Die Esra-Apokalypse
 9783666534621, 9783647534626, 9783525534625

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V

Academic

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur Herausgegeben von Jürgen Wehnert

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Esra-Apokalypse Übersetzt und eingeleitet von Bonifatia Gesche

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-53462-6 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Text und seine Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ort und Zeit der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Gattung und Gestalt des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Die Bedeutung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Hinweise zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Abkürzungen der biblischen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

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Einführung

Der Text und seine Überlieferung „Esra-Apokalypse“1 ist die übliche Bezeichnung für einen Text, der in den Kapiteln 3–14 des vierten Esra-Buches überliefert ist, das seit dem Konzil von Trient (1545–1563) im Anhang der Vulgata, der lateinischen Übersetzung der Bibel, erscheint. Dieser Text wird hier in deutscher Übersetzung vorgelegt. Die Bezeichnung der verschiedenen kanonischen und apokryphen Esra-Bücher ist etwas verwirrend. Die Zählung, die zu der heute gebräuchlichen Bezeichnung 4. Esra geführt hat, geht auf eine von mehreren mittelalterlichen Vulgata-Traditionen zurück, in der das Buch Esra, wie es in deutschen Bibelübersetzungen genannt wird, als 1. Esra gezählt wird, das Buch Nehemia als 2. Esra, die Übersetzung des zunächst griechisch überlieferten Buches Esdras A als 3. Esra und schließlich das lateinisch überlieferte Esra-Buch als 4. Esra. Das vierte Esra-Buch ist nicht als Einheit entstanden; vielmehr wurde zunächst die Esra-Apokalypse abgefasst und ins Lateinische übersetzt. Später wurde der Esra-Apokalypse je ein ursprünglich Lateinisch geschriebener Text vorangestellt bzw. angehängt. In der wissenschaftlichen Literatur ist eine eigene Zählung für diese Bücher üblich geworden, die auf einer Tradition beruht, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Im Überblick sieht das folgendermaßen aus:

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Sie ist nicht mit der späteren griechischen Esra-Apokalypse zu verwechseln.

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1. Esra

= Esra (in der deutschen Bibelübersetzung)

2. Esra

= Nehemia (in der deutschen Bibelübersetzung)

3. Esra

= Esdras A (in der griechischen Bibel)

5. Esra

= 4. Esra 1–2 (in der lateinischen Bibel)

4. Esra

= 4. Esra 3–14 (in der lateinischen Bibel)

6. Esra

= 4. Esra 15–16 (in der lateinischen Bibel)

Die Esra-Apokalypse ist vollständig nur in lateinischer Übersetzung erhalten, die, wie allgemein angenommen, auf einer griechischen Vorlage beruht, von der keinerlei Reste erhalten sind. Weitere Übersetzungen auf der Vorlage des griechischen Textes sind auf Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Armenisch, Georgisch und in einem Fragment auf Koptisch überliefert. Diese Versionen bieten an einigen Stellen Varianten zum lateinischen Text, die zur Wiedergewinnung des ursprünglichen Textes beitragen können. Die sprachliche Gestalt der lateinischen Übersetzung lässt darauf schließen, dass der griechische Text ebenfalls eine Übersetzung ist und zwar aus einem ursprünglich hebräisch oder aramäisch geschriebenen Text. Die im Text beschriebenen Ereignisse beziehen sich auf die Zeit nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.), sodass man davon ausgehen kann, dass der Text ungefähr um 100 n. Chr. geschrieben wurde. Für die Überlieferung des lateinischen Textes in der Tradition der lateinischen Bibel war das 13. Jahrhundert von großer Bedeutung. In dieser Zeit erlebte die Bibelproduktion einen sprunghaften Anstieg. Seit etwa 1230 kamen sogenannte Taschenbibeln in Gebrauch, handliche Bücher, die die gesamte Bibel handschriftlich in lateinischer Sprache enthielten, wobei eine bestimmte Textfassung und eine bestimmte Reihenfolge der biblischen Bücher geläufig waren. Einige Exemplare dieser Bibeln enthielten neben den üblichen drei Esra-Bücher auch das Buch 4. Esra. Entscheidend für die weitere Überlieferung des vierten Esra-Buches war schließlich, dass Johannes Gutenberg für seinen Bibeldruck (1452/1454) eine Vorlage verwendete, die alle vier Esra-Bücher der lateinischen Tradition als kanonische Bücher enthielt. Auf diese Weise wurde der Text allgemein verbreitet. Beim Trienter Konzil (1545–1563) kam man zwar zu dem Beschluss, weder 3. Esra noch 4. Esra als kanonisch anzuerkennen, 8

gänzlich ausschließen wollte man sie aber auch nicht. So ordnete man sie in den Anhang der seither für die Kirche verbindlichen Vulgata-Ausgabe ein. Freilich geht deren Text von 4. Esra auf einen Bibelkodex des 9. Jahrhunderts zurück, in dem ein Blatt fehlt, sodass man über Jahrhunderte hinweg diesen unvollständigen Text verwendete, bis im 19. Jahrhundert das fehlende Stück gefunden wurde.

Ort und Zeit der Handlung Der Schlüssel für die Datierung der Abfassung des Textes findet sich im ersten Vers (4. Esra 3,1), in dem das dreißigste Jahr nach dem Untergang der Stadt Jerusalem als Datum der Handlung genannt wird. Zwar ist die Erzählung in eine frühere Zeit, nämlich in die des Untergangs Jerusalems im Jahr 587 v. Chr., zurückprojiziert, gemeint ist aber sicher die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Somit lässt sich die Entstehung des Textes etwa auf das Jahr 100 n. Chr. in jüdischem Kontext festlegen. Über den Ort der Abfassung besteht hingegen in der Forschung keine Einigkeit. Infrage kommen vor allem Rom oder Palästina.

Gattung und Gestalt des Textes Die Bezeichnung „Apokalypse“ (griechisch: „Enthüllung“, „Offenbarung“) steht normalerweise für eine prophetische Schrift, in der einem Menschen die Ereignisse im Vorfeld des Untergangs der Welt und des göttlichen Gerichtes am Ende der Zeiten offenbart werden. Die Esra-Apokalypse zeigt zahlreiche Charakteristika, die typisch für diese Literaturgattung sind. So handelt es sich um eine sogenannte pseudepigraphische Schrift, d. h. um einen Text, der von einer bedeutenden historischen Gestalt verfasst worden sein soll, im vorliegenden Fall von dem Gelehrten Esra, der nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft (nach 539 v. Chr.) einen großen Anteil an der Wiederherstellung des Kultes und der sozialen Ordnung in Jerusalem hatte. Da die in Apokalypsen geschilderten künftigen Ereignisse nur schwer beschreibbar sind, wählt man zu ihrer Darstellung meist literarische Bilder und bedient sich vieler Metaphern, um eine theolo9

gische Deutung der offenbarten Vorgänge zu ermöglichen. Dies gilt zum Teil auch für die Esra-Apokalypse, die jedoch in ihren ersten drei Abschnitten die sonst unübliche Form des Dialoges verwendet, möglicherweise in Anlehnung an das biblische Buch Hiob (Ijob). Beim Lesen des Textes wird schnell deutlich, dass er vor oder in der vierten Episode einen Bruch enthält. An dieser Stelle wechselt die Darstellung von der Dialogform zur Beschreibung von Visionen, wie man sie von anderen apokalyptischen Texten kennt. Auch ändert sich plötzlich die Einstellung Esras zu den Ereignissen, die er erlebt. Es stellt sich daher die Frage, ob in dem Text, wie er uns heute vorliegt, mehrere Überlieferungen zusammengeflossen sind oder ob es sich um eine einheitliche Komposition handelt. Da starke Argumente dafür sprechen, dass der Text als Einheit entstanden ist, geht die hier vorgelegte Deutung von der vorliegenden Textgestalt aus. Apokalyptische Schriften entstehen oft in direkter Reaktion auf historische Ereignisse, deren traumatische Wirkung auf diese Weise verarbeitet wird. Da es solche zu allen Zeiten gibt, hat das vierte EsraBuch auch heutigen Menschen etwas zu sagen, auch wenn als Zielgruppe dieser Apokalypse ausdrücklich nur die „Weisen im Volk“, die das Geschriebene verstehen können, genannt werden (12,37; 14,46).

Die Handlung Das Buch besteht aus sieben Episoden. Die ersten drei sind in der Form von Dialogen gestaltet, die vier folgenden beschreiben Traumvisionen, die Esra offenbart werden. 1. Episode (3,1–5,20): Esras bittere Klage angesichts des Bösen Mit der Schöpfung beginnend, zeichnet Esra die Geschichte der Welt entsprechend der biblischen Darstellung nach. Resigniert stellt er fest, dass Gott immer wieder Gerechte erwählt hat, zunächst Adam, dann Noah, Abraham und seine Nachkommen und schließlich David, und dennoch immer wieder das Böse Überhand nahm. Er sieht, wie das sündige Babylon im Wohlstand lebt, während sein eigenes, das von Gott erwählte Volk, zugrunde geht. Nun kommt 10

der von Gott gesandte Engel Uriel ins Spiel, der Esra verspricht, ihm Gottes Willen zu offenbaren. Zunächst muss Esra jedoch erfahren, dass diese Dinge für den Menschen nicht zu fassen sind. Er wird erleben müssen, dass das Böse noch mächtiger wird. Erst wenn die vollständige Zahl der Gerechten erreicht ist, wird er Antwort auf seine Fragen nach dem Sinn des Leidens Unschuldiger erhalten (4,35–37). 2. Episode (5,21–6,34): Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken Esra lässt nicht nach in seinem Klagen und fordert Gott mit der Frage heraus, wie er es zulassen könne, dass sein eigenes Volk von denen unterdrückt wird, die Gott nicht fürchten. Wieder stellt ihm der Engel vor Augen, dass die Entscheide Gottes außerhalb des menschlichen Verstehens liegen. Gleichzeitig deutet er an, dass Gott zu gegebener Zeit seine Verheißung erfüllen (5,40) und selbst auf die Erde kommen wird (6,18–19). 3. Episode (6,35–9,26): Ankündigung des endzeitlichen Gerichts Immer noch verbittert wegen der Ungerechtigkeit, die nach seiner Meinung dem Volk widerfährt, ruft Esra ausführlich die biblische Schöpfungsgeschichte in Erinnerung, um zu zeigen, dass die gesamte Schöpfung in der Erschaffung des Menschen, genauer in der Erschaffung des auserwählten Volkes ihren Höhepunkt hat. Voll Unverständnis fragt er, wieso dieses nicht Erbe der Welt geworden sei (6,57–59). Der Engel erklärt Esra, dass dies die Strafe für die Sünde Adams sei und die Menschen auf engen Pfaden gehen müssen. Es sei besser, dass viele verlorengehen, als dass Gottes Gebote missachtet werden (7,20). Damit macht er klar, dass der Mensch selbst für sein Schicksal verantwortlich ist. Esra ist mit der Antwort nicht zufrieden, weil Gott dem Menschen ja auch das böse Herz gegeben hat, das ihn zu seinem Handeln treibt, sodass nur wenige gerettet werden (7,45–48). In dem Gespräch beklagt Esra weiterhin das Schicksal des Menschen, das er nach wie vor als ungerecht ansieht; er hält geradezu die ganze Schöpfung für verfehlt, während ihm der Engel deutlich zu machen versucht, dass der größte Teil der Menschheit diese Strafe verdient, weil sie aus 11

freiem Willen gegen Gottes Gebote verstoßen hat. Umso kostbarer seien in Gottes Augen die wenigen Gerechten. Doch alle Argumente können Esra letztlich nicht davon überzeugen, dass Gottes Handeln richtig ist. Immerhin gibt ihm die Aussicht auf ein endzeitliches Gericht einen Ansatz von Hoffnung. 4. Episode (9,27–10,59): Vision über das Himmlische Jerusalem Noch während Esra über die Herrlichkeit des Gesetzes und das Verhängnis der Sünder nachdenkt, erscheint ihm in einer Vision eine Frau, die um ihren Sohn trauert. Doch statt sie zu trösten, führt er ihr das Leid Zions vor Augen, das ihre Klage viel mehr verdiene als ihr Sohn. Sie aber verwandelt sich plötzlich in eine Stadt. Der Engel Uriel offenbart ihm, dass dies das ewige Zion ist, das Himmlische Jerusalem, das nicht von Menschenhand erbaut ist. Diese hoffnungsvolle Vision wird ihm als Gerechtem zuteil, und weitere Offenbarungen werden ihm in Aussicht gestellt. 5. Episode (11,1–12,51): Adlervision Esra sieht im Traum einen dreiköpfigen Adler mit zwölf Flügeln aus dem Meer steigen, der die Reiche und Herrscher der Welt repräsentiert, die nach und nach zugrunde gehen. Plötzlich bricht aus dem Wald ein Löwe hervor, der ein Bild für den kommenden Messias ist. Er vernichtet den Adler und rettet die Gerechten. Dies ist ein großer Trost für Esra, der erkennt, dass Gott sein Volk nicht vergessen hat. 6. Episode (13,1–13,58): Der Mann aus dem Meer und die Sammlung Israels In der nächsten Vision sieht Esra, wie ein Mann aus dem Meer steigt. Die Menge, die Krieg gegen ihn führt, vernichtet er und versammelt um sich die zu ihm gehörende Menschenschar. Die Vision wird dahingehend gedeutet, dass der Sohn des Höchsten das ganze Volk Israel in Zion zusammenführt, auch die Stämme des Nordreichs, die in ihrem eigenen Land Arzaret gesetzestreu gelebt haben. Nun ist der Punkt erreicht, dass Esra befriedigt ist und Gott preisen kann.

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7. Episode (14,1–14,48): Die 94 Bücher In der letzten Vision hört Esra wie früher Mose (vgl. Ex 3) Gott aus einem Dornbusch zu ihm sprechen. Er bekommt den Auftrag, anderen von seinem Wissen mitzuteilen. Die Menschheit soll von der Gnade Gottes erfahren, sodass sie sich auf das Kommen des neuen Zeitalters vorbereiten kann. Der Heilige Geist wird ihm eingeben, was er niederschreiben soll, und zwar in 24 Büchern, die für alle bestimmt sind, und in siebzig Büchern, die den wenigen Weisen vorbehalten bleiben.

Die Bedeutung des Textes Unglück, Unrecht und offenbar sinnloses Leiden, gleichgültig, ob es einen selbst oder andere trifft, können den Glauben an einen gerechten und liebenden und gleichzeitig allmächtigen Gott auf eine harte Probe stellen. Die Frage, wie Gott das Leid Unschuldiger zulassen kann und warum er nicht eingreift, hat wohl schon jeder gehört oder sich selbst gestellt. Die naheliegende Antwort, dass Gott entweder ungerecht sei oder eben nicht allmächtig, befriedigt aber keineswegs, eher schon die ebenfalls nicht unproblematische Verheißung auf Lohn nach dem Tod. Auch Esra hadert mit Gott angesichts des Unglücks, dass über sein Volk gekommen ist. In harten Worten fordert er Gott heraus, dem er vorwirft, seine Verheißungen, die er den Menschen gegeben hat, nicht zu erfüllen und die Ungerechten den Gerechten vorzuziehen. Der Hinweis, dass die Menschen ihr Unglück durch eigene Schuld zu verantworten haben, weist Esra vehement zurück, weil Gott dem Menschen kaum die Möglichkeit eingeräumt habe, nicht zu sündigen. Auch die Tatsache, dass Menschen die Wege Gottes nicht begreifen können, kann ihn nicht besänftigen. Dieser Konflikt wird in den ersten drei Episoden der Esra-Apokalypse ausgefochten, die stark an ähnliche Dialoge im Hiob-Buch erinnern. Im Unterschied zu Hiob lässt sich jedoch Esra nicht überzeugen, sodass die Auseinandersetzung festgefahren und ohne jede Einsicht endet. An diesem Punkt bricht der Dialog ab, und Esra wird in Visionen der Untergang der gegenwärtigen Welt und die Verheißung einer guten zukünftigen Welt offenbart. Was oft als literarischer 13

Bruch gedeutet wird und zu der Vermutung führt, dass der Text aus Bestandteilen unterschiedlichen Ursprungs besteht, ist aus dem Handlungsverlauf völlig einsichtig und bedarf keineswegs einer solchen Erklärung. Tatsächlich erkennt Esra durch das, was er als auserwählter Mensch erfährt, die Güte Gottes, der am Ende alles zum Guten führen wird. So kann er dem Auftrag, diese neue Erkenntnis seinem Volk zu vermitteln, mit Überzeugung nachkommen.

Hinweise zur Übersetzung Grundlage für die vorliegende Übersetzung ist der lateinische Text, wie er in der modernen Vulgata-Ausgabe von Robert Weber, Bonifatius Fischer und Roger Gryson vorliegt. Sofern der lateinische Text fehlerhaft ist, wurde auf Varianten aus anderen antiken Übersetzungen zurückgegriffen, was jeweils in den Fußnoten vermerkt ist. Für den Textsinn bedeutsame Varianten aus den anderen Übersetzungen sind ebenfalls in Fußnoten verzeichnet; dort wird auch auf Bezüge des Esra-Buches zu den biblischen Texten hingewiesen.

Literatur Ausgabe: Robert Weber, Bonifatius Fischer, Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra. iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 2007. Robert L. Bensley, The Missing Fragment of the Latin Translation of the Fourth Book of Esra, Cambridge 1875. Pierre-Maurice Bogaert, Les livres d’Esdras et leur numérotation dans l’histoire du canon de la bible latine, Revue Benedictine 110 (2000), S. 5–26. Egon Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen. Das literarische und theologische Problem des 4. Esrabuches, Zürich 1981. Albertus Frederik Johannes Klijn (Hg.), Die Esra-Apokalypse (IV. Esra) (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte), Berlin 1992. Josef Schreiner: Das 4. Buch Esra (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit V/4), Gütersloh 1981. Bruno Violet, Die Apokalypsen des Esra und des Baruch in deutscher Gestalt (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 32), Leipzig 1924.

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Übersetzung

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Gliederung

1.  Episode (3,1–5,20): Esras bittere Klage angesichts des Bösen 2. Episode (5,21–6,34): Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken 3.  Episode (6,35–9,26): Ankündigung des endzeitlichen Gerichts 4.  Episode (9,27–10,60): Vision über das Himmlische Jerusalem 5.  Episode (11,1–12,51): Adlervision 6. Episode (13,1–13,58): Der Mann aus dem Meer und die Sammlung Israels 7.  Episode (14,1–14,48): Die 94 Bücher

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1. Episode (3,1–5,20): Esras bittere Klage angesichts des Bösen

3,1. Im dreißigsten Jahr nach dem Untergang der Stadt hielt ich mich in Babylon auf, ich, Salathiel, der auch Esra heißt. Als ich in meinem Bett lag, wurde ich verstört, und meine Gedanken stiegen mir ins Herz, 3,2. weil ich die Verwüstung Zions sah und den Wohlstand derer, die in Babylon lebten. 3,3. Mein Geist war sehr beunruhigt, und ich begann, von Furcht erfüllte Worte zum Höchsten zu sprechen, 3,4. und sagte: Herr, Gebieter, du hast doch von Anbeginn an, als du die Erde ganz allein gepflanzt hast, gesprochen und dem Staub befohlen,2 3,5. und er übergab dir Adam als toten Leib. Aber auch dieser war ein Gebilde deiner Hände, und du bliesest den Lebensgeist in ihn hinein, und er wurde vor dir lebendig. 3,6. Du führtest ihn ins Paradies, das deine Rechte gepflanzt hat, noch bevor die Erde entstand.3 3,7. Und du gabst ihm dein einziges Gebot. Er übertrat es, und sogleich hast du über ihn und seine Nachkommen den Tod verhängt. Aus ihm wurden zahllose Nationen und Stämme, Völker und Sippen geboren.4 3,8. Jede Nation lebte nach ihrem eigenen Gutdünken und handelte gottlos vor dir und missachtete deine Gebote5. Du hast sie nicht gehindert. 3,9. Dann aber brachtest du zur rechten Zeit die Flut über die Bewohner der Welt und hast sie vernichtet.6 3,10. So geschah es mit ihnen gleichermaßen: wie für Adam der Tod, so für sie die Flut. 3,11. Aber einen von ihnen hast du übriggelassen, nämlich Noah mit seinem Haus. Von ihm stammen alle Gerechten ab. 3,12. Als 2 In den orientalischen Übersetzungen ist dies als Frage formuliert: „Herr, Gebieter, hast du nicht …?“. 3 Vgl. Gen 2,7–8. 4 Vgl. Gen 2,16–17; 3,2–3. 5 Statt „missachtete deine Gebote“ heißt es in den orientalischen Übersetzungen „sündigte“. 6 Vgl. Gen 6,13–8,14.

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die Bevölkerung der Erde begann sich zu vermehren und sie viele Söhne, Völker und Nationen hervorbrachte, fingen sie schon wieder an, gottlos zu handeln, mehr noch als die Früheren. 3,13. Weil sie vor dir Unrecht taten, wähltest du dir einen von ihnen aus. Sein Name war Abraham.7 3,14. Du liebtest ihn und ihm allein zeigtest du im Geheimen während der Nacht das Ende der Zeiten. 3,15. Du setztest für ihn einen ewigen Bund ein8 und sagtest ihm, dass du seinen Nachkommen9 nie verlassen wirst. Du gabst ihm Isaak,10 und Isaak gabst du Jakob und Esau.11 3,16. Jakob hast du dir ausgesondert, Esau aber verstoßen,12 und Jakob wurde zu einer großen Schar. 3,17. Als du seinen Nachkommen aus Ägypten geführt hast, hast du sie zum Berg Sinai geführt. 3,18. Du hast den Himmel hinabgebeugt, die Erde aufgestellt, den Erdkreis bewegt, die Unterwelt zum Zittern gebracht, die Zeitalter erschüttert.13 3,19. Deine Herrlichkeit durchschritt vier Türen: Feuer, Erdbeben, Sturm und Eis, damit du dem Nachkommen Jakobs das Gesetz und dem Volk Israel das Gesetz14 gabst. 3,20. Das böse Herz hast du ihnen jedoch nicht weggenommen, damit dein Gesetz in ihnen Frucht bringt. 3,21. Weil er ein böses Herz in sich trug, hat sich der erste Adam verfehlt und ist besiegt worden und ebenso alle, die aus ihm geboren wurden. 3,22. So wurde die Schwäche dauerhaft, und das Gesetz war im Herzen des Volkes gemeinsam mit der Wurzel der Bosheit; was gut ist, verschwand, das Böse blieb. 3,23. Die Zeiten gingen dahin, die Jahre gingen zu Ende, da hast du dir einen Knecht namens David erweckt. 3,24. Du sagtest ihm, dass er eine Stadt für deinen Namen erbaue15 und dir darin von deinen Opfergaben opfere. 3,25. So geschah es viele Jahre. Die Ein-

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Vgl. Gen 12,1–9. Vgl. Gen 17,2. Hier und im Folgenden ist von einem einzigen Nachkommen die Rede. Vgl. Gen 21,2–3. Vgl. Jos 24,4; Gen 25,24–26. Vgl. Mal 1,2–3. Vgl. Ps 77,17–19. Syrisch und Arabisch: „Gebote“. Vgl. 1. Kön. 8,18.

wohner der Stadt sündigten weiter gegen dich.16 3,26. Sie handelten in allem genau wie Adam und alle seine Nachkommen, denn sie selbst hatten17 ein böses Herz. 3,27. So hast du deine Stadt in die Hände deiner Feinde gegeben. 3,28. Da sagte ich in meinem Herzen: Handeln denn die Einwohner Babylons besser? Und hat er daher über Zion geherrscht18? 3,29. Doch als ich hierher gekommen war, sah ich unzählige Gottlosigkeiten, und meine Seele sah in diesem dreißigsten Jahr19 viele, die sündigten, und mein Herz war außer sich. 3,30. Denn ich sah, dass du die Sünder ertrugst und diejenigen, die gottlos handelten, schontest und dein Volk vernichtetest und deine Feinde bewahrtest und dass du niemandem kundgetan hast, 3,31. wie dieser Weg verstanden werden muss.20 Hat denn Babylon besser gehandelt als Zion? 3,32. Oder hat ein anderes Volk außer Israel dich erkannt? Oder welche Stämme haben deinen Bündnissen so geglaubt wie die Stämme Jakobs, 3,33. deren Lohn sich nicht gezeigt hat und deren Mühe keinen Ertrag gebracht hat? Ich habe doch wahrlich alle Völker durchwandert und gesehen, dass sie im Überfluss lebten und dass sie nicht an deine Weisungen dachten. 3,34. Wäge jetzt also auf der Waage unsere Sünden und die der Bewohner der Welt! Und es wird sich zeigen, wohin der Ausschlag des Zeigers sich neigt. 3,35. Oder wann haben die Bewohner der Erde nicht vor dir gesündigt? Oder welches Volk hat so deine Gebote gehalten? 3,36. Du wirst bestimmt Menschen finden, die man benennen kann, die deine Gebote gehalten haben, aber Völker wirst du nicht finden. 4,1. Der Engel, der zu mir gesandt worden war – Uriel ist sein Name –, antwortete mir 4,2. und sprach zu mir: Dein Herz ist ganz außer sich über diese Welt, und du sinnst darauf, den Weg des Höchsten zu verstehen? 4,3. Ich sagte: Ja, mein Herr! Er antwortete mir und 16 Korrektur im Lateinischen nach den anderen Übersetzungen. 17 Übersetzung nach den orientalischen Versionen. 18 So lautet der lateinische Text. Die Textüberlieferung geht in den Übersetzungen auseinander und ist unsicher. Auch eine Übersetzung „Hat er daher Zion verlassen?“ (oder ähnlich) ist überliefert. 19 In einigen Versionen heißt es „während der dreißig Jahre“. 20 Die Textversionen gehen auseinander. Hier ist nach dem Syrischen übersetzt.

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sagte: Ich bin gesandt, dir drei Wege zu zeigen und dir drei Beispiele vorzulegen. 4,4. Wenn du mir eines davon erklärst, dann werde auch ich dir den Weg zeigen, den du sehen willst, und ich werde dich lehren, woher ein böses Herz kommt. 4,5. Ich sagte: Sprich, mein Herr! Und da sagte er zu mir: Geh, wäge mir das Gewicht des Feuers, oder miss mir den Hauch21 des Windes, oder ruf mir einen vergangenen Tag zurück! 4,6. Ich antwortete und sagte: Wer von den Geborenen könnte das tun, dass du mich danach fragst? 4,7. Und er sagte zu mir: Wenn ich dich gefragt hätte: Wie viele Wohnungen sind im Herzen des Meeres, oder wie viele Quellen sind im Ursprung der Unterwelt, oder wie viele Quellen sind über dem Firmament, oder wie viele Quellen22 sind am Anfang der Tiefe, oder welches sind die Ausgänge23 des Paradieses? 4,8. dann hättest du mir vielleicht gesagt: Ich bin noch nicht in die Unterwelt hinabgestiegen und auch nicht in den Himmel hinaufgestiegen.24 4,9. Nun habe ich dich aber nach nichts anderem gefragt als nach Feuer, Wind und einem vergangenen Tag, Dinge, ohne die du nicht sein kannst. Und du hast mir darauf nicht geantwortet. 4,10. Und er sagte zu mir: Was dein ist und mit dir verwachsen ist25, kannst du schon nicht erkennen, 4,11. wie kann dann dein Verstand26 den Weg des Höchsten erfassen?27 Und wie kannst du, der du erschüttert bist von der verdorbenen Welt, die Unverdorbenheit verstehen? Als ich das gehört hatte, fiel ich auf mein Gesicht nieder 4,12. und sprach zu ihm: Besser wäre es, dass wir nicht da wären, als hierher zu kommen und in Gottlosigkeit zu leben, zu leiden und den Grund nicht zu verstehen. 4,13.  Er antwortete mir und sagte: Ich ging einmal in einen Wald von Bäumen des Feldes, und die berieten sich 4,14. und sag21 Statt „Hauch“ überliefern die orientalischen Versionen „Maß“. 22 Statt „Quellen“ überliefern die orientalischen Versionen „Wege“. 23 Statt „Ausgänge“ findet sich „Eingänge“ in der armenischen und georgischen Version, „Wege“ in der syrischen, äthiopischen und arabischen. 24 In einigen Versionen ist „und nicht ins Paradies gelangt“ hinzugefügt. Vgl. auch Röm 10,6–7. 25 Varianten dazu in den anderen Übersetzungen. 26 Eigentlich: „dein Gefäß“. 27 Der arabische Text fügt hinzu: „Denn von etwas, dass man nicht verstehen kann, wurde der Weg des Höchsten geschaffen.“ Die anderen Versionen bieten einen ähnlichen Text.

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ten: Kommt, wir wollen gehen und mit dem Meer Krieg führen, damit es vor uns weicht, und wir wollen uns andere Wälder schaffen. 4,15. Und genauso berieten sich die Fluten des Meeres und sagten: Kommt, wir wollen hinaufsteigen und den Wald des Feldes besiegen, damit auch wir uns dort ein neues Gebiet verschaffen. 4,16. Doch der Gedanke des Waldes wurde zunichte gemacht, denn Feuer kam und verzehrte ihn. 4,17. Ebenso der Plan der Fluten des Meeres, denn Sand stand da und hinderte es.28 4,18. Wenn du Richter über sie wärest, wem würdest du Recht geben oder wen verurteilen? 4,19. Ich antwortete und sagte: Beide haben nichtige Gedanken ersonnen, denn das Land ist dem Wald gegeben, und der Ort des Meeres ist dazu gedacht, dessen Fluten zu tragen. 4,20. Er antwortete mir und sagte: Du hast das Urteil gut getroffen, und aus welchem Grund hast du nicht genauso über dich selbst geurteilt? 4,21. Denn wie das Land dem Wald gegeben ist und das Meer seinen Fluten, so kann die Bevölkerung der Erde auch nur das verstehen, was auf der Erde ist, die Bewohner des Himmels jedoch die Höhen des Himmels. 4,22. Ich antwortete und sagte: Herr, ich bitte dich, wozu ist mir dann überhaupt der Sinn zum Erkennen gegeben? 4,23. Denn ich wollte dich nicht über die oberen Wege befragen, sondern über die, die täglich an uns vorüberziehen. Warum ist Israel dem Schimpf der Heiden übergeben worden? Warum ist das Volk, das du liebtest, den gottlosen Stämmen übergeben?29 Warum wurde das Gesetz unserer Väter in den Untergang geführt? Warum sind die schriftlichen Anordnungen nirgends mehr vorhanden? 4,24. Warum durchziehen wir das Land wie Heuschrecken, und warum ist unser Leben wie Rauch?30 Sind wir es nicht wert, Erbarmen zu finden? 4,25. Aber was wird er31 mit seinem Namen tun, der über uns angerufen ist? Das habe ich ihn gefragt. 4,26. Er antwortete mir und sagte: Wenn es dich noch gibt, wirst du sehen, und wenn du lebst, wirst du oft staunen, weil die Zeit eilig vorübergeht. 4,27. Sie wird es nicht in Angriff nehmen, das zu brin28 29 30 31

Vgl. Jer 5,22. Vgl. Jer 29,18. Vgl. Jak 4,14. Gemeint ist Gott.

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gen, was den Gerechten in ihrer Zeit verheißen ist, denn diese Zeit ist angefüllt mit Trauer und Übeln. 4,28. Das Böse, nach dem du mich fragst, ist nämlich ausgesät, aber seine Ernte32 ist noch nicht gekommen. 4,29. Wenn also nicht geerntet ist, was gesät wurde, und der Ort, an dem das Böse gesät wurde, nicht verschwunden ist, wird der Acker nicht kommen, auf dem Gutes gesät ist. 4,30. Denn ein Samenkorn des Bösen wurde am Anfang in Adams Herz gesät, und wie viel an Gottlosigkeit hat es bis jetzt hervorgebracht und wird es hervorgebracht haben, wenn die Tenne33 kommt! 4,31. Erwäge aber bei dir selbst, wie viel Frucht an Gottlosigkeit der böse Samen hervorgebracht hat. 4,32. Wenn unzählige Ähren ausgesät werden, welch große Ernte werden sie bringen! 4,33. Ich antwortete und sagte: Wie lange noch und wann wird das geschehen? Unsere Jahre sind doch so mäßig und schlecht. 4,34. Er antwortet mir und sagte: Eile im Geist nicht mehr als der Höchste; denn du eilst nur wegen deines eigenen Geistes, der Erhabene jedoch um vieler willen. 4,35. Haben nicht die Seelen der Gerechten in ihren Kammern schon nach diesen Dingen gefragt, indem sie sagten: Wie lange soll ich auf die Weise abwarten? Und wann kommt die Frucht der Tenne unseres Lohnes? 4,36. Der Erzengel Jeremiel antwortete darauf und sagte: Wenn die Zahl derer voll ist, die euch ähnlich sind, weil er die Welt auf der Waage gewogen hat,34 4,37. die Zeiten mit dem Maß gemessen und die Zeiten mit der Zahl gezählt hat. Und er setzt nicht in Bewegung und treibt nicht fort, bis das vorhergesagte Maß voll ist. 4,38. Ich antwortete und sagte: Gebieter, Herr, aber auch wir sind alle voll von Gottlosigkeit. 4,39. Und wird nicht möglicherweise für uns die Ernte der Gerechten aufgeschoben wegen der Sünden der Einwohner der Erde? 4,40. Er antwortete mir und sagte: Geh, und frag eine Schwangere, ob ihr Leib das Kind in sich zurückhalten kann, wenn seine neun Monate voll sind. 4,41. Ich sagte: Das kann sie nicht, Herr. Und er sagte zu mir: In der Unterwelt sind die Kam32 So nach den orientalischen Versionen. Im Lateinischen: „seine Strafe“. 33 Der äthiopische Text überliefert „Ernte“, ähnlich eine der arabischen Versionen. 34 Vgl. Weish 11,21.

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mern der Seelen einem Mutterleib vergleichbar. 4,42. Denn wie eine Gebärende sich beeilt, die anstehende Geburt hinter sich zu bringen, so beeilen sich auch diese, das zurückzugeben, was ihnen von Anfang an anvertraut ist. 4,43. Danach wird man dir zeigen, was du sehen willst. 4,44. Ich antwortete und sagte: Wenn ich in deinen Augen Gnade gefunden habe und wenn ich würdig bin, 4,45. zeige mir auch dies, ob noch mehr kommt als schon vorübergegangen ist, oder ob das meiste schon über uns hinweggegangen ist. 4,46. Denn was schon vorübergegangen ist, das weiß ich, was aber in der Zukunft ist, weiß ich nicht. 4,47. Er sagte zu mir: Steh an der rechten Seite, und ich werde dir die Deutung des Gleichnisses darlegen. 4,48. Ich stand da und sah: Siehe, ein glühender Ofen ging vor mir vorüber. Und als die Flamme vorüberzog, da sah ich: Der Rauch blieb übrig. 4,49. Und anschließend zog eine Wolke voll von Wasser an mir vorbei und ließ sehr starken Regen fallen. Und nachdem der Regenguss vorübergegangen war, blieben Tropfen darin übrig. 4,50. Er sagte zu mir: Bedenke es bei dir! Denn so, wie der Regen mehr ist als die Tropfen und das Feuer als der Rauch, so ist das Maß dessen, was vorüberging, weitaus größer, aber Tropfen und Rauch bleiben übrig. 4,51. Ich bat und sagte: Was meinst du? Werde ich bis in jene Tage leben? Oder wer35 wird in jenen Tagen da sein? 4,52. Er antwortete mir und sagte: Über die Zeichen, über die du mich befragst, kann ich zum Teil mit dir sprechen, jedoch bin ich nicht gesandt, dir etwas über dein Leben zu sagen, da ich es nicht weiß. 5,1. Nun zu den Zeichen: Siehe, es werden Tage kommen, da werden die Bewohner der Erde von großem Entsetzen36 gepackt werden. Der Weg der Wahrheit wird verborgen sein, und die Gegend wird von Glauben entleert sein. 5,2. Die Ungerechtigkeit wird über das hinaus zunehmen, was du selbst siehst, und über das, was du frü35 Die Variante „was“, die die georgischen, äthiopischen und arabischen Übersetzungen überliefern, ergibt in dem Zusammenhang ebenfalls einen guten Sinn. 36 Der lateinische Text ist fehlerhaft überliefert. Die Übersetzung folgt sinngemäß den anderen Versionen.

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her gehört hast. 5,3. Das Land, das du jetzt herrschen siehst, wird unwegsam sein, und man wird es verlassen sehen. 5,4. Doch wenn der Höchste dir gewährt zu leben, dann wirst du es nach der dritten Periode37 verwirrt sehen. Plötzlich wird die Sonne in der Nacht wieder scheinen und der Mond am Tag. 5,5. Blut wird von den Bäumen tropfen, der Stein wird seine Stimme erschallen lassen,38 Völker werden in Aufruhr geraten, Schritte39 werden in Bewegung geraten. 5,6. Herrschen wird einer, den die Einwohner der Erde nicht erwarten, die Vögel fliegen gemeinsam davon. 5,7. Das Meer von Sodom wird die Fische zurückwerfen, der, den viele nicht kennen, wird in der Nacht seine Stimme erheben, alle aber werden seine Stimme hören. 5,8. An vielen Stellen entsteht ein Abgrund, und oft wird Feuer herausgeschleudert. Die wilden Tiere verlassen ihr Revier, Frauen bringen Missgeburten40 zur Welt. 5,9. Salzwasser findet sich im Süßwasser. Alle Freunde bekämpfen sich gegenseitig.41 Da versteckt sich die Einsicht, und der Verstand zieht sich in seine Behausung zurück. 5,10. Er wird von vielen gesucht und nicht gefunden. Ungerechtigkeit und Unmäßigkeit nehmen auf der Erde zu. 5,11. Da befragt eine Gegend eine andere und sagt: Hat denn dich die Gerechtigkeit durchwandert, die gerecht handelt? Und sie wird es verneinen. 5,12. In jener Zeit wird es so sein: Die Menschen werden hoffen und es nicht erlangen, sie werden arbeiten, und ihre Wege werden nicht geebnet werden. 5,13. Mir wurde erlaubt, dir diese Zeichen mitzuteilen. Und wenn du wieder wie auch jetzt betest und weinst und sieben Tage lang fastest, wirst du Dinge hören, die größer sind als diese. 5,14. Da wachte ich auf, und mein Leib zitterte mächtig, und meine Seele mühte sich, bis sie ermattet war. 5,15. Doch der Engel, der gekommen war und der mit mir redete, hielt mich und stärkte

37 Die lateinische Übersetzung ist schwer verständlich, und die orientalischen Übersetzungen sind in ihrer Überlieferung uneinheitlich. Nur soviel wird deutlich, dass es sich um eine Zeitangabe handelt. 38 Vgl. Hab 2,11. 39 Im Äthiopischen heißt es „Sterne“, die syrische und arabischen Versionen überliefern „Luft/Lüfte“. 40 Nach den anderen Versionen korrigiert. 41 Vgl. Jes 19,2.

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mich und stellte mich auf die Füße.42 5,16. In der zweiten Nacht war es soweit: Phaltiel, der Anführer des Volkes, kam und sagte zu mir: Wo warst du? Und warum ist dein Gesicht betrübt?43 5,17. Oder weißt du nicht, dass dir Israel im Land seiner Verbannung anvertraut ist? 5,18. Also erhebe dich! Iss etwas Brot und verlass uns nicht wie ein Hirte, der seine Herde den bösen Wölfen überlässt!44 5,19. Ich sagte zu ihm: Geh weg von mir und komm mir sieben Tage nicht mehr nahe. Dann komm wieder zu mir. Er hörte auf das, was ich sagte, und verließ mich. 5,20. Und ich fastete sieben Tage lang klagend und weinend, wie mir der Engel Uriel befohlen hatte.

42 Vgl. Dan 8,18. 43 Vgl. Neh 2,2. 44 Vgl. Joh 10,12.

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2. Episode (5,21–6,34): Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken

5,21. Nach diesen sieben Tagen bedrängten mich die Gedanken meines Herzens wieder sehr. 5,22. Meine Seele erlangte wieder den Geist des Verstandes, und wieder begann ich, vor dem Höchsten Worte zu sprechen, 5,23. und ich sagte: Gebieter, Herr, von allem Wald der Erde und aus allen seinen Bäumen hast du dir den einen Weinstock ausgewählt.45 5,24. Und aus dem Kreis aller Länder hast du die eine Gegend46 ausgewählt, und aus allen Blumen des Erdkreises hast du dir die eine Lilie ausgewählt, 5,25. und aus allen Tiefen des Meeres hast du dir den einen Fluss voll werden lassen, und aus allen gebauten Städten hast du für dich selbst Zion geheiligt. 5,26. Und aus allen erschaffenen Vögeln hast du dir die eine Taube benannt, und aus allem Vieh, das du gebildet hast, hast du dir das eine Schaf vorherbestimmt, 5,27. aus all den vielen Völkern hast du dir das eine erworben, und du hast dem Volk, nach dem du verlangt hast, ein von allen erprobtes Gesetz gegeben. 5,28. Doch nun, Herr, warum hast du das eine den vielen ausgeliefert, die eine Wurzel47 gegenüber den anderen zuschanden gemacht,48 dein einziges unter viele zerstreut? 5,29. Und die, die deinen Verheißungen widersprachen, haben diejenigen zertreten, die deinen Bündnissen glaubten. 5,30. Aber wenn du dein Volk wirklich hasstest, müsste es eigenhändig von dir gezüchtigt werden. 5,31. Als ich diese Worte gesprochen hatte, wurde der Engel zu mir gesandt, der schon in der vergangenen Nacht zu mir gekommen war, 5,32. und er sagte zu mir: Hör mich an, ich werde dich belehren, 45 46 47 48

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Vgl. Jer 2,21. Im Lateinischen „die eine Grube“. Oder „den einen Spross“. So nach den orientalischen Übersetzungen, das Lateinische ist hier fehlerhaft.

achte auf mich, ich werde weiter mit dir reden. 5,33. Ich sagte: Rede, mein Herr. Und er sagte zu mir: Bist du so sehr von Sinnen wegen Israel? Oder liebst du es mehr als sein Schöpfer? 5,34. Ich sagte: Nein, Herr, aber weil ich litt, redete ich. Mein Inneres quälte mich nämlich jede Stunde, wenn ich versuchte, den Weg des Höchsten zu begreifen und einen Teil seines Gerichtsentscheides zu erforschen. 5,35. Da sagte er zu mir: Das kannst du nicht. Und ich sagte: Warum, Herr? Warum wurde ich dann geboren? Warum wurde mir der Schoß meiner Mutter nicht zum Grab,49 damit ich das Leid Jakobs nicht sehen musste und die Erschöpfung des Volkes Israel? 5,36. Da sagte er zu mir: Zähle für mich die, die noch nicht gekommen sind, und sammle für mich die versprühten Tropfen ein, und lass mir die vertrockneten Blumen wieder blühen, 5,37. öffne mir die verschlossenen Kammern und lass mir die eingeschlossenen Winde50 heraus,51 zeig mir die Gestalt derer, die du noch nie gesehen hast,52 oder zeige mir das Abbild des Klanges! Dann werde ich dir diese Not, die du zu sehen bittest, zeigen. 5,38. Und ich sagte: Gebieter, Herr, wer kann das denn wissen, wenn nicht der, der keine Wohnung bei den Menschen hat? 5,39. Ich jedoch bin unwissend, und wie könnte ich etwas über die Dinge sagen, über die du mich befragt hast? 5,40. Er sagte zu mir: Wie du auch nicht eines von den Dingen zu tun vermagst, die dir genannt wurden, so kannst du auch mein Urteil nicht erfassen oder das Ziel der Liebe, die ich für mein Volk verheißen habe. 5,41. Ich sagte: Aber siehe, Herr, du hast es denen verheißen53, die am Ziel sind. Und was sollen die tun, die vor uns sind oder wir oder die, die nach uns kommen? 5,42. Er sagte zu mir: Ich werde mein Urteil mit einem Kreis vergleichen. Wie es keine Verzögerung für die letzten gibt, so gibt es auch keine Beschleunigung für die früheren. 5,43. Ich antwortete und sagte: Konntest du denn die, die 49 50 51 52

Vgl. Jer 20,17. In den anderen Übersetzungen auch „Geister“ oder „Stämme“. Vgl. Hiob 37,9. Der Passus „zeigt … hast“ ist in der lateinischen Übersetzung ausgefallen, aber in allen anderen Versionen so oder ähnlich überliefert. 53 So im Syrischen, die anderen Übersetzungen ähnlich; im Lateinischen fehlerhaft.

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schon geschaffen sind, die, die sind, und die, die noch kommen werden, nicht auf einmal schaffen, um dein Gericht schneller zu zeigen? 5,44. Er antwortete mir und sagte: Die Schöpfung kann nicht schneller sein als der Schöpfer, und die Welt kann die, die in ihr geschaffen sind, nicht auf einmal ertragen. 5,45. Ich sagte: Wie konntest du da deinem Knecht sagen, dass du in einem einzigen Moment die von dir geschaffene Schöpfung wieder lebendig machen willst? Wenn also alle Lebenden in einem Augenblick leben und die Schöpfung das ertragen wird, könnte sie doch wohl auch jetzt alle Gegenwärtigen auf einmal tragen. 5,46. Er sagte zu mir: Frag den Mutterleib und sag zu ihm: Wenn du zehn Kinder54 gebierst, warum nacheinander? Fordere doch von ihm, dass er die zehn auf einmal gibt. 5,47. Ich sagte: Das kann er doch schlechterdings nicht, sondern alles zu seiner Zeit. 5,48. Er sagte zu mir: So habe ich den Schoß der Erde denen gegeben, die in ihn jeweils zu rechten Zeit gesät wurden. 5,49. Denn wie ein Kind nicht und eine alte Frau nicht mehr gebiert, so habe ich die Welt, die von mir geschaffen ist, geordnet. 5,50. Ich fragte und sagte: Weil du mir schon die Möglichkeit gegeben hast, will ich vor dir sprechen: Ist denn unsere Mutter55, über die du mit mir gesprochen hast, noch jung oder schon dem Greisenalter nahe? 5,51. Er antwortete mir und sagte: Frage diejenige, die gebiert, sie wird es dir sagen. 5,52. Sag zu ihr: Warum sind die, die du jetzt geboren hast, nicht denen gleich, die vorher waren, sondern kleiner an Gestalt? 5,53. Sie selbst wird dir sagen: Die einen sind die, die in der Jugend der Kraft geboren wurden, die anderen die, die in der Zeit des Alters, als der Schoß schon ermattet war, geboren wurden. 5,54. Erwäge also auch du, dass ihr kleiner an Gestalt56 seid als die, die vor euch waren, 5,55. und die nach euch kommen, kleiner als ihr, als wenn57 die Schöpfung schon gealtert ist und die Kraft der Jugend hinter sich gelassen hat.

54 „Kinder“ nur in den arabischen Übersetzungen. 55 Gemeint ist die schöpferische Erde. 56 Ein Teil der orientalischen Übersetzungen hat die Vorstellung von geringerer Kraft statt von geringerer Größe. 57 In der syrischen und arabischen Tradition: „weil“.

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Ich sagte: Bitte, Herr, wenn ich in deinen Augen Gnade gefunden habe, zeige deinem Knecht, durch wen du deine Schöpfung heimsuchen wirst. 6,1. Er sagte zu mir: Zu Beginn des Erdkreises, bevor die Ausgänge der Welt standen, bevor die Zusammenschlüsse der Winde bliesen, 6,2. bevor der Schall des Donners dröhnte, bevor das Leuchten der Blitze aufstrahlte, bevor die Fundamente des Paradieses befestigt wurden, 6,3. bevor liebliche Blumen zu sehen waren, bevor die Kräfte der Bewegungen festgelegt wurden, bevor die unzähligen Heere der Engel versammelt wurden, 6,4. bevor die Höhen der Lüfte erhoben wurden, bevor die Masse der Firmamente benannt wurde, bevor der Schemel Zions bestimmt wurde, 6,5. bevor die gegenwärtigen Jahre gezählt wurden, bevor die Finten derer, die jetzt sündigen, entfernt und die gekennzeichnet wurden, die den Glauben angesammelt haben, 6,6. da habe ich diese Dinge bedacht, und sie sind allein durch mich und nicht durch einen anderen gemacht, wie auch das Ende durch mich und nicht durch einen anderen kommt. 6,7. Und ich antwortete und sagte: Wie wird sich die Scheidung der Zeiten vollziehen? Oder wann wird das Ende der ersten und der Beginn folgenden Zeit sein? 6,8. Er sagte zu mir: Von Abraham bis Isaak58, weil von ihm Jakob und Esau gezeugt wurden. Die Hand Jakobs hat nämlich am Anfang die Ferse Esaus festgehalten.59 6,9. Das Ende dieses Zeitalters ist nämlich Esau und der Anfang des folgenden ist Jakob. 6,10. Denn das Ende des Menschen ist die Ferse, der Anfang des Menschen ist die Hand.60 Suche nichts anderes zwischen Ferse und Hand, Esra! 6,11. Und ich antwortete und sagte: Gebieter, Herr, wenn ich vor deinen Augen Gnade gefunden habe, 6,12. dann zeige deinem Diener die Vollendung deiner Zeichen, von denen du mir in der vorigen Nacht einen Teil gezeigt hast. 6,13. Und er antwortete und sagte zu mir: Stell dich auf deine Füße und du wirst eine außerordentlich klangvolle Stimme hören; 6,14. und so wird es sein: Wenn der Ort, 58 Ich folge hier nicht dem lateinischen Haupttext, der die schwer verständliche, wenngleich möglicherweise ursprüngliche Formulierung „von Abraham bis Abraham“ bietet, sondern einer Variante, die sich in einigen lateinischen Handschriften und ähnlich auch in orientalischen Übersetzungen findet. 59 Vgl. Gen 25,25. 60 Der lateinische Text wurde hier nach den anderen Übersetzungen korrigiert.

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an dem du stehst, heftig bebt, 6,15. während sie spricht, dann entsetze dich nicht, weil es das Wort über das Ende ist! Und die Fundamente der Erde werden verstehen, 6,16. dass es eine Rede über sie selbst ist. Sie61 werden zittern und beben, denn sie wissen, dass ihr Ende sich wandeln muss. 6,17. Als ich das hörte, erhob ich mich auf meine Füße und hörte zu. Siehe, eine Stimme sprach, und ihr Laut war wie der Laut von Wassermassen.62 6,18. Sie sagte: Siehe, es kommen Tage, wenn ich mich daran mache, mich zu nahen, um die Bewohner der Erde heimzusuchen, 6,19. und wenn ich beginne, die Taten derer zu ermitteln, die in ihrer Ungerechtigkeit unrechtmäßig Unheil gestiftet haben, und wenn die Demütigung Zions vollendet sein wird 6,20. und wenn das Zeitalter, das vorüberzugehen beginnt, versiegelt sein wird, dann werde ich diese Zeichen tun: Im Angesicht des Firmaments werden Bücher geöffnet, und alle werden sie gleichermaßen sehen. 6,21. Einjährige Kinder werden mit ihren Stimmen sprechen,63 Schwangere gebären Frühgeburten im dritten und vierten Monat, doch sie werden leben und umherspringen. 6,22. Plötzlich werden besäte Stellen unbesät erscheinen, und volle Scheunen findet man leer vor. 6,23.  Die Posaune wird mit Schall erklingen, und wenn alle sie plötzlich hören, werden sie erschrecken. 6,24. In jener Zeit werden Freunde ihre Freunde wie Feinde bekämpfen,64 und die Erde gemeinsam mit denen, die auf ihr leben, wird aufschrecken, und die Adern der Quellen werden stillstehen, um drei Stunden lang nicht zu laufen. 6,25. Jeder, der aus den Dingen, die ich dir vorausgesagt habe, übrigbleibt, wird gerettet werden und wird mein Heil sehen und das Ende meiner Welt.65 6,26. Sie werden die Menschen sehen, die entrückt wurden und die von ihrer Geburt an den Tod nicht kosteten,66 und das Herz der Einwohner wird verändert und in einen anderen Geist verwandelt. 61 Hier und im Folgenden überliefert der lateinische Text einen Singular („Sie wird …“). 62 Vgl. Ez 43,2. 63 Vgl. Weish 10,21. 64 Vgl. Jes 19,2. 65 Vgl. Mt 10,22; Jes 52,10. 66 Vgl. Mt 16,28.

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6,27. Denn das Böse wird vernichtet werden und der Schmerz ausgelöscht. 6,28. Der Glaube aber wird blühen, die Verderbnis besiegt, die Wahrheit gezeigt, die so lange Zeit ohne Frucht war. 6,29. Während er mit mir redete, siehe, da bewegte sich nach und nach der Ort, auf dem ich stand. 6,30. Er sprach zu mir: Um dir dies zu zeigen, bin ich gekommen, und auch in der kommenden Nacht. 6,31. Wenn du also wieder betest und wieder sieben Tage lang fastest, werde ich dir bei Tag67 Größeres als dieses offenbaren. 6,32. Denn deine Stimme ist beim Höchsten sicher gehört worden. Der Starke hat nämlich deine Gerechtigkeit gesehen und die Frömmigkeit erkannt68, die du von deiner Jugend an hattest. 6,33. Und deswegen hat er mich gesandt, dir all dies zu zeigen und dir zu sagen: Vertraue, und fürchte dich nicht, 6,34. überstürze nicht, von früheren Zeiten Eitles zu bedenken, damit du nicht vor den neuen Zeiten davonläufst!

67 „bei Tag“ steht nur im lateinischen Text und ist möglicherweise ein späterer Zusatz. 68 „erkannt“: Diese Übersetzung lässt sich besser mit den anderen Versionen vereinbaren als die Wiedergabe des Wortes mit „vorhergesehen“.

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3. Episode (6,35–9,26): Ankündigung des endzeitlichen Gerichts

6,35. Daraufhin weinte ich schon wieder und fastete noch einmal sieben Tage lang, um die drei Wochen,69 die mir genannt worden waren, voll zu machen. 6,36. Und in der achten Nacht war es soweit, und mein Herz wurde wieder in mir aufgewühlt, und ich hob an, vor dem Höchsten zu sprechen. 6,37. Mein Geist entbrannte gewaltig und meine Seele fürchtete sich. 6,38. Und ich sagte:70 Herr, am Anfang der Schöpfung hast du gesprochen und am ersten Tag gesagt: Himmel und Erde sollen entstehen. Und dein Wort hat das Werk vollendet. 6,39. Damals gab es nur den schwebenden Geist, und ringsum verbreiteten sich Finsternis und Schweigen, den Klang der Stimme eines Menschen gab es noch nicht von dir aus.71 6,40. Dann hast du befohlen, dass aus deinen Schätzen ein Lichtstrahl hervorgebracht werde, damit deine Werke sichtbar werden. 6,41. Und am zweiten Tag hast du wiederum geschaffen, nämlich den Geist des Firmaments, und hast ihm befohlen, dass er scheidet und eine Trennung vornimmt zwischen den Wassern, sodass ein Teil nach oben zurückweicht, der andere aber unten bleibt. 6,42. Am dritten Tag hast du dem Wasser befohlen, sich im siebten Teil der Erde zu sammeln, während du sechs Teile getrocknet und bewahrt hast, damit einige von ihnen vor dir bebaut, besät und gepflegt werden. 6,43. Denn dein Wort ging voraus, und sogleich war das Werk vollbracht. 6,44. Plötzlich kam nämlich Frucht hervor, unermesslich an Menge und verführerisch durch vielfälti-

69 Vgl. Dan 10,2. 70 Zu den Bezügen auf die biblische Schöpfungsgeschichte in 6,38–54 vgl. Gen 1,1–30. 71 „von dir aus“ fehlt in den meisten anderen Versionen.

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gen Geschmack, und Blumen von unnachahmlicher Farbe72 und Gewürzkräuter von unergründlichem Duft. Dies wurde am dritten Tag geschaffen. 6,45. Am vierten Tag jedoch hast du befohlen, dass der Glanz der Sonne, das Licht des Mondes und die Stellung der Sterne ins Dasein treten. 6,46. Du hast ihnen befohlen, dem Menschen, der geschaffen werden soll, zu dienen. 6,47. Am fünften Tag aber hast du dem siebten Teil, wo das Wasser gesammelt war, gesagt, dass er Lebewesen hervorbringen soll, und zwar Vögel und Fische. Und so geschah es. 6,48. Weil es ihm befohlen worden war,73 hat das stumme und unbeseelte Wasser Lebewesen hervorgebracht, damit so die Völker deine Wunder erzählen. 6,49. Du bewahrtest zwei Lebewesen.74 Das eine nanntest du Behemot,75 das andere Leviathan. 6,50. Du trenntest sie voneinander, denn der siebte Teil, wo noch Wasser gesammelt war, konnte sie nicht fassen. 6,51. Dem Behemoth gabst du den einen Teil, der am dritten Tag getrocknet war, damit er dort wohnte, dort, wo tausend Berge sind. 6,52. Dem Leviatan aber gabst du den feuchten siebten Teil. Du bewahrtest sie, damit sie als Fraß bleiben für wen du willst und wann du willst. 6,53. Am sechsten Tag aber hast du der Erde befohlen, dass sie vor dir Vieh, Wildtiere und Kriechtiere erschafft 6,54. und über diese Adam,76 den du als Anführer über alle Geschöpfe, die du geschaffen hast, eingesetzt hast. Und aus ihm gehen wir alle hervor, das Volk, das du erwählt hast. 6,55. Dies alles aber habe ich vor dir, Herr, gesprochen, weil du gesagt hast, dass du unseretwegen diese Welt77 geschaffen hast. 6,56. Über die übrigen Völker aber, die von 72 Die anderen Versionen fügen an dieser Stelle noch „und vielfältige Bäume“ ein. 73 Dieser Satzteil ist nur lateinisch überliefert. 74 So nach den anderen Versionen. Der lateinische Text liest stattdessen „Seelen“. Im Syrischen und Äthiopischen wird „die du geschaffen hast“ hinzugefügt. 75 So nach einer Variante. Der lateinische Haupttext überliefert hier und im Folgenden den Namen „Enoch“. 76 So lautet der Text in den orientalischen Übersetzungen. 77 So nach den orientalischen Versionen; im Lateinischen: „die erstgeborene Welt“.

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Adam abstammen, hast du gesagt, dass sie nichts sind, und weil sie Speichel ähneln, hast du ihre Masse mit einem Tropfen aus einem Gefäß verglichen. 6,57. Jetzt siehe, Herr, diese Völker, die für nichts erklärt wurden,78 sie herrschen über uns, sie unterdrücken uns. 6,58. Wir aber, dein Volk, das du als Erstgeborenen, einzig Geborenen, Anhänger, Geliebten berufen hast, wir wurden in ihre Hände gegeben. 6,59. Und wenn diese Welt unseretwegen geschaffen wurde, warum besitzen wir unsere Welt dann nicht als Erbe? Wie lange noch soll das so gehen? 7,1. Als ich meine Rede beendet hatte, wurde der Engel, der schon in den ersten Nächten zu mir geschickt worden war, zu mir gesandt 7,2. und sagte zu mir: Erhebe dich, Esra, und höre die Worte, für die ich gekommen bin, sie zu dir zu sprechen! 7,3. Ich sagte: Sprich, mein Herr! Da sagte er zu mir: Ein Meer wurde an einen geräumigen Ort gesetzt, damit es tief und unermesslich ist. 7,4. Es hat aber einen Eingang, der an einer Stelle liegt, damit er einem Fluss ähnelt. 7,5. Wenn nun jemand dringend ans Meer gehen will, um es zu sehen oder zu befahren,79 wenn er nicht die Enge durchquert hat, wie kann er in die Weite kommen? 7,6. Ein anderes Beispiel: Eine Stadt ist erbaut und an einen ebenen Ort gesetzt, und sie ist voll von allen guten Dingen. 7,7. Ihr Eingang ist aber eng und an einem Hang gelegen, sodass rechts Feuer ist, links aber tiefes Wasser. 7,8. Zwischen sie, nämlich zwischen Feuer und Wasser, wurde nur ein einziger Pfad gelegt, so schmal, dass der Pfad nicht mehr als die Fußspur eines Menschen fassen kann. 7,9. Wenn aber die Stadt einem Menschen zum Erbe gegeben wird, wie soll er sein Erbe antreten, wenn der Erbe nicht die vorgelagerte Gefahr durchschritten hat? 7,10. Ich sagte: Ja, Herr. Und er sagte zu mir: So ist es auch mit Israels Anteil. 7,11. Denn seinetwegen habe ich die Welt geschaffen. Und als Adam meine Gebote übertrat, wurde gerichtet, was geschaffen war. 7,12. Da wurden die Eingänge dieser Welt eng, schmerzvoll und mühsam, wenig und schlecht, voller Gefahren, versperrt von 78 Vgl. Jes 40,17; Dan 4,32. 79 Im Lateinischen steht wörtlich „beherrschen“.

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großen Beschwernissen. 7,13. Denn die Eingänge der größeren Welt80 sind breit und sicher und bringen die Frucht der Unsterblichkeit hervor. 7,14. Wenn also die Lebenden nicht wirklich in diese Enge und Leere hineingehen, können sie das nicht übernehmen, was für sie aufbewahrt wurde. 7,15. Warum also bist du jetzt betrübt, weil du vergänglich bist? Und was bist du erregt, weil du sterblich bist? 7,16. Und warum hast du nicht in deinem Herzen aufgenommen, was zukünftig ist, sondern was in der Gegenwart ist? 7,17. Ich antwortete und sagte: Gebieter, Herr, siehe, du hast in deinem Gesetz verfügt, dass die Gerechten dies erben, die Gottlosen aber zugrunde gehen.81 7,18. Die Gerechten ertragen die Enge, weil sie auf die Weite hoffen; die Gottlosen jedoch haben sich gequält und unter der Enge gelitten und die Weite nicht gesehen. 7,19. Er sagte zu mir: Du bist nicht der Richter über den Herrn und nicht einsichtiger als der Höchste. 7,20. Denn es sollen eher viele der Gegenwärtigen verlorengehen, als dass das Gesetz Gottes, das vorgestellt ist, missachtet wird. 7,21. Denn der Herr hat die Kommenden, als sie kamen, ausdrücklich angewiesen, was sie tun müssen, um zu leben, und was sie beachten müssen, um nicht der Strafe zu verfallen. 7,22. Sie aber waren nicht überzeugt und widersprachen ihm. Sie machten sich nichtige Gedanken 7,23. und nahmen sich strafbare Betrügereien vor.82 Und darüber hinaus sagten sie noch, dass es den Höchsten nicht gebe, und seine Wege nahmen sie nicht zur Kenntnis.83 7,24. Sie verachteten sein Gesetz, leugneten seine Bündnisse, hatten kein Vertrauen in seine Gebote und führten seine Werke nicht aus. 7,25. Daher, Esra, das Nichtige den Nichtigen, das Vollkommene den Vollkommenen!84 7,26. Denn siehe, es wird eine Zeit kommen, wenn die Zeichen, die ich dir vorhergesagt habe, eintreffen werden. Und die Braut85 wird erscheinen und auch die Stadt, die im Erscheinen 80 81 82 83 84 85

„der künftigen Welt“ oder ähnlich in den anderen Versionen. Vgl. Ps 36,28–29. Vgl. Ps 13,1. Vgl. Ps 94,11. Vgl. Mt 13,12. So nur im Lateinischen und Syrischen. Es ist wohl an die biblische Vorstellung zu denken, dass Zion als Braut bezeichnet wird (vgl. z. B. Jes 49,18). Die anderen Versionen überliefern in unterschiedlichen Formulierungen

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begriffen ist, und das jetzt noch verborgene Land wird sich zeigen. 7,27. Und jeder, der aus den vorhergesagten Übeln errettet wird, wird selbst meine Wunder sehen. 7,28. Denn mein Sohn, der Messias,86 wird sich mit denen offenbaren, die bei ihm sind,87 und die Übriggebliebenen wird er erfreuen, vierhundert Jahre lang. 7,29. Nach diesen Jahren wird mein Sohn, der Gesalbte,88 sterben und auch alle, die menschlichen Atem haben. 7,30. Die Welt wird sieben Tage lang in das alte Schweigen zurückkehren wie ganz am Anfang, sodass niemand übrigbleibt. 7,31. Nach sieben Tagen wird die Welt, die noch nicht erwacht war, aufgeweckt, und das Vergängliche wird sterben. 7,32. Die Erde wird die zurückgeben, die in ihr schlafen, und der Staub die, die stumm in ihm wohnen, und die Speicher werden die Seelen zurückgeben, die ihnen in Obhut gegeben wurden. 7,33. Der Höchste wird sich auf dem Richterstuhl offenbaren,89 und das Erbarmen wird dahinschwinden, die Langmut wird sich an einem fernen Ort versammeln90. 7,34. Nur das Gericht wird zurückbleiben, die Wahrheit wird stehen, der Glaube wird sich mehren. 7,35. Mühe wird folgen, der Lohn sich zeigen. Die gerechten Taten werden erwachen, die ungerechten nicht schlafen. 7,36. Der See91 der Qual wird offenbar und gegenüber der Ort der Ruhe; der Ofen der Hölle wird sich zeigen und gegenüber das Paradies der Wonne. 7,37. Dann wird der Höchste zu den auferweckten Völkern sagen: Seht und erkennt den, den ihr verleugnet habt oder dem ihr nicht gedient habt oder dessen Gebote ihr verschmäht habt. 7,38. Schaut hierher und dorthin, hier sind Wonne und Ruhe, dort Feuer und Qual. Das wird er ihnen die Vorstellung einer verborgenen Stadt, wie im Folgenden ausgeführt. 86 So oder ähnlich in den orientalischen Versionen. Der lateinische Text liest als christliche Korrektur „Jesus“ anstelle von „Messias“. 87 Vgl. 1. Thess 3,13. 88 Der lateinische Text schreibt „Christus“, was die Übersetzung des hebräischen „Messias“ ist, auf Deutsch „der Gesalbte“. 89 Der syrische Text ergänzt: „dann kommt das Ende.“ 90 Die meisten Übersetzungen überliefern „sich versammeln“ oder einen ähnlichen Text. Entweder ist gemeint: „sich an einem anderen Ort sammeln“, oder die Übersetzer haben ihre Vorlage missverstanden. Dort könnte ein Wort für „entschwinden“ gestanden haben. 91 Der lateinische Text überliefert fehlerhaft „locus“ („Ort“) anstelle von „lacus“ („See“). Zu diesem Bild vgl. Offb 9,2.

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am Tag des Gerichts sagen. 7,39. Dieser Tag ist so beschaffen, dass er weder Sonne, noch Mond, noch Sterne, 7,40. noch Wolken, noch Donner, noch Blitz, noch Wind, noch Regen, noch Nebel, noch Finsternis, noch Abend, noch Morgen, 7,41. noch Sommer, noch Frühling, noch Hitze, noch Winter, noch Eis, noch Frost, noch Hagel, noch Regen, noch Tau, 7,42. noch Mittag, noch Nacht, noch Dämmerung, noch Schimmern, noch Helligkeit, noch Licht hat, sondern nur den Glanz der Herrlichkeit des Höchsten,92 woran alle sehen sollen, was bevorsteht. 7,43. Diese Zeitspanne dauert etwa eine Jahreswoche. 7,44. Dies ist mein Urteil und seine Bestimmung. Nur dir habe ich sie gezeigt. 7,45. Ich antwortete: Damals habe ich gesagt, Herr, und jetzt sage ich: Selig sind diejenigen, die da sind und die beachten, was von dir angeordnet wurde. 7,46. Aber darauf richtete sich meine Bitte: Wer ist unter den Anwesenden, der nicht gesündigt hat, oder wer von den Geborenen, der deinen Bund nicht übertreten hat? 7,47. Und jetzt sehe ich, dass die zukünftige Welt wenigen Freude bringen wird, vielen aber Qualen. 7,48. Denn in uns ist ein böses Herz gewachsen, das uns von ihm entfremdet, uns ins Verderben geführt, uns die Wege des Todes und die Pfade des Verderbens gezeigt und uns weit vom Leben entfernt hat, und dies gilt nicht nur für wenige, sondern für fast alle, die erschaffen sind. 7,49. Er antwortete und sage: Hör auf mich, und ich werde dich unterweisen und dich über das nächste zurechtweisen. 7,50. Aus diesem Grund hat der Höchste nicht nur eine Welt geschaffen, sondern zwei. 7,51. Denn weil du selbst gesagt hast, dass es nicht viele, sondern wenige Gerechte gibt, dass die Gottlosen sich aber vermehren,93 daher höre folgende Erklärung: 7,52. Wenn du ganz wenige auserlesene Steine hättest, würdest du dir zu ihrer Zahl Blei oder Ton hinzufügen? Blei aber und irdenes Geschirr gibt es zuhauf. 7,53. Ich sagte: Herr, wie könnte man! 7,54. Und da sagte er zu mir: Und nicht nur das, sondern frage auch die Erde, und sie wird es dir sagen, schmeichle ihr, und sie wird es dir erzählen. 7,55. Du sollst 92 Vgl. Jes 60,19; Offb 21,23. 93 „dass die Gottlosen sich aber vermehren“ fehlt im Syrischen, Äthiopischen und Georgischen.

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ihr sagen: Du erschaffst Gold, Silber, Erz und Eisen und außerdem Blei und Ton. 7,56. Aber Silber gibt es mehr als Gold, Erz mehr als Silber, Eisen mehr als Erz, Blei mehr als Eisen, Ton mehr als Blei. 7,57. Überlege dir also, was wertvoll und erstrebenswert ist, wovon es reichlich gibt oder was selten vorkommt! 7,58. Da sagte ich: Gebieter, Herr, was es im Überfluss gibt, ist wertlos, was jedoch selten ist, ist wertvoll. 7,59. Er antwortete mir und sagte: Beurteile bei dir selbst, was du dachtest: Wenn einer etwas hat, was schwierig zu bekommen ist, der freut sich mehr als der, der etwas hat, was es im Überfluss gibt. 7,60. So ist es auch mit dem von mir verheißenen Gericht:94 Ich werde mich nämlich mehr über die wenigen freuen,95 die gerettet werden, weil sie es sind, die meinen Ruhm schon jetzt zur Herrschaft bringen und durch die mein Name schon jetzt genannt wird. 7,61. Und ich werde über die Menge derer, die verlorengehen, nicht betrübt sein, denn sie sind wie Dunst und gleichen Flammen und Rauch. Sie haben gebrannt und geglüht und sind erloschen. 7,62. Darauf antwortete ich und sagte: Du Erde, was hast du da hervorgebracht, wenn der Verstand aus Staub gemacht ist wie die übrige Schöpfung? 7,63. Es wäre nämlich besser gewesen, dass schon der Staub nicht entstanden wäre, damit der Verstand nicht aus ihm werden konnte. 7,64. Nun hast du aber zusammen mit uns den Verstand erschaffen, und daher werden wir gequält, weil wir zugrunde gehen und dies wissen. 7,65. Das Menschengeschlecht soll trauern und das Vieh des Feldes soll sich freuen, alle, die geboren wurden, sollen trauern, die Vierfüßler aber und das Vieh sollen jauchzen. 7,66. Denn es geht ihnen viel besser als uns. Sie hoffen nämlich nicht auf das Gericht, und sie wissen nichts von Qualen und auch nichts vom Heil, das ihnen nach dem Tod verheißen ist. 7,67. Aber was nützt es uns, dass wir das Heil erlangen können, aber doch grausam gequält werden? 7,68. Denn alle, die geboren wurden, sind in Unzulänglichkeiten verwickelt, voll von Sünden und schweren Ver-

94 Der lateinische Text überliefert „Gericht“, was auf ein ähnlich klingendes griechisches Wort zurückgeht. 95 Vgl. Lk 15,7.

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gehen. 7,69. Und wenn wir nach dem Tod nicht ins Gericht kämen, wäre das bestimmt besser für uns. 7,70.  Er antwortete mir und sagte: Als der Höchste die Welt erschuf und Adam und alle, die aus ihm hervorgingen, hat er zunächst das Gericht bereitet und das, was dazu gehört. 7,71. Und jetzt sieh es aufgrund deiner eigenen Worten ein; denn du hast gesagt, dass der Verstand mit euch wächst. 7,72. Die also auf der Erde ausharren, werden dort gequält, weil sie, obwohl sie Verstand haben, Unrecht taten, und obwohl sie die Gebote empfangen hatten, diese nicht beachteten, und obwohl sie das Gesetz erlangt hatten, dem nicht entsprachen, was sie angenommen hatten. 7,73. Und was haben sie im Gericht zu sagen, oder wie werden sie am jüngsten Tag antworten? 7,74. Denn wie lange war der Höchste geduldig mit denen, die die Welt bewohnen, und zwar nicht ihretwegen, sondern wegen der vorherbestimmten Zeiten. 7,75. Ich antwortete und sagte: Wenn ich vor dir Gnade gefunden habe, Herr, zeige deinem Diener auch, ob wir nach dem Tod, sobald jeder von uns seine Seele zurückgibt, in Ruhe bewahrt werden, bis jene Zeiten kommen, in denen du dich daran machst, die Schöpfung zu erneuern, oder ob wir von da an gequält werden. 7,76. Da antwortete er mir und sagte: Ich werde dir auch das zeigen. Du aber darfst dich nicht unter die mischen, die höhnen, und zähle dich nicht zu denen, die gequält werden. 7,77. Denn für dich ist beim Höchsten ein Schatz an Werken hinterlegt,96 aber er wird dir erst am jüngsten Tag gezeigt werden. 7,78. Das ist die Sache mit dem Tod: Wenn der Zeitpunkt der Entscheidung vom Höchsten festgelegt wurde, dass ein Mensch sterben wird, wenn sich der Geist vom Körper löst, damit er wieder zu dem entsandt wird, der ihn gegeben hat,97 dann betet er als erstes die Herrlichkeit des Höchsten an. 7,79. Und wenn es einer von denen ist, die höhnten, den Weg des Höchsten nicht bewahrten, und von denen, die sein Gesetz verachteten, und von denen, die diejenigen hassten, die Gott fürchten – 7,80. diese Seelen werden die Wohnungen nicht betreten, sondern werden von Anfang an unter Qualen umherschweifen, immer lei96 Vgl. Mt 6,20; 1. Tim 6,19. 97 Vgl. Koh 12,7.

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dend und trauernd, auf sieben Arten. 7,81. Die erste Art, dass sie das Gesetz des Höchsten missachtet haben; 7,82. die zweite Art, dass sie keine gute Umkehr vollziehen konnten, um zu leben; 7,83. die dritte Art, dass sie den Lohn sehen, der für die zurückgelegt ist, die dem Bund des Höchsten vertrauten; 7,84. die vierte Art, dass sie sich die Qualen ausmalen, die ihnen für die letzte Zeit aufbewahrt sind; 7,85. die fünfte Art, dass sie sehen, dass die Wohnungen der anderen von Engeln mit großem Schweigen bewacht werden; 7,86. die sechste Art, dass sie sehen, auf welche Weise die Qual über sie dahingeht; 7,87. die siebte Art, die größer ist als alle zuvor genannten Arten, dass sie in Verwirrung dahinschwinden, in Schande verzehrt werden und in Furcht verkümmern, wenn sie die Herrlichkeit des Höchsten sehen, vor dem sie als Sünder lebten und vor dem sie in den letzten Tagen gerichtet werden sollen. 7,88.  Das ist die Ordnung derer, die die Wege des Höchsten befolgten, wenn sie sich von dem vergänglichen Gefäß98 trennen sollen. 7,89. In dieser Zeit des Verweilens dienten sie dem Höchsten mit Anstrengung und nahmen jederzeit Gefahr auf sich, um das Gesetz des Gesetzgebers vollkommen zu beachten. 7,90. Daher gilt diese Rede über sie: 7,91. Zunächst sehen sie mit großem Jubel die Herrlichkeit dessen, der sie aufnimmt, denn sie werden durch sieben Ordnungen zur Ruhe gelangen. 7,92. Die erste Stufe ist, dass sie mit viel Mühen gekämpft haben, um den bösen Gedanken, der mit ihnen zusammen gebildet wurde, zu besiegen, damit er sie nicht vom Leben zum Tod verführt. 7,93. Die zweite Stufe ist, dass sie die Probleme sehen, in denen die Seelen der Gottlosen umherirren, und die Bestrafung, die in ihnen fortbesteht. 7,94. Die dritte Stufe ist die, dass sie das Zeugnis sehen, das der über sie abgelegt hat, der sie gebildet hat, dass sie in ihrem Leben das Gesetz, das ihnen anvertraut war, bewahrt haben. 7,95. Die vierte Stufe ist, dass sie die Ruhe wahrnehmen, die sie jetzt mit großem Schweigen genießen, da sie in ihren Kammern, von Engeln bewacht, versammelt sind, und den Ruhm, der sie in den letzten Tagen erwartet. 7,96. Die fünfte Stufe ist die, dass sie darüber jauchzen, dass sie jetzt dem Vergänglichen entflohen sind und das Erbe 98 In einigen anderen Übersetzungen: „von dem sterblichen Leib“.

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besitzen werden, und außerdem, dass sie die Enge voller Plage, von der sie schon befreit sind, sehen und die Weite, die sie empfangen und genießen sollen, ohne zu sterben. 7,97. Die sechste Stufe ist, dass man ihnen zeigt, wie ihr Gesicht strahlen wird wie die Sonne und wie sie dem Licht der Sterne gleichen werden,99 wobei sie von da an unvergänglich sind. 7,98. Die siebte Stufe, die alle zuvor genannten übertrifft, ist, dass sie voll Zuversicht jubeln werden und dass sie vertrauen, ohne verwirrt zu sein, und sich freuen, ohne sich zu fürchten; sie eilen nämlich, um das Gesicht dessen zu sehen, dem sie als Lebende gedient haben und von dem sie nun den Lohn der Herrlichkeit entgegennehmen. 7,99. Dies ist die Ordnung der gerechten Seelen, wie sie nun verkündet wird, und dies sind die zuvor genannten Stufen der Qual, die die Verächter von nun an erleiden. 7,100. Da antwortete ich und sagte: Wird also den Seelen Zeit gegeben, nachdem sie vom Körper getrennt worden sind, damit sie sehen, worüber du mit mir gesprochen hast? 7,101. Er sagte zu mir: Ihre Freiheit wird sieben Tage dauern, damit sie in sieben Tagen die Dinge sehen, die vorhergesagt sind, und danach werden sie in ihren Wohnungen versammelt werden. 7,102. Ich antwortete und sagte: Wenn ich vor deinen Augen Gnade gefunden habe, zeige deinem Diener auch noch, ob in den Tagen des Gerichtes die Gerechten die Gottlosen verteidigen können oder den Höchsten für sie anflehen können, 7,103. nämlich Väter für die Kinder oder die Kinder für die Eltern, Geschwister für die Geschwister, Verwandte für die Nächsten, Freunde für Geliebte. 7,104. Er gab mir Antwort und sagte: Weil du Gnade vor meinen Augen gefunden hast, werde ich dir auch dies zeigen. Der Tag des Gerichtes ist kühn und zeigt allen das Siegel der Wahrheit. Wie schon jetzt kein Vater den Sohn, kein Sohn den Vater, kein Herr den Sklaven, kein Vertrauter den Geliebten schickt, damit er für ihn krank ist100, schläft, isst oder geheilt wird, 7,105. so wird niemals jemand für einen anderen bitten. Denn jeder wird seine eigenen Ungerechtigkeiten oder Gerechtigkeiten tragen.  99 Vgl. Ri 5,31; Dan 12,3. 100 So in den orientalischen Übersetzungen. Der lateinische Text überliefert fehlerhaft „damit er … empfindet“.

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7,106. Ich antwortete und sagte: Und wie finden wir den Grund dafür, dass einst Abraham für die Sodomiter bat und Mose für die Väter, die in der Wüste sündigten,101 7,107. und Josua, der es nach ihm in den Tagen des Achar für Israel tat, und Samuel in den Tagen des Saul102 7,108. und David wegen der Plage103 und Salomo wegen derer im Heiligtum104 7,109. und Elia für die, die Regen erhielten,105 und für den Toten, damit er wiederbelebt wurde, 7,110. und Ezechiel für das Volk in den Tagen Sanheribs106 und so viele andere für viele andere? 7,111. Wenn also, da das Vergängliche angewachsen ist und die Ungerechtigkeit sich vermehrt hat, die Gerechten deshalb für die Ungerechten beten, wird es dann nicht auch so sein? 7,112. Er antwortete mir und sagte: Die bestehende Welt ist nicht das Ende, die Herrlichkeit bleibt nicht beständig in ihr. Deswegen haben die Fähigen für die Schwachen gebetet. 7,113. Der Tag des Gerichtes wird nämlich das Ende dieser Zeit sein und der Beginn der künftigen unsterblichen Zeit, in der die Vergänglichkeit vergangen ist, 7,114. die Zügellosigkeit aufgelöst, der Unglaube ausgemerzt, wohingegen die Gerechtigkeit gewachsen und die Wahrheit aufgegangen ist.107 7,115. Also wird sich dann niemand dessen erbarmen können, der im Gericht unterliegt, und auch nicht den hinabdrücken, der Oberhand gewinnt. 7,116. Und ich antwortete und sagte: Dies ist mein erstes und mein letztes Wort, dass es besser gewesen wäre, dass die Erde Adam nicht hervorgebracht hätte, oder, wenn sie ihn schon hervorgebracht hat, dass sie ihn wenigstens im Zaum gehalten hätte, damit er nicht sündigt. 7,117. Denn was nützt es allen,108 in der Gegenwart in Traurigkeit zu leben und als Tote Bestrafung zu erwarten? 7,118. Oh, was hast du getan, Adam! Denn als du gesündigt hast, war es nicht 101 Vgl. Gen 18,23–32; Ex 32,30. 102 Vgl. Jos 7,7; 1. Sam 7,9. 103 Vgl. 2. Sam 24,17. 104 1. Kön 8,22. 105 Jak 5,18. 106 Vgl. 2. Kön 19,15–16. 107 Vgl. Ps 84,12. 108 Mehrere lateinische Handschriften schreiben stattdessen „was nützt es den Menschen“.

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nur dein Fall, sondern auch unserer, die wir aus dir hervorgingen. 7,119. Denn was nützt es uns, wenn uns eine unsterbliche Zeit verheißen ist, wir aber Dinge taten, die zum Tod führen, 7,120. und dass uns eine bleibende Hoffnung verheißen ist, wir aber ganz und gar übel zuschanden wurden, 7,121. und dass Wohnungen des Heils und der Sicherheit bereitet wurden, wir uns aber schlecht verhielten, 7,122. und dass die Herrlichkeit des Höchsten die beschützen wird, die rein gelebt haben, wir aber auf schlechtesten Wegen gingen, 7,123. dass das Paradies, dessen Früchte unverrottet erhalten bleiben und in dem es Sättigung und Heilung gibt,109 offenbart wird, 7,124. wir es aber nicht betreten werden, weil wir uns an unziemlichen Orten aufgehalten haben,110 7,125. und dass das Gesicht derer, die enthaltsam waren, mehr als die Sterne strahlen wird, unser Gesicht aber schwärzer ist als die Nacht? 7,126. Denn als wir lebten, haben wir, wenn wir Frevel begingen, nicht bedacht, was wir nach dem Tod zu erdulden haben. 7,127. Er antwortete und sagte: Das ist der Sinn bei dem Kampf,111 den der Mensch, der auf der Erde geboren ist, kämpfen muss, 7,128. dass er, wenn er besiegt wird, das erleidet, was du gesagt hast, dass er jedoch, wenn er siegt, das erhält, was ich gesagt habe. 7,129. Denn das ist der Weg, über den Mose zu Lebzeiten gesprochen hat, indem er zum Volk sprach: Wähle dir das Leben, damit du lebst. 7,130. Sie haben ihm jedoch nicht geglaubt, aber auch nicht den Propheten nach ihm,112 auch nicht mir, der zu ihnen gesprochen hat. 7,131. Daher gibt es keinen Gram über ihre Vernichtung, wie Freude herrschen wird über jene, denen das Heil verheißen ist. 7,132. Und ich antwortete und sagte: Ich weiß, Herr, dass nun der Höchste der Barmherzige genannt wird, da er sich derer erbarmt, die noch nicht zur Welt gekommen sind, 7,133. und der Gnädige, weil er sich jenen gnädig erweist, die sich zu seinem Gesetz bekehren, 7,134. und der Langmütige, weil er seine Langmut denen erweist, die, gleichsam seine eigenen Werke, gesündigt haben, 7,135. und als 109 Vgl. Ez 47,12. 110 Vgl. Weish 5,7. 111 Einige orientalische Übersetzungen überliefern „der Sinn dieser Welt“. 112 Vgl. Dtn 30,19; Joh 5,46–47.

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mildtätig, weil er eher geben als verlangen will, 7,136. und reich an Erbarmen, weil er die Gnadenerweise für die zahlreich macht, die gegenwärtig sind, für die, die waren, und für die, die noch sein werden; 7,137. denn wenn er sie nicht vermehrt hätte, würde die Welt mit denen, die auf ihr leben, nicht zum Leben gelangen; 7,138. und er wird der Geber genannt, denn wenn er in seiner Güte nicht gegeben hätte, damit die von ihrer Ungerechtigkeit aufgerichtet werden, die Frevel begangen haben, könnte nicht einmal der zehntausendste Teil der Menschen zum Leben gelangen, 7,139. und er wird der Richter genannt, denn wenn er die kennen würde, die durch sein Wort geschaffen sind113 und die Masse der Frevel nicht tilgen würde, so würden vermutlich von der unzählbaren Menge nur sehr wenige übrigbleiben. 8,1. Und er antwortete mir und sagte: Der Höchste hat diese Welt wegen der vielen geschaffen, die künftige aber wegen weniger. 8,2. Ich will dir nun ein Gleichnis erzählen, Esra. Wenn du die Erde fragst, wird sie dir sagen, dass sie viel mehr Ton zur Verfügung stellt, woraus man Tongefäße macht, aber nur ein bisschen Staub, aus dem Gold wird. So ist auch der Lauf der gegenwärtigen Welt. 8,3. Zwar wurden viele geschaffen, aber nur wenige werden gerettet werden.114 8,4. Ich antwortete und sagte: Seele, nimm also Verstand in dich auf, und verschlinge, was dir schmeckt!115 8,5. Du bist nicht aus eigenem Willen gekommen und gegen deinen Willen bist du wieder aufgebrochen. Denn dir ist nur eine kurze Lebenszeit gegeben. 8,6. O Herr, der über uns ist, wenn du doch deinem Knecht erlaubtest, dass wir vor dir beten, und wenn du uns Samen ins Herz gäbest und Pflege für den Verstand, woraus Frucht entsteht, woraus jeder Vergängliche, der die Gestalt eines Menschen trägt, leben kann! 113 Da Gott seine Geschöpfe zweifellos kennt, ist diese Aussage, die sich jedoch in der gesamten Überlieferung findet, unklar. Sofern man nicht von einem Fehler ausgeht, kann man den Text möglicherweise folgendermaßen deuten: „er wird der Richter genannt, denn wenn er auf das Ansehen der Person derer schauen würde, die durch sein Wort geschaffen sind, …“. 114 Vgl. Mt 20,16; 22,14. 115 „nimm … auf “ ist eine Korrektur des lateinischen Textes. Die anderen Übersetzungen nehmen für den zweiten Satzteil einen weiteren Vokativ an, z. B. in der Formulierung „mein Herz, verschlinge …“.

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8,7. Denn du bist der Einzige, und wir sind die eine Schöpfung deiner Hände,116 wie du gesagt hast. 8,8. Weil du jetzt dem Leib, im Mutterschoß gebildet, Leben gibst und Glieder verschaffst, wird deine Schöpfung in Feuer und Wasser bewahrt, und neun Monate harrt die Bildung deiner Schöpfung aus, die in ihm geschaffen wurde. 8,9. Was aber bewahrt und was bewahrt wird, beide werden durch deine Bewahrung bewahrt. Und wenn der Mutterschoß wieder zurückgibt, was in ihm gewachsen ist, 8,10. hast du befohlen, aus den Gliedern selbst – das sind die Brüste – Milch, die Frucht der Brüste, anzubieten, 8,11. damit bis zu einer gewissen Zeit genährt wird, was gebildet wurde. Und danach wirst du es in deinem Mitleid leiten. 8,12. Du hast es in deiner Gerechtigkeit ernährt, es in deinem Gesetz unterrichtet und in deiner Erkenntnis erzogen. 8,13. Und du wirst es als dein Geschöpf töten und du wirst ihm als deinem Werk Leben geben.117 8,14. Wenn du also mit einer leichthin gegebenen Anordnung zugrunde richtest, was mit großer Anstrengung geformt wurde, warum ist es dann geworden? 8,15. Und nun werde ich tatsächlich sprechen – über jeden Menschen weißt du es besser –, aber über dein Volk, um das ich trauere, 8,16. und über dein Erbe, um das ich klage, und über Israel, um dessentwillen ich betrübt bin, und über deinen Nachkommen Jakob, um dessen willen ich außer Fassung bin. 8,17. Also werde ich es angehen, vor dir für mich und für sie zu beten, weil ich unsere Sünden sehe, die wir die Erde bewohnen. 8,18. Ich habe aber auch die Schnelligkeit des Urteils gehört, das kommen wird. 8,19. Hör also meine Stimme und achte auf meine Rede! Und ich will vor dir sprechen. 8,20. Dies ist der Anfang der Worte Esras, bevor er entrückt wurde. Und er sagte: Herr, der du in der Ewigkeit wohnst, dessen Augen erhoben sind und hoch oben in der Luft,118 8,21. und dessen Thron unschätzbar und dessen Ruhm unbegreiflich ist, dem das Heer der Engel mit Zittern zur Seite steht, 8,22. deren Dienst sich in Wind und Feuer wandelt,119 dessen Wort wahr und dessen Rede beständig 116 Jes 64,8. 117 Vgl. 1. Sam 2,6. 118 Uneinheitliche Überlieferung in den verschiedenen Übersetzungen. 119 Vgl. Ps 103,4.

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ist, 8,23. dessen Befehl stark und dessen Anordnung furchtbar ist, dessen Blick die Urflut austrocknet, dessen Unwille die Berge vergehen lässt120 und dessen Wahrheit bezeugt wird, 8,24. erhöre, Herr, das Gebet deines Dieners, und nimm mit deinen Ohren die Bitte deines Geschöpfes an, achte auf meine Worte! 8,25. Denn solange ich lebe, werde ich sprechen, und solange ich meinen Verstand gebrauche, gebe ich Antwort. 8,26. Schau nicht auf die Vergehen deines Volkes, sondern auf die, die dir wahrhaft dienten. 8,27. Beachte nicht die Bemühungen derer, die unrecht handelten, sondern derer, die deine Zeugnisse unter Schmerzen beachteten. 8,28. Denk nicht an die, die vor deinem Angesicht falsch lebten, sondern gedenke derer, die dir aus eigenem Willen Ehrfurcht erwiesen. 8,29. Setz nicht deinen Sinn darauf, die zu vernichten, die die Sitten von Vieh hatten, sondern schau auf die, die dein Gesetz klar gelehrt haben. 8,30. Zürne denen nicht, die schlimmer als Tiere zu beurteilen sind, sondern liebe die, die immer auf deine Herrlichkeit vertrauten. 8,31. Denn wir und unsere Väter haben nach Bräuchen gehandelt, die zum Tod führen, du aber wirst wegen uns Sündern barmherzig genannt. 8,32. Wenn du dich danach sehntest, dich unserer zu erbarmen, dann wirst du barmherzig genannt werden, denn wir haben keine Werke der Gerechtigkeit. 8,33. Denn die Gerechten, für die viele Werke bei dir zurückgelegt sind, werden aus ihren eigenen Werken Lohn erhalten.121 8,34. Was ist denn der Mensch, dass du gegen ihn unwillig bist, oder das vergängliche Geschlecht, dass du über es so erregt bist? 8,35. Denn es gibt wahrhaftig keinen unter den Geborenen, der nicht frevelhaft gehandelt hat, und unter denen, die waren,122 der sich nicht verfehlt hat. 8,36. Denn darin werden deine Gerechtigkeit und deine Güte verkündet, Herr, wenn du dich denen gnädig erweist, die keinen Besitz an guten Taten haben. 8,37. Er antwortete mir und sagte: Einige Dinge hast du richtig gesagt, und entsprechend deinen Worten wird es auch geschehen. 8,38. Denn ich werde mich wahrlich nicht mit den Gebilden derer 120 Vgl. Sir 16,19; Mi 1,4. 121 Vgl. 1. Kor 3,8. 122 Nach den anderen Übersetzungen korrigiert.

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abgeben, die gesündigt haben, mit deren Tod, Gericht oder Untergang, 8,39. sondern ich werde mich an den Erzeugnissen der Gerechten erfreuen, nämlich an deren Pilgerschaften und auch daran, dass sie gerettet werden und ihren Lohn empfangen. 8,40. Wie ich gesagt habe, so ist es also. 8,41. Denn wie ein Bauer viele Samen in die Erde sät und eine große Anzahl Pflanzen setzt, aber nicht alles, was gesät wurde, bis zur rechten Zeit erhalten bleibt, und auch nicht alles, was gepflanzt wurde, Wurzeln ansetzt, so werden auch nicht alle, die in die Welt gesät wurden, gerettet werden. 8,42. Ich antwortete und sagte: Wenn ich Gnade gefunden habe, will ich reden: 8,43. Wenn der Same des Bauern nicht aufgeht, hat er deinen Regen nicht zur rechten Zeit empfangen, und wenn er verfault, dann geht er durch die Menge des Regens 8,44. zugrunde. Aber der Mensch, der durch deine Hände geformt wurde und dein Bild genannt wird, weil er dir ähnlich ist, und für den du alles gebildet hast, hast du ihn dem Samen des Bauern gleichgemacht? 8,45.  Nein!123 Du stehst über uns, aber schone doch dein Volk, und erbarme dich deines Erbes, denn du hast Erbarmen mit deiner Schöpfung! 8,46. Und er antwortete mir und sagte: Die gegenwärtigen Dinge sind für die Gegenwärtigen, die zukünftigen für die Zukünftigen. 8,47. Dir fehlt nämlich viel daran, dass du meine Schöpfung mehr lieben kannst als ich; du hast dich aber selbst oft mit den Ungerechten verglichen. Niemals mehr! 8,48. Sondern auch darin bist vor dem Höchsten zu bewundern, 8,49. weil du dich gedemütigt hast, wie es dir zusteht, und dich nicht unter die Gerechten gerechnet hast. So wirst du die höchste Ehre empfangen. Deswegen machen viele Übel diejenigen, die die Welt in der letzten Zeit bewohnen, armselig, weil sie überaus hochmütig einherschritten. 8,50. Du aber, bedenke für dich selbst, und untersuche den Ruhm für die, die dir ähnlich sind. 8,51. Denn für euch ist das Paradies geöffnet, der Baum des Lebens gepflanzt, die zukünftige Zeit bereitet, die Fülle bereitet, die Stadt gebaut, Ruhe bestimmt, Güte vollendet und davor schon die Weisheit vollendet. 8,52. Die Wurzel des Bösen ist vor euch versiegelt, die Schwäche vor euch ausgetilgt und der Tod verborgen, die

123 Die anderen Übersetzungen fügen den Anruf „Herr“ ein.

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Unterwelt ist geflohen, das Verderben in Vergessenheit geraten,124 8,53. die Leiden sind vorübergegangen, und am Ende hat sich der Schatz der Unsterblichkeit gezeigt. 8,54. Halte also nicht daran fest, nach der Menge derer zu fragen, die zugrunde gehen. 8,55. Denn auch sie empfingen die Freiheit, doch sie verschmähten den Höchsten, missachteten sein Gesetz und verließen seine Wege. 8,56. Außerdem traten sie seine Gerechten nieder 8,57. und sagten bei sich, dass es keinen Gott gebe, obwohl sie doch wussten, dass sie sterben werden. 8,58. Denn wie die Dinge, die verheißen sind, euch erwarten, so erwarten diese Durst und Qual, die bereitet sind; denn der Höchste wollte nicht, dass der Mensch zugrunde geht. 8,59. Aber die Geschöpfe selbst haben den Namen dessen besudelt, der sie gemacht hat, und waren undankbar gegenüber dem, der ihnen jetzt das Leben bereitet hat. 8,60. Daher naht mein Urteil bald. 8,61. Dies habe ich nicht allen gezeigt, nur dir und wenigen, die dir ähnlich sind. Und ich antwortete und sagte: 8,62. Siehe nun, Herr, du hast mir eine Menge Zeichen gezeigt, die du in den letzten Zeiten tun wirst, aber du hast mir nicht gezeigt, zu welcher Zeit. 9,1. Er antwortete mir und sagte: Ermiss es bei dir selbst, und wenn du siehst, dass ein bestimmter Teil der vorhergesagten Zeichen vorübergegangen ist, 9,2. dann wirst du bemerken, dass dies die Zeit ist, in der der Höchste sich anschickt, die Welt, die er geschaffen hat, heimzusuchen. 9,3. Und wenn sich in der Welt ein Erdbeben zeigt, Verwirrung der Völker, Ränke unter den Nationen, Unbeständigkeit der Führer, Verwirrung der Fürsten, 9,4. dann erkennst du, dass dies es ist, worüber der Höchste von den alten Tagen an, vom Anfang an, gesprochen hat. 9,5. Denn wie alles, das in der Welt gemacht wurde – sein Anfang ist klar und sein Ende ist offenkundig.125 9,6. So ist es auch mit den Zeiten des Höchsten: Der Anfang ist in Wundern und mächtigen Taten und das Ende in Handlung und in Zeichen offenkundig. 9,7. Und es wird so sein, dass jeder, der gerettet wird und der durch seine Werke oder durch den Glauben, an dem er festhält, 9,8. den angekündigten Gefahren entkommen wird. Und er wird 124 Vgl. Offb 2,7. 125 Die Textüberlieferung ist schwierig. Die vorliegende Übersetzung orientiert sich am syrischen Text.

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mein Heil in meinem Land und in meinen Grenzen sehen, die ich mir seit Ewigkeiten geheiligt habe. 9,9. Und dann werden die, die jetzt meine Wege ausgenutzt haben, staunend schauen, und die sie in Starrsinn verachtet haben, werden in Qualen verharren. 9,10. Denn alle, die mich nicht erkannten, solange sie lebten und die Wohltaten empfingen, 9,11. und alle, die mein Gesetz verschmähten, solange sie noch die Freiheit hatten, 9,12. und solange ihnen Raum zur Buße offenstand, die sie nicht wahrgenommen,126 sondern verachtet hatten, denen kommt es zu, nach dem Tod in Qual zur Erkenntnis zu gelangen. 9,13. Du sollst also nicht länger neugierig sein, wie die Gottlosen gequält werden, sondern du sollst herausfinden, wie die Gerechten, denen die Welt gehört, um derentwillen die Welt besteht, gerettet werden und wann. 9,14. Ich antwortete und sagte: 9,15. Zuvor habe ich gesagt, auch jetzt sage ich und später werde ich ebenfalls sagen, dass es mehr gibt, die verlorengehen als die gerettet werden,127 9,16. so wie eine Flut mehr ist als ein Wassertropfen. Und er antwortete mir und sagte: 9,17. Wie der Acker ist, so auch der Samen, und wie die Blumen, so auch die Farben, und wie die Arbeit, so auch das Produkt, und wie der Bauer, so auch die Tenne. Denn es gab eine Zeit in dem Zeitalter, 9,18. damals, als ich denen, die jetzt sind, die Welt bereitete, ehe sie war, in der sie leben sollten, und niemand widersprach mir, 9,19. denn damals war noch niemand da. Und jetzt sind die, die in diese Welt hinein geschaffen wurden, die mit einem beständigen Tisch und einer unerschöpflichen Ernte128 ausgestattet wurden, in ihrer Handlungsweise verdorben geworden. 9,20. Und ich betrachtete meine Welt, und siehe, sie war verdorben, und meinen Umkreis, und siehe, er war voll Gefahr wegen der Pläne, die in ihn eindrangen. 9,21. Und ich sah das, schonte davon kaum etwas und rettete mir eine Beere aus der Traube und eine Pflanze aus dem großen Wald.129 9,22. So soll die Menge verschwinden, die ohne Grund geboren wurde, und meine Beere und meine Pflanze sollen gerettet 126 Vgl. Hebr 12,17. 127 Vgl. Lk 13,23. 128 Der Text ist fehlerhaft überliefert und in der Übersetzung korrigiert. 129 So nach den orientalischen Übersetzungen.

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werden, weil ich sie mit großer Mühe vollendet habe. 9,23. Du aber, wenn du noch sieben weitere Tage verstreichen lässt – aber während ihnen faste nicht, 9,24. sondern geh in ein Blumenfeld, wo kein Haus gebaut ist, und iss ausschließlich von den Blumen des Feldes und koste kein Fleisch und trink keinen Wein, sondern nur Blumen 9,25. und bitte den Höchsten ohne Unterlass. Dann werde ich kommen und mit dir reden. 9,26. Und ich ging hinaus auf das Feld, das Ardat genannt wird, wie er mir gesagt hatte, und setzte mich dort in die Blumen und aß von den Kräutern des Ackers, und ihre Speise machte mich satt.

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4. Episode (9,27–10,60): Vision über das Himmlische Jerusalem

9,27. Nach sieben Tagen legte ich mich ins Gras, und mein Herz war wieder in Aufruhr wie schon zuvor. 9,28. Da öffnete sich mein Mund, begann, vor dem Höchsten zu sprechen, und sagte: 9,29. O Herr, du hast dich wahrhaftig unseren Vätern in der Wüste gezeigt, als sie aus Ägypten auszogen und als sie in die Wüste kamen, die nicht betreten wird und unfruchtbar ist, und du hast gesagt: 9,30. Höre mich, Israel, achte auf meine Reden, Nachkomme Jakobs! 9,31. Denn siehe, ich habe mein Gesetz in euch gesät, und es bringe in euch Frucht und ihr sollt für alle Zeiten darin gerühmt sein. 9,32. Denn unsere Väter haben zwar das Gesetz angenommen, es aber nicht befolgt und meine Vorschriften nicht beachtet; und doch ging die Frucht des Gesetzes nicht zugrunde, denn das war nicht möglich, weil sie dir gehörte. 9,33. Die es annahmen, gingen zugrunde, weil sie nicht beachteten, was in sie gesät war. 9,34. Und siehe, es ist die Regel, dass, wenn die Erde einen Samen aufnimmt oder das Meer ein Schiff oder ein Gefäß irgendeine Speise oder ein Getränk und wenn es dann dazu kommt, dass vernichtet wird, 9,35. was gesät oder was hineingelegt oder angenommen wurde, dann werden diese Dinge vernichtet, die Gefäße aber bleiben. Bei uns ist es aber nicht so geschehen. 9,36. Weil wir jedoch, die wir das Gesetz empfangen haben, gesündigt haben, werden wir zugrunde gehen und ebenso unser Herz, das es empfangen hat. 9,37. Denn das Gesetz geht nicht zugrunde, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit. 9,38. Als ich dies in meinem Herzen sprach, blickte ich auf und sah eine Frau zu meiner Rechten, und siehe, sie klagte und weinte mit lauter Stimme, und sie litt sehr im Herzen, und ihre Gewänder waren zerrissen, und Asche war auf ihrem Haupt.130 9,39. Ich gab die Gedanken, die ich gerade dachte, auf, wendete mich ihr zu und 130 Vgl. 2. Sam 13,19.

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sagte zu ihr: 9,40. Warum weinst du? Und warum leidest du im Herzen? Da sagte sie zu mir: 9,41. Lass mich in Ruhe, mein Herr, damit ich mich beweine und meinen Schmerz aufhäufe, weil ich in meinem Herzen sehr verbittert und sehr niedergedrückt bin.131 9,42. Da sagte ich zu ihr: Was ist dir zugestoßen? Sag es mir! Und sie sagte zu mir: 9,43. Ich, deine Magd, war unfruchtbar und habe nicht geboren, obwohl ich dreißig Jahre einen Mann hatte. 9,44. Jede Stunde und jeden Tag hindurch in diesen dreißig Jahren habe ich den Höchsten angefleht, Nacht und Tag. 9,45. Und nach dreißig Jahren hat Gott mich, deine Magd, erhört und meine Niedrigkeit angesehen und auf meine Bedrängnis geschaut und mir einen Sohn gegeben. Ich freute mich über ihn und auch mein Mann und alle meine Nachbarn, und wir gaben dem Starken132 besonders die Ehre. 9,46. Ich habe ihn mit großer Mühe großgezogen, 9,47. und als er herangewachsen war und ich kam, um für ihn eine Frau zu nehmen, setzte ich einen Tag für die Feier fest. 10,1. Doch als mein Sohn ins Brautgemach hineinging, brach er zusammen und starb. 10,2. Und wir stießen alle Lampen um, und alle meine Mitbürger erhoben sich, um mich zu trösten, und ich verstummte bis zur Nacht des nächsten Tages. 10,3. Als alle verstummt waren, um mich zu trösten, damit ich still werde, stand ich in der Nacht auf, floh und kam, wie du siehst, auf dieses Feld.133 10,4. Und nun gedenke ich, nicht in die Stadt zurückzukehren, sondern hier zu bleiben, und ich werde weder essen noch trinken, sondern ohne Unterlass trauern und fasten, bis ich sterbe. 10,5. Ich ließ meine Reden, in denen ich mich befand, und antwortete ihr zornig und sagte: 10,6. Du bist dümmer als alle Frauen! Siehst du nicht unsere Trauer und was uns zugestoßen ist? 10,7. Denn Zion, unser aller Mutter,134 ist in Klage und allergrößter Erniedrigung versunken. Es ist nun angemessen, aufs heftigste zu trauern, 10,8. weil wir alle trauern, und betrübt zu sein, weil wir alle betrübt sind! Du aber bist wegen eines einzigen Sohnes betrübt.135 131 Vgl. 1. Sam 1,11. 132 Gemeint ist Gott. 133 Vgl. Offb 12,6. 134 Vgl. Gal 4,26. 135 Der syrische Text fügt hinzu: „doch wir, die ganze Welt, wegen unserer Mutter.“

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10,9. Frage doch die Erde, und sie wird dir sagen, dass sie es ist, der es zusteht, über so viele, die auf ihr zum Leben erstanden, zu trauern. 10,10. Von Anfang an wurden alle aus ihr geboren, und andere werden kommen, und siehe, fast alle laufen ins Verderben, und eine Masse von ihnen wird untergehen. 10,11. Wem steht es mehr zu zu trauern, dieser, die eine solch große Menge verloren hat, oder dir, die du wegen eines einzigen leidest? Wenn du aber sagst: Mir, 10,12. weil mein Wehklagen nicht mit dem der Erde vergleichbar ist, weil ich die Frucht meines Leibes verloren habe, die ich mit Klagen hervorgebracht habe und mit Schmerzen geboren, 10,13. die Erde hingegen geht ihrem Weg entsprechend: die Menge, wie sie auf ihr ist, geht auch wieder, dann sage ich dir: 10,14. Wie du mit Schmerz hervorgebracht hast, so hat auch die Erde von Anfang an den Menschen als ihre Frucht dem gegeben, der sie geschaffen hat. 10,15. Nun behalte also deinen Schmerz für dich, und trage die Ereignisse, die dir zustießen, tapferer! 10,16. Denn wenn du die Entscheidung Gottes als gerecht anerkennst, wirst du auch deinen Sohn zur rechten Zeit zurückerhalten136 und von den Frauen gepriesen werden. 10,17. Geh also in die Stadt zu deinem Mann. Und sie sagte zu mir: 10,18. Das werde ich nicht tun. Ich werde die Stadt nicht betreten, sondern ich werde hier sterben. 10,19. Und da sprach ich wieder zu ihr und sagte: 10,20. Sag nicht so etwas, sondern lass dich bereitwillig überzeugen, denn dies ist das Geschick Zions, und lass dich wegen des Schmerzes Jerusalems trösten. 10,21. Denn du siehst, dass unser Heiligtum verwüstet wurde und unser Altar niedergerissen und unser Tempel abgerissen. 10,22. Unsere Harfe ist zu Boden geworfen, unser Lied verstummt, unser Lob abgerissen, das Licht unseres Leuchters verloschen, unsere Bundeslade geplündert, unsere heiligen Gegenstände entweiht, der Name, der über uns ausgerufen ist, ist geschändet; unsere freien Männer haben Schmach erlitten, unsere Priester wurden verbrannt und unsere Leviten in Gefangenschaft weggeführt, unsere Jungfrauen wurden missbraucht, unsere Frauen erlitten Gewalt, unsere Gerechten wurden verschleppt, unsere Kleinen verraten137, unsere jungen 136 Vgl. 2. Makk 7,29. 137 In anderen Versionen: „verschleppt“.

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Männer wurden versklavt und unsere Starken kraftlos.138 10,23. Und was noch schlimmer ist als alles andere: Das Siegel Zions – Zion hat jetzt dieses Zeichen seines Ruhmes verloren. Es wurde in die Hände derer übergeben, die uns hassen. 10,24. Du also, schüttle deine große Traurigkeit ab und leg all deine vielen Schmerzen beiseite, damit der Starke dir wieder gnädig ist und der Höchste dir Ruhe verschafft, Ruhe von deinen Leiden. 10,25. Und als ich zu ihr sprach, siehe, da leuchtete plötzlich ihr Gesicht hell auf und ihre Gestalt blitzte wie ein Blitz,139 sodass ich mich sehr vor ihr fürchtete140 und überlegte, was das wohl sei. 10,26. Doch siehe, plötzlich stieß sie einen lauten, furchterregenden Schrei aus, sodass die Erde vor diesem Geräusch erbebte, und ich schaute hin, 10,27. und siehe, die Frau war für mich nicht länger sichtbar, sondern eine Stadt wurde errichtet, und ein Ort auf großen Fundamenten zeigte sich, und ich hatte Angst und schrie laut und sagte: 10,28. Wo ist der Engel Uriel, der am Anfang zu mir kam? Denn er war es, der mich in diesen übergroßen Schrecken gebracht hat. Mein Ende wurde mir zum Verderben, mein Gebet zur Klage. 10,29. Noch während ich dies sagte, siehe, da kam der Engel zu mir, der am Anfang zu mir gekommen war, und er sah mich. 10,30. Und siehe, ich lag hingestreckt wie ein Toter und mein Verstand war abhandengekommen. Da nahm er meine Rechte, machte mir Mut, stellte mich auf meine Füße141 und sagte zu mir: 10,31. Was ist mit dir? Warum bist du so verstört? Und warum sind dein Verstand und der Sinn deines Herzens verwirrt? Da sagte ich: 10,32. Weil du mich ganz und gar im Stich gelassen hast! Ich habe nach deinem Wort gehandelt und bin aufs Feld hinaus gegangen, und siehe, ich sah und sehe immer noch, was ich nicht erklären kann. Und er sagte zu mir: 10,33. Steh aufrecht wie ein Mann! Ich werde dich unterweisen. Da sagte ich: 10,34. Sprich, mein Herr, nur lass mich nicht im Stich, damit ich nicht vergeblich142 sterbe. 10,35. Denn ich habe gesehen, 138 Zu 4. Esra 10,22–23 vgl. 1. Makk 1,23–27. 139 Vgl. Offb 1,16 ff. 140 Die orientalischen Versionen fügen hinzu: „mein Herz war sehr erschrocken“. 141 Vgl. Dan 8,18. 142 Im Syrischen und Arabischen: „vorzeitig“.

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was ich nicht kannte, und gehört, was ich nicht verstehe. 10,36. Oder irren sich meine Sinne, und träumt meine Seele? 10,37. Also bitte ich dich jetzt, dass du deinem Diener diese Vision erklärst. Er antwortete mir und sagte: 10,38. Hör mir zu, und ich werde dich unterrichten. Ich werde mit dir über diese Dinge, die du fürchtest, sprechen, weil der Höchste dir viele Geheimnisse offenbart hat. 10,39. Er sah, dass du auf rechtem Weg gingst, weil du ohne Unterlass für dein Volk mittrauertest und wegen Zion sehr betrübt warst. 10,40. Dies ist also die Bedeutung der Vision: Die Frau, die dir soeben erschien, 10,41. die du trauern sahst und die du zu trösten begannst, 10,42. – jetzt aber siehst du nicht mehr die Gestalt einer Frau, sondern dir erschien eine erbaute Stadt – 10,43. und weil sie dir über den Fall ihres Sohnes erzählte: Dies ist die Lösung: 10,44. Diese Frau, die du gesehen hast, sie ist Zion, das du jetzt als erbaute Stadt siehst. 10,45. Was ihre Aussage betrifft, dass sie dreißig Jahre unfruchtbar war, das geschah deswegen, weil es in der Welt dreitausend Jahre gab, in denen auf ihr noch keine Opfer dargebracht wurden. 10,46. Nach drei(tausend)143 Jahren baute Salomon eine Stadt und brachte Opfer dar. Dann war es soweit, dass die Unfruchtbare einen Sohn gebar. 10,47. Und was ihre Aussage betrifft, dass sie ihn mit Mühe großzog, das war die Zeit, in der Jerusalem bewohnt war. 10,48. Und was ihre Aussage betrifft, dass sie dir sagte: „Mein Sohn starb, als er in sein Brautgemach kam“, und dass dieses Ereignis sie überwältigte, das bedeutet, dass Jerusalem zur Ruine wurde. 10,49. Siehe, du hast ihr Bild gesehen, wie sie um ihren Sohn trauerte, und du hast begonnen, sie wegen der Dinge, die ihr widerfahren waren, zu trösten. 10,50. Und weil nun der Höchste sah, dass du von Herzen mittrauertest und dass du aus ganzem Herzen für sie littest, zeigte er dir die Herrlichkeit ihres Ruhmes und die Schönheit ihrer Zierde. 10,51. Denn deswegen sagte ich zu dir, dass du auf dem Feld bleiben solltest, wo kein Haus gebaut ist. 10,52. Ich wusste nämlich, dass der Höchste im Begriff war, dir dies zu zeigen. 10,53. Daher sagte ich dir, dass du auf das Feld kommen solltest, wo es kein Fundament eines Gebäudes gab. 10,54. Denn kein Bauwerk eines Men143 „drei“ statt „dreitausend“ geht wohl auf eine Fehllesung des Zahlzeichens in der griechischen Vorlage zurück.

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schen kann dort bestehen, wo die Stadt des Höchsten sich zeigen sollte. 10,55. Fürchte dich also nicht, und dein Herz erschrecke nicht, sondern geh hinein, und schau den Glanz und die Größe des Bauwerkes an, soweit es dir mit dem Blick deiner Augen möglich ist zu sehen. 10,56. Danach wirst du hören, was das Gehör deiner Ohren zu hören vermag. 10,57. Denn du bist vor vielen gesegnet und bist wie wenige vor den Höchsten gerufen. 10,58. In der kommenden Nacht aber wirst du hier bleiben, 10,59. und der Höchste wird dir in Traumvisionen zeigen, was der Höchste mit denen machen wird, die an den letzten Tagen auf der Erde wohnen. 10,60. Ich schlief jene Nacht und eine weitere, wie er mir gesagt hatte.

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5. Episode (11,1–12,51): Adlervision

11,1. In der zweiten Nacht hatte ich dann einen Traum, und siehe, ein Adler, der zwölf gefiederte Flügel und drei Köpfe hatte, stieg aus dem Meer.144 11,2. Ich schaute, und siehe, er breitete seine Flügel über die ganze Erde aus, und alle Winde des Himmels bliesen zu ihm hin, und die Wolken versammelten sich bei ihm. 11,3. Ich schaute, und aus seinen Flügeln wuchsen gegenüberliegende Flügel, und sie wurden zu kleinen und unbedeutenden Flügeln. 11,4. Seine Köpfe befanden sich in Ruhe, und der Kopf in der Mitte war größer als die anderen Köpfe, aber auch er war gemeinsam mit ihnen ruhig. 11,5. Ich schaute weiter hin, und siehe, der Adler flog mit seinen Flügeln und herrschte über die Erde und über ihre Bewohner. 11,6. Und ich sah, dass ihm alles, was auf der Erde war, unterworfen war und niemand ihm widersprach, nicht ein einziges Geschöpf, das auf der Erde war. 11,7. Und ich schaute weiter hin, und siehe, der Adler erhob sich auf seine Klauen, schrie seine Flügel an und sagte: 11,8. Haltet nicht alle gemeinsam Wache! Jeder schlafe an seinem Ort und wache, wenn es Zeit ist. 11,9. Die Köpfe aber sollen bis zum Schluss warten. 11,10. Ich schaute weiter hin, und siehe, die Stimme ging nicht von seinem Kopf aus, sondern von der Mitte seines Leibes. 11,11. Und ich zählte seine gegenüberliegenden Flügel, und siehe, es waren acht. 11,12. Und ich schaute hin, und siehe, aus der rechten Seite erhob sich ein Flügel und herrschte über die ganze Erde. 11,13. Und während er herrschte, kam er zu seinem Ende und verschwand, sodass sein Ort nicht mehr sichtbar war. Und der Folgende erhob sich und herrschte und hielt lange Zeit durch. 11,14. Und während er regierte, kam sein Ende, sodass er nicht mehr wie vorher zu sehen war. 11,15. Und siehe, eine Stimme erschallte, und sagte zu ihm: 11,16. Hör du mich an, der du die ganze Zeit die Erde in 144 Vgl. Ez 17,3; Dan 7,6.

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deiner Gewalt hieltest: Ich verkünde dir dies, bevor du nicht mehr zu sehen bist. 11,17. Niemand soll nach dir so lange die Herrschaft innehaben wie du, nicht einmal halb so lang. 11,18. Und der dritte Flügel erhob sich und hielt die Herrschaft wie die vorherigen, und auch er verschwand. 11,19. Und so wurde es jedem einzelnen Flügel zuteil, die Herrschaft zu führen und dann wieder zu verschwinden. 11,20. Und ich schaute hin, und siehe, auch die folgenden Flügel auf der rechten Seite erhoben sich zu ihrer Zeit, um die Herrschaft auszuüben. Und unter ihnen gab es welche, die sie ausübten, aber sofort wieder verschwanden. 11,21. Denn einige von ihnen erhoben sich, hielten die Herrschaft aber nicht. 11,22. Und danach sah ich hin, und siehe, die zwölf Flügel und die zwei Flügelchen waren nicht mehr zu sehen. 11,23. Und nichts blieb auf dem Körper des Adlers übrig außer den drei ruhenden Köpfen und den sechs Flügelchen. 11,24. Und ich sah hin, und siehe, von den sechs Flügelchen wurden zwei abgesondert, und sie blieben unter dem Kopf auf der rechten Seite. Vier jedoch blieben an ihrem Platz. 11,25. Und ich sah hin, und siehe, diese Unterflügel planten, sich zu erheben und die Herrschaft zu übernehmen. 11,26. Und ich schaute hin, und siehe, einer war aufgerichtet, verschwand aber sogleich wieder, 11,27. ebenso der zweite, und dieser verschwand noch schneller als vorherige. 11,28. Und ich schaute hin, und siehe, die beiden, die übrig waren, planten miteinander, gemeinsam zu herrschen. 11,29. Und während sie planten, siehe, da erwachte einer der ruhenden Köpfe, der in der Mitte; dieser war größer als die beiden anderen Köpfe. 11,30. Und ich sah, wie er die beiden Köpfe umarmte. 11,31. Und siehe, der Kopf drehte sich mit denen, die bei ihm waren, und er verschlang die beiden Unterflügel, die planten zu herrschen. 11,32. Dieser Kopf aber beherrschte die ganze Erde und regierte ihre Bewohner mit viel Bedrückung und beherrschte den Erdkreis mit größerer Macht als alle Flügel vor ihm. 11,33. Und danach schaute ich hin, und siehe, der mittlere Kopf verschwand plötzlich ebenso wie die Flügel. 11,34. Die zwei Köpfe aber blieben übrig, die auch in ähnlicher Weise über die Erde und ihre Bewohner herrschten. 11,35. Und ich sah hin, und siehe, der Kopf auf der rechten Seite verschlang den auf der linken. 58

11,36. Und ich hörte eine Stimme, die zu mir sagte: Schau geradeaus, und erwäge, was du siehst! 11,37. Und ich schaute hin, und siehe, etwas wie ein Löwe brach brüllend aus dem Wald hervor,145 und ich hörte, wie er menschliche Laute zum Adler hin von sich gab und sagte: 11,38. Höre, ich rede mit dir. Der Höchste sagt zu dir: 11,39. Bist du es nicht, der von den vier Lebewesen, die ich gemacht habe, übrigbleibt, um meine Welt zu regieren, und damit durch sie das Ende meiner Zeiten kommt? 11,40. Du bist der vierte, der gekommen ist, der alle vorangegangen Lebewesen völlig besiegt und die Herrschaft über die Welt mit viel Zittern aufrechterhalten und den Erdkreis mit schlimmster Drangsal; und die Menschen haben den Erdkreis alle Zeiten voll Leid bewohnt. 11,41. Und du hast die Erde gerichtet, aber nicht in der Wahrheit. 11,42. Du hast die Sanften gepeinigt, die Ruhigen verletzt; die die Wahrheit sagen, hast du gehasst und die Lügner geliebt, und du hast die Wohnungen derer zerstört, die Frucht brachten, und die Mauern derer niedergerissen, die dir nicht geschadet haben. 11,43. Und die Schmähung stieg zum Höchsten empor und dein Hochmut zum Starken. 11,44. Und der Höchste blickte auf seine Zeiten, und siehe, sie sind zu Ende, und sein Zeitalter ist vollendet. 11,45. Daher wirst du ganz sicher verschwinden, du Adler und deine schrecklichen Schwingen und deine so bösen Flügelchen und deine bösen Köpfe und deine ganz und gar bösartigen Klauen und dein wertloser Leib, 11,46. damit sich die ganze Erde erquickt und befreit wird von deiner Gewalt und auf das Urteil hofft und auf die Barmherzigkeit dessen, der sie gemacht hat. 12,1. Und während der Löwe diese Worte zum Adler sprach, sah ich hin, 12,2. und siehe, der übriggebliebene Kopf verschwand. Und die beiden Schwingen, die sich zu ihm gewandt hatten, erhoben sich um zu herrschen, und ihre Herrschaft war schwächlich und voll von Aufruhr. 12,3. Und ich sah hin, und siehe, sie verschwanden, und der ganze Leib des Adlers wurde verbrannt, und die Erde war voll Angst. Da erwachte ich in höchster Erregung des Geistes und großer Furcht und sagte zu meinem Geist: 12,4. Siehe, das hast du bereitet, weil du die Wege des Höchsten erforschst. 12,5. Siehe, ich bin immer noch in Unruhe in meinem Geist und in meiner Seele ohnmächtig, 145 Vgl. Jer 49,19.

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und kein bisschen Kraft ist in mir von der vielen Angst, die ich diese Nacht voll Furcht hatte. 12,6. Ich werde also jetzt den Herrn bitten, dass er mich bis ans Ende stärkt. 12,7. Und ich sagte: Gebieter und Herr, wenn ich vor deinen Augen Gnade gefunden habe und wenn ich bei dir vor vielen gerechtfertigt bin und wenn mein Gebet wirklich vor dein Angesicht hinaufgestiegen ist, 12,8. dann stärke mich und zeige mir, deinem Diener, die Erklärung und Bedeutung dieser furchtbaren Vision, um meine Seele vollständig zu trösten. 12,9. Denn du hast mich für würdig befunden, mir das Ende der Zeiten und die letzten Dinge der Zeiten zu zeigen. Und er sagte zu mir: 12,10. Dies ist die Erklärung der Vision, die du gesehen hast: 12,11. Der Adler, den du aus dem Meer hast steigen sehen, ist die vierte Herrschaft, die deinem Bruder Daniel in einer Vision erschienen ist.146 12,12. Aber ihm wurde es nicht erklärt, wie ich es nun dir erkläre oder schon erklärt habe. 12,13. Siehe, die Tage kommen, und die Herrschaft über die Erde erhebt sich und sie wird schrecklicher als alle Herrschaften, die es vorher gab. 12,14. In ihr werden nacheinander zwölf Könige regieren. 12,15. Aber der zweite, der zu regieren beginnt, wird die Herrschaft länger halten als die anderen der zwölf. 12,16. Dies ist die Erklärung der zwölf Flügel, die du gesehen hast. 12,17. Dass du eine Stimme gehört hast, die sprach, die aber nicht von seinen Köpfen ausging, sondern aus der Mitte seines Leibes, 12,18. dafür ist die Erklärung, dass in der Mitte der Zeit147 seiner Herrschaft nicht geringfügige Streitereien entstehen und seine Herrschaft Gefahr laufen wird zu fallen; doch sie wird dann nicht fallen, sondern wieder in ihrer Herrschaft gefestigt. 12,19. Dass du die acht Unterflügel gesehen hast, die mit seinen Flügeln zusammenhingen, 12,20. dafür ist die Erklärung, dass sich nämlich in ihm acht Könige erheben, deren Zeit kurz ist und deren Jahre dahineilen, und zwei von ihnen werden zugrunde gehen, 146 Vgl. Dan 7,23. 147 Diese wohl richtige Deutung wird in der armenischen Übersetzung bezeugt. Die anderen Übersetzungen, einschließlich der lateinischen, sind vermutlich fehlerhaft.

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12,21. wenn die Mitte der Zeit naht. Vier aber werden für dann bewahrt werden, wenn es für ihn soweit ist, zu Ende zu gehen, zwei schließlich werden für das Ende bewahrt. 12,22. Dass du drei ruhende Köpfe gesehen hast, 12,23–24. dafür ist dies die Erklärung: In seinen letzten Tagen wird der Höchste drei Herrschaften aufrichten, und er wird in ihnen vieles erneuern, und sie werden die Erde und ihre Bewohner mit mehr Pein beherrschen als alle, die vor ihnen waren. Daher werden sie die Köpfe des Adlers genannt. 12,25. Denn sie werden es sein, die seine Gottlosigkeit zusammenfassen und die seine letzten Dinge ausführen. 12,26. Dass du gesehen hast, wie der größere Kopf verschwunden ist, das bedeutet, dass einer von ihnen im Bett stirbt, jedoch unter Qualen. 12,27. Dann wird das Schwert die zwei, die übriggeblieben sind, verzehren. 12,28. Das Schwert des einen wird den fressen, der bei ihm ist, aber dennoch wird auch dieser am Ende durch das Schwert fallen. 12,29. Dass du zwei Unterflügel gesehen hast, die über dem rechten Kopf zusammenkamen, 12,30. dafür ist dies die Erklärung: Sie sind die, die der Höchste für sein148 Ende bewahrt hat; dies war eine kümmerliche Herrschaft, voll von Streit, 12,31. wie du gesehen hast. Und was den Löwen angeht, den du brüllend aus dem Wald herausbrechen sahst und der mit dem Adler sprach und ihn wegen seiner Ungerechtigkeit anklagte, und was alle seine Reden angeht, die du gehört hast, 12,32. das ist der Gesalbte, den der Höchste bis zum Ende bewahrt hat149; er wird mit ihnen sprechen, ihre Ruchlosigkeiten schelten, sie wegen ihrer Ungerechtigkeiten tadeln und ihnen ihre Verachtung vor Augen führen. 12,33. Denn als erstes wird er sie lebend vor Gericht stellen, und wenn er sie überführt hat, dann wird er sie vernichten. 12,34. Denn mein restliches Volk, diejenigen, die in meinen Grenzen gerettet wurden, wird er in Mitleid befreien und er wird sie mit Freude erfüllen, bis das Ende kommt, der Tag des Gerichtes, über den ich mit dir am Anfang gesprochen

148 Nämlich das des Adlers. 149 Die orientalischen Versionen fügen hinzu: „der aus dem Samen Davids stammt und kommen wird“.

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habe. 12,35. Dies ist der Traum, den du gesehen hast, und dies ist seine Deutung. 12,36. Du alleine warst würdig, das Geheimnis des Höchsten zu erfahren. 12,37. Schreib also all das, was du gesehen hast, in ein Buch und leg es an einen verborgenen Platz. 12,38. Und du wirst die Weisen in deinem Volk, von deren Herzen du weißt, dass sie es fassen und die Geheimnisse bewahren können, davon unterrichten. 12,39. Du aber bleibe noch sieben weitere Tage hier, damit man dir zeigt, was der Höchste dir zeigen will. 12,40. Und er ging weg von mir, und als das ganze Volk gehört hatte, dass sieben Tage vergangen waren und ich nicht in die Stadt zurückgekehrt war, versammelte es sich vollständig vom Kleinsten bis zum Größten und kam zu mir, und sie sagten zu mir: 12,41. Womit haben wir uns gegen dich verfehlt und was haben wir Unrechtes gegen dich getan, dass du uns im Stich gelassen hast und dich an diesem Ort niedergelassen hast? 12,42. Denn du allein bis von allen Propheten übriggeblieben wie eine Traube aus der Weinlese und wie ein Licht an einem dunklen Ort und wie ein Hafen für ein Schiff, das aus einem Sturm gerettet wurde. 12,43. Oder reichen die Übel nicht aus, die uns getroffen haben? 12,44. Wenn du uns also im Stich lässt, wie viel besser wäre es dann für uns gewesen, wenn auch wir im Brand Zions verbrannt wären. 12,45. Denn wir sind nicht besser als die, die dort umgekommen sind. Und sie weinten laut. Ich antwortete ihnen und sagte: 12,46. Sei zuversichtlich, Israel, sei nicht betrübt, Haus Jakob! 12,47. Denn euer Gedächtnis hat vor dem Höchsten Bestand, und der Starke hat nicht vergessen, wie ihr euch bemüht habt. 12,48. Denn ich habe euch nicht im Stich gelassen und bin nicht von euch weggegangen, sondern ich kam an diesen Ort, um wegen der Verwüstung Zions zu beten und um wegen der Erniedrigung eures Heiligtums Gnade zu erflehen. 12,49. Und nun gehe jeder in sein Haus, und ich werde nach diesen Tagen zu euch kommen. 12,50. So machte sich das Volk auf in die Stadt, wie ich es ihm gesagt habe. 12,51. Ich aber saß sieben Tage auf dem Feld, wie er mir befohlen hatte, und ich aß ausschließlich von den Blumen des Feldes, und meine Speise waren in jenen Tagen Pflanzen.

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6. Episode (13,1–13,58): Der Mann aus dem Meer und die Sammlung Israels

13,1. Nach sieben Tagen träumte ich in der Nacht einen Traum, 13,2. und siehe, aus dem Meer erhob sich ein Wind, um alle seine Fluten aufzuwühlen,150 13,3. und ich schaute hin, und siehe, der Wind ließ etwas wie die Gestalt eines Menschen aus dem Herzen des Meeres steigen.151 Und siehe, eben jener Mensch flog152 mit den Wolken, und wohin er sein Gesicht wandte, um es zu betrachten, da erbebte alles, was von seinem Blick getroffen wurde.153 13,4. Und wohin auch die Stimme aus seinem Mund hinausging, zerrannen alle, die seine Stimme hörten, so wie Wachs schmilzt, wenn es Feuer spürt. 13,5. Und auch danach schaute ich hin, und siehe, eine unzählbare Menschenmenge versammelte sich aus den vier Himmelsrichtungen, um den Menschen, der aus dem Meer gestiegen war, niederzukämpfen. 13,6. Und ich schaute hin, und siehe, er formte für sich einen großen Berg und flog auf ihn. 13,7. Ich aber versuchte, die Gegend oder den Ort zu sehen, von wo aus der Berg geformt worden war, doch ich war dazu nicht fähig. 13,8. Und danach schaute ich hin, und siehe, alle die sich bei ihm versammelt hatten, um ihn zu bekämpfen, fürchten sich sehr vor ihm, wagten aber dennoch zu kämpfen. 13,9. Und siehe, als er den Angriff der vorrückenden Menge sah, erhob er weder seine Hand noch hielt er einen Speer noch ein anderes Kriegsgerät, sondern ich sah nur, 13,10. wie er aus seinem Mund etwas wie eine Feuerflut herausstieß und von seinen Lippen einen Flammenhauch und von seiner Zunge Funkenstürme aussandte; und sie alle mischten sich, die Feuerflut, der Flammen150 Vgl. Dan 7,2. 151 „und siehe, der Wind … steigen“ fehlt im lateinischen Text. 152 Der lateinische Text ist hier fehlerhaft. Die Übersetzung folgt den anderen Versionen. 153 Vgl. Dan 7,13.

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hauch und der große Sturm. 13,11. Und es fiel über den Ansturm der Menge derer, die bereit waren zu kämpfen, und steckte alle in Brand, sodass sogleich von der unzählbaren Menge nichts mehr zu sehen war als Asche und der Geruch von Rauch. Und ich sah es und war außer mir. 13,12. Und danach sah ich den Mann, der vom Berg herabstieg und eine andere Menge zu sich rief, die friedfertig war. 13,13. Und ihm nahten Gestalten von vielen Menschen, einige freudig, einige traurig und wieder andere gefesselt, und andere führten welche, die geopfert wurden, und ich, ich wachte vor lauter Angst auf, flehte den Höchsten an und sagte: 13,14. Von Anfang an hast du deinem Diener diese Wunder gezeigt und mich für würdig gehalten, dass du mein Flehen erhörst. 13,15. Und nun zeige mir auch noch die Deutung dieses Traumes, 13,16. wie ich nämlich in meinem Sinn erwäge: Wehe denen, die in jenen Tagen übriggeblieben sind, und noch weit mehr Wehe denen, die nicht übriggeblieben sind! 13,17. Denn die, die nicht übriggeblieben sind, werden betrübt sein, 13,18. weil sie wissen, was für die letzten Tagen aufbewahrt ist, und sie es nicht erlangen werden. Aber auch denjenigen, die übriggeblieben sind, 13,19. aus demselben Grund Wehe! Sie werden nämlich große Gefahren und viele Nöte sehen, wie diese Träume zeigen. 13,20. Dennoch ist es besser, gefährdet zu sein und in diese Dinge zu geraten, als wie eine Wolke von dieser Welt hinüberzugehen und nicht zu sehen, was sich in den letzten Tagen ereignet. Und er antwortete mir und sagte: 13,21. Ich werde dir die Deutung der Vision mitteilen, und auch die Dinge, über die du gesprochen hast, will ich dir eröffnen. 13,22. Was es betrifft, was du über die, die übrigblieben, gesagt hast, und über die, die nicht übrigblieben:154 Dies ist die Erklärung: 13,23. Derjenige, der in jener Zeit die Gefahr herbeiführt, wird die, die in Gefahr geraten, beschützen, diejenigen, die Werke vorzuweisen haben und den Glauben an den Stärksten. 13,24. Wisse also, dass diejenigen, die übriggeblieben sind, mehr gesegnet sind als die, die gestorben sind. 13,25. Die Erklärung der Vision, dass du einen Mann aus dem Herzen des Meeres steigen sahst, ist folgende: 13,26. Es ist derjenige, den der Höchste lange Zeit 154 In einigen Versionen fehlt der Passus „und über die, die nicht übrigblieben“.

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hindurch bewahrt hat, der, durch den er seine Schöpfung befreien wird, und er wird die ordnen, die übriggeblieben sind. 13,27. Und was betrifft, dass du aus seinem Mund etwas wie Wind, Feuer und Sturm herausgehen sahst, 13,28. und was betrifft, dass er weder Speer noch Kriegsgerät hielt und dennoch den Angriff jener Menge, die zum Kampf heranrückte, zunichtemachte, ist dies die Erklärung: 13,29. Siehe, es werden Tage kommen, wenn der Höchste sich anschickt, die zu erlösen, die auf der Erde sind, 13,30. und Fassungslosigkeit wird über die Bevölkerung der Erde kommen. 13,31. Und sie werden planen, gegeneinander Krieg zu führen, Stadt gegen Stadt, Ort gegen Ort, Volk gegen Volk, Königtum gegen Königtum. 13,32. Wenn dies geschieht und wenn die Zeichen, die ich dir vorab gezeigt habe, eintreffen, dann wird mein Sohn offenbart, den du als Mann155 hinaufsteigen sahst. 13,33. Und wenn alle Völker seine Stimme hören, soll jeder einzelne seine Gegend und den Krieg, den sie gegeneinander führen, zurücklassen. 13,34. Und eine unzählbare Menge wird sich versammeln, wie du gesehen hast, und sie wollen kommen und gegen ihn kämpfen. 13,35. Er selbst aber wird auf dem Gipfel des Berges Zion stehen. 13,36. Zion aber wird kommen und wird sich allen als bereit und gebildet zeigen, wie du gesehen hast, dass ein Berg ohne Menschenhand gemeißelt wurde. 13,37–38. Mein Sohn selbst aber wird die Völker, die herangekommen sind, ihrer Gottlosigkeiten überführen, die wie ein Sturm nahten, und er wird ihnen ihre bösen Gedanken und die Qualen, mit denen sie gepeinigt werden und die Flammen gleichen, vor Augen führen. Und er wird sie ohne Mühe nach dem Gesetz, das dem Feuer gleicht, vernichten. 13,39. Und was es betrifft, dass du gesehen hast, dass er bei sich eine friedfertige Menge versammelt hat, 13,40. das sind die neun156 Stämme, die aus ihrem Land in Gefangenschaft geführt wurden in den Tagen des Königs Josia,157 den Salmanassar, der König der Assyrer in Gefangenschaft geführt hat. Er hat sie über den Fluss geführt, und sie wurden in ein anderes Land gebracht. 155 Einige Versionen fügen „aus dem Herzen des Meeres“ oder eine ähnliche Formulierung ein. 156 Nach anderen Überlieferungen waren es zehn oder neuneinhalb Stämme. 157 In einigen Handschriften in „Hoschea“ geändert, was historisch richtig ist. Vgl. zu dem Vers 2. Kön 17,3.

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13,41. Aber sie machten für sich diesen Plan, dass sie die Menge der Völker verlassen und in ein noch ferneres Land weiterziehen, wo niemals ein Mensch gelebt hat, 13,42. um dort seine Gesetze zu befolgen, die sie in ihrer eigenen Gegend nicht gehalten hatten. 13,43. Sie zogen durch die engen Furten des Euphrat hinein. 13,44. Denn der Höchste tat zu jener Zeit Zeichen für sie und stoppte den Strom des Flusses, bis sie hinübergeschritten waren. 13,45. Durch diese Gegend war der Weg eineinhalb Jahre lang. Jene Gegend heißt Arzaret. 13,46. Dort wohnten sie dann bis zur letzten Zeit. Und nun sind sie im Begriff wiederzukommen. 13,47. Der Höchste stoppt den Strom des Flusses wieder, sodass sie ihn überqueren können.158 Daher hast du die Menge sich in Frieden versammeln sehen. 13,48–49. Aber auch die von deinem Volk, die zurückgeblieben sind, die in mein heiliges Gebiet hineingekommen sind, werden gerettet. Wenn er sich daran macht, die Menge derer zu vernichten, die sich versammelt haben, nämlich die fremden Völker, wird er das Volk, das übrig geblieben ist, schützen. 13,50. Und dann zeigt er ihnen eine Vielzahl von Wunderzeichen. 13,51. Und ich sagte: Gebieter und Herr, zeige mir, weshalb ich den Mann aus dem Herzen des Meeres steigen sah! Und der sagte zu mir: 13,52. Wie niemand erforschen oder wissen kann, was in den Meerestiefen ist, so kann auch niemand auf der Erde meinen Sohn oder diejenigen, die bei ihm sind, sehen außer in der Zeit seines Tages. 13,53. Dies ist die Deutung des Traumes, den du gesehen hast. Und du allein wurdest damit erleuchtet. 13,54. Denn du hast das Deinige im Stich gelassen und dich dem Meinigen gewidmet und mein Gesetz erforscht. 13,55. Du hast dein Leben der Weisheit gewidmet und dein Wissen Mutter genannt. 13,56. Daher habe ich dir dies gezeigt; Lohn wird beim Höchsten sein. Denn nach drei weiteren Tagen werde ich dir noch andere Dinge sagen und dir Schwerwiegendes und Wunderbares vor Augen führen. 13,57. Und ich machte mich auf und ging auf dem Feld umher, wobei ich den Höchsten wegen der Wunder, die er im Laufe der Zeit vollbracht hatte, verherrlichte und lobpries, 13,58. und auch weil er die Zeiten beherrscht und was auch immer in den Zeiten geschieht; und ich verweilte dort drei Tage. 158 Vgl. Jes 11,15; Hiob 28,4.

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7. Episode (14,1–14,48): Die 94 Bücher

14,1. Am dritten Tag saß ich unter einer Eiche, 14,2. und siehe, eine Stimme ertönte aus einem Dornbusch mir gegenüber und sagte: Esra, Esra. Und ich sagte: Siehe, Herr, hier bin ich.159 Und ich erhob mich auf meine Füße, und er sagte zu mir: 14,3. Ich habe mich in einem Dornbusch offenbart und mit Mose geredet, als mein Volk in Ägypten Sklavendienst leistete. 14,4. Und ich habe ihn gesandt und mein Volk aus Ägypten geführt; und ich habe ihn auf den Berg Sinai geführt und ihn viele Tage bei mir festgehalten.160 14,5. Viele Wunder habe ich ihm mitgeteilt und ihm die Geheimnisse der Zeiten und das Ende der Zeiten gezeigt und ihn beauftragt, indem ich sagte: 14,6. Diese Worte sollst du öffentlich bekanntgeben und diese geheim halten. 14,7. Und nun sage ich dir: 14,8. Die Zeichen, die ich gezeigt habe, die Träume, die du gesehen hast, und die Deutungen, die du gehört hast, halte sie in deinem Herzen verborgen! 14,9. Denn du wirst von den Menschen entrückt werden und wirst mit meinem Sohn und mit denen, die dir gleichen, leben, bis die Zeiten zu Ende gehen. 14,10. Denn die Weltzeit hat ihre Jugend verloren, und die Zeiten beginnen zu altern. 14,11. Die Weltzeit ist nämlich in zwölf Epochen geteilt, und zehn sind schon vorüber gegangen, genauer: die Hälfte der zehnten Epoche. 14,12. Es sind aber noch zwei davon übrig und ein halbes von dem zehnten Teil. 14,13. Bringe also jetzt dein Haus in Ordnung, ermahne dein Volk und tröste die Niedrigen unter ihnen,161 entsage dem verdorbenen Leben, 14,14. weise die sterblichen Gedanken von dir, wirf die menschlichen Lasten von dir, entblöße dich von der schwachen Natur, lege die dir allzu betrübli159 Vgl. Ex 3,4. 160 Vgl. Ex 24,18. 161 Die anderen Versionen überliefern hier „unterweise die Weisen“. Dies ist im Lateinischen wohl durch einen Fehler ausgefallen.

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chen Gedanken beiseite und beeile dich, aus diesen Zeiten wegzuziehen. 14,15. Denn es wird danach noch schlimmeres Übel geschehen, als was du nun hast eintreffen sehen. 14,16. Denn in dem Maß, in dem die Welt schwächer wird vom Alter, umso mehr nimmt das Übel in der Bevölkerung zu. 14,17. Die Wahrheit muss sich noch weiter entfernen und die Lüge sich nähern. Der Adler, den du in der Vision gesehen hast, eilt nämlich schon herbei. 14,18. Ich antwortete und sagte: Ich will vor dir sprechen,162 Herr. 14,19. Denn siehe, ich werde weggehen, wie du mir befohlen hast, und ich werde das gegenwärtige Volk ermahnen. Die aber noch geboren werden, wer wird die mahnen? 14,20. Die Welt liegt also im Finstern, und die in ihr leben, sind ohne Licht. 14,21. Denn dein Gesetz wurde verbrannt, und daher weiß niemand, was du gemacht hast oder welche Werke bevorstehen. 14,22. Wenn ich vor deinen Augen Gnade gefunden habe, sende deinen heiligen Geist in mich, und dann werde ich alles aufschreiben, was in der Welt von Beginn an gemacht wurde, was in deinem Gesetz geschrieben war, damit die Menschen den Weg finden können und diejenigen, die in der letzten Zeit leben wollen, leben werden. 14,23. Und er antwortete mir und sagte: Geh und sammle das Volk! Und du sollst zu ihnen sagen, dass sie dich vierzig Tage lang nicht suchen dürfen. 14,24. Du aber, bereite dir viele Schreibtafeln vor, und nimm Sarea, Dabria, Selemia, Ethanus und Asiel mit dir, diese fünf, die geübt sind, schnell zu schreiben. 14,25. Und du kommst hierher, und ich werde in deinem Herzen das Licht der Erkenntnis entzünden, das nicht verlöschen wird, bis vollendet ist, was du angehst zu schreiben. 14,26. Und wenn du fertig bist, sollst du einiges öffentlich bekanntmachen, einiges den Weisen im Geheimen übergeben. Morgen um diese Stunde wirst du beginnen zu schreiben. 14,27. Und ich ging weg, wie er mir befohlen hatte, versammelte das ganz Volk und sagte: 14,28. Israel, höre diese Worte! 14,29. Am Anfang lebten unsere Väter als Fremde in Ägypten und wurden von dort befreit. 14,30. Und sie empfingen das Gesetz des Lebens, das sie nicht beachteten, das auch ihr nach ihnen übertreten habt. 14,31. Und euch wurde das Land im Lande Zion zum Erbteil gege162 „ich will … sprechen“ fehlt in den meisten lateinischen Handschriften.

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ben. Ihr und eure Väter haben Unrecht getan und die Wege nicht beachtet, die der Höchste euch befohlen hat. 14,32.  Weil er ein gerechter Richter ist, hat er euch zu rechter Zeit weggenommen, was er gegeben hatte. 14,33. Und jetzt seid ihr hier, und eure Brüder sind noch weiter im Innern des Landes. 14,34. Wenn ihr also über eure Sinne herrscht und euer Herz bildet, werdet ihr am Leben erhalten werden und nach dem Tod Gnade erlangen. 14,35. Denn nach dem Tod kommt der Urteilsspruch, wann wir wieder zum Leben gelangen. Dann werden die Namen der Gerechten offenkundig und die Taten der Gottlosen sichtbar. 14,36. Niemand darf aber jetzt zu mir herantreten und mich aufsuchen – vierzig Tage lang.163 14,37. Und ich nahm die fünf Männer, wie er mir befohlen hat, und wir machten uns auf zu dem Feld und blieben dort. 14,38. Am nächsten Tag, siehe, da rief mich eine Stimme und sagte: Esra, öffne deinen Mund und trink, was ich dir zu trinken gebe. 14,39. Ich öffnete meinen Mund und siehe, mir wurde ein voller Kelch gereicht. Womit er gefüllt war, war wie Wasser, hatte aber eine Farbe wie Feuer. 14,40. Ich nahm ihn und trank. Und als ich ihn getrunken hatte, strömte mein Herz über von Einsicht, und meine Brust wuchs von Weisheit, denn meine Seele bewahrte die Erinnerung. 14,41. Mein Mund stand offen und war nicht länger geschlossen. 14,42. Der Höchste gab den fünf Männern Einsicht und sie schrieben der Reihe nach, was ihnen gesagt wurde, mit Zeichen, die sie nicht kannten. Sie saßen vierzig Tage da und schrieben den Tag über. 14,43. Nachts aber aßen sie Brot. Ich sprach also tagsüber und schwieg in der Nacht. 14,44. In den vierzig Tagen wurden 94 Bücher geschrieben. 14,45. Und als die vierzig Tage vorüber waren, sprach der Höchste und sagte: Mach die ersten164 öffentlich bekannt, und lass Würdige und Unwürdige sie lesen. 14,46. Die siebzig letzten Bücher aber sollst du aufbewahren, um sie den Weisen aus dem Volk zu übergeben. 14,47. Denn in ihnen sind der Strom der Einsicht, die Quelle der Weisheit und der Fluss des Wissens. 14,48. So tat ich es.

163 Vgl. Ex 34,3. 164 Einige andere Versionen ergänzen: „24 Bücher“.

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Abkürzungen der biblischen Bücher

Die Schriften der Bibel werden in der „Kleinen Bibliothek“ mit folgenden Abkürzungen zitiert (in alphabetischer Reihenfolge): 1. Tenach/Altes Testament Amos Buch Amos 1. Chr 1. Buch der Chronik 2. Chr. 2. Buch der Chronik Dan Buch Daniel Dtn Deuteronomium (5. Buch Mose) Esra Buch Esra Est Buch Ester (Esther) Ex Exodus (2. Buch Mose) Ez Buch Ezechiel (Hesekiel) Gen Genesis (1. Buch Mose) Hab Buch Habakuk Hag Buch Haggai Hiob Buch Hiob (Ijob) Hld Hoheslied Hos Buch Hosea Jer Buch Jeremia Jes Buch Jesaja Joel Buch Joel Jona Buch Jona Jos Buch Josua Klgl Klagelieder des Jeremia Koh Buch Kohelet (Prediger Salomo) 1. Kön 1. Buch der Könige 2. Kön 2. Buch der Könige Lev Levitikus (3. Buch Mose) Mal Buch Maleachi 70

Mi Nah Neh Num Ob Ps Ri Rut Sach 1. Sam 2. Sam Spr Zeph

Buch Micha Buch Nahum Buch Nehemia Numeri (4. Buch Mose) Buch Obadja Buch der Psalmen Buch der Richter Buch Rut (Ruth) Buch Sacharja 1. Buch Samuel 2. Buch Samuel Buch der Sprüche (Sprüche Salomos) Buch Zephanja

Apokryphe bzw. deuterokanonische Schriften Bar Buch Baruch Jud Buch Judit (Judith) 1. Makk 1. Makkabäerbuch 2. Makk 2. Makkabäerbuch Sir Buch Jesus Sirach (Ben Sira) Tob Buch Tobit Weish Buch der Weisheit (Weisheit Salomos) 2. Neues Testament Apg Apostelgeschichte Eph Brief an die Epheser Gal Brief an die Galater Hebr Brief an die Hebräer Jak Brief des Jakobus 1. Joh 1. Brief des Johannes 2. Joh 2. Brief des Johannes 3. Joh 3. Brief des Johannes Joh Evangelium nach Johannes Jud Brief des Judas Kol Brief an die Kolosser 1. Kor 1. Brief an die Korinther 2. Kor 2. Brief an die Korinther 71

Lk Mk Mt Offb 1. Petr 2. Petr Phil Phlm Röm 1. Thess 2. Thess 1. Tim 2. Tim Tit

Evangelium nach Lukas Evangelium nach Markus Evangelium nach Matthäus Offenbarung (Apokalypse) des Johannes 1. Brief des Petrus 2. Brief des Petrus Brief an die Philipper Brief an Philemon Brief an die Römer 1. Brief an die Thessalonicher 2. Brief an die Thessalonicher 1. Brief an Timotheus 2. Brief an Timotheus Brief an Titus

Abkürzungen für andere Schriften, die nur in einzelnen Bänden verwendet werden, sind dort erklärt.

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