Phänomen von seinen psychosozialen Ursachen und nicht von seinen soziostrukturellen Folgen ausgehend zu konzeptualisieren, löst grundsätzliche Probleme der Sozialkapitalforschung. Eine solche interdisziplinäre Mikrofundierung lässt die Sozialkapitaltheorie von einer Proto-Theorie der Kooperation zu einem Ansatz werden, in dessen Zentrum eine Handlungstheorie steht, welche den Wert des Sozialen für menschliches Handeln angemessen modelliert. Mithilfe 742 Zu normativen und ethnozentrischen Verzerrungen in der Sozialkapitaltheorie siehe S. 194 ff.

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

evolutionstheoretischer Ansätze können die Tiefenstrukturen menschlicher Kooperation und damit auch des Sozialkapitals offengelegt werden. Diese Rückführung auf die Natur des Menschen ermöglicht die Formulierung allgemeiner Aussagen über die grundlegende Architektur menschlicher Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, die sich in verschiedenen Gesellschaften und politischen Ordnungsformen nur jeweils kulturspezifisch ausformt. Viertens hat die Analyse auch einige Einsichten hinsichtlich der in Kapitel 2 erarbeiteten methodischen und metatheoretischen Grundlagen der hier unternommenen handlungstheoretischen Fundierung erbracht. Eine theoretische Integration von sozialwissenschaftlichen mit evolutionär-anthropologischen Wissensbeständen ist offenkundig nicht nur möglich, sondern überaus nützlich. Das wurde hier am Fall der Sozialkapitaltheorie als Proof of Concept gezeigt. Weder führt ein solcher Forschungsansatz in Biologismus, genetischen Determinismus oder gar So­ zialdarwinismus, noch ist er gleichbedeutend mit einem umfassenden Reduktionismus, der die sozialwissenschaftliche Analyseebene obsolet werden ließe. Die evolutionäre Perspektive erlaubt es schlicht, anthropologische Fragen aus dem Bereich rein philosophischer und methodologischer Erwägungen in die Domäne empirischer Forschung zu überführen. Evolutionstheorie ist nicht weniger als eine kausale Geschichtstheorie, mit deren Hilfe empirische Phänomene von ihrem Werden her verstanden werden können. Ihre Prämissen sind sparsam und ihre Reichweite ist enorm. Denn sie erklärt nicht nur das Gewordensein der gesamten belebten Natur, sondern auch das von Kultur und ihren Rückwirkungen auf in ihr lebende Menschen. Sie gehört zu den leistungsfähigsten und am besten bekräftigten Theorien überhaupt – und ist deshalb bis auf weiteres die am besten geeignete Kandidatin für ein tragfähiges handlungstheoretisches Fundament sozial- und politikwissenschaftlicher Theorien. In überaus nützlicher Weise flankiert werden diese Theoriebestände von der Komplexitätstheorie. Sie erlaubt einen multiperspektivischen Zugriff auf Wirklichkeit innerhalb eines integrierten Paradigmas, das Mikrofundierung (‚Sensitivität gegenüber Ausgangsbedingungen‘) und Emergentismus (‚Selbstorganisation von Makrostrukturen‘) miteinander verbindet. Auf diese Weise hilft sie, die Welt als das zu erkennen, was sie ist: komplex, prozesshaft, rekursiv, evolutiv.743 Interdisziplinäre Theorieintegration kann und darf deshalb nicht reduktionistisch sein. Es geht schlicht darum, jene Mikroebene von sozialen Phänomenen in die sozialtheoretische Analyse hineinzuholen, die bislang vielfach noch außen vor bleibt. Das hier zugrunde gelegte erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Rahmenwerk erfordert und ermöglicht denn auch eine solche multiperspektivische

743 Siehe hierzu S. 72 ff.

Die Antwort: Sozialkapital in evolutionärer Perspektive 521

Mehrebenen-Analyse der Wirklichkeit. Verfehlt ist der Anspruch einzelner Disziplinen, soziale Wirklichkeit mittels der Festlegung auf eine Analyseebene erfassen zu wollen – etwa auf jene der Gesellschaft, der Gruppe, des Individuums, der Gene oder gar der Elementarteilchen („schlechter Reduktionismus). Vielmehr macht die schwache Emergenz komplexer Systeme samt ihren Mikro-MakroWechselwirkungen ein arbeitsteiliges und dabei interdisziplinäres Forschungsprogramm nötig („guter Reduktionismus“). Wie fruchtbar dieses Unterfangen sein kann, wurde hier exemplarisch aufgezeigt.744 Fünftens ist die vorliegende Untersuchung auch an allerlei Grenzen gestoßen, die nur durch weiterführende Forschung überwunden werden können.745 So ist die avisierte theoretische Integration bei weitem nicht vollständig gelungen. Viele konzeptionelle Schnittstellen und theoretische Ansätze wären weiter auszuarbeiten. Auch der Formalisierungsgrad vieler hier argumentativ entwickelter Argumente wäre noch zu erhöhen. Dann dürfte auch die klare Falsifizierbarkeit vieler generierter Hypothesen noch deutlicher sichtbar und mithin für empirische Tests zugänglicher werden. Überhaupt wird die Erschließung der hier bereitgestellten Theoriebestände für die empirische Sozialkapitalforschung noch einige Transferund Operationalisierungsarbeit nötig machen. Und sicher werden sich auch manche der herangezogenen empirischen Befunde als falsch erweisen. All dies sind aber keine grundsätzlichen Probleme für eine Analyse, die im hypothetischen Realismus gründet. Das gilt umso mehr, wenn sie manche Nachfolgestudie zu inspirieren vermag. Die vollständige Freilegung des Areals, welches hier mit einem Sondierschnitt einer ersten Analyse zugeführt wurde, wird umfänglicher Bemühungen um integrative humanwissenschaftliche Theoriebildung bedürfen. Ansatzpunkte dafür lassen sich in den folgenden abschließenden Reflexionen zu den Klassikern der Sozialkapitaltheorie, zum Ursprung des Kapitals und zum Verhältnis von Sozialwissenschaften und Anthropologie sicher finden.

744 Siehe dazu S. 76 ff. 745 Vgl. auch S. 33 f.

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

6.2 Die Klassiker: Ein zweiter Blick auf Coleman, Putnam und Bourdieu Beim Blick auf die Konsequenzen dieser Erkenntnisse für die zentralen Klassiker der Sozialkapitaltheorie zeigte sich hier immer wieder das gleiche Muster: Was Bourdieu, Coleman und Putnam ganz richtig als wichtig erkannten, lässt sich evolutionstheoretisch auch erklären. Allerdings hat die empirisch-anthropologische Mikrofundierung auch manche Ansätze für Weiterentwicklungen und Korrekturen ihrer Sozial(kapital)theorien sichtbar werden lassen. James Coleman liefert mit seiner Sozialtheorie fraglos wertvolle Perspektiven auf die Interaktionen von Individuen in sozialen Netzwerken und die daraus erwachsenden Folgen. Seine auf der Annahme des rationalen Nutzenmaximierers basierende Handlungstheorie vermag jedoch Wesentliches an der sozialen Wirklichkeit nicht zu erfassen. Er kann sie deshalb auch selbst nicht konsequent durchhalten, sondern ergänzt sie dort um behavioristische Versatzstücke, wo es um Norminternalisierung, Sozialisation und vermeintlich irrationale Handlungsmotivationen geht. Evolutionäre Wissensbestände erlauben es, diese Inkonsistenzen zu bereinigen und Colemans Theorie mit jener handlungstheoretischen Mikrofundierung auszustatten, die er auch selbst zu liefern beabsichtigte. So hat Coleman das Entstehen von Kooperation in sozialen Netzwerken eines­ teils über glaubwürdige Sanktionspotentiale und andernteils über soziale Kontrolle, die in der Sorge um Reputationsverlust wurzelt, korrekt beschrieben. Die seinen Erklärungen zugrundeliegende Annahme rationaler Nutzenmaximierung wird aber nur sehr ungenügend dem gerecht, was sich tatsächlich ereignet. In der Realität basiert diese Prozessdynamik auf evolvierten psychologischen Mechanismen, nämlich auf einem Ineinandergreifen von Wahrnehmungsverzerrungen, Emotionen und unterbewussten Entscheidungsheuristiken, die prosoziale Interaktionen und kollektives Handeln hervorbringen. Sozialkapital als Kollektivgut ist deshalb auch kein Nebenprodukt rationalen Handelns, wie Coleman meint. Menschliche Verhaltenssteuerung ist vielmehr an das Leben in sozialen Gruppen angepasst – und mithin darauf ausgelegt, kollektive Handlungsfähigkeit herstellen zu können. Auch Colemans besondere Würdigung primordialer Organisationsformen (v. a. Familie und religiöse Gemeinschaft) entbehrt nicht einer anthropologischen Grundlage. Verwandtenselektion ist in der Evolution der wahrscheinlich grundlegendste und machtvollste Motor des Aufkommens von Prosozialität gewesen. In der daraus resultierenden tief verwurzelten Neigung zur Verwandtenunterstützung liegt der Grund für die besondere Qualität von nepotistischem Sozialkapital. Die Fehlbarkeit der hypersensiblen Mechanismen der Verwandtenerkennung eröffnen überdies die empirisch immer wieder bedeutend gewordene Möglichkeit,

Die Klassiker: Ein zweiter Blick auf Coleman, Putnam und Bourdieu 523

Kollektive von Nichtverwandten über Narrative als Familien auszuweisen und ihnen so pseudo-nepotistisches Sozialkapital zu erschließen. Und die besondere ordnungskonstruktive Wirksamkeit von Religionen, welche Letztbegründungen für Unbegreifliches liefern und Belohnungen sowie unausweichliche Sanktionen durch omnipräsente Agenten behaupten, lässt sich ebenfalls elegant damit erklären, dass unsere Psyche genau dafür aus evolutionären Gründen empfänglich ist.746 Robert Putnam erschwert mit seiner eklektischen Anthropologie eine konstruktive Integration seiner Makrotheorie mit Wissensbeständen aus den Life Sciences auf der Mikroebene. Sozialkapital als eine Eigenschaft von Kollektiven aber – also jener Kerngedanke, für den er und seine Nachfolger viel Kritik von „sauberen“ methodologischen Individualisten ernteten – hat sich hier als ein empirisches Faktum herausgestellt. Die routinemäßige Auslösung von prosozialen und gemeinsinnigen Handlungsmustern bei in einer gemeinsamen kulturellen Zwischenwelt lebenden Individuen unterscheidet sich nämlich in funktioneller Hinsicht nicht von anderen Systemübergängen in der Evolution: Ob bei der DNA, mehrzelligen Organismen oder den Superorganismen eusozialer Insekten: Wann immer sich individuelle Entitäten in einem Systemübergang zu einem größeren Ganzen integrieren, ist neben der Konkurrenz mit anderen Kollektiven vor allem die Einhegung der Binnenkonkurrenz von entscheidender Bedeutung. Dies wird einesteils über emergente Selbstorganisation und dies begünstigende Nischenkonstruktion realisiert, andernteils aber durch evolutionäre Anpassung der Individuen selbst. Putnams ‚educated guess‘ über den Zusammenhang von kollektivem Sozialka­ pital und Performanz eines Gemeinwesens lässt sich demnach auf sehr allgemeine Erklärungen des Emergierens neuer Organisationsebenen des Lebendigen rückbeziehen. Dass Menschen zu Systemübergängen hin zu Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in der Lage sind, weiß die Soziologie schon lange (vgl. etwa Simmel 1908/1992; Tönnies 1887/2005; Weber 1921/1980). Es hat sich gezeigt, dass diese Fähigkeit auf evolvierten Verhaltensrepertoires basiert. Der Übergang zur ultrasozialen Lebensweise erst in Gemeinschaften und später in Gesellschaften mag nicht so vollständig und kompromisslos sein wie der von staatenbildenden Insekten. Das ist – zumindest vor dem Hintergrund westlicher Leitwerte – auch gut so. Vollständigkeit ist aber auch gar kein Definitionskriterium für solche evolutionären Systemübergänge (Maynard Smith und Szathmáry 1995). Entscheidend für kollektive Handlungsfähigkeit ist die in allen diesen Fällen in funktional äquivalenter Weise herzustellende soziale Kohäsion und die Ausrichtung individuellen Handelns auf gemeinsame Ziele.747 746 Vgl. dazu S. 390 ff. 747 Siehe hierzu mit weiteren Verweisen S. 447 ff.

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

Aber auch auf wesentlich konkretere Weise konnte Putnams Sozialkapitalkonzept hier weiterentwickelt werden. Das präzise Verständnis der vorher opak gebliebenen Funktionsweise der psychosozialen Prozesse, die Sozialkapital verursachen, trägt dazu bei, in Zukunft manche Verzerrung und Blindstelle zu vermeiden. Eine in der menschlichen Natur gegründete Handlungstheorie ermöglicht es, bei der Erklärung von sozialen Phänomenen wie Kooperation und Kohäsion nicht in ethnozentrischer Weise den jeweiligen kulturellen Kontexten verhaftet bleiben zu müssen. Sozialkapital erscheint dann auch nicht mehr a priori als etwas „demokratietheoretisch Gutes“, das in manchen Zusammenhängen seine konzeptionell schwer fassbare „dunkle Seite“ zeigt. Es ist vielmehr schlicht ein Interaktionsprozess zwischen sozialen Gehirnen, dessen evolvierte psychologische Grundlage wenig mit konkreten politischen Inhalten zu tun hat. Er kann sich deshalb in ganz unterschiedlich ausgestalteten politischen Systemen ereignen. Indem diese psychosozialen Prozessdynamiken ins Zentrum der Sozialkapitaltheorie gestellt werden, lässt sich die Erklärung des Phänomens von seiner Bewertung strikt trennen. Ebenso verhält es sich mit Putnams populärer Unterscheidung von bindendem und brückenbildendem Sozialkapital. Wenig war bisher darüber bekannt, was diese beiden Typen von Sozialkapital unterscheidet, wie man das (gesellschaftliche Teilbereiche miteinander vernetzende und deshalb als „gut“ geltende) brückenbildende Sozialkapital induziert und das (nur die Binnenkohäsion einzelner Gruppen stärkende und deshalb für „schlecht“ gehaltene) bindende Sozialkapital nicht die Überhand gewinnen lässt. Es hat sich gezeigt, dass diese Unterscheidung rein deskriptiv ist und analy­ tisch nicht weit trägt. Zwar lassen sich durchaus individualistisch-opportunistische von gruppenbezogenen Formen von Prosozialität unterscheiden. Man könnte also argumentieren, gerade die Egoisten würden dazu beitragen, die strukturellen Löcher zwischen sozialen Netzwerken zu überbrücken und so Verbindungen zwischen sozialen Gruppen entstehen zu lassen. Es ist aber zu bezweifeln, dass gerade diese Strategien für sich genommen eine höhere gesellschaftliche Integration bewirken. Des Weiteren hat sich herausgestellt, dass Verhaltensdispositionen, die kollektive Handlungsfähigkeit begünstigen, notwendigerweise mit moralischen Doppelstandards im Hinblick auf Eigen- und Fremdgruppen einhergehen. Die Quellen des Gemeinsinns sind psychologisch also eng mit den Quellen der Freund-Feind-Unterscheidung verknüpft. Es ist deshalb ratsam, die theoretische Fokussierung auf die empirisch so nicht bestehende Unterscheidung von brückenbildendem und bindendem Sozialkapital aufzugeben. Sie verstellt den Blick auf das analytisch Wichtige. Pierre Bourdieu kann mit Fug und Recht als Kronzeuge in diesem „Verfahren“ um die praktischsten anthropologischen Grundlagen der Sozialkapitaltheorie angesehen werden. Es lag außerhalb des Fokus dieser Arbeit, seine Theorie der Pra-

Die Klassiker: Ein zweiter Blick auf Coleman, Putnam und Bourdieu 525

xis mit der Evolutionstheorie in Beziehung zu setzen, zumal die erstere nicht in nennenswerter Weise in die Forschung zur Sozialkapitaltheorie eingeflossen ist. Aber es ist schon mindestens erstaunlich, wie mannigfaltig und vielversprechend die Anknüpfungspunkte sind. Bourdieu erkannte klarer als alle anderen klassischen Sozialkapitaltheoretiker die Rolle der Interaktion von kulturellen Nischen und individuellen Fitnessmaximierungsstrategien. Sein Konzept der sozialen Felder lässt sich ohne weiteres in die Sprache der Nischenkonstruktionstheorie übersetzen. Diese Felder sind – wie Webers „Wertsphären“, Schütz’ „Sinnprovinzen“ und Goffmans „Rahmen“ – jene geteilten Wissensbestände, Deutungsroutinen und Normen, welche als kulturelle Marker die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen erkennbar machen – und dann durch auf vorbewusste Erkennung gegründetes prosoziales Handeln auch faktisch bewirken. Das Habituskonzept wiederum beschreibt nichts anderes als jene Einpassung in solche sozialen Nischen, für die Menschen von Natur aus vorbereitet sind. Die Evolutionstheorie liefert schlicht eine inhaltliche Bestimmung und eine handlungstheoretische Konkretisierung dieser Vorgänge.748 Habitus und soziales Feld sind für Bourdieu (1985: 69) „Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte“. Angesiedelt ist dieses Argument auf der proximaten Erklärungsebene unmittelbarer sozialer und biographischer Verursachungszusammenhänge. In einer von Bourdieu zwar nicht intendierten, ihn aber dennoch bekräftigenden und weiterführenden ultimaten Lesart ist dieser Satz aber nachgerade eine Essenz der hier vorgestellten Erkenntnisse zum Verhältnis von Genen und Kultur: Die heutige menschliche Natur und die Gestalt kultureller Konstruktionen haben sich in langen koevolutiven Prozessen als Leib gewordene Naturgeschichte und Ding gewordene Kulturgeschichte gleichsam aneinander emporgerankt. Bourdieus rekursives Verständnis der Interaktion von Kultur und Mensch, von Feld und Habitus, schließt an diese ultimat-evolutionäre Erklärungsebene unmittelbar an. Belässt man es hingegen bei der von ihm selbst intendierten Lesart, dann fehlt der Theorie eine Erklärung der Herkunft der Habitus-Feld-​Interaktionen selbst. Auch bleibt dann gerade der falsche und in der Bourdieu-Rezeption so folgenreiche Eindruck bestehen, seine Sozialtheorie basiere nur auf einer minimalen Anthropologie. Tatsächlich nämlich bietet sich gerade seine Theorie der Praxis für eine evolutionär-anthropologische Fundierung und Konkretisierung an. So ist etwa Bourdieus Positionierung zwischen Objektivismus und Subjektivismus, also zwischen Strukturalisten und methodologischen Individualisten, bemerkenswert an748 Siehe zum Konzept der Nischenkonstruktion S. 318 ff., zur Anwendung auf menschliche Kultur S. 340 ff. und S. 348 ff., zur „evolutionären Sozialisationstheorie“ der Lebensge­ schichtsevolution S. 379 ff.

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schlussfähig an das hier vorgestellte Forschungsprogramm. Vom Strukturalismus Lévi-Strauss’ grenzt er sich ab, indem er klarmacht, „dass die Praxis die Beherrschung der Logik, die in ihr zum Ausdruck kommt, nicht voraussetzt“ (Bourdieu 1993: 27), weil die Logik der Praxis nur bis zu dem Punkt logisch sein kann, an dem das Logische nicht mehr praktisch wäre (vgl. Bohn und Hahn 2007: 292). Dieser Blattschuss trifft aus evolutionär-anthropologischer Sicht nicht nur Strukturalisten, sondern auch methodologische Individualisten, bringt er doch eine zentrale Kritik an sozialwissenschaftlichen Verhaltensmodellen zum Ausdruck.749 Menschliches Handeln basiert nämlich nicht auf einem generellen Entscheidungsprinzip, es ist auch nicht in sich logisch oder gar rational. Es entspringt domänenspezifischen psychologischen Mechanismen, die ihre fortgesetzte Existenz ihrem praktischen Wert in der Evolutionsgeschichte verdanken. Dahinter steht kein übergeordneter Sinn, kein logisches Prinzip. Soziales Handeln ist vielmehr eine Resultante von umweltsensitiven Reaktionsnormen, die von der Evolution geformt wurden. Jene aber prämiert das Funktionierende – also: das Praktische. Die Logik dieses Algorithmus wiederum durchwirkt, eingeschrieben in evolvierte Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsheuristiken, das Handeln von Menschen, ohne dass ihnen dies bewusst wäre oder sein müsste. Bourdieu erkannte an, dass menschliches Handeln und Entscheiden nicht einfach bewusst-vernünftig verläuft, wie es Rational-Choice-Theorien unterstellen. Vielmehr stimmte er Leibnitz darin zu, dass wir „in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind“, und ergänzte, dass dessen „letzten Werte nichts weiter sind als erste und ursprüngliche Dispositionen des Körpers“ (Bourdieu 1982: 740). Menschliche Entscheidungen basieren laut Bourdieu auf implizitem praktischen Wissen, auf unterbewussten Bewertungsschemata, die gleichsam körperlich inkorporiertes Wissen um objektive Gesetze darstellen (Bourdieu 1982: 733 f.). In kultur- und sozialanthropologischer Tradition stehend, sieht er die Ursache dafür zwar nur in kulturellen Zusammenhängen und bleibt damit der proximaten Ursachenebene verhaftet. Doch unschwer zu erkennen sind die Schnittstellen dieser handlungstheoretischen Gedanken einesteils zur Evolutionären Erkenntnistheorie („Physiologische und psychologische Anpassungen sind evolutionär erworbenes implizites Wissen über die Welt.“) sowie andernteils zur Evolutionspsychologie („Menschliche psychologische Mechanismen sind adaptive Antworten auf Anpassungsprobleme in der evolutionären Vergangenheit.“).750

749 Siehe zur evolutionspsychologischen Kritik am anthropologischen Fundament der Sozialwissenschaften S. 92 f. 750 Zur Evolutionären Erkenntnistheorie siehe S. 62 ff., zu den grundlegenden Annahmen der Evolutionspsychologie siehe S. 92ff, vgl. auch S. 416 und S. 476 ff.

Die Klassiker: Ein zweiter Blick auf Coleman, Putnam und Bourdieu 527

Unter den vielen weiteren konkreten Schnittstellen interdisziplinärer Theorieintegration scheinen die wichtigsten die folgenden zu sein: Bourdieus Hinweis auf den Zusammenhang von Zwischengruppenkonflikten und Sozialkapital passt zu den Argumenten der Multilevelselektionstheorie. Seine Betonung der Wichtigkeit von symbolischem Kapital deckt sich mit Befunden zum Handicap-Altruismus sowie zur indirekten Reziprozität, ebenso jene der großen Bedeutung von Ritualen und Symbolisierungen für soziale Gruppen. Letztere ist anschlussfähig an die Nischenkonstruktionstheorie sowie die Hypothese der kulturellen Marker. Mit dem Konzept der „Hysteresis“ hat er ferner jenem strukturellen Konformismus und Konservatismus Rechnung getragen, welcher den evolvierten Mechanismen sozialen Lernens zugrunde liegt. Der gelegentlich geäußerten Diagnose, nach welcher Bourdieu die sauberste und konsistenteste Mikrofundierung von Sozialkapital geliefert habe, ist also auch aus evolutionstheoretischer Perspektive zuzustimmen. Wie aber ist das angesichts der Tatsache möglich, dass Bourdieu gerade kein Reduktionist mit unverrückbaren anthropologischen Annahmen sein wollte ? Es sei zur Beantwortung dieser Frage eine Interpretation erlaubt, die mit einiger Überspitzung den Boden der gängigen Bourdieu-Rezeption verlässt: Bourdieu war ein Strukturalist, der sich von der sozialen Wirklichkeit belehren ließ (Bohn und Hahn 2007) und sich deshalb – anders als Coleman – nicht zu klaren handlungstheoretischen Prämissen durchrang, sondern nur zu einer minimalen Anthropologie (Bongaerts 2011: 152). Auch ging Bourdieu den Schritt in die unbestimmte Zone zwischen Kollektivismus und Individualismus konsequenter als Coleman, der trotz des bekundeten Wunsches der Aussöhnung von Struktur- und Akteurstheorien stets methodologischer Individualist blieb. Deshalb musste Bourdieu weder an der strukturalistischen Denkfigur der kulturellen Determination festhalten, noch war er gezwungen, die individualistische Logik der rationalen Entscheidung zu übernehmen. Seine praxeologische Herangehensweise ist deshalb zwar selbst keine evolutionistische, aber sie trägt den Kerngedanken der Evolutionstheorie in sich: Es hat das Bestand, was sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt als praktisch erweist. Die proximate (Sozialkapital-)Theorie Bourdieus lässt sich deshalb vorzüglich mit ultimaten Erklärungen von Kooperation und Prosozialität verbinden. Abschließend sei auf einen letzten hellsichtigen Gedanken in Bourdieus Werk hingewiesen. Zwar sieht Bourdieu im ökonomischen Kapital die in der modernen Gesellschaft wichtigste Kapitalform; auch sind Menschen für ihn letztendlich Wesen, die in ökonomischen Kategorien denken und ihren wirtschaftlichen Vorteil zu mehren suchen. Unter den von Bourdieu vorgestellten Kapitalsorten nimmt jedoch das symbolische Kapital (also: Anerkennung, soziales Prestige) samt seinem Verhältnis zu sozialem Kapital eine Sonderstellung ein: Symbolisches Kapital ist

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fluider als ökonomisches und kulturelles Kapital, dabei nicht ohne weiteres quantifizierbar und stets gekoppelt an Legitimitätszuschreibungen sowie an die Wahrnehmungen der beteiligten Akteure (Bourdieu 1985: 11). Weil sich auch Sozialkapital „ausschließlich in der Logik des Kennens und Anerkennens“ bewegt, ist es für ihn „selbstverständlich“ immer auch symbolisches Kapital (Bourdieu 1983: 195, FN 20).751 Außerdem war Sozialkapital für ihn in vormodernen Gesellschaften die dominierende Kapitalform (vgl. Bohn und Hahn 2007: 301). Durchaus ließen sich diese Argumente als die strukturalistische Wendung der Einsicht interpretieren, dass soziales Kapital die ursprünglichste aller Kapitalformen ist. Schließlich braucht Sozialkapital – anders als ökonomisches und kulturelles Kapital – zumindest in seiner basalen Form selbst keine kulturellen Voraussetzungen, ist also auch in einem institutionenfreien Raum denkbar.

6.3 Ein Ausblick: Sozialkapital als ursprünglichste Form des Kapitals Sozialkapital bezeichnet das Vermögen von Individuen und Kollektiven, aus sozialen Beziehungsnetzwerken Ressourcen zu mobilisieren, die für das Erreichen von Zielen bzw. die Erbringung von notwendigen Funktionen nützlich sind. Das Konzept ist eine theoriehaltige Konkretisierung der Intuition, dass soziale Bindungen einen Vorteil darstellen. In der vorliegenden Untersuchung wurde unter anderem gezeigt, wie weit sich die Nutzung von sozialen Beziehungen als Ressource nicht nur in unsere eigene Stammesgeschichte zurückverfolgen lässt, sondern auch im Rest der belebten Natur eine verbreitete adaptive Lösung darstellt: Mitglieder vieler Spezies ziehen Nutzen aus Beziehungen zu Verwandten (nepotistisches Sozialkapital); zumindest bei Primaten ist in Ansätzen zu beobachten, dass Individuen von sozialen Beziehungen mit Artgenossen profitieren, welche an Gegenseitigkeit (dyadisches Sozialkapital) und Reputation (normenbasiertes Sozialkapital) interessiert sind; und eusoziale Insekten formen Superorganismen, die als emergente „Kollektivakteure“ viel performanter sind, als es die einzelnen Tiere sein könnten (kollektives Sozialkapital). Andere üblicherweise als Kapital bezeichnete Ressourcen (insbesondere Besitz und Bildung) lassen sich im Rest des Tierreiches hingegen nicht finden. Es fehlt anderen Spezies dazu schlicht die Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation (Jablonka und Lamb 2005; Tomasello 2010b; Tomasello und Moll 2010). Allen­falls 751 Es hat sich hier aber gezeigt, dass dies nicht uneingeschränkt gilt. So basiert etwa nepotistisches Sozialkapital eben auf Verwandtschaft und gerade nicht auf Reputation.

Ein Ausblick: Sozialkapital als ursprünglichste Form des Kapitals 529

Bourdieus symbolisches Kapital, also Reputation bzw. soziale Anerkennung, lässt sich (bei durchaus gemischter Befundlage) zumindest in Ansätzen noch bis zu unseren engsten Verwandten zurückverfolgen.752 Während also materielle Ressourcen und Bildung nur bei Menschen als Kapital zum Einsatz kommen (Arrow 2000: 4; Bourdieu 1983; Marx 1872/2008; vgl. Streckeisen 2014), ist die Nutzung von sozialen Beziehungen als Kapital auch bei anderen Tieren zu beobachten – und geht in der Primatenlinie, aus welcher der Mensch hervorging, offenbar mit sozialem Ansehen eine besondere Verbindung ein: Dass Reputation eng mit menschlicher Ultrasozialität und damit mit der besonderen Fähigkeit zum Umgang mit Sozialkapital in Zusammenhang steht, ist hier deutlich geworden.753 Allein schon auf Basis dieser naturhistorischen Indizien scheint die folgende Hypothese plausibel: Sozialkapital ist die ursprünglichste Form von Kapital. Man mag einwenden, dass es in evolutionären Maßstäben letztlich doch wieder um ökonomische Kategorien geht, nämlich um differentielle Erfolge bei der Extraktion knapper Ressourcen. Das ist schon richtig, doch fungieren diese Ressourcen nicht als Medium der Interaktion zwischen Individuen, sie haben keine soziale Dimension. Bei Sozialkapital ist dies jedoch zweifelsfrei der Fall. Das Primat ökonomischer Kategorien sowohl bei Bourdieu als auch bei Coleman leitet sich hingegen aus den Theoriebeständen von Sozialanthropologen wie George Caspar Homans, Claude Lévi-Strauss, Peter Blau, Marcel Mauss und Bronislaw Malinowski ab. Unter ihnen bestand bei allen Unterschieden weitgehende Einigkeit darüber, dass Tausch- und Reziprozitätsökonomien die Vorläufer des modernen Geldsystems und mithin die ursprüngliche Daseinsform des Menschen seien. Die Erfindung des (ökonomischen) Kapitals habe es dann ermöglicht, Tausch und Gegenseitigkeit zeitlich zu entkoppeln, was später auch in ein Kreditsystem münden konnte. Dies ist im Übrigen auch das Standardmodell der modernen Wirtschaftswissenschaften (vgl. Graeber 2012: 27 ff.; Iwai 1997). Allerdings spricht doch einiges gegen diese Hypothese. So hat die Befassung mit evolutionären Theorien der Prosozialität gelehrt, dass die Fokussierung auf Tausch und reziproken Altruismus theoretisch und empirisch nicht sonderlich robust ist.754 Zumindest jedenfalls lassen sich bei weitem nicht alle wichtigen Erscheinungsformen von Kooperation damit erklären. Darüber hinaus scheint die Entstehung des Geldes auch gar nicht aus Tauschzusammenhängen zu resultieren. Vielmehr sind Kreditsysteme viele Tausend Jahre älter als das Münzwesen, wie Studien der mesopotamischen Kultur zeigen (Graeber 2012). Zudem konnte bisher auch keine einzige echte Tauschökonomie im obigen Sinne identifiziert 752 Siehe dazu auch S. 266 f. 753 Siehe S. 273 ff. und S. 360 f. 754 Siehe dazu S. 238 ff.

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werden (Heady 2005; Humphrey 1985, 1992). Tausch ist folglich in seiner Rolle für die Evolution des Geldes wohl ebenso überschätzt worden wie für die Evolution des Sozialkapitals. Zurückführen lässt sich diese Fehleinschätzung darauf, dass die Standarderklärungsmodelle der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die Existenz einer (Befähigung zur) Tausch- und Warenökonomie immer schon voraussetzen, statt ihrer naturhistorischen Genese Rechnung zu tragen. Das (soziale) Kapital kam also noch vor dem Austausch kultureller Artefakte in die Welt. In der Stammesgeschichte des Menschen gab es zuerst ein soziales System aus Schuld und Wiedergutmachung, das nicht monetär und nicht im engeren Sinne ökonomisch funktionierte. Dafür sprechen auch die tief in der Natur des Menschen verwurzelten Prädispositionen für Normenkonformität, Moralität, Gerechtigkeit und Reputation. Soziale Beziehungen waren schon längst Ressourcen, bevor überhaupt kulturelles Wissen und Warenhandel entstanden. Ihre besondere Bedeutung erlangten sie, als sie mithilfe von sozialem Ansehen gewichtet werden konnten, ihr Wert also in gewisser Weise messbar wurde. Allerdings ist Anerkennung eben ein störanfälliger Gradmesser für den Wert sozialer Beziehungen: Erinnerungen an Vorerfahrungen können verblassen, umgedeutet werden und überhaupt zwischen Gebendem und Nehmendem sehr unterschiedlich sein. Kurzum: Es gab durchaus einen praktischen Bedarf danach, soziale Kreditsysteme – also auch soziales Prestige und das mit ihm verbundene Sozialkapital – zu standardisieren. Aus der mangelnden Quantifizierbarkeit von Sozialkapital könnte sich also der Anfangsvorteil von Geldsystemen ergeben haben.755 Seit deren Einführung ließen sich Obligationen und soziales Prestige buchstäblich in „harte Währung“ überführen, womit ein großer Schritt in Richtung der Verringerung der Konflikthaftigkeit von sozialen Beziehungen getan worden sein dürfte. Solche Möglichkeiten der Einhegung von Binnenkonflikten wiederum sind wichtige Gelingensbedingungen von Systemübergängen.756 Die Erfindung des ökonomischen Kapitals und die damit verbundene Beilegung vieler Konflikte um tatsächliche und eingebildete Obligationen gerade auch zwischen Gruppen könnte also den Übergang von der Vergemeinschaftung zur Vergesellschaftung begünstigt haben. Vor diesem Hintergrund ist auch das kritische Argument von Arrow (2000) zu hinterfragen, der darauf hinweist, dass Sozialkapital ein wichtiges Defini­ tionskriterium von Kapital nicht erfüllt: Kapital müsse einen Verzicht in der Gegenwart bedeuten, für den es eine Dividende in der Zukunft gebe. Sozialkapital aber basiere auf intrinsischen Motivationen; oft sei die Interaktion selbst schon die Belohnung (Arrow 2000: 3). Dieser Vorwurf ist von Verteidigern des Kon755 Vgl. hierzu Harlandt (1989) sowie Kuhn und Rabus (2009). 756 Siehe S. 310 ff.

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zepts nicht überzeugend entkräftet, wenn sie darauf hinweisen, dass Sozialkapital sich „durchaus auch durch Verzicht auszeichnen [kann]“ (Franzen und Freitag 2007b: 70). In beiden Argumenten wird erkennbar auf die Rolle von konsumatorischen Handlungsmotivationen verwiesen – also auf jene psychologische Residualkategorie, der ökonomisch irrationale Beweggründe zugeordnet werden, die – vermeintlich – auf Norminternalisierung und emotionale Zustände zurückgehen. Die Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Motivationen hat sich hier jedoch als analytisch untauglich erwiesen. Das dabei zentrale evolutionäre Argument greift auch hier. Ob der Geschmack von Zucker, die entlastende Empfindung des Vertrauens oder das gute Gefühl, etwas Prosoziales zu tun: Die eigentliche Frage muss sein, woher die Präferenz für prosoziale Handlungen rührt. Und die Antwort wird lauten: Der Organismus empfindet eine Handlung als belohnend, weil es sich evolutionsgeschichtlich für seine Vorfahren gelohnt hat, aufgrund einer aus welchen Gründen auch immer entstandenen Präferenz ihre somatische Energie hier und nirgends sonst zu investieren, auf ihre Investition an anderer Stelle also zu verzichten. Arrow verweist mit seiner ganz auf der Ebene situativer und biographischer Kausalzusammenhänge verharrenden Kritik im Grunde auf ein evolutionäres Argument dafür, dass So­ zialkapital die älteste und ursprünglichste aller Kapitalformen ist.

6.4 Der Proof of Concept: Anthropologie und Sozialwissenschaften Das überwölbende Ziel dieser Untersuchung war es, Gräben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zuzuschütten. Die evolutionär-anthropologische Fundierung der Sozialkapitaltheorie ist als ein Proof of Concept zu verstehen, der aufzeigen sollte und wohl auch aufgezeigt hat, welches Potential für sozialwissenschaftliche Theorien im interdisziplinären Austausch mit den Life Sciences steckt. Es war zu demonstrieren, wie fruchtbar es sein kann, lang gehegte Frontstellungen aufzugeben, die sich letztlich nur der Historizität von Disziplinengrenzen verdanken. Auch wenn eine solche Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse durchaus manchen grundsätzlichen Perspektivwechsel nötig macht, bedeutet sie doch nur scheinbar einen Paradigmenwechsel für sozialwissenschaftliche Theoriebildung. Jeder in evolutionärer Perspektive argumentierende Sozialwissenschaftler kennt die Gemengelage, die ihm im Dialog mit Skeptikern entgegenschlägt: Es werde gar nicht bestritten, dass der Mensch ein Produkt der Evolution sei. Doch wisse man nicht, welche Relevanz das für Sozialtheorie haben solle. Es folge doch

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Fazit: Paradigmenwechsel unter rollendem Rad

aus den Argumenten der „Evolutionisten“ ohnehin nur, was man schon immer gewusst habe. Der Mensch sei eben ein Kulturwesen, in seinem Verhalten extrem flexibel und an soziale Tatsachen rückgebunden. Kurzum: Es habe ihnen bisher niemand überzeugend einen Mehrwert einer evolutionären Perspektive in den Sozialwissenschaften aufzeigen können. Warum solle man nun alles bisher Errungene umwerfen, um einem modischen Trend zu folgen ? – Dies sind freilich die Worte noch der aufgeschlosseneren Skeptiker. Hartgesottene Gegner verweisen darauf, dass evolutionstheoretische Erklärungen in vielerlei Weise defizitär wären: deterministisch, reduktionistisch, animistisch, sozialdarwinistisch, unethisch, reaktionär, letztlich totalitär usw. All diese Vorbehalte sind unbegründet. Die Evolutionstheorie hat aus sich heraus überhaupt keine normativen Implikationen, denn sie ist eine empirische Theorie – und zwar eine der erfolgreichsten überhaupt. Der darwinische Ansatz macht die Faktizität des Gewordenseins und die Kausalität des Werdens begreiflich; er bewertet sie nicht. Evolutionäre Anthropologie liefert eine Fülle von Einsichten in die menschliche Natur, die einer rein philosophischen Betrachtung verwehrt bleiben. Sie verortet von Sozialwissenschaftlern Erkanntes und Vermutetes in einem umfassenden naturwissenschaftlichen Kontext (vgl. Pinker 2002). Mit ihrer Hilfe lässt sich herausfinden, welche sozialwissenschaftlichen Ansätze ungenau, irreführend oder schlicht falsch sind. Dergestalt möglich gewordene externe Konsistenzprüfung soziologischer und politikwissenschaftlicher Theorien ist ein neues Werkzeug für das, was stets der „Normalbetrieb“ der Geistes- und Sozialwissenschaften war. Dieser Normalbetrieb zumal der politischen Philosophie besteht seit der Antike in der Formulierung von – plausiblen! – empirischen Aussagen über die menschliche Natur, auf die dann Überlegungen zum Aufbau einer guten Ordnung gründen können.757 So war Platon verfahren, als er den Staat derart zu konzipieren suchte, dass Gerechtigkeit und tugendhafte Selbstentfaltung im Zusammenleben von Individuen möglich wird, die ihrer animalischen Natur, ihren Begierden und Leidenschaften verhaftet bleiben. So ging auch Aristoteles vor, für den der Mensch ein politisches und soziales Wesen nicht trotz, sondern wegen seiner biologischen Konstitution war. Das Leben in arbeitsteiligen Verbünden wurzelt bei ihm – genau wie jenes von Ameisen und Bienen – in natürlichen Vorbedingungen.758

757 Vergleiche zum Folgenden Jörke (2005: 17 ff.), ferner etliche Überblickswerke zur politischen Anthropologie (etwa Kupperman 2010; Rembold 2007; Stevenson und Haberman 2008; Trigg 2003). 758 Diese aristotelische Perspektive – inklusive des Verweises auf die funktionale Äquivalenz der sozialen Integration von Menschen und eusozialen Insekten – hält einer Prüfung mit den Mitteln moderner Evolutionstheorie dem Grunde nach stand (vgl. S. 398 ff.). Die entschei-

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Doch nicht nur die antike politische Philosophie folgte dieser Methode. Auch Thomas Hobbes bemühte sich um eine naturwissenschaftliche Fundierung seiner Staatstheorie. Er widmete anthropologischen Reflexionen ein ganzes Buch „Vom Menschen“ (Hobbes 1642/1994) und konzipierte den Leviathan später als Antwort auf die – dem Anspruch nach empirisch gewonnene – Einsicht, dass der Mensch des Menschen Wolf sei.759 David Hume verfasste gleich mehrere Bücher über die menschliche Natur, den Verstand und die Grundlagen der Moral. Auch er behandelte Fragen nach der Natur des Menschen als empirisch und kam, grob verdichtet dargestellt, zu dem Schluss, dass die menschliche Moral schon in den Emotionen begründet läge und kulturelle Regeln ein Ausdruck der Interaktion solchermaßen normativ vorgeprägter Individuen sei.760 Dieser kurze Blick in die Geschichte zeigt: Es ist hier nichts wissenschaftshistorisch Unübliches oder gar Unnötiges unternommen worden. Im Gegenteil! Der Rückbezug von politischen Theorien auf empirische Erkenntnisse zur Conditio humana gehört zu den ursprünglichsten, prominentesten und theoriekonstruktiv wichtigsten ureigenen Angelegenheiten der politischen Philosophie. Es ließe sich die Ahnenreihe politischer Philosophen von der Antike bis in die Gegenwart deshalb noch beliebig fortsetzen – etwa über Adam Smith, John Stuart Mill und John Locke zu Friedrich August von Hayek, Charles Taylor, Martha Nussbaum, Ottfried Höffe, Axel Honneth, Jürgen Habermas und vielen mehr (vgl. Jörke 2005; Jörke und Ladwig 2009; Rembold 2007; Sharma und Gupta 2006).761 Der anzustrebende Paradigmenwechsel ist also eigentlich gar keiner. Er kann gleichsam unter rollendem Rad erfolgen, erfordert keinen Umsturz und keinen dende Akzentverschiebung liegt in der Ablösung der teleologischen Sichtweise Aristoteles’ durch die Annahme der Teleonomie, einer Gerichtetheit ohne Telos, in der Evolutionstheorie (vgl. Hladký und Havlíček 2013). Siehe dazu auch S. 87 und dort vor allem die Fußnote 120. Zur Anschlussfähigkeit der politischen Philosophie des Aristoteles an eine moderne evolutionäre Anthropologie siehe Arnhart (1994, 2010) sowie die Verweise in der nächsten Fußnote. 759 Zwar schätzte Hobbes die menschliche Natur allzu pessimistisch ein. Jedoch ist die Einsicht, dass eine institutionelle Ordnung gerade Binnenkonflikte minimieren müsse, um das emergente Gebilde nach außen abzusichern, anschlussfähig an die Multilevelselektionstheorie (siehe S. 313 ff., vgl. auch S. 438 ff.). Für eine evolutionäre Perspektive auf Hobbes und Aristoteles siehe Berry (2006) und Masters (1990). 760 Auch diese Erkenntnis wird von der evolutionären Anthropologie aufgefangen, hier festgehalten in der zentralen Einsicht, dass Menschen tatsächlich über evolvierte moralische Intuitionen verfügen, die eine entscheidende Rolle in den kausalen Mechanismen der Stabilisierung von Kooperation und Ordnung spielen (siehe S. 282 ff., vgl. auch S. 462 ff.). Eine evolutionstheoretisch inspirierte Befassung mit Hume liefern Arnhart (1995) und McShea (1978). 761 Zur Rolle anthropologischer Prämissen für sozialwissenschaftliche Theorien siehe S. 35 ff. und S. 48 ff.

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Kehraus. Eine wissenschaftliche Revolution im Kuhnschen Sinne steht nicht an. Die Sozialwissenschaften an die Evolutionstheorie heranzuführen, bedeutet zwar einen erheblichen wissenschaftlichen Perspektivenwechsel. Die evolutionäre Perspektive hilft aber dabei, sozialwissenschaftliche Erklärungen weiterzuentwickeln, brauchbare Konzepte zu elaborieren, unbrauchbare zu verwerfen und ein besseres Verständnis der zugrundeliegenden Kausalmechanismen zu erlangen. Sozialwissenschaftliche Theorien – nicht alle, aber die besseren! – sind anschlussfähig an evolutionäre Theorien und profitieren von ihnen. Das wurde hier exemplarisch vorgeführt. Auch die evolutionären Humanwissenschaften werden von einer theoretischen Integration mit sozialwissenschaftlichen Wissensbeständen profitieren (Wilson et al. 2009). Nicht nur bieten Politikwissenschaft und Soziologie sozialtheoretisch unerlässliches Wissen zur Eigenlogik institutioneller Arrangements, das Naturwissenschaftlern fehlt. Die Sozialwissenschaften können außerdem mit Felddaten aufwarten, welche die Life Sciences brauchen, um ihre Theorien zu testen und zu verbessern. Nicht zuletzt verfügen Sozialwissenschaftler über exklusive Expertise zur Gewinnung solcher Daten. Es werden sich also kaum gute (wissenschaftliche) Gründe finden lassen, die bestehenden methodischen und theoretischen Anknüpfungspunkte nicht zu nutzen, um integrative humanwissenschaftliche Theoriebildung zu betreiben. Disziplinengrenzen sind angesichts der Notwendigkeit unumgänglich, Wissensbestände aufzubewahren und auszudifferenzieren, die so komplex und vielfältig sind, dass sie kein Mensch mehr in Gänze übersehen oder gar im Detail kennen kann. Diese Grenzen werden aber hinderlich, wenn man empirische Phänomene verstehen will, die sich nicht nur einer oder wenigen Organisationsebenen des Lebendigen zuordnen lassen. Die Realität politischer und sozialer Ordnungen ist ein solch vielschichtiges Phänomen. Sie erstreckt sich von internationalen Regimen über Staaten, Institutionen, Organisationen, Kulturen, Gruppen und Individuen bis hinab zu den neuronalen Netzen unserer Gehirne sowie den für deren Aufbau verantwortlichen Genen. Nur wenn interdisziplinär denkende Humanwissenschaftler das Ganze in den Blick zu nehmen versuchen, werden die Lösungsvorschläge, die Wissenschaft für die drängenden sozialen Probleme unserer Zeit erarbeitet, nicht auf Sand gebaut sein. Zerfallende Staatlichkeit, fehlschlagende Demokratisierung, die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen sowie soziale Konflikte und Protestbewegungen, die von der Legitimitätskrise moderner Demokratien künden – dies sind nur eini­ ge der Herausforderungen, die augenscheinlich viel mit zwischenmenschlichen Bindungen, mit sozialer Kohäsion und kollektivem Handeln zu tun haben. Die Sozialwissenschaften werden sich – genauso wie die Life Sciences – daran messen lassen müssen, was sie zur Lösung dieser Probleme beizutragen haben. Der Wirk-

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lichkeit wird es egal sein, ob wissenschaftliche Handlungsanweisungen nicht zum Ziel führen, weil sie auf dem biologischen Auge blind oder aber in normativer und institutionenkundlicher Hinsicht unzulänglich sind, wie so manche Gestaltungswünsche von Hirnforschern und Biologen. Zielführend erscheint vielmehr eine integrative Gesamtschau der Erkenntnisse verschiedener Fachgebiete in interdisziplinären Projekten. Die Antworten auf Fragen nach dem guten Leben in Frieden, Wohlstand und Würde zu suchen, seit jeher ein Projekt der politischen Philosophie, wird so zum großen Gemeinschaftsprojekt aller empirischen und normativen humanwissenschaftlichen Disziplinen. Poppers kumulatives Wissenschaftsverständnis und Kuhns Theorie der Paradigmenwechsel weisen gemeinsam den dafür zu beschreitenden Weg: Gerade in der systematischen Verbindung bestehender sozial- und naturwissenschaftlicher Perspektiven liegt großes revolutionäres Potential für die Anpassung humanwissenschaftlicher Erkenntnisstrukturen an die Herausforderungen unserer Zeit. In diesem Sinne: Vive l’Evolution !

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